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German Pages 473 Year 2005
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 245
Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie Von
Sandra Bock
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
SANDRA BOCK
Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 245
Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie
Von
Sandra Bock
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat diese Arbeit im Wintersemester 2004 / 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-11889-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Wintersemester 2004 / 2005 als Dissertation angenommen. Dem Manuskript liegt die Rechtsprechung und Literatur bis Februar 2005 zu Grunde. Besonderen Dank möchte ich an dieser Stelle Herrn Prof. Dr. Hartmut Oetker aussprechen, der die Arbeit anregte und das Gelingen des Promotionsvorhabens durch seine stetige Betreuung maßgeblich positiv beeinflusste. Großer Dank gebührt weiterhin Frau Prof. Dr. Monika Schlachter für die sehr zügige Anfertigung des Zweitgutachtens und die bereitwillige Unterstützung meiner Bewerbung für ein Promotionsstipendium. Sehr verbunden bin ich dem Studienförderwerk der Stiftung der Deutschen Wirtschaft für Qualifizierung und Kooperation e.V., das mir die Verwirklichung des Promotionsvorhabens durch die Gewährung eines Stipendiums ermöglichte. Auch danke ich Herrn Dr. Florian R. Simon für die freundliche Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht“. Schließlich gilt aber den Mitarbeitern des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels-, Gesellschafts- und Arbeitsrecht der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Jena und daneben ganz besonders meinen Eltern, Frau Elke Zschächner, Frau Melanie Pesch, Frau Sandra Behrens und Herrn Tobias Gnausch herzlicher Dank, die mir durch ihre ständige Bereitschaft zur Diskussion und so manches aufmunternde Wort den Rücken gestärkt und somit der Fertigstellung der Dissertation zum Erfolg verholfen haben. Mainz, im Frühjahr 2005
Sandra Bock
Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Teil Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
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§ 2 Einführende Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht . . . . . . . .
34
A. Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht als Betrachtungsgegenstand . . . . . . . . .
34
I. Der Begriff „tarifdispositiv“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Definitorische und terminologische Einzelheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Umfang des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Maßstab für die Bestimmung der Tarifdispositivität gesetzlicher Arbeitnehmerschutzvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
2. Tarifdispositive Vorschriften kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Verdeckt tarifdispositive Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Abgrenzung des Betrachtungsgegenstandes von anderen Rechtsnormen, welche die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien betreffen . . . . . .
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B. Einführung in die Entstehungsgeschichte des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die Entwicklung bis zum Ende des zweiten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Entwicklung von 1945 bis zur Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Der aus der Normstruktur folgende Problemhaushalt der Tariföffnungs- und Erstreckungsklauseln im Beziehungsgeflecht der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Tariföffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 1. Tatbestandliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Umfang der Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Erstreckungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Die Wirkungsweise des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts . . . . . . . .
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IV. Auslegungsfragen an den Berührungspunkten zwischen tarifdispositivem Recht und einfachgesetzlich ausgestaltetem Tarifvertragssystem . . . . . . . . . . .
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V. Der verfassungsrechtliche Bezug des tarifdispositiven Rechts . . . . . . . . . . . . . .
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§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln vor dem Hintergrund der einfachgesetzlich ausgestalteten Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Der Tarifvertrag im Sinne der Tariföffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die Rechtsnatur der abweichenden Tarifvertragsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Die Einordnung der abweichenden Tarifnormen in den Normenkanon des § 1 Abs. 1 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Tariflichvertragliche Abweichungen von den tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Standort der arbeitsschutzrechtlichen Tarifvertragsvorschriften im Normenkanon des § 1 Abs. 1 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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aa) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b) Die materiellrechtliche Wirkung der abweichenden Tarifnormen . . . .
86
aa) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
bb) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Doppelnatur von materiellrechtlicher und arbeitsschutzrechtlicher Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Einordnung der von den übrigen tarifdispositiven Vorschriften abweichenden Tarifnormen in die Normarten des § 1 Abs. 1 TVG . . . . . . . . .
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3. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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III. Nachwirkende Tarifnormen als abweichende Tarifnormen . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Position der Rechtsprechung und Literatur zur Nachwirkung von Tarifnormen, die von tarifdispositivem Recht abweichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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a) Nachwirkung der abweichenden Tarifnormen aus Sicht des § 4 Abs. 5 TVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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aa) Sinn und Zweck des § 4 Abs. 5 TVG im Verhältnis zu abweichenden Tarifnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 bb) Das Vorliegen einer verdeckten Gesetzeslücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Auslegung der Tariföffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 bb) Parallelbetrachtung zu den betriebsverfassungsrechtlichen Öffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 c) Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3. Besonderheiten bei der Nachwirkung im Anschluss an einen Verbandsaustritt des Arbeitgebers bzw. eine Verbandsauflösung auf Arbeitgeberseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 B. Das Abweichen im Sinne der Tariföffnungsklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 I. Das Verhältnis zwischen tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht und zeitlich vorausgehenden abweichenden Tarifvertragsregelungen . . . . . . . . . . . . 112 1. Rechtslage bei der Existenz von Übergangsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Rechtslage bei Fehlen gesetzlicher Übergangsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 II. Das Verhältnis zwischen Tariföffnungsklauseln und bereits bestehenden, mit der Vorgängerregelung inhaltlich identischen Tarifnormen . . . . . . . . . . . . . 119 1. Lösungsansätze in Rechtsprechung und Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 a) Maßstab für die Bestimmung der Normqualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
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Inhaltsverzeichnis b) Erkenntnisse für die Normqualität aus der Auslegung der Tarifvertragsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 c) Anzuwendende Zweifelsregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Einfluss der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG auf die Bestimmung des konstitutiven oder deklaratorischen Charakters von Tarifnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 C. Die gegenständliche Reichweite der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis im Geltungsbereich tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 I. Der mittelbare Eingriff in unabdingbare Arbeitsrechtsvorschriften . . . . . . . . . 134 1. Mittelbare Eingriffe in die unabdingbaren Grundprinzipien des Urlaubsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Tarifliche Verkürzung der gesetzlichen Kündigungsfristen . . . . . . . . . . . . . . 139 3. Tarifliche Bemessungsgrundlagen für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4. Immanente Begrenzung der tariflichen Abweichung vom Gleichstellungsgebot zwischen Stamm- und Leiharbeitnehmern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 5. Mittelbare Eingriffe in die zwingenden Vorschriften des BetrAVG . . . . . . 142 6. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 II. Bestimmung der Reichweite der tariflichen Regelungsbefugnis durch Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 1. Die begrenzte teleologische Grundlage des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Urlaubsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 a) Tarifvertragliche Festlegung des Urlaubsentgelts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 b) Weitere urlaubsrechtliche Fälle des mittelbaren Eingriffs in §§ 1 bis 3 Abs. 1 BUrlG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 3. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 4. Kündigungsfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5. Arbeitnehmerüberlassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 6. Betriebliche Altersversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Inhaltsverzeichnis
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D. Das Verhältnis der tarifvertraglichen Abweichungen von tarifdispositiven Vorschriften zu einzelvertraglichen Abreden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 I. Abweichende Regelungen der Arbeitsvertragsparteien im Günstigkeitsbereich (§ 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 II. Vertragliche Regelungen aufgrund tarifvertraglicher Öffnungsklauseln (§ 4 Abs. 3 Alt. 1 TVG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 III. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 § 4 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Erstreckungsklauseln vor dem Hintergrund der einfachgesetzlich ausgestalteten Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 A. Rechtsnatur und Rechtswirkung der Bezugnahme im Geltungsbereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 I. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 II. Die rein vertragsrechtliche Natur und Wirkung der Bezugnahme . . . . . . . . . . . 171 1. Anordnung der Tarifbindung über die im Tarifvertragsgesetz geregelten Fälle hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Normative Wirkung der in Bezug genommenen abweichenden Tarifnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 III. Ergebnis und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 B. Das Bezugnahmeobjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 I. Der einschlägige Tarifvertrag bei Eröffnung des Geltungsbereichs mehrerer abweichender Tarifverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 II. Der nachwirkende Tarifvertrag als taugliches Bezugnahmeobjekt . . . . . . . . . . 179 1. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 III. Globalverweis oder Einzelverweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 C. Anforderungen an die Bezugnahmeabrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 I. Das Bewusstsein zur Abweichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
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Inhaltsverzeichnis II. Die konkludente Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag . . . . . . . . 195 III. Bezugnahme kraft Gesamtzusage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 IV. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung im bestehenden Arbeitsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Bezugnahme mittels betrieblicher Übung und neu eintretende Arbeitnehmer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 V. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 D. Die in Bezug genommenen abweichenden Tarifregelungen als Mindestarbeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie bei der Abweichung von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 A. Die Abweichung von tarifdispositivem Arbeitszeitrecht durch Betriebsvereinbarung im Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 I. Die Unterscheidung zwischen der Delegation tariflicher Rechtssetzungsmacht und eigener betrieblicher Regelungskompetenz der Betriebspartner 214 II. Die Abweichung von den arbeitsschutzrechtlichen Arbeitszeitvorschriften als Fall gesetzlich gestatteter Delegation tariflicher Regelungsmacht . . . . . . . 217 III. Die Festlegung der individuellen Arbeitszeit als Ausdruck der eigenen Zuständigkeit der Betriebspartner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 B. Die Übernahme abweichender tariflicher Regelungen in einer Betriebsvereinbarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 I. Das Verhältnis zwischen tariflicher, betrieblicher und individualvertraglicher Regelung bei der Übernahme tariflicher Arbeitszeitregelungen . . . . . . . . 225 1. Bezugnahme bei unmittelbar im Tarifvertrag geregelter Abweichung von arbeitszeitrechtlichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 a) Ausschließlich arbeitsschutzrechtliche Regelung im Tarifvertrag . . . . 226 b) Arbeitsschutzrechtliche und materiellrechtliche Regelung der Arbeitszeit im Tarifvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Inhaltsverzeichnis
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2. Bezugnahme bei tariflicher Übertragung der Abweichungsbefugnis auf die Betriebsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 II. Die Zulässigkeit dynamischer Blankettverweisungen in einer Betriebsvereinbarung bei der Übernahme abweichender Arbeitszeitregelungen . . . . . . . . 232 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 C. Die Rolle der Dienstvereinbarungen bei der Abweichung von tarifdispositivem Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 2. Teil Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
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§ 6 Ableitung des Schutzumfangs der Tarifautonomie aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG . . . . . . . 241 A. Methodische Besonderheiten bei der Interpretation von Grundrechten . . . . . . . . . . 241 B. Die Tarifautonomie als eine grundrechtliche Gewährleistung der Koalition . . . . . 246 C. Schutz der Tarifautonomie und der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 I. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 1. Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 a) Tarifvertragsparteien als Normsetzungsinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) Tarifvertragliche Festlegung der Arbeitsbedingungen als Grundrechtsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 II. Keine Beschränkung des Grundrechtsschutzes für die koalitionsmäßige Betätigung auf unerlässliche Betätigungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 III. Bedeutung der gesetzlichen Ausgestaltung im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG
269
1. Der durch die tarifliche Normsetzungsbefugnis veranlasste Ausgestaltungsbedarf im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 2. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die gesetzgeberische Ausgestaltung
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Inhaltsverzeichnis a) Begründungsmodelle für die Ausgestaltungsbefugnis bzw. -pflicht des Gesetzgebers und deren Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Die eigenständige objektivrechtliche Komponente der Grundrechtsverwirklichung als maßgebliche grundrechtsdogmatische Basis für die Ausgestaltungspflicht und -befugnis des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . 274 c) Die effektive Grundrechtsverwirklichung als Maßstab für die Bestimmung der sachlich-gegenständlichen Reichweite der tariflichen Normsetzungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 3. Der Zusammenhang zwischen der gesetzgeberischen Pflicht zur einfachgesetzlichen Ausgestaltung und der unmittelbaren grundrechtlichen Gewährleistung eines ergänzenden Normenkomplexes . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 IV. Bestimmung der Reichweite des Schutzes der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis aus Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 1. Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 2. Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 a) Einfluss des Vertrags über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 b) Art. 9 Abs. 3 GG als Bestandteil des Grundrechtskatalogs . . . . . . . . . . . 289 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 3. Historisch-teleologische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 4. Ergebnis der Auslegung des Grundrechtstatbestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
§ 7 Verpflichtung des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 A. Dogmatischer Ausgangspunkt vor dem Hintergrund des Meinungsbildes in Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 B. Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit durch die staatliche Arbeitnehmerschutzgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 I. Zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht zwischen Grundrechtseingriff und Grundrechtsausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 1. Einseitig oder zweiseitig zwingende Wirkung von Arbeitnehmerschutzgesetzen als untaugliches Abgrenzungskriterium zwischen Eingriff und Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 2. Der strukturelle Unterschied zwischen Eingriff und Ausgestaltung . . . . . . 307
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II. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit tarifdispositiver Arbeitnehmerschutzgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 1. Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG durch tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht im Spiegel von Literatur und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . 312 2. Der funktionelle Eingriffsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 3. Maßgeblichkeit des funktionellen Eingriffsbegriffs für Beeinträchtigungen der Tarifautonomie durch tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht 316 4. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 C. Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 I. Anforderungen an die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 1. Keine absolute Schutzzone der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis gegenüber staatlicher Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 2. Kein ungeschriebener einfacher Gesetzesvorbehalt im Rahmen der von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützten tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 3. Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG durch kollidierendes Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 a) Die Relativierung des verfassungsrechtlichen Schutzes durch Rechtsakte der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 b) Kollidierendes Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 aa) Grundrechte Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 bb) Sozialstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 cc) Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 dd) Die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG . . . . . . . . . . . . . 339 ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340 c) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 aa) Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 bb) Der Einschätzungsvorrang und -spielraum des Gesetzgebers . . . . 343 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
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Inhaltsverzeichnis II. Zur abstrakten Bestimmung von Regelungsmaterien, die ausschließlich einer tarifdispositiven gesetzlichen Regelung zugänglich sind . . . . . . . . . . . . . . 348 1. Schutzintensität und ausgeübte Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 2. Schutzintensität und Eignung zum Interessenausgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 a) Tragfähigkeit des Ausgangspunkts des Bundesverfassungsgerichts . . 354 b) Inhaltliche Kriterien zur Ausfüllung des Maßstabs der besseren Eignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 aa) Unterschiede zwischen den Regelungsinstanzen . . . . . . . . . . . . . . . . 357 bb) Unterschiede zwischen den Regelungsinstrumenten . . . . . . . . . . . . 357 cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 3. Schlussfolgerungen für die Pflicht des Gesetzgebers zur tarifdispositiven Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 a) Keine abstrakte Abstufung innerhalb der Schutzintensität durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 b) Gesteigerte Schutzintensität für die arbeitsvertraglichen Hauptpflichten und die damit verbundenen Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 III. Die einzelfallbezogene Bestimmung einer gesetzlichen Pflicht zur tarifdispositiven Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 1. Tarifdispositivät und der Schutz von Rechtsgütern mit Verfassungsrang . 365 2. Tarifdispositivität als Erforderlichkeitsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 3. Tarifdispositivität als Frage der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . 367 IV. Staatliche Subsidiarität bei der Regelung materieller Arbeitsbedingungen . . 369 D. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 3. Teil Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse auf ausgewählte Bereiche des Arbeitnehmerschutzrechts
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§ 8 Anwendung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 A. Staatliches Kündigungsschutzrecht und Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 I. Staatliches Kündigungsschutzrecht und tarifvertragliches Regelungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374
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II. Tarifdispositivität des § 1 Abs. 1 und 3 S. 1 sowie des § 23 Abs. 1 KSchG 376 1. Prüfungsgegenstand und Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 2. Keine Relativierung des Grundrechtsschutzes aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 3. Schutzgut von Verfassungsrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 4. Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 a) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 b) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 c) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 aa) Angemessenheit der Festlegung der Wartezeit in § 1 Abs. 1 KSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 bb) Angemessenheit der zwingenden Festlegung der Kriterien für die Sozialauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 cc) Angemessenheit des Schwellenwertes in der Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 KSchG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 III. Auslegungsfragen zu § 622 Abs. 4 BGB und Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . 386 1. Art. 9 Abs. 3 GG und die restriktive Auslegung des § 622 Abs. 4 S. 1 BGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 2. Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG und die Auslegungsregel des Bundesarbeitsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 B. Verstärkte Tarifdispositivität des Arbeitszeitrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 I. Tarifvertragliche Regelungsbefugnis und Festlegung der Dauer sowie Verteilung der Pausenzeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 1. Legitimes staatliches Schutzziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 2. Verhältnismäßigkeit der einseitig zwingenden gesetzlichen Regelung . . . 395 a) Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 b) Geeignetheit und Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 c) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 2 Bock
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Inhaltsverzeichnis II. Tarifvertragliche Regelungsbefugnis und die Festlegung von Höchstarbeitszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 III. Tarifvertragliche Regelungsbefugnis und die Arbeitsfreiheit von Sonn- und Feiertagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 1. Legitimes staatliches Schutzziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 2. Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 a) Geeignetheit und Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 b) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 IV. Tarifvertragliche Definition der Nachtarbeit und besonders gefährlicher Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 C. Urlaubsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 I. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 II. Legitimes Regelungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 III. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 1. Geeignetheit und Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 2. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 D. Entgeltfortzahlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 I. Unabdingbarkeit des Grundsatzes der 100 %igen Fortzahlung der Grundvergütung und Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 1. Legitimes Schutzgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 2. Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 412 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 II. Pflicht des Gesetzgebers zu verstärkter Tarifdispositivität einzelner Vorschriften zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 1. Verhältnismäßigkeit der zwingenden Regelung des § 3 Abs. 1 EFZG . . . 415 a) Geeignetheit und Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
Inhaltsverzeichnis
19
b) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416 aa) Der Ausschluss der tariflichen Einführung von Karenztagen . . . . 416 bb) Der Ausschluss einer tariflichen Verkürzung des sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 418 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 2. Verhältnismäßigkeit der zwingenden Regelung des § 3 Abs. 3 EFZG . . . 419 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 420 E. Tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis und gesetzliche Mindestlöhne . . . . . . . . 420 I. Restriktive Auslegung des § 9 Nr. 2 AÜG und Tarifautonomie . . . . . . . . . . . . . 421 II. Vereinbarkeit gesetzlicher Mindestlöhne mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG . . . . . . . . . 423 1. Modelle des staatlichen Mindestentgelts und ihre Auswirkungen auf die Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 2. Legitime staatliche Ziele der Festlegung von Mindestentgelten . . . . . . . . . 424 3. Tarifdispositivität gesetzlicher Mindestlöhne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 a) Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 b) Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 III. Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 F. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 4. Teil Zusammenfassung
432
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 439 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464
2*
Abkürzungsverzeichnis a.A. ABl. Abs. AcP a. E. a. F. AGB AiB AK-GG
Anm. AOG AöR AP APS
ArbGG AR-Bl. ArbKrankhG ArbR ArbRGgw. ArbRHB ArbRSlg.
ArbZG Art. AT AuA Aufl. AuR
andere Ansicht Amtsblatt Absatz Archiv für Civilistische Praxis am Ende alte Fassung Allgemeine Geschäftsbedingungen Arbeitsrecht im Betrieb Wassermann, Rudolf (Hrsg.): Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Band 1 Art. 1 – 37, erschienen in der Reihe Alternativkommentare, 2. Auflage, Neuwied 1989 Anmerkung Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, vom 20. 1. 1934 (RGBl. 1934 I, S. 45) Archiv des öffentlichen Rechts Arbeitsrechtliche Praxis Ascheid, Reiner / Preis, Ulrich / Schmidt, Ingrid (Hrsg.): Kündigungsrecht. Großkommentar zum gesamten Recht der Beendigung von Arbeitsverhältnissen, 2. Auflage, München 2004 Arbeitsgerichtsgesetz, in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. 7. 1979 (BGBl. 1979 I, S. 853) Arbeitsrechtsblattei Gesetz zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfall, vom 26. 6. 1957 (BGBl. 1957 I, S. 649) Arbeitsrecht Arbeitsrecht der Gegenwart Arbeitsrechts-Handbuch Arbeitsrechts-Sammlung: Entscheidungen des Reichsarbeitsgerichts und des Reichsehrengerichtshofs, der Landesarbeitsgerichte, Arbeitsgerichte und Ehrengerichte Arbeitszeitgesetz, vom 6. 6. 1994 (BGBl. 1994 I, S. 1170) Artikel Allgemeiner Teil Arbeit und Arbeitsrecht Auflage Arbeit und Recht
Abkürzungsverzeichnis AÜG AZO BAG BArbBl. BAT BB Bd. BetrAVG BetrVG BGB BGBl. BGH BGHZ Bl. BR BR-Drucks. BRG BSchFG BT BT-Drucks. BUrlG BVerfG BVerfGE BZA bzw. ca. CDU CGZP CSU DB DGB d. h. ders. dies. DJT DVBl.
21
Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. 2. 1995 (BGBl. 1995 I, S. 158) Arbeitszeitordnung, vom 30. 4. 1938 (RGBl. 1938 I, S. 447) Bundesarbeitsgericht Bundesarbeitsblatt Bundesangestelltentarifvertrag Betriebsberater Band Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, vom 19. 12. 1974 (BGBl. 1974 I, S. 3610) Betriebsverfassungsgesetz, in der Fassung der Bekannmachung vom 25. 9. 2001 (BGBl. 2001 I, S. 2518) Bürgerliches Gesetzbuch, in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. 1. 2002 (BGBl. 2002 I, S. 42) Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Blatt Bundesrat Bundesratsdrucksache Betriebsrätegesetz, vom 4. 2. 1920 (RGBl. 1920, S. 147) Gesetz über arbeitsrechtliche Vorschriften zur Beschäftigungsförderung vom 26. 4. 1985 (BGBl. 1985 I, S. 710) Bundestag Bundestagsdrucksache Mindesturlaubsgesetz für Arbeitnehmer (Bundesurlaubsgesetz), vom 8. 1. 1963 (BGBl. 1963 I, S. 2) Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, herausgegeben von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen e.V. beziehungsweise zirka Christlich Demokratische Union Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA Christlich Soziale Union Der Betrieb Deutscher Gewerkschaftsbund das heißt derselbe dieselben Deutscher Juristentag Deutsches Verwaltungsblatt
22
Abkürzungsverzeichnis
ebd.
ebenda
EFZG
Entgeltfortzahlungsgesetz, vom 26. 5. 1994 (BGBl. 1994 I, S. 1065)
EG
Europäische Gemeinschaft
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25. 3. 1957 (BGBl. 1957 II, S. 766), in der Fassung des Vertrages über die Europäische Union vom 7. 2. 1992 (BGBl. 1992 II, S. 1253)
Einf.
Einführung
Einl.
Einleitung
EntgeltFG
Entgeltfortzahlungsgesetz, vom 26. 5. 1994 (BGBl. 1994 I, S. 1065)
ErfK
Dieterich, Thomas / Müller-Glöge, Rudi / Preis, Ulrich / Schaub, Günter (Hrsg.): Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 4. Auflage, München 2004
Erman
Westermann, Harm Peter (Hrsg.): Erman. Bürgerliches Gesetzbuch. Handkommentar mit EGBGB, ErbbauVO, HausratsVO, LPartG, ProdHaftG, UKlaG, VAHRG und WEG, Band I, 11. Auflage, Köln 2004
ES
Eingangssatz
ETV
Ergänzungstarifvertrag
EU
Europäische Union
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EuGRZ
Europäische Zeitschrift für Grundrechte
EUV
Vertrag über die Europäische Union vom 7. 2. 1992 (BGBl. 1992 II, S. 1253)
EzA
Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht, herausgegeben von Eugen Stahlhacke, München 2003
f., ff.
folgende
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FDP
Freiheitlich Demokratische Partei
Fn.
Fußnote
GG
Grundgesetz vom 23. 5. 1949 (BGBl. 1949 I, S. 1)
GK-BetrVG
Fabricius, Fritz / Kraft, Alfons / Wiese, Günther / Kreutz, Peter / Oetker, Hartmut: Betriebsverfassungsgesetz. Band II: §§ 74 – 132 mit Kommentierung des BetrVG 1952. Gemeinschaftskommentar, 6. Auflage, Neuwied, Kriftel 1998
GK-BUrlG
Stahlhacke, Eugen (u. a.): Gemeinschaftskommentar zum Bundesurlaubsgesetz, 5. Auflage, Neuwied, Berlin, Kriftel im Taunus 1992
GK-KSchR
Becker, Friedrich / Etzel, Gerhard (u. a.): Gemeinschaftskommentar zum Kündigungsschutzgesetz und zu sonstigen kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften, 7. Auflage, München 2004
Grundl.
Grundlagen
GS
Großer Senat
GVBl.
Gesetz- und Verordnungsblatt
Abkürzungsverzeichnis HBGR
HBStR HBVerfR
HGB Hrsg. IG iGZ ILO InsO INZ JA JArbSchG JbArbR JöR JuS JZ Kap. KassHBArbR
KSchR LAG LAGE LFZG, LohnFZG m. w. N. MDR MindestarbBedG MüHBArbR MüKo
MVZ n. F. n. v. NachwG
23
Merten, Detlef / Papier, Hans-Jürgen (Hrsg.): Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa. Band I Entwicklung und Grundlagen, Heidelberg 2004 Isensee, Josef / Kirchhof, Paul (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Benda, Ernst / Maihofer, Werner / Vogel, Hans-Jochen (Hrsg.): Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Auflage, Berlin, New York, 1995 Handelsgesetzbuch, vom 10. 5. 1897 (RGBl. 1897, S. 219) Herausgeber Industriegewerkschaft Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen International Labour Organization Insolvenzordnung, vom 5. 10. 1994 (BGBl. 1994 I, S. 2866) Interessengemeinschaft Nordbayerischer Zeitarbeitunternehmen e.V. Juristische Arbeitsblätter Jugendarbeitsschutzgesetz, vom 12. 4. 1976 (BGBl. 1976 I, S. 965) Jahrbuch für das gesamte Arbeitsrecht und die Arbeitsgerichtsbarkeit Jahrbuch für öffentliches Recht Juristische Schulung Juristenzeitung Kapitel Leinemann, Wolfgang (Hrsg.): Kasseler Handbuch zum Arbeitsrecht. Band 1 Arbeitsverhältnis und Inhalt des Arbeitsverhältnisses, Neuwied, Kriftel, Berlin 1997 Kündigungsschutzrecht Landesarbeitsgericht Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte Lohnfortzahlungsgesetz, vom 27. 7. 1969 (BGBl. 1969 I, S. 946) mit weiteren Nachweisen Monatsschrift für Deutsches Recht Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen, vom 11. 1. 1952 (BGBl. 1952 I, S. 17) Richardi, Reinhard / Wlotzke, Otfried (Hrsg.): Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, 2. Auflage, München 2000 Rebmann, Kurt / Säcker, Franz-Jürgen / Rixecker, Roland (Hrsg.): Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. Band 4. Schuldrecht. Besonderer Teil II. §§ 607 – 704, 3. Auflage, München 1997 Mittelstandsvereinigung Zeitarbeit e.V. neue Fassung nicht amtlich veröffentlicht Nachweisgesetz, vom 20. 7. 1995 (BGBl. 1995 I, S. 946)
24 NGG NJW Nr. NVwZ NZA NZA-RR OVG Pr. Ges.-Slg. RAG RdA RG RGBl. RGZ RL Rn. Rs. Rspr. S. SAE SeemG SGB III SGB V Slg. SPD st. Staudinger
Std. TVG TzBfG VerwArch. vgl. VO Vorb. / Vorbem. WRV ZAS
Abkürzungsverzeichnis Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, Rechtsprechungs-Report Oberverwaltungsgericht Preußische Gesetzessammlung Reichsarbeitsgericht Recht der Arbeit Reichsgericht Reichsgesetzblatt Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Richtlinie Randnummer Rechtssache Rechtsprechung Satz, Seite Sammlung Arbeitsrechtlicher Entscheidungen Seemannsgesetz, vom 26. 7. 1957 (BGBl. 1957 II, S. 713) Sozialgesetzbuch. Drittes Buch, vom 24. 3. 1997 (BGBl. 1997 I, S. 594, 595) Sozialgesetzbuch. Fünftes Buch, vom 20. 12. 1988 (BGBl. 1988 I, S. 2477, 2482) Sammlung Sozialdemokratische Partei Deutschlands ständige Neumann, Dirk / Oetker, Hartmut / Preis, Ulrich: J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen. Buch 2 Recht der Schuldverhältnisse. §§ 616 – 630, Neubearbeitung 2002, Berlin 2002 Stand Tarifvertragsgesetz in der Fassung vom 25. 8. 1969 (BGBl. 1969 I, S. 1323) Teilzeit- und Befristungsgesetz, vom 21. 12. 2000 (BGBl. 2000 I, S. 1966) Verwaltungsarchiv vergleiche Verordnung Vorbemerkungen Verfassung des Deutschen Reiches (Weimarer Reichsverfassung), vom 11. 8. 1919 (RGBl. 1919, S. 1383 ff.) Zeitschrift für Arbeitsrecht und Sozialrecht
Abkürzungsverzeichnis z. B. ZfA ZG ZIP zit. ZPO ZTR zugl.
25
zum Beispiel Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für Wirtschaftsrecht zitiert Zivilprozessordnung, in der Fassung vom 12. 9. 1950 (BGBl. 1950 I, S. 533) Zeitschrift für Tarif-, Arbeits- und Sozialrecht des öffentlichen Dienstes zugleich
§ 1 Einleitung Die Tarifautonomie, als die Freiheit der Koalitionen, die Arbeitsbedingungen ihrer Mitglieder in unmittelbar und zwingend wirkenden Gesamtvereinbarungen selbständig und selbstverantwortlich frei von staatlicher Beeinflussung zu regeln,1 gehört zu den wesentlichen Elementen des deutschen Arbeitsrechtssystems. Auch wenn die Tarifautonomie in ihrer derzeitigen Gestalt angesichts der Herausforderungen einer sich ständig wandelnden globalisierten Wirtschaft in die Kritik geraten ist,2 ändert dies nichts an dem grundsätzlichen Konsens, an ihr auch in Zukunft festzuhalten.3 Als Teilgewährleistung der Koalitionsfreiheit genießt sie den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG.4 Dementsprechend geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass der Gesetzgeber seine Regelungszuständigkeit im Betätigungsbereich der Tarifvertragsparteien weit zurückgenommen habe.5 Die arbeitsgesetzliche Realität spiegelt ein anderes Bild wider.6 Die Tarifvertragsparteien sehen sich zahlreichen arbeitsrechtlichen Regelungen gegenüber, die dem Tarifvertrag aufgrund seiner im Verhältnis zum staatlichen Gesetz nachrangigen Stellung in der Normenhierarchie Grenzen ziehen. Die Bestimmungen der Arbeitnehmerschutzgesetze erlegen den Tarifvertragsparteien bei der kollektiven Regelung der Arbeitsbedingungen in Abhängigkeit von ihrer Gestaltung unterschiedlich starke Restriktionen auf. Neben zweiseitig Vgl. nur Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 1. Jahresgutachten 2002 / 03 und 2003 / 04 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, BT-Drucks. 15 / 100, S. 261 f. (Nr. 466 f.), und BTDrucks. 15 / 2000, S. 380 ff. (Nr. 673 ff.); vgl. auch Antrag der Fraktion der FDP auf Reform des Tarifvertragsrechts, vom 28. 1. 2000, BT-Drucks. 14 / 2612; Gesetzentwurf der Fraktion der FDP für ein Gesetz zur Sicherung betrieblicher Bündnisse für Arbeit, vom 4. 7. 2001, BTDrucks. 14 / 6548; Gesetzentwurf der Fraktion CDU / CSU eines Gesetzes zur Modernisierung des Arbeitsrechts, BT-Drucks. 15 / 1182, S. 5, 11, 12 f.; Gesetzesantrag des Freistaates Bayern: Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung von Kleinunternehmen, vom 25. 9. 2003, BRDrucks. 701 / 03, S. 1 ff., 8 ff. 3 Jahresgutachten 2003 / 04 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Nr. 673, BT-Drucks. 15 / 2000, S. 380; Dieterich, RdA 2002, 1 ff.; ders. / Hanau / Henssler / Oetker / Wank / Wiedemann, RdA 2004, 65 ff.; Wolter, NZA 2003, 1317 ff. 4 Vgl. nur Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 92. 5 BVerfG vom 27. 2. 1973, BVerfGE 34, 307, 316; vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 340; vom 20. 10. 1981, BVerfGE 58, 233, 246; ähnlich BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 283, und vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304, der Staat enthalte sich im Betätigungsfeld der Tarifautonomie grundsätzlich einer Einflussnahme. 6 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 294, 299 ff. 1 2
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§ 1 Einleitung
und einseitig zwingenden Gesetzen, die entweder gar keine Abweichungen oder nur solche zugunsten der Arbeitnehmer zulassen, findet sich eine relativ kleine Gruppe arbeitsrechtlicher Schutznormen, die den Tarifvertragsparteien – und nur diesen – sowohl die Abweichung zugunsten als auch zulasten der Arbeitnehmer gestatten. Mit diesen tarifdispositiven Vorschriften setzt der Gesetzgeber besonderes Vertrauen in die Tarifvertragsparteien, da er ihnen die Regelungsverantwortung in einem Bereich überträgt, für den er hinsichtlich nicht tarifgebundener Arbeitsvertragsparteien die Notwendigkeit sieht, durch gesetzliche Arbeitsbedingungen einen Mindestschutz für die Arbeitnehmer bereitzustellen. Im Anwendungsbereich des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts hat der Gesetzgeber die Öffnung seiner gesetzlichen Mindestarbeitsbedingungen nicht auf tarifgebundene Arbeitsverhältnisse beschränkt, sondern nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gestattet, im Geltungsbereich eines von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichenden Tarifvertrags auf die abweichenden Tarifnormen Bezug zu nehmen. Im Arbeitszeitrecht hat er darüber hinaus die Betriebspartner an den erweiterten Gestaltungsmöglichkeiten der Tarifvertragsparteien beteiligt. Sie dürfen aufgrund eines Tarifvertrags von den tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitrechts abweichen oder im Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers abweichende Tarifvertragsvereinbarungen in einer Betriebsvereinbarung übernehmen. Die Figur des tarifdispositiven Arbeitsrechts teilt die fast 100jährige Geschichte des Tarifvertrags und ist in ihrer rechtspolitischen Dimension naturgemäß umstritten. Die Positionen reichen von Stimmen, die in tarifdispositiven Vorschriften den Ausweg aus der Starre und mangelnden Flexibilität des Arbeitsrechts sehen,7 bis hin zu Stellungnahmen, die es als Danaergeschenk8 oder Pyrrhussieg9 für die Gewerkschaftsseite einordnen. Einigkeit besteht allerdings darin, dass tarifdispositives Recht die besondere Rolle der Tarifautonomie bei der Festlegung der individuellen Arbeitsbedingungen unterstreicht.10 Die Kritik an tarifoffenen Vorschriften rührt daher, dass sie neben einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen gleichermaßen eine Abweichung vom gesetzlichen Schutzstandard zum Nachteil der Arbeitnehmerseite ermöglichen. Im Geltungsbereich tarifdispositiver Arbeitnehmerschutzvorschriften sehen sich die Gewerkschaften daher zum einen gezwungen, errungene Besitzstände gegenüber der Arbeitgeberseite gegen eine im Vergleich zum gesetzlichen Status Quo nachteilige Abänderung zu verteidigen. Zum anderen müssen sie die Zustimmung zu Abstrichen vom gesetzlichen Schutzstandard vor ihren Mitgliedern rechtfertigen. Bereits an dieser Stelle wird das Konfliktpotential Hanau, Gutachten C zum 63. DJT, C 63. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 698. 9 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 376. 10 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 698; Herschel, RdA 1969, 211, 212; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389; Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 2, 12; Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 2; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 167. 7 8
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deutlich, das mit der Figur des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts verbunden ist. Aktuell realisiert es sich anlässlich der sehr arbeitgeberfreundlichen Tarifabschlüsse in der Leiharbeitsbranche, 11 die im Kreuzfeuer der Kritik stehen.12 Ähnlich umstritten ist die Einbeziehung der Betriebspartner in die durch das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht eröffnete Abweichungsbefugnis vom Gesetz. Den Betriebspartnern wird die Legitimation zur Änderung grundsätzlich zwingender gesetzlicher Arbeitsbedingungen abgesprochen.13 Insbesondere hätten sie keine Regelungskompetenz hinsichtlich der Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit. Eine so zentrale Frage sei den Tarifvertragsparteien vorbehalten, da nur zwischen diesen Verhandlungsparität bestehe.14 Aber nicht nur das Spannungsverhältnis zwischen Individualvertrags- sowie Betriebspartnern auf der einen und Tarifvertragsparteien auf der anderen Seite wirft bei der Abweichung von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht Probleme auf. Auch das Konkurrenzverhältnis zwischen den Tarifvertragsparteien und dem Gesetzgeber bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen bietet Anlass zu Kontroversen. Nicht selten wird gegen die gesetzliche Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen die verfassungsrechtliche Garantie der Tarifautonomie als Geschütz aufgefahren und den neuen Arbeitnehmerschutzvorschriften ihre Verfassungswidrigkeit bescheinigt.15 Da Tarifverträge nur in den von zwingendem Gesetzesrecht offen gelassenen Grenzen zulässig und wirksam sind, tarifdispositive Vorschriften einer abweichenden tariflichen Vereinbarung jedoch nicht entgegenstehen, fragt sich, ob es der freien Entscheidung des staatlichen Gesetzgebers überlassen ist, zwischen der zwingenden oder tarifdispositiven Ausgestaltung einer arbeitsrechtlichen Vorschrift zu wählen. Sowohl die tarifautonome als auch die gesetzliche Regelung der Arbeitsbedingungen findet ihre Legitimationsgrundlage in der Verfassung. Für die Tarifautonomie bildet die in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verankerte Koalitionsfreiheit die Grundlage. Im Hinblick auf die staatliche Gesetzgebung kommt in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zum Ausdruck, dass sich die legislative Regelungsmacht insbesondere auch auf den Bereich des Arbeitsrechts erstreckt. Da die tarifliche Vereinbarungsbefugnis gleichermaßen wie die staatliche Gesetzgebungskompetenz verfassungsrechtlich fundiert ist, erscheint die These, dass es nur eine Frage „taktvoller und verantVgl. dazu Hayen, AiB 2004, 527 ff.; Martin, AuR 2004, 247 ff. Vgl. IG-Metall, Pressemitteilung Nr. 18 / 2003, vom 26. 2. 2003; Schüren, AÜG, § 9 Rn. 222; ders. / Behrend, NZA 2003, 521, 525; ders. / Riederer Frfr. von Paar, AuR 2004, 241 ff. 13 Buschmann / Ulber, ArbZG, § 7 Rn. 5; Linnenkohl, ArbZG, § 7 Rn. 3; Wank, in: ErfK, § 7 ArbZG Rn. 3. 14 Buschmann / Ulber, ArbZG, § 7 Rn. 5; Wank, in: ErfK, § 7 ArbZG Rn. 3; ders., NJW 1996, 2273, 2280. 15 Vgl. für das Entgeltfortzahlungsgesetz Löwisch, BB 1999, 102, 106; für § 9 Nr. 2 AÜG Rieble / Klebeck, NZA 2003, 23, 28. 11 12
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wortungsbewusster Gesetzgebungspolitik“16 ist, inwieweit der staatliche Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien bei der Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen das Feld überlässt, zumindest überprüfungsbedürftig. Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass einseitig zwingende gesetzliche Regelungen von Materien, die auch Gegenstand von Tarifverträgen sein können, zumindest zum Schutz von Grundrechten Dritter oder anderen Rechtswerten von Verfassungsrang unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig sind.17 Wieweit damit jedoch die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie in jeder Richtung zutreffend umschrieben ist und wo ihr grundrechtlicher Schutz endet, lässt es bis zum heutigen Tag offen.18 In seiner letzten Entscheidung zur Zulässigkeit eines staatlichen Gesetzes im Zuständigkeitsbereich der Tarifautonomie hat es sich mit einer tarifdispositiven Norm befasst.19 Das Gericht ist jedoch auf die Tarifdispositivität der Vorschrift weder ausführlich eingegangen, noch hat es sich mit den Besonderheiten tarifidispositiver Arbeitnehmerschutzgesetze im Vergleich zu einseitig zwingenden Normen des Arbeitsrechts auseinandergesetzt. Lediglich in einem Nichtannahmebeschluss vom 29. 12. 2004 hat das Bundesverfassungsgericht die tarifdispositiven Vorschriften der §§ 3 Abs. 1 Nr. 3 und 9 Nr. 2 AÜG an der Koalitionsfreiheit überprüft und als mit dieser vereinbar eingestuft.20 Im Schrifttum fehlt es nicht an monographischen Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis zwischen staatlicher Gesetzgebungsmacht und tariflicher Regelungsbefugnis.21 Eine abschließende Lösung, die sich in die allgemeine Grundrechtsdogmatik einfügt22 und insbesondere die verfassungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Tarifdispositivität staatlichen Arbeitnehmerschutzrechts berücksichtigt, enthalten sie bislang noch nicht. Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, die rechtlichen Fragestellungen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht näher zu beleuchten und einer Klärung zuzuführen. Betrachtet wird zum einen, welche Anwendungsprobleme tarifdispositive Arbeitneh16 Wiedemann / Stumpf, TVG, 5. Aufl., Einl. Rn. 40 ff., 47; ebenso Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 687. 17 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 283; ebenso BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 283; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 306. 18 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 283. 19 BVerfG vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293 ff. 20 BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153 ff. 21 Vgl. insbesondere Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, 1992; P. Wolff, Kollision tarifvertraglicher Normsetzung und Gesetzgebung, 1999; Heise, Die Zulässigkeit zweiseitig zwingender Normen im Arbeitsrecht, 2001; Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, 2001. 22 Zumeist wenden die Arbeiten abstrakte Abgrenzungsmodelle in Form eines „Subsidiaritätsprinzips“ an, vgl. insbesondere Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 187 ff.; Fratzky, Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes auf dem Gebiet des Arbeitsrechts, S. 173 ff.; Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 67 f.
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merschutzvorschriften im Verhältnis zur Tarifautonomie in der Gestalt aufwerfen, die sie durch die einfachgesetzliche Ausgestaltung in Form des geltenden Tarifvertragsrechts erfahren hat. Insbesondere erhebt sich im Hinblick auf die mit der tarifvertraglichen Abweichung von tarifdispositivem Recht verbundenen Nachteile für die Arbeitnehmer die Frage, ob die allgemeinen tarifrechtlichen Grundsätze unbesehen auf einen von tarifdispositiven Vorschriften abweichenden Tarifvertrag übertragen werden können. Zum anderen soll untersucht werden, in welchem Ausmaß die verfassungsrechtliche Garantie der Koalitionsfreiheit den Gesetzgeber zu einer verstärkt tarifdispositiven Gestaltung des staatlichen Arbeitsrechts verpflichten kann, bzw. diesen bei der Schaffung tarifdispositiver Arbeitnehmerschutzgesetze bindet. Die Normenhierarchie legt nahe, die verfassungsrechtlichen Fragen zu Reichweite und Grenzen der Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis als Grundlage der Tarifautonomie an den Anfang der Arbeit zu stellen. Bevor jedoch überprüft werden kann, ob der Umfang des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts den Tarifvertragsparteien genügend Raum für den ungestörten Abschluss von Kollektivvereinbarungen lässt, ist es notwendig, die genauen Grenzen zu ermitteln, die das zwingende staatliche Arbeitnehmerschutzrecht der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis zieht. Die für die Bestimmung der sachlich-gegenständlichen Reichweite der Tarifdispositivität notwendige Auslegung der Tariföffnungsklauseln ist oftmals untrennbar mit Rechtsfragen des Individualarbeitsrechts verknüpft. Diese sollen zuerst einer Klärung zugeführt werden, damit auf der Basis des einfachrechtlichen Befundes überprüft werden kann, ob die arbeitsgesetzliche Rechtslage im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung oder de lege ferenda an die Vorgaben der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie angepasst werden muss. Gleichzeitig können so die hinter den konkreten gesetzlichen Vorschriften stehenden Interessenlagen herausgearbeitet werden. Diese liefern wertvolles Argumentationsmaterial im Rahmen der verfassungsrechtlichen Abwägung zwischen staatlichem Regelungsziel und der Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis. Der erste Teil der Arbeit widmet sich daher dem Verhältnis zwischen dem tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht und der einfachgesetzlich ausgestalteten Tarifautonomie. Ausgehend von dem derzeitigen Bestand an tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht sollen in diesem Abschnitt der Arbeit die rechtlichen Probleme beleuchtet werden, die sich bei der tarifvertraglichen Abweichung von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht ergeben können. Als Grundlage für diese Untersuchungen wird zunächst das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht als Betrachtungsgegenstand definiert und gegenüber anderen rechtlichen Erscheinungen abgegrenzt. Gleichzeitig werden terminologische Fragen im Hinblick auf das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht geklärt (§ 2 A.). In diesem Zusammenhang wird auch die Entwicklung des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts nachgezeichnet (§ 2 B.) und aus dem Aufbau bzw. der Struktur der verschiedenen Vorschriften, welche die Tarifdispositivität bestimmter Arbeitnehmerschutzvor-
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§ 1 Einleitung
schriften anordnen, der Problemhaushalt bei der Abweichung von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abgeleitet (§ 2 C.). Im Anschluss daran werden zunächst die rechtlichen Probleme im Hinblick auf die Abweichung von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht untersucht und einer Klärung zugeführt, die sich im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln, d. h. der gesetzlichen Vorschriften, welche die Tarifdispositivität anordnen, ergeben (§ 3). Der Gesetzgeber hat darüber hinaus vorgesehen, dass abweichende Tarifvertragsregelungen unter bestimmten Voraussetzungen auch zwischen nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien angewendet werden können, wenn diese im Arbeitsvertrag auf die abweichenden tarifvertraglichen Vereinbarungen Bezug nehmen. Die rechtlichen Probleme im Geltungsbereich dieser gesetzlichen Anordnungen, der Erstreckungsklauseln, sollen im Anschluss untersucht und einer Lösung zugeführt werden (§ 4). Vor allem im Bereich des staatlichen Arbeitszeitrechts treten bei der Abweichung von tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften neben die Tarifvertragsparteien die Betriebspartner als Instanzen, denen der Gesetzgeber bestimmte Befugnisse für die Abweichung von den arbeitszeitrechtlichen Schutzvorschriften verliehen hat. Daher sind für diesen Bereich das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie bei der Abweichung von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht zu untersuchen sowie weitere Rechtsfragen in diesem Bereich zu klären (§ 5). Mit diesen Betrachtungen schließt der erste Teil der Arbeit ab. Sie wendet sich dann der verfassungsrechtlichen Dimension des Verhältnisses zwischen tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht und der Tarifautonomie zu. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Behandlung der einfachgesetzlichen Fragen nicht immer strikt von den verfassungsrechtlichen Grundlagen der Tarifautonomie trennen lässt. Soweit einfachrechtliche Problemlagen auch aus verfassungsrechtlicher Sicht zu beleuchten sind, werden diese Anknüpfungspunkte im ersten Teil aufgezeigt, aber erst in den folgenden Teilen der Arbeit abschließend bearbeitet. Der zweite Teil der Arbeit stellt das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie gegenüber. In diesem Abschnitt sollen die aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG fließenden verfassungsrechtlichen Bindungen des Gesetzgebers im Hinblick auf die tarifdispositive Ausgestaltung arbeitsrechtlicher Vorschriften ermittelt werden. In diesem Zusammenhang wird die Grundrechtsgarantie der Koalitionsfreiheit in zwei Richtungen für den Gesetzgeber relevant. Zum einen ist zu untersuchen, ob Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG den Gesetzgeber an der zwingenden gesetzlichen Regelung bestimmter Arbeitsbedingungen hindert, so dass diesem für einzelne Bereiche nur die Schaffung tarifdispositiver Arbeitnehmerschutzvorschriften offen bleibt, die naturgemäß den Tarifpartnern die Abweichung sowohl zugunsten als auch zulasten der Arbeitnehmer ermöglicht. Zum anderen ist nicht zweifelsfrei, und daher anhand Art. 9 Abs. 3 GG untersuchungsbedürftig, ob das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht, das sich formal nicht beeinträchtigend auf die tarifliche Regelungsbefugnis auswirkt, in die grundrechtliche Gewährleistung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG eingreift.
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In einem ersten Schritt sind dafür die verfassungsdogmatischen Grundlagen zu ermitteln, indem der Schutzumfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis aus dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG abgeleitet wird (§ 6). In diesem Zusammenhang wird untersucht, inwieweit die Koalitionsfreiheit der Koalition, d. h. dem kollektiven Zusammenschluss, als Grundrechtsgarantie zukommt, welcher Natur die in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG enthaltene Gewährleistung der Tarifautonomie ist und in welchem sachlich-gegenständlichen Umfang Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG die tarifvertragliche Regelungsbefugnis überhaupt mit seinem Schutzbereich erfasst. Auf dieser Basis kann sodann die Frage in den Mittelpunkt der Betrachtungen gerückt werden, ob und in welchem Maße der Gesetzgeber verpflichtet ist, bestimmte Arbeitnehmerschutzgesetze tarifdispositiv zu gestalten (§ 7). Die Untersuchung wird sich dabei weitestgehend an der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik orientieren, was zuerst den Nachweis erfordert, dass es sich bei der zwingenden gesetzlichen Regelung von Arbeitsbedingungen um einen Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG handelt. Anschließend ist zu klären, ob die negativen Einflüsse, die tarifdispositive Gesetze auf die Wahrnehmung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis ausüben, die Schwelle zu einem Grundrechtseingriff überschreiten und sich dies einschränkend auf eine mögliche Verpflichtung des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Rechts auswirkt (§ 7 A.). Sodann sind die Anforderungen an die Rechtfertigung eines legislativen Eingriffs in das Grundrecht der Koalitionsfreiheit zu ermitteln und daraus die konkreten Bindungen des Gesetzgebers für dessen Pflicht zur tarifdispositiven Regelung materieller Arbeitsbedingungen abzuleiten (§ 7 B.) Die Untersuchungen beschränken sich ausschließlich auf den Zusammenhang zwischen tarifdispositiven gesetzlichen Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts und der Grundrechtsgarantie der Tarifautonomie als Teilgewährleistung der Koalitionsfreiheit. Grundrechtspositionen der Arbeitnehmer oder Arbeitgeber als solche sowie der Gleichheitssatz werden nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein. Im dritten und letzten Teil der Arbeit werden die verfassungsdogmatischen Ergebnisse auf ausgewählte Bereiche des Arbeitnehmerschutzrechts angewandt (§ 8). Anhand exemplarischer Regelungsfragen, die im Interesse der Tarifvertragsparteien stehen, wird mittels der Erkenntnisse des zweiten Teils überprüft, ob sich der Gesetzgeber im Hinblick auf den Umfang der tarifdispositiven Gestaltung des staatlichen Arbeitnehmerschutzrechts im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben gehalten hat oder ob im Zuge einer verfassungskonformen Auslegung der bestehenden Arbeitnehmerschutzgesetze bzw. de lege ferenda eine verstärkte tarifdispositive Regelung staatlicher Arbeitsbedingungen vorzunehmen ist. In diesem Zusammenhang werden auch die im ersten Teil der Arbeit vorerst zurückgestellten Auslegungsfragen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten betrachtet. Soweit sich der verfassungsrechtliche Befund auf die Ergebnisse der Auslegung des tarifdispositiven Rechts auswirkt, wird dies bei der Lösung der Auslegungsfragen berücksichtigt.
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1. Teil
Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie § 2 Einführende Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht A. Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht als Betrachtungsgegenstand Der Terminus „tarifdispositiv“ ist noch sehr jung. Er wurde erstmals, allerdings in leicht abgewandelter Form als „tarifvertragsdispositiv“, von Küchenhoff1 verwendet. Bis heute hat er jedoch keine abschließende inhaltliche Verfestigung im Schrifttum erfahren.2 Bevor die tarifrechtlichen Anwendungsprobleme im Hinblick auf das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht näher beleuchtet werden, liegt es daher nahe, den Betrachtungsgegenstand zu umreißen. I. Der Begriff „tarifdispositiv“ Der Begriff „tarifdispositiv“ beruht auf der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen absoluten und dispositiven oder in anderen Worten zwingenden und nachgiebigen Rechtsnormen.3 Dispositives Recht zeichnet sich dadurch aus, dass von ihm durch autonome Regelungen abgewichen werden kann. Die nachgiebigen Rechtsnormen nehmen ihre Geltungskraft gegenüber einzelvertraglichen Regelungen zurück. Nur für den Fall, dass individuelle Abmachungen nicht existieren, will die gesetzliche Vorschrift regelnd eingreifen.4 Dadurch betonen dispositive VorRdA 1959, 201, 205. Vgl. Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 143, anders jedoch Rn. 387; ders., Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 687, der unter tarifdispositiven Gesetzen solche versteht, die zugunsten der Arbeitnehmer abgeändert werden können; im Gegensatz zu den übrigen Stimmen, vgl. statt aller Küchenhoff, RdA 1959, 201, 205. 3 Herschel, DB 1971, 2114, 2114; Knorr, RdA 1979, 201, 201; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 19; grundsätzlich zur Unterscheidung zwischen absoluten und dispositiven Normen Larenz, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl., S. 31 f.; bereits Bülow, AcP 64 (1881), 1, 9. 4 Bülow, AcP 64 (1881), 1, 45; Enneccerus / Nipperdey, Allgemeiner Teil, 1. Halbband, S. 301; Herschel, DB 1971, 2114, 2114; Hübner, Allgemeiner Teil des BGB, Rn. 88; Käppler, 1 2
§ 2 Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht
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schriften die Privatautonomie. Sie wollen Privatrechtssubjekten die eigenverantwortliche Regelung ihrer vertraglichen Beziehungen überlassen.5 Die Nachgiebigkeit eines Rechtssatzes muss sich immer aus der gesetzlichen Regelung selbst ergeben, auch wenn ihre ausdrückliche Anordnung nicht in jedem Fall erforderlich ist, sondern durch Auslegung ermittelt werden kann.6 Darüber hinaus ist die Bezeichnung als dispositiv nur dann gerechtfertigt, wenn die betreffenden gesetzlichen Vorschriften in ihrer Geltung hinter autonome Regelungen zurücktreten, die denselben Sachverhalt inhaltlich abweichend regeln.7 Im Gegensatz dazu setzen sich zwingende Normen gerade für diesen Fall gegenüber individuellen Regelungen durch. Dabei ist erneut zu differenzieren zwischen zweiseitig zwingenden und einseitig zwingenden Vorschriften. Die erste Gruppe derogiert jegliche inhaltlich abweichenden autonomen Vereinbarungen, während die zweite Gruppe inhaltlich abweichende autonome Regelungen nicht in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt, solange sie die von den staatlichen Vorschriften geschützten Rechtssubjekte im Vergleich zum gesetzlichen Status Quo begünstigen.8 Vereinzelt finden sich gesetzliche Vorschriften, die für den Bereich, in dem sie zwingende Geltung beanspruchen, bestimmten Akteuren im Rechtsverkehr die Möglichkeit einräumen, wirksam von der gesetzlichen Regelung inhaltlich abweichende autonome Regelungen zu setzen. Wenn es sich bei diesen um die Normen eines Tarifvertrags handelt, dann sind die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften tarifdispositiv. Allein in Bezug auf die Tarifvertragsparteien gelten in diesem Fall die für das dispositive Recht gültigen Prinzipien.9 Das bedeutet, dass tarifdispositive Vorschriften ihren zwingenden Geltungsanspruch gegenüber tarifvertraglichen Regelungen zurücknehmen, diesen den Vorrang einräumen und sich im Hinblick auf ihre Wirkung in die Subsidiarität begeben.10 Mit Herschel11 und Wiedemann12 ist die weitere Einschränkung zu machen, dass der Regelungsgegenstand der tarifdispositiven Vorschriften grundsätzlich auch einer einzelvertraglichen Vereinbarung zugänglich sein muss, so dass Tarifautonomie und Privatautonomie mitVoraussetzungen und Grenzen tarifdispositiven Richterrechts, S. 34; Larenz, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl., S. 31; Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 532. 5 Bülow, AcP 64 (1881), 1, 9, 45; Hübner, Allgemeiner Teil des BGB, Rn. 88; Larenz, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, S. 31. 6 Käppler, Voraussetzungen und Grenzen tarifdispositiven Richterrechts, S. 34; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 20. 7 Herschel, RdA 1969, 211, 212; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 20. 8 Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 174. 9 Herschel, DB 1971, 2114, 2114; Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 334; anschaulich bezeichnet Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 387, tarifdispositive Normen daher auch als Gesetzesrecht mit gespaltener Rechtswirkung, das für die Tarifvertragsparteien dispositiv, für die übrigen Normadressaten jedoch zwingend ist. 10 Knorr, RdA 1979, 201, 201. 11 RdA 1969, 211, 212. 12 In: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 391. 3*
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
einander in Konkurrenz treten. Dies begründet sich aus der Funktion des dispositiven Rechts, das die Privatautonomie in den Vordergrund stellen will. Im Grundsatz muss es sich demnach um Normen handeln, die dispositiv ausgestaltet sein könnten, deren Gegenstand also einzelvertraglich regelbar ist. Die Dispositionsbefugnis wird dabei jedoch auf die Tarifvertragsparteien beschränkt. In der Regel findet sich das rechtliche Phänomen der Tarifdispositivität im Bereich einseitig zwingender Vorschriften. Dort hat es zur Folge, dass die ohnehin gegebene Abweichungsmöglichkeit zugunsten des geschützten Personenkreises für die Tarifvertragsparteien zu der Befugnis erweitert wird, auch zum Nachteil der Arbeitnehmer von den gesetzlichen Vorschriften abzuweichen.13 Tarifdispositivität ist aber keinesfalls auf einseitig zwingendes Recht beschränkt, sondern auch für zweiseitig zwingende Normen denkbar.14 Charakteristisch für tarifdispositive Vorschriften ist demzufolge, dass sie in einem grundsätzlich der Individualautonomie zugänglichen Bereich zwingende Wirkung entfalten, dies aber nur gegenüber den Parteien des Arbeitsverhältnisses bzw. gegebenenfalls den Betriebspartnern gilt. Zumindest die Tarifvertragsparteien dürfen aber von diesen gesetzlichen Regelungen auch zum Nachteil des von den Normen geschützten Personenkreises abweichen oder solche Abweichungen zulassen.15
II. Definitorische und terminologische Einzelheiten Im Bereich des Arbeitsrechts finden sich zahlreiche Vorschriften, die den Tarifpartnern unter Ausschluss der Arbeitsvertragsparteien abweichende Regelungen gestatten. Allein im Betriebsverfassungsrecht eröffnet § 3 BetrVG erhebliche Regelungsspielräume. Die vorliegende Arbeit wird sich auf tarifdispositive Vorschriften des Arbeitnehmerschutzrechts beschränken. Unter dem Begriff „Arbeitnehmerschutzrecht“ sollen alle Normen verstanden werden, welche die Bedingungen festlegen, unter denen abhängige Arbeit geleistet wird. Streng genommen ergibt sich diese Einschränkung des Betrachtungsgegenstandes bereits aus der Definition des Begriffs „tarifdispositiv“. Herschel16 und Wiedemann17 weisen zutreffend darauf hin, dass „dispositiv“ nur eine Vorschrift sein kann, deren Regelungsgegenstand grundsätzlich für vertragliche Vereinbarungen offen steht. Die Arbeitsvertragsparteien als privatautonome Regelungsinstanzen 13 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 372; Käppler, Voraussetzungen und Grenzen tarifdispositiven Richterrechts, S. 34; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389. 14 Sieber, Tarifdispositives Recht, S. 111, aus schweizerischer Sicht. 15 Canaris, Gedächtnisschrift für Dietz, S. 199; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 372; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 698; Knorr, RdA 1979, 201, 201; Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 333; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 20; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 387. 16 RdA 1969, 211, 212. 17 In: Wiedemann, TVG, Einl., Rn. 391.
§ 2 Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht
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können aber generell nicht über die Organisation der Betriebsverfassung verfügen. An dieser Stelle hören die terminologischen Unsicherheiten jedoch keinesfalls auf. Es existiert eine Vielzahl von Begriffen, die zum Teil undifferenziert verwendet werden. Grundsätzlich erfasst die Bezeichnung „tarifdispositive Vorschriften“ die gesetzlichen Regelungen, von denen in einem Tarifvertrag auch zum Nachteil der Arbeitnehmer abgewichen werden darf.18 Gamillscheg wählt für diese gesetzlichen Normen allerdings den Begriff „tarifoffene“ Vorschriften.19 Häufig findet sich für eine arbeitsrechtliche Regelung, die den Tarifvertragsparteien die Abweichung von den gesetzlichen Arbeitsbedingungen gestattet, der Terminus „Tariföffnungsklausel“.20 Streng zu unterscheiden sind diese Tatbestände von gesetzlichen oder tarifvertraglichen Vorschriften, welche die Normen eines Tarifvertrags für abweichende Regelungen durch die Betriebspartner öffnen. Auch diese werden jedoch gemeinhin als Tariföffnungsklauseln bezeichnet.21 Hauptsächlich im älteren Schrifttum findet sich oftmals der Begriff der „Zulassungsnorm“. Meist sind damit schlicht die Tariföffnungsklauseln des tarifdispositiven Rechts gemeint.22 Die öffnenden Vorschriften weisen jedoch, wie sich im Folgenden noch zeigen wird, im Hinblick auf Tatbestand und Rechtsfolge erhebliche Unterschiede auf, so dass die einheitliche Bezeichnung als Zulassungsnorm etwas irreführend ist. Wiedemann dagegen fasst unter den Begriff der Zulassungsnorm ausschließlich solche gesetzlichen Vorschriften, die den Tarifvertragsparteien ein Abweichen von gesetzlichen Regelungen in Bereichen gestatten, welche einer Regelung durch Individualvertrag von vornherein nicht zugänglich sind.23 Schließlich werden auch oftmals die abweichenden Tarifnormen selbst Zulassungsnormen genannt.24 In ihrer ursprünglichen Bedeutung erfassten Zulassungsnormen nur von 18 Herschel, DB 1971, 2114, 2114; Knorr, RdA 1979, 201, 201; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 21; Wiedemann, TVG, Einl. Rn. 357, 387; Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, Grundl. Rn. 204, 221; ähnlich schon Küchenhoff, RdA 1959, 201, 205, der die Bezeichnung „tarifvertragsdispositiv“ wählt; im Bezug auf Richterrecht: Herschel, RdA 1973, 147, 149. 19 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 699; ihm folgend Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 272. 20 Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines ersten Gesetzes zur Bereinigung arbeitsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. V / 3913, S. 10; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 699; Reichel, BArbBl. 1969, 189, 192; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 20, der sowohl die Bezeichnung Tariföffnungsklausel als auch Zulassungsnorm verwendet; ablehnend Herschel, RdA 1969, 211, der das „Operieren mit derartigen substanzarmen Begriffen“ nicht begrüßen kann. 21 So Reichel, BArbBl. 1969, 189, 193 der den Begriff mehrdeutig verwendet; Wiedemann, in: ders., TVG, § 1 Rn. 266. 22 So Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 19 ff., 27; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 208; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 20; dagegen ausdrücklich Herschel, RdA 1969, 211. 23 Wiedemann, TVG, Einl. Rn. 387, 391 und § 1 TVG Rn. 266; ders., RdA 1969, 321, 324. 24 So Herschel, RdA 1969, 211; Knorr, RdA 1979, 201, 202; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 240; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 273; dagegen ausdrücklich Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 699.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
dem Gesetz abweichende Tarifvertragsvereinbarungen, die ihrerseits wieder die Schaffung abweichender Regelungen durch die Betriebspartner oder die Arbeitsvertragsparteien außerhalb des Günstigkeitsbereichs gestatteten.25 In dieser letzten Bedeutung ist der Begriff auch durchaus passend. Der mitunter aufzufindende Begriff des „Tarifvorrangs“ bezieht sich auf die Verdrängungswirkung des Tarifvertrags gegenüber tarifdispositiven Gesetzesbestimmungen. Er bezeichnet das Vermögen tarifvertraglicher Vorschriften, wirksam zugunsten oder zulasten der Arbeitnehmer von gesetzlich geregelten Arbeitsbedingungen abweichen zu können.26 Davon ist wiederum der mitunter ebenfalls als Tarifvorrang bezeichnete27 Tatbestand des § 87 Abs. 1 ES BetrVG zu unterscheiden. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird für solche Regelungen in Arbeitnehmerschutzgesetzen, die den Tarifvertragsparteien die Abweichung von den gesetzlich geregelten Arbeitsbedingungen auch zuungunsten der Arbeitnehmer gestatten, aufgrund ihrer Doppeldeutigkeit nicht die Bezeichnung Zulassungsnorm verwendet. Vielmehr soll für diese Normen im Folgenden der Begriff „Tariföffnungsklauseln“ Anwendung finden. Fast ausnahmslos alle Regelungen, die den tarifdispositiven Charakter bestimmter gesetzlicher Arbeitsbedingungen vorsehen, eröffnen nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien die Möglichkeit, auf die abweichenden Tarifvertragsnormen im Arbeitsvertrag Bezug zu nehmen. Gemeinhin bezeichnet das Schrifttum diese Regelungen als gesetzliche „Bezugnahmeklauseln“. 28 Der Terminus ist jedoch doppeldeutig. Er birgt eine erhebliche Verwechslungsgefahr mit vertraglichen Abreden in sich, die auf einen Tarifvertrag verweisen. Für solche Vertragsregelungen hat sich der Begriff der (vertraglichen) Bezugnahmeklausel bereits etabliert.29 Einzelne Autoren deklarieren die gesetzliche Gestattung für nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien auf Tarifnormen Bezug zu nehmen, die von tarifdispositivem Recht abweichen, als Bezugnahmeermächtigung.30 Aber auch dieser Begriff er25 So Herschel, DB 1971, 2114, 2116; ders., RdA 1969, 211, im Anschluss an Hueck, in: Hueck / Nipperdey / Tophoven / Stahlhacke, TVG, § 1 Rn. 59; ebenso: Meisel / Hiersemann, AZO, § 7 Rn. 14; Peters / Ossenbühl, Übertragung, S. 101. 26 Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 13. 27 So Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, § 87 vor Rn. 28; Klebe, in: Däubler / Kittner / Klebe, BetrVG, § 87 Rn. 25; Richardi, BetrVG, § 87 Rn. 143 ff. 28 Von Hoyningen-Huene, RdA 1974, 138, 141; Lorenz, in: Däubler, TVG, § 3 Rn. 267; Nömeier, Bezugnahme auf Tarifinhalte, S. 53 f.; Oetker, Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 29 Vgl. Annuß, BB 1999, 2558 ff.; Bauschke, ZTR 1993, 416 ff.; Gaul, ZTR 1991, 188, 191; ders., ZTR 1993, 355 ff.; Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 206; M. Reichel, Arbeitsvertragliche Bezugnahme, S. 9 ff.; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1722; Schaub, ZTR 2000, 259, 260. 30 Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 250; Reichel, M., Arbeitsvertragliche Bezugnahme, S. 13.
§ 2 Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht
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fasst den Regelungsgehalt nicht korrekt. Im Rahmen der Privatautonomie ist es Arbeitsvertragsparteien grundsätzlich möglich, auf Tarifverträge Bezug zu nehmen. Sie müssen dazu nicht vom Gesetzgeber ermächtigt werden. Im Anwendungsbereich des tarifdispositiven Rechts wird die gesetzliche Erlaubnis nur deswegen notwendig, weil der gegenüber den Individualvertragsparteien zwingende Charakter der gesetzlichen Vorschriften einer Bezugnahme entgegensteht. Es liegt daher nahe, für die gesetzliche Ermächtigung an nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien im Geltungsbereich des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts auf einschlägige, vom Gesetz abweichende Tarifverträge Bezug zu nehmen, eine andere Bezeichnung zu finden. Als solche bietet sich der Begriff der „Erstreckungsklausel“ an. Der Gesetzgeber erweitert mit den Vorschriften zur Gestattung der einzelvertraglichen Bezugnahme die Abweichungsbefugnis von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht für die Individualparteien nur in einem sehr begrenzten Umfang. Dieser besteht allein in der inhaltlich identischen Übernahme einer tarifvertraglichen Vereinbarung. Indem die gesetzlichen Regelungen den Arbeitsvertragsparteien die Möglichkeit einräumen, ihre Arbeitsbedingungen genau so zu gestalten, wie sie der einschlägige Tarifvertrag vorsieht, „erstrecken“ sie in einem untechnischen Sinne die Tarifvertragsregelung – wenn auch vermittelt durch die Entscheidung der Arbeitsvertragsparteien und auf individualvertraglicher Basis – auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Überwiegend wird dies bereits aus dem Wortlaut deutlich, wenn die entsprechenden Vorschriften vorsehen, dass die abweichenden tariflichen Bestimmungen „zwischen nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern Geltung haben“31 bzw. „die Anwendung der tarifvertraglichen Regelung“32 vereinbart werden kann. § 101 Abs. 2 S. 3 ArbGG bestimmt sogar, dass sich bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen die tarifvertragliche Vereinbarung auf nicht tarifgebundene Parteien „erstreckt“. Der Terminus „Erstreckungsklauseln“ deckt sich auch mit dem hinter der gesetzlichen Regelung stehenden Zweck. Der Gesetzgeber zielt mit ihr nicht nur auf die Schaffung betriebseinheitlicher Arbeitsbedingungen ab. Er erkennt darüber hinaus die Koalitionen als Repräsentanten des gesamten Berufsoder Wirtschaftszweiges an33 und bestätigt ihre Einwirkungsbefugnisse gegenüber nicht oder anders organisierten Arbeitnehmern mit dem Tarifvertrag gleichsam als gesetzesvertretendes Arbeitsrecht.34 Im Folgenden wird daher statt des oftmals zu findenden Begriffs der Bezugnahmeklausel der Terminus „Erstreckungsklauseln“ verwendet.
31 So § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG; § 17 Abs. 3 S. 2 BetrAVG; § 622 Abs. 4 S. 2 BGB; § 48 Abs. 2 S. 2 . 32 So §§ 12 Abs. 3 S. 2, 13 Abs. 4 S. 2, 14 Abs. 2 S. 4 TzBfG; § 4 Abs. 4 S. 2 EFZG. 33 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389. 34 Stahlhacke, DB 1969, 1651, 1652; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
III. Umfang des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts Die Tarifdispositivität einer gesetzlichen Regelung ist, wie der einseitig oder zweiseitig zwingende Charakter des Arbeitnehmerschutzrechts, grundsätzlich durch Auslegung zu ermitteln. Im Gegensatz zu älteren Stellungnahmen im Schrifttum, welche die Tarifdispositivität zum Teil losgelöst vom Wortlaut der in Betracht kommenden Vorschriften feststellten,35 ist entsprechend der heutigen Regelungspraxis des Gesetzgebers häufig bereits aus dem Wortlaut der jeweiligen Arbeitnehmerschutzgesetze ableitbar, welche Vorschriften tarifdispositiv ausgestaltet sind. 1. Maßstab für die Bestimmung der Tarifdispositivität gesetzlicher Arbeitnehmerschutzvorschriften Der Grund für die freie Interpretation des Arbeitnehmerschutzrechts im älteren Schrifttum ist in einer von der aktuellen Auffassung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen staatlichem Gesetz und tariflicher Festlegung der Arbeitsbedingungen abweichenden Akzentsetzung bei der Abgrenzung der beiden Regelungsbefugnisse zu suchen. Nach heutigem Verständnis sind tarifliche Regelungen unterhalb des staatlichen Gesetzesrechts in der Normenhierarchie eingeordnet. Allein dadurch bewirkt einseitig oder zweiseitig zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht, dass inhaltlich abweichende Tarifnormen wegen des Verstoßes gegen zwingendes Recht unzulässig sind.36 Etwas anderes gilt nur im Hinblick auf tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht. Plastisch kommt dies zum Ausdruck, wenn diese besondere Rechtswirkung der Tarifverträge als Vorrangprinzip37 bezeichnet wird. Vor allem in älteren Beiträgen wurde der Terminus aber mit einer darüber hinausgehenden Bedeutung gefüllt und bezog sich auch auf einen kompetentiellen Vorrang der Tarifvertragsparteien zur Regelung der Arbeitsbedingungen.38 Bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen staatlicher Gesetzgebung und tariflicher Normsetzung sind jedoch zwei Ebenen streng voneinander zu trennen. Auf der einen kommt der jeweilige Charakter der in Kraft befindlichen Normen als zwingendes oder tarifdispositives Recht, d. h. also die gegenseitige Durchsetzungsfähigkeit, zum Tragen. Auf der anderen steht der Umfang der Befugnisse des jeweiligen Normgebers zur Diskussion. Wenn in den 60er Jahren von Tarifvorrang gesprochen 35 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 189; Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 83. 36 Allgemeine Meinung, vgl. nur Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 688; Herschel, RdA 1969, 211, 214; Kempen, in: Kempen / Zachert, TVG, Grundl. Rn. 204 f. 37 Vgl. beispielhaft Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 13, 16, 18; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 11. 38 So ausdrücklich Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 79, der der gesetzlichen Anordnung nur dann konstitutive Wirkung beimessen will, wenn eine Regelungsmaterie nicht bereits in den Zuständigkeitsbereich der Tarifvertragsparteien fällt.
§ 2 Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht
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wurde, dann war damit zwar zumeist die Ebene der Befugnisse gemeint. Man ließ die Ergebnisse dieser „Kompetenzabgrenzung“ jedoch unmittelbar auf das Verhältnis der in Kraft befindlichen Normen durchschlagen.39 So führte beispielsweise Biedenkopf aus, die Befugnis des Gesetzgebers zur zwingenden Regelung bestimmter materieller Arbeitsbedingungen sei durch den Kernbereich des Art. 9 Abs. 3 GG begrenzt.40 In diesem Bereich könne der Gesetzgeber zwar materielle Arbeitsbedingungen durch Gesetz regeln, aber nicht den Vorrang der tarifvertraglichen Regelung aufheben.41 Es gelte der Grundsatz der Subsidiarität.42 Biedenkopf behandelt in seiner Arbeit ausdrücklich nur das Verhältnis zwischen tarifvertraglicher und gesetzlicher Norm,43 zieht für die Entscheidung, welche Norm die andere verdrängt, aber die jeweiligen Befugnisse des Gesetzgebers und der Tarifvertragsparteien heran.44 Auf der Grundlage der heutigen Dogmatik ist diese Vermengung von Befugnisebene und Normebene jedoch nicht mehr tragbar. Bereits im Jahre 1959 hat dies Küchenhoff deutlich zum Ausdruck gebracht, wenn er ausführte, die Begriffe der Souveränität des Staates oder des souveränen Staates blieben bedeutungsvoll.45 Das zwingende staatliche Gesetz gehe im Konfliktsfall dem Tarifvertrage vor.46 Der Staat sei in der Schaffung47 von Bestimmungen über Entgelte und andere Arbeitsbedingungen hilfsweise (subsidiär) hinter den Tarifvertragsparteien zuständig. Wo jedoch der geschaffene Tarifvertrag48 gegen ein wirksames und zwingendes, auch keine Ausnahmen für Tarifverträge zulassendes staatliches Gesetz verstößt, habe dieses den Vorrang.49 Allein durch die methodengerechte Auslegung des Gesetzesrechts ist daher zu ermitteln, ob es sich um tarifdispositives Recht handelt.50 Unabhängig davon muss der Umfang der jeweiligen Regelungsbefugnisse des staatlichen Gesetzgebers und der Tarifvertragsparteien bestimmt werden. Ist in diesem Zusammenhang eine Kompetenzüberschreitung zu verzeichnen, so führt das 39 Vgl. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 189; Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 83 ff.; Wolf, ZfA 1971, 151, 158. 40 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 188; ebenso Wolf, ZfA 1971, 151, 158. 41 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 188 f. 42 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 189, 210 f. 43 Vgl. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 152 f. 44 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 154, den Vorrang tarifvertraglicher Normierung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen könne der Gesetzgeber nur insoweit aufheben, als er dadurch nicht den Kernbereich tarifvertraglicher Regelbefugnisse berühre. 45 Küchenhoff, RdA 1959, 201, 205. 46 Küchenhoff, RdA 1959, 201, 205. 47 Hervorhebungen dem Original entnommen. 48 Hervorhebungen dem Original entnommen. 49 Küchenhoff, RdA 1959, 201, 205, Hervorhebungen dem Original entnommen; gegen die dogmatisch richtige Einschätzung Küchenhoffs wendet sich Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 182, ausdrücklich. 50 Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 175.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
für eine Tarifnorm zur Unwirksamkeit oder Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht. Gesetzliche Normen sind in diesem Fall verfassungswidrig, was erst nach einem entsprechenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu deren Nichtigkeit führt (§ 31 Abs. 2 S. 2 BVerfGG). Das Kompetenzverhältnis zwischen den Normgebern schlägt jedoch keinesfalls unmittelbar auf das Verhältnis der von den Normgebern gesetzten Normen durch. Dies verkennt Andelewski51, der beide Fragen miteinander vermengt und hinsichtlich der von ihm untersuchten Literatur nicht zwischen Stellungnahmen, die sich auf das Verhältnis der Normen beziehen, und solchen unterscheidet, die das Verhältnis der Normgeber zueinander betreffen. Für den weiteren Gang der Untersuchung folgt daraus, dass der Umfang des tarifdispositiven Rechts durch Auslegung der in Kraft befindlichen gesetzlichen Arbeitnehmerschutzvorschriften zu bestimmen ist. Getrennt davon wird im zweiten Teil der Arbeit anhand der verfassungsrechtlichen Garantie der Koalitionsfreiheit untersucht, welche Vorgaben sich aus der Grundrechtsgewährleistung für den Gesetzgeber im Hinblick auf die tarifidispositive Ausgestaltung bestimmter Arbeitnehmerschutzvorschriften ableiten lassen. 2. Tarifdispositive Vorschriften kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung Überwiegend hat der Gesetzgeber im Wortlaut ausdrücklich festgelegt, dass bestimmte Arbeitnehmerschutzvorschriften tarifdispositiven Charakter haben. Dies geschieht, indem er in einzelnen Vorschriften der gesetzlichen Regelung anordnet, dass von den übrigen Normen insgesamt oder von einigen von ihnen in einem Tarifvertrag mit oder ohne Einschränkung abgewichen52 oder eine Abweichung zugelassen werden kann. Entscheidend ist, dass eine bestimmte gesetzliche Regelung materieller Arbeitsbedingungen existiert, die inhaltlich abweichend in einem Tarifvertrag oder aufgrund eines Tarifvertrags in einer betrieblichen Kollektivvereinbarung geregelt werden kann. Demzufolge stellen die folgenden Normen Tariföffnungsklauseln dar: § 622 Abs. 4 S. 1 BGB regelt für die Kündigungsfristen, dass die Tarifvertragsparteien diese in Abweichung von § 622 Abs. 1 bis 3 BGB verändern können. § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG gestattet unter Ausnahme der Regelungen über das Bestehen des Urlaubsanspruches (§ 1 BUrlG), den berechtigten Personenkreis (§ 2 BUrlG) und die Mindestdauer des Jahresurlaubs (§ 3 Abs. 1 BUrlG) abweichende tarifvertragliche Festlegungen im Urlaubsrecht. Diese Befugnis erweitert § 13 Abs. 2 und 3 BUrlG unter zusätzlichen Voraussetzungen für Betriebe bestimmter Wirtschaftszweige. Durch einen Verweis auf § 13 Abs. 3 BUrlG sieht § 19 Abs. 4 S. 1 JArbSchG die Tarifdispositivität des Kalenderjahres als Urlaubsjahr für 51 52
Vgl. Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 61 ff. Zu diesen Einzelheiten siehe unten, 1. Teil: § 2 C. I.
§ 2 Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht
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Betriebe der Deutschen Bahn vor und gestaltet dadurch § 19 Abs. 1 JArbSchG in diesem engen Bereich tarifdispositiv aus. § 7 Abs. 1 und 2 sowie § 12 S. 1 ArbZG ermöglichen den Tarifvertragsparteien Abweichungen von verschiedenen Vorschriften bezüglich der Arbeitszeit an Werksowie Sonn- und Feiertagen.53 § 21a Abs. 1 JArbSchG eröffnet dieselbe Möglichkeit für einige Regelungen der Arbeitszeit Jugendlicher. Gemäß § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG dürfen Tarifverträge von den gesetzlichen Bestimmungen zur Höhe des im Krankheitsfall fortzuzahlenden Arbeitsentgelts in § 4 Abs. 1, 1a und 3 EFZG abweichen. Aus den §§ 12 Abs. 3 S. 1, 13 Abs. 4 S. 1, 14 Abs. 2 S. 3 TzBfG in Verbindung mit § 22 Abs. 1 TzBfG ergibt sich für die Tarifvertragsparteien die Abweichungsbefugnis auch zuungunsten der Arbeitnehmer von einzelnen Vorschriften zur Teilzeitarbeit und Befristung von Arbeitsverhältnissen. § 17 Abs. 3 S. 1 BetrAVG gestaltet bestimmte gesetzliche Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung tarifdispositiv aus. Schließlich öffnen § 89a Abs. 1 S. 1 sowie Abs. 1a, § 100a Abs. 1, § 104 Abs. 2 S. 1, § 139 Abs. 3 S. 1, § 140 Abs. 1 S. 1 und § 141 SeemG einige Sondervorschriften für Seeleute abweichenden tarifvertraglichen Vereinbarungen. Weniger eindeutig ist § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG, der die Anwendbarkeit einzelner Vorschriften des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes beim Vorliegen weiterer Voraussetzungen ausschließt, wenn dies in einem Tarifvertrag vorgesehen ist. Auf den ersten Blick erscheint dies nicht als Öffnung der gesetzlichen Regelung für abweichende Vereinbarungen in einem Tarifvertrag. Tatsächlich gestattet das Gesetz seinem Wortlaut nach auch keine inhaltlich von den im Eingangssatz erwähnten Vorschriften abweichenden tariflichen Vereinbarungen zur Arbeitnehmerüberlassung.54 Aber es ermöglicht den Tarifvertragsparteien, und nur diesen, die Anwendbarkeit des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes in dem im Eingangssatz geregelten Umfang auszuschließen. Dispositive Vorschriften im Allgemeinen stehen nicht nur inhaltlich abweichenden autonomen Regelungen offen, sondern sind auch als solche abdingbar. Gerade diese Befugnis wird den Tarifvertragsparteien in § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG eingeräumt, so dass damit die Tarifdispositivität der im Eingangssatz aufgeführten Vorschriften des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes angeordnet wird.55 53 Vgl. ergänzend dazu die Gestattung abweichender tarifvertraglicher Regelungen in § 6 Abs. 3 Nr. 2 der Fahrpersonalverordnung vom 22. 8. 1969, in der Fassung der Verordnung vom 23. 7. 1990, BGBl. 1990 I, S. 1484, 1485; § 4 Abs. 3 der Verordnung über Ausnahmen vom Verbot der Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in der Eisen- und Stahlindustrie in der Fassung vom 31. 7. 1968, BGBl. 1968 I, S. 885, und § 6 der Verordnung über Ausnahmen vom Verbot der Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in der Papierindustrie vom 20. 7. 1963, BGBl. 1963 I, S. 491. 54 Becker / Wulfgramm, AÜG, Art. 1 § 1 Rn. 110; Boemke, AÜG, § 1 Rn. 171; Hamann, in: Schüren, AÜG, § 1 Rn. 528 ff.; Ulber, AÜG, § 1 Rn. 224.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
Ebenfalls im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung gestatten § 3 Abs. 1 Nr. 3 S. 2 und § 9 Nr. 2, 3. HS AÜG, dass Tarifverträge Ausnahmen von dem grundsätzlichen Gleichbehandlungsgebot im Hinblick auf Leiharbeitnehmer im Betrieb zulassen können. Im Falle des § 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG führen abweichende Bestimmungen in einem Tarifvertrag dazu, dass der zwingende Grund für die Versagung der Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung entfällt. Für § 9 Nr. 2 AÜG kann ein abweichender Tarifvertrag bewirken, dass eine vertragliche Regelung, die den Leiharbeitnehmer schlechter stellt als die Stammarbeitnehmer, entgegen der grundsätzlichen gesetzlichen Regelung nicht unwirksam ist. Auch § 48 Abs. 2 S. 1 und § 101 Abs. 2 S. 1 ArbGG sind Tariföffnungsklauseln.56 § 48 Abs. 2 S. 1 ArbGG ermächtigt die Tarifvertragsparteien dazu, in Abweichung von § 46 Abs. 2 S. 1 ArbGG in Verbindung mit den §§ 38 bis 40 ZPO eine an sich nicht gegebene örtliche Zuständigkeit eines Arbeitsgerichts festzulegen. Dadurch dürfen diese inhaltlich von zwingenden gesetzlichen Vorschriften abweichen. Die den Tarifvertragsparteien in § 101 Abs. 2 S. 1 ArbGG verliehene Befugnis, in einem Tarifvertrag die Arbeitsgerichtsbarkeit zugunsten einer Schiedsgerichtsbarkeit als ganze auszuschließen, kennzeichnet ebenfalls deren tarifdispositiven Charakter. Zwar stellen die Festlegung der örtlichen Zuständigkeit der Arbeitsgerichte und die Begründung einer speziellen Schiedsgerichtsbarkeit kein originäres Arbeitnehmerschutzrecht dar, dennoch sind sie eng mit dem Arbeitsverhältnis verbunden. Zusätzlich zu der Abweichungsmöglichkeit von den tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften durch Tarifvertrag gestattet der Gesetzgeber fast ausnahmslos auch nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, auf die abweichenden Tarifnormen, deren Geltungsbereich eröffnet ist, im Arbeitsvertrag Bezug zu nehmen. Für die Regelung der Kündigungsfristen ergibt sich das aus § 622 Abs. 4 S. 2 BGB. Im Urlaubsrecht findet sich die Erstreckungsklausel in § 13 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 S. 2 BUrlG. Für die Regelung der Arbeitszeit sehen § 7 Abs. 3 S. 1 und 2 sowie § 12 S. 2 ArbZG und § 21a Abs. 2 JArbSchG die Bezugnahmemöglichkeit vor. Im Hinblick auf die Festlegung der Höhe des im Krankheitsfall fortzuzahlenden Arbeitsentgelts ergibt sie sich aus § 4 Abs. 4 S. 2 EFZG. Für die Teilzeitarbeit und Befristung von Arbeitsverhältnissen finden sich in § 12 Abs. 3 S. 3, § 13 Abs. 4 S. 2 und § 14 Abs. 2 S. 4 TzBfG Erstreckungsklauseln. Im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung gestattet § 17 Abs. 3 S. 2 BetrAVG die Bezugnahme. Für das Recht der Seeleute sehen § 89a Abs. 2, § 100a Abs. 2 sowie § 104 Abs. 2 S. 2, § 139 Abs. 3 S. 2, § 140 Abs. 1 S. 2 sowie § 141 jeweils in Verbindung mit § 89a Abs. 2 SeemG die Bezugnahmemöglichkeit vor. Schließlich erlauben für abweichende tarifliche Regelungen des arbeitsgerichtlichen Verfahrens § 48 Abs. 2 55 Dementsprechend wird die Norm einhellig als Tariföffnungsklausel eingestuft: Becker / Wulfgramm, AÜG, Art. 1 § 1 Rn. 110; Hamann, in: Schüren, AÜG, § 1 Rn. 519; Ulber, AÜG, § 1 Rn. 233. 56 Zweifelnd Wiedemann, in: ders., TVG, Rn. 392, ohne Begründung.
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S. 2 und § 101 Abs. 2 S. 3 ArbGG die einzelvertragliche Übernahme durch nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien. Lediglich § 1 Abs. 3 Nr. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 3 und § 9 Nr. 2 AÜG enthalten keine Erstreckungsklauseln. 3. Verdeckt tarifdispositive Vorschriften Fehlt eine ausdrückliche gesetzliche Anordnung der Tarifdispositivität in einer Rechtsnorm, so ergibt sich ein erhöhter Begründungsaufwand, um dennoch eine Öffnung der gesetzlichen Vorschriften für abweichende Tarifnormen anzunehmen. Der 3. Senat des Bundesarbeitsgerichts hatte in einem obiter dictum zu einem Urteil aus dem Jahre 1971 erwogen, dass die §§ 74 ff. HGB entgegen dem Wortlaut des § 75d HGB tarifdispositiv sein könnten.57 Zur Begründung führte er aus, dass die Tarifdispositivität an vielen Stellen der gesetzlichen Regelung üblich sei und verwies dafür auf § 13 Abs. 1 BUrlG, § 622 Abs. 3 BGB a. F. und § 7 AZO.58 Gleichzeitig betonte der Senat, dass § 75d HGB vorrangig nur auf einzelvertragliche Vereinbarungen abziele und daher tarifvertraglichen Vereinbarungen nicht im Wege zu stehen bräuchte.59 Das rechtswissenschaftliche Schrifttum stand ebenfalls auf dem Standpunkt, dass sich die Tarifdispositivität einer Regelung nicht unmittelbar aus ihrem Wortlaut ergeben müsse, und untersuchte, ob sich aus dem Zweck bestimmter Vorschriften deren tarifdispositiver Charakter ergeben kann. Die analoge Anwendung der §§ 74 ff. HGB auf nichtkaufmännische Angestellte durch die Rechtsprechung und die Existenz tarifvertraglicher Wettbewerbsverbote, die den handelsrechtlichen Vorschriften entgegenstanden, hatten die Diskussion angestoßen. Daraufhin drängten Vertreter des Schrifttums auf eine Öffnung der richterrechtlichen Anwendung der §§ 74 ff. HGB für abweichende tarifvertragliche Vereinbarungen.60 Als Vorfrage erörterten sie in diesem Zusammenhang, ob die §§ 74 ff. HGB selbst im Wege einer teleologischen Reduktion als tarifdispositiv einzustufen seien.61 Dabei wurden Vorschriften, deren Tarifdispositivität sich aus dem Zweck ergeben soll, in Abgrenzung zu denen, die eine ausdrückliche Tariföffnungsklausel enthielten, als verdeckt tarifdispositiv, die übrigen als offen tarifdispositiv bezeichnet. 62 In diesem Zusammenhang erlangen zwei Fragenkreise Relevanz, deren erschöpfende BAG vom 12. 11. 1971, AP Nr. 28 zu § 74 HGB = DB 1972, 340 ff. BAG vom 12. 11. 1971, AP Nr. 28 zu § 74 HGB. 59 BAG vom 12. 11. 1971, AP Nr. 28 zu § 74 HGB. 60 Gamillscheg, RdA 1968, 407, 409; Schaub, RdA 1971, 268, 269; a.A. Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 139 f. 61 Zustimmend Canaris, Anm. zu BAG vom 13. 9. 1969, SAE 1971, 111, 113; ders., Anm. zu BAG vom 12. 11. 1971, AP Nr. 28 zu § 74 HGB; ders., Gedächtnisschrift für Dietz, S. 199, 221 ff.; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 139 f., der allerdings die verdeckte Tarifdispositivität für die richterrechtliche Erstreckung der §§ 74 ff. HGB auf nichtkaufmännische Angestellte ablehnt. 62 Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 336; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 131. 57 58
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Behandlung den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde. Dabei handelt es sich einerseits um die Anerkennung tarifdispositiven Richterrechts63 und andererseits um die Zulässigkeit verdeckt tarifdispositiver Vorschriften. Die letzte Frage wird ohnehin mit der einhelligen Ansicht in der Literatur für jüngere Vorschriften zu verneinen sein,64 da dem Gesetzgeber mit dem Inkrafttreten der ersten Tariföffnungsklauseln die Figur des tarifdispositiven Rechts bekannt war und er aus Gründen der Rechtssicherheit ab diesem Zeitpunkt die Tarifdispositivität gesetzlicher Bestimmungen ausdrücklich anordnen muss.65 Im Hinblick auf die verdeckte Tarifdispositivität älterer Regelungen, namentlich der §§ 74 ff. HGB, sei auf die Stellungnahmen im Schrifttum verwiesen.66 Gegen die Anerkennung der verdeckten Tarifdispositivität der §§ 74 ff. HGB im Rahmen ihrer Anwendung auf Arbeitnehmer spricht zudem die durch Gesetz vom 24. 8. 200267 neu in die Gewerbeordnung eingefügte gesetzliche Verweisung auf diese Vorschriften. Der Gesetzgeber hat im Zuge dieser Änderung für die entsprechende Anwendung der §§ 74 ff. HGB auf Arbeitnehmer keine ausdrückliche Tariföffnungsklausel vorgesehen. Daher ist anzunehmen, dass die arbeitnehmerschützenden Regelungen im Hinblick auf die Wettbewerbsverbote nicht zur Disposition der Tarifvertragsparteien stehen sollen.68 Bedeutung kann die Figur des verdeckt tarifdispositiven Rechts allerdings in einem anderen, bisher im Schrifttum nicht ausführlich betrachteten Zusammenhang erlangen. Sollte sich aus dem Schutzumfang der in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verankerten Tarifautonomie ergeben, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, bestimmte Bereiche des Arbeitsrechts, die derzeit durch zwingende Mindestarbeitsbedingungen geregelt sind, für abweichende tarifvertragliche Regelungen zu öffnen, dann werden diese arbeitsrechtlichen Bestimmungen gegebenenfalls im Zuge einer verfas63 Vgl. dazu ausführlich Canaris, Gedächtnisschrift für Dietz, 199 ff.; Käppler, Voraussetzungen und Grenzen tarifdispositiven Richterrechts; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 409 ff. 64 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 372; Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 327; Stein, AuR 1998, 1, 7; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 133; Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, Grundl. Rn. 225; für die Zulässigkeit nur in engen Ausnahmefällen Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 699; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 407 f.; a.A. Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 336. 65 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 699; Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 327; Stein, AuR 1998, 1, 7; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 133; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 408; wohl auch Canaris, Gedächtnisschrift für Dietz, S. 199, 222. 66 Gegen eine Anerkennung verdeckt tarifdispositiven Rechts: Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 372; Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, Grundl. Rn. 225; dafür: Canaris, Anm. zu BAG vom 12. 11. 1971, AP Nr. 28 zu § 74 HGB; ders., Gedächtnisschrift für Dietz, S. 199, 221 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 699; Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 336; Vossen, Tarifdispositives Richterrecht, S. 131 ff.; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl., Rn. 407 f.; im Hinblick auf Dienstordnungen: Säcker, DB 1971, 1476, 1476; offen gelassen von BAG AP Nr. 14 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte. 67 BGBl. I 2002, S. 3412. 68 Ebenso Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 336.
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sungskonformen Auslegung als verdeckt tarifdispositiv einzustufen sein.69 Dieser Frage wird im Rahmen des zweiten und dritten Teils dieser Arbeit nachgegangen. Sie ist daher vorerst zurückzustellen. 4. Abgrenzung des Betrachtungsgegenstandes von anderen Rechtsnormen, welche die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien betreffen Neben tarifdispositiven finden sich andere Vorschriften, die Regelungsbefugnissen der Tarifvertragsparteien in einem Tarifvertrag nicht entgegenstehen oder anderweitig an diese anknüpfen. Sie sind von tarifdispositiven Regelungen abzugrenzen. Ein Gesetz kann vorsehen, dass die Tarifvertragsparteien durch tarifvertragliche Regelung einzelne Tatbestandsmerkmale, insbesondere Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe, konkretisieren dürfen. In diesem Fall setzen die Tarifpartner keine eigenen autonomen Regelungen mit einem von den gesetzlichen Vorschriften abweichenden Inhalt, sondern füllen den vom Gesetz offen gelassenen Regelungsbereich aus.70 Gesetzliche Konkretisierungsbefugnisse stellen demnach keine Tariföffnungsklauseln dar. Ebenso wenig handelt es sich bei den zu konkretisierenden gesetzlichen Vorschriften oder Regelungsbestandteilen um tarifdispositives Recht. Dementsprechend enthält § 8 Abs. 4 S. 3 und 4 TzBfG beispielsweise keine Tariföffnungsklausel. Tarifdispositives Recht liegt ebenfalls nicht vor, wenn neben den Tarifvertragsparteien auch die Parteien des Arbeitsverhältnisses unmittelbar von bestimmten gesetzlichen Vorschriften abweichen dürfen, ohne den Umweg über die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag zu nehmen. Begriffsmerkmal der Tarifdispositivität ist die zwingende Wirkung gegenüber den Individualparteien. Demgemäß ist beispielsweise § 15 Abs. 3 TzBfG keine Tariföffnungsklausel.71 Schließlich erhält eine gesetzliche Vorschrift nicht allein dadurch den Charakter einer Tariföffnungsklausel, dass sie die Existenz eines Tarifvertrags in den Tatbestand aufnimmt.72 In der Regel umfasst ein derartiger Tarifvertrag keine Vereinbarungen, die denselben Regelungsgegenstand wie das Gesetz normieren. Vielmehr erfordert dieses die bloße Existenz einer tariflichen Festlegung. Bei den entsprechenden Tarifnormen handelt es sich nicht um inhaltlich vom Gesetz abweichende Regelungen. Ebenso wenig lässt das Gesetz die Abweichung von seinen 69 In diese Richtung Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 336, und bereits Schaub, RdA 1971, 268, 269, allerdings nur im Hinblick auf die analoge Anwendung der §§ 74 ff. HGB auf nichtkaufmännische Angestellte. 70 Schaub, ArbRHB, § 31 IV. 3. a), Rn. 50; Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, Grundl. Rn. 221. 71 Abweichend Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 324. 72 Herschel, RdA 1969, 211, 212.
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Bestimmungen zu, so dass es nicht als tarifdispositiv eingestuft werden kann. Daher enthält beispielsweise § 1 Abs. 1 AÜG keine Tariföffnungsklausel.73
B. Einführung in die Entstehungsgeschichte des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts Das tarifdispositive Recht verdankt seine Existenz dem Nebeneinander von staatlicher und kollektivvertraglicher Regelung der materiellen Arbeitsbedingungen. Es teilt daher ebenso die relativ kurze Entstehungsgeschichte des Tarifvertrags wie die staatlichen Vorbehalte gegenüber einer weitreichenden Einbeziehung der Tarifvertragsparteien in die rechtliche Gestaltung des Arbeitsverhältnisses. Erst in den letzten Jahren setzte sich das Vertrauen des Gesetzgebers in eine dezentrale Wahrung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen durch, was sich nicht zuletzt in der zunehmenden Beliebtheit widerspiegelt, der sich die Rechtsfigur des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts erfreuen kann.74 I. Die Entwicklung bis zum Ende des zweiten Weltkrieges Die Aufhebung der unter anderem in Teil 2, Titel 8, § 396 des Preußischen Allgemeinen Landrechts verankerten Vereinigungsverbote zur Verfolgung günstiger Arbeits- und Lohnbedingungen (§ 152 Abs. 1 der Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom 21. 6. 186975) stellte einen entscheidenden Schritt für den Anerkennungsprozess der kollektiven Interessenverfolgung bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen dar. Die Tarifvertragsverordnung der Weimarer Republik vom 23. 12. 191876 führte sogar den Tarifvertrag als ein gesetzlich geformtes Regelungsinstrument zur Gestaltung der Arbeitsbedingungen ein. Im Anschluss daran berücksichtigte auch das sich allmählich entwickelnde staatliche Arbeitsschutzrecht die besondere Rolle der Koalitionen bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen. Eine Vorbildfunktion erfüllte das Arbeitszeitrecht. In der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich bereits erste Arbeitsschutzgesetze,77 die vorwiegend gegen die Nachtarbeit von Kindern gerichtet und unter anderem durch den aufgrund starAnders Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 388, allerdings ohne Begründung. Vgl. exemplarisch die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit für das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks. 15 / 1587, S. 28 ff. 75 BGBl. des Norddeutschen Bundes 1869, S. 245 ff. 76 RGBl. 1918, S. 1456. 77 Preußisches Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken vom 9. 3. 1839, Pr. Ges.-Slg. 1839, S. 156 (abgedruckt bei Huber, Dokumente I, S. 79 f.); vgl. zum Ganzen auch Eversberg, Bäckereiarbeitszeitrecht, S. 7 ff.; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 27 f. 73 74
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ker gesundheitlicher Belastung auftretenden Mangel an tauglichen Wehrpflichtigen motiviert waren.78 Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom 26. 6. 1869 griff diese Arbeitszeitbeschränkungen auf. Auch die Nachfolgeregelung im Deutschen Reich übernahm die arbeitszeitrechtlichen Restriktionen.79 Bis zum ersten Weltkrieg wurde der Arbeitsschutz schrittweise ausgebaut.80 Für einige Berufszweige wie das Bäckereiwesen entstanden Sonderregelungen.81 Die Geburtsstunde des tarifdispositiven Arbeitsschutzrechts schlug nach dem Ende des ersten Weltkriegs. Kurz vor der Schaffung der Tarifvertragsverordnung, im Zuge der wirtschaftlichen Demobilmachung erkannte die Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter vom 23. 11. 191882 bereits die Befugnis von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen an, Ausnahmen von den Beschäftigungsbeschränkungen gewerblicher Arbeiter zu vereinbaren. Die von den Arbeitszeitbeschränkungen abweichenden Tarifvereinbarungen mussten allerdings für ihre Umsetzbarkeit durch den Arbeitgeber noch vom zuständigen Gewerbeaufsichtsbzw. Bergrevieramt genehmigt werden.83 Nach der gesetzlichen Regelung des Tarifvertrags in der Tarifvertragsverordnung im Dezember 1918 entsprach die Formulierung der Abweichungsbefugnisse von gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen deutlicher dem Wortlaut der heute zu findenden Tariföffnungsklauseln. Die Verordnung über die Regelung der Arbeitszeit der Angestellten während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung vom 18. 3. 191984 bestimmte in ihrem § 7 S. 1: „Abweichend von den Bestimmungen der §§ 1 bis 3 und 5 kann durch Tarifvertrag eine anderweitige Regelung der Arbeitszeit und der Überstunden getroffen werden.“
Auch § 2 der Verordnung über die Arbeitszeit vom 21. 12. 192385 enthielt eine Tariföffnungsklausel mit folgendem Wortlaut: „Für Gewerbezweige oder Gruppen von Arbeitnehmern, bei denen regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft vorliegt, kann durch Tarifvertrag oder, soweit ein solcher nicht besteht oder doch Arbeitsverhältnisse dieser Art nicht berücksichtigt, durch den Reichsarbeitsminister nach Anhörung der beteiligten wirtschaftlichen Vereinigungen Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 27 f. Eversberg, Bäckereiarbeitszeitrecht, S. 9; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 28. 80 Vgl. dazu Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 28 f. 81 Bekanntmachung betreffend den Betrieb von Bäckereien und Konditoreien vom 4. 3. 1896, RGBl. 1896, S. 55, geändert durch die Bekanntmachung über die Bereitung von Backware vom 5. 1. 1915, RGBl. 1915, S. 8, und die Verordnung über die Arbeitszeit in den Bäckereien und Konditoreien vom 23. 11. 1918, RGBl. 1918, S. 1329. 82 RGBl. 1918, S. 1334. 83 Abschnitt VII S. 2 der Anordnung über die Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter vom 23. 11. 1918, RGBl. 1918, S. 1334. 84 RGBl. 1919 I, S. 315. 85 RGBl. 1923 I, S. 1249. Diese Vorschrift wird gemeinhin als die erste Tariföffnungsklausel in der Geschichte des Arbeitsschutzrechts zitiert, vgl. Herschel, DB 1980, 687; Knorr, RdA 1979, 201, 202; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 408. 78 79
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie der Arbeitgeber und Arbeitnehmer eine vom § 1 Satz 2 und 3 abweichende Regelung getroffen werden.“
Im Zusammenhang damit regelte § 5 Abs. 1 derselben Verordnung: „Wird durch Tarifvertrag die Arbeitszeit über die im § 1 Satz 2 und 3 festgesetzten Grenzen ausgedehnt, so gelten für die Beschäftigung der Arbeitnehmer, für die der Tarifvertrag verbindlich ist, dessen Bestimmungen an Stelle der Vorschriften des § 1.“
Die wenige Jahre später vorgenommene Regelung eines eigenständigen arbeitsgerichtlichen Verfahrens im Arbeitsgerichtsgesetz 1926 vom 23. 12. 192686 schuf tarifdispositives Verfahrensrecht. In § 48 Abs. 2 gestattete das Gesetz den Tarifvertragsparteien, für Streitigkeiten aus einem Arbeits- oder Lehrverhältnis oder aus Verhandlungen über die Eingehung eines solchen, das von einem Tarifvertrag erfasst wird, die Zuständigkeit eines an sich örtlich unzuständigen Arbeitsgerichts in Abweichung von den §§ 38 bis 40 ZPO festzulegen. Gleichzeitig sah § 91 Abs. 1 ArbGG 1926 vor, dass das arbeitsgerichtliche Verfahren für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten aus einem tarifunterworfenen Arbeits- oder Lehrverhältnis in einem Tarifvertrag durch eine ausdrückliche Schiedsvereinbarung ausgeschlossen werden kann. Für Arbeits- oder Lehrverhältnisse, auf die der Tarifvertrag nur kraft Allgemeinverbindlichkeitserklärung Anwendung fand, war diese Regelung gemäß § 91 Abs. 1 S. 2 ArbGG 1926 ausdrücklich nicht anwendbar. Die Tariföffnungsklauseln sind bis heute im Wesentlichen unverändert in § 48 Abs. 2 und § 101 Abs. 2 Bestandteil des Arbeitsgerichtsgesetzes geblieben. § 48 Abs. 2 ArbGG soll sicherstellen, dass Rechtsstreitigkeiten dort konzentriert werden können, wo die Tarifvertragsparteien dies für nötig halten.87 1927 setzte sich die partielle Öffnung arbeitszeitrechtlicher Schutzvorschriften für tarifvertragliche Abweichungen im Bäckereiwesen fort. Das Gesetz zur Änderung der Verordnung über die Arbeitszeit in den Bäckereien und Konditoreien vom 16. 7. 192788 fügte in § 1 der Verordnung einen neuen Abs. 1a ein, der eine abweichende Regelung der Arbeitszeit durch Tarifvertrag gestattete. Durch die Öffnung der gesetzlichen Regelungen zugunsten des Tarifvertrags sollten Arbeitgeber und Gewerkschaften in die Gestaltung der Arbeitszeit eingebunden und eine höhere Akzeptanz der staatlichen Arbeitszeitregelung erreicht werden.89 Allerdings darf die Regelungsmacht der Verbände vor dem Hintergrund des existierenden Zwangsschlichtungssystems der Weimarer Zeit nicht überbewertet werden.90 Während der Zeit des Nationalsozialismus kam es zu einer völligen Umgestaltung des Arbeitsrechts. Das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 86 87 88 89 90
RGBl. 1926, S. 507. Germelmann, in: ders. / Matthes / Müller-Glöge / Prütting, ArbGG, § 48 Rn. 99. RGBl. 1927 I, S. 183. Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 36. Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 35.
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20. 1. 193491 beseitigte die Gewerkschaften und Tarifverträge in ihrer bisherigen Form und führte die Tarifordnung als betriebsübergreifendes Instrument der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen ein.92 Fortan erließ der Treuhänder der Arbeit Tarifordnungen, die den Charakter von Rechtsverordnungen trugen.93 Im gleichen Jahr fasste die Arbeitszeitordnung vom 26. 7. 193494 die Vorschriften aus der Arbeitszeitverordnung von 1923 und arbeitszeitrechtliche Regelungen der Gewerbeordnung zusammen.95 Im Zuge dieser Änderungen trat der Vorrang von Tarifordnungen an die Stelle des Vorrangs für tarifvertragliche Regelungen, der in der Arbeitszeitverordnung von 1923 enthalten war. Eine entsprechende Anpassung erfuhr auch das Bäckereiarbeitszeitrecht durch das Gesetz über die Arbeitszeit in Bäckereien und Konditoreien vom 29. 6. 193696, das nun in § 4 Abs. 1 für Tarifordnungen eine Abweichungsbefugnis von den arbeitszeitrechtlichen Vorschriften der §§ 2 und 3 vorsah. 1938 wurden arbeitszeitrechtliche Vorschriften, die Kinder und Jugendliche betrafen, aus der Arbeitszeitordnung in das neu gefasste Gesetz über Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen (Jugendschutzgesetz) vom 30. 4. 193897 übernommen und die Arbeitszeitordnung neu bekannt gemacht.98 Die Arbeitszeitordnung 1938 (AZO) enthielt in § 7 Abs. 1 ebenfalls eine Tariföffnungsklausel. II. Entwicklung von 1945 bis zur Gegenwart Während des zweiten Weltkrieges befanden sich die arbeitszeitrechtlichen Schutzvorschriften teilweise außer Kraft.99 Der Kontrollrat der Alliierten stellte nach dem Ende des zweiten Weltkriegs die auf der Grundlage der Arbeitszeitordnung 1938 geltende Rechtslage wieder her.100 Die Arbeitszeitordnung 1938 galt nach Inkrafttreten des Grundgesetzes gemäß Art. 125 GG als Bundesgesetz fort.101 Der partiellen Öffnung arbeitszeitrechtlicher Vorschriften durch § 7 AZO folgte 1963 im Zuge einer bundeseinheitlichen Regelung die Schaffung zahlreicher tarifdispositiver Vorschriften im Urlaubsrecht mit dem Gesetz über den Mindesturlaub für Arbeitnehmer vom 8. 1. 1963.102 Vor der Vereinheitlichung existierten UrlaubsRGBl. 1934 I, S. 45. Vgl. § 32 Abs. 2 AOG; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 42. 93 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 42. 94 RGBl. 1934 I, S. 803. 95 Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 6; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 43. 96 RGBl. 1936 I, S. 521. 97 RGBl. 1938 I, S. 437. 98 RGBl. 1938 I, S. 447; Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 6; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 45. 99 Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 7. 100 Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 7; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 47 f. 101 Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 8; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 48. 102 BGBl. I 1963, S. 2. 91 92
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gesetze der einzelnen Bundesländer, von denen einige bereits tarifdispositive Regelungen enthielten.103 Im Übrigen sahen die Landesurlaubsgesetze ausschließlich Mindestarbeitsbedingungen vor. Auch die ersten Entwürfe für ein Bundesurlaubsgesetz beinhalteten keine Abweichungsmöglichkeiten für die Tarifpartner. Sowohl in dem Entwurf der SPD-Fraktion als auch in einem Vorschlag der CDU / CSUFraktion aus dem Jahre 1962 fand sich keine Öffnung der gesetzlichen Regelung für die Tarifvertragsparteien.104 Erst der Ausschuss für Arbeit schlug nach Anhörung der Sozialpartner im selben Jahr eine Regelung vor, welche die Bestimmungen des Bundesurlaubsgesetzes mit Ausnahme einiger Grundprinzipien für tarifdispositiv erklärte.105 Die Tarifpartner hatten während der Beratungen zu dem Gesetz wiederholt betont, dass die Regelung des Urlaubs ein wesentliches Anliegen tariflicher Vereinbarungen darstelle und die Kodifizierung in die grundgesetzlich geschützte Tarifautonomie eingreife.106 Der Kompromissvorschlag des Ausschusses für Arbeit wurde in Gestalt des § 13 BUrlG verabschiedet. § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG sah erstmals eine Erstreckungsklausel vor, welche die Anwendbarkeit der abweichenden Tarifregelungen auch auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer eines Betriebs ermöglichte. Mit der Tariföffnung sollte den Sozialpartnern in Einzelheiten ein Spielraum bei der Gestaltung des Urlaubsrechts eingeräumt und so die Bedeutung der Tarifautonomie für die Entwicklung des Urlaubsrechts nachdrücklich hervorgehoben werden.107 Gleichzeitig diente die Tariföffnung aber auch der Beseitigung von Schwierigkeiten bei der Feststellung, ob eine abweichende Regelung günstiger ist als die gesetzliche Ausgangslage.108 Die Tarifvertragsparteien stimmten seinerzeit überein, dass die Regelung des Urlaubsrechts weiterhin autonom durch Tarifverträge erfolgen sollte. Um aber eine nicht tragbare Zersplitterung des Urlaubsrechts zu vermeiden, müsse ein Grundbestand an Normen geschaffen werden, der eine möglichst einheitliche tarifliche Regelung garantiere.109 Dem Vorbild im Arbeitszeit- und Urlaubsrecht folgte bald die weitere Öffnung gesetzlicher Regelungen für tarifvertragliche Abweichungen. Im Rahmen der Ver103 Vgl. Art. 9 Abs. 3 und 10 Abs. 3 UrlG Bayern, § 6 Abs. 2 UrlG Berlin (vom 24. 4. 1952, GVBl. 1952, S. 297), § 7 S. 3 UrlG Bremen, § 3 Abs. 3 UrlG Hessen, § 5 Abs. 1 UrlG Niedersachsen, § 10 Abs. 2 UrlG Nordrhein-Westfalen und § 12 Abs. 2 UrlG Schleswig-Holstein; vgl. dazu von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 64; Schröder, BB 1960, 53, 55; Stahlhacke, DB 1961, 1131, 1132. 104 Vgl. § 10 Entwurf eines Gesetzes über Mindesturlaub für Arbeitnehmer (BUrlG) der Fraktion der SPD, BT-Drucks. IV / 142, S. 2, der günstigere Regelungen zuließ, und § 13 Entwurf eines Bundesurlaubsgesetzes der Fraktion der CDU / CSU, BT-Drucks. IV / 207, S. 2, der lediglich für den Bereich der Heimarbeit abweichende Tarifregelungen gestattete. 105 Vgl. § 13 Entwurf eines Mindesturlaubsgesetzes für Arbeitnehmer des Ausschusses für Arbeit, BT-Drucks. IV / 785, S. 8. 106 Vgl. dazu Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 1. 107 Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit, BT-Drucks. IV / 785, S. 2. 108 Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 2. 109 Dersch, RdA 1960, 51.
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einheitlichung des Kündigungsrechts, das bis dahin für die verschiedenen Berufszweige in unterschiedlichen Gesetzen verankert war, fasste das Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz vom 14. 8. 1969110 die §§ 620 ff. BGB neu. Im Zuge dieser Änderungen stellte der Gesetzgeber die Länge der Kündigungsfristen in § 622 Abs. 3 BGB a. F. zur Disposition der Tarifvertragsparteien.111 Dadurch wollte er nachteilige Auswirkungen auf bestimmte Wirtschaftsbereiche verhindern, für welche die in § 622 BGB geregelten Kündigungsfristen zu starr sein könnten.112 Den Tarifvertragsparteien maß er dabei das notwendige Einschätzungsvermögen im Hinblick auf die Notwendigkeit abweichender Regelungen zu.113 § 622 Abs. 3 S. 2 BGB enthielt wie schon § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG eine Erstreckungsklausel, welche die Anwendbarkeit der vom BGB abweichenden Kündigungsfristen auf alle Arbeitnehmer eines Betriebes gewährleisten sollte.114 Das Institut des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts begann sich allmählich zu etablieren. So verwundert es nicht, dass im Zuge der seit den 50er Jahren andauernden Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Regelung zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall der Entwurf für ein Lohnfortzahlungsgesetz aus dem Jahre 1962 in § 9 eine Tariföffnungsklausel für die in § 2 des Entwurfes geregelte Methode der Berechnung des fortzuzahlenden Entgelts enthielt.115 Das Lohnfortzahlungsgesetz vom 27. 6. 1969 übernahm diese Regelung in § 2 Abs. 3 LFZG.116 Man begründete sie mit „praktischen Bedürfnissen“.117 Das Bundesarbeitsgericht legte diese Vorschrift allerdings restriktiv aus. Danach sollten Abweichungen von der gesetzlich festgelegten Höhe der Lohnfortzahlung lediglich hinsichtlich der Berechnungsmethode erlaubt sein. Der Zweck der Tariföffnung verbiete, bestimmte Vergütungsbestandteile aus der Berechnung herauszunehmen.118 Im Jahre 1975 erweiterte sich der Umfang des tarifdispositiv ausgestalteten Arbeitsrechts abermals. Die Praxis der in den Vorjahren üblichen betrieblichen Altersversorgung hatte zahlreiche Probleme mit sich gebracht, die am besten durch BGBl. 1969 I, S. 1106. Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung arbeitsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. V / 3913, S. 8; Neumann, in: Staudinger, 12. Aufl., § 622 BGB Rn. 1. 112 Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung arbeitsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. V / 3913, S. 10. 113 Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung arbeitsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. V / 3913, S. 10. 114 Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung arbeitsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. V / 3913, S. 10. 115 Vgl. § 9 des Entwurfs der Bundesregierung eines Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz), BT-Drucks. IV / 817, S. 3. 116 Vgl. BGBl. 1969 I, S. 946. 117 Begründung zum Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes über die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle (Lohnfortzahlungsgesetz), BT-Drucks. IV / 817, S. 12. 118 BAG vom 3. 3. 1993, AP Nr. 25 zu § 2 LohnFZG. 110 111
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eine gesetzliche Regelung gelöst werden konnten. 1968 begann die Bundesregierung mit der Vorbereitung einer gesetzlichen Regelung.119 Die Sozialpartner unterstützten diese Bestrebungen.120 Vorerst beschränkte sich das gesetzgeberische Konzept auf steuerrechtliche Aspekte.121 Bedingt durch die Auflösung des Bundestages 1972 konnte das Gesetzgebungsvorhaben aber nicht mehr in der laufenden Legislaturperiode durchgesetzt werden. Gleichzeitig stellte das Bundesarbeitsgericht in einer Entscheidung die Unverfallbarkeit von Versorgungsanwartschaften fest.122 Diese aktuelle Entwicklung arbeitete der neue Regierungsentwurf für ein Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (BetrAVG) vom 28. 9. 1973 ein.123 Der Bundestag berücksichtigte die Änderungsvorschläge des Bundesrats124 sowie des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung125 und verabschiedete das Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung am 5. 12. 1974,126 woraufhin dieses am 1. 1. 1975 in Kraft trat. Der Regierungsentwurf sah von Anfang an eine Tariföffnungsklausel vor, nach der die Tarifvertragsparteien nicht an die in den §§ 2 bis 5 BetrAVG geregelte Berechnung und Abfindung unverfallbarer Versorgungsanwartschaften, der Übernahme der entsprechenden Verpflichtungen sowie der Anrechnungsbegrenzung gebunden sein sollten.127 Die Bundesregierung begründete ihren Vorschlag damit, dass tarifvertragliche Regelungen hinreichend Gewähr für eine angemessene Berücksichtigung auch der Interessen der Arbeitnehmer bieten, da von der Parität der Vertragspartner ausgegangen werden könne.128 Dieselbe Erwägung lag auch der gesetzlichen Ermächtigung an nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien zugrunde, im Geltungsbereich eines abweichenden Tarifvertrags auf dessen Vorschriften Bezug nehmen zu können. Anders als bei anderen Tariföffnungsklauseln dürfte im Hinblick auf das BetrAVG die gesteigerte Sachnähe der Tarifvertragsparteien nicht ausschlaggebend gewesen sein, da sie in dieser Hinsicht nicht das Maß an Sachkenntnis wie die Betriebspartner erreichen können.129 119 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die große Anfrage der Fraktion der CDU / CSU, BT-Drucks. V / 2469, S. 3 und Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Fraktion der FDP, BT-Drucks. V / 3119, S. 6 sowie Sozialbericht 1970, BT-Drucks. VI / 643, S. 26 f.; Blomeyer / Otto, BetrAVG, Einl. Rn. 7. 120 Blomeyer / Otto, BetrAVG, Einl. Rn. 8. 121 Blomeyer / Otto, BetrAVG, Einl. Rn. 9. 122 BAG vom 10. 3. 1972, AP Nr. 156 zu § 242 BGB Ruhegehalt. 123 Vgl. BR-Drucks. 590 / 73, S. 6. 124 Vgl. BT-Drucks. 7 / 1281 Anl. 2, S. 52 ff. und Anl. 3, S. 55. 125 Vgl. BT-Drucks. 7 / 2843. 126 BGBl. 1974 I, S. 3610. 127 Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, BT-Drucks. 7 / 1281, S. 30. 128 Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, BT-Drucks. 7 / 1281, S. 31. 129 Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 168; Höfer / Abt, BetrAVG I, § 17 Rn. 109.
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Etwa ein Jahrzehnt später folgte die Schaffung weiterer tarifdispositiver Vorschriften. Das Erste Gesetz zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes vom 15. 10. 1984130 führte in Gestalt des § 21a JArbSchG eine Tariföffnungsklausel in das ursprüngliche Regelungswerk aus dem Jahr 1976 ein.131 Der Jugendarbeitsschutz war seit der Auskopplung aus der Arbeitszeitordnung durch das neu gefasste Gesetz über Kinderarbeit und über die Arbeitszeit der Jugendlichen (Jugendschutzgesetz) vom 30. 4. 1938132 stets Gegenstand einer eigenständigen Regelung neben der Arbeitszeitordnung geblieben. Das Jugendschutzgesetz von 1938 galt nach dem Ende des zweiten Weltkrieges vorerst fort.133 1960 wurde es durch das Jugendarbeitsschutzgesetz ergänzt und 1976 durch ein neu gefasstes, zahlreiche Verbesserungen enthaltendes Jugendarbeitsschutzgesetz aufgehoben.134 Die Beratungen zum Jugendarbeitsschutzgesetz 1976 hatten auch die Schaffung einer Tariföffnungsklausel zum Gegenstand.135 Der Vorschlag konnte sich damals jedoch nicht durchsetzen.136 Die Tariföffnung in § 21a JArbSchG hatte den Zweck, den Tarifvertragsparteien größere Befugnisse und mehr Verantwortung im Jugendarbeitsschutz zu übertragen. Sie sollen die Vorschriften den konkreten Erfordernissen der Ausbildung und Beschäftigung Jugendlicher anpassen und damit den Jugendarbeitsschutz funktionsfähiger machen.137 Den Tarifvertragsparteien wird bessere Sachkenntnis, die Fähigkeit zu gegenüber den gesetzlichen Bestimmungen flexibleren Regelungen, Sachgerechtigkeit und die Möglichkeiten für eine effizientere Durchsetzung ihrer Festlegungen zugemessen.138 § 21a JArbSchG stellte ein Novum im Rahmen des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts dar. Die Vorschrift sah erstmals auf gesetzlicher Ebene vor, dass die Tarifvertragsparteien auch die Betriebspartner zu abweichenden Regelungen der Arbeitszeit ermächtigen dürfen. Derartige Abweichungsmöglichkeiten waren zwar durch die Rechtsprechung bereits für die in der Arbeitszeitordnung 1938 enthaltene Öffnungsklausel anerkannt,139 aber bislang 130 131 132 133 134 135
Rn. 1.
BGBl. 1984 I, S. 1277. Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, Einf. Rn. 30, § 21a Rn. 1. RGBl. 1938 I, S. 437. Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 6. Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 6; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, Einf. Rn. 24 ff. BT-Plenarprotokoll, 216. Sitzung, S. 14978; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a
Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 7 / 4544, S. 6. Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 2. 138 Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 10 / 2012, S. 14, gegen die Stimmen der Fraktionen der SPD und Der Grünen, die die Einheitlichkeit des Gesundheits- und Gefahrenschutzes in Frage gestellt sahen; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 2. 139 Vgl. BAG vom 6. 3. 1956, AP Nr. 1 zu § 7 AZO; Meisel / Hiersemann, AZO, § 7 Rn. 5; weniger eindeutig Denecke / Neumann, AZO (11. Auflage), § 7 Rn. 3; Anzinger, in: MüHBArbR, § 218 Rn. 98. 136 137
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
nicht durch den Gesetzgeber umgesetzt worden. Die Tariföffnungsklausel blieb auch nach den weiteren Änderungen des Gesetzes in den Jahren 1986, 1994 und 1997 unverändert Bestandteil der staatlichen Regelung. Zeitgleich mit der Schaffung der Tariföffnungsklausel des § 21a JArbSchG musste auch das Seemannsgesetz an die veränderte Rechtslage angepasst werden. Dementsprechend fügte das Erste Gesetz zur Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes vom 15. 10. 1984 in Gestalt von § 100a SeemG eine Tariföffnungsklausel in das Seemannsgesetz ein, die § 21a JArbSchG nachgebildet ist und den Tarifvertragsparteien ebenfalls die Möglichkeit eröffnet, abweichende Regelungen durch Betriebs- oder Bordvereinbarung zuzulassen. Im Gegenzug ordnet § 61 JArbSchG an, dass für Kauffahrteischiffe das Seemannsgesetz Anwendung findet. Mit der teilweisen gesetzlichen Regelung der Befristungen von Dienst- und Arbeitsverträgen schuf der Gesetzgeber im Rahmen des Art. 1 des Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 26. 4. 1985140 erneut tarifdispositive Vorschriften. Vor dem Inkrafttreten des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985 waren Befristungen von Dienst- und Arbeitsverträgen gemäß § 620 Abs. 1 und 2 BGB uneingeschränkt zulässig. Dadurch ergab sich die Gefahr, dass der parallel dazu bestehende allgemeine Kündigungsschutz nach dem Kündigungsschutzgesetz unterlaufen wird.141 Die Rechtsprechung führte eine Befristungskontrolle durch, indem sie für die Befristung des Arbeitsverhältnisses einen sachlichen Grund forderte.142 Im Ergebnis stimmte die Literatur mit dieser Einschränkung überein.143 Auch mit dem Inkrafttreten des Art. 1 des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985 wurde das Befristungsrecht nicht abschließend geregelt. Parallel zu diesem Gesetz fanden sich zahlreiche Sondervorschriften zur Befristung von Arbeitsverhältnissen in Spezialgesetzen. 144 In Art. 1 § 6 sah das Beschäftigungsförderungsgesetz 1985 vor, dass die Bestimmungen des Art. 1 §§ 2 bis 5 BeschFG 1985 zur Disposition der Tarifvertragsparteien stehen sollten. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass die Sozialpartner besser als er selbst sachlich gerechtfertigte Ausnahmen normieren, branchenspezifische Lösungen finden und dabei die Interessen der Arbeitnehmer ausreichend berücksichtigen könnten.145 Die ebenfalls im Gesetz zugelassene vertragliche Bezugnahme auf abweichende Tarifverträge mit einschlägigem Geltungsbereich sollte eine sachgerechte betriebseinheitliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen ermöglichen.146 BGBl. I 1985, S. 710 ff. Wank, in: MüHBArbR, § 116 Rn. 5. 142 St. Rspr. seit BAG vom 12. 10. 1960, AP Nr. 16 zu § 620 Befristeter Arbeitsvertrag; vgl. auch BAG vom 4. 4. 1990, AP Nr. 136 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag, und vom 31. 8. 1994, AP Nr. 163 zu § 620 BGB Befristeter Arbeitsvertrag. 143 Vgl. zum Streitstand Wank, in: MüHBArbR, § 116 Rn. 7 f. 144 Vgl. dazu Wank, in: MüHBArbR, § 116 Rn. 6 a. E. 145 Entwurf der Bundesregierung eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BRDrucks. 393 / 84, S. 27 = BT-Drucks. 10 / 2102, S. 26. 140 141
§ 2 Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht
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In Art. 8 des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985 änderte der Gesetzgeber darüber hinaus die Regelungen zur Arbeitnehmerüberlassung im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vom 11. 8. 1972.147 Die im Zuge dieser Änderungen letztendlich in Art. 1 § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG aufgenommene Tariföffnungsklausel wurde erst auf Empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung sowie des mit beratenden Ausschusses für Wirtschaft in das Gesetz eingefügt.148 Der ursprüngliche Regierungsentwurf enthielt diese Option für die Tarifvertragsparteien noch nicht.149 Auch die Sozialpartner hatten sich für die Aufnahme der Vorschrift eingesetzt.150 Der Regelung liegt die Annahme zugrunde, dass in manchen Wirtschaftszweigen, wie zum Beispiel der Werftindustrie, die Beschränkungen des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes Arbeitsplätze gefährdeten und einen sinnvollen Personalaustausch unnötig erschwerten.151 Durch die Tariföffnung versprach man sich sozialverträgliche Abweichungen, da die Tarifvertragsparteien die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der betroffenen Betriebe kannten.152 Damit war die Entwicklung des Bestandes an tarifdispositiven Vorschriften noch nicht abgeschlossen. Aufgrund der unterschiedlichen Regelung der Kündigungsfristen für Arbeiter und Angestellte erklärte das Bundesverfassungsgericht 1990 den § 622 BGB a. F. für verfassungswidrig.153 In Folge dieser Rechtsprechung änderte das Kündigungsfristengesetz vom 7. 10. 1993154 die ursprüngliche gesetzliche Regelung. Die neue Fassung übernahm die Tariföffnungsklausel sowie die Erstreckungsklausel in § 622 Abs. 4 BGB mit der gleichen Begründung wie schon für die ursprüngliche Fassung.155 Gleichzeitig beseitigte der Gesetzgeber die Unklarheiten über die Reichweite der Tariföffnung, die zu § 622 Abs. 3 BGB a. F. bestanden hatten,156 indem er in der Neufassung ausdrücklich § 622 Abs. 1 bis 3 146 Entwurf der Bundesregierung eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BRDrucks. 393 / 84, S. 27 = BT-Drucks. 10 / 2102, S. 26. 147 BGBl. 1972 I, S. 1393. 148 Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BT-Drucks. 10 / 3206, S. 18, 23. 149 Entwurf der Bundesregierung eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BTDrucks. 10 / 2102. 150 Sandmann / Marschall, AÜG, Art. 1 § 1 Rn. 69; Hamann, in: Schüren, AÜG, § 1 Rn. 486. 151 Vgl. Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 10 / 3206, S. 33. 152 Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 10 / 3206, S. 33. 153 BVerfG vom 30. 5. 1990, AP Nr. 28 zu § 622 BGB. 154 BGBl. 1993 I, S. 1668; Begründung zum Entwurf der Fraktionen der CDU / CSU und FDP eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz), BT-Drucks. 12 / 4902. 155 Begründung zum Entwurf der Fraktionen der CDU / CSU und FDP eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz), BT-Drucks. 12 / 4902, S. 9. 156 Vgl. dazu Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 206.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
für tarifdispositiv erklärte und dadurch verdeutlichte, dass sowohl die Kündigungstermine als auch die Voraussetzungen, unter denen der Anspruch auf verlängerte Kündigungsfristen entsteht, von der Tariföffnung erfasst sind.157 Im Jahre 1994 fand eine Vereinheitlichung des Rechts der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und an Feiertagen durch das Entgeltfortzahlungsgesetz vom 26. 5. 1994 statt. Die neuen Regelungen beseitigten die Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten endgültig und stellten die durch die Wiedervereinigung komplizierte Rechtslage auf eine einheitliche Basis.158 Gleichzeitig diente das Entgeltfortzahlungsgesetz der Umsetzung europarechtlicher Vorgaben.159 In Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu § 2 Abs. 3 LFZG sahen der Entwurf der CDU / CSU- und FDP-Fraktion für das neue Entgeltfortzahlungsgesetz und der gleich lautende Regierungsentwurf in § 4 Abs. 3 vor, dass Tarifverträge von der in den Abs. 1 und 2 geregelten Berechnung des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts abweichen können.160 Die Regierungsfraktionen bezweckten damit, die im Lohnfortzahlungsgesetz bereits verankerte Tariföffnung explizit auch auf Angestellte auszudehnen.161 Der Ausschuss für Arbeit und Sozialordnung schlug einen von dem Regierungsentwurf abweichenden Wortlaut vor, der neben Abweichungen von der Berechnungsmethode auch Änderungen der Berechnungsgrundlage zuließ.162 Nach zwischenzeitlicher Ablehnung durch den Bundesrat wegen der umstrittenen Karenztageregelung verabschiedete der Bundestag den Entwurf auf der Grundlage der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung. § 4 Abs. 4 EFZG erweiterte den Regelungsspielraum der Tarifvertragsparteien im Vergleich zu seiner Vorgängerregelung in § 2 Abs. 3 LFZG erheblich.163 Ebenfalls im Jahre 1994 erfolgte mit der Reform des Arbeitszeitrechts durch das Arbeitszeitrechtsgesetz vom 6. 6. 1994164 eine weitere entscheidende Änderung des gesetzlichen Arbeitnehmerschutzrechts, die auch für das tarifdispositive Recht Bedeutung erlangte. Dass eine Neuregelung der Arbeitszeit notwendig war, stand bereits seit den Anfangsjahren der Bundesrepublik fest. Allerdings wurde die Schaffung eines umfassenden Arbeitszeitgesetzes nach einigen nicht wesentlichen 157 Begründung zum Entwurf der Fraktionen der CDU / CSU und FDP eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz), BT-Drucks. 12 / 4902, S. 9. 158 Schmitt, EFZG, Einl. Rn. 103 ff. 159 Schmitt, EFZG, Einl. Rn. 105. 160 Entwurf der Fraktionen der CDU / CSU und FDP eines Entgeltfortzahlungsgesetzes, BT-Drucks. 12 / 5263; Entwurf der Bundesregierung eines Entgeltfortzahlungsgesetzes, BTDrucks. 12 / 5616. 161 Begründung zum Entwurf der Fraktionen der CDU / CSU und FDP eines Entgeltfortzahlungsgesetzes, BT-Drucks. 12 / 5263, S. 13. 162 Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 12 / 5798, S. 8. 163 Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 12 / 5798, S. 26; Hold, in: Kaiser / Dunkel / Hold / Kleinsorge, EFZG, § 4 Rn. 106. 164 BGBl. 1994 I, S. 1170.
§ 2 Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht
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Änderungen der Arbeitszeitordnung erst 1970 in Angriff genommen. Drei Entwürfe für ein Arbeitszeitgesetz von 1980, 1984 und 1987 verfielen jeweils am Ende der Legislaturperioden.165 Erst mit dem Regierungsentwurf für ein Arbeitszeitgesetz vom 13. 7. 1993 befassten sich Bundestag und Bundesrat ausführlich.166 Am 1. 7. 1994 trat das Arbeitszeitgesetz als Art. 1 des Arbeitszeitrechtsgesetzes in Kraft. Während des Gesetzgebungsverfahrens sahen die Entwürfe der Fraktionen der SPD und der Grünen eine Tariföffnung zunächst für einzelne Vorschriften vor.167 In seiner Stellungnahme votierte der Bundesrat für die völlige Beseitigung der Tarifdispositivität, weil tarifliche Abweichungen zu Unübersichtlichkeit sowie mangelnder Klarheit führten, dadurch zulasten eines effektiven Arbeitsschutzes gingen und darüber hinaus die Überwachung der Einhaltung der Arbeitszeitregelungen erschwerten.168 Die Bundesregierung akzeptierte diese Auffassung nicht. Sie sah es als Teil der gesetzlichen Konzeption an, den Tarifvertragsparteien zur Gewährleistung eines praxisnahen, sachgerechten und effizienten Arbeitsschutzes Raum für eigene Regelungen zu schaffen. Das verantwortungsbewusste Handeln der Sozialpartner biete Gewähr für einen sachgerechten Gebrauch der durch den Tarifvorrang des § 7 ArbZG eröffneten Möglichkeiten.169 Die Überwachung der Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften werde nach Ansicht der Bundesregierung nicht erschwert, da die Aufsichtsbehörde alle nötigen Auskünfte, auch von den Tarifvertragsparteien fordern könne.170 Mit § 7 ArbZG übernahm auch das allgemeine Arbeitszeitrecht die Möglichkeit, aufgrund eines Tarifvertrags durch Betriebsvereinbarung von den ansonsten zwingenden arbeitszeitrechtlichen Vorschriften abzuweichen.171 Damit blieb das Arbeitszeitgesetz hinter dem Entwurf der Fraktionen von CDU / CSU und FDP zurück, der vorgesehen hatte, dass die Betriebsparteien unabhängig von einer tarifvertraglichen Ermächtigung von bestimmten Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes abweichen können.172 § 12 ArbZG dehnte die Tariföffnung auch auf die Regelung von Sonn- und Feiertagsarbeit aus. Der Regierungsentwurf enthielt diese Möglichkeit von Anfang an.173 Nach den Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 15; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 48 f. Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 15. 167 Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 2. 168 Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. 12 / 5888 Anlage 2, S. 41 Nr. 24; Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 2; Schliemann, in: ders. / Meyer, Rn. 488. 169 Begründung der Bundesregierung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts, BT-Drucks. 12 / 5888, S. 58 f.; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. 12 / 5888 Anlage 3, S. 50, 52. 170 Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. 12 / 5888 Anlage 3, S. 53. 171 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 272. 172 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 49 Fn. 176; Entwurf der Bundesregierung, BT-Drucks. 10 / 2706, §§ 4, 8, S. 5, 7, 18. 173 Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Vereinheitlichung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts, BR-Drucks. 507 / 93, S. 86 f. 165 166
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
Beratungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung wurde sie auch auf Vorschlag des Bundesrates lediglich noch auf den Bereich des Rundfunks ausgedehnt, weil der Informationsauftrag notwendigerweise zu Abweichungen von der Grundregel führen müsse.174 Bereits im Rahmen der Vereinheitlichung des Rechts im Gebiet der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik wurde die Bedeutung der tariflichen Regelungskompetenz hervorgehoben. Im Zuge der Wiedervereinigung bereinigte das Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Arbeitsgesetzbuches vom 22. 6. 1990 die arbeitsrechtliche Rechtslage in den neuen Bundesländern und passte sie an die bundesdeutschen Gegebenheiten an. Diese Veränderungen führten § 188a in das Arbeitsgesetzbuch der DDR vom 16. 6. 1977175 ein, der den Tarifvertragsparteien gestattete, durch Tarifvertrag von den Vorschriften über die Arbeitszeit abzuweichen. Gleichzeitig erhielten die Arbeitsvertragsparteien die Möglichkeit, im Geltungsbereich eines Tarifvertrags dessen abweichende Regelungen vertraglich zu vereinbaren.176 Diese Regelungen behielten jedoch nur drei Monate ihre Gültigkeit. Der Einigungsvertrag schrieb ab dem 3. 10. 1990 die einheitliche Anwendung der Regelungen der Arbeitszeitordnung im neuen Bundesgebiet vor.177 Das Arbeitszeitrechtsgesetz vom 6. 6. 1994 enthielt in Art. 11 auch Änderungen des Seemannsgesetzes vom 26. 7. 1957.178 Diese waren notwendig geworden, um das Seemannsrecht an die Neuregelung des Arbeitszeitrechts anzupassen. Art. 11 ArbZRG fügte § 89a in das Seemannsgesetz ein, der den Öffnungsklauseln des Arbeitszeitgesetzes nachgebildet war, und fasste die von Anfang an vorhandenen Tariföffnungsklauseln in § 104 Abs. 2 und § 140 SeemG entsprechend neu. Dadurch integrierte der Gesetzgeber zuvor noch nicht enthaltene Abweichungsmöglichkeiten aufgrund eines Tarifvertrags durch Betriebs- oder Bordvereinbarung in das Seemannsgesetz. Zwei Jahre nach der Schaffung des Arbeitszeitrechtsgesetzes arbeitete der Gesetzgeber darüber hinaus die bis dahin parallel zum Arbeitszeitund Jugendarbeitsschutzgesetz existierenden Sonderregelungen zur Arbeitszeit im Bäckereiwesen durch Gesetz vom 1. 7. 1996179 in das Arbeitszeitgesetz ein, so dass mit dem Bäckereiarbeitszeitgesetz auch die in § 4 Abs. 1 enthaltene Tariföffnungsklausel aufgehoben wurde. Die Entwicklung des tarifdispositiven Rechts setzte sich danach auf dem Gebiet der Teilzeitarbeit fort. Die Teilzeitvereinbarung der europäischen Sozialpartner vom 6. 6. 1997, die nach der Richtlinie 1997 / 81 / EG vom 15. 12. 1997180 für die 174 Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 12 / 6990, S. 43; Stellungnahme des Bundesrates, BT-Drucks. 12 / 5888, S. 43 und 53. 175 GBl. der DDR 1977 I, S. 185. 176 Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 12. 177 Neumann / Biebl, ArbZG, Einl. Rn. 12. 178 BGBl. 1957 II, S. 713. 179 BGBl. 1996 I, S. 1186. 180 Abgedruckt im ABl. der EG 1998, L 14, S. 9 ff.; vgl. auch BT-Drucks. 13 / 9123.
§ 2 Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht
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Mitgliedstaaten bis zum 20. 1. 2000 umzusetzen war, zwang den bundesdeutschen Gesetzgeber Ende der 90er Jahre, Regelungen auf diesem Gebiet zu treffen.181 Gleichzeitig erforderten das Auslaufen des Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, das bis zum 31. 12. 2000 befristet war, und die Richtlinie des Rates der Europäischen Union für befristete Arbeitsverträge vom 28. 6. 1999182 ein Tätigwerden des Gesetzgebers im Hinblick auf Befristungsregelungen für Arbeitsverhältnisse. Mit dem Gesetz über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge (Teilzeit- und Befristungsgesetz – TzBfG) vom 21. 12. 2000183 ist der Gesetzgeber diesen Verpflichtungen nachgekommen. Anders als das Beschäftigungsförderungsgesetz 1985, das in § 6 alle Vorschriften der §§ 2 bis 5 BeschFG 1985 für tarifdispositiv erklärte, lässt das Teilzeit- und Befristungsgesetz nur noch in einzelnen Vorschriften die Abweichung durch Tarifverträge auch zum Nachteil der Arbeitnehmer zu. Der Gesetzgeber bezweckte mit den im Teilzeit- und Befristungsgesetz eingefügten Tariföffnungsklauseln einerseits die Klarstellung gegenüber der Rechtslage nach dem Beschäftigungsförderungsgesetz 1985184 und andererseits die Erleichterung branchenspezifischer Lösungen.185 Mit Wirkung ab dem 1. 1. 2003 hat sich der Kreis tarifdispositiver Vorschriften noch einmal erweitert. Nach der Änderung des Rechts der Arbeitnehmerüberlassung dürfen Tarifverträge nun von dem in § 3 Abs. 1 Nr. 3 und § 9 Nr. 2 AÜG verankerten Gleichbehandlungsgebot zwischen Leih- und Stammarbeitnehmern im Entleiherbetrieb abweichen. Die Ausnahmeregelung soll den Sozialpartnern ermöglichen, die Arbeitsbedingungen flexibel zu gestalten. Insbesondere eröffnet die Neuregelung den Tarifvertragsparteien den Weg, Pauschalierungen beim Arbeitsentgelt zuzulassen und die Leistungen für Verleih- und Nichtverleihzeiten eines Arbeitnehmers in einem Gesamtkonzept zu regeln.186 Diesem Auftrag des Gesetzgebers sind der Großteil der Mitgliedsgewerkschaften des DGB und weitere Arbeitnehmervereinigungen nachgekommen.187 Schüren, in: MüHBArbR, § 161 Rn. 19. RL 1999 / 70 / EG. 183 BGBl. 2000 I, S. 1966. 184 Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, BTDrucks. 14 / 4374, S. 18 = BR-Drucks. 591 / 00, S. 29, im Hinblick auf § 12 Abs. 3 TzBfG. 185 Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, BTDrucks. 14 / 4374, S. 14 = BR-Drucks. 591 / 00, S. 19, im Hinblick auf § 14 Abs. 4 S. 3 und 4 TzBfG. 186 Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und Bündnis 90 / Die Grünen eines Ersten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks. 15 / 25, S. 38. 187 Vgl. das Verhandlungsergebnis vom 20. Februar 2003 zwischen dem Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen und den Mitgliedsgewerkschaften des DGB; Tarifvertrag zwischen DGB und BZA, vom 22. 7. 2003, sowie Tarifvertrag zwischen DGB und iGZ, 181 182
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
Weitere Veränderungen des Umfangs an tarifdispositivem Recht hat das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 23. 12. 2003 bewirkt. Im Zuge der Änderungen hat der Gesetzgeber die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs zu Bereitschaftsdienst und Arbeitsbereitschaft 188 in das Arbeitszeitgesetz eingearbeitet. Er hat dadurch die Abweichungsbefugnisse der Tarifvertragsparteien gegenüber dem Ausgangszustand erheblich erweitert, um Besonderheiten einzelner Branchen berücksichtigen und insbesondere den Tarifvertragsparteien ihre Gestaltungsspielräume erhalten zu können.189 Die Ausdehnung des tariflichen Gestaltungsspielraums war mit der Hoffnung verbunden, dass die Tarifvertragsparteien von der ihnen eingeräumten Möglichkeit in verantwortungsvoller Weise Gebrauch machen und angemessene Schutzmaßnahmen für die Beschäftigten vereinbaren werden.190 Bei dieser Gelegenheit hat der Gesetzgeber gleichzeitig die Dienstvereinbarung neben der Betriebsvereinbarung in den Kreis der für eine Abweichung von den gesetzlichen Vorschriften zulässigen Regelungsinstrumente aufgenommen und die Rechtslage insoweit zumindest für das Arbeitszeitgesetz klargestellt.191
III. Ausblick Trotz der weitgehenden Forderung Biedenkopfs,192 das Arbeitsrecht mit Ausnahme der existenzsichernden Vorschriften tarifdispositiv auszugestalten, macht der Gesetzgeber hiervon eher zurückhaltend Gebrauch. Dennoch wird auch in aktuellen Stellungnahmen bisweilen die Notwendigkeit einer verstärkten Öffnung der arbeitsrechtlichen Vorschriften für abweichende tarifvertragliche Regelungen betont. Angeführt werden dafür auf der einen Seite verfassungsrechtliche Gesichtspunkte, welche die von der Koalitionsfreiheit geschützte Tarifautonomie in den Vordergrund stellen. Die Forderung nach einer verstärkten Öffnung gesetzlicher Regelungen für abweichende tarifvertragliche Regelungen wird dabei aber nicht konkret begründet.193 Auf der anderen Seite werden beschäftigungspolitische Gründe genannt.194 Der Tarifvertrag wird als das geeignete Instrument angesehen, vom 29. 5. 2003, jeweils gültig ab dem 1. 1. 2004; Tarifvertrag zwischen CGZP und MVZ, vom 24. 6. 2003, gültig ab 1. 1. 2004, sowie zwischen CGZP und INZ, vom 24. 2. 2003, gültig ab 1. 3. 2003; dazu Martin, AuR 2004, 247. 188 EuGH vom 9. 9. 2003, Rs C- 151 / 02 Jaeger, ABl. EU Nr. C 264, vom 1. 11. 2003, S. 14 ff.; EuGH vom 3. 7. 2001, Rs C-241 / 99, ABl. EU Nr. C 289, vom 13. 10. 2001, S. 5 ff. 189 Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Gesetz für Reformen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks. 15 / 1587, S. 30. 190 Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks. 15 / 1587, S. 31. 191 Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit zu dem Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks. 15 / 1587, S. 30, 31. 192 Grenzen der Tarifautonomie, S. 209 f. 193 Hanau, ZIP 1996, S. 447; ders., Gutachten C zum 63. DJT, S. 63. 194 Hanau, Gutachten C zum 63. DJT, S. 62 ff.
§ 2 Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht
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flexible und differenzierte Regelungsmodelle bereitzustellen, die sich günstig auf die Beschäftigungsentwicklung auswirken sollen. Es bleibt abzuwarten, wie der Gesetzgeber auf diese Forderungen reagieren wird. Die bisherige Entwicklung deutet eher auf eine restriktive Handhabung des tarifdispositiven Rechts durch den Gesetzgeber hin.
C. Der aus der Normstruktur folgende Problemhaushalt der Tariföffnungs- und Erstreckungsklauseln im Beziehungsgeflecht der Rechtsordnung Die Tariföffnungsklauseln und die zugehörigen Erstreckungsklauseln sind von ihrem Erscheinungsbild her ganz unterschiedlich konstruiert. Dennoch lassen sich Gemeinsamkeiten in ihrer Struktur finden. Es hat sich bereits gezeigt,195 dass die im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu betrachtenden Vorschriften bis auf § 1 Abs. 3 Nr. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG in einem Teil die Anordnung der Tarifdispositivität bestimmter gesetzlicher Vorschriften enthalten und in einem anderen Teil nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien die Möglichkeit einräumen, auf die von dem betreffenden Gesetz abweichenden Tarifvertragsnormen Bezug zu nehmen. I. Tariföffnungsklauseln Die Tariföffnungsklauseln ähneln sich im Hinblick auf ihren Aufbau. Sie gliedern sich in einen Tatbestand und eine Rechtsfolgenanordnung. Der Mindestumfang des Tatbestandes ist die Forderung, dass es sich bei dem Instrument der Abweichung vom Gesetz um einen Tarifvertrag handeln muss. Die von der gesetzlichen Struktur her einfachste Rechtsfolge ist, dass von dem tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzgesetz als ganzem ohne Einschränkung abgewichen werden darf. Darüber hinaus weisen einige Tatbestände und Rechtsfolgenanordnungen der verschiedenen Tariföffnungsklauseln weitere Merkmale auf. 1. Tatbestandliche Voraussetzungen Nicht alle Tariföffnungsklauseln, insbesondere nur § 622 Abs. 4 S. 1 BGB, § 7 Abs. 1 Nr. 1 b) und c), 4 b), 5 ArbZG, § 21a Abs. 1 Nr. 1 – 3, 5, 6 JArbSchG, § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG, § 14 Abs. 2 S. 3 TzBfG, § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG, § 17 Abs. 3 S. 1 BetrAVG, fordern als Voraussetzung für die Abweichung von der gesetzlichen Regelung lediglich, dass diese in einem Tarifvertrag geregelt ist. Die Übrigen stellen entweder zusätzliche formale (so § 101 Abs. 2 S. 1 ArbGG) oder qualitative Anfor195
Siehe oben 1. Teil: § 2 A. III. 2.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
derungen auf. Derartige qualitative Anforderungen können sich wiederum auf bestimmte im Tarifvertrag vorhandene Regelungen beziehen (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 ArbZG, § 21a Abs. 1 Nr. 4 JArbSchG, § 12 Abs. 3 S. 1 und § 13 Abs. 4 S. 1 TzBfG) oder in tarifvertragsexternen Umständen (vgl. § 7 Abs. 1 Nr. 1 a), 2, 3, 4 a) sowie § 12 S. 1 Nr. 1, 3, 4 ArbZG, § 13 Abs. 2 S. 1 sowie Abs. 3 BUrlG, § 48 Abs. 2 S. 1 und § 101 Abs. 2 S. 1 ArbGG) begründet sein.
2. Umfang der Rechtsfolge Die strukturell einfachste Rechtsfolge enthält § 13 Abs. 2 S. 1 BUrlG, der den Tarifvertragsparteien im Baugewerbe und anderen von häufigen Ortswechseln betroffenen Wirtschaftszweigen gestattet, von allen Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes abzuweichen. Allerdings paart sich die umfassende Rechtsfolge mit sehr hohen tatbestandlichen Anforderungen. Die übrigen Tariföffnungsklauseln schränken den Umfang der Abweichungsbefugnis ein. Dies geschieht entweder durch die Eingrenzung des Kreises der tarifdispositiven Vorschriften (vgl. § 622 Abs. 4 S. 1 BGB, § 7 Abs. 1 und 2 sowie § 12 S. 1 ArbZG, § 21a Abs. 1 JArbSchG, § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG, § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG, § 12 Abs. 3 S. 1, § 13 Abs. 4 S. 1 TzBfG, § 17 Abs. 3 S. 1 BetrAVG, § 48 Abs. 2 S. 1 ArbGG) oder darüber hinaus durch die inhaltliche Vorgabe der vom Gesetz abweichenden Tarifvertragsregelung (vgl. § 7 Abs. 1 und 2 sowie § 12 S. 1 ArbZG, § 21a Abs. 1 JArbSchG, § 14 Abs. 2 S. 3 TzBfG, § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG, § 48 Abs. 2 S. 1 und § 101 Abs. 2 S. 1 ArbGG). Im ersten Fall verengt sich der gegenständliche Aktionsrahmen der Tarifvertragsparteien. Es bleibt ihnen aber inhaltliche Regelungsfreiheit. Im zweiten Fall können sie eigenständig nur noch über das „Ob“ der Abweichung entscheiden, wenn die dafür gegebenenfalls zusätzlichen Voraussetzungen vorliegen. Eine besondere Rolle nehmen Tariföffnungsklauseln ein, die nicht nur die bloße Abweichung von den gesetzlichen Vorschriften durch Tarifvertrag erlauben, sondern darüber hinaus gestatten, dass der Tarifvertrag den Arbeitsvertragsparteien oder Dienst- bzw. Betriebspartnern sowie im Seemannsrecht den Parteien der Bordvereinbarung einen vom Gesetz abweichenden Regelungsspielraum einräumen kann (§ 7 Abs. 1 und 2, § 12 S. 1 ArbZG, § 21a Abs. 1 JArbSchG, § 89a Abs. 1 S. 1, § 100a Abs. 1, § 104 Abs. 2 S. 1, § 139 Abs. 3 S. 1, § 140 Abs. 1 S. 1 SeemG).
II. Erstreckungsklauseln Auch die Erstreckungsklauseln gliedern sich in einen Tatbestand und eine Rechtsfolge. Während sich die Tatbestände unterscheiden, ist die Rechtsfolge stets identisch. Sie gestattet nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien, auf die von den tarifdispositiven Vorschriften abweichende Tarifregelung Bezug zu nehmen.
§ 2 Betrachtungen zum tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht
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Als Voraussetzung für die Erlaubnis der arbeitsvertraglichen Bezugnahme fordern bis auf § 101 Abs. 2 S. 3 ArbGG alle Erstreckungsklauseln, dass die Arbeitsvertragsparteien in den Geltungsbereich der abweichenden tarifvertraglichen Regelung fallen. Im Gesetzestext wird dafür bisweilen auch der Begriff des einschlägigen Tarifvertrags verwendet. Die Erstreckungsklauseln gestatten die Übernahme der abweichenden Tarifnormen für Nichtorganisierte. Zu unterscheiden ist in diesem Zusammenhang zwischen den Erstreckungsklauseln, die mit einer Tariföffnungsklausel verbunden sind, die auch vom Gesetz abweichende Betriebs-, Dienst- oder Bordvereinbarungen aufgrund eines Tarifvertrags zulässt, und den übrigen Erstreckungsklauseln. Der Wortlaut der ersten Gruppe bezieht sich nur auf nicht tarifgebundene Arbeitgeber, während in der zweiten Gruppe sowohl nicht tarifgebundene Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer im Text der Normen erwähnt werden. Grundsätzlich genügt es nach dem Wortlaut der Erstreckungsklauseln, dass die Arbeitsvertragsparteien die von der gesetzlichen Regelung abweichenden Teile des Tarifvertrags übernehmen. Eine Ausnahme hiervon bilden § 48 Abs. 2 S. 2 ArbGG sowie § 89a Abs. 2 SeemG und § 104 Abs. 2 S. 2, § 139 Abs. 3 S. 2, § 140 Abs. 1 S. 2 SeemG jeweils in Verbindung mit § 89a Abs. 2 SeemG, welche die Übernahme des gesamten Tarifvertrags fordern, in dem sich die vom Gesetz abweichende Regelung findet. Ebenso wenig stellt der überwiegende Teil der Erstreckungsklauseln formelle Voraussetzungen für die Übernahme der abweichenden Tarifregelungen auf. Ausnahmen hiervon bilden § 101 Abs. 2 S. 3 ArbGG, der die Schriftform und eine ausdrückliche Vereinbarung einer Schiedsgerichtsklausel verlangt, und § 7 Abs. 3 S. 1, § 12 S. 2 ArbZG, § 21a Abs. 2 S. 1 JArbSchG sowie § 89a Abs. 2, § 104 Abs. 2 S. 2, § 139 Abs. 3 S. 2 und § 140 Abs. 1 S. 2 SeemG, welche die einzelvertragliche Bezugnahme auf abweichende Tarifregelungen durch die Arbeitsvertragsparteien nur in betriebsratslosen Betrieben und nur schriftlich gestatten. Die letztgenannten Normen weisen zusätzlich insoweit eine Besonderheit auf, dass sie vorrangig die Vereinbarung abweichender Tarifregelungen nur durch Betriebsvereinbarung in Betrieben eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers gestatten und für den Fall, dass der entsprechende Tarifvertrag eine Abweichungsmöglichkeit vom Gesetz durch Betriebsvereinbarung vorsah, diese Möglichkeit auf Betriebe eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers ausdehnen.
III. Die Wirkungsweise des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts Die soeben als tarifdispositive Vorschriften vorgestellten gesetzlichen Regelungen entfalten gegenüber den Parteien des Individualarbeitsverhältnisses einseitig zwingende Wirkung. In den meisten Fällen ist dies in den jeweiligen Gesetzen aus5 Bock
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
drücklich angeordnet. So sehen § 22 Abs. 1 TzBfG, § 17 Abs. 3 BetrAVG, § 13 Abs. 1 S. 3 BUrlG und § 12 EFZG ausdrücklich vor, dass von den gesetzlichen Bestimmungen nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers abgewichen werden kann. Für die arbeitszeitrechtlichen Vorschriften des Arbeitszeit-, Jugendarbeitsschutzund Seemannsgesetzes ergibt sich der einseitig zwingende Charakter aus dem Schutzzweck.196 Im Arbeitsprozessrecht folgt die zwingende Wirkung der Vorschriften neben dem Regelungsgegenstand aus der Ausnahmevorschrift des § 38 ZPO, der gemäß § 46 Abs. 2 ArbGG auch für den arbeitsgerichtlichen Prozess maßgeblich ist und nur einzelne Parteivereinbarungen zulässt.197 Die zwingende Wirkung der tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften gegenüber den Parteien des Individualarbeitsverhältnisses hat zur Folge, dass zuungunsten der Arbeitnehmer abweichende Vertragsabreden rechtlich keinen Bestand haben können. Je nachdem wie das tarifdispositive Recht strukturiert ist, unterscheidet sich lediglich die Wirkungsweise, die letztendlich zur Unzulässigkeit führt. Grundsätzlich lässt sich zwischen der Unwirksamkeit einer vertraglichen Regelung und deren Nichtigkeit wegen eines Verstoßes gegen ein Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB differenzieren. Ein Verbotsgesetz im Sinne von § 134 BGB liegt nur dann vor, wenn die zwingende Vorschrift nicht direkt auf die Wirksamkeit einzelner Rechtsverhältnisse Einfluss nehmen will, sondern ein bestimmtes Verhalten zu verhindern sucht.198 Zwingende Vorschriften des Privatrechts stellen demgegenüber keine Verbotsnormen dar, sondern schränken die Privatautonomie ein, da sie den Parteien des Individualvertrags die Regelungskompetenz in einem bestimmten Bereich entziehen.199 Derartige Vorschriften sind äußerlich daran erkennbar, dass sie anordnen, ein bestimmter Vertragsinhalt „könne“ nicht vereinbart werden.200 Für § 13 Abs. 1 S. 3 BUrlG hat das Bundesarbeitsgericht eindeutig klargestellt, dass es sich bei den tarifdispositiven Vorschriften des Urlaubsrechts um einseitig zwingende Regelungen handelt, von denen in einem Individualvertrag nicht abgewichen werden „kann“ und die somit bewirken, dass entgegenstehende Rechtsgeschäfte unwirksam, nicht jedoch gemäß § 134 BGB nichtig sind.201 Dies ergebe sich bereits aufgrund des Wortlauts von § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG, werde aber in viel stärkerem Maße durch den Zweck der Urlaubsvorschriften bedingt, die sicherstellen wollten, dass der Arbeitnehmer den gesetzlichen Erholungsurlaub auch tatsächlich in Anspruch nehme. Dies sei nicht mehr gewährleistet, wenn im Einzelfall 196 Vgl. dazu Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 42; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 1 Rn. 17 ff., 21; Schliemann, ArbZG, § 7 Rn. 2, zieht einen Umkehrschluss aus §§ 7, 12 ArbZG, also den Tariföffnungsklauseln. 197 Vollkommer, in: Zöller, ZPO, vor § 38 Rn. 9. 198 Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 40 Rn. 2. 199 Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 40 Rn. 3. 200 Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 40 Rn. 3. 201 BAG vom 20. 6. 2000, BAGE 95, 104, 110; anders in Bezug auf § 12 EFZG, BAG vom 1. 10. 1997, BAGE 86, 357, 360 ff.
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zusätzlich § 139 BGB geprüft werden müsse.202 Haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer beispielsweise wie in dem vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Sachverhalt vereinbart, dass der Arbeitnehmer nach einmal erteiltem Urlaub diesen unter bestimmten Voraussetzungen abzubrechen und die Arbeit wieder aufzunehmen habe, würde der Schutzzweck des Bundesurlaubsgesetzes unterlaufen, wenn im Einzelfall anhand § 139 BGB geprüft werden müsse, ob der Arbeitgeber den Urlaub tatsächlich auch dann erteilt hätte, wenn sich der Arbeitnehmer nicht mit dem Rückrufrecht des Arbeitgebers einverstanden erklärt hätte.203 Ein Blick auf § 22 Abs. 1 TzBfG, § 17 Abs. 3 BetrAVG und § 12 EFZG bestätigt, dass neben § 13 Abs. 1 S. 3 BUrlG auch ein Abweichen von den (tarifdispositiven) Normen der übrigen Rechtsgebiete nicht zur Nichtigkeit der betreffenden Abreden führt, sondern deren Unwirksamkeit zur Folge hat. Demgegenüber errichten die zwingenden Vorschriften des Arbeitszeitrechts ausschließlich Verhaltensanforderungen an den Arbeitgeber.204 Dies bestätigen die Sanktionsvorschriften im siebten Abschnitt des Arbeitszeitgesetzes, im fünften Abschnitt des Jugendarbeitsschutzgesetzes und im sechsten Abschnitt des Seemannsgesetzes (insbesondere § 126 SeemG). Das zwingende Arbeitszeitrecht will unmittelbar nicht die Privatautonomie im Hinblick auf individualvertragliche Arbeitszeitregelungen beschränken, sondern verbietet dem Arbeitgeber, seine Arbeitnehmer in einem stärkeren Umfang zu beschäftigen, als dies durch die gesetzlichen Vorschriften gestattet ist.205 Sie begründen unmittelbar nur Pflichten des Arbeitgebers nicht jedoch Ansprüche und Verbindlichkeiten innerhalb des Arbeitsverhältnisses.206 Einige Autoren verstehen daher die gesetzlichen Arbeitszeitvorschriften als reine Beschäftigungsverbote, die keinen Einfluss auf die Wirksamkeit entsprechender Vertragsvereinbarungen ausüben.207 Eine arbeitsvertragliche Regelung, die beispielsweise im Verstoß gegen § 3 ArbZG eine tägliche Arbeitszeit von mehr als 8 Stunden vorsieht, wäre dann nicht gemäß § 134 BGB in Verbindung mit § 3 ArbZG nichtig. Dem Arbeitgeber wäre es nur verboten, den Arbeitnehmer tatsächlich länger als 8 Stunden in seinem Betrieb einzusetzen. Weit überwiegend sieht man in den zwingenden Vorschriften des Arbeitszeitrechts jedoch Verbotsgesetze im Sinne des § 134 BGB, die zur Nichtigkeit derjenigen Vertragsabsprachen führen, welche den gesetzlichen Regelungen widersprechen.208 Eine Sonderrolle nehmen die tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes ein. Sie enthalten wie die arbeitszeitrechtlichen Gesetze Verhaltensanforderungen für die Arbeitnehmerüberlassung zwischen verschiedenen 202 203 204 205 206 207 208
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BAG vom 20. 6. 2000, BAGE 95, 104, 110. BAG vom 20. 6. 2000, BAGE 95, 104, 110. Zöllner, RdA 1962, 453, 456. Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 1 Rn. 17. Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 1 Rn. 19. Vgl. zum Streitstand: Sack, in: Staudinger, BGB, § 134 Rn. 199 f. m. w. N. Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 1 Rn. 21.
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Arbeitgebern, über die die Tarifvertragsparteien disponieren können (§§ 1 Abs. 3 Nr. 1, 3 Abs. 1 AÜG). Gleichzeitig normiert das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz Unwirksamkeitsgründe für bestimmte Rechtsgeschäfte, die gegen die staatlichen Vorschriften verstoßen, so dass die Anwendung von § 134 BGB entbehrlich wird (§§ 9, 10 AÜG). Auch das Arbeitsprozessrecht enthält keine staatlichen Mindestarbeitsbedingungen, sondern umfasst zwingende Vorschriften für den Ablauf des arbeitsgerichtlichen Verfahrens. Mit den Tariföffnungs- und Erstreckungsklauseln in § 48 Abs. 2 und § 101 ArbGG nimmt der Gesetzgeber den tarifdispositiven Vorschriften im Hinblick auf Tarifnormen und Bezug nehmende Arbeitsverträge daher den Charakter als Verbotsgesetze im Sinne von § 134 BGB. Im Ergebnis wirken sich die Unterschiede in der Wirkungsweise der einzelnen tarifdispositiven Vorschriften auf abweichende Individualvereinbarungen nur marginal aus. Im wesentlichen hat die Unwirksamkeit im Gegensatz zur Nichtigkeit gemäß § 134 BGB lediglich zur Folge, dass einerseits nicht anhand des Zwecks des Verbotsgesetzes geprüft werden muss, ob auch ein dem gesetzlichen Verbot widersprechendes Rechtsgeschäft nichtig sein soll. Andererseits greift § 139 BGB nicht ein, der allerdings im Hinblick auf Arbeitsverhältnisse ohnehin nur eingeschränkte Anwendung findet, was aus dem Schutzzweck der zwingenden arbeitsrechtlichen Regelungen zugunsten der Arbeitnehmer folgt.209 Die Unterscheidung verdeutlicht jedoch zweierlei. Sie erhellt erstens, dass der Gesetzgeber durch die nicht arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungs- und Erstreckungsklauseln sowohl für die Tarifvertrags- als auch für die Individualvertragsparteien die Tarif- bzw. Privatautonomie wieder erweitert, die er zuvor durch die Schaffung einseitig zwingender staatlicher Mindestarbeitsbedingungen eingeschränkt hat. Im Arbeitszeitrecht hingegen gestattet er den Tarifvertragsparteien und in begrenztem Umfang den Betriebspartnern, von den gesetzlichen Vorschriften abweichende Verhaltensanforderungen für den Arbeitgeber festzulegen ohne unmittelbar die Freiheit zur vertraglichen Gestaltung zu beeinflussen. Im Rahmen der Erstreckungsklauseln nimmt der Gesetzgeber gleichzeitig Betriebsvereinbarungen und Vereinbarungen zwischen nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, welche die abweichenden, für sie nicht geltenden Verhaltensanforderungen für ihre Betriebe übernehmen, von der Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB aus, indem er derartige Übernahmeabsprachen ausdrücklich gestattet. Zweitens erklärt sich durch die Differenzierung zwischen staatlichen Mindestarbeitsbedingungen und Verhaltensanforderungen an den Arbeitgeber auch der Unterschied in der Formulierung zwischen den arbeitszeitrechtlichen und den übrigen Tariföffnungsklauseln. Letztere legen unmittelbar einen möglichen Vertragsinhalt fest, der außerhalb des Günstigkeitsbereichs nicht zur Disposition der Individualparteien steht. Erstere errichten Verbotsnormen, die sich lediglich mittelbar auf den Abschluss von Rechtsgeschäften auswirken. Den Tarifvertragsparteien wird also die abweichende Festlegung von Verbotsnormen gestattet, sie dürfen „zulas209
Vgl. nur Roth, in: Staudinger, BGB, § 139 Rn. 15.
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sen“,210 dass andere als im Gesetz vorgesehene Höchstarbeits- und Mindestpausenzeiten eingehalten werden. Über mögliche Rechte und Pflichten im Einzelarbeitsverhältnis macht das Gesetz keine direkte Aussage. IV. Auslegungsfragen an den Berührungspunkten zwischen tarifdispositivem Recht und einfachgesetzlich ausgestaltetem Tarifvertragssystem Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, dass das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht eine Besonderheit innerhalb der gesetzlichen Vorschriften zur inhaltlichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses darstellt. Für die Nutzung der durch das tarifdispositive Recht eröffneten Abweichungsmöglichkeiten müssen die tatbestandlichen Voraussetzungen und der Umfang der Abweichungsbefugnis feststehen. Im Anwendungsbereich der Tariföffnungs- und Erstreckungsklauseln treffen dabei die allgemeinen tarifrechtlichen Vorschriften mit den speziellen Anforderungen des tarifdispositiven Rechts zusammen. Die Auslegung der einfachrechtlichen Vorschriften hat darüber zu entscheiden, wie in diesem Rahmen auftretende rechtliche Probleme zu lösen sind. Da sämtlichen Tariföffnungsklauseln gemeinsam ist, dass Tarifverträge auf ihrer Grundlage von bestimmten gesetzlichen Vorschriften abweichen dürfen, stellt sich auch im Hinblick auf alle die Frage, ob der in den Tariföffnungsklauseln als Regelungsinstrument vorgesehene „Tarifvertrag“ die Eigenschaften der im übrigen vom Tarifvertragsgesetz erfassten Tarifverträge teilt. Insbesondere ist zu untersuchen, welche Rechtsnatur die abweichenden Tarifnormen haben, wie sie sich in die Normarten des § 1 Abs. 1 TVG einordnen lassen und ob sie der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG unterliegen. Ebenfalls in Bezug auf alle Tariföffnungsklauseln stellt sich weiterhin Frage, wann es sich bei den Normen eines Tarifvertrags um abweichende Vereinbarungen handelt. Hier ist vor allem problematisch, ob auch Tarifverträge, die bereits vor dem Inkrafttreten des tarifdispositiven Gesetzes abgeschlossen worden sind, dieses zu verdrängen vermögen. Darüber hinaus ist zu klären, inwieweit bei einer Identität zwischen Tarifvertrags- und Gesetzesregelung noch von einem Abweichen gesprochen werden kann. Auf der Rechtsfolgenseite werfen die Tariföffnungsklauseln, bei denen der Normenkreis eingeschränkt ist, von dem die Tarifvertragsparteien abweichen dürfen, die Frage auf, inwieweit ein Verbot des mittelbaren Eingriffs in unabdingbare Vorschriften durch Abweichung von den tarifdispositiven Vorschriften anzuerkennen ist. Schließlich sind alle Tariföffnungsklauseln daraufhin zu untersuchen, wie sich das Verhältnis zwischen Tarifverträgen und arbeitsvertraglichen Vereinbarungen im Geltungsbereich tarifdispositiver Arbeitnehmerschutzvorschriften gestaltet. 210
So § 21a JArbSchG, §§ 7 Abs. 1 – 2, 12 Abs. 1 ArbZG.
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Die Erstreckungsklauseln gestatten den Arbeitsvertragsparteien, von tarifdispositivem Gesetzesrecht abweichende Tarifvertragsvorschriften zu ihrem Vertragsgegenstand zu machen. Da es sich bei der Abweichung von dem tarifdispositiven Recht um eine Befugnis handelt, die grundsätzlich nur den Tarifpartnern zusteht, ist klärungsbedürftig, welche Rechtsnatur einer Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag zukommt. Darüber hinaus sind das Bezugnahmeobjekt, d. h. der abweichende Tarifvertrag, sowie die Anforderungen an die Bezugnahmeabrede näher zu beleuchten. Schließlich stellt sich die Frage, inwieweit über die Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag hinaus noch Raum für individualvertragliche Regelungen bleibt. Besondere Beachtung verdienen diejenigen Tariföffnungs- und Erstreckungsklauseln, die auch Abweichungen aufgrund eines Tarifvertrags in einer Betriebs-, Dienst- bzw. Bordvereinbarung zulassen. In diesem Rahmen sind die allgemeinen Anwendungsprobleme im Hinblick auf das Verhältnis zwischen tarifdispositivem Gesetz, Tarifvertrag und betriebsverfassungsrechtlichen Kollektivvereinbarungen zu untersuchen.
V. Der verfassungsrechtliche Bezug des tarifdispositiven Rechts Ein Blick auf die gesetzgeberischen Motive für die Schaffung tarifdispositiver Vorschriften offenbart, dass das tarifdispositive Recht auch einen verfassungsrechtlichen Hintergrund hat. In erster Linie findet sich in den Materialien und bei den Kommentatoren als gesetzgeberische Begründung für die tarifdispositive Ausgestaltung bestimmter gesetzlicher Regelungen zwar, dass den Tarifvertragsparteien so die Möglichkeit eröffnet werden soll, durch tarifvertragliche Regelungen die generalisierenden gesetzlichen Vorschriften an die besonderen Gegebenheiten des Arbeitsplatzes bzw. die Bedürfnisse einzelner Wirtschaftszweige anpassen zu können.211 Darüber hinaus wollte der Gesetzgeber in einigen Bereichen des Arbeitsrechts, wie zum Beispiel im Urlaubsrecht, nur Grundprinzipien festlegen und die Ausgestaltung der Einzelheiten den Tarifvertragsparteien überlassen.212 Dabei sei die Schaffung tarifdispositiver Vorschriften in jedem Fall von dem Gedanken getragen, dass die Tarifpartner aufgrund der zwischen ihnen bestehenden Verhandlungsparität gleichrangige Gewähr für ausgewogene, sachgerechte Lösungen böten wie der Gesetzgeber selbst. Das ausgeglichene Mächteverhältnis bewirke, dass der Tarifvertrag eine materielle Richtigkeitsgewähr in sich trage.213 Die gesetzliche 211 Allgemein: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 698; Knorr, RdA 1979, 201, 201; für § 7 ArbZG: Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 4; für § 21a JArbSchG: Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 2; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 2; für § 4 Abs. 4 EFZG: Kaiser / Dunkl / Hold / Kleinsorge, EFZG, § 4 Rn. 109; Müller / Berenz, EFZG, § 4 Rn. 32; Schmitt, EFZG, § 4 Rn. 137; für das SeemG: Benim / Lindemann, SeemG, § 100a Rn. 2. 212 Für § 13 BUrlG: Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 2.
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Konzeption gehe zusätzlich davon aus, dass die Tarifvertragsparteien aufgrund ihrer gesteigerten Sachnähe zu der Regelungsmaterie mitunter besser in der Lage seien als der Gesetzgeber, adäquate Festlegungen zu treffen.214 Gleichzeitig stelle der Tarifvertrag im Vergleich zu gesetzlichen Vorschriften das flexiblere Gestaltungsinstrumentarium dar.215 Immer findet sich aber zusätzlich der Hinweis, der Gesetzgeber trage mit der Schaffung tarifdispositiver Regelungen nicht zuletzt der Bedeutung der Tarifautonomie Rechnung bzw. werde der verfassungsrechtlich vorgegebenen Normsetzungsprärogative der Tarifvertragsparteien gerecht.216 Dadurch bette er die Tarifvertragsparteien in die staatliche Gesetzgebung ein und stärke die Stellung der Sozialpartner.217 Tarifdispositive Vorschriften sorgten darüber hinaus für eine Dezentralisierung der Regelungsmacht auf dem Gebiet der materiellen Arbeitsbedingungen218 und bänden über die Mitwirkungsmöglichkeiten in den Verbänden den Bürger verstärkt ein.219 Dieser Befund macht eine mögliche Wechselbeziehung zwischen der noch näher zu konkretisierenden Garantie tarifvertraglicher Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG und der tarifdispositiven Ausgestaltung bestimmter arbeitsrechtlicher Vorschriften deutlich. Für den Fall, dass sich aus der Garantie der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ein Bereich ableiten lässt, der ausschließlich den Tarifvertragsparteien zur Regelung vorbehalten 213 Allgemein: Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389; für § 7 ArbZG: Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 490; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 4; für § 21a JArbSchG: Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 2; für § 17 BetrAVG: Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, BTDrucks. 7 / 1281, S. 31; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 168; Höfer / Abt, BetrAVG, § 17 Rn. 109; für § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BT-Drucks. 10 / 3206, S. 33; Sandmann / Marschall, AÜG, Art. 1 § 1 Anm. 78. 214 Knorr, RdA 1979, 201; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389; für § 21a JArbSchG: Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 2; für § 17 BetrAVG soll diese Erwägung allerdings nicht zutreffend sein, so: Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 168; Höfer / Abt, BetrAVG, § 17 Rn. 109; für § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BT-Drucks. 10 / 3206, S. 33; Boemke, AÜG, § 1 Rn. 170; Sandmann / Marschall, AÜG, Art. 1 § 1 Anm. 78; Hamann, in: Schüren, AÜG, § 1 Rn. 489. 215 Allgemein: Herschel, RdA 1969, 211, 212; Knorr, RdA 1979, 201; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389; für § 21a JArbSchG: Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 2; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 2. 216 Allgemein: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 698; Herschel, RdA 1969, 211, 212; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389; für § 13 BUrlG: Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 2, 12; Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 2; für § 17 BetrAVG: Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 168. 217 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389. 218 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389. 219 Herschel, RdA 1969, 211, 212.
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ist, würde sich dieses Ergebnis ebenfalls auf die Auslegung des tarifdispositiven Rechts an dessen Berührungspunkten zum Tarifvertragsrecht auswirken.
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln vor dem Hintergrund der einfachgesetzlich ausgestalteten Tarifautonomie Das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht nimmt aufgrund seiner Nachgiebigkeit gegenüber abweichenden Tarifvertragsregelugen eine Sonderrolle innerhalb der übrigen arbeitsrechtlichen Vorschriften ein, die grundsätzlich als höherrangiges Recht eine Schranke für den Inhalt der Tarifverträge bilden. Der Ausnahmecharakter des tarifdispositiven Rechts wirft die Frage auf, ob die in Ausfüllung dieser besonderen Gestaltungsbefugnis ergangenen tariflichen Normen in jeder Hinsicht den allgemeinen Regelungen des Tarifvertragsrechts gehorchen.
A. Der Tarifvertrag im Sinne der Tariföffnungsklauseln Die Tariföffnungsklauseln sehen einheitlich vor, dass Tarifverträge von den gesetzlichen Vorschriften abweichen dürfen. Es fragt sich daher, ob der in den Tariföffnungsklauseln als Regelungsinstrument vorgesehene „Tarifvertrag“ alle Eigenschaften der im Übrigen vom Tarifvertragsgesetz erfassten Tarifverträge teilt. Insbesondere ist zu untersuchen, welche Rechtsnatur die abweichenden Tarifnormen haben, wie sie sich in die Normarten des § 1 Abs. 1 TVG einordnen lassen und ob sie der Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG unterliegen. I. Die Rechtsnatur der abweichenden Tarifvertragsregelungen Mit der Befugnis, von dem gesetzlichen Schutzstandard des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts zum Nachteil der Arbeitnehmer abzuweichen, überträgt der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien eine erhebliche Verantwortung. Daraus resultiert die Frage, ob sich die Existenz tarifdispositiver Vorschriften auf die Rechtsnatur der von ihnen abweichenden Tarifvertragsnormen auswirkt. Bis heute ist die Rechtsnatur von Tarifnormen im Allgemeinen nicht abschließend geklärt.220 Durch die Festschreibung des Rechtssatzcharakters in § 1 Abs. 1 TVG und die Regelung der Normunterworfenheit in § 3 Abs. 1 und 2 TVG sind Tarifnormen dennoch handhabbar geworden. Sie werden als untergesetzliches Recht in die Normenhierarchie eingeordnet und sind demnach grundsätzlich nicht imstande, eine formellgesetzliche Vorschrift zu verdrängen, es sei denn, diese selbst würde das 220
Vgl. zum ganzen Wiedemann, in: ders., TVG, § 1 Rn. 39 ff.
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anordnen.221 Eine solche Anordnung treffen Tariföffnungsklauseln. Diese heute einhellige Auffassung war in den Anfangsjahren des Bestehens der Bundesrepublik alles andere als selbstverständlich. In den ersten Jahren nach dem Ende des zweiten Weltkrieges herrschte über die Frage der Rechtsnatur von Tarifnormen, die in Ausfüllung der bis dahin in Gestalt von § 7 AZO einzigen Tariföffnungsklausel erlassen wurden, noch lebhafter Streit. Die Beschäftigung mit den kontroversen Positionen erleichtert das Verständnis aktueller Auslegungsfragen,222 weswegen die folgenden Ausführungen nicht ausschließlich von historischem Interesse sind. Die so genannte öffentlich-rechtliche Theorie, der auch das Bundesarbeitsgericht folgte,223 sah in den Tariföffnungsklauseln der Arbeitszeitordnung eine gesetzliche Ermächtigung der Tarifvertragsparteien zu öffentlich-rechtlicher Normsetzung.224 Als öffentlich-rechtliche Ersatznormen sollten die vom Gesetz abweichenden Vorschriften des Tarifvertrags an die Stelle des tarifdispositiven Arbeitszeitrechts treten.225 Dementsprechend war für die Anwendbarkeit der Tarifnorm nicht die Tarifbindung entscheidend, sondern lediglich die Eröffnung des fachlichen und räumlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrags.226 Nicht alle Anhänger der öffentlich-rechtlichen Theorie zogen diese letzte Konsequenz.227 Einige forderten zumindest die Tarifbindung des Arbeitgebers.228 Die Vertreter der öffentlich-rechtlichen Ansicht gingen von einer Doppelwirkung der arbeitszeitrechtlichen Tarifvertragsnormen aus. Für die beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien bewirkten die Vorschriften des Tarifvertrags, dass die neuen Arbeitszeiten unmittelbar verbindlich waren. Für Nichttarifgebundene erweiterten sie den Rahmen des rechtlich Zulässigen und mussten erst vertraglich umgesetzt werden.229 Vereinzelt begann sich diese Auffassung von der gesetzesgleichen 221 Allgemeine Meinung, vgl. nur Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 688; Herschel, RdA 1969, 211, 214; Kempen, in: ders. / Zachert, TVG, Grundl. Rn. 204 f. 222 So insbesondere die Frage nach der betriebsweiten Wirkung arbeitszeitrechtlicher Tarifvertragsregelungen (vgl. dazu sogleich unten 1. Teil: § 3 A. II.) und der Nachwirkung (siehe unten 1. Teil: § 3 A. III.). 223 BAG vom 14. 4. 1966, AP Nr. 2 zu § 13 AZO. 224 Denecke, RdA 1950, 259, 260; ders., BB 1951, 814; Hessel, RdA 1959, 259, 261; ders., AuR 1965, 176 ff.; Siebert, BB 1954, 323; Trabandt, BB 1954, 470, 471; Trieschmann, RdA 1954, 335, 337. 225 Denecke, RdA 1950, 259, 260; Hessel, AuR 1965, 176, 178. 226 Ausdrücklich Hessel, RdA 1959, 259, 261; wohl auch Denecke, RdA 1950, 259, 260 und 262; deutlicher ders., BB 1951, 814, 814. 227 Ausdrücklich dagegen Trabandt, BB 1954, 470, 471. 228 Trabandt, BB 1954, 470, 471. 229 Denecke, BB 1951, 814, 815; Hessel, RdA 1959, 259, 261; Siebert, BB 1954, 323; Trabandt, BB 1954, 470, 471; Trieschmann, RdA 1954, 335, 338. Diese Unterscheidung setzt sich bis ins aktuelle Arbeitszeitrecht fort, vgl. nur Schliemann, ArbZG, § 7 Rn. 15 f.; ders., Festschrift für Schaub, S. 675, 689; ders., in: Schliemann / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 496 ff.
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Wirkung der von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifnormen auch im Hinblick auf die von dem 1963 neu geschaffenen Bundesurlaubsgesetz abweichenden Tarifnormen durchzusetzen.230 Mitte der 60er Jahre erfuhr dieses Verständnis der von der Arbeitszeitordnung abweichenden Tarifvertragsregelungen durch die im Schrifttum vertretene privatrechtliche Theorie verstärkt Kritik. Die Gegner argumentierten, dass aus § 7 AZO nicht ersichtlich sei, dass er die Tarifpartner zur Schaffung allgemeinverbindlicher Rechtsnormen ermächtige.231 Eine Übertragung öffentlich-rechtlicher Normsetzungsbefugnisse an die Tarifvertragsparteien sei ohne parlamentarische Kontrolle bzw. verfassungsmäßige Ermächtigung nicht mit der grundgesetzlichen Ordnung vereinbar.232 Nach der privatrechtlichen Theorie stellten die abweichenden Tarifvertragsregelungen Normen im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG dar.233 Sie ordnete die abweichenden Tarifvertragsvereinbarungen in die vom bestehenden Tarifvertragssystem vorgesehenen Normarten ein und forderte folgerichtig für ihre Anwendbarkeit die Tarifbindung gemäß § 3 TVG.234 Der Vorrang des Tarifvertrags vor den tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften sollte nach dieser Ansicht darauf beruhen, dass das Gesetz seinen Geltungsanspruch gegenüber den Tarifnormen zurücknimmt. Diese selbst ändern folglich das staatliche Recht nicht ab, sondern sind vielmehr Bedingung für dessen Zurücktreten.235 Die Kritik an der öffentlich-rechtlichen Theorie war berechtigt. Tatsächlich fand diese im Wortlaut des § 7 Abs. 1 AZO236 keine Stütze. Das räumten auch die Vertreter der öffentlich-rechtlichen Ansicht ein.237 Aus rechtstheoretischer Sicht war die Einordnung tarifvertraglicher Abweichungen von gesetzlichen Vorschriften als 230 Herschel, Anm. zu BAG vom 20. 10. 66, SAE 1967, 176, 177; aufgegeben in RdA 1969, 211, 214 Fn. 27. 231 Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. II / 1, S. 262. 232 Stiller, in: Fechner, Probleme der Arbeitsbereitschaft, 181, 184 f.; Peters / Ossenbühl, Übertragung, S. 67. 233 Andresen, DB 1978, 1275, 1276; Herschel, ZfA 1976, 89, 100; ders., DB 1980, 687; Hohn, BB 1970, 1257, 1258; Hueck, in: ders. / Nipperdey / Tophoven / Stahlhacke, TVG, § 1 Rn. 59; Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. II / 1, S. 262; Knorr, RdA 1979, 201, 202 f.; Peters / Ossenbühl, Übertragung, S. 82; Prill, Rechtsnatur, S. 49 ff.; Reichel, BArbBl. 1969, 189, 192 (allgemein für alle die Tarifdispositivität nutzenden Tarifregelungen); Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 142; Schröder, BB 1960, 53, 55; Stiller, in: Fechner, Probleme der Arbeitsbereitschaft, 181, 182 ff. 234 Andresen, DB 1978, 1275, 1276; Schröder, BB 1960, 53, 55. 235 So bereits: Jacobi, Grundlehren des Arbeitsrechts (1927), S. 213; weiterhin: Denecke / Neumann, AZO, 11. Aufl., § 7 Rn. 10; Herschel, RdA 1969, 211, 214; ders., ZfA 1976, 89, 100; ders. DB 1980, 687, 687; Hohn, BB 1970, 1275, 1258; Nikisch, ArbR II (2. Aufl.), S. 316; Peters / Ossenbühl, Übertragung, S. 82; Prill, Rechtsnatur, S. 53; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 242; Schröder, BB 1960, 53, 55; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 276; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 116. 236 „Die regelmäßige Arbeitszeit kann durch Tarifordnung bis zu zehn Stunden täglich verlängert werden.“ 237 Vgl. Hessel, RdA 1959, 259, 260.
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gesetzesgleiches Recht ebenfalls nicht überzeugend. Im Hinblick auf nachgiebiges oder dispositives Recht im Allgemeinen ist seit der grundlegenden Auseinandersetzung mit der Rechtsnatur dispositiver Vorschriften durch Bülow238 anerkannt, dass diese keine Ermächtigung der Privatrechtssubjekte durch den Staat zur Rechtssetzung beinhalten, sondern lediglich ihren Geltungsanspruch für den Fall zurücknehmen, dass in Bezug auf denselben Regelungsgegenstand eine eigenständige privatautonome Regelung existiert.239 Die Einordnung der von den Regelungen des staatlichen Arbeitszeitrechts abweichenden Tarifnormen als staatliches Gesetzesrecht bedeutet einen Rückfall in die Zeit vor dieser grundlegenden Erkenntnis. Auch der einfache Rückschluss vom öffentlich-rechtlichen Charakter der Arbeitszeitvorschriften240 auf die Rechtsnatur der zulässigerweise von ihnen abweichenden Tarifnormen241 ist nicht zwingend. Die historische Argumentation verfängt ebenso wenig. Seit 1919 besteht für die Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, eine Verlängerung der gesetzlich vorgeschriebenen Höchstarbeitszeit für bestimmte Berufsgruppen vorzusehen. Die zum damaligen Zeitpunkt geltenden Arbeitszeitverordnungen enthielten ausdrückliche Bestimmungen dahingehend, dass die abweichenden Tarifnormen nur für die Arbeitnehmer gelten, für die auch der Tarifvertrag verbindlich ist.242 Daneben bestand stets eine Ermächtigung für die zuständigen Verwaltungsbehörden, ebenfalls verlängerte Arbeitszeiten festzulegen.243 Aus diesem Nebeneinander von tariflicher und staatlicher Verlängerung der Arbeitszeiten ergibt sich, dass zwischen tariflichen Abweichungen von staatlichen Arbeitsrechtsregelungen und der Abweichung durch staatliche Behörden ein qualitativer Unterschied hinsichtlich der Rechtsnatur besteht.244 Auch die Parallele zur Funktion und rechtlichen Stellung des Treuhänders für Arbeit, die vereinzelt gezogen wurde,245 überzeugt nicht. Auf Grundlage des Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. 1. 1934246 übernahm der Treuhänder für Arbeit die Funktionen der Tarifvertragsparteien, der 238 Bülow, AcP 64 (1881), 1, 39 ff., der die von ihm als „mutatio juris“ bezeichnete Auffassung widerlegte, dass dispositive Vorschriften die Vertragsparteien mit der Befugnis und Macht ausstatteten, das Recht selbst zu ändern. 239 Vgl. dazu Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 532. 240 RAG vom 10. 10. 1928, ArbRSlg. 4, 131, 134; RAG vom 5. 6. 1929, ArbRSlg. 6, 301, 302; Denecke, RdA 1950, 258, 260; Hessel, RdA 1959, 259, 260. 241 Denecke, RdA 1950, 258, 260; Hessel, RdA 1959, 259, 261; dagegen ausdrücklich Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. II / 1, S. 262; Peters / Ossenbühl, Übertragung, S. 80. 242 Vgl. § 5 der Verordnung über die Arbeitszeit vom 21. 12. 1923, RGBl. 1923 I, S. 1249; Denecke, RdA 1950, 258, 258; Schröder, BB 1960, 53, 54. 243 Vgl. § 2 der Verordnung über die Arbeitszeit vom 21. 12. 1923 (RGBl. 1923 I, S. 1249), der den Reichsarbeitsminister zu abweichenden Regelungen ermächtigte, und § 6 der Arbeitszeitverordnung vom 14. 4. 1927 (RGBl. I 1927, S. 110), der die Gewerbeaufsichtsbehörden zu bestimmten Arbeitszeitregelungen ermächtigte. 244 Schröder, BB 1960, 53, 54. 245 Denecke, RdA 1950, 258, 261. 246 RGBl. 1934 I, S. 45.
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anders als diese ein staatlicher Hoheitsträger war und in Gestalt der Tarifordnungen öffentlich-rechtliche Normen setzte. Aus diesem Grunde war es überflüssig, in der Arbeitszeitordnung 1938 zu bestimmen, dass die abweichenden Arbeitszeitregelungen nur für die Arbeitnehmer galten, für die der entsprechende Tarifvertrag verbindlich war.247 Nach der Wiederherstellung der ursprünglichen Rechtslage behielten die Tarifvertragsparteien aber nicht etwa diese hoheitliche Rechtssetzungsbefugnis bei, sondern übten wieder die ihnen zuvor zugekommene tarifliche Normsetzungsbefugnis aus.248 Aus historischer Sicht ist die Einordnung abweichender Tarifvertragsvorschriften als öffentlich-rechtliche Gesetze daher nicht haltbar. Die aktuell existierenden Tariföffnungsklauseln bestätigen den historischen Befund. Ihr Wortlaut gibt keinen Anlass, davon auszugehen, dass die abweichenden Tarifvertragsparteien öffentliches Recht setzen. Wenn ein Gesetz einen rechtlichen Fachbegriff verwendet, so ist davon auszugehen, dass dieser auch im Sinne der ihn ausgestaltenden Spezialvorschriften zu verstehen ist.249 Der in den Tariföffnungsklauseln verwendete Begriff des Tarifvertrags ist daher grundsätzlich identisch mit dem des Tarifvertragsgesetzes, da sich aus dem Wortlaut des tarifdispositiven Gesetzesrechts keine entgegenstehenden Anhaltspunkte ergeben. Außerdem bestimmt § 101 Abs. 2 S. 2 ArbGG ausdrücklich, dass die Schiedsvereinbarung, welche die Tarifvertragsparteien treffen können, nur tarifgebundene Personen bindet. Zudem ist angesichts der zuerst durch Inkrafttreten des § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG und mittlerweile auch im Arbeitszeitrecht (vgl. § 7 Abs. 3 S. 1 ArbZG und § 21a Abs. 2 JArbSchG) eröffneten Möglichkeit zur einzelvertraglichen Bezugnahme auf abweichende Tarifvertragsregelungen durch nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien die Konstruktion einer auch nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien erfassenden Normwirkung nicht mehr notwendig. Das Bedürfnis nach betriebseinheitlicher Geltung einer bestimmten Arbeitszeit war für die Zeit, in der die Bezugnahmemöglichkeit noch nicht bestand, durchaus nachvollziehbar.250 Nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien können heute jedoch auf die abweichenden Tarifregelungen Bezug nehmen und auf diese Weise die Verlängerung der Arbeitszeit im Betrieb erreichen.251 Anders als § 7 AZO gestatten heute § 7 Abs. 3 S. 2 und § 12 Abs. 2 ArbZG umfassend, d. h. auch hinsichtlich der von den gesetzlichen Denecke, RdA 1950, 258, 258. Knorr, RdA 1979, 201, 203; Prill, Rechtsnatur, S. 38 f.; Schröder, BB 1960, 53, 54; Stiller, in: Fechner, Probleme der Arbeitsbereitschaft, 181, 184. 249 Allgemein: Larenz / Canaris, Methodenlehre, S. 142; für das Urlaubsrecht: Stahlhacke, DB 1961, 1131, 1132. 250 Vgl. zu den damals auftretenden praktischen Problemen Denecke, RdA 1950, 258, 259. 251 Zu einer Bezugnahme oder einzelvertraglichen Anpassung der Arbeitszeiten waren die nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien auch nach der öffentlich-rechtlichen Theorie gezwungen, da der Tarifvertrag nur das Maß des Zulässigen veränderte, nicht aber die Verpflichtung für nicht tarifgebundene Arbeitnehmer begründete, auch tatsächlich länger zu arbeiten. 247 248
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Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes befreienden Wirkung, dass in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers auf die abweichenden tarifvertraglichen Regelungen Bezug genommen werden kann. Diese Vorschriften wären überflüssig, wenn die Wirkung bereits aufgrund des öffentlich-rechtlichen Gesetzescharakters der abweichenden Tarifvertragsvorschriften und damit unabhängig von einer Tarifbindung eintreten würde.252 Darüber hinaus wäre die Übertragung von Rechtssetzungsbefugnissen mit allgemeinverbindlicher Wirkung an die Tarifvertragsparteien aus verfassungsrechtlicher Sicht bedenklich. Das Demokratieprinzip erfordert auf der einen Seite, dass die Ordnung eines bestimmten Lebensbereiches durch objektive Rechtsvorschriften nur zulässig ist, wenn deren Erlass auf eine Willensentschließung der vom Volk bestellten Gesetzgebungsorgane zurückgeführt werden kann. Auf der anderen Seite gibt das Rechtsstaatsprinzip vor, dass Einschränkungen der Freiheit des Bürgers nur durch oder aufgrund staatlicher Gesetze erfolgen dürfen.253 Die Übertragung staatlicher Rechtssetzungsbefugnisse ist nicht möglich, soweit dadurch der Bürger einer normsetzenden Institution ausgesetzt ist, die ihm gegenüber weder demokratisch noch mitgliedschaftlich legitimiert ist.254 Daraus folgt auch und gerade für den von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützten Bereich der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, dass die Normsetzung der Tarifpartner nur gegenüber ihren Mitgliedern verbindlich ist, was § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 und 2 TVG eindrücklich bestätigen. Dies muss auch für die Abweichung von tarifdispositivem Recht gelten. Eine Ermächtigung der Tarifpartner zur Schaffung allgemeinverbindlicher Regelungen, die von staatlichen Mindestarbeitsbedingungen zum Nachteil der Normadressaten abweichen, ist mit dem Demokratie- und Rechtsstaatprinzip nicht zu vereinbaren. Insbesondere liefert Art. 80 Abs. 1 GG schon seinem Wortlaut nach keine Grundlage für eine andere Ansicht. Schließlich führt die Anwendung der öffentlich-rechtlichen Theorie dazu, dass zwei verschiedene Arten von Tarifregelungen geschaffen werden. Das Nebeneinander von Tarifvertragsnormen, die dem Tarifvertragsgesetz unterfallen, und solchen, die eigentlich öffentliches Recht darstellen, widerspricht dem bestehenden Tarifsystem und hätte eine nicht tragbare Rechtsunsicherheit zur Folge.255 Abschließend ergibt sich daher, dass Tariföffnungsklauseln keine staatliche Ermächtigung der Tarifvertragsparteien zur Schaffung gesetzlicher Vorschriften verkörpern. Bei Tarifnormen, die von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichen, handelt es sich ausnahmslos um solche im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG.
So auch Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 276. BVerfG vom 9. 5. 1972, BVerfGE 33, 125, 158; vom 27. 2. 1973, BVerfGE 34, 307, 318; vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 348; vom 14. 6. 1983, BVerfGE 64, 208, 214 f. 254 Vgl. auch BVerfG vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 347; vom 14. 6. 1983, BVerfGE 64, 208, 214 f. 255 Knorr, RdA 1979, 201, 203. 252 253
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II. Die Einordnung der abweichenden Tarifnormen in den Normenkanon des § 1 Abs. 1 TVG Von tarifdispositivem Arbeitsrecht abweichende Tarifnormen verschlechtern den durch die Arbeitnehmerschutzgesetze vorgegebenen Status quo hinsichtlich der Arbeitsbedingungen des von ihnen erfassten Personenkreises. Dadurch eröffnet das tarifdispositive Recht die Möglichkeit zu einer nicht unerheblichen rechtlichen Schlechterstellung der von den abweichenden Tarifnormen betroffenen Arbeitnehmer. Es ist daher relevant, welche Angehörigen eines Betriebes von diesen Tarifvertragsvorschriften erfasst werden. Ein Blick auf die Struktur der Tariföffnungsklauseln macht deutlich, dass sie sich in zwei Gruppen unterteilen lassen. Auf der einen Seite steht der Kreis von Normen, die Abweichungen in einem Tarifvertrag gestatten. Auf der anderen Seite finden sich Tariföffnungsklauseln, in denen auch Abweichungen durch Betriebsund Dienst- bzw. Bordvereinbarung aufgrund eines Tarifvertrags für zulässig erklärt werden. Durch die letzte Gruppe werden ausschließlich tarifdispositive Vorschriften geschaffen, welche die Dauer und Lage der Arbeitszeit betreffen (Vgl. §§ 7, 12 ArbZG, § 21a JArbSchG, § 89a Abs. 1, § 100a Abs. 1, § 104 Abs. 2 S. 1, § 139 Abs. 3, § 140 Abs. 1 Nr. 2 SeemG). 1. Tariflichvertragliche Abweichungen von den tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitrechts Wie bereits gezeigt, unterscheiden sich die arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln ihrem Wortlaut nach von den übrigen. Sie sehen vor, dass in einem Tarifvertrag „zugelassen“ werden kann, abweichend von den im Gesetz genau bezeichneten Tatbeständen bestimmte Regelungen zu treffen. Unter Anwendung dieser in den §§ 7, 12 ArbZG, § 21a JArbSchG, §§ 89a, 100a, 104 SeemG zu findenden Formulierung sind Tarifregelungen denkbar, die schlicht einen von den gesetzlichen Vorschriften abweichenden Rahmen für individuelle Arbeitszeitregelungen vorgeben.256 Daneben sind aber auch Tarifnormen vorstellbar, die unmittelbar in Abweichung von den arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen individuelle Arbeitszeiten festlegen. Darüber hinaus weisen die zu den Tariföffnungsklauseln gehörenden Erstreckungsklauseln die Besonderheit auf, dass sie nach ihrem Wortlaut nur auf Betriebe nicht tarifgebundener Arbeitgeber anwendbar sind. Aus alledem resultiert zuerst die Frage, auf welchen Personenkreis rein zulassende Tarifnormen, 256 Anzinger, in: MüHBArbR, § 218 Rn. 103; Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 4; Roggendorff, ArbZG, § 7 Rn. 28; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 498; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 119; vgl. auch die älteren Stellungnahmen: LAG Düsseldorf, vom 28. 8. 1956, BB 1956, 1140 (mit zustimmender Anm. Gumpert); LAG Düsseldorf, vom 19. 2. 1957, BB 1957, 509 (mit zustimmender Anm. Fauth); Galperin, BB 1963, 739, 743; Meisel / Hiersemann, AZO, § 7 Rn. 14; Peters / Ossenbühl, Übertragung, S. 101; Prill, Rechtsnatur, S. 58.
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also solche, die Abweichungen von den arbeitszeitrechtlichen Regelungen gestatten, anwendbar sind. Weiterhin fragt sich, für welche Arbeitnehmer und Arbeitgeber Tarifnormen bindende Wirkung entfalten, die unmittelbar materielle Arbeitspflichten hinsichtlich der Arbeitszeit festlegen, ohne die arbeitszeitrechtlichen Vorschriften explizit für disponibel zu erklären. Anknüpfend an die Auffassung, dass abweichende Tarifvertragsnormen, die allein die Arbeitszeitgrenzen verschieben und daher oftmals als Zulassungsnormen bezeichnet werden, öffentlich-rechtliche Ersatznormen darstellen, wird auch vor dem Hintergrund der heute herrschenden privatrechtlichen Theorie hinsichtlich der Rechtsnatur abweichender Tarifnormen zwischen zwei Wirkungsweisen unterschieden. Einerseits legen solche Tarifverträge vom Arbeitszeitgesetz abweichende Höchstarbeitszeiten fest, was als arbeitsschutzrechtliche Wirkung bezeichnet wird. Andererseits können sie in Gestalt einer materiellrechtlichen Wirkung auch konkrete Arbeitspflichten für den Einzelnen begründen.257 a) Standort der arbeitsschutzrechtlichen Tarifvertragsvorschriften im Normenkanon des § 1 Abs. 1 TVG Arbeitsschutzrechtliche Tarifvertragsvorschriften regeln abweichend vom staatlichen Gesetz Höchstgrenzen für die Arbeitszeit, ohne die individuelle Arbeitszeit einzelner Arbeitnehmer zu erfassen. Aus Gründen der Praktikabilität ist die betriebsweite Geltung dieser Tarifnormen zu begrüßen,258 ungeklärt ist allerdings die rechtliche Begründung dafür. aa) Meinungsstand Das Schrifttum nimmt für die Bestimmung der personellen Reichweite der von den arbeitszeitrechtlichen Vorschriften abweichenden Tarifnormen unterschiedliche Perspektiven ein. Während die einen von den abweichenden Tarifnormen und ihrem Regelungsinhalt ausgehen,259 halten andere die Frage nach der Einordnung der abweichenden arbeitszeitrechtlichen Tarifnormen als Betriebs- oder Inhaltsnorm für falsch gestellt und richten den Blick für die Bestimmung der Reichweite der Regelungswirkung weg von den abweichenden Tarifnormen hin zu den Tariföffnungsklauseln.260 Bereits aus diesen ergebe sich, welche Personengruppen von Galperin, BB 1963, 739, 743; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 277. Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 121. 259 Anzinger, in: MüHBArbR, § 218 Rn. 103; Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 4; Reim, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 329; Roggendorff, ArbZG, § 7 Rn. 28; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 498; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 119. 260 H. Hanau, RdA 1996, 158, 175; Herschel, RdA 1969, 211, 214, die juristische Wurzel sei in die höherrangigen zurücktretenden Normen eingepflanzt; Prill, Rechtsnatur, S. 63; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 279; wohl auch Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, 257 258
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den abweichenden Tarifvertragsvorschriften erfasst werden. Demzufolge sollen die Tariföffnungsklauseln bewirken, dass bei Vorliegen einer vom Gesetz abweichenden tariflichen Regelung die gesetzlichen Arbeitszeitgrenzen betriebsweit zurücktreten.261 Es werden mehrere Spielarten dieser Ansicht vertreten. Tietje gelangt durch eine Auslegung der Tariföffnungsklauseln des Arbeitszeitgesetzes zu dem Ergebnis, dass allein aufgrund der besonderen Ausgestaltung dieser Tariföffnungsklauseln die Arbeitnehmerschutzvorschriften bei Existenz einer abweichenden Tarifnorm ihren Geltungsanspruch gegenüber allen Arbeitnehmern im Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers zurücknehmen.262 Der Tarifvertrag soll seiner Ansicht nach ein Tatbestandsmerkmal für das Zurücktreten der Arbeitszeitvorschriften bilden.263 Nach Zöllner richten sich die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes allein an den Arbeitgeber, was sich vor allem aus der einseitigen Strafbewehrung ergebe, so dass die Veränderung der zulässigen Arbeitszeitgrenzen auch nur den Arbeitgeber betreffe und sich daher das Problem einer Rechtssetzung gegenüber Außenseitern gar nicht stelle.264 Das weit überwiegende Schrifttum geht demgegenüber von den abweichenden Tarifnormen aus und stellt pauschal den Betriebsnormcharakter der abweichenden arbeitszeitrechtlichen Tarifnormen fest.265 Die gesetzgeberische Konzeption spreche dafür und es handele sich um eine Frage der Ordnung des Betriebes.266 Andere befürchten dadurch eine Überdehnung des Betriebsnormbegriffs.267 Zmarzlik / Anzinger und Gamillscheg sehen in der tarifvertraglichen Verlängerung der betrieblichen Arbeitszeit der Sache nach Inhaltsnormen, die aber aufgrund tatsächlicher Zwänge als Betriebsnormen einzuordnen sind.268 Insbesondere Zmarzlik und AnS. 242; Kritik an einer unbesehenen Anwendung des § 3 Abs. 2 TVG auch bei Schliemann, Festschrift für Schaub, S. 675, 688, der allerdings am Ende doch auf die Beurteilung zurückgreift, ob Betriebsnormen vorliegen oder nicht. 261 Herschel, RdA 1969, 211, 214. 262 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 278 ff. 263 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 280 f.; ähnlich bereits Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 242, der zwar feststellt, dass nicht der Tarifvertrag selbst die Grenzen des Arbeitnehmerschutzes festlege, sondern dieser lediglich ein Tatbestandsmerkmal der arbeitszeitrechtlichen gesetzlichen Regelung bilde, im gleichen Atemzug die abweichenden Tarifnormen im Sinne von § 7 AZO aber pauschal als betriebliche Normen einordnet. 264 Zöllner, RdA 1962, 453, 456; ebenso H. Hanau, RdA 1996, 158, 175. 265 Anzinger, in: MüHBArbR, § 218 Rn. 103; Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 4; Roggendorff, ArbZG, § 7 Rn. 28; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 498; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 119; zurückhaltend Buschmann / Ulber, ArbZG, § 7 Rn. 2, nur für Tarifnormen, die die Betriebsparteien zu einer Ausgestaltung durch Betriebsvereinbarung ermächtigen. 266 Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 115. 267 Dieterich, Betriebliche Normen, S. 74. 268 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 590; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 121.
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zinger empfinden es als einen „unzumutbaren Verwaltungsaufwand“ für den Arbeitgeber, die Vorschriften des Tarifvertrags kraft einzelvertraglicher Bezugnahme auf die nicht organisierten Arbeitnehmer erstrecken zu müssen.269 Eingehend beschäftigt sich soweit ersichtlich nur Schliemann270 mit der Frage nach der Einordnung der abweichenden Tarifnormen im Hinblick auf ihre arbeitsschutzrechtliche Komponente. Er untersucht die Tatbestände der arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln und der aufgrund dieser denkbaren Tarifnormen daraufhin, ob sie einer Regelung im Einzelvertrag sinnvoll zugänglich sind, und kommt zu dem Ergebnis, dass diese meist die Schutzbedingungen des Einzelarbeitsverhältnisses ändern würden, aber keine einzelfallübergreifenden Gesichtspunkte normierten.271 Etwas anderes könne sich nur aus ergänzenden rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkten des Einzelfalls ergeben.272 bb) Stellungnahme Grundsätzlich erfassen Tarifnormen gemäß §§ 3 Abs. 1 und 4 Abs. 1 S. 1 TVG nur die beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien. Eine Ausnahme bilden Betriebsnormen, die gemäß § 3 Abs. 2 TVG für Betriebe eines tarifgebundenen Arbeitgebers gelten. Würde die arbeitsschutzrechtliche Wirkung der abweichenden Tarifverträge nur tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien erfassen, dann müsste der Arbeitgeber – vorausgesetzt, er hat ein Interesse an einheitlichen Arbeitsbedingungen in seinem Betrieb – mit den nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern die Bezugnahme auf die Tarifnormen vereinbaren. Wegen des zwingenden Charakters der Arbeitszeitgesetze ist dies aber nur bei gleichzeitiger Existenz einer Erstreckungsklausel möglich. Die Erstreckungsklauseln der Arbeitszeitgesetze sind ihrem Wortlaut nach jedoch nur auf Betriebe nicht tarifgebundener Arbeitgeber anwendbar. Wenn aber eine Abweichung von zwingenden Arbeitszeitvorschriften bei fehlender Tarifbindung auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite möglich ist, dann würde ein Ausschluss der Bezugnahmemöglichkeit bei einseitiger Tarifbindung des Arbeitgebers zu einem Wertungswiderspruch führen. Der Gesetzgeber der arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln ging eindeutig davon aus, dass die arbeitsschutzrechtliche Wirkung der abweichenden Tarifnormen alle Arbeitnehmer in dem Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers erfasst. Dies kann zum einen dadurch begründet sein, dass es sich bei den abweichenden Tarifnormen in ihrer arbeitsschutzrechtlichen Komponente um Betriebsnormen gemäß § 3 Abs. 2 TVG handelt. Zum anderen könnte das betriebsweite Zurücktreten der gesetzlichen Arbeitszeitvorschriften hinter abweichende tarifliche Regelungen aber auch von den Tariföffnungsklauseln selbst ausgehen.273 269 270 271 272
6 Bock
Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 121. Schliemann, Festschrift für Schaub, S. 675, 691 ff. Schliemann, Festschrift für Schaub, S. 675, 691. Schliemann, Festschrift für Schaub, S. 675, 692.
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Wann eine Betriebsnorm vorliegt, ist anhand der konkreten Gestaltung der in Rede stehenden Tarifvertragsvorschrift zu bestimmen.274 Pauschalurteile, die konstatieren, dass der Gesetzgeber von dem Betriebsnormcharakter einer bestimmten Tarifvertragsregelung ausgehe und deshalb auch eine Betriebsnorm vorliege, verbieten sich aufgrund der Vielzahl denkbarer tariflicher Gestaltungsmöglichkeiten.275 Die zutreffende dogmatische Einordnung der abweichenden Tarifvertragsregelungen wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass derzeit ein eindeutiger, subsumtionsfähiger Betriebsnormbegriff nicht existiert. In der Literatur finden sich verschiedenste Konzepte, um die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 TVG inhaltlich auszufüllen.276 Einhellig abgelehnt wird allerdings die auf Nikisch zurückgehende inhaltliche Bestimmung des Betriebsnormbegriffs anhand des Kanons der Solidar-, Ordnungs- und Zulassungsnormen.277 Mit Zulassungsnormen sind in diesem Zusammenhang die gemäß § 7 AZO von der Arbeitszeitordnung abweichenden Tarifnormen gemeint. Bereits im Hinblick auf § 7 AZO ging man davon aus, dass eine nicht betriebsweite Wirkung der abweichenden Tarifnormen unpraktikabel wäre.278 Angesichts der Tatsache, dass zu dieser Zeit noch keine anderen Tariföffnungsklauseln existierten, sondern mit § 13 BUrlG erst 1963 die nächste Tariföffnungsklausel hinzukam und heute die unterschiedlichsten arbeitsrechtlichen Materien von dem tarifdispositiven Recht durchzogen sind, ist ein Festhalten an dieser veralteten Ansicht verfehlt.279 Auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung, die Betriebsnormen immer dann annimmt, wenn eine tarifliche Regelung aus rechtlichen oder tatsächlichen 273 Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 121, gehen davon aus, dass eigentlich Inhaltsnormen vorliegen, die aber kraft gesetzlicher Anordnung als Betriebsnormen einzuordnen sind. 274 BAG vom 21. 1. 1987, AP Nr. 46 und 47 zu Art. 9 GG; Dieterich, Betriebliche Normen, S. 44; Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 133; dies., in: MüHBArbR, § 260 Rn. 9; Reim, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 330; für arbeitszeitrechtliche Tarifvertragsregelungen Anzinger, in: MüHBArbR, § 218 Rn. 103. 275 Schliemann, Festschrift für Schaub, S. 675, 689; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 279; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 121. 276 Anknüpfend an die „Gestaltung des Betriebs“, Dieterich, Betriebliche Normen, S. 36 ff.; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 589, 593; Ableitung aus einem betrieblichen Rechtsverhältnis, Buchner, RdA 1966, 208, 210; Dieterich, Festschrift für Däubler, S. 451, 459; Hueck, BB 1949, 530, 532; Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 261 Rn. 8; dies., TVG, § 1 Rn. 106; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 236 f.; Rieble, ZTR 1993, 54, 55; vgl. auch den Überblick bei Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 286 ff., mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 277 So Nikisch, BB 1950, 538, 539, für Solidar- und Ordnungsnormen; ders., ArbR II, S. 288, 301; vgl. auch Dieterich, Betriebliche Normen, S. 74, der die Zulassungsnormen als eigenständige Kategorie von Tarifnormen begreift; dagegen: BAG vom 26. 4. 1990, AP Nr. 57 zu Art. 9 GG. 278 Prill, Rechtsnatur, S. 62. 279 So ausdrücklich Reim, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 329, gegen eine pauschale Einordnung von Zulassungsnormen als Betriebsnormen.
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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Gründen nur betriebseinheitlich möglich sei, d. h. eine für die betroffenen Arbeitsverhältnisse unterschiedliche Regelung zwar nicht naturwissenschaftlich unmöglich, aber aus evident sachlogischen Gründen unzweckmäßig wäre,280 ist die pauschale Feststellung des Betriebsnormcharakters aufgrund der Abweichung von tarifdispositiven Arbeitszeitvorschriften nicht haltbar.281 Vielmehr ist in jedem Einzelfall zu untersuchen und festzustellen, ob eine Betriebsnorm vorliegt oder nicht. Keineswegs kann aber die Rede davon sein, dass alle arbeitszeitrechtlichen Tarifnormen automatisch Betriebsnormen darstellen. Das hat Schliemann überzeugend nachgewiesen.282 Aus diesen Erwägungen folgt zwangsläufig, dass in den Fällen, in denen es sich entsprechend der erforderlichen Einzelfallbetrachtung anhand der herkömmlichen Kriterien bei den abweichenden Tarifnormen nicht um Betriebsnormen handelt, ein Widerspruch zur gesetzlichen Konzeption entsteht. Der Gesetzgeber ging offensichtlich von der betriebsweiten Wirkung der arbeitsschutzrechtlichen Komponente der abweichenden Tarifnormen aus. Da diese pauschale Annahme von Betriebsnormen aber auf der Grundlage des geltenden Tarifvertragssystems nicht haltbar ist, kann sich nur aus den Tariföffnungsklauseln selbst die betriebsweite Veränderung der Arbeitszeitgrenzen ergeben. Konstruktiv wird dieses Ergebnis dadurch erreicht, dass die tarifdispositiven Arbeitszeitregelungen ihren gegenüber Betriebs- und Arbeitsvertragsparteien grundsätzlich zwingenden Charakter für den Fall der Existenz zulassender Tarifnormen selbst betriebsweit zurücknehmen und das vormals tarifdispositive Recht vollständig dispositiven Charakter annimmt. Der Wortlaut der arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln besagt, dass in einem Tarifvertrag zugelassen werden kann, abweichend von genau bezeichneten Vorschriften bestimmte, für den Arbeitnehmer auch nachteilige Regelungen zu treffen. Nach der Konstruktion der Tariföffnungsklauseln in §§ 7 Abs. 1, 2 und 12 S. 1 ArbZG, § 21a Abs. 1 JArbSchG, §§ 89a Abs. 1, 100a Abs. 1 SeemG kann damit nur gemeint sein, dass die Tarifvertragspartner den Parteien des Arbeitsverhältnisses gestatten, Vereinbarungen zu treffen, die sich außerhalb der gesetzlichen Grenzen bewegen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass die ebenfalls genannte Betriebsvereinbarung, die gleichermaßen Abweichungen zulassen kann, auch alle Arbeitnehmer in einem Betrieb unabhängig davon erfasst, ob sie tarifgebunden sind oder nicht. Daran wird deutlich, dass die Arbeitszeitgrenzen der Arbeitszeitgesetze innerhalb eines Betriebes zur vollständigen Disposition der Arbeitsvertrags- oder Betriebsparteien stehen, sobald eine zulassende Tarifnorm existiert. Dies bestätigt auch die systematische Betrachtung im Hinblick auf § 7 Abs. 3 280 BAG vom 27. 4. 1988, AP Nr. 4 zu § 1 BeschFG 1985 (Gamillscheg); vom 26. 4. 1990; AP Nr. 57 zu Art. 9 GG; vom 7. 11. 1995, AP Nr. 1 zu § 3 TVG Betriebsnormen (H. Hanau); vom 17. 6. 1997; AP Nr. 2 zu § 3 TVG Betriebsnormen (Wiedemann). 281 So auch Buschmann / Ulber, ArbZG, § 7 Rn. 2. 282 Vgl. Schliemann, Festschrift für Schaub, S. 675, 689 ff.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
ArbZG.283 Die Erstreckungsklausel bezieht sich allein auf Betriebe eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers. Das ist wiederum nur gerechtfertigt, wenn die Arbeitsvertragsparteien im Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers bereits aufgrund der Tariföffnungsklauseln die individuellen Arbeitszeiten entsprechend der tariflichen Abweichung anders als vom Gesetz vorgesehen regeln dürfen. Die tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitrechts werden demnach bei Vorliegen eines Tarifvertrags, der die Abweichung gestattet, vollständig dispositiv. Da der Gesetzgeber diese Konsequenz selbst anordnet, ergibt sich auch kein Legitimationsproblem. Nicht die Tarifparteien führen diese Rechtsfolge herbei, sondern das Gesetz selbst ordnet sie an.284 Als denkbarer Einwand gegen eine derartige Auslegung ergibt sich ein möglicher Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit. 285 Der Schutzbereich der negativen Koalitionsfreiheit umfasst das Recht des Einzelnen, einer Koalition fernzubleiben bzw. aus ihr auszutreten.286 Die Garantie beinhaltet jedoch nicht die Gewährleistung, als nicht tarifgebundener Arbeitnehmer von einer tariflichen Norm nicht erfasst zu werden. Vielmehr soll das Grundrecht die Außenseiter nur gegen die Errichtung eines Zwangs zum Beitritt zu einer Koalition absichern.287 Ein Recht auf Nichtunterwerfung unter tarifvertragliche Bestimmungen enthält die negative Koalitionsfreiheit nicht.288 Das folgt aus der spiegelbildlichen Funktion der negativen Koalitionsfreiheit gegenüber der positiven Garantie.289 Diese beinhaltet in individueller Hinsicht jedoch lediglich die freie Bildung und den ungehinderten Beitritt zu einer Koalition sowie die ungestörte Betätigung im Rahmen des Koalitionszwecks. Die im Rahmen der kollektiven Komponente der Koalitionsfreiheit er283 Vgl. auch die entsprechenden Erstreckungsklauseln in §§ 21a Abs. 2 JArbSchG, 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG. 284 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 281. 285 Darauf weist insbesondere Schubert, RdA 2001, 199, hin. 286 BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 367; vom 14. 6. 1983, BVerfGE 64, 208, 213; vom 23. 4. 1986, BVerfGE 73, 261, 270; vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 155; BAG vom 17. 2. 1998, BAGE 88, 38, 43 u. 45 = AP Nr. 87 zu Art. 9 GG; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 65; Neumann, RdA 1989, 243 ff; Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 736; Scholz, in: HBStR VI, § 151, Rn. 82 ff. 287 BVerfG vom 15. 7. 1980, BVerfGE 55, 7, 22; vom 14. 6. 1983, BVerfGE 64, 208, 214; vgl. auch BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 155; BAG (GS) vom 29. 11. 1967, AP Nr. 13 zu Art. 9 GG; vom 21. 1. 1987, AP Nr. 47 zu Art. 9 GG (mit zustimmender Anm. Scholz); Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 65; Löwer, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 9 Rn. 79; Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 226; ders., in: HBStR VI, § 151 Rn. 84; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 294; im Ergebnis ebenso Däubler, in: ders. / Mayer-Maly, Negative Koalitionsfreiheit, S. 26, 38; ders., ArbR I, S. 105 f., der den Schutz des Fernbleibens jedoch aus Art. 9 Abs. 1 GG ableitet. 288 So ausdrücklich Schubert, RdA 2001, 199, 207; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 294; noch unentschieden ders., RdA 1969, 321, 330; dagegen: Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 50; Schleusener, ZTR 1998, 100, 101; Schüren, RdA 1988, 138, 139 f.; Zöllner, RdA 1962, 453, 458; wohl auch Mayer-Maly, ZAS 1969, 81, 87. 289 Schubert, RdA 2001, 199, 202.
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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fasste tarifvertragliche Normsetzung lässt sich jedoch nicht spiegelbildlich auf das Individuum übertragen und zur Begründung eines Schutzes gegen die Unterwerfung unter Tarifnormen heranziehen.290 Auf der Grundlage dieses beschränkten Gewährleistungsinhalts der negativen Koalitionsfreiheit kann sich im Falle des tarifdispositiven Rechts eine Zwangswirkung zum Beitritt in eine Koalition für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer aus dem betriebseinheitlichen Zurücktreten der gesetzlichen Vorschriften nicht ergeben. Solange keine materiellrechtlichen tariflichen Vorschriften bestehen, greifen die dispositiven gesetzlichen Arbeitnehmerschutzvorschriften ein, so dass sich die Rechtslage für den Arbeitnehmer nicht ändert. Sofern die abweichenden tariflichen Vorschriften auch in materiellrechtlicher Hinsicht Geltung für die nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer erlangen sollten,291 ergäbe sich lediglich ein mittelbarer Druck zum Beitritt in die Koalition, der darin besteht, dass die von der tariflichen Norm betroffenen Außenseiter als Mitglieder der Koalition einen intensiveren Einfluss auf die tarifliche Normsetzung ausüben könnten. Dieser Anreiz ist wegen des äußerst indirekten Einflusses, den Mitglieder auf die tarifliche Normsetzung haben, allerdings nicht so übermächtig, dass von ihm ein unwiderstehlicher Beitrittsdruck und damit eine Beeinträchtigung der negativen Koalitionsfreiheit ausgeht.292 Auch aus rechtsstaatlichen Gesichtpunkten ergeben sich keine Einwände gegen die Auffassung von dem betriebsweiten Zurücktreten der tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitrechts. Das Rechtsstaatsprinzip verpflichtet den Gesetzgeber, für den Normunterworfenen klare und voraussehbare Regelungen zu schaffen.293 Darüber hinaus ist der Gesetzgeber gehalten, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen,294 was wiederum bewirkt, dass er seine Entscheidungsbefugnisse nicht auf demokratisch unzureichend legitimierte Instanzen übertragen darf. Die Existenz Abweichungen zulassender tarifvertraglicher Normen bewirkt lediglich, dass das für die Arbeitsvertragsparteien zwingende tarifdispositive Recht nun auch zu deren Disposition steht. Solange keine einzelvertragliche Regelung oder eine Betriebsvereinbarung zur Ausfüllung des tariflichen Rahmens getroffen 290 291
1. b).
Schubert, RdA 2001, 199, 205. Dies ist jedoch nicht ohne weiteres der Fall, vgl. dazu sogleich unten, 1. Teil: § 3 A. II.
292 BVerfG vom 15. 7. 1980, BVerfGE 55, 7, 22; vom 14. 6. 1983, BVerfGE 64, 208, 213 f.; vom 18. 7. 2000, AP Nr. 4 zu § 1 AEntG = NJW 2000, 3704, 3705; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 65; vgl. auch Schubert, RdA 2001, 199, 207. 293 Vgl. BVerfG vom 7. 7. 1971, BVerfGE 31, 255, 264; vom 23. 4. 1974, BVerfGE 37, 132, 142; vom 22. 6. 1977, BVerfGE 45, 400, 420; vom 12. 6. 1979, BVerfGE 52, 1, 41; vom 3. 11. 1982, BVerfGE 62, 169, 183; vom 18. 5. 1988, BVerfGE 78, 205, 212; vom 27. 11. 1990, BVerfGE 83, 130, 145; vom 24. 4. 1991, BVerfGE 84, 133, 149; vom 17. 11. 1992, BVerfGE 87, 234, 263; vom 4. 11. 1992, BVerfGE 87, 287, 317 f.; BVerwG vom 16. 6. 1994, BVerwGE 96, 110, 111; Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 VII Rn. 63; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 20 Rn. 126; Stern, Staatsrecht I, S. 830. 294 Vgl. nur BVerfG vom 28. 10. 1975, BVerfGE 40, 237, 249; vom 16. 6. 1981, BVerfGE 57, 295, 320 f.; vom 20. 10. 1981, BVerfGE 58, 257, 268 f.
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wird, gilt ergänzend das Gesetzesrecht. An der Rechtslage ändert sich vorerst inhaltlich nichts. Für die Betroffenen entsteht keine Situation der Rechtsunsicherheit. Alle weiteren Entscheidungen liegen in der Hand der Betriebs- bzw. Arbeitsvertragsparteien, so dass sich die Außenseiter auch keiner stärkeren Fremdbestimmung ausgesetzt sehen, der sie nicht bereits innerhalb des Arbeitsverhältnisses unterliegen.295 cc) Ergebnis Zusammenfassend ergibt sich demnach, dass im Hinblick auf die zulässigen Arbeitszeitgrenzen, die Frage nach dem Betriebsnormcharakter der abweichenden Tarifnormen falsch gestellt ist. Richtigerweise sind allein die Tariföffnungsklauseln selbst für die Bestimmung der personellen Reichweite der Wirkung von Tarifnormen maßgeblich, welche Abweichungen von den arbeitszeitrechtlichen Vorschriften gestatten. Im Hinblick auf die arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln ergibt sich dabei, dass unmittelbar das Gesetz das betriebsweite Zurücktreten der tarifdispositiven Vorschriften bei Existenz zulassender Tarifnormen anordnet, wenn der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Damit ist allerdings noch nicht abschließend über die Reichweite der materiellrechtlichen Wirkung der abweichenden Tarifnormen geurteilt. b) Die materiellrechtliche Wirkung der abweichenden Tarifnormen Wie bereits ausgeführt, muss der Tarifvertrag nicht die materiellen Arbeitspflichten regeln, sondern kann sich darauf beschränken, die Höhe der maximalen Arbeitszeit festzulegen und es den Arbeitsvertrags- bzw. Betriebspartnern überlassen, dies in Rechte und Pflichten auf der Ebene des Einzelvertrags umzusetzen.296 Erfolgt diese Transformation durch den Tarifvertrag, so stellt sich die Frage, welchen Personenkreis die tariflichen Regelungen, die die materielle Arbeitsverpflichtung regeln, innerhalb eines Betriebes erfassen. Streng genommen handelt es sich bei den Tarifnormen, die abweichend von den arbeitszeitrechtlichen tarifdispositiven Gesetzesregelungen materielle Arbeitspflichten festlegen, nicht um solche, welche die Tarifdisposititvität des Arbeitszeitrechts nutzen. Sie stellen vielmehr eine Folgeregelung der „zulassenden“ arbeitsschutzrechtlichen Tarifnormen dar. Dass in einem Tarifvertrag eine solche materiellrechtliche Regelung möglich sein 295 Dementsprechend sieht auch H. Hanau, RdA 1996, 158, 175, keine rechtliche Beeinträchtigung der Außenseiter. 296 LAG Düsseldorf vom 28. 8. 1956, BB 1956, 1140 (mit zustimmender Anm. Gumpert); LAG Düsseldorf, vom 19. 2. 1957, BB 1957, 509 (mit zustimmender Anm. Fauth); Anzinger, in: MüHBArbR, § 218 Rn. 103; Galperin, BB 1963, 739, 743; Meisel / Hiersemann, AZO, § 7 Rn. 14; Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 4; Roggendorff, ArbZG, § 7 Rn. 28; Peters / Ossenbühl, Übertragung, S. 101; Prill, Rechtsnatur, S. 58; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 498; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 119.
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muss, ergibt sich aus den Tariföffnungsklauseln. Wenn diese ermöglichen, dass ein Tarifvertrag die Abweichung anderen gegenüber zulassen kann, dann muss a maiore ad minus auch den Tarifvertragsparteien selbst die unmittelbare Abweichung gestattet sein. Bestätigt wird dieser Befund durch Bestimmungen wie § 7 Abs. 3 S. 1 ArbZG, der im Wortlaut von abweichenden tarifvertraglichen Regelungen spricht. aa) Meinungsstand In der Literatur finden sich ausschließlich Stimmen, welche die materiellrechtlich wirkenden arbeitszeitrechtlichen Tarifnormen, die von den tarifdispositiven Gesetzesregelungen abweichen, als Inhaltsnormen einordnen.297 Mit der Frage, befasst sich soweit ersichtlich nur Tietje ausführlich.298 Er kommt nach einer umfassenden Untersuchung zu dem Ergebnis, dass in diesem Fall nur Inhaltsnormen vorliegen. Die Tarifvertragsparteien seien nicht legitimiert, Normen im Arbeitszeitbereich für nicht organisierte Arbeitnehmer zu setzen. Dies stelle eine Delegation staatlicher Rechtsetzungsmacht auf die Tarifvertragsparteien dar, für die eine einfachgesetzliche Grundlage notwendig sei. § 3 Abs. 2 TVG könne als solche mangels ausreichender Bestimmtheit nicht dienen. Auch aus §§ 7, 12 ArbZG ergebe sich die notwendige gesetzliche Grundlage für die Delegation der Regelungsmacht nicht. Ihr Wortlaut und die gesetzliche Systematik sprächen ebenso dagegen wie ihnen die hinreichende Bestimmtheit fehle.299 Die Einordnung der materiellrechtlichen Regelungen als Inhaltsnormen verstoße darüber hinaus weder gegen die Berufsfreiheit des Arbeitgebers,300 noch führe sie zu einer unzulässigen Ungleichbehandlung organisierter und nicht organisierter Arbeitnehmer.301 bb) Stellungnahme Grundsätzlich ist für die Bestimmung der personellen Reichweite einer Tarifnorm, von der Tarifvertragsvorschrift selbst auszugehen. Eine Bindung auch der Außenseiter in einem Betrieb kann nach der Konzeption des Tarifvertragsgesetzes nur eintreten, wenn es sich bei der betreffenden Tarifvertragsregelung um eine Betriebsnorm handelt oder wenn sie für allgemeinverbindlich erklärt ist. Auch hin297 Denecke / Neumann, AZO (11. Aufl.), § 7 Rn. 14; Galperin, BB 1963, 739, 743; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 590; Peters / Ossenbühl, Übertragung, S. 138; Prill, Rechtsnatur, S. 74 f.; Roggendorf, ArbZG, § 7 Rn. 29; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 499; ders., Festschrift für Schaub, S. 675, 690 ff.; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 120; gegen eine pauschale Einordnung, Anzinger, MüHBArbR, § 218 Rn. 103, der davon ausgeht, dass in der Regel Inhaltsnormen vorliegen werden. 298 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 282 ff. 299 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 305. 300 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 305. 301 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 305.
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sichtlich der materiellrechtlichen Wirkung verbietet sich jede pauschale Einordnung als Betriebsnorm, die allein an die Tatsache anknüpft, dass die tarifvertragliche Festlegung von tarifdispositivem Gesetzesrecht abweicht.302 Ob eine Betriebsnorm im Sinne des § 3 Abs. 2 TVG vorliegt, kann nur anhand der Gestaltung der konkreten Norm festgestellt werden. Sie hat Ausgangspunkt einer solchen Untersuchung zu sein. Der Versuch, für alle im Rahmen der §§ 7 und 12 ArbZG denkbaren Tarifnormen zu überprüfen, ob es sich dabei um Betriebs- oder Inhaltsnormen handelt, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die möglichen Gestaltungsformen abweichender Tarifnormen sind so vielfältig, dass eine derartige Einschätzung zu stark pauschalisieren müsste.303 Bei der Beantwortung der Frage, welchen Personenkreis abweichende Tarifnormen erfassen, die selbst die materiellen Arbeitspflichten regeln, soll und kann hier nicht die Perspektive der Tarifnormen eingenommen werden. Vielmehr kann im Rahmen des durch die Arbeit vorgegebenen Themas nur aus der Perspektive des tarifdispositiven Rechts untersucht werden, ob sich aus dessen Eigenart bzw. aus der besonderen Ausgestaltung der Tariföffnungsklauseln die Notwendigkeit einer Erstreckung abweichender Tarifregelungen auch hinsichtlich ihrer materiellrechtlichen Wirkung auf alle Arbeitnehmer eines Betriebes ergibt. Gesucht wird demzufolge nicht nach Indizien, die für das Vorliegen einer Betriebsnorm sprechen. Stattdessen soll die Frage beantwortet werden, ob eine Erstreckung der Geltung dieser materiellrechtlichen Tarifnormen auch auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer eines Betriebes durch die Tariföffnungsklauseln des Arbeitszeitrechts erfolgt. Dies kann sich nur anhand einer Auslegung der Tariföffnungsklauseln ergeben. In ihrem Wortlaut gehen die arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln nicht auf die materiellrechtliche Wirkung der abweichenden Tarifnormen ein. Die Rede ist ausschließlich von der eine Arbeitszeitverlängerung zulassenden Wirkung der Tarifnormen. Auch aus den Materialien ergeben sich diesbezüglich keine Hinweise.304 Der historische Befund liefert ebenfalls keine Anhaltspunkte für eine bestimmte Auslegung der Tariföffnungsklauseln. § 7 AZO305 sah lediglich vor, dass durch Tarifordnung die regelmäßige Arbeitszeit auf bis zu zehn Stunden täglich verlängert werden konnte. Die Arbeitszeitordnung galt für „Gefolgschaftsmitglieder“, also Arbeitnehmer eines Betriebes (vgl. § 1 Abs. 1 S. 1 AZO). Sie hatte demnach einen individuellen Anknüpfungspunkt. Auch die in § 3 AZO festgelegte werktägliche Arbeitszeit war auf den einzelnen Arbeitnehmer bezogen. Dementsprechend knüpfte auch die durch § 7 Abs. 1 AZO eröffnete Abweichungsmöglich302
S. 74.
Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 285; so bereits richtig, Dieterich, Betriebliche Normen,
303 Auch Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 298, räumt ein, dass „streng genommen ( . . . ) eine Aussage über diese Frage nicht einmal möglich“ sei; was ihn nicht davon abhält, den Betriebsnormcharakter aller abweichenden Tarifnormen zu untersuchen. 304 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 297. 305 RGBl. 1938 I, S. 447, 448.
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keit an das Einzelarbeitsverhältnis an. Tatsächlich wird niemand bestreiten, dass die tägliche Arbeitszeit Bestandteil eines Individualarbeitsvertrags sein kann. Die in § 7 Abs. 1 AZO vorgesehene Abweichung durch Tarifordnung erfasste mangels freiheitlichem Tarifvertragssystem im Dritten Reich alle Arbeitnehmer eines Betriebes. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges nahm wieder der grundsätzlich nur zwischen tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien wirkende Tarifvertrag den Platz der Tarifordnung ein. Dennoch wurde versucht, die betriebsweite Wirkung der von der Arbeitszeitordnung abweichenden Tarifnormen herzustellen, indem man ihnen eine öffentlich-rechtliche Wirkung zumaß, obwohl diese ihrem Inhalt zufolge eher individuelle Elemente des Arbeitsverhältnisses betrafen. Aus diesem historischen Hintergrund resultierte die Auffassung von der betriebsweiten Wirkung der so genannten „Zulassungsnormen“, die sich später ebenfalls in die Interpretation des Betriebsnormbegriffs einschlich. Das bildet den Grund dafür, dass nicht unbesehen alle „Zulassungsnormen“ als Betriebsnormen eingestuft werden dürfen.306 Erst mit Entstehen weiterer Rechtsnormen, von denen in einem Tarifvertrag abgewichen werden durfte, beispielsweise 1963 im Urlaubsrecht, entwickelte sich der Begriff der Tarifdispositivität, und mit diesem ein rein privatrechtliches Verständnis dieser Abweichungsbefugnis.307 Seiner Funktionsweise entsprechend weicht das tarifdispositive Recht zurück, wenn eine inhaltlich denselben Regelungsgegenstand betreffende tarifliche Norm existiert. Nur für den Geltungsbereich der tariflichen Festlegung gibt die gesetzliche Bestimmung nach. Daher ist unabhängig von der gesetzlichen Tariföffnungsklausel zu untersuchen, ob eine Inhaltsoder Betriebsnorm vorliegt. Ergibt sich allerdings aus dem Gesetz, dass das Zurückweichen immer für eine bestimmte Personengruppe eintreten soll, dann kann unabhängig von der konkreten Ausgestaltung einer Tarifnorm von einer betriebsweiten Wirkung derselben ausgegangen werden. Historisch gesehen, hat eine möglicherweise für die Arbeitszeitordnung anzuerkennende betriebsweite Wirkung ihre Ursache in den besonderen Umständen der damaligen Zeit, kann also nicht auf die heutigen Tariföffnungsklauseln übertragen werden. Systematisch ist das Arbeitszeitrecht insgesamt eher auf die Bereitstellung eines äußeren Rahmens angelegt.308 Die staatliche Kodifikation betrifft die Maximalgrenzen zulässiger Arbeitszeit. Nur für derartige Regelungen stellt das Gesetz auch tarifdispositive Vorschriften zur Verfügung. Da das Arbeitszeitrecht im Allgemeinen nicht die individuelle Vertragsgestaltung, sondern die zulässigen Grenzen der Arbeitszeit zum Gegenstand hat, bezieht es sich auch in Gestalt der Öffnungsklauseln auf die zulässige Höchstarbeitszeit und nicht auf die materiellrechtliche Arbeitsverpflichtung der einzelnen Arbeitnehmer. Siehe bereits oben, 1. Teil: § 3 A. II. 1. a) bb). Vgl. auch die grundlegenden Ausführungen von Küchenhoff, RdA 1959, 201 ff., 205. 308 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 297; für die Arbeitszeitordnung Denecke / Neumann, AZO, 11. Aufl., § 7 Rn. 9. 306 307
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Die arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln erwähnen die materiellrechtliche Komponente abweichender Tarifverträge nicht. Eine gesetzliche Ausdehnung der tariflichen Normwirkung in diesem Bereich wäre daher aus rechtsstaatlicher Sicht äußerst bedenklich.309 Auch teleologische Gesichtspunkte erfordern die betriebsweite Anwendung der abweichenden materiellrechtlichen Tarifvertragsvereinbarungen nicht. Die Tariföffnungsklauseln bezwecken, dass in bestimmten Bereichen die grundsätzlich sachnäheren Tarifvertragsparteien abweichend von dem Gesetz die staatlichen Vorschriften an die Gegebenheiten des Einzelfalls anpassen können.310 Da das Gesetz aber nur die maximalen Grenzen vorgibt, kann sich die tarifliche Abweichung auch nur auf diese beziehen. Daher wirkt sich das staatliche Recht nur mittelbar auf die Umsetzung im individuellen Arbeitsverhältnis aus.311 Für die Bestimmung des Normcharakters bleibt demnach die Tarifnorm als Perspektive maßgeblich. Der darüber hinaus oftmals angeführte Gesichtspunkt der Effektivität der tarifvertraglichen Abweichung312 kann eine andere Auslegung der arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln mit der Folge, dass diese auch in materiellrechtlicher Hinsicht die betriebsweite Geltung abweichender Tarifvertragsnormen zur Folge haben, nicht rechtfertigen. Lehnt man eine Geltungserstreckung durch die arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln in materiellrechtlicher Hinsicht zutreffend ab, besteht immer noch die Möglichkeit, anhand einer Auslegung der konkreten tarifvertraglichen Vorschrift zu dem Ergebnis zu kommen, dass es sich bei dieser um eine Betriebsnorm im Sinne des § 3 Abs. 2 TVG handelt. Zusätzlich hat der Arbeitgeber die Möglichkeit, auf eine Bezugnahme auf die tarifvertragliche Regelung im Arbeitsvertrag hinzuwirken oder andere individualvertragliche Gestaltungsmittel zu nutzen, um einen Gleichlauf mit der für die tarifunterworfenen Arbeitnehmer geltenden Rechtslage herzustellen.313 Die Schwierigkeiten, denen sich der Arbeitgeber dabei von Arbeitnehmerseite ausgesetzt sieht, stellen kein legitimes Argument gegen die Ablehnung einer extensiven Auslegung der arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln dar. Verweigert ein Arbeitnehmer seine Zustimmung zu einem Angebot des Arbeitgebers den abweichenden Tarifvertrag in Bezug zu nehmen, stellt dies die Ausübung seiner verfassungsrechtlich durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Privatautonomie dar.314 Gleichzeitig kommt in den durch das Arbeitszeitgesetz vorgeschriebenen Arbeitszeitgrenzen und Ruhezeiten der dem staatlichen Gesetzgeber durch Art. 2 Abs. 2 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 297. Allgemein: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 698; Knorr, RdA 1979, 201, 201; für § 7 ArbZG: Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 4; für § 21a JArbSchG: Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 2; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 2. 311 Vgl. oben 1. Teil: § 2 C. III. zur Wirkungsweise des tarifdispositiven Arbeitszeitrechts. 312 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 299. 313 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 242; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 299. 314 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 300. 309 310
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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GG aufgegebene Schutzauftrag zugunsten der Gesundheit der Arbeitnehmer zum Ausdruck.315 Die gesetzliche Ausdehnung der abweichenden Tarifnormen in materiellrechtlicher Hinsicht auf Außenseiter vor dem Hintergrund der aus Effektivitätsgesichtspunkten für den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig stark belastenden individualvertraglichen Übernahmemöglichkeiten würde den in Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 GG zum Ausdruck kommenden verfassungsrechtlichen Schutzgütern nicht ausreichend Rechnung tragen. Das Gegenargument, nicht tarifgebundene Arbeitnehmer würden bei der Bezugnahme in der Regel auch von den tariflichen Vorteilen profitieren, bezieht sich auf eine faktische Erscheinung, die nicht zwingend ist und daher auch nicht verallgemeinert werden kann. Aus eventuell für die Außenseiter durch eine Bezugnahme erwachsenden Vorteilen, kann nicht geschlossen werden, dass auch die unterschiedslose Anwendung von Tarifnormen, welche die materiellrechtliche Arbeitsverpflichtung festlegen, auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer gerechtfertigt ist.316 cc) Ergebnis Für die materiellrechtliche Wirkung abweichender Tarifnormen folgt aus den Tariföffnungsklauseln des Arbeitszeitrechts kein Sonderstatus für den Tarifvertragsinhalt. Insbesondere wird die Geltung der Tarifnormen, welche die materielle Arbeitspflicht der Arbeitnehmer im Betrieb regeln, nicht durch die Tariföffnungsklauseln auf den gesamten Betrieb erstreckt. Allein anhand der jeweiligen Tarifnorm ist durch Auslegung zu ermitteln, ob es sich bei ihr um eine Inhalts- oder Betriebsnorm handelt. Die Reichweite der personellen Wirkung der abweichenden Tarifnormen in materiellrechtlicher Hinsicht wird durch die Tarifdispositivität der gesetzlichen Vorschriften, von denen sie abweichen, folglich nicht verändert. c) Doppelnatur von materiellrechtlicher und arbeitsschutzrechtlicher Regelung Die Unterscheidung zwischen der arbeitsschutzrechtlichen und materiellrechtlichen Wirkung arbeitszeitrechtlicher Tarifnormen führt zu der weiterreichenden Frage, wie Tarifnormen zu handhaben sind, die unmittelbar eine von den Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes abweichende Arbeitszeit für die Arbeitnehmer festlegen, ohne ausdrücklich abstrakt die betriebliche Arbeitszeit zu regeln. Sie lassen sich mit dem Konzept der verschiedenen Wirkungsebenen abweichender arbeitszeitrechtlicher Tarifnormen nur vereinbaren, wenn man ihnen eine Doppelnatur mit sowohl arbeitsschutzrechtlicher als auch materiellrechtlicher Wirkung zuerkennt.317 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 300. Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 300. 317 So Meisel / Hiersemann, AZO, § 7 Rn. 16; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 242; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 498 f. 315 316
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
Im Allgemeinen wird im Hinblick auf Tarifvertragsvorschriften eine Doppelnatur grundsätzlich für zulässig erachtet.318 Eine entsprechende Auslegung ist in jedem Fall dann möglich, wenn die Deutung als Inhaltsnorm den gewünschten Regelungseffekt nicht bewirken würde.319 Allerdings führt der Doppelcharakter nicht dazu, dass auch die materiellrechtliche Wirkungskomponente auf alle Arbeitnehmer des Betriebes erstreckt wird.320 Vielmehr sind hinsichtlich der individuellen Arbeitsverpflichtung der nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer ergänzende Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erforderlich.321 Ob eine Doppelnorm vorliegt, ist durch Auslegung der entsprechenden Tarifvertragsvorschrift zu ermitteln.322 Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, inwieweit eventuell die Grenzen tariflicher Regelungsmacht überschritten werden.323 Sofern sich aus dem Text der Tarifnorm allerdings Anhaltspunkte dafür ergeben, dass auf ihrer Grundlage auch von tarifdispositivem Arbeitszeitrecht abgewichen werden darf, dann handelt es sich bei dieser Norm um eine Tarifvertragsvorschrift mit Doppelcharakter. Sie ist dann sowohl Zulassungsnorm, die bewirkt, dass das tarifdispositive Gesetzesrecht in den vom Tarifvertrag vorgegebenen Grenzen betriebsweit rein dispositiven Charakter annimmt, als auch materiellrechtliche Norm, die festlegt, in welchem Umfang die einzelnen Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung verpflichtet sind.324 d) Zusammenfassung Hinsichtlich der von den tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitrechts abweichenden Tarifverträge ist zu unterscheiden zwischen Tarifnormen, die die Verschiebung der betrieblichen Höchstarbeitszeitgrenzen betreffen, und solchen, welche die individuelle Arbeitszeit der in den Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer festlegen. Der von den tarifvertraglichen Abweichungen vorgegebene Rahmen hat bereits aufgrund der Anordnung in den Tariföffnungsklauseln des Arbeitszeitrechts betriebsweite Wirkung. Er muss erst in materielle Arbeitsverpflichtungen umgesetzt werden. Dies kann durch entsprechende tarifvertragliche 318 BAG vom 7. 11. 1995, AP Nr. 1 zu § 3 TVG Betriebsnormen; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 807; Dieterich, Betriebliche Normen, S. 70; Kempen / Zachert, TVG, § 1 Rn. 37; Linnenkohl, ArbRGgw. 26 (1989), 83, 93; Meisel / Hiersemann, AZO, § 7 Rn. 16; Reim, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 345; Wiedemann, in: ders., TVG, § 1 Rn. 276; grundsätzlich auch Gragert, Flexibilisierung von Tarifverträgen, S. 33. 319 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 807; Reim, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 345. 320 Gragert, Flexibilisierung von Tarifverträgen, S. 34; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 242. 321 Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 242. 322 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 807; Reim, in: Däubler, TVG, § 1 Rn. 346. 323 Wiedemann, in: ders., TVG, § 1 Rn. 284. 324 Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 498.
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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Regelungen geschehen, ist aber auch in einem Arbeitsvertrag oder einer Betriebsvereinbarung möglich. Ein solcher umsetzender Tarifvertrag hat jedoch nur die herkömmliche Wirkung, d. h. er erstreckt sich grundsätzlich nur auf tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien. Durch die Erstreckungsklauseln und die Möglichkeit zum Abschluss von Betriebsvereinbarungen hat der Arbeitgeber aber genug Spielraum, eine betriebsweite Geltung der abweichenden tariflichen Arbeitszeitgrenzen zu erreichen. Ob unabhängig davon die Normen des Tarifvertrags, die materielle Arbeitspflichten begründen, Betriebsnormen sind, ist anhand der konkret ausgestalteten Tarifnormen zu beurteilen. Wendet man die Kriterien der Rechtsprechung an, dann wird bei komplexen Schichtsystemen eher eine Betriebsnorm vorliegen als bei Arbeitszeitregelungen, die für die einzelnen Arbeitnehmer unabhängig voneinander die Dauer und Lage der Arbeitszeit festlegen. In diesem Zusammenhang kann den abweichenden Tarifnormen auch ein Doppelcharakter zukommen. Sie haben für diesen Fall insofern betriebsweite Wirkung, als sie die Arbeitszeitgrenzen im Betrieb abweichend von dem staatlichen Arbeitszeitrecht festlegen. In dem Umfang, in dem sie die individuelle Arbeitszeit regeln, ist im konkreten Einzelfall anhand der Tarifvertragsvorschrift durch Auslegung zu ermitteln, ob es sich um eine Betriebsnorm oder eine Inhaltsnorm handelt. 2. Die Einordnung der von den übrigen tarifdispositiven Vorschriften abweichenden Tarifnormen in die Normarten des § 1 Abs. 1 TVG Hinsichtlich der tarifdispositiven Vorschriften außerhalb des Arbeitszeitrechts entfällt die Unterscheidung zwischen einer arbeitsschutzrechtlichen und einer materiellrechtlichen Wirkungsebene. Dementsprechend ergeben sich im Hinblick auf den Normcharakter der von ihnen abweichenden Tarifnormen nach allgemeiner Ansicht auch keine Abweichungen zum Tarifvertragsrecht im Allgemeinen.325 Die Formulierung der Tariföffnungsklauseln bestätigt diesen Befund. Nach ihrem Wortlaut gestatten sie nicht, dass eine Abweichung von den gesetzlichen Vorschriften zugelassen werden darf. Vielmehr erlauben sie, dass ein Tarifvertrag unmittelbar von den tarifdispositiven gesetzlichen Regelungen abweichen darf. Ebenso wenig ermöglichen sie, aufgrund des abweichenden Tarifvertrags auch in einer Betriebsvereinbarung die gesetzlichen Vorschriften abzubedingen. Bei der Abweichung vom Gesetz ist daher kein Regelungsinstrument beteiligt, das wie die Betriebsvereinbarung bereits naturgemäß betriebsweite Wirkung zeitigt. In systematischer Hinsicht fehlt den nicht arbeitszeitrechtlichen tarifdispositiven Vorschriften die Übernahmemöglichkeit in dem Betrieb eines nicht tarifgebunde325 Die Kommentare gehen davon aus, dass nur beiderseitig tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien an die abweichenden Tarifnormen gebunden sind, vgl. nur Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 105 f.; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 217.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
nen Arbeitgebers durch Betriebsvereinbarung. Stattdessen bestimmen die Erstreckungsklauseln ausdrücklich, dass die abweichenden Tarifvertragsregelungen zwischen nicht tarifgebundenen Arbeitgebern und Arbeitnehmern gelten, wenn ihre Anwendung vereinbart ist. Sie knüpfen hinsichtlich ihres Geltungsbereiches daher von vornherein nicht an den Betrieb an, so dass sich das Problem einer eventuellen betriebsweiten Wirkung gar nicht stellt. Darüber hinaus handelt es sich bei den durch sie betroffenen Regelungsgegenständen, wie Urlaub, Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Befristungen, Kündigungsfristen und Gerichtsständen, um Arbeitsbedingungen, die naturgemäß in einem Arbeitsvertrag geregelt werden können und keine betriebsweite Regelung erfordern. Grundsätzlich wird es sich bei den abweichenden Tarifnormen daher um Inhaltsnormen handeln.326 Da sich aus den Besonderheiten des Einzelfalls jedoch ergeben kann, dass unter Umständen dennoch eine Betriebsnorm vorliegt, ist anhand der jeweiligen Tarifnorm durch Auslegung zu bestimmen, welcher Normcharakter ihr zukommt. Dabei ergeben sich keine spezifischen Unterschiede zu der allgemeinen Problematik der Identifizierung von Betriebsnormen im Sinne von § 3 Abs. 2 TVG, so dass diesbezüglich auf das tarifrechtliche Schrifttum und die Rechtsprechung verwiesen werden kann.327 3. Gesamtergebnis Die von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichenden Tarifnormen entziehen sich einer pauschalen Einordnung in den Kanon des § 1 Abs. 1 TVG. Grundsätzlich ist anhand der konkreten Gestalt der jeweiligen Tarifnormen zu entscheiden, ob es sich bei ihnen um Betriebs- oder Inhaltsnormen handelt. In der Regel werden Inhaltsnormen vorliegen. Etwas anderes ergibt sich nur für tarifvertragliche Vorschriften die von tarifdispositivem Arbeitszeitrecht abweichen. Sofern und soweit die abweichenden Tarifnormen die im Betrieb zulässigen Höchstarbeitszeiten unabhängig von einer individuellen Arbeitsverpflichtung der einzelnen Arbeitnehmer regeln, ordnen die Tariföffnungsklauseln bereits die betriebsweite Geltung der abweichenden Tarifvertragsvorschriften an, so dass deren Charakter als Betriebs- oder Inhaltsnorm nicht mehr ausschlaggebend für die Reichweite des personellen Geltungsbereichs ist. Hinsichtlich der tariflichen Regelungen, welche die individuelle Arbeitsverpflichtung der Arbeitnehmer festlegen, kann wiederum nur die konkrete Gestaltung der Tarifnorm Aufschluss darüber geben, ob eine Inhalts- oder Betriebsnorm vorliegt.
Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 105 f. Vgl. BAG vom 27. 4. 1988, AP Nr. 4 zu § 1 BeschFG 1985 (Gamillscheg); vom 26. 4. 1990, AP Nr. 57 zu Art. 9 GG; vom 7. 11. 1995, AP Nr. 1 zu § 3 TVG Betriebsnormen (H. Hanau); vom 17. 6. 1997, AP Nr. 2 zu § 3 TVG Betriebsnormen (Wiedemann); Wiedemann, in: ders., TVG, § 1 Rn. 565 ff. 326 327
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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III. Nachwirkende Tarifnormen als abweichende Tarifnormen Eine weitere kontrovers diskutierte Frage in Bezug auf tarifdispositive Arbeitnehmerschutzvorschriften ist, ob diese an der von § 4 Abs. 5 TVG angeordneten Nachwirkung teilnehmen. Im Rahmen dieser Fragestellung sind mehrere Teilprobleme voneinander abzuschichten. Die Kernfrage besteht darin, ob Tarifverträge im Sinne der Tariföffnungsklauseln auch solche sind, deren Normen lediglich gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirken. Davon zu trennen, aber nicht losgelöst davon zu beantworten, ist die Frage, ob Tarifnormen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des tarifdispositiven Rechts nachwirkten, im Stande sind, das tarifdispositive Recht zu verdrängen. Eine dritte Frage ist schließlich, ob die Arbeitsvertragsparteien auf lediglich nachwirkende Tarifnormen im Rahmen der Erstreckungsklauseln verweisen können. Diese letzte Frage hat einen engen Bezug zu den Erstreckungsklauseln und soll im Zusammenhang mit diesen an anderer Stelle behandelt werden.328 1. Position der Rechtsprechung und Literatur zur Nachwirkung von Tarifnormen, die von tarifdispositivem Recht abweichen Die Rechtsprechung hat zu dieser Problematik lediglich in Bezug auf § 13 Abs. 1 BUrlG und im Zusammenhang mit der einzelvertraglichen Bezugnahme auf nachwirkende Tarifnormen Stellung genommen. In einem Urteil aus dem Jahre 1965 ließ der damals zuständige 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts die Frage, ob nachwirkende Tarifnormen abweichende Tarifnormen im Sinne von § 13 Abs. 1 BUrlG darstellen und damit Objekt einer einzelvertraglichen Bezugnahme sein können, noch ausdrücklich offen.329 1978 entschied der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts, dass auch nachwirkende Tarifnormen von den Arbeitsvertragsparteien gemäß § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG in Bezug genommen werden können.330 Damit stellte das Gericht zugleich klar, dass tarifdispositive Vorschriften auch hinter nachwirkende Tarifnormen zurückweichen. Das Schrifttum führt zu dem Thema Tarifdispositivität und Nachwirkung scheinbar zwei verschiedene Diskussionen. Ein Teil der Autoren behandelt die Frage, ob Tarifnormen, die von tarifdispositivem Recht abweichen, nachwirken,331 Siehe unten 1. Teil: § 4 B. II. BAG vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG. 330 BAG vom 27. 6. 1978, AP Nr. 12 zu § 13 BUrlG. 331 Für § 7 ArbZG: Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 503; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 306 ff.; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 108 f.; für § 7 AZO: Andresen, DB 1978, 1275, 1276 f.; Hessel, RdA 1959, 259, 262; Nipperdey, in: Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. II / 1, S. 541, der allerdings im Hinblick auf § 13 BUrlG fragt, ob nachwirkende Tarifnormen abweichen können; Schröder, BB 1960, 53, 55; Knorr, RdA 1979, 201 ff., der allerdings die Fragestellungen nicht klar unterscheidet; für § 21a JArbSchG: Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 26; für § 622 Abs. 4 BGB: Linck, in: APS, Kündi328 329
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während der andere Teil untersucht, ob auch nachwirkende Tarifverträge solche im Sinne der Tariföffnungsklauseln sein können.332 Mitunter werden diese beiden Fragen auch nicht klar voneinander getrennt.333 Letztlich handelt es sich dabei um zwei Seiten derselben Medaille, lediglich die Perspektive ist jeweils eine andere. Im ersten Fall betrachtet man das Problem aus Sicht des Tarifvertragsgesetzes, im zweiten Fall aus Sicht der tarifdispositiven Normen. Das Resultat ist jedoch identisch. Versagt man den in Ausfüllung der Tariföffnungsklauseln ergangenen abweichenden Tarifvertragsnormen die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG, dann fehlen nach Beendigung des Tarifvertrags abweichende tarifliche Regelungen im Sinne der Tariföffnungsklauseln und die tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften finden Anwendung. Lässt man hingegen die Nachwirkung grundsätzlich zu, spricht den nachwirkenden Tarifnormen aber ihre Vorrangwirkung gegenüber dem tarifdispositiven Recht ab, dann greifen nach Beendigung des Tarifvertrags ebenfalls die tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften wieder ein, was faktisch nichts anderes ist als die Ablehnung der Nachwirkung selbst. Der überwiegende Teil der Literatur spricht sich für die Nachwirkung der von tarifdispositiven Vorschriften abweichenden Tarifnormen aus bzw. bejaht deren Vorrang vor den tarifdispositiven gesetzlichen Regelungen.334 Die Autoren begungsrecht, § 622 BGB Rn. 108; für § 101 Abs. 2 ArbGG: Germelmann / Matthes / Prütting, ArbGG, § 101 Rn. 25; Hauck / Helml, ArbGG, § 101 Rn. 7. 332 Für § 7 ArbZG: Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 46; für § 21a JArbSchG: Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 15 f.; für § 622 Abs. 4 BGB: Schwerdtner, in: MüKo, BGB, § 622 Rn. 74; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 243; Stahlhacke, DB 1969, 1651, 1652 f., noch in Bezug auf § 622 Abs. 3 BGB a. F.; Wank, NZA 1993, 961, 965; für § 13 BUrlG: Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 18 ff.; Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 25 f.; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 12; Nipperdey, in: Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. II / 1, S. 542; für § 12 Abs. 3 TzBfG: Jacobs, in: Annuß / Thüsing, TzBfG, § 12 Rn. 58; für § 17 BetrAVG: Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 171; für § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG: Hamann, in: Schüren, AÜG, § 1 Rn. 548. 333 Knorr, RdA 1979, 201 ff.; Löwisch / Rieble, TVG, § 4 Rn. 373. 334 Allgemein: Bepler, in: Däubler, TVG, § 4 Rn. 845; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 876; Löwisch / Rieble, TVG, § 4 Rn. 373; für § 7 ArbZG: Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 31 f., die allerdings dann eine Ausnahme machen wollen, wenn eine andere Abmachung im Sinne von § 4 Abs. 5 TVG nicht in Aussicht steht; Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 46; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 503; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 308 ff.; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 108; für § 7 AZO: Andresen, DB 1978, 1275, 1277; Knorr, RdA 1979, 201, 205 ff; Schröder, BB 1960, 53, 56; Stiller, in: Fechner, Probleme der Arbeitsbereitschaft, 181, 185 f.; für § 21a JArbSchG: Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 26; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 15 unter Aufgabe seiner anderen Ansicht in der Vorauflage, § 21a Rn. 13; für § 13 BUrlG: Adomeit, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, SAE 1965, 177 f., der allerdings § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG nur analog anwenden will; Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 18 ff.; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 12; Trieschmann, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, AuR 1966, 285, 286; für § 622 Abs. 4 BGB: Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 108; Schwerdtner, in: MüKo, BGB, § 622 Rn. 74; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 243; Wank, NZA 1993, 961, 965; für § 12 TzBfG: Jacobs, in: Annuß / Thüsing, TzBfG, § 12 Rn. 58; für § 17 Abs. 3 BetrAVG: Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 171; für § 101 Abs. 2 ArbGG: Germelmann / Matthes / Prüt-
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gründen dies damit, dass auch nachwirkende Tarifnormen echte Tarifnormen seien und daher tarifdispositives Recht verdrängen könnten.335 § 4 Abs. 5 TVG ordne unterschiedslos die Nachwirkung von Rechtsnormen des Tarifvertrags an, so dass eine Differenzierung danach, ob die Tarifnormen von tarifdispositivem Recht abweichen oder nicht, ausgeschlossen sei.336 Darüber hinaus werde der Zweck der Tariföffnungsklauseln, die gerade den Tarifvertragsparteien die Befugnis zum Abweichen vom Gesetz übertrage, auch von den nachwirkenden Tarifnormen gewahrt.337 Weiterhin bestehe ein Bedürfnis nach Kontinuität der Arbeitsbedingungen, das verfehlt werde, wenn stets mit der Beendigung des Tarifvertrags für die Zeit bis zum Inkrafttreten eines neuen die gesetzliche Regelung wieder eingreifen würde.338 Schließlich störe der sofortige Wegfall der abweichenden Tarifnormen nach Beendigung des Tarifvertrags das Gleichgewicht der tariflichen Regelungen innerhalb eines Tarifvertrags.339 Die Gegenansicht stuft nachwirkende Tarifnormen entweder generell nicht als Vorschriften eines Tarifvertrags im Sinne der Tariföffnungsklauseln ein340 oder erkennt abweichende Tarifnormen infolge des Streites um ihre Rechtsnatur nicht als solche im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG an. Demzufolge sollen sie auch nicht gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirken.341 Weiterhin argumentieren die Autoren, dass die ting, ArbGG, § 101 Rn. 25; Hauck / Helml, ArbGG, § 101 Rn. 7; für § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG: Hamann, in: Schüren, AÜG, § 1 Rn. 548. 335 Für das Arbeitszeitrecht: Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 503; Stiller, in: Fechner, Probleme der Arbeitsbereitschaft, 181, 185 f., für § 7 AZO; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 311; für § 13 BUrlG: Adomeit, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, SAE 1965, 177; Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 22; Trieschmann, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, AuR 1966, 285, 286. 336 Allgemein: Bepler, in: Däubler, TVG, § 4 Rn. 845; für § 7 ArbZG: Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 31; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 311; für § 7 AZO: Andresen, DB 1978, 1275, 1276 f.; Schröder, BB 1960, 53, 56. 337 Für das Arbeitszeitrecht: Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 311; für § 13 BUrlG: Trieschmann, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, AuR 1966, 285, 286. 338 Allgemein: Löwisch / Rieble, TVG, § 4 Rn. 373; für § 7 ArbZG: Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 31; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 309; für § 7 AZO: Knorr, RdA 1979, 201, 205; für § 13 BUrlG: Trieschmann, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, AuR 1966, 285, 286. 339 Allgemein: Löwisch / Rieble, TVG, § 4 Rn. 373; für § 7 AZO: Knorr, RdA 1979, 201, 207. 340 Allgemein: Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1461, allerdings nur in Bezug auf die tarifdispositiven Vorschriften des Betriebsverfassungsrechts; Herschel, DB 1980, 687, 688 f., der diese Ansicht bereits in NJW 1958, 1033 f., vertrat, zwischenzeitlich aber eine Einzelbetrachtung der verschiedenen Tariföffnungsklauseln favorisierte, wobei eine „natürliche Vermutung“ allerdings gegen den Vorrang nachwirkender Tarifnormen vor tarifdispositivem Gesetzesrecht sprechen sollte (vgl. Herschel, RdA 1969, 211, 215; ders., ZfA 1976, 89, 99 f.); Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. II / 1, S. 541 f.; für § 622 Abs. 4 BGB: Richardi, in: Staudinger, BGB, Vorbem. zu §§ 611 ff., Rn. 758; für § 13 BUrlG: die Boldt, Festschrift für Heymanns Verlag, 227, 239, und Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 25 ff. zugeschriebene abweichende Ansicht bezieht sich nur auf Tarifverträge, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesurlaubsgesetzes nachwirkten. 7 Bock
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gesetzliche Anordnung des Zurückweichens der tarifdispositiven Normen hinter denen eines abweichenden Tarifvertrags deshalb geschaffen wurde, weil die Tarifvertragsparteien eine von ihrem Willen getragene sach- und interessengerechte Regelung geschaffen haben. Mit dem Eintritt der Nachwirkung beruhe die Geltung der Tarifnormen aber nicht mehr auf der Willensentscheidung der Tarifvertragsparteien, sondern auf der gesetzlichen Geltungsanordnung in § 4 Abs. 5 TVG.342 Darüber hinaus ließe sich der dispositive Charakter der nachwirkenden Tarifnormen nicht mit dem Zweck der Tariföffnungsklauseln vereinbaren. Ein bedeutender Wesenszug des tarifdispositiven Rechts sei, dass mit ihm der Gesetzgeber den Tarifvertrag als geeignetes Mittel angesehen habe, an Stelle der gesetzlichen Regelung den arbeitsrechtlichen Schutz- und Ordnungszweck zu erfüllen.343 Diese Fähigkeit wird dem lediglich nachwirkenden Tarifvertrag abgesprochen, weil er gemäß § 4 Abs. 5 TVG abweichenden Vereinbarungen offen stehe, also nicht mehr zwingend wirke.344 Weiterhin mahnen die Kritiker der Nachwirkung an, dass die Verdrängung tarifdispositiver Vorschriften durch nachwirkende Tarifnormen zu einer Zweiteilung der Belegschaft führe, da neu eintretende Arbeitnehmer nicht von den lediglich nachwirkenden Tarifnormen erfasst würden und für diese somit die gesetzlichen Arbeitsbedingungen gelten würden.345 Schließlich befürchten sie, dass durch eine ewige Nachwirkung sachwidrige Ergebnisse erzielt werden.346 Zu differenzierenden Ergebnissen kommen Baeck / Deutsch347 und Boldt / Röhsler348. Sie wollen den Vorrang nachwirkender Tarifnormen vor tarifdispositivem Recht dort ausschließen, wo eine neue tarifliche Regelung der Arbeitszeit nicht in Aussicht ist. Dadurch soll eine ewige Nachwirkung verhindert werden.349 Stahlhacke350 wiederum differenziert nach den verschiedenen Tariföffnungsklauseln und will für jede gesondert feststellen, ob die nachwirkenden Tarifnormen unter den Begriff des Tarifvertrags im Sinne des tarifdispositiven Rechts fallen.351 341 Hessel, RdA 1959, 259, 262, noch für § 7 AZO; Nipperdey, in: Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. II / 1, S. 396 Fn. 132. 342 Herschel, DB 1980, 687, 688; Richardi, in: Staudinger, BGB, Vorbem. zu §§ 611 ff., Rn. 758. 343 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 193; diesen zitierend Herschel, DB 1980, 687, 688. 344 Herschel, DB 1980, 687, 688; Richardi, in: Staudinger, BGB, Vorbem. zu §§ 611 ff. BGB, Rn. 758; wohl auch Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1461. 345 Für § 7 AZO: Hueck, in: Hueck / Nipperdey / Tophoven / Stahlhacke, TVG, § 4 Rn. 76; Nipperdey, in: Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. II / 1, S. 541. 346 Hessel, RdA 1959, 259, 262. 347 ArbZG, § 7 Rn. 25. 348 BUrlG, § 13 Rn. 40. 349 Für § 7 ArbZG: Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 32; für § 13 BUrlG: Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 40. 350 DB 1969, 1651, 1652; ebenso zwischenzeitlich Herschel, RdA 1969, 211, 215; ders., ZfA 1976, 89, 99 f.
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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2. Stellungnahme Wie bereits gezeigt, sind die von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifnormen solche im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG.352 Daher kann ihnen die Nachwirkung nicht bereits deswegen abgesprochen werden, weil sie öffentlich-rechtliche Vorschriften wären, daher nicht unter das Tarifvertragsgesetz fielen und demzufolge § 4 Abs. 5 TVG nicht anwendbar sei. Vielmehr kann sich das sofortige Ende der Wirkung von tarifdispositivem Recht abweichender Tarifnormen nach Ablauf des Tarifvertrags nur aus anderen rechtlichen Erwägungen ergeben. Dabei lässt sich das Problem sowohl aus der Blickrichtung des § 4 Abs. 5 TVG als auch von Seiten des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts betrachten. a) Nachwirkung der abweichenden Tarifnormen aus Sicht des § 4 Abs. 5 TVG Seinem Wortlaut nach ist § 4 Abs. 5 TVG eindeutig. Er ordnet an, dass nach dem Ablauf des Tarifvertrags dessen Rechtsnormen weiter gelten, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Der „Tarifvertrag“, auf den sich der Wortlaut des § 4 Abs. 5 TVG bezieht, ist ein Rechtsbegriff, der wiederum in § 1 Abs. 1 TVG definiert wird. Im Unterschied zu § 3 Abs. 1 und 2 TVG differenziert § 4 Abs. 5 TVG nicht zwischen den einzelnen in § 1 Abs. 1 TVG angeordneten Normarten, sondern ordnet für alle Rechtsnormen des Tarifvertrags die Nachwirkung an. Wenn der Gesetzgeber einen Rechtsbegriff verwendet, dann ist dieser in der Regel so zu verstehen, wie er von spezielleren Vorschriften definiert wird.353 Wollte man § 4 Abs. 5 TVG vor diesem Hintergrund dergestalt auslegen, dass er nur bestimmte Tarifnormen erfasst, würde dies in einem offenen Widerspruch zum Wortlaut der Vorschrift stehen. Daher bleibt als einzige Möglichkeit zum Ausschluss der Nachwirkung auf der Basis des Regelungsgehalts des § 4 Abs. 5 TVG eine teleologische Reduktion der Vorschrift. Dabei wird der Anwendungsbereich einer Norm durch das Hinzufügen eines einschränkenden Rechtssatzes eingeengt.354 Die Zulässigkeit einer teleologischen Reduktion im Hinblick auf die Nachwirkung von tarifdispositivem Recht abweichender Tarifnormen setzt voraus, dass § 4 Abs. 5 TVG eine so genannte verdeckte Lücke enthält.355 Das erfordert wiederum, dass der Regelungsgehalt des Gesetzes planwidrig Fälle umfasst, für die das Gesetz seinem Sinn und Zweck 351 Für § 7 AZO lehnt er den Vorrang lediglich nachwirkender Tarifnormen ab, für § 622 Abs. 3 BGB a. F. bejaht er die Möglichkeit zur Abweichung auch durch nachwirkende Tarifnormen. 352 Siehe oben 1. Teil: § 3 A. I. 353 Statt aller Larenz / Canaris, Methodenlehre, S. 142. 354 Larenz / Canaris, Methodenlehre, S. 210. 355 Larenz / Canaris, Methodenlehre, S. 198, 210.
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nach nicht zu befriedigenden Ergebnissen führt, weil es eine für die Beurteilung dieser Fälle relevante Besonderheit außer Acht lässt und somit im Hinblick auf eine einschränkende Vorschrift unvollständig ist.356 Einer teleologischen Reduktion ist grundsätzlich die Auslegung vorrangig. § 4 Abs. 5 TVG selbst kann zwar aufgrund des eindeutigen Wortlauts der Ausschluss der Nachwirkung für Tarifnormen, die von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichen, nicht entnommen werden. Die Auslegung darf sich allerdings nicht auf § 4 Abs. 5 TVG beschränken. Auch aus anderen Vorschriften kann sich die Beschränkung der Nachwirkung für abweichende Tarifvertragsvorschriften ergeben. Bevor jedoch die dafür in Frage kommenenden Tariföffnungsklauseln auf einen solchen einschränkenden Regelungsgehalt untersucht werden, sollen in einem ersten Schritt Sinn und Zweck der Nachwirkung beleuchtet werden. Diese illustrieren anschaulich, ob die Teleologie des § 4 Abs. 5 TVG auch die Einbeziehung der Tarifnormen rechtfertigt, die von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichen. Anschließend ist die Regelung der Nachwirkung im Tarifvertragsgesetz auf ihre planwidrige Unvollständigkeit zu untersuchen und in diesem Rahmen zu ergründen, inwieweit die Tariföffnungsklauseln einer Lückenhaftigkeit des § 4 Abs. 5 TVG bereits entgegenstehen. aa) Sinn und Zweck des § 4 Abs. 5 TVG im Verhältnis zu abweichenden Tarifnormen Für die Funktion der Nachwirkung und damit die § 4 Abs. 5 TVG innewohnende Teleologie werden verschiedene Gesichtspunkte angeführt. In erster Linie wohnt der Nachwirkung eine Ordnungsfunktion inne. § 4 Abs. 5 TVG soll verhindern, dass die Arbeitsverhältnisse nach Ablauf des Tarifvertrags inhaltsleer werden oder durch dispositives Gesetzesrecht ergänzt werden müssen.357 Für alle Beteiligten sollen auch nach Beendigung des Tarifvertrags die Arbeitsbedingungen überschaubar sein.358 Daneben bezweckt die von § 4 Abs. 5 TVG angeordnete Nachwirkung der Tarifnormen die Sicherung des Inhalts des Arbeitsverhältnisses auch nach dem Ablauf des Tarifvertrags und senkt gleichzeitig die Regelungen von der Dispositionsebene der Tarifvertragsparteien auf die der Arbeitsvertragsparteien ab.359 Den Arbeitnehmern soll der tarifvertragliche Status quo gesichert und gleichzeitig die Beseitigungslast für diesen Zustand dem Arbeitgeber mit allen individualarbeitsLarenz / Canaris, Methodenlehre, S. 194, 198. BAG vom 18. 3. 1992, AP Nr. 13 zu § 3 TVG; BAG vom 13. 12. 1995, AP Nr. 3 zu § 3 TVG Verbandsaustritt; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1450; Löwisch / Rieble, TVG, § 4 Rn. 374; Wank, in: Wiedemann, TVG, § 4 Rn. 327. 358 BAG vom 18. 3. 1992, AP Nr. 13 zu § 3 TVG. 359 BAG vom 13. 12. 1995, AP Nr. 3 zu § 3 TVG Verbandsaustritt, unter 1.3.2.4. der Gründe; ebenso BAG vom 13. 7. 1994, AP Nr. 14 zu § 3 TVG Verbandszugehörigkeit; Krebs, Gemeinsame Anm. zu BAG vom 27. 11. 1991 und BAG vom 18. 3. 1992, SAE 1993, 133, 138; Rieble, Anm. zu BAG vom 13. 12. 1995, AP Nr. 3 zu § 3 TVG Verbandsaustritt. 356 357
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rechtlichen Konsequenzen übertragen werden.360 Über diesen allein auf das Individualarbeitsverhältnis abstellenden Aspekt hinaus kommt der Nachwirkung aber vor allem auch eine Überbrückungsfunktion zu.361 Sie soll sicherstellen, dass nach Ablauf einer tariflichen Ordnung bis zum Inkrafttreten der neuen, nachfolgenden tariflichen Ordnung ein nahtloser Übergang gewährleistet ist. Notwendig wird dies durch die Friedenspflicht, welche die Tarifparteien daran hindert, bereits vor dem Ablauf des Tarifvertrags eine neue Regelung notfalls kampfweise zu erzielen. Dadurch dient die Nachwirkung vor allem der Kontinuität der tariflichen Ordnungen und damit deren Effizienz.362 Anhand dieser teleologischen Grundlage kann nun ermittelt werden, ob die Funktion der Nachwirkung auch auf einen von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrag zutrifft. Fielen die Rechtsnormen nach dessen Ablauf ersatzlos weg, dann würde sofort die gesetzliche Regelung eingreifen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Tarifvertragsvorschriften bestünde nicht die Gefahr, dass das Arbeitsverhältnis inhaltsleer würde oder durch dispositives Recht ausgefüllt werden müsste. Auch die Überschaubarkeit der Arbeitsbedingungen bliebe gewährleistet, da die gesetzlichen Arbeitsbedingungen dem Arbeitgeber bekannt sein müssen. Im Hinblick auf die Ordnungsfunktion ist im Anschluss an den Ablauf der Tarifnormen, die von tarifdispositivem Recht abweichen, eine Nachwirkung nicht erforderlich. In der Regel weichen Tarifnormen, welche die Tarifdispositivität bestimmter Rechtsvorschriften nutzen, zum Nachteil der Arbeitnehmer vom Gesetz ab. Diese büßen nach der tarifvertraglichen gegenüber der gesetzlichen Rechtslage Besitzstände ein. Es existiert daher kein Status Quo, der den Arbeitnehmern zu sichern wäre. Vielmehr stünde die Aufrechterhaltung einer die Arbeitnehmer benachteiligenden Rechtslage im Widerspruch zu der Eigenschaft des § 4 Abs. 5 TVG als Arbeitnehmerschutznorm, welche die Beseitigungslast für die geltenden Arbeitsbedingungen dem Arbeitgeber zuweisen will. Auch aus Gründen des Inhaltsschutzes der Arbeitsverhältnisse erscheint die Nachwirkung der von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften abweichenden Tarifnormen nicht notwendig. Allerdings erschöpft sich der Zweckgehalt des § 4 Abs. 5 TVG nicht in diesen Funktionen. Die Überbrückungsfunktion der Nachwirkung darf nicht vernachlässigt werden. Würden für die in der Regel kurze Interimsphase zwischen Ende des alten und In-Kraft-Treten des neuen Tarifvertrags die gesetzlichen Arbeitsbedingungen eingreifen, wäre das mit erheblichen Belastungen für den Arbeitgeber ver360 BAG vom 13. 12. 1995, AP Nr. 3 zu § 3 TVG Verbandsaustritt, unter 1.3.2.4. der Gründe; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1450; ebenso Wank, in: Wiedemann, TVG, § 4 Rn. 327. 361 BAG vom 13. 12. 1995, AP Nr. 3 zu § 3 TVG Verbandsaustritt; BAG vom 13. 7. 1994, AP Nr. 14 zu § 3 Verbandszugehörigkeit; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1450; Löwisch / Rieble, TVG, § 4 Rn. 372; Oetker, Festschrift für Schaub, S. 535, 540; Wank, in: Wiedemann, TVG, § 4 Rn. 327. 362 Oetker, Festschrift für Schaub, S. 535, 540.
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bunden. Auch liegt ein Hin und Her der Ordnungen363 nicht im Interesse der Arbeitnehmer, die sich ständig auf neue Arbeitsbedingungen einstellen müssten. Diese Nachteile werden auch nicht dadurch aufgewogen, dass sich der Arbeitgeber bei einem befristeten Tarifvertrag oder einer ordentlichen Kündigung desselben auf die Änderung der Rechtslage einstellen kann. Aus betrieblicher Sicht besteht daher ein erhebliches Bedürfnis nach Wahrung der Kontinuität. Dieses setzt sich auf Seiten der Tarifpartner fort. Gerade auch in einem kollektivrechtlichen Sinne soll die in § 4 Abs. 5 TVG verankerte Nachwirkung für ungestörte Verhandlungen und ein lückenloses Aufeinanderfolgen der tariflichen Regelungswerke sorgen. Das zwischenzeitliche, die Arbeitgeberseite belastende Eingreifen der gesetzlichen Regelung könnte sich störend auf die Tarifverhandlungen auswirken. Dies rechtfertigt aber nur die Abfederung des Zeitraums zwischen Ende des früheren und Inkrafttreten des neuen Tarifvertrags. Eine Ausdehnung der Nachwirkung über diesen Zeitraum hinaus lässt sich nur durch den Inhaltsschutz und die Ordnungsfunktion der Nachwirkung rechtfertigen,364 die im Falle der Abweichung von tarifdispositiven Vorschriften aber gerade nicht einschlägig sind.365 Nur wenn der Abschluss eines neuen Tarifvertrags in Aussicht steht, rechtfertigt sich nach Sinn und Zweck des § 4 Abs. 5 TVG die Nachwirkung für Vereinbarungen, die von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichen. Nach den teleologischen Betrachtungen ergibt sich demnach folgendes Bild. Im Hinblick auf abweichende Tarifnormen ist weder aus Ordnungs- noch Inhaltsschutzgesichtspunkten eine Nachwirkung erforderlich. Allerdings kommt die § 4 Abs. 5 TVG innewohnende Überbrückungsfunktion aus Sicht der Arbeitsvertragsparteien und der Tarifpartner vollständig zum Tragen und erfordert ein Nachwirken der abweichenden Tarifnormen für den Fall, dass über einen neuen Tarifvertrag verhandelt wird und dessen Abschluss in Aussicht steht. bb) Das Vorliegen einer verdeckten Gesetzeslücke Das vom Zweck geforderte Ergebnis kann im Wege einer teleologischen Reduktion des § 4 Abs. 5 TVG nur dann erzielt werden, wenn die Vorschrift planwidrig unvollständig ist.366 Das wiederum setzt voraus, dass er seinem Wortlaut nach auch Tarifverträge erfasst, welche die Tarifdispositivität staatlichen Arbeitnehmerschutzrechts nutzen, dies aber nicht gesetzgeberisch so vorgesehen war Stahlhacke, DB 1969, 1651, 1652. So BAG vom 18. 3. 1992, AP Nr. 13 zu § 3 TVG; BAG vom 13. 12. 1995, AP Nr. 3 zu § 3 TVG Verbandsaustritt, unter 1.3.2.4. der Gründe; ebenso BAG vom 13. 7. 1994, AP Nr. 14 zu § 3 TVG Verbandszugehörigkeit. 365 Unzutreffend beschränken Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 32, den Zweck des § 4 Abs. 5 TVG auf seine Überbrückungsfunktion, richtiger wäre davon zu sprechen, dass sich bei der Nachwirkung von tarifdispositivem Recht abweichender Tarifnormen nur die Überbrückungsfunktion aktualisiert. 366 Canaris, Feststellung von Lücken, S. 16, 30; Larenz / Canaris, Methodenlehre, S. 194. 363 364
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bzw. sich die Bedingungen geändert haben, auf denen die gesetzgeberische Intention aufbaute.367 Das Tarifvertragsgesetz definiert in § 1 Abs. 1 was Rechtsnormen eines Tarifvertrags sind. Es hat sich bereits gezeigt, dass Tarifnormen in Tarifverträgen, durch die von tarifdispositiven Vorschriften abgewichen wird, solche im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG darstellen. Für alle diese ordnet § 4 Abs. 5 TVG ohne Ausnahme nach Beendigung des Tarifvertrags die Nachwirkung an. Im Gegensatz zu § 3 TVG, der in seinem ersten und zweiten Absatz zwischen Inhalts-, Abschluss- und Beendigungsnormen einerseits sowie Betriebsnormen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen andererseits differenziert, regelt § 4 Abs. 5 TVG die Nachwirkung unterschiedslos für alle Tarifnormen. Die Planwidrigkeit setzt voraus, dass der Gesetzgeber die besondere Normengruppe der von tarifdispositiven Vorschriften abweichenden Tarifnormen in seiner Regelung nicht berücksichtigt hat. Durch die Vorschrift des § 4 Abs. 5 TVG sollte vor allem der Streit um die rechtliche Konstruktion der Nachwirkung beendet werden.368 Die Tarifvertragsverordnung vom 23. 12. 1918 sah in § 1 Abs. 1 S. 1 vor, dass Arbeitsverträge insoweit unwirksam sind, als sie gegen einen Tarifvertrag verstoßen. Die Regelungen in dem Tarifvertrag füllten die entstandene Lücke aus, indem sie Bestandteil des Arbeitsvertrages wurden (vgl. § 1 Abs. 1 S. 2 TVVO). Nach Ablauf des Tarifvertrags verloren die tarifvertraglichen Regelungen ihre zwingende Wirkung gegenüber den Arbeitsverträgen. Allerdings blieben die in den Arbeitsvertrag inkorporierten Tarifvorschriften als vertragliche Regelungen erhalten und wirkten sozusagen nach. Aufgrund ihres vertraglichen Charakters konnten sie von den Arbeitsvertragsparteien abgeändert werden. Mit dem Entstehen von neuen Formen tariflicher Regelungen, insbesondere betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Tarifnormen, konnten diese nicht mehr ohne Weiteres als vertragliche Regelungen angesehen werden, da den Arbeitsvertragsparteien derartige Regelungsbefugnisse nicht zustanden.369 Die Tarifnormen, die nicht in ein Arbeitsverhältnis eingehen konnten, wirkten demnach auch nicht individualvertraglich nach. Dadurch existierten Tarifnormen, die mit Ablauf des Tarifvertrags nachwirkten und solche, die sofort außer Kraft traten, nebeneinander. Diesen Zustand wollte der Gesetzgeber beenden, ohne selbst die Rechtsnatur der Tarifnormen abschließend zu kodifizieren.370 Er strebte mithin einen Gleichlauf für alle Arten von Tarifnormen an.
367 Im Unterschied zum klassischen Fall der Lücke ist der betreffende Rechtssatz daher nicht unvollständig, sondern enthält eine Regelung, die aber Fälle erfasst, die nicht zwangsläufig erfasst werden sollen, Canaris, Feststellung von Lücken, S. 83, spricht daher im Anschluss an Larenz und Reichel (vgl. seine Nachweise in Fn. 88, 89) von „verdeckten Lücken“. 368 Wank, in: Wiedemann, TVG, § 4 Rn. 322. 369 Wank, in: Wiedemann, TVG, § 4 Rn. 324. 370 Wank, in: Wiedemann, TVG, § 4 Rn. 322, 324.
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Diese Erwägungen sprechen bereits gegen eine planwidrige Weite des § 4 Abs. 5 TVG. Hinzu kommt, dass zum Entstehungszeitpunkt der Tarifvertragsverordnung der Gesetzgeber bereits in Abschnitt VII der Anordnung über die Regelung der Arbeitszeit gewerblicher Arbeiter vom 23. 11. 1918371 anerkannt hatte, dass Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen Ausnahmen von den Beschäftigungsbeschränkungen gewerblicher Arbeiter als zulässigen Inhalt einer Vereinbarung festlegen können. Nach Inkrafttreten der Tarifvertragsverordnung verwendete die Verordnung über die Regelung der Arbeitszeit der Angestellten während der Zeit der wirtschaftlichen Demobilmachung vom 18. 3. 1919372 in § 7 Abs. 1 sogar den Ausdruck „Tarifvertrag“. Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Tarifvertragsgesetzes am 9. 5. 1949 war dem Gesetzgeber daher das Institut des tarifdispositiven Rechts bereits bekannt. Dennoch hat er in § 4 Abs. 5 TVG nicht zwischen Tarifnormen im Allgemeinen und Tarifnormen, die von tarifdispositivem Recht abweichen, differenziert. Darüber hinaus muss das Fehlen eines einschränkenden Rechtssatzes in § 4 Abs. 5 TVG selbst noch nicht zu einer verdeckten Gesetzeslücke führen. Vielmehr ist für die Lückenhaftigkeit einer Vorschrift die gesamte, mit der zu beantwortenden Rechtsfrage in Zusammenhang stehende Rechtslage maßgeblich.373 Einschränkende Rechtssätze können auch aus anderen Vorschriften gewonnen werden, die in Beziehung zu der als zu weit eingestuften Regelung treten.374 Bevor mit dem Instrument der teleologischen Reduktion das Recht ergänzend fortgebildet wird, ist für die Gesamtheit der einschlägigen Vorschriften zu untersuchen, ob sich das Ergebnis nicht durch Auslegung erzielen lässt.375 Als beschränkende Rechtssätze können und müssen daher für das hier behandelte Problem die Tariföffnungsklauseln dienen. Durch eine entsprechende Auslegung können durch sie die teleologischen Unstimmigkeiten ausgeglichen werden.376 Zudem stehen sie in einem engeren Zusammenhang zu den von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifnormen als die generelle Regelung in § 4 Abs. 5 TVG. cc) Zwischenergebnis Demzufolge kann festgehalten werden, dass § 4 Abs. 5 TVG seinem Wortlaut nach alle Tarifnormen, also auch die von tarifdispositivem Recht abweichenden erfasst. Diese Weite der gesetzlichen Regelung war vom Gesetzgeber auch so beRGBl. 1918, S. 1334. RGBl. 1919 I, S. 315. 373 Canaris, Feststellung von Lücken, S. 38 f.; vgl. auch Larenz / Canaris, Methodenlehre, S. 191 ff. 374 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 444. 375 Canaris, Feststellung von Lücken, S. 22 f. 376 Dadurch unterscheidet sich der hier vorliegende Fall von einer so genannten „Kollisionslücke“ (Canaris, Feststellung von Lücken, S. 65), die entsteht, wenn sich zwei Normen gerade widersprechen. 371 372
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absichtigt. Schließlich bieten die Tariföffnungsklauseln den passenden und sachnäheren Ort, um die vom Telos der Nachwirkung geforderten Einschränkungen durch Auslegung vorzunehmen. Eine teleologische Reduktion des § 4 Abs. 5 TVG scheidet mithin aus. b) Auslegung der Tariföffnungsklauseln Nachdem feststeht, dass eine teleologische Reduktion des § 4 Abs. 5 TVG abzulehnen ist und daher grundsätzlich nach dem Ablauf eines Tarifvertrags, für die von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften abweichenden Tarifnormen die Nachwirkung eintritt, ist zu untersuchen, ob nachwirkende Tarifnormen solche im Sinne der Tariföffnungsklauseln darstellen. Im Gegensatz zu § 4 Abs. 5 TVG besteht bei den Tariföffnungsklauseln Auslegungsspielraum. Der Wortlaut der Tariföffnungsklauseln selbst lässt keine eindeutigen Schlussfolgerungen zu. Er gestattet ausnahmslos die Abweichung von dem tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht in einem Tarifvertrag, wobei allerdings offen bleibt, ob damit ausschließlich der Tarifvertrag in seinem zeitlichen Geltungsbereich oder auch die nachwirkenden Tarifnormen erfasst sind. Aus systematischer Sicht ergeben sich aus dem Regelungszusammenhang der tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschrift keine Hinweise zur Lösung der Nachwirkungsfrage.377 Lediglich die Formulierung in § 25 S. 1 ArbZG378, der das Verhältnis bestehender und nachwirkender Tarifverträge zu den zwingenden Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes betrifft, deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber von einem Vorrang auch nachwirkender Tarifnormen vor tarifdispositiven Gesetzesvorschriften ausgeht. aa) Teleologische Auslegung Das Hauptaugenmerk der Betrachtungen ist daher auf den Zweck der Öffnung der gesetzlichen Regelungen für tarifvertragliche Abweichungen zu legen. Den differenzierenden Ansätzen von Stahlhacke und Herschel kann insoweit gefolgt werden, dass der Zweck der Tariföffnungsklausel maßgeblich dafür ist, ob sich das tarifdispositive Recht auch hinter lediglich nachwirkende Tarifnormen zurückziehen will. Dagegen lässt sich zwar einwenden, dass mit einer Einzelbetrachtung der verschiedenen Tariföffnungsklauseln eine untragbare Rechtsunsicherheit verbunden sei.379 Allerdings würde diese nicht das Maß an Rechtsunsicherheit übersteiVgl. auch die Betrachtungen zu § 4 Abs. 5 TVG soeben unter 1. Teil: § 3 A. III. 2. a). „Enthält ein am 1. 1. 2004 bestehender oder nachwirkender Tarifvertrag abweichende Regelungen nach § 7 Abs. 1 oder § 12 Satz 1, die den in diesen Vorschriften festgelegten Höchstrahmen überschreiten, bleiben diese tarifvertraglichen Bestimmungen bis zum 31. Dezember 2005 unberührt. Tarifverträgen nach Satz 1 stehen durch Tarifvertrag zugelassene Betriebsvereinbarungen sowie Regelungen nach § 7 Abs. 4 gleich.“ 379 Knorr, RdA 1979, 201, 206. 377 378
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gen, das sich aus einer unterschiedlichen Behandlung herkömmlicher Tarifvertragsnormen und solcher, die von tarifdispositivem Recht abweichen, ergäbe. Daher ist in einem ersten Schritt für jede Tariföffnungsklausel das gesetzgeberische Motiv zu bestimmen. Deckt sich dieses in allen Fällen, dann kann allgemein gefragt, werden, ob nachwirkende Tarifnormen, dieser gesetzgeberischen Zwecksetzung gerecht werden. Nur wenn dies der Fall ist, stellen nachwirkende Tarifverträge solche im Sinne der Tariföffnungsklauseln dar. Die einführenden Betrachtungen haben gezeigt, dass der Gesetzgeber in allen Fällen der Schaffung tarifdispositiver Arbeitnehmerschutzvorschriften den Tarifvertragsparteien die Abweichung von den zwangsläufig generalisierenden gesetzlichen Regelungen zum Zwecke der Berücksichtigung von Besonderheiten des jeweiligen Betriebes oder Wirtschaftszweiges sowie zur Regelung von Einzelheiten überlassen wollte. Getragen wurde diese gesetzgeberische Motivation von der Überzeugung, dass die Tarifpartner zu einem sachgerechten und angemessenen Ausgleich der gegensätzlichen Interessen in der Lage sind.380 Lediglich für § 17 Abs. 3 S. 1 BetrAVG war nicht die größere Sachnähe der Tarifvertragsparteien, sondern allein ihre Fähigkeit zum sachgerechten Interessenausgleich Beweggrund der Tariföffnung.381 Von den Tarifpartnern wird demnach angenommen, dass sie bei der Abweichung von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften die arbeitsrechtliche Schutz- und Ordnungsfunktion ebenso gut ausfüllen können, wie der Gesetzgeber. Dem könnte im Nachwirkungszeitraum zum einen die dadurch eintretende Änderung des Geltungsgrundes der Tarifnorm entgegenstehen und zum anderen der mit dem Beginn der Nachwirkung eintretende dispositive Charakter der nachwirkenden Tarifnormen. Die einzelvertragliche Abdingbarkeit der abgelaufenen Tarifnormen führt im Regelfall dazu, dass die Arbeitsvertragsparteien sie durch jede Abmachung ändern können. Im Hinblick auf die hier zu betrachtenden abweichenden Tarifvorschriften zieht das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht der Regelungsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien jedoch eine Grenze.382 Diese können 380 Vgl. Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit zum Entwurf eines Bundesurlaubsgesetzes, BT-Drucks. IV / 785, S. 2; Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung arbeitsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. V / 3913, S. 10; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (JArbSchG), BT-Drucks. 10 / 2012, S. 14; Entwurf der Bundesregierung eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BR-Drucks. 393 / 84, S. 27 = BT-Drucks. 10 / 2102, S. 26; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (AÜG), BT-Drucks. 10 / 3206, S. 33; Begründung zum Entwurf der Fraktionen der CDU / CSU und FDP eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz), BT-Drucks. 12 / 4902, S. 9; Begründung der Bundesregierung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts, BT-Drucks. 12 / 5888, S. 58 f.; Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, BT-Drucks. 14 / 4374, S. 14 = BRDrucks. 591 / 00, S. 19. 381 Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, BT-Drucks. 7 / 1281, S. 31; vgl. zum Ganzen auch oben 1. Teil: § 2 B. II. 382 Bepler, in: Däubler, TVG, § 4 Rn. 846.
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nicht unter das gesetzlich vorgegebene Mindestmaß abweichen. Daher unterscheidet sich der Umfang einer zulässigen Abweichung von den lediglich nachwirkenden Tarifnormen nicht von dem, der zur Zeit ihrer zwingenden Geltung besteht. Daraus ergibt sich, dass auch ein nachwirkender Tarifvertrag, der von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften abweicht, seine Schutzfunktion noch erfüllt. Das gleiche gilt für die ihm zugemessene Ordnungsfunktion. Unabhängig davon, ob ein Tarifvertrag nachwirkt oder nicht, sind im Falle der Abweichung von tarifdispositiven Vorschriften nur individualvertragliche Vereinbarungen möglich, die günstiger für den Arbeitnehmer sind als die tarifliche Regelung.383 Bis zu diesem Mindeststandard vereinheitlicht die nachwirkende Tarifnorm die Arbeitsbedingungen im Betrieb und vermag damit genauso viel wie eine zwingend wirkende, von tarifdispositiven Vorschriften abweichende Tarifnorm. Sofern dagegen eingewandt wird, dass durch die Anerkennung der Nachwirkung eine Zweiteilung der Belegschaft erfolge, da neu begründete Arbeitsverhältnisse nicht von den nachwirkenden Tarifnormen erfasst werden, ist das kein Argument gegen die Nachwirkung solcher Tarifnormen, die von tarifdispositiven Gesetzesvorschriften abweichen. Vielmehr stellt dies ein Problem dar, das immer auftritt, wenn Tarifnormen nachwirken. Die Erwägung kann daher nicht herangezogen werden, um gerade die Unzulässigkeit einer Abweichung von tarifdispositivem Recht durch nachwirkende Tarifnormen zu begründen.384 Außerdem ist es möglich, dieser unerwünschten Situation abzuhelfen, indem für die neu eintretenden Arbeitnehmer auf den nachwirkenden Tarifvertrag Bezug genommen wird und damit einheitliche Arbeitsbedingungen in dem Betrieb hergestellt werden. Diese Möglichkeit stellen die heute fast ausnahmslos vorhandenen Erstreckungsklauseln zur Verfügung. Aus der Änderung des Geltungsgrundes der Tarifnormen mit dem Einsetzen der Nachwirkung allein ergibt sich ebenfalls kein Widerspruch zur Zweckrichtung der Tariföffnung. Zwar sind gekündigte oder aufgrund einer Befristung abgelaufene Tarifverträge formell nicht mehr vom Willen der Tarifpartner getragen. Sie verlieren dadurch aber nicht automatisch ihre Sachgerechtigkeit und den auf der Verhandlungsstärke der Verbände beruhenden, die entgegenstehenden Interessen ausgleichenden Charakter.385 Dies gilt allerdings nicht unbegrenzt. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber die Dispositionsbefugnis auf die Tarifpartner beschränkt hat, fordert von den abweichenden Tarifregelungen, dass sich die Verhandlungsstärke und Sachkompetenz der Sozialpartner in den vom Gesetz abweichenden Tarifregelungen manifestiert. Je länger der Ablauf des Tarifvertrags zurückliegt desto schwächer wird diese Manifestation der den Sozialpartnern zugeschriebenen Sach- und Verhandlungskompetenz. Insbesondere realisiert sich die Gefahr des Verlustes der Vgl. dazu sogleich unten 1. Teil: § 3 D. Knorr, RdA 1979, 201, 205. 385 Bepler, in: Däubler, TVG, § 4 Rn. 846; für § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG Hamann, in: Schüren, AÜG, § 1 Rn. 548. 383 384
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
Sachgerechtigkeit, wenn sich die Tarifpartner aus der Regelung eines bestimmten Bereiches zurückziehen und daher ein Anschlusstarifvertrag nicht zu erwarten ist. In diesem Fall wird es nicht im Interesse des Arbeitgebers liegen, die in der Regel zum Nachteil der Arbeitnehmer von den gesetzlichen Vorschriften abweichenden Arbeitsbedingungen abzuändern. Dem Arbeitnehmer, dem in dieser Situation kein Verband zur Seite steht, kann aber nicht die Änderungslast aufgebürdet werden.386 Das würde dem grundsätzlich arbeitnehmerschützenden Charakter des tarifdispositiven Arbeitsrechts zuwiderlaufen. Die Verdrängung tarifdispositiver Vorschriften durch nachwirkende Tarifnormen ist demnach unbedingt zeitlich zu begrenzen. In jedem Fall wird die Sach- und Interessengerechtigkeit der tarifvertraglichen Abweichungen bis zum Abschluss eines Folgetarifvertrags erhalten bleiben. Daher bietet sich für die zeitliche Begrenzung der Vorrangwirkung nachwirkender, von tarifdispositivem Recht abweichender Tarifnormen die Dauer der Tarifverhandlungen an. Sind diese gescheitert, verlieren auch die nachwirkenden Tarifnormen ihre Fähigkeit, das tarifdispositive Recht in den Hintergrund zu drängen. An dieser Stelle ist ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen. Der Zweck einer Rechtsnorm erschließt sich nicht ausschließlich aus ihr selbst, sondern wird auch durch den inneren Zusammenhang der Rechtsordnung konstituiert.387 Im Zuge der teleologischen Auslegung sind daher auch Wertungswidersprüche auszuräumen.388 Somit darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Nachwirkung von tarifdispositivem Recht abweichender Tarifnormen lediglich aus der Überbrückungsfunktion des § 4 Abs. 5 TVG gerechtfertigt ist. Diese dient jedoch ausschließlich der Abfederung der Interimsphase zwischen Ende des voraus gegangenen und Abschluss des nachfolgenden Tarifvertrags.389 Auch aus diesem Grund ist es notwendig, die Vorrangwirkung der abweichenden Tarifnormen auf die Zeit zu beschränken, welche die Tarifpartner zum Abschluss eines Folgetarifvertrags benötigen. Die teleologische Auslegung der Tariföffnungsklauseln ergibt somit, dass nachwirkende Tarifnormen nur so lange im Stande sind, tarifdispositive Vorschriften zu verdrängen, wie noch Tarifverhandlungen geführt werden bzw. der Abschluss eines Folgetarifs noch nicht endgültig gescheitert ist.
386 Vgl. dazu die entgegengesetzte Argumentation bei einer Abänderung von Arbeitsbedingungen, die für den Arbeitnehmer vorteilhaft waren: Rieble, Anm. zu BAG vom 13. 12. 1995, AP Nr. 3 zu § 3 TVG Verbandsaustritt. 387 Larenz / Canaris, Methodenlehre, S. 157. 388 Larenz / Canaris, Methodenlehre, S. 157. 389 Bei der Nachwirkung einer tarifvertraglichen Einzelschiedsgerichtsklausel gemäß § 101 Abs. 2 ArbGG tritt zusätzlich das Problem auf, dass das Schiedsgericht von den Tarifvertragsparteien weiter unterhalten werden muss. In der Regel wird der Wille der Tarifvertragsparteien dahin gehen, dass die gemeinsame Einrichtung des Schiedsgerichts nach dem Zeitpunkt, zu dem gekündigt worden ist, wegfallen soll, vgl. Germelmann / Matthes / MüllerGlöge / Prütting, ArbGG, § 101 Rn. 25.
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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bb) Parallelbetrachtung zu den betriebsverfassungsrechtlichen Öffnungsklauseln Die Erwägungen zu den betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften, von denen in einem Tarifvertrag abgewichen werden kann, unterstützen das im Wege der teleologischen Auslegung der Tariföffnungsklauseln gefundene Ergebnis. Einige Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes sehen vor, dass von ihnen in einem Tarifvertrag abgewichen werden kann (§§ 3 Abs. 1 BetrVG, 38 Abs. 1 S. 3, 47 Abs. 4, 55 Abs. 4, 72 Abs. 4, 76 Abs. 8, 76a Abs. 5 BetrVG). Für diese Öffnungsklauseln geht ein beachtlicher Teil der Stimmen in der betriebsverfassungsrechtlichen Literatur im Anschluss an die zum Betriebsverfassungsgesetz 1952 vorherrschende Ansicht390 davon aus, dass nachwirkende Tarifnormen das zwingende Organisationsrecht nicht zu verdrängen vermögen.391 Als Argument führen die Autoren im Wesentlichen an, dass das zwingende Organisationsrecht nur einem voll wirksamen Tarifvertrag weichen könne.392 Anderenfalls bestehe die Gefahr, dass für den Fall, dass ein neuer Tarifvertrag nicht zustande kommt, ein Zustand aufrechterhalten werde, der nicht mehr vom Willen der Tarifvertragsparteien getragen sei.393 Die Verfechter der Gegenposition394 halten dem entgegen, dass aufgrund des außer für die Tarifparteien zwingenden Charakters dieses Betriebsverfassungsrechts keine Gefahr durch den lediglich dispositiven Charakter der nachwirkenden Normen drohe, da der Arbeitgeber nicht unter den Schutzstandard des Gesetzes abweichen könne.395 Der Hinweis darauf, dass ein ungeregelter Zustand nicht eintreten könne, sei verfehlt, da der Sinn der Nachwirkung nicht lediglich in der Verhinderung der Inhaltsleere des Arbeitsverhältnisses bestehe, sondern auch darin, Kontinuität zu wahren und den Verhandlungszeitraum zwischen Ende des ersten und Eingreifen des folgenden Tarifvertrags zu überbrücken.396 Schließlich sei es verfehlt, darauf abzustellen, dass eine nachwirkende Regelung nicht mehr vom 390 Fitting / Auffarth / Kraegeloh, BetrVG 8. Aufl. 1968, § 20 Rn. 68; Nipperdey / Säcker, in: Hueck / Nipperdey, Bd. II / 2, S. 1223 f.; a. A. Dietz, BetrVG 4. Aufl. 1967, § 20 Rn. 44. 391 Richardi, BetrVG, § 3 Rn. 47; Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, § 3 Rn. 91; Kraft, in: GK-BetrVG I, § 3 Rn. 31. 392 Richardi, BetrVG, § 3 Rn. 47; Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, § 3 Rn. 91. 393 Kraft, in: GK-BetrVG I, § 3 Rn. 31. 394 Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 1461; Hess / Schlochauer / Glaubitz, BetrVG, § 3 Rn. 11; Galperin / Löwisch, BetrVG I, § 3 Rn. 4; Oetker, Festschrift für Schaub, S. 535, 549; Trümner, in: Däubler / Kittner / Klebe, BetrVG, § 3 Rn. 166, der die Nachwirkung aber nur dann zulassen will, wenn die Verhandlungen für einen neuen Tarifvertrag noch schweben bzw. nicht gescheitert sind. 395 Oetker, Festschrift für Schaub, S. 535, 548. 396 Oetker, Festschrift für Schaub, S. 535, 549; Trümner, in: Däubler / Kittner / Klebe, BetrVG, § 3 Rn. 166.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
Willen der Tarifparteien getragen sei. Mit dem Ende des zeitlichen Geltungsbereichs verliere die Regelung nicht ihre Sachgerechtigkeit.397 Im Hinblick auf ihre Funktion sind die betriebsverfassungsrechtlichen Öffnungsklauseln mit denen des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts vergleichbar. Für beide wollte der Gesetzgeber erreichen, dass die im Rahmen der gesetzlichen Regelung mitunter unvermeidbaren Verallgemeinerungen durch einen Tarifvertrag an die strukturellen Besonderheiten bestimmter Betriebe oder Branchen angepasst werden können.398 Dafür sei der Tarifvertrag das sachnähere und flexiblere Instrument.399 Die Argumente für die Einbeziehung auch nachwirkender Tarifnormen in die Verdrängungswirkung gegenüber gesetzlichen Regelungen, die im Hinblick auf die betriebsverfassungsrechtlichen Öffnungsklauseln vorgetragen werden, können daher in der Diskussion um die Einbeziehung nachwirkender Tarifnormen in die Tariföffnungsklauseln des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts unterstützend herangezogen werden. Die Gefahr einer „ewigen Nachwirkung“ und den damit verbundenen Verlust der Sachgerechtigkeit der abweichenden Tarifvertragsregelung betonen auch die betriebsverfassungsrechtlichen Stellungnahmen. Die Verfechter einer Abweichung von betriebsverfassungsrechtlichen Normen durch lediglich nachwirkende Tarifregelungen räumen ein, dass allein die Überbrückungsfunktion der Nachwirkung das Zurückweichen der an sich zwingenden betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften hinter nachwirkende Tarifnormen rechtfertigt. Daher kommt insbesondere Trümner400 zu dem Ergebnis, dass nachwirkende Tarifnormen nur während laufender Tarifverhandlungen den gesetzlichen Vorschriften vorgehen. cc) Zwischenergebnis Die Auslegung der Tariföffnungsklauseln ergibt folglich, dass zwar auch nachwirkende Tarifnormen zu einem Zurückweichen der tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften führen. Diese Vorrangwirkung ist ihnen aber nur soweit und solange zu eigen, wie Tarifverhandlungen geführt werden und der Abschluss eines Folgetarifvertrags in Aussicht steht. c) Gesamtergebnis Die besondere Zwecksetzung des § 4 Abs. 5 TVG steht nach den obigen Ausführungen der Nachwirkung von Tarifnormen, die von tarifdispositivem ArbeitOetker, Festschrift für Schaub, S. 535, 549. Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, § 3 Rn. 2; Galperin / Löwisch, BetrVG I, § 3 Rn. 1; Oetker, Festschrift für Schaub, S. 535, 548; Richardi, BetrVG, § 3 Rn. 2. 399 Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, § 3 Rn. 2; Richardi, BetrVG, § 3 Rn. 2. 400 In: Däubler / Kittner / Klebe, BetrVG, § 3 Rn. 166. 397 398
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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nehmerschutzrecht abweichen, nicht entgegen. Allerdings folgt aus dem Zweck der Tariföffnungsklauseln, dass nachwirkenden Tarifnormen gegenüber tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht nur solange eine Vorrangwirkung zukommt, als noch Tarifverhandlungen stattfinden und der Abschluss eines Folgetarifvertrags noch nicht endgültig gescheitert ist. 3. Besonderheiten bei der Nachwirkung im Anschluss an einen Verbandsaustritt des Arbeitgebers bzw. eine Verbandsauflösung auf Arbeitgeberseite Die Rechtsprechung wendet § 4 Abs. 5 TVG analog auf den Wegfall der Tarifbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG durch Austritt des Arbeitgebers aus dem Arbeitgeberverband bzw. durch Verbandsauflösung an.401 In diesen Fällen realisiert sich nicht die Überbrückungsfunktion der Nachwirkung.402 Dies bildet den Hauptkritikpunkt an der analogen Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG auf die Fälle des Wegfalls der Tarifbindung.403 Es wirkt sich aber gleichermaßen auf einen Vorrang des gemäß § 4 Abs. 5 TVG analog nachwirkenden Tarifvertrags gegenüber tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht aus. Da für eine Nachwirkung von Tarifnormen, welche die Tarifdispositivität staatlichen Arbeitnehmerschutzrechts nutzen, aber gerade die Überbrückungsfunktion die entscheidende Rechtfertigung bildet, scheidet die analoge Anwendung des § 4 Abs. 5 TVG im Hinblick auf Tarifverträge, die von tarifdispositivem Recht abweichen, im Anschluss an eine Weitergeltung gemäß § 3 Abs. 3 TVG aus. Allein bei bestehender Tarifbindung im Sinne von § 3 Abs. 1 und 2 TVG tritt für Tarifnormen, die von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichen, die Nachwirkung gemäß § 4 Abs. 5 TVG ein.
B. Das Abweichen im Sinne der Tariföffnungsklauseln Alle Tariföffnungsklauseln sehen vor, dass die Tarifvertragsparteien von den tarifdispositiven gesetzlichen Bestimmungen „abweichen“ dürfen. In diesem Zusammenhang stellt sich insbesondere die Frage, wie der Wortlaut der Tariföffnungsklauseln im Hinblick auf zeitlich ältere Tarifverträge zu interpretieren ist, die eine andere Regelung enthalten als das tarifdispositive Recht. Besondere Bedeutung erlangt diese Frage für tarifliche Vorschriften, die einen identischen Inhalt wie ein vorausgegangenes, mittlerweile aber geändertes Gesetz aufweisen. In diesen Fällen kannten die Tarifvertragsparteien die ihren Regelungen widersprechende gesetzli401 BAG vom 18. 3. 1992, AP Nr. 13 zu § 3 TVG; vom 13. 12. 1995, AP Nr. 3 zu § 3 TVG Verbandsaustritt; vom 13. 7. 1994, AP Nr. 14 zu § 3 TVG. 402 Vgl. BAG vom 18. 3. 1992, AP Nr. 13 zu § 3 TVG; AP Nr. 3 zu § 3 TVG Verbandsaustritt. 403 Vgl. nur Löwisch / Rieble, Anm. zu BAG vom 18. 3. 1992, AP Nr. 13 zu § 3 TVG.
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che Vorschrift nicht und konnten somit auch nicht bewusst von ihr abweichen. Ob dies dem Vorrang der tariflichen Vereinbarungen entgegensteht, soll im Folgenden untersucht werden.
I. Das Verhältnis zwischen tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht und zeitlich vorausgehenden abweichenden Tarifvertragsregelungen Nach einhelliger Ansicht müssen Tarifnormen die Abweichung von dem tarifdispositiven Gesetz klar und eindeutig zum Ausdruck bringen.404 Nur dann wird der Tarifvorrang sachgerecht und gesetzestechnisch nachvollziehbar gehandhabt.405 Beachten die Tarifpartner die Anforderungen an die Bestimmtheit der abweichenden tariflichen Regelung nicht, findet die gesetzliche Vorschrift Anwendung.406 Eine Beseitigung von Unklarheiten durch die Einholung von Auskünften bei den Tarifvertragsparteien kommt nicht in Betracht, vielmehr muss sich der abweichende Wille der Sozialpartner aus dem Tarifvertrag selbst ergeben.407 Anderenfalls werden sie der ihnen durch den Tarifvorrang eingeräumten Ordnungsfunktion nicht gerecht. Zugleich würde die Übernahme der Tarifregelung durch nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien erschwert.408 Eine Sondersituation tritt ein, wenn tarifdispositives Recht neu geschaffen bzw. bestehendes tarifdispositives Recht geändert wird und bereits abweichende Tarifverträge existieren. Dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der neuen tarifdispositiven Regelung und dem zeitlich vorangehenden abweichenden Tarifvertrag. 1. Rechtslage bei der Existenz von Übergangsvorschriften In verschiedenen Fällen hat der Gesetzgeber diesem Konflikt bereits Rechnung getragen. Für die gesetzliche Festlegung der Kündigungsfristen regelte Art. 6 Abs. 2 des Erstes ArbRBerG409 den Umfang der Weitergeltung älterer Tarifverträge im Rahmen des damals neuen § 622 Abs. 3 BGB. Die Vorschrift sah vor, dass die Tariföffnungsklausel des § 622 Abs. 3 BGB a. F. auf ältere Tarifverträge nur anwendbar war, wenn diese von § 622 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 BGB, nicht aber von § 622 Abs. 2 S. 2 BGB abwichen. Daraus wurde überwiegend gefolgert, dass ge404 Für § 13 BUrlG: BAG AP Nr. 1, 9 zu § 13 BUrlG; allgemein, Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 699; für § 13 BUrlG: Herbst, in: Anmerkung zu BAG, vom 10. 8. 1967, AP Nr. 9 zu § 13 BUrlG. 405 Für § 13 BUrlG: BAG AP Nr. 1, 9 zu § 13 BUrlG. 406 Für § 13 BUrlG: BAG AP Nr. 1, 9 zu § 13 BUrlG. 407 Für § 13 BUrlG: BAG AP Nr. 9 zu § 13 BUrlG. 408 Für § 13 BUrlG: BAG AP Nr. 9 zu § 13 BUrlG. 409 Vom 14. 8. 1969, BGBl. 1969 I, S. 1106 ff.
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genüber den verlängerten Kündigungsfristen für ältere Arbeitnehmer zeitlich vorausgehende Tarifverträge keinen Vorrang beanspruchen konnten.410 Für den Bereich der Entgeltfortzahlung bestimmte § 11 Abs. 2 ArbKrankhG, dass mit dem Tage des Inkrafttretens des Gesetzes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Sicherung der Arbeiter im Krankheitsfalle411 alle diesem entgegenstehenden Vorschriften, also auch die hierzu in Tarifverträgen getroffenen Regelungen, außer Kraft treten. Für die später vorgenommene Vereinheitlichung der Entgeltfortzahlung regelte Art. 67 Abs. 2 PflegeVG,412 dass Tarifverträge, die vor dem Inkrafttreten des Entgeltfortzahlungsgesetzes am 1. 6. 1994 abgeschlossen wurden, dessen tarifdispositive Vorschriften verdrängen, sofern und soweit sie den Grenzen der Tariföffnungsklausel des § 4 Abs. 4 EFZG entsprechen.413 Im Hinblick auf die jüngste Neuregelung der Arbeitszeitvorschriften sieht § 25 S. 1 ArbZG vor, dass abweichende Tarifverträge, die am 1. 1. 2004 in Kraft waren oder nachwirkten und den von den arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln vorgegebenen Rahmen überschreiten, ihre Gültigkeit noch bis zum 31. 12. 2005 behalten. Daraus kann a maiore ad minus gefolgert werden, dass auch vor der gesetzlichen Regelung in Kraft getretene Tarifverträge, die sich im gesetzlich vorgegebenen Rahmen halten, gegenüber den tarifdispositiven Vorschriften vorrangig sind. 2. Rechtslage bei Fehlen gesetzlicher Übergangsvorschriften Existieren keine gesetzlichen Übergangsvorschriften, dann kann die Kollisionsfrage nur mit Hilfe der allgemeinen Methodik beantwortet werden. Dies ist im Urlaubsrecht der Fall, für das mit § 15 BUrlG nur eine Übergangsvorschrift für entgegenstehende gesetzliche Regelungen besteht. Gleichermaßen hat der Gesetzgeber bei In-Kraft-Treten des Kündigungsfristengesetzes,414 das § 622 Abs. 4 BGB n. F. einführte, keine Übergangsregelung für ältere Tarifverträge vorgesehen.415
410 BAG vom 5. 8. 1971, AP Nr. 10 zu § 622 BGB; LAG Hamm, vom 2. 7. 1970, DB 1970, 1446, 1447; Hanau, in: Erman, BGB, 9. Aufl., § 622 Rn. 26; Schaub, ArbRHB, 7. Auflage, § 124 III 1; Wiedemann / Stumpf, TVG, § 1 Rn. 236; a. A. Richardi, ZfA 1971, 73, 88. 411 Vom 26. 6. 1957, BGBl. 1957 I, S. 649 ff. 412 Vom 26. 5. 1994, BGBl. 1994 I, S. 1014, 1070. 413 Vgl. BAG vom 16. 12. 1998, AP Nr. 4 zu § 1 TVG Tarifverträge: Steine-Erden. 414 Vom 7. 10. 1993, BGBl. 1993 I, S. 1668. 415 Zu Tarifverträgen, die inhaltlich mit § 622 BGB a. F. übereinstimmen jedoch wegen einer unzulässigen Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten unwirksam waren, vgl. sogleich unten 1. Teil: § 3 B. II.
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a) Meinungsstand Im Hinblick auf § 13 BUrlG ging der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts in seiner Entscheidung vom 9. 7. 1964416 mangels gesetzlicher Regelung davon aus, dass auch Tarifverträge, die älter sind als die tarifdispositiven Teile des Bundesurlaubsgesetzes, von diesem abweichen können. Zur Begründung zog der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts im Schwerpunkt teleologische Betrachtungen heran. Der Wortlaut vieler Tariföffnungsklauseln lege nahe, dass die Tarifparteien nur von einem ihnen bekannten Gesetz abweichen könnten.417 Der Terminus des „Abweichens“ in diesen Vorschriften dürfe aber nicht dahingehend verstanden werden, dass eine wirksame Tarifvorschrift zusätzlich das subjektive Element eines „Abweichungswillens“ erfordere.418 Dies werde der Bedeutung, die ein Gesetz, das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzvorschriften enthält, den Tarifverträgen im Urlaubsrecht einräume, nicht gerecht.419 Darüber hinaus enthielten die tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzgesetze keine Vorschriften, die ausdrücklich alle zeitlich früheren Regelungen außer Kraft setzten.420 Schließlich führt der Senat noch Praktikabilitätserwägungen und die Rechtssicherheit als Argumente dafür an, dass auch Tarifverträge, die dem Bundesurlaubsgesetz zeitlich vorausgingen, von diesem zuungunsten der Arbeitnehmer abweichen können.421 Anderenfalls könnten die Tarifvertragsparteien nicht verhindern, dass die von ihnen gewollten Vorschriften solange außer Kraft treten, bis sie eine dem Gesetz nachfolgende inhaltsgleiche Regelung abgeschlossen haben.422 Für die Neuregelung der Tarifdispositivität der Kündigungsfristen in § 622 Abs. 4 S. 1 BGB hat das Bundesarbeitsgericht den Vorrang älterer Tarifverträge mittels eines Umkehrschlusses aus den allein für vertragliche Regelungen der Kündigungsfristen vorhandenen Übergangsvorschriften begründet.423 Gleichermaßen geht das Schrifttum überwiegend davon aus, dass vorbehaltlich einer ausdrücklichen gesetzlichen Übergangsregelung auch ältere Tarifverträge den Vorrang vor neueren tarifdispositiven Vorschriften genießen.424 416 BAG vom 9. 7. 1964, AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG; seither st. Rspr.: vgl. BAG vom 9. 7. 1964 AP Nr. 1 zu § 13 BUrlG; vom 26. 11. 1964, AP Nr. 3 zu § 13 BUrlG; vom 3. 12. 1964, AP Nr. 4 zu § 13 BUrlG; vom 25. 2. 1965, AP Nr. 5 zu § 13 BUrlG; vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG; vom 10. 8. 1967, AP Nr. 9 zu § 13 BUrlG; LAG Düsseldorf vom 6. 2. 1964, BB 1964, 641, wendet einen älteren Tarifvertrag ohne Auseinandersetzung mit dem Problem einfach an. 417 Für § 13 BUrlG: BAG vom 9. 7. 1964, AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG. 418 Für § 13 BUrlG: BAG vom 9. 7. 1964, AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG. 419 Für § 13 BUrlG: BAG vom 9. 7. 1964, AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG. 420 Für § 13 BUrlG: BAG vom 9. 7. 1964, AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG. 421 BAG vom 9. 7. 1964, AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG. 422 BAG vom 9. 7. 1964, AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG. 423 Vgl. BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB; zustimmend K. Gamillscheg, Anm. zu BAG vom 5. 10. 1995, SAE 1996, 277, 278; ebenso LAG Thüringen vom 20. 2. 1995, DB 1995, 1030, 1031.
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b) Stellungnahme Der Wortlaut der in Frage kommenden Tariföffnungsklauseln ist im Hinblick auf den Vorrang älterer abweichender Tarifvertragsregelungen offen. Die Formulierungen „abweichen“ bzw. „abweichende Regelungen vereinbaren“ legen zwar eine bewusste Andersregelung nahe. Mit dem Wortsinn ebenso vereinbar ist aber auch ein Verständnis, das keinen expliziten Willen der Tarifvertragsparteien zu einer sich inhaltlich unterscheidenden Regelung fordert und allein auf die objektiv abweichende Regelung im Tarifvertrag abstellt. Der Wortlautvergleich mit der Regelung des § 4 Abs. 3 TVG bestätigt dies.425 Die Vorschrift betrifft das Verhältnis zwischen Tarif- und Arbeitsvertrag und erfasst dadurch ebenfalls Regelungsinstrumente, die in der Normenhierarchie auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Für § 4 Abs. 3 TVG ist jedoch allgemein anerkannt, dass auch solche Arbeitsvertragsinhalte dem Tarifvertrag vorgehen, die zwar günstiger, gleichzeitig aber älter sind als der Tarifvertrag, von dem sie sich unterscheiden.426 Dennoch verwendet das Tarifvertragsgesetz, wie die Tariföffnungsklauseln auch, den Begriff „abweichende Abmachungen“. Dem Bundesarbeitsgericht ist ferner darin zuzustimmen, dass es mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit nicht vereinbar wäre, wenn man die Tarifvertragsparteien bei jeder Änderung tarifdispositiver Vorschriften dazu zwingen würde, neue mit der Vorgängerregelung identische Tarifnormen zu erlassen. Hieraus ergibt sich auch kein Widerspruch zu dem Beschluss des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 17. 12. 1959.427 Die Entscheidung befasste sich mit § 6 ArbKrankhG, der vorsah, dass die gesetzlichen Vorschriften nicht zuungunsten des Arbeiters abgedungen werden könnten. Der Große Senat entschied, dass das in § 6 ArbKrankhG geregelte Günstigkeitsprinzip durch das Ordnungsprinzip eingeschränkt werde, so dass die vorherige allgemeine Ordnung arbeitsrechtlicher Tatbestände in Tarifverträgen, die § 616 BGB ergänzten, durch die neue allgemeine Ordnung des ArbKrankhG abgelöst werde.428 Zudem gründeten sich die ursprünglichen tariflichen Regelungen auf die in § 616 BGB a. F. enthaltenen Vorschriften und wichen von diesen ab. Diese innere Beziehung zwischen den älteren Tarifnormen und § 616 Abs. 1 BGB verfälsche nun das Verhältnis zwischen den Tarifnormen und dem neuen Arbeiterkrankheitsgesetz. Das Gericht kam daher zu dem Schluss, dass immer dann, wenn eine gesetzliche Grundlage entfalle, von der beide Tarifpartner bei ihrer Normierung ausgingen, auch die auf ihr aufbauenden tariflichen Regelun424 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 702; Nikisch, Anm. zu BAG vom 9. 7. 1964, AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG; Schelp, Anm. zu BAG vom 26. 11. 1964, AP Nr. 3 zu § 13 BUrlG; Schwerdtner, in: MüKo BGB, § 622 Rn. 58; für § 17 BetrAVG: Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 172, die allerdings Wert auf eine sorgfältige Auslegung legen. 425 So auch Nikisch, Anm. zu BAG vom 9. 7. 1964, AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG. 426 Statt aller Wank, in: Wiedemann, TVG, § 4 Rn. 421. 427 BAG (GS) vom 17. 12. 1959, BAGE 8, 285 ff. = AP Nr. 21 zu § 616 BGB. 428 BAG (GS) vom 17. 12. 1959, BAGE 8, 285, 311 = AP Nr. 21 zu § 616 BGB.
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gen hinfällig werden.429 Das diene einer eindeutigen und klaren Ordnung und damit der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden.430 Der Sachverhalt erfasste demnach einen anderen Kollisionsfall als er zwischen neuen tarifdispositiven Vorschriften und zeitlich vorangehen Tarifverträgen eintritt. Ähnlich wie § 11 Abs. 2 ArbKrankhG sah Art. 6 Abs. 2 Erstes ArbRBerG vor, dass alte Tarifverträge nur in Kraft bleiben, wenn sie kürzere als die in § 622 Abs. 1 und Abs. 2 S. 1 BGB a. F. enthaltenen Kündigungsfristen vorsehen. Das Bundesarbeitsgericht431 befand diesen Wortlaut als eindeutig. Darüber hinausgehend stellte es fest, dass das gesetzgeberische Anliegen, nur neue abweichende Tarifverträge zuzulassen, sinnvoll sei, damit die Tarifpartner das gesetzliche Konzept des besonderen Schutzes für ältere Arbeitnehmer bei ihren Neuregelungen ausreichend berücksichtigen können.432 Ausgehend von diesem Grundgedanken leitete Wiedemann ein allgemeines Prinzip des Verhältnisses zwischen tarifdispositivem Gesetzesrecht und demgegenüber älteren Tarifverträgen ab. Dies soll darin bestehen, dass ältere Tarifverträge gegenüber tarifdispositiven Gesetzen, die den bisherigen tariflichen Zustand übernehmen, uneingeschränkten Vorrang genießen, während sie sich gegenüber solchen Regelungen, die neue „soziale ,Eckwerte‘“433 einführen, nicht durchsetzen können.434 Wiedemann hat seinen Standpunkt in seiner aktuellen Kommentierung zum Tarifvertragsgesetz konkretisiert. Er geht nunmehr davon aus, dass geltende Tarifverträge gegenüber neuem tarifdispositivem Recht grundsätzlich ihre Gültigkeit behalten. Eine Ausnahme soll nur gelten, wenn das Gesetzesrecht eine veränderte Wertskala einführe, den Ermessenspielraum der Tarifvertragsparteien einschränke oder das verfassungsrechtliche Untermaß konkretisiere.435 Der nach der Konzeption Wiedemanns bestehende Unterschied zwischen Neuregelungen, mit denen der Gesetzgeber lediglich bestehende Zustände in Gesetzesform gefasst habe, und solchen, mit denen er eine vollkommen neue Systematik schaffen wollte, die sich deutlich von der bisherigen Rechtslage unterscheidet und die betroffene Materie sowohl umfassend als auch abschließend regelt, überzeugt nicht. Es fragt sich, ob das tarifdispositive Gesetz tatsächlich voraussetzt, dass der Tarifvertrag die gesetzliche Konzeption bewusst im Vorfeld der Regelung berücksichtigen muss. Vielmehr liegt nahe, dass es für ein Abweichen von tarifdispositivem Recht ausreicht, wenn die Tarifvertragsparteien eine bestimmte abweichende BAG (GS) vom 17. 12. 1959, BAGE 8, 285, 313 = AP Nr. 21 zu § 616 BGB. BAG (GS) vom 17. 12. 1959, BAGE 8, 285, 313 = AP Nr. 21 zu § 616 BGB. 431 BAG vom 5. 8. 1971, AP Nr. 10 zu § 622 BGB. 432 BAG vom 5. 8. 1971, AP Nr. 10 zu § 622 BGB. 433 Wiedemann, Anm. zu BAG vom 5. 8. 1971, AP Nr. 10 zu § 622 BGB. 434 Wiedemann, Anm. zu BAG vom 5. 8. 1971, AP Nr. 10 zu § 622 BGB, der aus demselben Grund auch im Rahmen des durch das ArbKrankhG eingeführten § 2 Abs. 3 LFZG abweichende ältere Tarifverträge nicht am Vorrang teilnehmen lassen will. 435 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 399. 429 430
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Regelung für eine konkrete Situation als angemessen einstufen. Der Zweck des tarifdispositiven Rechts besteht darin, den Tarifvertragspartnern die Möglichkeit zu eröffnen, die gesetzlichen Bestimmungen an spezielle betriebliche Erfordernisse sowie Besonderheiten des Einzelfalls anzupassen.436 Dabei stehen die Vermutung der materiellen Richtigkeit und die gesteigerte Flexibilität des Tarifvertrags als Regelungsinstrument im Vordergrund.437 Aus demselben Grund ist es daher unerheblich, von welchen Rahmendaten der Gesetzgeber bei der Schaffung seiner Vorschriften ausging. Allein maßgeblich ist die gesteigerte Sachnähe der Tarifvertragsparteien, die besser als der Gesetzgeber beurteilen können, welche Festlegungen den betrieblichen Erfordernissen am effektivsten dienen. Schließlich erfordert das Abweichen von bestehendem tarifdispositivem Recht nach einhelliger Ansicht nicht, dass die Tarifvertragsparteien die gesetzliche Regelung bewusst abändern wollten.438 Die tariflichen Vereinbarungen behalten ihre Situationsangemessenheit und Sachgerechtigkeit auch vollkommen unabhängig von dem mit ihnen im Zusammenhang stehenden tarifdispositiven staatlichen Recht. Das Gesetz bildet lediglich eine Wirksamkeitsschranke für den in der Normenhierarchie nachrangigen Tarifvertrag und damit die äußerste Grenze für mögliche Abweichungen. Darüber hinaus ist jedoch allein maßgeblich, dass die Tarifvertragsparteien eine bestimmte Regelung für eine konkrete betriebliche Situation für angemessen halten. Das bildet auch die teleologische Rechtfertigung für die Tarifdispositivität einzelner Arbeitnehmerschutzgesetze. Diese folgt nicht aus der Bewertung eines gesetzgeberischen Regelungsvorschlags durch die Tarifvertragsparteien, von dem sie nach ausführlicher Abwägung abweichen wollen. Daher ist anders als von Wiedemann vertreten, bei Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Übergangsregelung unabhängig von dem Charakter der Gesetzesnovelle davon auszugehen, dass vor dem Inkrafttreten einer Änderung oder Neuregelung tarifdispositiver Vorschriften bestehende abweichende Tarifverträge auch dem neuen Gesetz vorgehen. Nur so wird darüber hinaus die Rechtssicherheit gewahrt. Die Unterscheidung zwischen Gesetzen, die schlicht den bisherigen tariflichen Zustand übernehmen, und solchen, die neue Werteskalen einführen, Ermes436 Allgemein: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 698; Knorr, RdA 1979, 201, 201; für § 7 ArbZG: Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 4; für § 21a JArbSchG: Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 2; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 2; für § 4 Abs. 4 EFZG: Kaiser / Dunkl / Hold / Kleinsorge, EFZG, § 4 Rn. 109; Müller / Berenz, EFZG, § 4 Rn. 32; Schmitt, EFZG, § 4 Rn. 137; für das SeemG: Benim / Lindemann, SeemG, § 100a Rn. 2. 437 Allgemein: Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389; für § 7 ArbZG: Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 490; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 4; für § 21a JArbSchG: Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 2; für § 17 BetrAVG: Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, BTDrucks. 7 / 1281, S. 31; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 168; Höfer / Abt, BetrAVG, § 17 Rn. 109; für § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BT-Drucks. 10 / 3206, S. 33; Sandmann / Marschall, AÜG, Art. 1 § 1 Anm. 78. 438 Statt aller BAG AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG.
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sensspielräume der Tarifvertragsparteien neu ordnen bzw. das verfassungsrechtliche Untermaß konkretisieren, wird im Einzelfall nicht immer korrekt zu treffen sein. Zudem sieht der Gesetzgeber bei der Neuregelung tarifdispositiver Gesetze heute verstärkt Übergangsvorschriften vor, die das Verhältnis des neuen Gesetzes zu bereits bestehenden Tarifverträgen ordnen. Fehlen konkrete Übergangsregelungen für ältere Tarifverträge, dann muss davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber bewusst auf eine Kollisionsregelung verzichten und den bereits bestehenden Tarifverträgen den Vorrang vor dem tarifdispositiven Recht einräumen wollte. Wenn Canaris zusätzlich auf das Vertrauensschutzprinzip als ein maßgebliches Kriterium dafür zurückgreifen will, ob auch zeitlich vorausgehende Tarifverträge Vorrang vor tarifdispositiven Vorschriften haben, dann ist dies nur im Rahmen der Grundsätze des rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbots möglich. Relevant würde dies aber auch nur dann, wenn der Gesetzgeber ausdrücklich Wirksamkeitsbeschränkungen für ältere abweichende Tarifverträge in Form von Übergangsregelungen vorsieht. Selbst wenn man das Vertrauensschutzprinzip auch auf den Fall des Fehlens einer gesetzlichen Übergangsregelung anwenden will, ist die Annahme eines schutzwürdigen Vertrauens der Tarifvertragsparteien in den unveränderten Fortbestand tarifdispositiver Vorschriften äußerst problematisch.439 Auch die Möglichkeit zur einzelvertraglichen Übernahme steht einem weiten Verständnis des „Abweichens“ nicht entgegen. Man könnte der hier vertretenen Ansicht entgegenhalten, dass die Tarifvertragsparteien bei den Verhandlungen zu einem älteren Tarifvertrag noch nicht berücksichtigen konnten, dass ihre mittlerweile von tarifdispositivem Gesetzesrecht abweichende Regelung auch von Außenseitern übernommen werden kann. Dieser mögliche Einwand greift jedoch nicht durch, da es nicht Aufgabe der Tarifvertragsparteien ist, diese Erwägungen in ihre Verhandlungen einzubeziehen. Der Gesetzgeber geht von einer über die Reichweite der Tarifbindung hinausgehenden Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags aus und eröffnet deshalb in den Erstreckungsklauseln die Möglichkeit zur einzelvertraglichen Übernahme. Allein aus der gesetzgeberischen Perspektive entscheidet sich daher, ob es angemessen ist, dass ein individualvertraglicher Anschluss an die tarifliche Regelung erfolgt. Für die Tarifvertragsparteien und ihre Verhandlungen sind diese Erwägungen hingegen nicht maßgeblich. 3. Ergebnis Existiert für das Verhältnis zwischen tarifdispositiven Regelungen und zeitlich vor diesen in Kraft getretenen Tarifvertragsvereinbarungen eine gesetzliche Übergangsvorschrift, so bestimmt sich der Vorrang des älteren Tarifvertrags entsprechend den Festlegungen im Gesetz. Hat der Gesetzgeber keine eigenen Übergangs439 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 34; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG.
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regelungen getroffen, gehen auch bereits in Kraft befindliche Tarifverträge neu geschaffenen tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften vor. Dies gilt unabhängig davon, ob die gesetzliche Konzeption im Vergleich zu ihrer Vorgängerregelung eine neue Werteordnung errichten will.
II. Das Verhältnis zwischen Tariföffnungsklauseln und bereits bestehenden, mit der Vorgängerregelung inhaltlich identischen Tarifnormen Ein besonderes Problem stellt sich für das Verhältnis zwischen neuen Gesetzen und älteren Tarifverträgen, wenn die in Rede stehende Tarifvertragsvorschrift mit der ursprünglichen gesetzlichen Regelung inhaltlich identisch war. In diesem Fall kann ein bestehender Tarifvertrag gegenüber dem neuen Gesetz nur Vorrang entfalten, wenn die inhaltliche Übereinstimmung mit der gesetzlichen Vorgängerregelung nicht dazu führt, dass der tariflichen Vorschrift die eigenständige Regelungswirkung neben dem Gesetz abzusprechen ist. Relevant wird diese Frage für die in dieser Arbeit behandelte Beziehung zwischen tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften und der ausgestalteten Tarifautonomie immer dann, wenn ein ursprünglich (einseitig) zwingendes Arbeitnehmerschutzgesetz im Zuge einer Gesetzesänderung tarifdispositiv geregelt oder das Schutzniveau bestehender tarifdispositiver Gesetze heraufgesetzt wird. Dann ist zu klären, ob eine Tarifnorm, die mit der gesetzlichen Vorgängerregelung inhaltlich identisch war, nach der Gesetzesnovelle das staatliche Recht zu verdrängen vermag, d. h. deklaratorischen oder konstitutiven Charakter trägt. Im ersten Fall dient sie lediglich der Information über die neben dem Tarifvertrag ohnehin verbindliche gesetzliche Lage und soll keinen eigenen Regelungsgehalt beinhalten.440 Bei einer Änderung der gesetzlichen Ausgangssituation ist dann auch die tarifliche Regelung entsprechend anzupassen.441 Im Fall einer konstitutiven tariflichen Norm, die lediglich mit dem Gesetz inhaltsgleich ist, bleibt diese bei einer Änderung der Gesetzeslage selbstständig bestehen und weicht dann von den neuen, gegebenenfalls tarifdispositiven, gesetzlichen Vorschriften ab. Ob eine Tarifnorm deklaratorisch oder konstitutiv ist, muss nach allgemeiner Ansicht durch Auslegung der entsprechenden Vorschrift ermittelt werden.442
Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 125; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 572. Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 575. 442 BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB; Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 125; B. Sandmann, RdA 2002, 73, 74. Vgl. zu der methodischen Vorfrage, welche Auslegungsmethoden auf den Tarifvertrag überhaupt anwendbar sind und ob es sich bei der Feststellung eines Normsetzungswillens der Tarifvertragsparteien überhaupt um Auslegung handeln kann, da der Normcharakter ja erst festgestellt werden soll, aber erst eine als solche feststehende Norm der Auslegung zugänglich ist, Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 576 ff. Preis kommt letztlich aber zu dem Ergebnis, dass sich die Unterschiede in den angewendeten Auslegungsmodellen am Ende nicht auswirken. 440 441
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Die inhaltliche Identität zwischen einer Tarifvertragsregelung und dem Gesetz tritt auf, wenn die Tarifvertragsparteien auf eine bestimmte gesetzliche Vorschrift verweisen, diese wortwörtlich im Tarifvertragstext wiedergeben oder aber eine dem Gesetz inhaltsgleiche Regelung treffen. Der erste Fall des Verweises auf eine gesetzliche Vorschrift wird einhellig als eine lediglich deklaratorische Tarifvertragsbestimmung eingeordnet.443 Hinsichtlich der beiden anderen Fälle besteht jedoch Uneinigkeit zwischen der Rechtsprechung einzelner Senate des Bundesarbeitsgerichts und dem rechtswissenschaftlichen Schrifttum hinsichtlich der Feststellung, ob den mit den gesetzlichen Vorschriften übereinstimmenden Tarifnormen ein eigenständiger Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien zugrunde liegt. 1. Lösungsansätze in Rechtsprechung und Schrifttum Im Anschluss an ein Urteil des 7. Senats444 des Bundesarbeitsgerichts gehen der und der 3. Senat446 des Gerichts davon aus, dass auch bei einer wortwört2. lichen oder inhaltsgleichen Wiedergabe der gesetzlichen Regelung im Zweifel keine eigenständige Normsetzung in dem jeweiligen Tarifvertrag gewollt sei. Es handele sich nur dann um eine konstitutive tarifliche Festlegung, wenn die Tarifvertragsparteien eine im Gesetz nicht oder anders enthaltene Regelung getroffen haben oder eine den gesetzlichen Vorschriften entsprechende Vereinbarung treffen, die aber auf die Arbeitsverhältnisse im tariflichen Geltungsbereich eigentlich nicht anwendbar ist.447 Die Rechtsprechung des 2., 3. und 7. Senats des Bundesarbeitsgerichts betraf die Festlegung der Kündigungsfristen nach ihrer Vereinheitlichung durch das Kündigungsfristengesetz.448 Die Anwendung der Zweifelsregel führte im Ergebnis dazu, dass auch auf Angestellte die kürzeren Fristen des neuen § 622 BGB anzuwenden waren, obwohl die einschlägigen Tarifverträge den Inhalt der alten Gesetzeslage449 in den Vertragstext aufgenommen hatten. 445
443 Vgl. statt aller BAG vom 26. 8. 1998, AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; Buchner, NZA 1996, 1177, 1182; Preis / Kramer, DB 1993, 2125, 2129; B. Sandmann, RdA 2002, 73, 74; anders Stein, AuR 1998, 1, 11 ff. 444 BAG vom 27. 8. 1982, AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung. 445 St. Rspr. seit BAG vom 28. 1. 1988, AP Nr. 24 zu § 622 BGB; vom 21. 3. 1991, AP Nr. 30 zu § 622 BGB; vom 16. 9. 1993, AP Nr. 42 zu § 622 BGB; vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB; vom 14. 2. 1996, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; vom 14. 2. 1996, AP Nr. 50 zu § 622 BGB; vom 29. 1. 1997, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie. 446 BAG vom 10. 5. 1994, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Verkehrsgewerbe. 447 BAG vom 21. 3. 1991, AP Nr. 31 zu § 622 BGB; vom 4. 3. 1993, AP Nr. 40 zu § 622 BGB; vom 16. 9. 1993, AP Nr. 42 zu § 622 BGB; vom 29. 1. 1997, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie. 448 Vom 7. 10. 1993, BGBl. 1993 I, S. 1668. 449 Nach dem Kündigungsfristengesetz vom 9. 6. 1926 in der Fassung des Beschäftigungsförderungsgesetzes vom 26. 4. 1985, BGBl. 1985 I, S. 710.
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Fehlen in einem Tarifvertrag ausdrückliche Hinweise auf den Charakter der niedergelegten Vorschriften, was in den meisten Fällen die Regel ist, dann stellt der 2. Senat für die Beantwortung der Frage, ob ein eigenständiger Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien vorlag, auf den „wirklichen“ Willen der Tarifvertragsparteien ab, wie er im Wortlaut des Tarifvertrags Anklang gefunden hat. Als Argumente gegen das Vorliegen einer eigenständigen tariflichen Regelung bei wörtlicher Übernahme der gesetzlichen Regelung oder einer inhaltsgleichen Festlegung im Tarifvertrag führt der 2. Senat an, dass es in einem solchen Fall den Tarifvertragsparteien darum gegangen sei, die Tarifunterworfenen zu informieren sowie die Rechtslage vollständig und übersichtlich darzustellen. Mittlerweile geht der 2. Senat zudem davon aus, dass seine Rechtsprechung den Tarifvertragsparteien bekannt sein müsse. Daher sei von ihnen zu erwarten, dass sie bei inhaltsgleichen Regelungen einen eigenständigen Regelungswillen durch Zusätze im Tarifvertragstext deutlich zum Ausdruck bringen.450 Anlässlich der Absenkung der Höhe des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts von 100 % auf 80%451 hatte der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts über die Auslegung von Tarifverträgen zu entscheiden, die eine Entgeltfortzahlung in Höhe von 100 % vorsahen. Der Senat betonte, dass er die Grundsätze des 2. Senats in seiner Rechtsprechung anwende. Er ging dabei davon aus, dass der Wille der Tarifvertragsparteien, eine eigenständige Regelung schaffen zu wollen, nicht explizit zum Ausdruck kommen müsse. Es genüge vielmehr, wenn sich ein solcher Wille aus dem Gesamtzusammenhang ergebe. Anders als der 2., 3. und 7. Senat legten die Richter des 5. Senats Wert auf eine Einzelfallentscheidung und zogen sich nicht auf eine Zweifelsregel zurück. Dementsprechend entschied der 5. Senat auch in verschiedenen Fällen trotz wörtlicher Übernahme des Gesetzestexts zugunsten einer eigenständigen tarifvertraglichen Regelung.452 Zweifel an einem konstitutiven Regelungswillen sollten nach der Rechtsprechung des 5. Senats ausgeräumt werden, wenn sich aus dem tarifvertraglichen Gesamtzusammenhang eine in sich abgeschlossene, eigenständige Regelung zur Höhe der Entgeltfortzahlung ergebe.453 Der Tarifvertrag selbst müsse die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts festlegen. Es ist zu vermuten, dass sich dann, wenn der 5. Senat abweichend von seinem differenzierenden Ansatz die Zweifelsregel des 2. Senats angewendet hätte, unter den BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB = EzA § 622 BGB n. F. Nr. 52. Durch das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz vom 25. 9. 1996, BGBl. 1996 I, S. 1476. 452 BAG vom 16. 6. 1998, AP Nr. 212 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; vom 16. 6. 1998, AP Nr. 3 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gaststätten; vom 21. 10. 1998, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Klempnerhandwerk; vom 5. 5. 1999, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gaststätten; vom 16. 6. 1999, AP Nr. 7 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gaststätten; vom 16. 6. 1999, AP Nr. 220 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; vom 12. 4. 2000, AP Nr. 72 zu § 1 TVG Tarifverträge: Einzelhandel. 453 BAG vom 26. 8. 1998, AP Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Holz; vom 20. 10. 1998, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gaststätten; vom 5. 5. 1999, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Gaststätten. 450 451
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ihm vorgelegten Fällen keine eigenständigen tariflichen Regelungen hätten identifizieren lassen.454 Die Zweifelsregel des 2. und 3. Senats des Bundesarbeitsgerichts wird weitestgehend abgelehnt.455 Differenzierte Ansätze vertreten Richardi und Bengelsdorf. Bengelsdorf geht davon aus, dass nur bei der Wiedergabe zweiseitig zwingender gesetzlicher Vorschriften kein eigenständiger Regelungswille unterstellt werden könne, da den Tarifvertragsparteien in diesem Fall kein Regelungsspielraum verbleibe.456 Richardi will darüber hinaus bei der Änderung einer zwingenden gesetzlichen Vorschrift von einem Wegfall der Geschäftsgrundlage des Tarifvertrags ausgehen.457 2. Stellungnahme Die Feststellung des eigenständigen Normcharakters einer inhaltlich mit der gesetzlichen Regelung übereinstimmenden Tarifvertragsvorschrift hat von der grundsätzlichen Frage nach dem Maßstab für die Bestimmung der Normqualität auszugehen. Erst wenn die Kriterien feststehen, anhand derer sich der konstitutive oder deklaratorische Charakter einer Festlegung entscheidet, kann in einem zweiten Schritt gefragt werden, ob dafür die Auslegungsregeln und mit diesen eine Zweifelsregel angewendet werden können. a) Maßstab für die Bestimmung der Normqualität Das Bundesarbeitsgericht selbst geht davon aus, dass es sich bei der Feststellung, ob eine Tarifvertragsvorschrift konstitutiv oder deklaratorisch ist, um eine Vorstufe zur Auslegung handelt.458 Aus diesem Grund scheint es die Grundsätze für die Auslegung von Tarifverträgen nicht auf die Feststellung der Normqualität anwenden zu wollen. B. Sandmann, RdA 2002, 73, 75. LAG Thüringen vom 20. 2. 1995, DB 1995, 1030 ff.; Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 125; Creutzfeld, AuA 1995, 87; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 386; K. Gamillscheg, Anm. zu BAG vom 5. 10. 1995, SAE 1996, 277, 280; Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 584; Preis / Kramer, DB 1993, 2125, 2131; Rieble, RdA 1997, 134, 136 ff., 141; Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 534; Wedde, AuR 1996, 421, 424 ff.; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 386; ders., Anm. zu BAG vom 27. 8. 1982, AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung; nicht ganz eindeutig Worzalla, NZA 1994, 145, 146 ff., der aber die vom BAG abweichende Ansicht Bengelsdorfs für überzeugend hält; Zustimmung hingegen bei Dobberahn, Arbeitszeitrecht, Rn. 149; Bauer / Lingemann, BB 1996, Beilage Nr. 17, S. 8, 15. 456 Bengelsdorf, Anm. zu BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB; Richardi, Anm. zu BAG vom 1. 7. 1998, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Fleischwarenindustrie. 457 Richardi, Anm. zu BAG vom 1. 7. 1998, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Tarifverträge: Fleischwarenindustrie. 458 BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB = EzA § 622 BGB n. F. Nr. 52, S. 7. 454 455
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Maßgeblich für das Vorliegen einer konstitutiven Tarifvertragsvorschrift ist der so genannte Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien. Die Tarifvertragsparteien haben vielfältige Regelungsmöglichkeiten. Sie können schuldrechtliche oder normative Tarifvertragsvereinbarungen treffen. Ebenso können sie die tariflichen Bestimmungen für Abweichungen durch Dritte öffnen oder aber zwingende Regelungen vorsehen. Daher liegt es nahe, dass auch die Entscheidung zwischen einer konstitutiven oder deklaratorischen Ausgestaltung einer bestimmten Tarifvertragsvorschrift von den Tarifvertragsparteien selbst getroffen wird. Der dafür maßgebliche Normsetzungswille muss sich aus dem Tarifwerk bestimmen lassen. Bei herkömmlichen privatrechtlichen Verträgen bestimmt sich die rechtliche Verbindlichkeit der rechtsgeschäftlichen Erklärungen anhand des Erklärungsbewusstseins als einem Element einer wirksamen Willenserklärung.459 Das Vorliegen des Erklärungsbewusstseins wiederum wird durch Auslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 BGB) bestimmt. Dieser Maßstab bietet sich auch für die Feststellung des Normsetzungswillens bei einer Tarifvertragsvorschrift an. Das Tarifvertragsgesetz enthält keine Vorschriften für das Zustandekommen von Tarifverträgen, so dass der Rückgriff auf die allgemeinen vertragsrechtlichen Vorschriften durchaus sachgerecht erscheint.460 Zudem ermöglicht das Abstellen auf den objektiven „Empfängerhorizont“ der Tarifnormadressaten – insofern sind die allgemeinen vertragsrechtlichen Vorschriften zu modifizieren – die Berücksichtigung der besonderen Situation der tarifunterworfenen Arbeitsvertragsparteien.461 Diese haben in der Regel keinen ausführlichen Überblick über den Entstehungsprozess der Tarifnorm bzw. über die Herkunft des tariflichen Normguts.462 Vielmehr sind sie auf Erkenntnisse beschränkt, die sich unmittelbar aus dem Tarifvertragstext selbst ergeben. Für die Feststellung des konstitutiven oder deklaratorischen Charakters einer Tarifnorm ist daher mit Rücksicht auf den objektiven Empfängerhorizont der Tarifnormadressaten der Normsetzungswille der Tarifparteien, wie er in der Tarifvertragsregelung seinen Ausdruck gefunden hat, durch Auslegung zu ermitteln.463
459 Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 578, ordnet den Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien sogar als einen Unterfall bzw. eine besondere tarifvertragliche Ausprägung des Erklärungsbewusstseins ein. 460 Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 578. 461 Preis / Kramer, DB 1993, 2125, 2131. 462 Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 577. 463 So auch Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 125; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 23; dies., Anm. zu BAG vom 14. 2. 1996, AP Nr. 21 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; Preis / Kramer, DB 1993, 2125, 2131; Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 529.
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b) Erkenntnisse für die Normqualität aus der Auslegung der Tarifvertragsregelungen Bei der vom 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts angewendeten Regel, nach der bei fehlenden Hinweisen im Tarifvertrag die wörtliche oder inhaltsgleiche Wiedergabe des Gesetzeswortlautes den lediglich deklaratorischen Charakter der Tarifvertragsklausel nach sich zieht, handelt es sich um eine Zweifelsregel. Eine solche kann jedoch nur eingreifen, wenn eine vorhergehende Auslegung nicht zu eindeutigen Ergebnissen geführt hat. Bevor überprüft wird, inwieweit dem Bundesarbeitsgericht hinsichtlich seiner Zweifelsregel gefolgt werden kann, sind zuvor die Möglichkeiten der herkömmlichen Tarifauslegung auszuschöpfen.464 Die Tarifauslegung folgt nach allgemeiner Meinung den Regeln für die Gesetzesinterpretation. Maßgeblich sind demnach Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik sowie Sinn und Zweck der Norm. In diesem Rahmen berücksichtigt das Bundesarbeitsgericht insbesondere bei Tarifverträgen maßgeblich die praktische Tarifübung bzw. die Entstehungsgeschichte des speziellen Tarifvertrags.465 Im Hinblick auf den Wortlaut besteht lediglich Einigkeit darüber, dass die bloße Verweisung auf eine einschlägige gesetzliche Vorschrift rein deklaratorischen Charakter trägt.466 Bereits die wörtliche Übernahme des Gesetzestextes führt nicht mehr zu einem solch deutlichen Ergebnis. In diesem Fall kann die Aufnahme der gesetzlichen Vorschrift in den Tarifvertragstext sowohl als eine informatorische Übernahme der gesetzlichen Regelung oder aber als eine Aufnahme einer dem Gesetzeswortlaut entsprechenden Regelung in das Tarifvertragswerk verstanden werden. Fügen die Tarifvertragsparteien einer mit dem Gesetz identischen Regelung jedoch eindeutige Zusätze, wie beispielsweise „unabhängig von der gesetzlichen Regelung“ hinzu, dann ergibt die Wortlautbetrachtung klar, dass es sich um eine konstitutive Regelung handelt. Im Rahmen der historischen Auslegung kann die Entstehungsgeschichte, wie sie sich aus Verhandlungsprotokollen oder Protokollnotizen ergibt, wertvolle Hinweise auf die Normqualität bestimmter tarifvertraglicher Vorschriften liefern. Hat die betreffende Regelung beispielsweise erst nach langen Verhandlungen als Kompromiss Eingang in den Vertragstext gefunden, so liegt es nahe, dass die Tarifvertragsparteien sie als eigene gewollt haben.467 Der Gang der Verhandlungen kann aber auch das Gegenteil bestätigen. Dies ist anhand der jeweiligen Einzelsituation zu beurteilen. Maßgeblich können in diesem Rahmen aber nur die Materialien des jeweiligen Tarifvertrags sein. Entgegen Wedde468 ist es nicht möglich, aus den MaKamanabrou, RdA 1997, 22, 24. BAG vom 12. 9. 1984, AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung. 466 Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 125 f.; Creutzfeld, AuA 1995, 87; K. Gamillscheg, Anm. zu BAG vom 5. 10. 1995, SAE 1996, 277, 278; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 27. 467 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 25. 464 465
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terialien eines Gesetzgebungsverfahrens auf den Normcharakter bestimmter Tarifvertragsregelungen zu schließen.469 Selbst wenn das Gesetz nach Aussage der Materialien bestehende Tarifverträge unberührt lassen soll, muss sich aus den tariflichen Vereinbarungen ergeben, ob diese einen eigenständigen Regelungscharakter aufweisen oder lediglich deklaratorischer Natur sind. Das Gesetz kann den Tarifvertragsparteien nur einen Regelungsfreiraum schaffen. Ob die Tarifvertragsparteien diesen mit einer konstitutiven Regelung genutzt haben, muss sich durch Auslegung der jeweiligen Tarifnormen ergeben. In systematischer Hinsicht können der Zusammenhang einzelner Regelungskomplexe des Tarifvertrags, aber auch die Stellung der Norm innerhalb des Tarifvertragswerks Aufschluss über den Charakter der Norm geben. Diese Erkenntnismöglichkeiten sind jedoch bei der Feststellung des deklaratorischen oder konstitutiven Charakters einer Tarifnorm begrenzt. Es ist allgemein anerkannt, dass konstitutive und deklaratorische Vorschriften innerhalb eines Abschnitts des Tarifvertrags nebeneinander vorliegen können. Dennoch ist der Text einer Folgenorm für den Regelungsinhalt der vorausgegangenen Vorschriften eines Tarifvertrags nicht bedeutungslos. Ein einleuchtendes Beispiel findet sich bei Kamanabrou:470 Bei einem Tarifvertrag, der für die Regelung der Lohnfortzahlung die gesetzlichen Vorschriften wiederholt und die an diese Wiedergabe folgende Norm mit dem Satz einleitet: „Soweit dem Arbeitnehmer nicht nach den gesetzlichen Bestimmungen ein Anspruch auf Weiterzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfall zusteht . . .“, enthalten die wiederholenden Vorschriften aller Wahrscheinlichkeit nach keine eigenständige tarifliche Regelung. Bei der teleologischen Auslegung muss zwischen dem Gesamtziel des tariflichen Regelwerks und den konkreten Einzelzwecken bestimmter Tarifnormen unterschieden werden. Allgemeine Zwecksetzungen des Tarifvertrags sagen wenig über den deklaratorischen oder konstitutiven Charakter einzelner Normen aus. Ergibt sich jedoch aus einer bestimmten tariflichen Festlegung, dass diese der Absicherung des Regelungsinhalts gegen gesetzliche Änderungen der Rechtslage dient, dann folgt daraus relativ sicher der konstitutive Charakter der betreffenden Tarifnorm. Die soeben angestellten Betrachtungen zeigen, dass bereits die Auslegung der Tarifnormen wertvolle, wenn auch unterschiedlich aussagekräftige Hinweise auf die Normqualität liefern kann. Erst wenn nach Anwendung der beschriebenen Erkenntnismittel noch Zweifel bleiben, ist es angezeigt, auf eine Auslegungsregel zurückzugreifen. Für diesen Fall stellt sich die Frage, ob bei inhaltlicher Identität 468 Wedde, AuR 1996, 421, 426, der aus der amtlichen Begründung zum Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetz schloss, dass alle Tarifverträge der gesetzlichen Regelung vorgehen sollen. 469 Für das Arbeitsrechtliche Beschäftigungsförderungsgesetz, Kamanabrou, RdA 1997, 22, 25. 470 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 26.
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zwischen Tarifnorm und gesetzlicher Vorschrift im Zweifel von dem bestehenden oder fehlenden Normsetzungswillen der Tarifvertragsparteien auszugehen ist. c) Anzuwendende Zweifelsregelung Der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei wörtlicher oder inhaltsgleicher Übernahme des Gesetzestextes in einen Tarifvertrag die Tarifvertragsparteien eine unvollständige Darstellung der Rechtslage vermeiden und die Tarifunterworfenen möglichst umfassend über die anwendbaren Vorschriften informieren wollen. Er verlangt von den Parteien des Tarifvertrags, dass sie in Kenntnis dieser Rechtsprechung eine wörtliche oder inhaltsgleiche Übernahme des Gesetzestextes ausdrücklich als konstitutive Regelung kennzeichnen.471 So könnten sie vermeiden, dass eine nur deklaratorische Regelung an die veränderte gesetzliche Lage angepasst werden müsse. Entgegen Creutzfeld472 stellt es für die Tarifvertragsparteien keine unangemessene Belastung dar, durch Zusätze im Tarifvertragstext den konstitutiven Charakter der Regelungen zu verdeutlichen. Dies kann in einem Nebensatz geschehen, ohne dass ein Vorspann und ausführliche Erläuterungen zum Tarifvertrag notwendig wären.473 Das Bundesarbeitsgericht stützt seine Auslegungsregel maßgeblich auf die Erwägung, dass die Tarifvertragsparteien die Rechtsprechung kennen müssten, und knüpft nicht an die Wirkung der Tarifvertragsformulierung an. Zur Begründung einer Auslegungsregel bedarf es jedoch mehr als nur des Hinweises auf die den Tarifvertragsparteien bekannte ständige Rechtsprechung.474 Den Tarifvertragsparteien kann nicht die Last aufgebürdet werden, die Rechtsprechung ständig zu beobachten und ihre tariflichen Regelungen daran auszurichten.475 Ein Blick zurück in die Rechtsprechungsgeschichte bestätigt zudem, dass der Ausgangspunkt des 1. Senats des Bundesarbeitsgerichts noch vollkommen entgegengesetzt war.476 In seinem Urteil vom 23. 4. 1957 befand der 1. Senat über einen Tarifvertrag, der wortwörtlich den Inhalt des Hamburger Urlaubsgesetzes (HUG) übernommen hatte. Das HUG war dem Bundesverfassungsgericht wegen BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB. AuA 1995, 87; ebenso LAG Thüringen vom 20. 2. 1995, DB 1995, 1030, 1032. 473 In diesem Punkt ist dem BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB, zuzustimmen. Ebenso K. Gamillscheg, Anm. zu BAG vom 5. 10. 1995, SAE 1996, 277, 279; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 26; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 582; vgl. auch die Formulierungsbeispiele bei Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 125. 474 Buchner, SAE 1987, 45, 51; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 582, betont in diesem Zusammenhang, dass sich dadurch eine falsche Rechtsprechung unangreifbar machen könnte und ihr im voraus nachzukommen wäre. 475 Buchner, SAE 1987, 45, 51; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 582; Rieble, RdA 1997, 134, 141; B. Sandmann, RdA 2002, 73, 78. 476 LAG Thüringen vom 20. 2. 1995, DB 1995, 1030, 1031. 471 472
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Fehlens der Gesetzgebungskompetenz zur Überprüfung vorgelegt worden. Hinsichtlich der Geltungskraft dieser Tarifvertragsvorschriften entschied das Bundesarbeitsgericht, dass die Tarifvertragsparteien mit der wörtlichen Übernahme mehr als nur ihre Mitglieder informieren wollten. Sie wollten vielmehr den Inhalt des HUG für ihre Tarifunterworfenen vereinbaren und damit eine eigenständige tarifliche Regelung treffen.477 Der spätere Gegeneinwand des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichts, es habe sich bei diesem Tarifvertrag um ein spezielles Urlaubsabkommen gehandelt, für das sich der Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien manifestiert habe,478 begründet jedoch nicht, warum sich aus der inhaltlichen oder wörtlichen Identität einer Tarifvertragsregelung mit dem Gesetzeswortlaut gerade das Fehlen des Normsetzungswillens ergibt. Die vollkommen gegensätzliche Einstellung der Rechtsprechung in der Entscheidung aus dem Jahr 1957 bestätigt vielmehr, dass es willkürlich ist, welche Blickrichtung man einnimmt. Die Differenzierung zwischen deklaratorischen und konstitutiven Regelungen in einem Tarifvertrag entwickelte der 4. Senat des Bundesarbeitsgerichts im Hinblick auf § 72a ArbGG 1979.479 Dieser sah eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen eine vom Landesarbeitsgericht abgelehnte Zulassung zur Revision nur bei Rechtssachen vor, welche die Auslegung von Tarifverträgen betrafen.480 § 72a ArbGG 1979 erfasste nur so genannte tarifvertragsspezifische Regelungen. Solche lagen nach Auffassung des 4. Senats des Bundesarbeitsgerichts jedoch nicht vor, wenn die Tarifvertragsparteien einen Begriff verwendeten, der bereits eine eindeutige Auslegung erfahren hatte und somit begrifflich determiniert war.481 Der 2. Senat hat diese Rechtsprechung übernommen und auf nahezu wortgleiche Wiederholungen und Übernahmen des Gesetzestextes ausgedehnt.482 Die damit getroffene Unterscheidung, die also gar nicht als abstrakte Auslegungsregel gedacht war, diente der Entlastung der Revisionsinstanz.483 Weiterhin sollte sie die Rechtseinheitlichkeit bei der Auslegung von Tarifverträgen über einen Landesarbeitsgerichtsbezirk hinaus sichern.484 Angesichts dieser beschränkten Zwecksetzung können die Grundsätze zum Vorliegen einer tarifvertragsspezifischen Regelung nicht unbesehen auf die Feststellung der Normqualität einer Tarifvertragsvorschrift als solcher übertragen werden.
477 BAG vom 23. 4. 1957, AP Nr. 1 zu § 1 TVG; vgl. auch BAG vom 5. 3. 1957, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Rückwirkung. 478 BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB. 479 So auch LAG Thüringen vom 20. 2. 1995, DB 1995, 1030, 1031. 480 Creutzfeld, AuA 1995, 87, 89; und BAG vom 16. 1. 1980, AP Nr. 3 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz. 481 BAG vom 16. 1. 1980, AP Nr. 3 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz. 482 Vgl. BAG vom 26. 3. 1981, AP Nr. 17 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz. 483 Creutzfeld, AuA 1995, 87, 90. 484 Creutzfeld, AuA 1995, 87, 90.
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Die Anwendung der Zweifelsregel hat darüber hinaus noch einen praktischen Hintergrund. Das Bundesarbeitsgericht konnte so der vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich offen gelassenen Frage485 ausweichen, inwieweit die Entscheidung der Verfassungsrichter Auswirkungen auf die Gültigkeit von Tarifnormen hat.486 Indem es tarifliche Kündigungsfristen, die dem für verfassungswidrig erklärten § 622 BGB a. F.487 entsprachen, als lediglich deklaratorische Tarifvertragsbestimmungen einordnete, erfolgte für diese automatisch eine Anpassung an die aktuelle gesetzliche Lage.488 Eine richterliche Stellungnahme wurde entbehrlich. Anders gestaltet sich der tatsächliche Hintergrund für die Rechtsprechung zur Entgeltfortzahlung. Hier stand nicht die Verfassungswidrigkeit der in den Vertragstext aufgenommenen gesetzlichen Regelungen im Raum. Dementsprechend erklären sich auch die differenzierenden Lösungen des 5. Senats. Das Ergebnis deklaratorischer Tarifvertragsklauseln war hier nicht von vornherein erwünscht. Basiert eine Auslegungsregel auf einer vorwiegend rechtspolitischen Motivation, erwächst die Gefahr, dass sie immer noch angewendet wird, obwohl sich die Rahmenbedingungen geändert haben und sie so den zu entscheidenden Fallkonstellationen nicht mehr gerecht wird. Ziel einer Auslegungsregel sollte es jedoch sein, Ergebnisse zu produzieren, die tatsächlich den Gepflogenheiten des Rechtsverkehrs entsprechen und unabhängig von den konkreten Besonderheiten des zugrunde liegenden Sachverhaltes den Regelungsinhalt einer Tarifnorm offenbaren, den die Tarifvertragsparteien im Zweifel erzielen wollten. Die Erwägung des 2. Senats, die Tarifvertragsparteien nähmen die gesetzlichen Regelungen zu bloßen Informationszwecken in die Systematik ihres Tarifvertragsinhalts als ausformulierten Bestandteil auf, überzeugt ebenfalls nicht. Das Informationsziel und die Vollständigkeit der Rechtslage könnten die Tarifpartner auch durch eine Verweisung auf das betreffende Gesetz oder die Bereitstellung eines die gesetzliche Regelung wiedergebenden Anhangs zum Vertragstext sicherstellen.489 Tatsächlich erfüllt die nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts allein aus Gründen der Vollständigkeit und Klarheit motivierte Übernahme der gesetzlichen Regelungen in den Vertragstext ihre Funktion im Falle einer Gesetzesänderung nicht mehr.490 Vielmehr stiftet sie nichts als Verwirrung. Das Vorliegen einer lediglich deklaratorischen Regelung bewirkt, dass statt des in der Tarifvertragsurkunde verVgl. BVerfG vom 30. 5. 1990, BVerfGE 82, 126, 154. Rieble, RdA 1997, 134, 137. 487 Mit Beschluss vom 30. 5. 1990, BVerfGE 82, 126, 145 ff. 488 Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 125. 489 Creutzfeld, AuA 1995, 87, 88; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 591; Rieble, RdA 1997, 134, 139; B. Sandmann, RdA 2002, 73, 77; Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 534; Wedde, AuR 1996, 421, 424; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 386, und Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 386, weisen zutreffend darauf hin, dass sich zudem die Frage aufdrängt, warum gerade diese bestimmte und nicht auch andere relevante gesetzliche Vorschriften zu Informationszwecken in den Tarifvertragstext übernommen wurden. 490 Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 592; Rieble, RdA 1997, 134, 139. 485 486
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ankerten Wortlauts der geänderte Gesetzeswortlaut gilt. Die tatsächliche Rechtslage stimmt dann nicht mehr mit der tariflichen Regelung überein, die im Grunde nur der Übersichtlichkeit und Klarheit dienen sollte. Zwar ist es richtig, dass sich Tarifverträge in der Regel schneller und einfacher ändern und damit auch an die Veränderung äußerer Umstände anpassen lassen.491 Dennoch ist dafür immerhin die Einigung der Tarifvertragsparteien notwendig, was in der Zwischenzeit zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit bei den tarifunterworfenen Arbeitsvertragsparteien führt.492 Abzulehnen ist auch der Standpunkt der Rechtsprechung, dass in einem tariflichen Regelungskomplex, der sowohl von der gesetzlichen Rechtslage abweichende als auch mit ihr identische Regelungsbestandteile enthält, einige Tarifvertragsvorschriften konstitutiv, andere hingegen deklaratorisch sein sollen.493 Damit werden Teilregelungen aus ihrem Gesamtzusammenhang gerissen.494 Die Feststellung, dass eine Bestimmung, die einer gesetzlichen Vorschrift inhaltlich entspricht, keinen eigenständigen Regelungscharakter tragen könne, ist eine bloße Behauptung und entbehrt der erforderlichen Begründung.495 Im Hinblick auf die Arbeitsvertragsparteien unterstellt das Bundesarbeitsgericht die Kenntnis der maßgeblichen Rechtslage und wendet sich damit gegen das Argument, die Zweifelsregel führe zu Rechtsunsicherheit bei den Normadressaten.496 Die Feststellung, ob eine Tarifvorschrift wort- oder inhaltsgleich mit einer gesetzlichen Regelung ist, kann der juristische Laie – und um niemand anderen handelt es sich in der Regel bei den Arbeitsvertragsparteien – kaum durchführen.497 Dieser müsste in den kritischen Fällen einer zwischenzeitlich erfolgten Gesetzesänderung den Wortlaut des Tarifvertrags mit dem Wortlaut der vormals maßgeblichen Rechtsvorschriften vergleichen.498 Da das Bundesarbeitsgericht zudem davon ausSo das Argument des BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB. Nicht gefolgt werden kann hingegen der Argumentation von Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 586, dass eine Gesetzesänderung in der Regel nur einer Seite nützen wird, die sich dann gegen eine Tarifvertragsänderung wehren wird. Im Falle einer deklaratorischen Klausel ist das gerade unerheblich, da es für den Regelungsinhalt eben nur auf das (geänderte) Gesetz ankommt, so dass die mangelnde Anpassung des Tarifvertrags der sich wehrenden Tarifpartei keine Vorteile bringt. Treffend ist demgegenüber der Hinweis Riebles, RdA 1997, 134, 140 f., der anmerkt, dass eine Tarifnorm, die vom Gesetz abweicht und deshalb konstitutiv ist, bei einer Gesetzesänderung, die zu Inhaltsgleichheit führt, deklaratorisch wird. Die einvernehmliche Einfügung eines Zusatzes, der entsprechend der BAG-Rechtsprechung den konstitutiven Charakter klarstellt, könnte von der tariflichen Gegenseite abgelehnt werden. Rieble sieht darin eine unnötige Belastung der Tarifverhandlungen. 493 So insbesondere BAG vom 29. 1. 1997, AP Nr. 22 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie. 494 Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 127; Worzalla, NZA 1994, 145, 146. 495 Mit dieser Kritik auch Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 126. 496 BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB. 497 K. Gamillscheg, Anm. zu BAG vom 5. 10. 1995, SAE 1996, 277, 279 f.; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 584; Rieble, RdA 1997, 134, 140. 498 Creutzfeld, AuA 1995, 87, 89. 491 492
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geht, dass Teile einer tariflichen Regelung, die dem Gesetz entsprechen, deklaratorisch sind, während die übrigen Regelungen konstitutiv seien, müsste der Tarifnormadressat Regelungskomplexe auf ihre Übereinstimmung mit den gesetzlichen Regelungen überprüfen, was bei der modernen Regelungstechnik des Gesetzgebers alles andere als leicht möglich ist.499 Unterstellt man, dass die betroffenen Arbeitsvertragsparteien dazu in der Lage sind, dann fragt sich, warum die Tarifvertragsparteien mit ihrer wort- oder inhaltsgleichen Regelung ihre Mitglieder überhaupt noch über die gesetzliche Rechtslage unterrichten müssen. Vor diesem Hintergrund ist vielmehr davon auszugehen, dass die mit „Normsetzungsbefugnissen“ ausgestatteten Tarifvertragsparteien grundsätzlich ihre Rechtsmacht nutzen wollen, wenn sie Vereinbarungen in ihrem Tarifvertragswerk niederlegen, und einen davon abweichenden Willen ausdrücklich verdeutlichen.500 Diese Einschätzung wird zum einen der Bedeutung der Tarifvertragsparteien als Interessenvertreter gerecht.501 Zum anderen findet sich dieser Grundsatz gleichermaßen im Hinblick auf das Verhältnis zwischen privatvertraglichen Regelungen und dispositiven bürgerlich-rechtlichen Vorschriften wieder. Auch hier tritt die gesetzliche Bestimmung in den Hintergrund, sobald eine vertragliche Vereinbarung existiert.502 Den dispositiven gesetzlichen Regelungen kommt eine Leitbildfunktion zu, sie sind aber gegenüber autonomen Abmachungen vollkommen subsidiär.503 Insbesondere im Hinblick auf tarifdispositive gesetzliche Vorschriften fragt sich, warum für diese im Verhältnis zum Tarifvertrag etwas anderes gelten soll.504 Es 499 LAG Thüringen vom 20. 2. 1995, DB 1995, 1030, 1032; Creutzfeld, AuA 1995, 87, 89; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 585. 500 LAG Thüringen vom 20. 2. 1995, DB 1995, 1030, 1032; Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 126; Creutzfeld, AuA 1995, 87; K. Gamillscheg, Anm. zu BAG vom 5. 10. 1995, SAE 1996, 277, 279; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 592; B. Sandmann, RdA 2002, 73, 77, dem allerdings insoweit zu widersprechen ist, dass aus § 1 Abs. 1 TVG, der deklaratorische Tarifvertragsvorschriften nicht erwähnt, keine Schlüsse gezogen werden können; Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 584; Wiedemann, Anm. zu BAG vom 27. 8. 1982, AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung. Auch die Ausführungen des 2. Senats, vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB, klingen eher zweifelnd, wenn betont wird, dass im Fall der inhaltlichen Übernahme gesetzlicher Regelungen ein Normsetzungswille der Tarifvertragsparteien fehlen kann. Nach Rieble, RdA 1997, 134, 140, ergibt sich die konstitutive Wirkung der Regelungen aus der Niederlegung in der Tarifurkunde. Aus dem in § 154 BGB zum Ausdruck kommenden allgemeinen Grundsatz des bürgerlichen Rechts, dass der Inhalt einer Urkunde auch vollständig vom Regelungswillen der Vertragsparteien umfasst wird, folgert Rieble, dass die Tarifurkunde für den gesamten in ihr enthaltenen ausformulierten Text den Regelungswillen indiziert. 501 LAG Thüringen vom 20. 2. 1995, DB 1995, 1030, 1032; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 590. 502 Vgl. nur Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 3 Rn. 100, § 28 Rn. 105. 503 Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 3 Rn. 100 f.; Larenz / Canaris, Lehrbuch des Schuldrechts II / 1, S. 4. 504 Das BAG hatte dies in seiner Entscheidung vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB, ausdrücklich offen gelassen; Rieble, RdA 1997, 134, 139, betont ausdrücklich, dass mit der
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liegt nahe, im Fall der inhaltlichen oder wörtlichen Identität davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien den gesetzlichen Status quo tarifvertraglich absichern wollten.505 Dass eine zukünftige Gesetzesänderung nicht mit Sicherheit eintritt, ist kein tragfähiges Argument gegen einen diesbezüglichen Regelungswillen der Tarifparteien.506 Zudem kann eine wort- oder inhaltsgleiche tarifliche Regelung zusätzlich die ausdrückliche Entscheidung der Tarifvertragsparteien enthalten, dass sich die Rechtspositionen der Arbeitnehmer nicht im Vergleich zur gesetzlichen Ausgangssituation verschlechtern sollen.507 Auch wenn es sich bei der gesetzlichen Regelung um eine zwingende handelt, ist entgegen Richardi und Bengelsdorf ein eigenständiger Regelungswille der Tarifvertragsparteien nicht ausgeschlossen. Zwar ist richtig, dass den Tarifvertragsparteien für den Zeitraum, in denen die zweiseitig zwingenden Vorschriften Geltung beanspruchen, kein Regelungsspielraum zusteht.508 Gerade im Bereich des Arbeitsrechts, das einer starken Entwicklung und damit einer erhöhten gesetzgeberischen Aktivität unterworfen ist, kann es jedoch durchaus im Interesse der Tarifvertragsparteien liegen, den gesetzlichen Zustand tarifvertraglich gegen verschlechternde Änderungen abzusichern. Darüber hinaus können die mit dem Gesetz inhaltsgleichen Regelungen, erkennt man sie als konstitutive Tarifnormen an, gegenüber dem Gegenspieler eingefordert werden und nehmen an der Friedenspflicht teil.509 Wenn man die Entstehung der Differenzierung zwischen deklaratorischen und konstitutiven Tarifvertragsregelungen im Zusammenhang mit § 72a ArbGG berücksichtigt, wird insbesondere klar, dass mit einer wortgleichen oder inhaltlich identischen Übernahme einer gesetzlichen Vorschrift in den Tarifvertrag, vor allem wenn es sich um eine zwingende Vorschrift handelte, die Tarifvertragsparteien lediglich auf die Verwendung eigener tarifvertragsspezifischer Begriffe mit eigener Auslegung verzichten wollten und sich lediglich der gesetzlichen Terminologie angeschlossen haben.510 Damit geht jedoch nicht der Verzicht auf eine verbindliche tarifvertragliche Regelung einher. Dass Tarifvertragsregelungen Kompromisslösungen darstellen, spricht nicht per se gegen die Annahme, dass grundsätzlich ein Normsetzungswille besteht, dessen Fehlen ausdrücklich gekennzeichnet werden muss. Insbesondere bei der AbweiWiederholung einer gesetzlichen Vorschrift bezweckt werden kann, sie „zwingend“ zu machen, wenn das Gesetz (tarif)dispositiv ist. 505 Creutzfeld, AuA 1995, 87; Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 126; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 583; Rieble, RdA 1997, 134, 139; Wiedemann, Anm. zu BAG vom 27. 8. 1982, AP Nr. 133 zu § 1 TVG Auslegung, der insbesondere ausführt, dass jeder Normgeber, der fremde Rechtssätze wiederholt, sie im Zweifel in seinen eigenen Rechtsetzungswillen aufnimmt. 506 B. Sandmann, RdA 2002, 73, 78. 507 Creutzfeld, AuA 1995, 87; Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 126. 508 Bengelsdorf, NZA 1991, 121, 126; ders., Anm. zu BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB. 509 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 386. 510 Creutzfeld, AuA 1995, 87, 90. 9*
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chung von tarifdispositiven Vorschriften kann durchaus das gesetzliche Schutzniveau den zwischen den Tarifvertragsparteien erzielten Kompromiss verkörpern.511 Richtig ist, dass der Kompromiss auch im Fehlen einer eigenständigen Regelung bestehen kann.512 Das besagt aber nur, dass man aus dem Kompromisscharakter des Tarifvertrags keine verbindliche Auslegungsregel ableiten kann und der Normsetzungswille nicht per se fehlt.513 Alternativvorschläge, die im Zweifel immer die arbeitnehmerfreundliche Auslegung wählen wollen,514 verkennen, dass Tarifverträge sich zwar primär zum Schutz der Arbeitnehmerseite entwickelt haben, dass sie aber auf Verhandlungen sich gegenüberstehender gegensätzlicher Interessengruppen beruhen. Der ihnen dadurch zukommende Kompromisscharakter schließt es aus, stets von der arbeitnehmerfreundlichsten Auslegung auszugehen.515 Zudem dient die Tarifautonomie beiden Seiten des Interessengegensatzes. Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist kein reines Arbeitnehmergrundrecht.516 Dementsprechend ist davon auszugehen, dass zur Normsetzung befugte Institutionen von der ihnen zukommenden Kompetenz in der Regel auch Gebrauch machen wollen. Sollte ausnahmsweise das Gegenteil der Fall sein, dann müssen die Tarifvertragsparteien die betroffenen Tarifvertragsregelungen deutlich als deklaratorisch kennzeichnen. Der Zweifelsregel des Bundesarbeitsgerichts ist somit nicht zu folgen. Grundsätzlich haben Normen eines Tarifvertrags konstitutiven Charakter, auch wenn es sich um eine wort- oder inhaltsgleiche Übernahme des Gesetzestextes handelt. Ergibt die Anwendung der herkömmlichen Auslegungsregeln kein eindeutiges Ergebnis, dann ist im Zweifel eine konstitutive Tarifvertragsnorm anzunehmen. 3. Einfluss der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG auf die Bestimmung des konstitutiven oder deklaratorischen Charakters von Tarifnormen Das Bundesarbeitsgericht geht davon aus, dass sich durch die Anwendung seiner Zweifelsregel kein Konflikt mit der verfassungsrechtlichen Garantie der TarifLAG Thüringen vom 20. 2. 1995, DB 1995, 1030, 1032. BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB; dies einräumend auch Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 583. 513 So zutreffend Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 583. 514 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 386; ders., Gemeinsame Anm. zu BAG vom 14. 11. 1973, AP Nr. 16 und vom 14. 11. 1973, Nr. 17 zu § 1 TVG Tarifverträge: Bau; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 151; Kempen / Zachert, TVG, Grundl. Rn. 330. 515 LAG Hamm vom 26. 6. 1991, LAGE Nr. 5 zu § 1 TVG Auslegung; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 588; Bauer / Lingemann, BB 1996, Beilage Nr. 17, S. 8, 15 f.; Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 265 Rn. 23. 516 Rieble, RdA 1997, 134, 138. 511 512
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autonomie ergibt.517 Die Verfassungsgarantie enthalte auch das Recht, auf eine eigene Normsetzung zu verzichten. Die Missachtung dieses Willens stelle ebenso einen unzulässigen Eingriff in die Tarifautonomie dar, wie die Missachtung eines Normsetzungswillens.518 Maßgeblich sei, durch Auslegung zu ermitteln, was die Tarifvertragsparteien tatsächlich gewollt haben.519 Demgegenüber finden sich jedoch auch Stellungnahmen, die in der Auslegungsregel des Bundesarbeitsgerichts eine Beeinträchtigung der Tarifautonomie erblicken.520 So führt Preis beispielsweise aus, dass es mit der aus der Verfassungsgarantie folgenden Souveränität der Tarifvertragsparteien schwerlich vereinbar sei, diesen die Last einer ständigen Beobachtung der Rechtsprechung und die Pflicht zu einer entsprechenden Klarstellung der eigenen Tarifnormen aufzubürden.521 Sandmann erblickt in der dem Wortlaut der Tarifverträge widersprechenden Auslegung des Bundesarbeitsgerichts einen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Tarifautonomie.522 Die Pauschalisierung zugunsten einer Seite verändere das Verhandlungsgleichgewicht, verletze das Gebot der Neutralität des Bundesarbeitsgerichts und sei aus diesem Grunde vor dem Hintergrund der Tarifautonomie bedenklich.523 Nach Wedde werden die Tarifvertragsparteien durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Spielball des Gesetzgebers, der durch Abwandlung der in Bezug genommenen gesetzlichen Vorschriften den Wesensgehalt der Tarifverträge bis hin zur Unkenntlichkeit verändern könne.524 Ob diese verfassungsrechtlichen Bedenken gerechtfertigt sind, hängt von Art und Umfang der verfassungsrechtlichen Garantie der Tarifautonomie in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ab. Diese Frage wird Gegenstand des zweiten und dritten Teils dieser Arbeit sein und soll daher im Zusammenhang mit den verfassungsrechtlichen Aspekten des Verhältnisses zwischen tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht und Tarifautonomie beantwortet werden. III. Zusammenfassung Das Abweichen im Sinne der Tariföffnungsklauseln erfordert keinen eigenständigen Abweichungswillen. Die Tarifvertragsparteien müssen daher nicht in dem 517 Zu Art und Umfang des Verfassungsschutzes hinsichtlich der Tarifautonomie vgl. unten § 6, S. 241 ff. 518 BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB. 519 BAG vom 5. 10. 1995, AP Nr. 48 zu § 622 BGB. 520 Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 583; B. Sandmann, RdA 2002, 73, 77 f.; Wedde, AuR 1996, 421, 425; Bedenken äußert Creutzfeld, AuA 1995, 87; K. Gamillscheg, Anm. zu BAG vom 5. 10. 1995, SAE 1996, 277, 278, vermisst zumindest die Auseinandersetzung mit Art. 9 Abs. 3 GG. 521 Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 583. 522 B. Sandmann, RdA 2002, 73, 77. 523 B. Sandmann, RdA 2002, 73, 78. 524 Wedde, AuR 1996, 421, 425.
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Bewusstsein handeln, dass sie von einer tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschrift abweichen. Entsprechend dem teleologischen Hintergrund der Tariföffnungsklauseln genügt es vielmehr, dass sie eine bestimmte Regelung für sach- und interessengerecht halten, was sie durch ihr regelndes Tätigwerden zum Ausdruck bringen. Daher macht es für die Anwendbarkeit der Tariföffnungsklauseln keinen Unterschied, ob eine Tarifvertragsregelung bereits vor dem Inkrafttreten eines tarifdispositiven Gesetzes oder erst danach geschaffen wurde. Auch die inhaltliche Identität zwischen Tarifvertrag und zwingendem bzw. tarifdispositivem Gesetz wirkt sich nicht nachteilig auf die Durchsetzungskraft einer Tarifnorm bei einer Änderung der Rechtslage aus. Allein die inhaltliche oder wörtliche Übereinstimmung einer Tarifnorm mit dem Gesetzeswortlaut liefert keinen Anhaltspunkt für das Fehlen eines konstitutiven Regelungswillens der Tarifvertragsparteien.
C. Die gegenständliche Reichweite der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis im Geltungsbereich tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts Einige Tariföffnungsklauseln legen genau fest, in welcher Art und Weise die Tarifvertragsparteien die tarifdispositiven gesetzlichen Bestimmungen abwandeln dürfen (vgl. § 7 Abs. 1, § 12 S. 1 ArbZG). Daneben existieren aber auch solche, die keine inhaltlichen Anforderungen an die Abweichung vorsehen, sondern bestimmte arbeitsrechtliche Vorschriften vollständig zur Disposition der Tarifvertragsparteien stellen (vgl. § 13 BUrlG, § 4 Abs. 4 EFZG, § 17 Abs. 3 BetrAVG, § 622 Abs. 4 BGB).
I. Der mittelbare Eingriff in unabdingbare Arbeitsrechtsvorschriften Wenn tarifdispositive Regelungskomplexe neben den zur Disposition der Tarifvertragsparteien stehenden Normen zusätzlich (einseitig) zwingende gesetzliche Festlegungen enthalten, dann ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen den in den zwingenden Vorschriften geregelten Grundsätzen und der tariflichen Abweichungsbefugnis. Die Rechtsprechung bestimmt deshalb die Reichweite der Tarifdispositivität unterschiedlich restriktiv. Unter dem Stichwort des Verbots mittelbarer Eingriffe der Tarifvertragsparteien in unabdingbare Grundvorschriften offenbart sich der Konflikt zwischen dem in den Tariföffnungsklauseln zum Ausdruck kommenden Vertrauen in die materielle Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags und der Aufrechterhaltung einheitlicher Mindeststandards, die in keinem Fall unterschritten werden sollen. Ein Nebeneinander zwingender und tarifdispositiver Vorschriften innerhalb desselben Regelungskomplexes ohne konkrete inhaltliche Vorgaben in den Tariföffnungsklauseln für die Abweichung findet sich für das gesamte Urlaubsrecht, die
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Regelung der Kündigungsfristen, die Berechnung des im Krankheitsfall fortzuzahlenden Arbeitsentgelts und einzelnen Vorschriften zur betrieblichen Altersversorgung. Einigkeit besteht im Hinblick auf die Bestimmung der Reichweite der Tarifdispositivität in diesen Bereichen in dem Punkt, dass die Tarifvertragsparteien die unabdingbaren Grundvorschriften nicht untergraben und damit mittelbar die zwingenden Normen beeinträchtigen dürfen.525 Besondere Aktualität entfaltet die immanente Beschränkung der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis für das Gleichstellungsgebot der §§ 9 Nr. 2 und 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG, die nach ihrem Wortlaut keine Einschränkungen der Tarifdispositivität der Vorschriften enthalten, aber möglicherweise durch das dem Gesetz zugrundeliegende Konzept Begrenzung erfahren. 1. Mittelbare Eingriffe in die unabdingbaren Grundprinzipien des Urlaubsrechts Das Bundesarbeitsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass tarifvertragliche Regelungen trotz der in § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG angeordneten weitreichenden Tarifdispositivität der Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes bei einer Abweichung nicht in die unabdingbaren Regelungen der §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 BUrlG eingreifen dürfen.526 Erhebliche Auswirkungen zeitigt diese Rechtsprechung für die Bestimmung des Urlaubsentgelts. Die in § 11 BUrlG vorgesehene Berechnungsmethode ist gemäß § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG grundsätzlich tarifdispositiv. Dementsprechend sah der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts auch tarifliche Urlaubsentgeltberechnungssysteme als zulässig an, die den Arbeitnehmer in einzelnen Aspekten schlechter stellten, als die gesetzliche Regelung es vorsah.527 Der 525 BAG vom 10. 2. 1966, AP Nr. 1 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit (mit ablehnender Anm. Witting); vom 20. 3. 1969, AP Nr. 3 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit (mit zustimmender Anm. Thiele); vom 18. 6. 1980, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit; vom 8. 10. 1981, AP Nr. 3 zu § 47 BAT (Boldt); vom 8. 3. 1984, AP Nr. 15 zu § 13 BUrlG; vom 10. 2. 1987, AP Nr. 12 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit; LAG Bremen, vom 7. 9. 1966, BB 1967, 838; Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 53; Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 16; Boldt, Festschrift für Nipperdey II, S. 11, 17 ff.; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 176; Dörner, in: ErfK, § 13 BUrlG Rn. 10; Gaul / Boewer, Probleme des Urlaubsrechts, S. 133; Höhne, in: Heubeck / Höhne / Paulsdorff / Rau / Weinert, BetrAVG I, § 17 Rn. 115; Leinemann / Link, Urlaubsrecht, § 13 Rn. 6 f.; Natzel, BUrlG, § 13 Rn. 9 f; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 16; Schelp / Herbst, BUrlG, § 13 Rn. 5 ff.; Schütz, in: ders. / Hauck, Handbuch des Urlaubsrechts, Rn. 904; ders., in: KassHBArbR, 2.4 Rn. 799; Siara, BUrlG, § 13 Anm. 2b; a. A. LAG Frankfurt, vom 7. 1. 1964, DB 1964, 959, 960. 526 BAG vom 10. 2. 1966, AP Nr. 1 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit (mit ablehnender Anm. Witting); vom 20. 3. 1969, AP Nr. 3 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit (mit zustimmender Anm. Thiele); vom 18. 6. 1980, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit; vom 8. 10. 1981, AP Nr. 3 zu § 47 BAT (Boldt); vom 8. 3. 1984, AP Nr. 15 zu § 13 BUrlG; vom 10. 2. 1987, AP Nr. 12 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit; vom 12. 12. 2000, AP Nr. 27 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie; vom 22. 2. 2002, AP Nr. 171 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie.
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5. und 6. Senat leiteten aus § 1 BUrlG, der jedem Arbeitnehmer einen Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub verschafft, das so genannte „Lebensstandardprinzip“ ab.528 Danach sei „bezahlter Erholungsurlaub“ im Sinne dieser Regelung so zu verstehen, dass es dem Arbeitnehmer möglich ist, seinen bisherigen Lebenszuschnitt beizubehalten. Geringfügige Abweichungen in der Entgelthöhe seien unschädlich.529 Der 8. Senat des Bundesarbeitsgerichts übernahm diese Rechtsprechung nach dem Zuständigkeitswechsel nicht. Die Richter gingen davon aus, dass das Urlaubsentgelt anhand des Produkts aus einem Zeit- und einem Geldfaktor zu bestimmen sei. § 11 Abs. 1 BUrlG regele ausdrücklich nur den Geldfaktor. Aus der Norm ergebe sich aber, dass die zu vergütende Urlaubszeit sich nach der Dauer der Arbeitszeit richtet, die konkret ausgefallen ist. § 11 Abs. 1 BUrlG enthalte ein gemischtes System der Bemessung des Urlaubsentgelts. Für die Bestimmung des Zeitfaktors wendete der 8. Senat das Lohnausfallprinzip an,530 hielt tarifvertragliche Abweichungen davon aber grundsätzlich gemäß § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG für zulässig.531 Der 9. Senat des Bundesarbeitsgerichts ging in der Folgezeit über diese Rechtsprechung hinaus. Der Zeitfaktor und dessen Bestimmung nach dem Lohnausfallprinzip seien Teil der Festlegung in § 1 BUrlG.532 Die Tarifvertragsparteien könnten davon nicht gemäß § 13 Abs. 1 BUrlG abweichen.533 Selbst Mehrarbeitsstunden seien beim Zeitfaktor zu berücksichtigen, lediglich den Geldfaktor könnte eine tarifliche Vereinbarung gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 BUrlG kürzen.534 Im Ergebnis führt das dazu, dass die Tarifvertragsparteien über die Zusammensetzung der durch das Urlaubsentgelt vergüteten Arbeitszeit nicht disponieren können. Lediglich die Entgeltsätze können sie abweichend von § 11 Abs. 1 BUrlG ermitteln. Aber auch in dieser Hinsicht zieht ihnen der 9. Senat des Bundesarbeitsgerichts Grenzen, indem er fordert, dass die von den Tarifvertragsparteien gewählte Berechnungsmethode sicherstellen muss, dass die Arbeitnehmer ein Urlaubsentgelt erhalten, 527 Vgl. BAG vom 20. 3. 1969, AP Nr. 3 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit; vom 27. 1. 1981, AP Nr. 2 zu § 47 BAT; vom 8. 10. 1981, AP Nr. 3 zu § 47 BAT. 528 BAG vom 20. 3. 1969, AP Nr. 3 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit (mit zustimmender Anm. Thiele); Begriff verwendet von Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 62. 529 BAG vom 20. 3. 1969, AP Nr. 3 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit (mit zustimmender Anm. Thiele). 530 BAG vom 7. 7. 1988, AP Nr. 22 und 23 zu § 11 BUrlG; vom 12. 1. 1989, AP Nr. 13 zu § 47 BAT. 531 BAG vom 7. 7. 1988, AP Nr. 22 zu § 11 BUrlG. 532 BAG vom 9. 11. 1999, AP Nr. 47 zu § 11 BUrlG; vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG. 533 BAG vom 22. 2. 2000, AP Nr. 171 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; vom 9. 6. 1998 – 9 AZR 502 / 97 – n. v.; zustimmend: Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 768; Dörner, in: ErfK, § 13 Rn. 48 f.; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 Rn. 103; Neumann / Fenski, BUrlG, § 11 Rn. 83. 534 BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG; vom 9. 11. 1999, AP Nr. 47 zu § 11 BUrlG; abweichend in einem obiter dictum diesbezüglich allerdings ebenfalls der 9. Senat: BAG vom 12. 12. 2000, AP Nr. 27 zu § 1 TVG Tarifverträge: Textilindustrie
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wie sie es bei Weiterarbeit ohne Freistellung voraussichtlich hätten erwarten können.535 Dies sei nicht mehr der Fall, wenn der Tarifvertrag beim Urlaubsentgelt Zuschläge für die Lage der Arbeitszeit unberücksichtigt ließe.536 Denkbar seien lediglich Pauschalierungen hinsichtlich variabler Lohnbestandteile, durch die sich im Einzelfall auch eine Verringerung des Entgeltanspruchs ergeben könne.537 Ebenso könnten die Tarifvertragsparteien ohne weiteres den Referenzzeitraum im Rahmen des § 11 Abs. 1 S. 1 BUrlG abweichend bestimmen oder vom Referenzzum Lohnausfallprinzip wechseln.538 Die Kritik an dieser Rechtsprechung richtet sich vor allem dagegen, dass das Gericht auf diese Weise § 11 BUrlG entgegen dem eindeutigen Wortlaut des § 13 Abs. 1 BUrlG für unabdingbar erkläre.539 Das Bundesarbeitsgericht wendet die Figur des mittelbaren Eingriffs auch auf tarifvertragliche Regelungen zu Teilurlaubsansprüchen der Arbeitnehmer an. Diese können sich gemäß § 5 Abs. 1 a) bis c) BUrlG ergeben, wenn ein Arbeitnehmer nicht ein volles Kalenderjahr gearbeitet hat. Der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts erachtete tarifvertragliche Regelungen als zulässig, die abweichend von § 5 Abs. 1 BUrlG für das Ein- und Austrittsjahr eines Arbeitnehmers eine Zwölftelung des Urlaubsanspruches vorsahen.540 Ebenso sollte die Teilurlaubsregelung des § 5 Abs. 1 b) BUrlG für die Tarifvertragsparteien vollständig abdingbar sein.541 Für § 5 Abs. 1 c) BUrlG entschied hingegen der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts, dass der nach abgelaufener Wartezeit entstandene Urlaubsanspruch mit dem in den §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG erwähnten unabdingbaren Urlaubsanspruch identisch sei, der sich einer tarifvertraglichen Disposition vollständig entziehe.542 Die Regelungen in § 5 Abs. 1 a) und b) BUrlG sollen jedoch auch weiterhin vollständig tarifdispositiv sein, da in diesen Fällen ein Urlaubsanspruch noch nicht entstanden und ein Eingriff in §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG nicht möglich sei.543 BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG. BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG; ähnlich bereits BAG vom 12. 1. 1989, AP Nr. 13 zu § 47 BAT = BAGE 61, 1, 4. 537 BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG; Dörner, in: ErfK, § 13 Rn. 47; ausdrücklich offen gelassen hat das BAG in seiner Entscheidung vom 2. 6. 1987, AP Nr. 20 zu § 11 BUrlG, ob die Berücksichtigung von Kurzarbeitszeiten im Rahmen der Referenzmethode in einem Tarifvertrag möglich ist. 538 BAG vom 3. 12. 2002, AP Nr. 57 zu § 11 BUrlG; vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG; Neumann / Fenski, BUrlG, § 11 Rn. 83. 539 Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 57 f., 64; Buchner, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, SAE 2001, 86, 90; Clemens, Anm. zu BAG vom 25. 2. 1988, AP Nr. 3 zu § 8 BUrlG; Gutzeit, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, EzA § 11 BUrlG Nr. 46, S. 26. 540 BAG vom 23. 9. 1959, AP Nr. 1 zu § 5 BUrlG. 541 BAG vom 5. 10. 1967, AP Nr. 10 zu § 13 BUrlG; bestätigt in BAG vom 27. 6. 1978, AP Nr. 12 zu § 13 BUrlG; Dörner, in: ErfK, § 13 BUrlG Rn. 25; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 Rn. 53; dagegen Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 67. 542 BAG vom 8. 3. 1984, AP Nr. 15 zu § 13 BUrlG; vom 18. 6. 1980, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit = BAGE 22, 140, 142; ebenso BAG vom 31. 5. 1990, AP Nr. 13 zu § 13 Unabdingbarkeit; Dörner, in: ErfK, § 13 BUrlG Rn. 26; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 Rn. 56 f.; a. A. Neumann / Fenski, BUrlG, § 5 Rn. 32. 535 536
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Im Hinblick auf die in Tarifverträgen vorgesehene geldmäßige Abgeltung von Urlaubsansprüchen, die innerhalb eines Kalenderjahres nicht gewährt werden können, hat der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts entschieden, dass die Abgeltung eines ohne Verschulden des Arbeitnehmers unmöglich gewordenen Urlaubsanspruches einen Eingriff in § 1 BUrlG darstelle und daher unzulässig sei. § 7 Abs. 4 BUrlG regele nur den Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Nur in diesem Zusammenhang dürften Tarifverträge abweichen, nicht aber in Bereichen, die das Anwendungsgebiet des § 7 Abs. 4 BUrlG verließen.544 Seit aus § 7 Abs. 4 BUrlG der zweite Satz, der die Voraussetzungen für den Untergang des Abgeltungsanspruchs regelte, gestrichen wurde, hielt auch der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichtes Tarifverträge für unzulässig, die den Abgeltungsanspruch abbedingen. Zur Begründung wird ausgeführt, dass das Bundesurlaubsgesetz nun nicht mehr festlege, dass der Urlaubsabgeltungsanspruch unter bestimmten Voraussetzungen entfallen kann. Wegen der Identität mit dem Urlaubsanspruch der §§ 1 und 3 Abs. 1 BUrlG greife ein Tarifvertrag, der ein solches Verfallen anordne, in die unabdingbaren Grundprinzipien des Urlaubsrechts ein. Der Tarifvorrang des § 13 Abs. 1 BUrlG erfasse nur Regelungen, die auch im Bundesurlaubsgesetz enthalten seien.545 Die Entscheidung fand weitestgehend Zustimmung in der Literatur, vereinzelt aufgrund des Widerspruchs zum Wortlaut des § 13 Abs. 1 BUrlG aber auch Kritiker.546 Darüber hinaus sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes tarifliche Rückzahlungsklauseln für das Urlaubsentgelt bei einer gemäß § 8 BUrlG verbotswidrigen Erwerbstätigkeit des Arbeitnehmers während des Urlaubs unzulässig. Das Urlaubsgesetz sehe für den Verstoß gegen § 8 BUrlG keine Rechtsfolge vor, so dass ein an die Verletzung der Verbotsnorm anknüpfender Tarifvertrag in den in § 1 BUrlG vorgesehenen unabdingbaren Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub eingreife.547 Schließlich ist nach der Rechtsprechung 543 BAG vom 18. 6. 1980, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit; Dörner, in: ErfK, § 13 BUrlG Rn. 25; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 Rn. 53. 544 BAG vom 3. 2. 1971, AP Nr. 9 zu § 7 BUrlG Abgeltung; aufgegeben in BAG vom 26. 5. 1983, AP Nr. 12 zu § 7 BUrlG Abgeltung. 545 BAG vom 30. 11. 1977, AP Nr. 4 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit; vom 10. 2. 1987, AP Nr. 12 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit. 546 Herschel, Anm. zu BAG vom 30. 11. 1977, in: SAE 1978, 187, der den Hinweis auf den Surrogatcharakter des § 7 Abs. 4 BUrlG aber nicht für ausreichend hält, denn das Surrogat teile das Schicksal des ursprünglichen Anspruchs nur insoweit wie der Zweck der Surrogation das erfordere; Hinz, Anm. zu BAG vom 30. 11. 1977, in: AP Nr. 4 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit, der allerdings methodische Bedenken gegen die Erwägung erhebt, es könne nur von Regelungen abgewichen werden, die im BUrlG enthalten seien; uneingeschränkte Zustimmung bei Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 79, 81; Dörner, in: ErfK, § 13 BUrlG Rn. 39; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 Rn. 87; Neumann / Fenski, BUrlG, § 7 Rn. 104; a. A. Nikisch, Anm. zu BAG vom 21. 4. 1966, AP Nr. 3 zu § 7 BUrlG. 547 BAG vom 25. 2. 1988, AP Nr. 3 zu § 8 BUrlG; zustimmend Dörner, in: ErfK, § 13 BUrlG Rn. 41; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 Rn. 94; ablehnend Adomeit, Anm. zu BAG vom 25. 2. 1988, SAE 1989, 159, 160; Neumann / Fenski, BUrlG, § 8 Rn. 12.
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wegen eines mittelbaren Verstoßes gegen § 3 Abs. 1 BUrlG auch die Anrechnung von Zeiten, die der Arbeitnehmer in Kur- und Rehabilitationsmaßnahmen verbracht hat, auf den Erholungsurlaub in einem Tarifvertrag nicht zulässig, wenn keine Überprüfung stattfindet, ob der Zweck der Maßnahme dem Sinn des Erholungsurlaubs widerspricht. Derartige Tarifvertragsregelungen würden die Mindesturlaubsdauer unterlaufen.548 2. Tarifliche Verkürzung der gesetzlichen Kündigungsfristen Auch § 622 Abs. 4 S. 1 BGB, der die Abs. 1 bis 3 des § 622 BGB zur Disposition der Tarifvertragsparteien stellt, enthält keine inhaltliche Beschränkung der Abweichungsbefugnis. Der Wortlaut eröffnet daher jede beliebige Verkürzung, ja sogar die vollständige Abbedingung der gesetzlichen Kündigungsfristen, solange nur das Benachteiligungsverbot des § 622 Abs. 6 BGB beachtet wird. Die Vorgängerregelung dieser Tariföffnungsklausel in § 622 Abs. 3 BGB a. F. enthielt noch eine andere Formulierung, die nur die Vereinbarung von Fristen gestattete, die kürzer als die gesetzlich vorgesehenen Kündigungsfristen waren. Mit dem Argument, dass keine Frist nicht eine kürzere Frist im Sinne der Tariföffnungsklausel sei, erklärten einzelne Autoren die entfristete ordentliche Kündigung für unzulässig.549 Trotz der nun eindeutig offenen Formulierung der gesetzlichen Regelung halten einige Autoren an diesem Standpunkt fest und fordern die Einhaltung von Minimalfristen, welche die Interessen der Arbeitnehmer wahren.550 Mit dem Hinweis auf die dem Tarifvertrag innewohnende Richtigkeitsgewähr trat dem das Bundesarbeitsgericht entgegen.551 Weit überwiegend hält das Schrifttum auf dem Boden der aktuellen Rechtslage die Verkürzung der Kündigungsfristen bis hin zur Entfristung für zulässig.552 548 BAG vom 10. 2. 1966, AP Nr. 1 zu § 13 BUrlG; zustimmend Dörner, in: ErfK, § 13 BUrlG Rn. 44; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 Rn. 98 f.; dagegen unter Betonung der durch § 13 Abs. 1 BUrlG angeordneten Tarifdispositivität Berscheid, in: Stahlhacke, GKBUrlG, § 13 Rn. 89. 549 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 703. 550 LAG Düsseldorf vom 4. 9. 1996, LAGE § 622 BGB Nr. 40, S. 6 ff., unter Hinweis auf die grundrechtlichen Schutzpflichten, welche die Tarifvertragsparteien zu beachten hätten (S. 7); Zwanziger, in: Kittner / Däubler / Zwanziger, KSchR, § 622 BGB Rn. 16, der die in der Vorauflage aufgestellte Forderung einer Mindestfrist von einer Woche nicht mehr aufrecht erhält, dennoch eine uneingeschränkte Kürzung wegen Art. 12 GG für unzulässig hält; kritisch auch Oetker, RdA 1997, 9, 17. 551 BAG vom 28. 4. 1988, AP Nr. 25 zu § 622 BGB; vgl. auch allerdings ohne ausführliche Begründung BAG vom 2. 8. 1978, AP Nr. 1 zu § 55 MTL II; vom 4. 6. 1987, AP Nr. 16 zu § 1 KSchG 1969 Soziale Auswahl; vom 28. 8. 1987 – 7 AZR 249 / 86 – n. v. 552 Belling, in: Erman, BGB, § 622 Rn. 13; Isenhardt, in: KassHBArbR, 1.3 Rn. 198; Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 109; Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 885; Müller-Glöge, Festschrift für Schaub, S. 497, 499; ders., in: ErfK, § 622 BGB Rn. 43; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 65; ders., in: Stahlhacke / Preis / Vossen, Kündigung und
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Das Meinungsbild verschiebt sich jedoch hinsichtlich der verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB. Hier mehren sich die Stellungnahmen, welche die Tarifvertragsparteien bei der Abweichung von den tarifdispositiven Kündigungsfristen an die gesetzgeberische Konzeption binden wollen, ältere Arbeitnehmer bei der Länge der Kündigungsfristen verstärkt zu berücksichtigen. Den Tarifvertragsparteien sei daher bei der Abweichung von § 622 Abs. 2 BGB nur eine Vereinbarung erlaubt, die das Verhältnis zwischen der gesetzlichen Grundkündigungsfrist und den verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB übernimmt.553 Dies würde bei unveränderter tariflicher Grundkündigungsfrist die Abweichung von den verlängerten Kündigungsfristen vollständig ausschließen. Daher finden sich auch für diese Ansicht Gegenstimmen. Den Tarifvertragsparteien sei mit dem eindeutigen Wortlaut des § 622 Abs. 4 BGB eine umfassende Abweichungsbefugnis eingeräumt, die nicht ihre Grenze in der gesetzgeberischen Konzeption eines verstärkten Schutzes zugunsten älterer Arbeitnehmer finde.554 3. Tarifliche Bemessungsgrundlagen für die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall § 4 Abs. 4 EFZG gestattet in Verbindung mit § 12 EFZG, in einem Tarifvertrag eine auch zuungunsten der Arbeitnehmer von den Vorschriften des § 4 Abs. 1, 1a und 3 EFZG abweichende Bemessungsgrundlage für das fortzuzahlende Arbeitsentgelt festzulegen. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts umfasst der Begriff „Bemessungsgrundlage“ dabei sowohl die Berechnungsmethode als auch die Berechnungsgrundlage.555 Im Gegensatz zur Rechtsprechung des 9. Senats sollen die Tarifvertragsparteien dabei sowohl den Geld- als auch den Zeitfaktor abweichend von den §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 EFZG festlegen dürfen.556 In einem Tarifvertrag könne daher vorgesehen werden, dass nicht alle Entgeltbestandteile in die Berechnung des im Krankheitsfall fortzuzahlenden Entgelts einfließen.557 DaKündigungsschutz, Rn. 526; Schwerdtner, in: MüKo BGB, § 622 Rn. 58; Spilger, in: KSchR, § 622 BGB Rn. 212; Wiedemann, in: ders., TVG, § 1 Rn. 546; vgl. bereits zur Vorgängerregelung: Hanau, in: Erman, BGB, 9. Aufl., § 622 Rn. 25; Wenzel, MDR 1969, 968, 971. 553 Isenhardt, in: KassHBArbR, 1.3 Rn. 197; Spilger, KSchR, § 622 BGB Rn. 214. 554 Linck, APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 113, der die Tarifvertragsparteien allerdings den allgemeinen verfassungsrechtlichen Grenzen unterwirft; Müller-Glöge, ErfK, § 622 BGB Rn. 43; wohl auch Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 885; vgl. bereits zur Vorgängerregelung Richardi, ZfA 1971, 73, 88. 555 BAG vom 26. 8. 1998, AP Nr. 33 zu § 1 TVG Tarifverträge: Druckindustrie; vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG; vom 13. 3. 2002, AP Nr. 58 zu § 4 EntgeltFG; vom 9. 10. 2002, AP Nr. 63 zu § 4 EntgeltFG; Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 12 / 5798, S. 26; Dörner, ErfK, § 4 EFZG Rn. 57; Feichtinger / Malkmus, EFZG, § 4 Rn. 184. 556 BAG vom 9. 10. 2002, AP Nr. 63 zu § 4 EntgeltFG; vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG.
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bei sollen die Tarifvertragsparteien nicht soweit gehen können, dass der mit der Entgeltfortzahlung verfolgte Zweck, den Lebensstandard des arbeitsunfähigen Arbeitnehmers für sechs Wochen abzusichern, eingeschränkt wird.558 Das Bundesarbeitsgericht bindet die Tarifpartner an die Grundregel der 100 %igen Entgeltfortzahlung, so dass diese zwar alle Zuschläge aus der Berechnungsgrundlage heraus nehmen könnten, nicht aber die in die Berechnung des fortzuzahlenden Entgelts eingehende Grundvergütung verringern könnten.559 Durch die Abweichungen dürfe weder unmittelbar noch mittelbar gegen die nicht dem tariflichen Vorrangprinzip unterliegenden, gemäß § 12 EFZG zwingenden Vorschriften verstoßen werden.560 4. Immanente Begrenzung der tariflichen Abweichung vom Gleichstellungsgebot zwischen Stamm- und Leiharbeitnehmern Im Rahmen des Ersten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, vom 23. 12. 2002,561 hat der Gesetzgeber die Vorschriften zur Arbeitnehmerüberlassung geändert und in § 3 Abs. 1 Nr. 3 sowie § 9 Nr. 2 AÜG ein Gleichstellungsgebot zwischen Leiharbeitnehmern und den Stammarbeitnehmern im Entleiherbetrieb normiert. Die Vorschriften sind tarifdispositiv und enthalten in ihrem Wortlaut keine Beschränkung der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis. Auf der Grundlage des § 9 Nr. 2 AÜG haben bislang die acht Mitgliedsgewerkschaften des DGB mit dem Bundesverband Zeitarbeit Personal-Dienstleistungen e. V. (BZA) sowie dem Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) Tarifverträge speziell für die Arbeitsbedingungen bei Leiharbeit abgeschlossen.562 Daneben existieren Tarifverträge zwischen der Christlichen Gewerkschaft Metall, der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst und Dienstleistungen sowie dem Arbeitnehmerverband deutscher Milchkontroll- und Tierzuchtbediensteter, die in der Tarifgemeinschaft Christliche Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA (CGZP) zusammengeschlossen sind, auf der einen Seite und der Mittelstandsvereinigung Zeitarbeit e. V. (MVZ) sowie der Interessengemeinschaft Nordbayerischer Zeitarbeitunter557 BAG vom 13. 3. 2002, AP Nr. 58 zu § 4 EntgeltFG; Schmitt, EFZG, § 4 Rn. 141; ebenso Dörner, ErfK, § 4 EFZG Rn. 57, dessen Stellungnahme so klingt, als sei es auch möglich, die Grundvergütung nur teilweise für die Berechnung des fortzuzahlenden Entgelts zu berücksichtigen. 558 BAG vom 9. 10. 2002, AP Nr. 63 zu § 4 EntgeltFG; Feichtinger / Malkmus, EFZG, § 4 Rn. 187. 559 BAG vom 13. 3. 2002, AP Nr. 58 zu § 4 EntgeltFG; zustimmend Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 338. 560 Feichtinger / Malkmus, EFZG, § 4 Rn. 188. 561 BGBl. 2002 I, S. 4607. 562 Tarifvertrag zwischen DGB und BZA, vom 22. 7. 2003, sowie Tarifvertrag zwischen DGB und iGZ, vom 29. 5. 2003, jeweils gültig ab dem 1. 1. 2004; vgl. dazu Martin, AuR 2004, 247.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
nehmen e. V. (INZ) auf der anderen Seite.563 Die Tarifvertragswerke weichen deutlich von den in den Entleiherbetrieben geltenden Arbeitsbedingungen sowie dem Verhandlungsergebnis zwischen DGB und BZA vom 20. 2. 2003 ab und sind daher auf heftige Kritik gestoßen.564 In Anlehnung an die Rechtsprechung des 5. Senats des Bundesarbeitsgerichts zu § 4 Abs. 4 EFZG ziehen daher zahlreiche Vertreter des Schrifttums den Tarifvertragsparteien bei ihren Vereinbarungen im Rahmen des § 9 Nr. 2 AÜG hinsichtlich der Arbeitsbedingungen Grenzen.565 Ein Tarifvertrag könnte zwar für die Leiharbeitnehmer eine Vergütung vereinbaren, die unter dem Niveau liege, auf dem sich das Entgelt und die Nebenleistungen der Stammarbeitnehmer bewegen.566 Die tariflichen Regelungen müssten jedoch den gesetzlich fixierten Grundsatz einer annähernden Gleichbehandlung von Stamm- und Leiharbeitnehmern (Equal Pay / Equal Treatment) wahren.567 Dieser Grundsatz könne gestaltet, aber nicht verlassen werden.568 Eine richterliche Stellungnahme zur Frage des Umfangs der durch § 9 Nr. 2 AÜG eröffneten Abweichungsbefugnis für die Tarifvertragsparteien liegt bislang noch nicht vor. 5. Mittelbare Eingriffe in die zwingenden Vorschriften des BetrAVG Im Bereich der betrieblichen Altersversorgung erklärt § 17 Abs. 3 S. 1 BetrAVG die §§ 1a, 2 bis 5 sowie 16, 18a S. 1, 27, 28 BetrAVG für tarifdispositiv. § 1a BetrAVG regelt die Voraussetzungen und die Durchführung des Anspruchs von Arbeitnehmern gegenüber ihrem Arbeitgeber auf Umwandlung eines bestimmten Anteils569 ihrer zukünftigen Entgeltansprüche in wertgleiche Anwartschaften (Entgeltumwandlung, § 1 Abs. 2 Nr. 3 BetrAVG). Die vollständige Tarifdispositivität dieses Anspruchs auf Entgeltumwandlung stellen einige Vertreter des Schrifttums in Frage.570 § 17 Abs. 3 S. 1 BetrAVG sei teleologisch zu reduzieren.571 Die Tarif563 Tarifvertrag zwischen CGZP und MVZ, vom 24. 6. 2003, gültig ab 1. 1. 2004, sowie zwischen CGZP und INZ, vom 24. 2. 2003, gültig ab 1. 3. 2003; vgl. dazu Martin, AuR 2004, 247. 564 Insbesondere die Abschlüsse der CGZP von Seiten der IG-Metall, vgl. Pressemitteilung Nr. 18 / 2003, vom 26. 2. 2003; allgemeine Kritik bei Schüren, in: ders., AÜG, § 9 Rn. 223; ders. / Riederer Frfr. von Paar, AuR 2004, 241; gemäßigter Martin, AuR 2004, 247, 248, sehr arbeitgeberfreundlich; anders Hayen, AiB 2003, 527, 530, der die DGB-Abschlüsse als dem gesetzlichen Schutzgedanken entsprechend einstuft. 565 Schüren, in: ders., AÜG, § 9 Rn. 222 ff.; ders. / Behrend, NZA 2003, 521, 525. 566 Schüren / Behrend, NZA 2003, 521, 525. 567 Schüren, in: ders., AÜG, § 9 Rn. 222; ders. / Behrend, NZA 2003, 521, 525; ähnlich Ulber, AuR 2003, 7, 12, der sachlich gerechtfertigte Abweichungen zulassen will, die Diskriminierungen vermeiden und ein der Besonderheit der Arbeitnehmerüberlassung Rechnung tragendes angemessenes Schutzniveau gewährleisten. 568 Schüren / Behrend, NZA 2003, 521, 525. 569 4% der jeweiligen Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung (vgl. § 1a Abs. 1 S. 1 BetrAVG). 570 Feudner, DB 2001, 2047; Heither, NZA 2001, 1275, 1276; dagegen Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 173, 174; Deinert, in: Däubler, TVG, § 4 Rn. 725 mit Fn. 1887.
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dispositivität erstrecke sich nicht auf die Entstehung des Entgeltumwandlungsanspruchs, sondern nur auf dessen Durchführung.572 Der Sinn des Gesetzes, dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, einen Teil der gesetzlichen Rente durch den Erwerb betrieblicher Rentenansprüche zu ersetzen, würde anderenfalls unterlaufen.573 Grundsätzlich erwerben Arbeitnehmer gemäß § 1b BetrAVG auch bei einem Ausscheiden aus dem Betrieb vor dem vollständigen Entstehen des Anspruchs auf Versorgungsbezüge unverfallbare Anwartschaften. Ähnlich wie für die Berechnung des Urlaubsentgelts nach § 11 BUrlG sowie für die Bemessungsgrundlage der im Rahmen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall fortzuzahlenden Vergütung droht bei einer Abweichung von der in § 2 BetrAVG vorgeschriebenen Festlegung der Höhe der unverfallbaren Anwartschaften574 im Sinne von § 1b Abs. 1 S. 1 BetrAVG die Gefahr, dass bei einer zu starken Absenkung der gesetzlichen Mindesthöhe unverfallbarer Anwartschaften in einem Tarifvertrag die Vorschrift des § 1b Abs. 1 S. 1 BetrAVG mittelbar ausgehöhlt wird. Rechtsprechung und Literatur stehen daher auf dem Standpunkt, dass Abweichungen von der in § 2 grundsätzlich vorgesehenen Berechnungsmethode für die Höhe der unverfallbaren Anwartschaft nur zulässig sein sollen, solange sie die Anwartschaft als solche auch wertmäßig unangetastet lassen.575 Anderenfalls wäre der Arbeitnehmer, der den Betrieb vorzeitig verlässt, nicht mehr in seiner diesbezüglichen Entscheidung frei.576 Hinsichtlich der Vorschriften in den §§ 3 bis 5 BetrAVG und der übrigen tarifdispositiven Vorschriften des BetrAVG ist die Gefahr einer mittelbaren Beeinträchtigung der unabdingbaren Grundprinzipien des gesetzlichen Konzepts der betrieblichen Altersversorgung weniger präsent.577 6. Fazit Der Überblick über die Rechtsprechung und das Meinungsbild im Schrifttum zu dem Verbot mittelbarer Eingriffe in unabdingbare Vorschriften durch das AbweiHeither, NZA 2001, 1275, 1276. Feudner, DB 2001, 2047; Heither, NZA 2001, 1275, 1276. 573 Heither, NZA 2001, 1275, 1276. 574 Vgl. dazu BAG vom 24. 7. 2001, AP Nr. 17 zu § 1 BetrAVG Berechnung, wo das Gericht ausdrücklich eine normalerweise § 2 BetrAVG widersprechende zweifache Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit für die Berechnung der Höhe der erworbenen Anwartschaft aufgrund der Tarifdispositivität in einem Tarifvertrag zulässt. 575 BAG vom 5. 10. 1999, AP Nr. 51 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 176. 576 Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 176. 577 Vgl. BAG vom 5. 10. 1999, AP Nr. 51 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen zu II. 2. der Gründe: „Die Anpassung der laufenden Betriebsrenten und das Auszehrungsverbot des § 5 Abs. 1 BetrAVG haben mit dem Weiterbestehen der Versorgungsanwartschaft bis zum Eintritt des Versorgungsfalls nichts zu tun.“ Das heißt das Bundesarbeitsgericht trennt zwischen einer Abweichung von § 5 BetrAVG und den zwingenden Vorschriften der §§ 1, 1b BetrAVG. 571 572
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chen von tarifdispositivem Recht bestätigt, dass sich das Vertrauen in die materielle Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags innerhalb der letzten Jahrzehnte gewandelt hat. Während der Gesetzgeber und auch die Rechtsprechung in den sechziger Jahren noch davon ausgingen, dass die Beschränkung der Abweichungsbefugnis vom Gesetz auf den Tarifvertrag garantiere, dass die Abweichungen angemessen sind und die Sozialpartner nur von ihrer Befugnis Gebrauch machen, wenn dies wirklich notwendig ist, entwickelt sich das Meinungsbild derzeit mehr und mehr in Richtung einer immer stärker werdenden inhaltlichen Bindung der Tarifvertragsparteien bei der Abweichung von tarifdispositiven Vorschriften. Besonders deutlich wird das anhand der Rechtsprechung zu § 13 Abs. 1 BUrlG.578 Bedingt durch den Wechsel der zuständigen Senate engte die Rechtsprechung hier den Abweichungsspielraum der Tarifvertragsparteien innerhalb der letzten Jahrzehnte deutlich ein.579
II. Bestimmung der Reichweite der tariflichen Regelungsbefugnis durch Auslegung Bei der Bestimmung der gegenständlichen Reichweite der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis treten spezifische Auslegungsfragen des jeweiligen Rechtsgebiets mit den allgemeinen Auslegungsproblemen der Tariföffnungsklauseln in Beziehung. Die alleinige Betrachtung der Tariföffnungsklauseln genügt daher nicht für die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit die Figur des mittelbaren Eingriffs anzuerkennen ist. Dennoch lassen sich dem Konzept der Tariföffnungsklauseln im Allgemeinen grundlegende Erkenntisse über die Reicheite der Tarifdispositivität entnehmen, die dann im Zusammenspiel mit den einzelnen Arbeitnehmerschutzvorschriften zu berücksichtigen sind. 1. Die begrenzte teleologische Grundlage des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts In den Tariföffnungsklauseln kommt das Vertrauen des Gesetzgebers in die Sozialpartner als „qualifizierte“ Träger und den Tarifvertrag als geeignetes Instrument für einen Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zum Ausdruck. Die Materialien betonen immer wieder die dem Tarifvertrag zukommende materielle Richtigkeitsgewähr, die garantiere, dass die vom Gesetz 578 Vgl. die großzügige Rechtsprechung des LAG Frankfurt vom 7. 1. 1964, DB 1964, 959, 960. 579 Bereits der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts schränkte den Aktionsradius der Tarifvertragsparteien gegenüber dem 5. Senat ein, wie die Entscheidungen vom 8. 3. 1984, AP Nr. 15 zu § 13 BUrlG, und vom 18. 6. 1980, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit, zeigen. Der 8. Senat setzte die restriktive Rechtsprechung fort, wie die Entscheidung vom 12. 1. 1989, AP Nr. 13 zu § 47 BAT, bestätigt.
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abweichenden tarifvertraglichen Regelungen die gegenläufigen Interessen angemessen zum Ausgleich bringen.580 Gleichzeitig belegen die Materialen, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass die von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen Abweichungen keine einschneidenden Veränderungen der gesetzlichen Konzeption bewirken werden. Nach der Intention des Gesetzgebers dient die tarifdispositive Ausgestaltung der urlaubsrechtlichen Vorschriften und der Kündigungsfristen der Anpassung der gesetzlichen Vorschriften an die Besonderheiten der jeweiligen Branchen oder betrieblichen Erfordernisse.581 Stets ist die Rede von „Anpassungen“ bzw. der Regelung von „Einzelheiten“ 582. Besonders eindrücklich kommt diese Annahme des Gesetzgebers im Urlaubsrecht zum Ausdruck. Mit der weitgehenden Tarifdispositivität sollte in erster Linie der im Detail schwierige und kaum vorzunehmende Günstigkeitsvergleich vermieden werden.583 Ein Blick auf die Entwicklung der Rechtsprechung zum Urlaubsrecht offenbart, dass sich in den ersten Jahren nach Inkrafttreten des Bundesurlaubsgesetzes auch das Bundesarbeitsgericht von dem in den Materialien zum Ausdruck kommenden Vertrauen in die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags leiten ließ.584 Nach und nach rückte sie von diesem Standpunkt ab. Insbesondere der Wechsel in der Zuständigkeit der Senate des Bundesarbeitsgerichtes ging mit einem Wechsel der Rechtsprechung einher.585 An diesem Punkt wird die grundlegende Antinomie zwischen der 580 Vgl. Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung arbeitsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. V / 3913, S. 10 „Im Interesse eines ausreichenden Arbeitnehmerschutzes ist diese Möglichkeit auf tarifvertragliche Regelungen beschränkt. Bei ihnen kann, wie die tarifliche Praxis lehrt, davon ausgegangen werden, daß kürzere Fristen nur vereinbart werden, wenn die Besonderheiten des Wirtschaftszweiges oder der Beschäftigungsart dies notwendig erscheinen lassen.“; Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, BT-Drucks. VII / 1281, S. 31. 581 Vgl. Entwurf der CDU / CSU und FDP-Fraktion für ein Gesetz zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen, BT-Drucks. 12 / 4902, S. 7, 9; Bericht des Ausschusses für Arbeit (Bundesurlaubsgesetz), BT-Drucks. IV / 785, S. 4. 582 Bericht des Ausschusses für Arbeit (Bundesurlaubsgesetz), BT-Drucks. IV / 785, S. 4. 583 Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 10; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 702; Höhne, in: Heubeck / Höhne / Paulsdorff / Rau / Weinert, BetrAVG I, § 17 Rn. 117. 584 BAG vom 9. 7. 1964, AP Nr. 2 zu § 13 BUrlG: „Das [die Korrektur unerwünschter Einzelauswirkungen tariflicher Regelungen] wäre ein vom Gesetzgeber nicht gewollter Eingriff in die besonders ausgestaltete Autonomie der Tarifpartner auf dem Gebiet des Urlaubsrechts, in die der Gesetzgeber das große Vertrauen gesetzt hat, dass sie unerwünschte Ergebnisse selbst korrigiert und nicht deren Korrektur von den Gerichten erwartet.“; vom 26. 11. 1964, AP Nr. 3 zu § 13 BUrlG: „. . . hat sich der Gesetzgeber auf den Standpunkt gestellt, die sozialpolitischen und rechtlichen Verdienste der Tarifpartner in den vergangenen Jahrzehnten ( . . . ) rechtfertigen das tarifliche Vorrangprinzip . . .“; vom 25. 2. 1965, AP Nr. 5 zu § 13 BUrlG: „Man kann nicht einerseits das tarifliche Vorrangprinzip des § 13 Abs. 1 Satz 1 BUrlG als tragenden Grundsatz des Urlaubsrechts anerkennen, ihm aber andererseits dort und dann einfach die Anerkennung verweigern wollen, wo es sich einmal zuungunsten der Arbeitnehmer auswirkt.“. 585 Vgl. dazu oben 1. Teil: § 3 C. I. 1.
10 Bock
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dem Tarifvertrag bescheinigten, auf dem kollektiven Verhandlungs- und Auseinandersetzungsprozess beruhenden Richtigkeitsgewähr und dem Bedürfnis nach einer inhaltlichen Bindung der Regelungsmacht der Tarifvertragsparteien deutlich. Der Zweck der Tariföffnung besteht nicht in erster Linie in der Sicherung einer uneingeschränkten Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien oder deren Normsetzungsprärogative bzw. in der Hervorhebung des Stellenwerts der Tarifautonomie.586 Vielmehr soll die Tarifdispositivität bestimmter Arbeitnehmerschutzvorschriften die Anpassung der gesetzlichen Lage an branchen- oder betriebsbedingte Besonderheiten erleichtern.587 Daher rechtfertigt sich auch eine an diese besondere teleologische Basis anknüpfende restriktive Auslegung der Tariföffnungsklauseln für die Bestimmung des Umfangs der Tarifdispositivität der betroffenen arbeitsrechtlichen Regelungsbereiche. Da zwingendes Gesetzesrecht eine Wirksamkeitsschranke für den Tarifvertrag bildet, können die Gerichte nachprüfen, ob sich der Tarifvertrag innerhalb der vom Gesetz vorgegebenen Grenzen hält. Dabei besteht die Gefahr, dass nicht mehr die Tarifvertragsparteien, sondern die Richter entscheiden, was in der jeweiligen Regelungssituation angemessen ist. Die Festlegung von Grenzen der tariflichen Regelungsbefugnis, die sich nicht aus dem Wortlaut der Tariföffnungsklauseln ergeben, darf aber nicht zu einer verdeckten Tarifzensur führen. Daher kann der Richter nur überprüfen, ob die von den Tarifvertragsparteien vorgenommene Abweichung sich noch im äußersten Rahmen dessen bewegt, was die Tariföffnungsklausel gestattet. Demgegenüber ist die unterschiedliche Bestimmung der Reichweite in Abhängigkeit von dem konkreten Sachverhalt nicht möglich. Aus der besonderen teleologi586 So aber relativ undifferenziert Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 698; Herschel, RdA 1969, 211, 212; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389; für § 13 BUrlG: Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 2, 12; Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 2; für § 17 BetrAVG: Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 168. 587 Vgl. Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit zum Entwurf eines Bundesurlaubsgesetzes, BT-Drucks. IV / 785, S. 2; Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung arbeitsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucksache V / 3913, S. 10; Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, BT-Drucks. 7 / 1281, S. 31; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (JArbSchG), BT-Drucks. 10 / 2012, S. 14; Entwurf der Bundesregierung eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BR-Drucks. 393 / 84, S. 27 = BT-Drucks. 10 / 2102, S. 26; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (AÜG), BT-Drucks. 10 / 3206, S. 33; Begründung zum Entwurf der Fraktionen der CDU / CSU und FDP eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz), BT-Drucks. 12 / 4902, S. 9; Begründung der Bundesregierung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts, BT-Drucks. 12 / 5888, S. 58 f.; Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, BT-Drucks. 14 / 4374, S. 14 = BR-Drucks. 591 / 00, S. 19; Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90 / Die Grünen, BT-Drucks. 15 / 98, S. 2; Gesetzentwurf der Fraktionen der SPD und Bündnis 90 / Die Grünen eines Ersten Gesezes für moderne Diensleistungen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks. 15 / 25, S. 38; ebenso Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 396.
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schen Basis der Tarifdispositivität ergibt sich, dass der Rahmen der zulässigen tariflichen Abweichung von den tarifdispositiven Vorschriften immer dann verlassen wird, wenn sich die Abweichung nicht mehr als eine Anpassung an besondere Umstände des Betriebes oder der Branche einordnen lässt. Innerhalb dieses Rahmens kommt die dem Tarifvertrag zugeschriebene Richtigkeitsgewähr voll zum Tragen. In diesem Bereich kann dann nicht mehr überprüft werden, ob die Tarifvertragsparteien einen angemessenen Ausgleich der gegenläufigen Interessen erzielt haben. Die äußersten Grenzen der Tarifdispositivität müssen – um eine unzulässige Tarifzensur zu vermeiden – für alle Situationen gelten und dürfen nicht von Fall zu Fall wieder verschoben werden. 2. Urlaubsrecht Das Bundesurlaubsgesetz gestattet gemäß § 13 Abs. 1 BUrlG tarifvertragliche Abweichungen zum Nachteil der Arbeitnehmer nur von den gesetzlichen Festlegungen, die nicht in den unabdingbaren Vorschriften der §§ 1 bis 3 Abs. 1 BUrlG enthalten sind. Ob eine bestimmte Regelungsfrage Teil der urlaubsrechtlichen Grundprinzipien oder der tarifdispositiven Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes ist, bestimmt sich anhand der Auslegung der jeweils als tarifdispositiv gestalteten gesetzlichen Vorschrift im Zusammenspiel mit der zugehörigen Tariföffnungsklausel in § 13 Abs. 1 BUrlG. Die bedeutendste Rolle spielt die Figur des Verbots mittelbarer Eingriffe in die unabdingbaren Grundprinzipien des Urlaubsrechts bei der tarifvertraglichen Festlegung des Urlaubsentgelts. Ob die restriktive Rechtsprechung des 9. Senats588 in diesem Bereich Bestand haben kann wird im Folgenden daher im Vordergrund stehen. a) Tarifvertragliche Festlegung des Urlaubsentgelts § 11 Abs. 1 BUrlG regelt die Festlegung des Urlaubsentgelts. Er sieht in seinem Wortlaut vor, dass das Urlaubsentgelt sich nach dem durchschnittlichen Arbeitsverdienst der letzten dreizehn Wochen vor Beginn des Urlaubs bemisst. Die Begriffe „Urlaubsentgelt“ und „Arbeitsverdienst“ lassen sich dabei sowohl eng als auch weit verstehen, so dass man darunter das Produkt aus Zeit- und Geldfaktor, gleichermaßen aber auch den Geldfaktor allein fassen kann. Als Rechtsfolge ordnet § 11 Abs. 1 S. 1 BUrlG jedoch eindeutig das Referenzprinzip als Berechnungsmethode an. Unter systematischen Gesichtspunkten lässt sich die Frage, ob die Bestimmung des Zeitfaktors, wie dies der 8. und 9. Senat des Bundesarbeitsgerichts vertreten, Bestandteil der Regelung in § 1 BUrlG ist, nur durch eine Zusammenschau von § 1 und § 11 Abs. 1 BUrlG beantworten. Die Senate des Bundesarbeitsgerichts verste588
10*
Vgl. dazu bereits oben, 1. Teil: § 3 C. I. 1.
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hen unter „bezahltem“ Urlaub im Sinne von § 1 BUrlG die Fortzahlung des ursprünglichen Arbeitsentgelts und wenden auf die Bestimmung des Zeitfaktors das Lohnausfallprinzip an. Dies wäre ausgeschlossen, wenn § 11 Abs. 1 S. 1 BUrlG sowohl den Zeit- als auch den Geldfaktor beinhalten würde. Der 8. und 9. Senat gehen also davon aus, dass es sich bei der Zahlung des Urlaubsentgelts – ähnlich wie bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall – um die Weitererfüllung des arbeitsvertraglichen Entgeltanspruchs und somit um eine Ausnahme von § 326 Abs. 1 S. 1 BGB handelt.589 Unter der Prämisse des Bundesarbeitsgerichts, dass es sich auch bei dem Urlaubsentgelt primär um eine Abfederung des Wegfalls der Gegenleistungspflicht aufgrund einer Leistungsstörung im arbeitsvertraglichen Synallagma handelt, muss die ausgefallene Arbeitszeit so genau wie möglich ermittelt werden. Denn dann ist die gesetzliche Verpflichtung auf eine Entgeltfortzahlung nur für den tatsächlich kausal verursachten Arbeitsausfall notwendig. Für diesen Fall kann der Zeitfaktor gar nicht anders als mit Hilfe des Lohnausfallprinzips bestimmt werden. Dabei übersieht das Bundesarbeitsgericht jedoch den Unterschied zwischen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall und Vergütung des Urlaubs, bei dem es sich nicht um eine Leistungsstörung, sondern eine Pflicht des Arbeitgebers zur bezahlten Arbeitsfreistellung handelt.590 Das Bundesurlaubsgesetz fordert keine Kausalität zwischen Arbeitsausfall und Urlaub. Im Einklang damit bestimmt § 3 Abs. 1 BUrlG die Urlaubsdauer nach Werktagen und nicht Arbeitstagen des Arbeitnehmers. Dies bestätigt der Entwurf der CDU / CSU-Fraktion für ein Bundesurlaubsgesetz, nach dem auch arbeitsfreie Kalendertage als Urlaubstage anzusehen seien.591 Beim Urlaubsrecht steht der Erholungszweck im Vordergrund und nicht die Aufrechterhaltung des Entlohnungsanspruchs. Das Urlaubsentgelt soll sicherstellen, dass der Erholungseffekt auch tatsächlich erreicht wird, weil der Arbeitnehmer während der Freistellung von der Arbeitspflicht wirtschaftlich abgesichert ist. Gegen die Herausnahme des Zeitfaktors aus § 11 Abs. 1 BUrlG spricht auch § 11 Abs. 1 S. 1, 2. HS BUrlG. Danach ist der zusätzlich für Überstunden gezahlte Arbeitsverdienst nicht Bestandteil des Urlaubsentgelts. Der 9. Senat will diese Regelung auf die Überstundenzuschläge beschränken, so dass auch für die urlaubsbedingt ausgefallenen Überstunden Urlaubsentgelt zu leisten ist, dieses jedoch nicht dem erhöhten Entgelt für Überstunden, sondern der durchschnittlichen Vergütung entspricht.592 Der Wortlaut des § 11 Abs. 1 S. 1 BUrlG scheint diese LöGutzeit, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, EzA § 11 BUrlG Nr. 46, S. 20. BAG vom 9. 2. 1982, AP Nr. 16 zu § 11 BUrlG; Gutzeit, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, EzA § 11 BUrlG Nr. 46, S. 15, 18; Reinecke, DB 1991, 1168, 1172; a. A. Bengelsdorf, Anm. zu BAG vom 9. 11. 1999, EzA § 11 BUrlG Nr. 44, S. 16 f.; Leinemann / Link, Urlaubsrecht, § 1 Rn. 22; vgl. ausführlich zu den dogmatischen Problemen, die damit verbunden sind, Bengelsdorf, Anm. zu BAG vom 9. 11. 1999, EzA § 11 BUrlG Nr. 44, S. 15 f., 18 ff. 591 Entwurf der CDU / CSU-Fraktion eines Bundesurlaubsgesetzes, BT-Drucks. IV / 207, S. 4; Gutzeit, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, EzA § 11 BUrlG Nr. 46, S. 19. 592 BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG. 589 590
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sung nahezulegen, wenn sich dort die Formulierung findet: „. . . mit Ausnahme des zusätzlich für Überstunden gezahlten Arbeitsverdienstes.“ Allerdings hätte dann das Wort „zusätzlich“ zwischen „Überstunden“ und „gezahlten“ stehen müssen.593 Auch der erklärte Wille des Gesetzgebers steht dem Verständnis des 9. Senats entgegen. Die 1996 in das Urlaubsgesetz aufgenommene Einschränkung sollte eine deutliche Kostenentlastung für die Arbeitgeber bewirken.594 Daneben sollte sie Ungerechtigkeiten bei der Bestimmung des Urlaubsentgelts vermeiden.595 Diese Motivation wird verfehlt, wenn der 9. Senat § 11 Abs. 1 S. 1 BUrlG lediglich auf die Differenz zwischen dem herkömmlichen Arbeitsentgelt und der Überstundenvergütung anwendet.596 Dem Bundesarbeitsgericht ist zuzugeben, dass das aus dem Jahr 1963 stammende Bundesurlaubsgesetz zur sachgerechten Erfassung moderner flexibler Arbeitszeitsysteme nicht vollkommen geeignet ist. Dem versucht der 9. Senat durch die Herausnahme des Zeitfaktors aus § 11 Abs. 1 BUrlG und dessen Unterstellung unter das Lohnausfallprinzip abzuhelfen.597 Dadurch entzieht er aber den Tarifvertragsparteien gleichzeitig die Möglichkeit, alternative Lösungen zu entwickeln, die den einzelnen betrieblichen und branchenspezifischen Besonderheiten entsprechen. Der Wortlaut des § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG sieht die vollständige Tarifdispositivität des § 11 BUrlG vor. § 11 Abs. 1 BUrlG muss, wie sich gezeigt hat, nicht zwingend in der vom 9. Senat vorgeschlagenen Weise restriktiv ausgelegt werden. Darüber hinaus sind die Tarifvertragsparteien im Vergleich zur Rechtsprechung die sachnäheren und kompetenteren Instanzen, um die gesetzlichen Regelungen den praktischen Erfordernissen anzupassen. Anders als vom 9. Senat befürchtet, ist auch nicht zu erwarten, dass die Tarifvertragsparteien bei der Tarifdispositivität auch des Zeitfaktors die gesetzliche Konzeption entgegen dem Willen des Gesetzgebers598 nicht nur in Einzelheiten anpassen werden, sondern vollständig umgestalten. In dieser Hinsicht sorgt das zwischen den Sozialpartnern ausgeglichene Machtverhältnis für angemessene Ergebnisse. Mit seiner über die enge Auslegung des § 11 BUrlG hinaus gehenden Forderung, dass das von den Tarifvertragsparteien entwickelte Berechnungsmodell für den Geldfaktor geeignet sein muss, dem Arbeitnehmer eine Entgelthöhe zu sichern, die er auch bei Weiterarbeit erreicht hätte, schränkt der 9. Senat den Aktionsradius der Tarifvertragsparteien noch zusätzlich ein. Wenn das Gericht die äußerste Grenze der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis bereits bei der Herausnahme einzelner Bengelsdorf, Anm. zu BAG vom 9. 11. 1999, EzA § 11 BUrlG, Nr. 44, S. 9, 11. Entwurf der Fraktionen von CDU / CSU und FDP eines Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes 1996, BT-Drucks. 13 / 4612, S. 11, 15. 595 Entwurf der Fraktionen von CDU / CSU und FDP eines Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes 1996, BT-Drucks. 13 / 4612, S. 15. 596 Bengelsdorf, Anm. zu BAG vom 9. 11. 1999, EzA § 11 BUrlG, Nr. 44, S. 11. 597 Dies vermutet Gutzeit, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, EzA § 11 BUrlG Nr. 46, S. 20. 598 Vgl. dazu oben 1. Teil: § 3 C. II. 1. 593 594
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
Vergütungsbestandteile aus der Berechnungsgrundlage zieht, dann ist die von § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG umfassend angeordnete Tarifdispositivität des § 11 BUrlG nicht mehr vorhanden. Zudem führt das Bundesarbeitsgericht auf diese Weise bei der Überprüfung der Geeignetheit des tariflichen Berechnungssystems eine Inhaltskontrolle durch, die sich nach dem teleologischen Hintergrund des taridispositiven Arbeitnehmerschutzrechts gerade verbietet.599 Zudem geht das Bundesarbeitsgericht so über die mit der Figur des Verbots mittelbarer Eingriffe in die unabdingbaren urlaubsrechtlichen Grundprinzipien verfolgte Absicherung von Mindeststandards hinaus. Das Bundesurlaubsgesetz will dem Arbeitnehmer nicht die möglichst exakte Vergütung der urlaubsbedingt ausgefallenen Arbeitszeit sichern, sondern ihm die wirtschaftlich abgesicherte Herstellung und Wiederauffrischung seiner Arbeitskraft ermöglichen. Dafür war die Konzeption des 6. Senats, der vom Lebensstandardprinzip ausging und dem Arbeitnehmer dadurch ermöglichte, während der Freistellung seinen bisherigen Lebenszuschnitt aufrecht zu erhalten, vollkommen ausreichend. Dies bestätigt auch die Parallele zum Recht der Entgeltfortzahlung. Für § 4 Abs. 4 EFZG steht der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts auf dem Standpunkt, dass die Tarifvertragsparteien einzelne Entgeltbestandteile aus der Berechnung ausnehmen dürfen.600 Ungeachtet der dogmatischen Unterschiede zwischen den beiden Entgeltregelungen,601 ist der Arbeitnehmer während eines krankheitsbedingten Arbeitsausfalls noch viel stärker auf die Fortzahlung des vollen Arbeitsentgelts angewiesen als während des Urlaubs. Es würde sich ein Wertungswiderspruch ergeben, wenn im Urlaubsrecht strengere Restriktionen für die Tarifvertragsparteien gelten als im Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.602 Die Auslegungsergebnisse zeigen, dass gegen die restriktive Auslegung des 9. Senats des Bundesarbeitsgerichts erhebliche Bedenken bestehen. Seine Interpretation des § 11 Abs. 1 und § 1 BUrlG in Verbindung mit § 13 Abs. 1 BUrlG ist keinesfalls zwingend. Vielmehr lässt sie dem hinter der Figur des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts stehenden Zweck, den Tarifvertragsparteien als den sachnäheren Regelungsinstanzen die Festlegung der Einzelheiten zu überlassen und die gesetzlichen Regelungen an betriebliche Besonderheiten anzupassen, nur sehr wenig Raum. Daher erhebt sich insbesondere die Frage, ob diese Auslegung des Bundesurlaubsgesetzes mit der in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verankerten kollektiven Koalitionsfreiheit vereinbar ist. Buchner erhebt dagegen Bedenken. Wenn ein Gericht den vom staatlichen Gesetzgeber sorgsam abgesteckten Rahmen tariflicher Vgl. dazu oben, 1. Teil: § 3 C. II. 1. BAG vom 13. 3. 2002, AP Nr. 58 zu § 4 EntgeltFG; vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG. 601 Vgl. dazu oben, 1. Teil: § 3 C. II. 2. a). 602 Bengelsdorf, Anm. zu BAG vom 9. 11. 1999, EzA § 11 BUrlG Nr. 44, S. 23; Löwisch / Rieble, TVG, § 1 Rn. 338. 599 600
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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Regelungsautonomie mit seiner Korrektur gesetzlicher Regelungen tangiere, begebe es sich in ein höchst problematisches Feld.603 Bedenken hinsichtlich eines Eingriffs in die verfassungsrechtliche Garantie der Tarifautonomie seien bei Erlass des Bundesurlaubsgesetzes dadurch abgefangen worden, dass den Tarifparteien bei der Ausgestaltung des Urlaubsrechts weitgehend freie Hand belassen werden sollte. Von diesen Vorgaben sei in der Rechtsprechung des 9. Senats nicht mehr viel zu sehen.604 Der Frage nach dem Verhältnis zwischen verfassungsrechtlich garantierter Tarifautonomie und dem Umfang des tarifdispositiven Rechts soll im zweiten und dritten Teil der Arbeit ausführlich nachgegangen werden, so dass das Problem eines Eingriffs in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG durch die Rechtsprechung des 9. Senats vorerst zurückzustellen ist. b) Weitere urlaubsrechtliche Fälle des mittelbaren Eingriffs in §§ 1 bis 3 Abs. 1 BUrlG Weniger problematisch stellt sich die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hinsichtlich mittelbarer Eingriffe in §§ 1 bis 3 Abs. 1 BUrlG durch tarifvertragliche Abweichungen von den übrigen tarifdispositiven Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes dar. Das Verbot mittelbarer Eingriffe in die unabdingbaren Urlaubsvorschriften hindert die Tarifvertragsparteien beispielsweise daran, die Wartezeit des § 4 BUrlG beliebig zu verlängern. Die tarifvertragliche Verlängerung der Wartezeit des § 4 BUrlG von jetzt sechs auf zehn oder elf Monate605 würde den Urlaubsanspruch aus §§ 1 und 3 Abs. 1 BUrlG im ersten Jahr faktisch ausschließen. Auch dem Standpunkt des Bundesarbeitsgerichts, dass der nach abgelaufener Wartezeit entstandene Urlaubsanspruch angesichts des in § 1 BUrlG angeordneten zwingenden Anspruchs der Arbeitnehmer auf Erholungsurlaub in jedem Kalenderjahr nicht verloren gehen darf, ist zu folgen. Im Ergebnis führt dies zwar zum Ausschluss der Tarifdispositivität des § 5 Abs. 1 c). Die zwingenden Regelungen in §§ 1 und 3 Abs. 1 BUrlG hätten jedoch wenig Sinn, wenn die Tarifvertragsparteien einen einmal entstandenen Urlaubsanspruch wieder ausschließen könnten. Anzuerkennen ist auch das Verbot, den Abgeltungsanspruch des § 7 Abs. 4 BUrlG in einem Tarifvertrag abzubedingen. Dieser stellt das Surrogat für den Urlaubsanspruch aus §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG dar und kann daher den Arbeitnehmern nicht entzogen werden. Anzuerkennen ist ebenfalls die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts,606 nach der bei einem Verstoß gegen das Verbot des § 8 BUrlG nicht das Urlaubsentgelt zurückgefordert werden kann. Allerdings muss die Möglichkeit zur tariflichen Festlegung angemessener Vertragsstrafen, die an die Verletzung der in § 8 BUrlG Buchner, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, SAE 2001, 86, 90. Buchner, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, SAE 2001, 86, 91. 605 So auch Dörner, in: ErfK, § 13 Rn. 23; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 Rn. 51; strengere Anforderungen bei Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 66, der zusätzlich mit Art. 5 Nr. 2 ILO-Übereinkommen Nr. 132 argumentiert. 606 BAG vom 25. 2. 1988, AP Nr. 3 zu § 8 BUrlG. 603 604
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
niedergelegten Nebenpflicht607 anknüpfen, möglich sein.608 Durch eine derartige Sanktion einer Verletzung der aus § 8 BUrlG folgenden Pflicht wird die gesetzgeberische Konzeption, den Tarifvertragsparteien die Regelung der Einzelheiten zu überlassen, nicht unterlaufen. Hinsichtlich der Anrechnung von Zeiten, die der Arbeitnehmer in Rehabilitationsmaßnahmen verbringt, auf den Erholungsurlaub wird dem Gesetzeszweck nur die restriktive Auslegung des § 13 Abs. 1 BUrlG dahingehend gerecht, dass eine Prüfung stattfinden muss, ob sich der Zweck der Rehabilitationsmaßnahme mit dem Zweck des gesetzlichen Erholungsurlaubs deckt, wie sie auch vom Bundesarbeitsgericht609 gefordert wird. 3. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall § 4 Abs. 4 EFZG bestimmt, dass in einem Tarifvertrag eine abweichende Bemessungsgrundlage für das fortzuzahlende Arbeitsentgelt festgelegt werden kann, und beseitigt damit die zur Vorgängerregelung des § 2 Abs. 3 LFZG bestehende Unklarheit, ob neben der Berechnungsmethode auch die Berechnungsgrundlage abweichend vom Gesetz bestimmt werden kann.610 Der bloße Wortlaut des § 4 Abs. 4 EFZG gestattet bei unvoreingenommener Betrachtung auch eine Absenkung des fortzuzahlenden Entgelts auf einen Anteil der Grundvergütung.611 Bereits ein Blick auf die Gesetzgebungsmaterialien relativiert diesen Befund jedoch wieder.612 Die Aufnahme des Begriffs „Berechnungsgrundlage“ in § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG war dadurch motiviert, dass das Bundesarbeitsgericht kurz vor dem Erlass des Entgeltfortzahlungsgesetzes zur Vorgängerregelung der Tariföffnungsklausel (§ 2 Abs. 3 LFZG) entschieden hat, dass diese den Tarifvertragsparteien nur die Festlegung einer vom Gesetz abweichenden Berechnungsmethode, nicht jedoch Berechnungsgrundlage gestatte.613 Dieses Rechtsprechungsergebnis wollte der Gesetzgeber korrigieren, nicht allerdings auch das Grundgehalt der Arbeitnehmer im Bereich der Entgeltfortzahlung zur Disposition der Tarifvertragsparteien stellen.614 Nimmt man eine systematische Blickrichtung ein und zieht zusätzlich den Regelungsgehalt des zwingend ausgestalteten § 3 Abs. 1 EFZG heran, dann wird erVgl. nur Hromadka / Maschmann, Arbeitsrecht I, § 8 Rn. 173, S. 315. Auch steht dem Arbeitgeber unter Umständen ein Schadensersatzanspruch gemäß § 280 Abs. 1 BGB zu, dessen Nachweis sich allerdings sehr schwierig gestalten dürfte, vgl. Neumann / Fenski, BUrlG, § 8 Rn. 13. 609 BAG vom 10. 2. 1966, AP Nr. 1 zu § 13 BUrlG. 610 Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (EFZG), BT-Drucks. 12 / 5798, S. 8. 611 Tietje, Anm. zu BAG vom 26. 9. 2001, SAE 2003, 78, 79. 612 Tietje, Anm. zu BAG vom 26. 9. 2001, SAE 2003, 78, 79. 613 BAG vom 3. 3. 1993, BAGE 72, 297, 302 ff. = AP Nr. 25 zu § 2 LohnFG. 614 Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (EFZG), BT-Drucks. 12 / 5798, S. 26. 607 608
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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sichtlich, dass die in den Tariföffnungsklauseln angeordnete Tarifdispositivität durchaus das Potential hat, diesen im Ergebnis zu unterlaufen. Eine von § 4 Abs. 1 EFZG abweichende Festlegung der Berechnungsgrundlage für das fortzuzahlende Arbeitsentgelt beispielsweise, die nur einen 60%-igen Anteil der Grundvergütung als Maßstab für die Fortzahlung festlegt und gleichzeitig sämtliche Zuschläge aus der Berechnung ausnimmt, hätte nichts mehr mit dem zwingenden Grundsatz, des § 3 Abs. 1 EFZG zu tun, der vorsieht, dass der Arbeitnehmer Anspruch auf Fortzahlung seines Arbeitsentgelts hat. Die aktuelle Rechtsprechung des 5. Senats des Bundesarbeitsgerichts eröffnet den Tarifvertragsparteien bereits einen erheblichen Regelungsspielraum.615 Insbesondere die vom 5. Senat gebilligte Möglichkeit den Zeitfaktor abweichend vom Gesetz festzulegen bzw. einzelne Vergütungsbestandteile unberücksichtigt zu lassen gehen weit über die Grenzen hinaus, die der 9. Senat den Sozialpartnern bei der Festlegung des Urlaubsentgelts zieht. Berücksichtigt man den teleologischen Hintergrund der Tarifdispositivität, die den Tarifvertragsparteien weniger eine eigene Gestaltungsbefugnis sichern soll, als ihnen die Anpassung der gesetzlichen Regelungen an die betrieblichen und branchenspezifischen Besonderheiten zu ermöglichen, dann rechtfertigt sich durchaus eine Begrenzung der tariflichen Abweichungsbefugnis. Daher gebietet das Bundesarbeitsgericht den Tarifvertragsparteien, dass diese ihrer Entgeltberechnung zumindest die Grundvergütung vollständig zugrunde legen, damit sich kein Konflikt zu dem in § 3 Abs. 1 EFZG verankerten Prinzip der 100 %-igen Entgeltfortzahlung ergibt.616 Diese Rechtsprechung bewegt sich ohne weiteres im Rahmen einer methodengerechten Auslegung der Tariföffnungsklausel in § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG. Ob sie allerdings im Zuge einer verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift zu revidieren ist, da insbesondere der Wortlaut des § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG auch eine Absenkung der Bemessungsgrundlage auf einen Anteil der Grundvergütung zulässt, wird Gegenstand des dritten Teils der Arbeit sein. Insbesondere Löwisch hält es verfassungrechtlich für bedenklich, wenn den Tarifvertragsparteien durch die Verpflichtung auf die volle Berücksichtigung der Grundvergütung verwehrt ist, im Rahmen eines Kompromisses für das fortzuzahlende Arbeitsentgelt eine dem Arbeitnehmer entgegenkommende Berechnungsgrundlage zu wählen, die beispielsweise Überstundenvergütungen und -zuschläge einbezieht, dafür aber das Niveau des fortzuzahlenden Entgelts auf etwa 90 oder 95% absenkt.617
Vgl. dazu oben 1. Teil: § 3 C. I. 2. Die Stellungnahme des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung nimmt ebenfalls diesen Standpunkt ein, vgl. BT-Drucks. 12 / 5798, S. 26. 617 Löwisch, BB 1999, 102, 106. 615 616
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
4. Kündigungsfristen Auch hinsichtlich der vom Gesetz abweichenden tarifvertraglichen Festlegung der Kündigungsfristen stellt sich die Frage, wie weit die Tarifdispositivität des § 622 Abs. 1 bis 3 BGB reicht. Der Wortlaut des § 622 Abs. 4 S. 1 BGB macht diesbezüglich keine Einschränkungen. Im Gegensatz zu seiner Vorgängerregelung sieht § 622 Abs. 4 S. 1 BGB nicht mehr vor, dass die Tarifvertragsparteien „kürzere“ Kündigungsfristen vereinbaren können, sondern gestattet schlicht die Abweichung. Das Argument, die Entfristung sei keine „kürzere“ Frist im Sinne der Tariföffnungsklausel, greift daher im Hinblick auf die Neuregelung nicht mehr. Vor dem oben bereits herausgearbeiteten teleologischen Hintergrund des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts müssen entfristete Kündigungen zudem möglich sein, wenn die Umstände dies erfordern. § 622 Abs. 4 BGB von vornherein so zu interpretieren, dass den Tarifvertragsparteien die Verkürzung der Kündigungsfrist auf null verwehrt ist, würde den tariflichen Regelungsspielraum entgegen der gesetzgeberischen Intention zu stark einschränken. Der Gesetzgeber hat eindeutig den Wortlaut des § 622 Abs. 4 BGB anders als noch in § 622 Abs. 3 BGB a. F. gestaltet. Nicht die Verkürzung der gesetzlichen Kündigungsfristen wird den Tarifvertragsparteien gestattet. Vielmehr darf in einem Tarifvertrag von den drei ersten Absätzen des § 622 BGB abgewichen werden. Daraus ergibt sich gleichzeitig, dass die Tarifvertragsparteien bei der Festlegung der Kündigungsfristen nicht an das gesetzliche Leitbild des Schutzes älterer Arbeitnehmer gebunden sind. Der Gesetzgeber betont in den Materialien ausdrücklich, dass in Tarifverträgen von allen Kündigungsfristen – und hier zählt er die in den drei ersten Absätzen geregelten Kündigungsfristen wörtlich auf – abgewichen werden darf, um sie den Besonderheiten einzelner Wirtschaftszweige oder Beschäftigungsgruppen anzupassen.618 Dieses Anliegen würde vereitelt, wenn man die Tarifvertragsparteien an die Abstände zwischen der Grundkündigungsfrist des § 622 Abs. 1 BGB und den verlängerten Kündigungsfristen des § 622 Abs. 2 BGB binden wollte. Eine restriktive Auslegung ist daher auch bei § 622 Abs. 4 S. 1 BGB nicht zwingend. Ob der Ausschluss einer entfristeten Kündigung darüber hinaus mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu vereinbaren ist, wird Gegenstand der Untersuchungen im verfassungsrechtlichen Teil der Arbeit sein. 5. Arbeitnehmerüberlassung § 9 Nr. 2 AÜG619 gestattet den Tarifvertragsparteien, von dem gesetzlichen Gleichstellungsgebot zwischen Stammarbeitnehmern im Entleiherbetrieb und 618 Begründung zum Entwurf der Fraktionen der CDU / CSU und FDP eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz), BT-Drucks. 12 / 4902, S. 7, 9. 619 Vgl. auch § 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG.
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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Leiharbeitnehmern abzuweichen. Der Wortlaut der Tariföffnungsklausel beschränkt die tarifliche Abweichungsbefugnis nicht. Anders als bei § 13 Abs. 1 BUrlG und § 4 Abs. 4 EFZG findet sich im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz auch keine zwingende Vorschrift, die mit dem Gleichstellungsgebot in einem so engen Zusammenhang steht, dass eine uneingeschränkte tarifvertragliche Abweichung von § 9 Nr. 2 AÜG deren unabdingbaren Regelungsgehalt unterlaufen könnte. Wie im Hinblick auf § 622 Abs. 4 BGB von den Gegnern einer entfristeten Kündigung gefordert, kann es also lediglich um eine immanente Einschränkung der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis durch die dem Gleichstellungsgebot zugrunde liegende gesetzliche Konzeption gehen. Im Hinblick auf diese ist richtig, dass die ebenfalls in § 9 Nr. 2 AÜG enthaltene Bestimmung, die dem Verleiher gestattet, zuvor arbeitslose Leiharbeitnehmer für sechs Wochen mit einem Nettoentgelt zu vergüten, das in seiner Höhe dem Arbeitslosengeld des Leiharbeitnehmers entspricht, Ausnahmecharakter hat und nicht zur Regel erhoben werden kann.620 Nach dem Gesetzeswortlaut könnten die Tarifvertragsparteien aber selbst den Sechswochenzeitraum verlängern und das Einstiegsentgelt verringern, wenn sie dies für angemessen halten. Aus dieser Ausnahmeregelung des § 9 Nr. 2 AÜG lässt sich demnach für einen gesetzlich fixierten Grundsatz, welcher der Disposition der Tarifvertragsparteien entzogen ist,621 nichts ableiten. Auch § 11 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AÜG belegt nicht, dass der Gesetzgeber hinsichtlich des Lohnniveaus eine Grundsatzentscheidung getroffen hat, die dem Prinzip der vollen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall vergleichbar ist.622 § 11 Abs. 1 S. 2 AÜG ordnet lediglich eine Nachweispflicht für die Leistungen an den Leiharbeitnehmer in Zeiten an, in denen dieser nicht verliehen ist. Über die Höhe und eine Verpflichtung zu derartigen Leistungen besagt die Vorschrift nichts. Allerdings spricht der vorerst gescheiterte Entwurf der Europäischen Kommission für eine Richtlinie über Leiharbeit623 gegen eine unbeschränkte Abweichungsbefugnis der Tarifvertragsparteien. Er sah in Art. 5 Abs. 3 zwar vor, dass Ausnahmen von dem Gleichstellungsgebot im Rahmen tarifvertraglicher Vereinbarungen zulässig sind, stellte diese aber unter den Vorbehalt der Gewährleistung eines angemessenen Schutzniveaus für die Leiharbeitnehmer. Zum einen entfaltet der Richtlinienentwurf keinerlei Bindungswirkung für den deutschen Gesetzgeber,624 sondern vermittelt lediglich einen Eindruck davon, welche Standards auf europäischer Ebene für die Leiharbeit angelegt werden. Zum anderen Schüren, in: ders., AÜG, § 9 Rn. 223. So aber Schüren, in: ders., AÜG, § 9 Rn. 223. 622 So ausdrücklich Schüren, in: ders., AÜG, § 9 Rn. 224. 623 Vgl. den ursprünglichen Entwurf KOM (2002) 149, vom 20. 3. 2002, und den geänderten Vorschlag KOM (2002) 701 endgültig, vom 28. 11. 2002. 624 Vgl. insbesondere zu den kompetentiellen Bedenken Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 202 ff. 620 621
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
ist in Art. 5 Abs. 3 des Richtlinienentwurfs nur von einem angemessenen Schutzniveau für die Leiharbeitnehmer die Rede, nicht aber von einem annähernd gleichen Niveau der Arbeitsbedingungen, wie sie für die Stammarbeitnehmer gelten. Im Interesse der Leiharbeitnehmer ist eine Beschränkung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis dennoch angebracht. Eine nach unten offene Abweichungsbefugnis ist nicht mit dem gesetzlichen Schutzzweck zu vereinbaren. Allerdings würde es zu weit gehen, mit Schüren625 eine annähernd gleiche Vergütung bzw. Gestaltung der Arbeitsbedingungen wie bei den Stammarbeitnehmern zu fordern. Dann wäre von dem „weitgehenden Handlungsspielraum“626, den die Fraktionen der SPD und von Bündnis 90 / Die Grünen den Tarifvertragsparteien im Rahmen der Neuregelung der Arbeitnehmerüberlassung zuschreiben wollten, nichts mehr vorhanden. Richtig ist es jedoch, wie von Ulber627 gefordert, von den Tarifvertragsparteien eine sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung zwischen Leiharbeitnehmern und Stammarbeitnehmern zu verlangen. Trotz der dem Tarifvertrag zukommenden Richtigkeitsgewähr, müssen sich die abweichenden Vereinbarungen an diesem Maßstab messen lassen. Schließlich war es erklärtes Ziel der Tariföffnung, dass die Tarifvertragsparteien die Arbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmer flexibel gestalten und beispielsweise Pauschalierungen beim Arbeitsentgelt zulassen können sowie darüber hinaus die Möglichkeit haben, die Leistungen für Zeiten des Verleihs und Nichtverleihs in einem Gesamtkonzept festzulegen.628 Diesem Ziel kommen sie aber dann nicht mehr nach, wenn tarifvertragliche Differenzierungen willkürlich sind und nicht ausschließlich den Besonderheiten der Leiharbeit Rechnung tragen. 6. Betriebliche Altersversorgung Auch § 17 Abs. 3 BetrAVG schränkt die Möglichkeit zur Schaffung anderer als der im Gesetz vorgesehenen Regelungen nicht von vornherein ein. § 1a BetrAVG sieht zwar einen Anspruch des Arbeitnehmers auf Entgeltumwandlung vor. Die vollständige Abbedingung dieses Anspruchs gerät jedoch nicht in Konflikt mit unabdingbaren Regelungen im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung. Insbesondere in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BetrAVG ist lediglich eine Legaldefinition der Entgeltumwandlung enthalten, nicht jedoch ein unabdingbarer Kern des Entgeltumwandlungsanspruches, der die Tarifvertragsparteien auf die tarifliche Regelung der Durchführung des in § 1a Abs. 1 BetrAVG vorgesehenen UmwandlungsanspruIn: ders., AÜG, § 9 Rn. 223. Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und Bündnis 90 / Die Grünen, BTDrucks. 15 / 98, S. 1. 627 AuR 2003, 7, 12. 628 Entwurf der Fraktionen der SPD und Bündnis 90 / Die Grünen für ein Erstes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks. 15 / 25, S. 38. 625 626
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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ches verweist.629 Auch die Materialien bestätigen, dass den Tarifvertragsparteien durch die Aufnahme des § 1a BetrAVG in § 17 Abs. 3 S. 1 BetrAVG die „größtmögliche Flexibilität bei der Gestaltung neuer betrieblicher Altersversorgung“ eingeräumt werden sollte.630 Dies kann im Rahmen eines tariflichen Gesamtkonzeptes zur betrieblichen Altersversorgung den Ausschluss individueller Entgeltumwandlungsansprüche aufgrund branchen- oder betriebsspezifischer Besonderheiten notwendig werden lassen. Im Gegensatz dazu droht bei der tarifvertraglichen Abweichung von § 2 BetrAVG die Gefahr der Unterwanderung der Unverfallbarkeit einer Anwartschaft auf Versorgungsbezüge. Sie ist dadurch abzuwenden, dass § 17 Abs. 3 S. 1 BetrAVG in Verbindung mit § 2 BetrAVG so angewendet wird, dass die Tarifvertragsparteien nicht grundsätzlich eine andere Mindesthöhe der unverfallbaren Anwartschaft festlegen dürfen, als sie von der Zeitrate des Gesetzes vorgeschrieben wird. Denkbar und zulässig sind Pauschalierungen und Vereinfachungen, die sich im Rahmen der hier aufgefundenen Zwecksetzung der Tariföffnung halten.631 Das bedeutet, dass die Tarifvertragsparteien die gesetzlichen Regelungen an Besonderheiten des jeweiligen Betriebes anpassen können, die gesetzliche Konzeption aber nicht grundsätzlich aufgeben und abändern dürfen. III. Zusammenfassung Treten innerhalb einer gesetzlichen Regelung sowohl zwingende als auch tarifdispositive Arbeitnehmerschutzbestimmungen nebeneinander, dann kann sich dies auf die Auslegung der Tariföffnungsklauseln dahingehend auswirken, dass die Reichweite der Tarifdispositivität restriktiv zu bestimmen ist. Die Anerkennung einer tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis für bestimmte Vorschriften darf nicht dazu führen, dass das Regelungsanliegen der zwingenden gesetzlichen Normen unterlaufen wird. Daher ist das Verbot mittelbarer Eingriffe in unabdingbare Grundprinzipien ansonsten tarifdispositiv ausgestalteter Regelungskomplexe im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts anzuerkennen. Der Zweck der Tariföffnungsklauseln besteht in der Anpassung der gesetzlichen Vorschriften an betriebliche und branchenspezifische Besonderheiten. Dieses Ziel wird vereitelt, wenn die Rechtsprechung den Tarifvertragsparteien den dafür erforderlichen Spielraum durch eine zu restriktive Auslegung der Tariföffnungsklauseln nimmt. Aus diesem Grund ist die Rechtsprechung des 9. Senats des Bundesarbeitsgerichts zu § 11 Abs. 1 in Verbindung mit § 13 Abs. 1 BUrlG abzulehnen. § 11 So jedoch Feudner, DB 2001, 2047. Begründung des Entwurfs der Fraktionen der SPD und Bündnis 90 / Die Grünen eines Altersvermögensgesetzes, BT-Drucks. 14 / 4595, S. 70. 631 Dazu zählt auch die doppelte Berücksichtigung der Betriebszugehörigkeit wie sie in dem Tarifvertrag festgelegt war, der der Entscheidung des BAG vom 24. 7. 2001, AP Nr. 17 zu § 1 BetrAVG Berechnung, zugrunde lag. 629 630
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
Abs. 1 BUrlG regelt sowohl den Zeit- als auch den Geldfaktor, so dass ein Tarifvertrag auch von beiden Bestandteilen der Bemessungsgrundlage für das Urlaubsentgelt abweichen kann. Darüber hinaus besteht für die Tarifvertragsparteien, vergleichbar zur Auslegung des § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG, auch bei der Festlegung des Urlaubsentgelts die Möglichkeit, Zuschläge aus der Berechnung herauszunehmen. Der Rechtsprechung des 5. Senats zu § 4 Abs. 4 EFZG ist zuzustimmen. Im Rahmen von § 622 Abs. 4 S. 1 BGB steht den Tarifvertragsparteien auch die Vereinbarung einer so genannten entfristeten Kündigung offen. Ebenso wenig lassen sich für das Gleichstellungsgebot für Leiharbeitnehmer in § 9 Nr. 2 AÜG sowie die tarifdispositiven Vorschriften des Rechts zur betrieblichen Altersversorgung durch Auslegung der Tariföffnungsklauseln Restriktionen für die tarifvertragliche Abweichungsbefugnis ermitteln. Auf die Frage, ob von diesem Ergebnis aufgrund einer verfassungskonformen Auslegung abzuweichen ist,632 wird im zweiten und dritten Teil der Arbeit im Rahmen der Bestimmung des verfassungsrechtlichen Schutzumfangs der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis zurückzukommen sein.633 Ergibt sich aus dem grundrechtlichen Schutzgehalt des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, dass der Regelungsspielraum der Tarifvertragsparteien in den soeben beleuchteten Bereichen umfassend ausgestaltet sein muss, dann ist die Figur des mittelbaren Eingriffs in die unabdingbaren Prinzipien bestimmter Arbeitnehmerschutzgesetze abzulehnen. Inwieweit die Tarifvertragsparteien über die einfachgesetzlichen teleologischen Grenzen hinaus einer inhaltlichen Bindung ihrer Regelungsmacht durch Grundrechte, insbesondere Art. 3 GG, unterliegen, ist eine allgemeine tarifrechtliche Frage, die im Rahmen dieser Arbeit nicht untersucht werden soll.634
D. Das Verhältnis der tarifvertraglichen Abweichungen von tarifdispositiven Vorschriften zu einzelvertraglichen Abreden Regelungen der Tarifpartner, die von tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften abweichen, sind Tarifnormen im Sinne von § 1 Abs. 1 TVG.635 Grundsätzlich wirken diese im Verhältnis zu den tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien unmittelbar und zwingend (§ 4 Abs. 1 TVG). Allein § 4 Abs. 3 TVG eröffnet einen RahSo Buchner, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, SAE 2001, 86, 91. Siehe unten 2. Teil. 634 Es spricht viel für eine nur mittelbare Drittwirkung der Grundrechte. Als Einfallstor können insbesondere auch die Tariföffnungsklauseln dienen, die man aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben restriktiv auslegen kann. Zur Bindung der Tarifnormen an die Grundrechte, vgl. Schlachter, Grundrechtsbindung von Tarifnormen, JbArbR 40 (2003), S. 51 ff.; Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 237 ff., 261, 263; Canaris, Grundrechte und Privatrecht, 1999; Singer, Tarifvertragliche Normenkontrolle am Maßstab der Grundrechte, ZfA 1995, 611 ff.; A. Wiedemann, Die Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, 1994. 635 Siehe oben 1. Teil: § 3 A. I. 632 633
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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men für andere individualvertragliche Abmachungen, wenn die Tarifvertragsparteien solche entweder gestatten oder sie die tariflichen Festlegungen zugunsten der Arbeitnehmer verändern. Im Hinblick auf Tarifverträge, die von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften abweichen, ergibt sich in diesem Zusammenhang das Problem, dass sich bei unbesehener Anwendung des § 4 Abs. 3 TVG damit ein Regelungsraum für die Arbeitsvertragsparteien eröffnet, der aufgrund des zwingenden Charakters des Gesetzesrechts der privatautonomen Gestaltungsmacht eigentlich entzogen ist.
I. Abweichende Regelungen der Arbeitsvertragsparteien im Günstigkeitsbereich (§ 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG) Das überwiegende Schrifttum geht davon aus, dass die Arbeitsvertragsparteien für den Fall, dass ein Tarifvertrag von tarifdispositivem Gesetzesrecht zuungunsten der Arbeitnehmer abweicht, im Arbeitsvertrag eine günstigere Regelung treffen können als sie der Tarifvertrag vorsieht, die aber hinter dem gesetzlich vorgesehenen Maß zurückbleibt.636 Diese Erwägung ist von dem Gedanken getragen, dass Tarifverträge ausnahmslos Mindestbedingungen enthalten.637 Vor diesem Hintergrund werden die in Ausfüllung der Tariföffnungsklauseln ergehenden abweichenden Tarifnormen als die Untergrenze dessen verstanden, was die Arbeitsvertragsparteien vereinbaren können, da die gesetzliche Regelung im Geltungsbereich eines abweichenden Tarifvertrags dispositiv wird.638 Ein Günstigkeitsvergleich soll nur zwischen der abweichenden tarifvertraglichen und der arbeitsvertraglichen Vereinbarung stattfinden.639 So weit zu gehen, dass durch die Existenz eines abweichenden Tarifvertrags die ursprünglich tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften vollständig dispositiv würden, überspannt den Regelungsinhalt der Tariföffnungsklauseln. Diese schränken lediglich für Tarifverträge die aus dem zwingenden Charakter der tarifdispositiven Vorschriften resultierende Unwirksamkeitsfolge bzw. die aufgrund des § 134 BGB eintretende Nichtigkeit ein.640 Damit ist aber noch kein endgültiges Urteil darüber gesprochen, ob sich nicht doch eine Regelungsbefugnis der Parteien des Individualarbeitsverhältnisses ergeben kann. 636 Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 194; H. Dietz, DB 1974, 1770, 1771; Kraft, in: Soergel, BGB, § 622 Rn. 19, 22 für die Bezugnahme auf Tarifvertragsregelungen, die günstiger als der abweichende Tarifvertrag aber ungünstiger als das tarifdispositive Gesetz sind; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 86, macht nicht deutlich ob er seine Ausführungen auch auf ungünstigere tarifvertragliche Regelungen bezieht; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 240; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 351 für die arbeitsvertragliche Bezugnahme; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 71. 637 Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 194; H. Dietz, DB 1974, 1770, 1771; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 240. 638 H. Dietz, DB 1974, 1770, 1771; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 241. 639 H. Dietz, DB 1974, 1770, 1771; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 241. 640 Herschel, RdA 1969, 211, 214.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
Löwisch und Rieble wollen den Arbeitsvertragsparteien in dem durch § 4 Abs. 3 TVG eröffneten Rahmen nur die Rückkehr zum Gesetz gestatten.641 Die den Tarifvertragsparteien wegen der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags vorbehaltene Befugnis, von an sich zwingendem Recht abzuweichen, könne nicht an die Arbeitsvertragsparteien weitergegeben werden.642 Auch Belling sieht für günstigere einzelvertragliche Vereinbarungen der Arbeitsvertragsparteien im Bereich der Kündigungsfristen nur in den Grenzen des § 622 Abs. 5 BGB Raum.643 Aus Sicht der allgemeinen tarifvertraglichen Vorschriften zum Verhältnis zwischen Tarifvertrag und Arbeitsverhältnis steht dem Ergebnis der herrschenden Meinung nichts im Wege. Im Günstigkeitsbereich besteht die Privatautonomie ungehindert fort und eröffnet den Arbeitsvertragsparteien die Abweichung vom tariflichen Status Quo, solange die vertragliche Regelung für den Arbeitnehmer günstiger ist. Die zu beantwortende Frage ist aber, ob man den Günstigkeitsvergleich auf das Verhältnis zwischen Tarifvertrag und vertraglicher Abweichung beschränken kann. § 4 Abs. 3 TVG betrifft normalerweise das Verhältnis zwischen Tarifvertrag und individualvertraglicher Regelung. Er legt zwar fest, dass die normative Wirkung des Tarifvertrags einer günstigeren individualvertraglichen Vereinbarung nicht entgegensteht, hat aber keinen Einfluss auf neben den Tarifvertrag tretende zusätzliche Grenzen der Privatautonomie. Das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht bildet mit seinem für Individualparteien zwingenden Charakter eine solche Grenze. Auch die Tarifverträge, die von tarifdispositiven Gesetzen abweichen, verdanken ihre Wirksamkeit nur der gesetzlichen Öffnung.644 Die Lösung des Problems ist daher nicht in § 4 Abs. 3 TVG, sondern nur durch die Auslegung der Tariföffnungsklauseln zu finden. Der Wortlaut der Tariföffnungsklauseln gestattet allein den Tarifvertragsparteien die Abweichung von den gesetzlichen Vorschriften. Daraus ergibt sich aber nicht letztverbindlich, dass der Günstigkeitsbereich unterhalb des gesetzlichen Schutzniveaus der arbeitsvertraglichen Gestaltung entzogen wäre. Der Gesetzgeber wollte diesen Aspekt der Abweichung von tarifdispositivem Recht mit der gewählten Formulierung sicherlich nicht abschließend regeln. Zumindest enthalten die Materialen zu den tarifdispositiven Vorschriften des Individualarbeitsrechts keine Hinweise auf ein derartiges Regelungsanliegen des Gesetzgebers. Systematisch hilft der Rückgriff auf § 4 Abs. 3 TVG nicht weiter, da diese Regelung, wie bereits ausgeführt, nur allgemein das Günstigkeitsprinzip regelt und somit für den speziellen Fall der Abweichung von tarifdispositivem Recht nicht aussagekräftig ist. 641 Löwisch / Rieble, TVG, § 4 Rn. 237; ebenso wohl auch Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 32. 642 Löwisch / Rieble, TVG, § 4 Rn. 237; so im Grundsatz auch BAG vom 28. 4. 1988, AP Nr. 25 zu § 622 BGB. 643 Belling, in: Erman, BGB, § 622 Rn. 19. 644 Herschel, RdA 1969, 211, 214.
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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Daher ist aufgrund der teleologischen Eigenheiten des tarifdispositiven Rechts zu ermitteln, ob der Wortlaut der Tariföffnungsklauseln tatsächlich so eng verstanden werden muss, dass die Arbeitsvertragsparteien bei einer Abweichung allein zum gesetzlichen Ausgangspunkt zurückkehren können. Mit der Schaffung tarifdispositiven Rechts wollte der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien die Anpassung der staatlichen Bestimmungen an Besonderheiten einzelner Branchen oder Berufszweige sowie die Festlegung der Details überlassen. Das staatliche Recht stellt für derartige Regelungen kein besonders geeignetes Instrument dar. In die Tarifvertragsparteien hat der Gesetzgeber das Vertrauen gesetzt, dass diese zu sach- und interessengerechten abweichenden Lösungen kommen, die von Besonderheiten der jeweiligen Branche oder Betriebe gefordert werden.645 Durch diese auf dem streitigen Interessenausgleich zwischen den Tarifvertragsparteien beruhende materielle Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags rechtfertigt sich die Ausnahme von dem ansonsten zwingenden Charakter des Gesetzesrechts. Wenn vertragliche Abmachungen in dem zwischen Tarifvertrag und staatlichem Arbeitnehmerschutzrecht verbleibenden Bereich legitime Schutzinteressen der Arbeitsvertragsparteien, des Gesetzgebers sowie der Sozialpartner nicht beeinträchtigen und gleichzeitig die Ausgewogenheit der abweichenden tariflichen Vereinbarung nicht stören, dann kann der Individualautonomie für solche Regelungen entsprechend der spezifischen Zwecksetzung des tarifdispositiven Rechts Raum gegeben werden. Legitime Schutzinteressen der Arbeitsvertragsparteien werden nicht beeinträchtigt. Den Arbeitnehmern selbst entstehen durch die Öffnung der tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften im Günstigkeitsbereich keine Nachteile, da ihre Arbeitsbedingungen günstiger werden, als sie nach der tariflichen Regelung waren und Zugeständnisse in anderen Bereichen des Arbeitsverhältnisses weder unterhalb eines tariflichen noch eines anderen gesetzlichen Schutzniveaus liegen dürfen. Aus dem Gesichtspunkt des Arbeitnehmerschutzes spricht also nichts gegen die Öffnung des Günstigkeitsbereichs für arbeitsvertragliche Regelungen. Dem Arbeitgeber ist damit gedient, dass er den Arbeitnehmern entgegenkommen kann, ohne 645 Vgl. Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit zum Entwurf eines Bundesurlaubsgesetzes, BT-Drucks. IV / 785, S. 2; Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Bereinigung arbeitsrechtlicher Vorschriften, BT-Drucksache V / 3913, S. 10; Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, BT-Drucks. 7 / 1281, S. 31; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (JArbSchG), BT-Drucks. 10 / 2012, S. 14; Entwurf der Bundesregierung eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BR-Drucks. 393 / 84, S. 27 = BT-Drucks. 10 / 2102, S. 26; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (AÜG), BT-Drucks. 10 / 3206, S. 33; Begründung zum Entwurf der Fraktionen der CDU / CSU und FDP eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Kündigungsfristengesetz), BT-Drucks. 12 / 4902, S. 9; Begründung der Bundesregierung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts, BT-Drucks. 12 / 5888, S. 58 f.; Regierungsbegründung zum Entwurf eines Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge und zur Änderung und Aufhebung arbeitsrechtlicher Bestimmungen, BT-Drucks. 14 / 4374, S. 14 = BR-Drucks. 591 / 00, S. 19.
11 Bock
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
gleich den Belastungen durch die Rückkehr zum gesetzlichen Schutzniveau ausgesetzt zu sein. Daran zeigt sich gleichermaßen, dass auch das gesetzgeberische Anliegen durch günstigere individualvertragliche Regelungen unterhalb des gesetzlichen Schutzniviaus nicht unterlaufen wird. Die tarifdispositiven Vorschriften bezwecken den Arbeitnehmerschutz. Die gewöhnlich mit der Öffnung gesetzlicher bzw. tarifvertraglicher Regelungen für abweichende vertragliche Vereinbarungen verbundene Gefahr, dass die Arbeitnehmer auf ein bestimmtes Schutzniveau verzichten, um sich Vorteile auf einem anderen Gebiet zu „erkaufen“, besteht nicht. Denn individualvertragliche Abweichungen unterhalb des gesetzlichen Schutzniveaus sind im Anwendungsbereich des tarifdispositiven Rechts nur möglich, wenn eine abweichende tarifvertragliche Regelung existiert. Diese bietet per se die Gewähr für ihre Angemessenheit und Sachgerechtigkeit. Sie ist für die tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien verbindlich und bildet die absolute Grenze für eine arbeitsvertragliche Festlegung der Arbeitsbedingungen. Die gesetzgeberische Schutzintention wird demnach auch bei einer Abweichung von den tarifvertraglichen Vorschriften durch eine arbeitsvertragliche Vereinbarung, die sich unterhalb des gesetzlichen Schutzniveaus bewegt, nicht beeinträchtigt. Aber auch aus Sicht der Tarifvertragsparteien droht von einer vertraglichen Abmachung im tariflichen Günstigkeitsbereich unterhalb des gesetzlichen Schutzniveaus keine Gefahr. Dies bestätigt bereits § 4 Abs. 3 TVG, der für den tariflichen Günstigkeitsbereich kein Bedürfnis für die normative Wirkung der Tarifnormen sieht. Schließlich ergeben sich auch im Hinblick auf die Ausgewogenheit der tarifvertraglichen Normierung keine abweichenden Anhaltspunkte. Bereits der gegenüber dem Gesetz noch flexiblere Tarifvertrag ist zu starr für einzelne betriebliche Anforderungen, so dass ein Bedürfnis nach Regelungen auf betrieblicher statt kollektivvertraglicher Ebene besteht. Wenn demnach Gesichtspunkte des Arbeitnehmerschutzes der soeben beschriebenen Interpretation der Tariföffnungsklauseln nicht entgegenstehen und der Zweck der Tariföffnung, die Möglichkeit zu branchen- und betriebsspezifischen Lösungen zu bieten, durch die Öffnung des Günstigkeitsbereichs sogar noch befördert wird, dann liegt es nahe, die Tariföffnungsklauseln in der Weise zu interpretieren. Streng genommen handelt es sich dabei nicht um eine extensive Auslegung der Tariföffnungsklauseln. Vielmehr wird § 4 Abs. 3 TVG einheitlich auf alle Tarifnormen, d. h. auch solche angewendet, die von tarifdispositivem Recht abweichen.
II. Vertragliche Regelungen aufgrund tarifvertraglicher Öffnungsklauseln (§ 4 Abs. 3 Alt. 1 TVG) Die Problematik der Abweichung von Tarifverträgen, welche die Tarifdispositivität von Gesetzesrecht nutzen, durch die Arbeitsvertragsparteien ergibt sich gleichermaßen für tarifliche Öffnungsklauseln. Es fragt sich, ob diese für Materien, die durch tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht geregelt sind, überhaupt eine
§ 3 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Tariföffnungsklauseln
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Bedeutung entfalten. Wieder wollen Löwisch und Rieble hier den Arbeitsvertragsparteien nur die Rückkehr zum Gesetz gestatten.646 Hinsichtlich solcher arbeitsvertraglicher Abweichungen, die zwar hinter dem tarifdispositiven Gesetz zurückbleiben, jedoch günstiger für die Arbeitnehmer ausfallen als ein abweichender Tarifvertrag, kann das Ergebnis auch für eine im Tarifvertrag enthaltene Öffnungsklausel nicht anders ausfallen, als für günstigere Regelungen im Allgemeinen. Das Gegenteil gilt für die Nutzung einer tariflichen Öffnungsklausel durch die Arbeitsvertragsparteien, mit der diese noch unter das tarifliche Schutzniveau abweichen wollen. Die gesetzlichen Tariföffnungsklauseln gestatten ausschließlich dem Tarifvertrag die Abweichung vom Gesetz. Grundsätzlich sollten die Tarifvertragsparteien dadurch auch nicht die Befugnis erhalten, die ihnen eröffnete Regelungsbefugnis auf dritte Parteien zu übertragen. Wo der Gesetzgeber dies beabsichtigte, hat er das ausdrücklich in den jeweiligen Tariföffnungsklausen verankert.647 Auch bietet der Arbeitsvertrag nicht die dem Tarifvertrag zukommende Richtigkeitsgewähr,648 welche die vom Gesetz nachteilige Abweichung überhaupt erst legitimiert. Die Tariföffnungsklauseln stehen mithin arbeitsvertraglichen Regelungen entgegen, die eine tarifliche Öffnungsklausel im Sinne des § 4 Abs. 3 Alt. 1 TVG nutzen, dabei aber unter das durch tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht vorgegebene Schutzniveau absinken wollen. Tarifliche Öffnungsklauseln eines von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrags können aber für die Betriebspartner praktische Bedeutung erlangen. Diesen verbietet § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG grundsätzlich die Bezugnahme auf den einschlägigen Tarifvertrag. Ohne eine entsprechende tarifliche Gestattung der Bezugnahme können daher die Parteien einer Betriebsvereinbarung nicht auf einen von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrag verweisen. Existiert jedoch eine entsprechende Öffnungsklausel im Sinne von § 4 Abs. 3 Alt. 1 TVG, dann besteht diese betriebliche Regelungsmöglichkeit.649 Eine Abweichung unter das tarifliche Schutzniveau ist den Betriebspartnern jedoch gleichermaßen verwehrt wie den Arbeitsvertragsparteien.650
III. Fazit Das Verhältnis zwischen tarifvertraglichen Vorschriften, die von tarifdispositivem Gesetzesrecht abweichen und arbeitsvertraglichen Vereinbarungen gestaltet sich grundsätzlich nicht anders, als es § 4 Abs. 3 TVG vorsieht. Den Arbeitsvertragsparteien ist demzufolge gestattet, günstigere Arbeitsbedingungen zu verein646 647 648 649 650
11*
Löwisch / Rieble, TVG, § 4 Rn. 237. Vgl. §§ 7, 12 ArbZG, §§ 89a, 100a, 104, 139, 140 SeemG; § 21a JArbSchG. Löwisch / Rieble, TVG, § 4 Rn. 237; Schlachter, JbArbR 40 (2003), 51, 54. Blomeyer / Otto, BertAVG, § 17 Rn. 192; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 28. Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 147.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
baren, als sie im Tarifvertrag enthalten sind, auch wenn sie dabei unterhalb des gesetzlichen Schutzniveaus bleiben. Eine Einschränkung ergibt sich nur für die Wahrnehmung tarifvertraglicher Öffnungsklauseln im Sinne von § 4 Abs. 3 Alt. 1 TVG. Diese kann von den Arbeitsvertrags- oder Betriebsparteien nicht genutzt werden, um noch unter den Schutzstandard des Tarifvertrags abzuweichen. Die Festlegung schlechterer Arbeitsbedingungen als im Gesetz vorgesehen steht nur den Tarifvertragsparteien zu, die diese Kompetenz grundsätzlich nicht an Dritte weitergeben können. Im Ergebnis dürfen die Arbeitsvertragsparteien daher eine im Tarifvertrag enthaltene Öffnungsklausel nicht ausschöpfen. Den Betriebspartnern hingegen kann eine Öffnungsklausel im Tarifvertrag die Möglichkeit einräumen, im Günstigkeitsbereich auf einen abweichenden Tarifvertrag Bezug zu nehmen. Dies würde ihnen anderenfalls § 77 Abs. 3 BetrVG verbieten.
E. Zusammenfassung Die Betrachtung der Auslegungsprobleme der Tariföffnungsklauseln an den Berührungspunkten zwischen tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht und der einfachgesetzlich ausgestalteten Tarifautonomie hat ergeben, dass es sich bei den abweichenden tarifvertraglichen Vereinbarungen um Tarifnormen im Sinne von § 1 Abs. 1 TVG handelt. Diese lassen sich nicht bereits aufgrund der Abweichung von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht pauschal als Betriebs- oder Inhaltsnormen einordnen. Vielmehr ist die Bestimmung des Normcharakters durch Auslegung der konkreten Tarifnormen vorzunehmen. Allerdings folgt aus den Tariföffnungsklauseln des Arbeitszeitrechts, dass tarifvertragliche Regelungen, welche die Höchstarbeitszeiten in einem Betrieb unabhängig von einer Arbeitsverpflichtung des Einzelnen abweichend von den gesetzlichen Vorschriften regeln, betriebsweite Geltung erlangen. Für die Nachwirkung ergibt sich gemäß § 4 Abs. 5 TVG einheitlich für alle abweichenden Tarifnormen, dass diese nach dem Ablauf des Tarifvertrags bis zum Abschluss eines neuen Tarifvertrags weiter gelten. Ist der Abschluss eines Nachfolgetarifs aussichtslos geworden, endet auch die Nachwirkung. Das Abweichen im Sinne der Tariföffnungsklauseln erfordert keinen expliziten Abweichungswillen. Vielmehr gehen auch ältere Tarifnormen einer tarifdispositiven Gesetzesregelung vor. Ändert sich die Rechtslage, so vermögen grundsätzlich auch solche Tarifnormen tarifdispositives Recht zu verdrängen, die zuvor mit der ursprünglichen gesetzlichen Regelung wort- oder inhaltsgleich waren. Etwas anderes gilt nur, wenn sich dies aus einer Auslegung des Tarifvertrags ergibt. Die Reichweite der Tarifdispositivität ist nicht isoliert aus den Tariföffnungsklauseln abzuleiten, sondern muss das Zusammenspiel von zwingenden und tarifdispositiven Vorschriften innerhalb einer gesetzlichen Kodifikation berücksichtigen. Der teleologische Hintergrund der Tariföffnungsklauseln eröffnet den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, die gesetzlichen Vorschriften an betriebliche und
§ 4 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Erstreckungsklauseln
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branchenspezifische Besonderheiten anzupassen, verbietet ihnen aber, den gesetzlichen Schutzcharakter grundsätzlich abzuwandeln. Insbesondere sind mittelbare Eingriffe in zwingende Arbeitnehmerschutzvorschriften durch die Abweichung von tarifdispositivem Recht ausgeschlossen. Dies führt im Einzelfall zu einer restriktiven Auslegung bestimmter Tariföffnungsklauseln. Wie auf herkömmliche Tarifvertragsvorschriften ist auch auf abweichende Tarifnormen das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG anwendbar. Die Arbeitsvertragsparteien können den Günstigkeitsbereich für eigene Abmachungen nutzen und sich dabei unterhalb des gesetzlichen Schutzniveaus bewegen, jedoch nicht unter den tariflichen Schutzstandard abweichen.
§ 4 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Erstreckungsklauseln vor dem Hintergrund der einfachgesetzlich ausgestalteten Tarifautonomie Der einzelvertraglichen Bezugnahme auf Tarifverträge kommt eine erhebliche praktische Bedeutung zu.651 Im Hinblick auf das tarifdispositive Recht spielt die Bezugnahme auf abweichende Tarifverträge eine besondere Rolle, da durch sie tarifliche Arbeitsbedingungen, die noch hinter dem gesetzlichen Schutzniveau zurückbleiben, auf Außenseiter übertragen werden können. Es versteht sich von selbst, dass damit zugleich ein beachtliches Konfliktpotential verbunden ist. Vor dem Hintergrund der tatbestandlichen Voraussetzungen der Erstreckungsklauseln sind insbesondere der Rechtscharakter der Bezugnahme, das Bezugnahmeobjekt, die Anforderungen an die Bezugnahmeabrede sowie die Reichweite der vertraglichen Regelungsbefugnis unterhalb des gesetzlichen Schutzstandards klärungsbedürftig.
A. Rechtsnatur und Rechtswirkung der Bezugnahme im Geltungsbereich des tarifdispositiven Gesetzesrechts Das Interesse, die von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichenden Tarifvertragsregelungen auch im Rahmen eines nicht tarifunterworfenen Arbeitsverhältnisses anzuwenden, reicht bis in die Zeit zurück, in der das Institut des tarifdispositiven Rechts noch in den Kinderschuhen steckte. Damals erwog das Schrifttum, den in den Tariföffnungsklauseln für Tarifverträge geregelten Vorrang vor den gesetzlichen Vorschriften auch auf Arbeitsverhältnisse auszudehnen, welche die ta651 Ca. 90 % der Betriebe tarifgebundener und nicht tarifgebundener Arbeitgeber nutzen diese Möglichkeit, vgl. Hanau / Kania, Festschrift für Schaub, S. 239; Preis, Grundfragen der Vertragsgestaltung, S. 55.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
riflichen Regelungen kraft Bezugnahme übernommen haben.652 Dieser Ansatz hat sich mit der gesetzlichen Konzeption der Erstreckungsklauseln erledigt, da der Gesetzgeber mit ihnen zum Ausdruck gebracht hat, dass außer in den Fällen, in denen das Gesetz den Arbeitsvertragsparteien die Bezugnahme gestattet, nur Tarifverträge und die diesen kraft Tarifbindung unterworfenen Arbeitsverträge inhaltlich von tarifdispositiven Vorschriften abweichen dürfen. Unter der alleinigen Geltung des § 7 AZO konnte man darüber noch anderer Meinung sein. Da sich aber mittlerweile fast allen Tariföffnungsklauseln eine Erstreckungsklausel anschließt, ist davon auszugehen, dass dort, wo die Erstreckungsklausel fehlt, eine einzelvertragliche Bezugnahme nicht möglich sein soll. Nur der Gesetzgeber kann anderen Teilnehmern am Rechtsverkehr die Abweichung von seinen Regelungen gestatten. Den Tarifvertragsparteien kommt jedoch nicht die Befugnis zu, Arbeitsvertragsparteien das Abweichen von zwingendem Gesetzesrecht zu erlauben.653 Wird in einem Arbeitsvertrag auf eine tarifvertragliche Regelung Bezug genommen, so handelt es sich dabei um eine Teilregelung des Vertrags zwischen den Parteien des Arbeitsverhältnisses. Auf den ersten Blick scheint dem die Tatsache, dass das Bezugnahmeobjekt ein Tarifvertrag ist, das heißt ein Regelungswerk mit normativ wirkenden Vorschriften, nicht entgegenzustehen. Dennoch ist bis heute, insbesondere für den Fall der Erstreckungsklauseln im Rahmen des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts, nicht abschließend geklärt, welche Wirkung eine einzelvertragliche Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag zeitigt, ob also die in Bezug genommenen Tarifvertragsregelungen normativ oder individualvertraglich gelten. Dabei greifen zwei grundsätzlich voneinander zu unterscheidende Fragenkreise ineinander: die rechtliche Konstruktion der Bezugnahme auf der einen und die aus dieser resultierende Rechtswirkung der Bezugnahme auf der anderen Seite. Das Problem wird seit der Geltung der Tarifvertragsverordnung (TVVO) vom 23. 12. 1918654 für die Bezugnahme auf Tarifnormen allgemein diskutiert. Bereits damals war umstritten, ob die Berufung auf den Tarifvertrag ein besonderes tarifrechtliches Institut darstellt, das zur Tarifbeteiligung 655 führe,656 oder lediglich eine verkürzte Vertragsabsprache, die die Regelungen des Tarifvertrags zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses macht.657 Die den Arbeitsvertragsparteien durch die Erstreckungsklauseln eröffnete Möglichkeit, auch auf Tarifnormen Bezug zu nehmen, die von tarifdispositivem Recht abweichen, verleiht der Diskussion um Rechtsnatur und Rechtswirkung der BezugAusführlich dazu von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 63 ff. So aber wohl Herschel, DB 1967, 245, 247 ff., und Stahlhacke, DB 1967, 1983, 1985, die in den abweichenden Tarifnormen Zulassungsnormen erblicken, die wiederum den Arbeitsvertragsparteien gestatten, gewisse Individualabreden zu treffen. 654 RGBl. 1918, S. 1456. 655 Vergleichbar der heutigen Tarifbindung. 656 Vgl. dazu von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 4 ff. 657 Vgl. dazu von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 8 ff. 652 653
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nahme eine neue Dimension und führt weitere Aspekte ein. An dieser Stelle soll nicht abschließend untersucht werden, wie die einzelvertragliche Bezugnahme im Allgemeinen rechtskonstruktiv zu erklären ist. Vielmehr werden sich die folgenden Ausführungen auf die Bezugnahme auf einen von tarifdispositiven Gesetzesvorschriften abweichenden Tarifvertrag konzentrieren.
I. Meinungsstand Die Rechtsprechung geht von einer rein vertraglichen Wirkung der Bezugnahme auf von tarifdispositiven Gesetzesvorschriften abweichende Tarifnormen aus,658 auch wenn die Formulierung bisweilen missverständlich ist.659 Im Schrifttum sind die Meinungen geteilt. Eine Strömung sieht in der Bezugnahme eine vertragliche Abrede, durch die die Arbeitsvertragsparteien die Tarifregelungen zum Inhalt ihres Arbeitsverhältnisses machen wollen und dies mit Hilfe der Verweisung verkürzt darstellen. Demzufolge gelten die in Bezug genommenen Tarifnormen ausschließlich schuldrechtlich als Vertragsinhalt.660 658 BAG vom 29. 1. 1975, AP Nr. 8 zu § 4 TVG Nachwirkung; vom 7. 12. 1977, AP Nr. 9 zu § 4 TVG Nachwirkung; vom 31. 5. 1990, AP Nr. 13 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit; vom 22. 9. 1993, AP Nr. 21 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag = EzA § 3 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 10, S. 9 = NZA 1999, 879, 881. 659 Vgl. BAG vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG (Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag im Sinne von § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG ersetze die fehlende Tarifbindung); BAG vom 21. 7. 1978, AP Nr. 5 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit, in der eine Bezugnahme im Sinne von § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG nicht vorlag und mit dieser Begründung auch die Anwendbarkeit des § 4 Abs. 4 S. 1 TVG abgelehnt wurde; BAG vom 20. 3. 1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz (Die vertragliche Bezugnahme sei eine von mehreren Möglichkeiten, die Bindung an einen Tarifvertrag herbeizuführen). 660 Annuß, BB 1999, 2558, 2558; Bauschke, ZTR 1993, 416, 418; Blomeyer, ZfA 1975, 343, 349 f.; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 198; Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 39; H. Dietz, DB 1974, 1770; Gaul, ZTR 1991, 188, 192; ders., ZTR 1993, 355, 356 f.; Gumpert, BB 1960, 100, 101; ders., BB 1961, 1276, 1278; Hanau / Kania, Anm. zu BAG vom 20. 3. 1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; dies., Festschrift für Schaub, S. 239, 241; Hueck, BB 1949, 354, 356; Jacobs, in: Annuß / Thüsing, TzBfG, § 12 Rn. 62; Koberski / Clasen / Menzel, TVG, § 3 Rn. 53; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht 1995, § 13 Rn. 31; Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 143; Löwisch / Rieble, TVG, § 3 Rn. 241; Neumann, ArbRGgw. Bd. 7 (1969), 23, 34; Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 218 ff., 226, 262; M. Reichel, Arbeitsvertragliche Bezugnahme, S. 9 ff.; Rewolle, DB 1963, 483, 483; von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 55 ff., 63 allgemein, S. 124, 127 für die Erstreckungsklauseln; Richardi, ZfA 1971, 87; ders., in: MüHBArbR, § 12 Rn. 15; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 1724, der mit dem Schweizer Modell sympatisiert, dieses aber in Deutschland derzeit noch für nicht praktikabel hält; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 193; Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 232; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 351; Waas, ZTR 1999, 540 ff.; Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 68; wohl auch Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 338, der allerdings im Wortlaut der Erstreckungsklauseln eher einen Hinweis auf die unmittelbare Geltung der Tarifnormen sehen will; Siara, § 13 Rn. 4d, f.
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Andere Stimmen haben ebenfalls einen individualvertraglichen Ausgangspunkt. Die Vertragsabrede enthalte ihnen zu Folge aber lediglich die Einigung darüber, dass das Arbeitsverhältnis den in Bezug genommenen Tarifnormen unterworfen sein soll, aber keine Einigung über inhaltlich mit dem Tarifvertrag identische Arbeitsbedingungen. Die Konstruktion sei mit der Rechtswahl des Internationalen Privatrechts661 vergleichbar. Der Arbeitsvertrag enthalte lediglich die Unterwerfungsabrede.662 Die Art und Weise der Einwirkung der Tarifnormen, denen das Arbeitsverhältnis unterworfen wurde, bleibt bei dieser Ansicht im Dunkeln. Deutlich wird nur Haußmann,663 die in den Erstreckungsklauseln die gesetzliche Anordnung einer unmittelbaren und zwingenden Wirkung der in Bezug genommen Tarifvertragsregelungen sieht, ohne dass Tarifbindung im Sinne des § 3 TVG eintrete. Weiter geht von Hoyningen-Huene664, der speziell in der Bezugnahme im Rahmen der Tariföffnungsklauseln auf den gesamten die Abweichung enthaltenden Tarifvertrag oder einen abgeschlossenen Regelungskomplex eines solchen einen Sondertatbestand der Tarifbindung neben § 3 Abs. 1 und 2 sowie § 5 TVG erblickt. Das führt dazu, dass die Vorschriften in § 4 TVG, insbesondere das Verzichtsverbot in § 4 Abs. 4 TVG anwendbar sein sollen.665 Zudem müssten für das Verhältnis zwischen Tarifnormen, die kraft beiderseitiger Tarifbindung gelten, und solchen, die lediglich in Bezug genommen worden sind, statt des in § 4 Abs. 3 TVG verankerten Günstigkeitsprinzips die Regelungen über die Tarifkonkurrenz angewendet werden.666 Die Teile des Schrifttums, die hinsichtlich der Bezugnahme auf einen Tarifvertrag von einer Unterwerfung unter die tarifliche Regelung ausgehen, stützen sich vorwiegend darauf, dass die Parteien des Arbeitsvertrages bei der Bezugnahme 661 Sowie nach Herschel, DB 1967, 245, 248, der Wahl eines Güterstandes nach §§ 1415 ff. BGB, bzw. nach der Unterwerfung unter AGB – die zum damaligen Zeitpunkt noch nicht abschließend dogmatisch ergründet waren –; dagegen von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 58 ff., 61 f . 662 Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 37; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 338 f.; Herschel, DB 1967, 245, 248, der ebenfalls noch die Parallele zur Güterstandsvereinbarung nach den §§ 1415 ff. BGB zieht; ders., DB 1969, 659, 660 f., wenn auf den Tarifvertrag als ganzen oder abgeschlossene Regelungskomplexe verwiesen wird; Kohte, Anm. zu BAG vom 4. 9. 1996, AuA 1997, 171, ohne allerdings auf die damit einhergehende Wirkung der Bezugnahme einzugehen; Lorenz, in: Däubler, TVG, § 3 Rn. 223; Stahlhacke, DB 1967, 1983, 1986; wohl auch Schaub, ArbRHB, § 208 III. 1., Rn. 8, sowie ders., ZTR 2000, 259, 260, der allerdings an beiden Stellen die Frage nach der Wirkung der in Bezug genommenen Tarifnormen offen lässt; Schnorr, AuR 1963, 193, 196, der das Entstehen einer Tarifbindung zwar ablehnt, aber aufgrund der aus der Tarifdispositivität der Vorschriften des Urlaubsgesetzes resultierenden Unabdingbarkeit der in Bezug genommenen Tarifvertragsvorschriften auf die Anwendbarkeit des § 4 TVG schließt; Zöllner / Loritz, Arbeitsrecht, § 37 I 7, S. 413, die Übergänge zu normativer Rechtsgeltung kraft „Rechtswahl“ sehen. 663 Der Verbandswechsel des Arbeitgebers, S. 58 ff. 664 RdA 1974, 138 ff. 665 von Hoyningen-Huene, RdA 1974, 138, 150 f. 666 von Hoyningen-Huene, RdA 1974, 138, 149.
§ 4 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Erstreckungsklauseln
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keine Einigung über den Inhalt der zwischen ihnen zu regelnden Beziehungen erzielten, sondern lediglich eine Geltungsübereinkunft hinsichtlich bestimmter Rechtsnormen träfen.667 Speziell im Hinblick auf die Abweichung von tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften führen die Autoren an, dass es mit dem Wesen des Tarifvorrangs nicht vereinbar sei, wenn die in Bezug genommenen Vorschriften lediglich schuldrechtliche Wirkung entfalteten.668 Das Vorrangprinzip knüpfe weniger an die Tarifbindung als an die Besonderheiten der Tarifnormen an, so dass diese für das Arbeitsverhältnis gelten müssten, was bei einer Verweisung, die sie zum Vertragsinhalt macht, nicht der Fall wäre.669 Von Hoyningen-Huene670 stützt die Konstruktion einer an die Bezugnahme anknüpfenden Tarifbindung auf eine angebliche Anordnung in den Erstreckungsklauseln des tarifdispositiven Rechts. Er argumentiert hauptsächlich mit deren Wortlaut, der von „Geltung“ bzw. „gelten“ spricht, womit seiner Ansicht nach nur eine normative Wirkung gemeint sein könne. Die Regelungen in § 3 Abs. 1 und 2 sowie § 5 TVG seien nicht abschließend. Auch sei es durchaus üblich, dass der Gesetzgeber an eine vertragliche Vereinbarung normative Folgen knüpfe. Dieser Argumentation schließt sich Haußmann671 teilweise an. Sie stützt sich maßgeblich auf den Wortlaut von § 13 BUrlG, § 4 Abs. 4 S. 2 EFZG und § 622 Abs. 4 S. 2 BGB.672 Speziell im Hinblick auf § 622 Abs. 4 BGB argumentiert sie systematisch, dass der Gesetzgeber die Zulassung der einzelvertraglichen Bezugnahme in Abs. 5 der Vorschrift hätte aufnehmen müssen, wenn sie eine rein schuldrechtliche Wirkung zeitigen sollte.673 Die einzelvertragliche Bezugnahme selbst könne keine unmittelbare und zwingende Wirkung der in Bezug genommenen Tarifnormen bewirken, und gerade weil sie das nicht könne, sei in den gesetzlichen Erstreckungsklauseln eine Anordnung dieser normativen Wirkung zu erblicken.674 Sie sei Tatbestandsvoraussetzung bzw. Auslöser für die aus der gesetzlichen Anordnung fließende unmittelbare und zwingende Wirkung der in Bezug genommenen Tarifnormen.675 Die Verfechter der vertraglichen Natur und schuldrechtlichen Wirkung der Bezugnahme auf den Tarifvertrag argumentieren dagegen in erster Linie historisch. Das Tarifvertragsgesetz habe das Institut der Berufung auf den Tarifvertrag aus § 1 Abs. 2 TVVO, bei der eine einzelvertragliche Vereinbarung TarifbeteiliHerschel, DB 1967, 245, 248. Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 37; Stahlhacke, DB 1967, 1983, 1986; ebenso generell für die Bezugnahme auf Tarifnormen Lorenz, in: Däubler, TVG, § 4 Rn. 223. 669 Stahlhacke, DB 1967, 1983, 1986. 670 RdA 1974, 138 ff. 671 Der Verbandswechsel des Arbeitgebers, S. 58 ff. 672 Haußmann, Der Verbandswechsel des Arbeitgebers, S. 59. 673 Haußmann, Der Verbandswechsel des Arbeitgebers, S. 59. 674 Haußmann, Der Verbandswechsel des Arbeitgebers, S. 61. 675 Haußmann, Der Verbandswechsel des Arbeitgebers, S. 61. 667 668
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
gung676 nach sich zog, gerade nicht übernommen und schließe die Annahme von Tarifbindung kraft vertraglicher Vereinbarung aus.677 Vielmehr bestimme sich die Rechtsnatur einer Bezugnahme stets nach der verweisenden Regelung.678 Insbesondere gegen die Ansicht von der Entstehung echter Tarifbindung aufgrund der Erstreckungsklauseln wird vorgebracht, dass zwischen einer Bezugnahme aufgrund einer Tariföffnungsklausel und anderen Verweisungen auf Tarifverträge keine sachlichen Unterschiede bestünden und daher eine Unterscheidung auch nicht nachvollziehbar sei.679 Auch der Wortlaut der Erstreckungsklauseln sei nicht so eindeutig, wie von der Gegenansicht unterstellt, da sie zwar von „Geltung“ aber auch von „Vereinbarung“ sprechen.680 Darüber hinaus weisen einige Vertreter die Konstruktion einer sich an die vertragliche Bezugnahme anschließenden normativen Wirkung der Tarifnormen als umständlich zurück.681 Sie entspreche nicht dem System der aktuellen Rechtsordnung.682 Außerdem knüpfe die Ansicht von der Tarifbindung durch gesetzliche Erstreckungsklauseln ihre Rechtsfolge an das Vorliegen einer vertraglichen Regelung, so dass die Tarifnormen gerade nicht unmittelbar gelten. Ebenso wenig wirkten sie zwingend, da die einzelvertragliche Bezugnahmeklausel jeder Zeit wieder aufgehoben werden könnte. Es fehle daher an der für die Tarifbindung charakteristischen Wirkung, dass die Geltung der Tarifnormen ohne und gegen den Willen der Arbeitsvertragsparteien eintrete.683 Der Vergleich mit der Rechtswahl des Internationalen Privatrechts liefere ebenfalls keine zusätzliche Erklärung, da auch dieser vertraglicher Charakter zugemessen werde684 und mit der Einführung einer gesonderten Unterwerfungserklärung Die als Rechtsinstitut der heutigen Tarifbindung vergleichbar ist. Annuß, BB 1999, 2558, 2558; Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 36; Hueck, BB 1949, 354, 356; Löwisch / Rieble, TVG, § 3 Rn. 241; Nömeier, Bezugnahme auf Tarifinhalte, S. 64; Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 217; M. Reichel, Arbeitsvertragliche Bezugnahme, S. 11; Rewolle, DB 1963, 483, 483; von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 55; Richardi, in: MüHBArbR, § 12 Rn. 16; Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 233; Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 68. 678 Gaul, ZTR 1993, 355, 356; Löwisch / Rieble, TVG, § 3 Rn. 243. 679 Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 225; Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 233; Waas, ZTR 1999, 540, 545 f.; Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 69. 680 Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 198; Rewolle, DB 1963, 483, 483; Waas, ZTR 1999, 540, 542; ähnlich auch von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 113. 681 Nömeier, Bezugnahme auf Tarifinhalte, S. 52, 64; M. Reichel, Arbeitsvertragliche Bezugnahme, S. 10; Waas, ZTR 1999, 540, 542. 682 Waas, ZTR 1999, 540, 542. 683 Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 39; Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 225; von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 58, 59, 118; Schnorr, AuR 1963, 193, 194. 684 Nömeier, Bezugnahme auf Tarifinhalte, S. 58; M. Reichel, Arbeitsvertragliche Bezugnahme, S. 9; ähnlich von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 60 f., der aufgrund der eindeutigen Regelung im TVG keine gesetzliche Grundlage für den Vergleich mit der Rechtswahl findet und deren Notwendigkeit verneint, da im Hinblick auf Tarifverträge keine Unklarheiten über das anwendbare Recht, wie sie durch die Rechtswahl gerade beseitigt werden sollen, entstehen können. 676 677
§ 4 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Erstreckungsklauseln
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neben der herkömmlichen Verweisung erhebliche Abgrenzungsschwierigkeiten verursacht würden.685 Insbesondere werde der Zweck des tarifdispositiven Rechts auch durch eine Geltung als einzelvertragliche Regelung erreicht, da es dem Gesetzgeber nicht auf die besondere Rechtsbindung an den Tarifvertrag ankam, sondern auf das Zustandekommen der Regelung unter den Funktionsvoraussetzungen des Tarifvertragssystems.686 Darüber hinaus sei nur die vertragliche Geltung des gesamten Regelungskomplexes möglich, so dass im Falle des Verzichts, der Verwirkung oder des Ausschlusses einzelner Rechtspositionen automatisch wieder das Gesetz eingreife, was die Anwendung des § 4 Abs. 4 TVG entbehrlich mache.687
II. Die rein vertragsrechtliche Natur und Wirkung der Bezugnahme Das aus § 1 Abs. 2 TVVO bekannte Institut der Tarifbeteiligung kraft Berufung auf den Tarifvertrag hat in das derzeitige Tarifvertragssystem keinen Eingang gefunden. Vielmehr regelt das Tarifvertragsgesetz die Normunterworfenheit unter einen Tarifvertrag vorwiegend auf einer mitgliedschaftlich-verbandsrechtlichen Grundlage.688 Die Annahme eines besonderen Tatbestandes der Tarifbindung neben § 3 Abs. 1 und 2 TVG bzw. § 5 TVG durch Bezugnahme689 oder einer an die Bezugnahme anknüpfenden normativen Wirkung der von den Arbeitsvertragsparteien in Bezug genommenen Tarifvertragsregelungen690 ist daher nur möglich, wenn sie in einer gesetzlichen Regelung niedergelegt ist. 1. Anordnung der Tarifbindung über die im Tarifvertragsgesetz geregelten Fälle hinaus Als mögliche Grundlage für die Anordnung einer Tarifbindung über die im Tarifvertragsgesetz geregelten Fälle hinaus, kommen für die Abweichung von tarifdispositivem Recht nur die gesetzlichen Erstreckungsklauseln in Betracht. Ob diese einen Tatbestand der Tarifbindung außerhalb des Tarifvertragsgesetzes regeln, ist durch Auslegung zu ermitteln. Der Wortlaut der Erstreckungsklauseln ist in dieser Hinsicht alles andere als einheitlich.691 Während § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG, § 622 Abs. 4 S. 2 BGB, § 17 Abs. 3 M. Reichel, Arbeitsvertragliche Bezugnahme, S. 10. Richardi, in: MüHBArbR, § 12 Rn. 17; sogar Herschel, DB 1967, 245, 248. 687 Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 198; von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 122 ff. 688 Darauf weisen M. Reichel, Arbeitsvertragliche Bezugnahme, S. 11, und Rewolle, DB 1963, 483, 483, hin. 689 Dazu sogleich unter 1. Teil: § 4 A. II. 1. 690 Dazu unter 1. Teil: § 4 A. II. 2. 685 686
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
S. 2 BetrAVG und § 48 Abs. 2 S. 2 ArbGG festlegen, dass die vereinbarte tarifliche Regelung „Geltung“ haben oder „gelten“ soll, sehen § 12 Abs. 3 S. 3, § 13 Abs. 4 S. 2 und § 14 Abs. 2 S. 4 TzBfG sowie § 4 Abs. 4 EFZG vor, dass die „Anwendung“ der abweichenden tarifvertraglichen Regelung „vereinbart“ werden kann. Wieder anders ordnen § 7 Abs. 3 S. 1 ArbZG, § 21a Abs. 2 JArbSchG sowie § 89a Abs. 2, § 100a Abs. 2 SeemG an, dass die tarifvertragliche Regelung „übernommen“ werden kann. Zu dem Zeitpunkt, als die Auffassung von der Entstehung echter Tarifbindung durch Erstreckung einer von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifregelung auf Außenseiter Fuß zu fassen begann, konnte die von den zuerst genannten Normen abweichende Formulierung in § 2 Abs. 3 S. 2 LFZG unter Umständen noch als Redaktionsversehen692 abgetan werden. Dieses „Redaktionsversehen“ hat der Gesetzgeber mittlerweile mehrfach ausdrücklich bestätigt. Aber selbst wenn alle Erstreckungsklauseln ausnahmslos von der „Geltung“ der vereinbarten Tarifregelungen sprechen würden, könnte die Ansicht von der echten Tarifbindung nicht leugnen, dass auch vertragliche Regelungen in dem Bereich, für den sie verbindlich sind, Geltung beanspruchen.693 Der Wortlaut liefert daher keine Anhaltspunkte dafür, dass die Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag zu echter Tarifbindung führt. Zudem enthalten die Erstreckungsklauseln die Festlegung, dass nicht tarifgebundene Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Anwendung der Tarifnormen vereinbaren können und nicht beispielsweise die Bestimmung, dass diese nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien als tarifgebunden gelten. Auch der systematische Vergleich mit dem ebenfalls in § 4 Abs. 1 TVG verwendeten Begriff des „Geltens“ vermag das Entstehen einer Tarifbindung aufgrund einer Bezugnahme im Sinne der gesetzlichen Erstreckungsklauseln nicht zu begründen. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber einen terminus technicus in seiner bekannten rechtlichen Bedeutung verwendet.694 Das setzt aber eine gefestigte begriffliche Prägung des betreffenden Wortes voraus. Diese ist insbesondere vorhanden, wenn eine Legaldefinition existiert. In allen übrigen Fällen ist der Zusammenhang, in dem der Begriff verwendet wird, von entscheidender Bedeutung. Die Relativität der Rechtsbegriffe besagt, dass sich die Bedeutung eines Wortes je nach dem Regelungszusammenhang, in dem es sich befindet, wandeln kann.695 Daraus ergibt sich, dass die Bedeutung von „Geltung“ im Sinne des § 4 Abs. 1 TVG nicht gleichgesetzt werden kann mit „Gelten“ im Sinne der Erstreckungsklauseln.
691 Daher verbietet sich der Schluss Haußmanns, Der Verbandswechsel des Arbeitgebers, S. 59, dass der von den Erstreckungsklauseln verwendete Begriff des „Geltens“ eine normative Wirkung nach sich ziehe. 692 So von Hoyningen-Huene, RdA 1974, 138, 143. 693 So auch Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 225. 694 Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 439; Larenz / Canaris, Methodenlehre, S. 142. 695 Darauf weisen auch Bydlinski, Juristische Methodenlehre, S. 441, und Waas, ZTR 1999, 540, 542, hin.
§ 4 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Erstreckungsklauseln
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Rein konstruktiv ist die Annahme echter Tarifbindung aufgrund der Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, selbst im Rahmen der Erstreckung eines von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrags, eher ein Fremdkörper in unserer Rechtsordnung. Richtig ist, dass das Gesetz an verschiedenen Stellen an eine vertragliche Vereinbarung weitergehende automatische rechtliche Folgen knüpft, die die Vertragsparteien nicht vorgesehen haben oder so nicht wollten. Umständlich und unüblich ist es aber, den Arbeitsvertragsparteien eine Rechtsfolge, die sie herbeiführen wollen, zu verbieten, um sie ohne weiteres automatisch kraft Gesetzes eintreten zu lassen.696 Auch der Zweck der Tariföffnungsklauseln und der mit ihnen verbundenen Erstreckungsklauseln spricht gegen ein Entstehen von Tarifbindung. Die tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften stellen im Hinblick auf die Arbeitsvertragsparteien gesetzliche Mindestarbeitsbedingungen bzw. zweiseitig zwingendes Recht dar. Die Erstreckungsklauseln bezwecken, die durch die individualvertragliche Unabdingbarkeit der tarifdispositiven Vorschriften hervorgerufene Begrenzung der Privatautonomie für den Fall aufzuheben, in dem der Vertragsinhalt mit einer tarifvertraglichen Regelung identisch ist.697 Denn dann garantiert der Regelungsgehalt, der zwischen gleichermaßen verhandlungsstarken Partnern in Gestalt der Tarifvertragsparteien zustande gekommen ist, interessengerecht und angemessen zu sein. Nach gesetzgeberischer Einschätzung bedarf das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf einen mit dem abweichenden Tarifvertrag identischen Inhalt keiner gesetzlichen Vorprägung. Von dem in Bezug genommenen Tarifvertrag abweichende Vereinbarungen können die Arbeitsvertragsparteien zumindest zum Nachteil der Arbeitnehmer nicht treffen, da insoweit das zwingende Gesetzesrecht entgegensteht. Die Annahme echter Tarifbindung, um die Anwendbarkeit der in § 4 TVG verankerten Vorschriften zur normativen Tarifwirkung zu erreichen, ist nicht erforderlich, da bei einem Verzicht auf eine einzelne Regelung aus dem in Bezug genommenen tariflichen Regelungskomplex die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Bezugnahme auf den abweichenden Tarifvertrag nicht mehr vorliegen698 und mangels wirksamer Vertragsregelung die gesetzlichen Vorschriften wieder eingreifen. Der Zweck der Tariföffnungsklauseln erfordert somit die Annahme von Tarifbindung ebenfalls nicht. Die Erstreckungsklauseln sind daher so zu verstehen, dass sie lediglich den eingeschränkten Aktionsrahmen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer erweitern. Die Parteien des Arbeitsverhältnisses dürfen trotz der gegenüber den Individualvertragsparteien zwingenden Wirkung der tarifdispositiven Gesetzesvorschriften den So überzeugend Waas, ZTR 1999, 540, 54. So explizit auch Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 198. 698 Dies setzt natürlich voraus, dass nur die Bezugnahme auf einen abgeschlossenen Regelungskomplex und nicht auf einzelne Regelungen zulässig ist, was Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 39; Richardi, in: MüHBArbR, § 12 Rn. 18; und Schnorr, AuR 1963, 193, 195, ebenfalls zur Bedingung machen. Vgl. dazu sogleich unten 1. Teil: § 4 B. III. 696 697
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
abweichenden Tarifvertragsregelungen entsprechende Vereinbarungen zum Vertragsinhalt machen. 2. Normative Wirkung der in Bezug genommenen abweichenden Tarifnormen Die Bezugnahme auf einen von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrag führt nicht zu einer Tarifbindung. Damit ist jedoch noch nicht die Frage beantwortet, ob der besondere Charakter des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts im Rahmen der Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag die normative Wirkung des Bezugnahmeobjekts nach sich zieht. Dann liegt zwar keine Tarifbindung im eigentlichen Sinne vor. Dennoch würde daraus die unmittelbare und zwingende Wirkung der abweichenden Tarifnormen im Rahmen des Arbeitsverhältnisses folgen. Der Wortlaut aller derzeit existierenden Erstreckungsklauseln kann, wie sich soeben gezeigt hat, nicht als verlässliche Grundlage für die gesetzliche Anordnung einer normativen Wirkung der in Bezug genommenen Tarifnormen herangezogen werden. Das lässt Haußmann699 bei ihrer auf drei Erstreckungsklauseln beschränkten Betrachtung außer Acht. Grundsätzlich werden Verweise in Verträgen als verkürzte Vertragsinhaltsbestimmungen behandelt. Die Rechtswirkung der in Bezug genommenen Regelung bestimmt sich nach der Natur der Bezug nehmenden Abmachung.700 Das ist auch folgerichtig, da den Parteien des Arbeitsvertrags keine Regelungsmacht eingeräumt ist, kraft derer sie unmittelbar und zwingend wirkende Vorschriften setzen können. Auch Haußmann räumt ein, dass die Arbeitsvertragsparteien ihren Verweis jederzeit wieder aufheben können. Wenn sie dann aber weiter argumentiert, die Arbeitsvertragsparteien könnten die Vereinbarung nicht inhaltlich modifizieren,701 so übersieht sie, dass dies nicht aus einer etwaigen normativen Wirkung der Tarifnormen folgt, sondern aus dem zwingenden Charakter der tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften. Auch aus dem Zweck des tarifdispositiven Rechts und der in seinem Rahmen eröffneten einzelvertraglichen Bezugnahme ergibt sich nicht die Notwendigkeit einer normativen Wirkung. Ein Teil der Erstreckungsklauseln lässt nach ihrem Wortlaut die Bezugnahme nur bei vollständigem Verweis auf den gesamten, die Abweichung enthaltenden Tarifvertrag (§ 48 Abs. 2 S. 2 ArbGG, § 89a Abs. 2 699 Der Verbandswechsel des Arbeitgebers, S. 59, wo sie insbesondere fordert, dass der Gesetzgeber bei einer beabsichtigten schuldrechtlichen Wirkung oder „Geltung“ in den Erstreckungsklauseln den Begriff „vereinbaren“ hätte verwenden können. Dass das in § 101 Abs. 2 S. 3 ArbGG, § 7 Abs. 3 S. 1 ArbZG, § 21a Abs. 2 JArbSchG und sogar in dem von ihr betrachteten § 622 Abs. 4 S. 2 BGB geschehen ist, übergeht die Autorin; vgl. aktuell zusätzlich §§ 12 Abs. 3 S. 2, 13 Abs. 4 S. 2, 14 Abs. 2 S. 4 TzBfG. 700 Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 127; Gaul, ZTR 1993, 355, 356; Löwisch / Rieble, TVG, § 3 Rn. 243. 701 Haußmann, Der Verbandswechsel des Arbeitgebers, S. 61.
§ 4 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Erstreckungsklauseln
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SeemG) oder den abgeschlossenen Regelungskomplex zu, der die Abweichung enthält. Die übrigen Erstreckungsklauseln können in gleicher Weise ausgelegt werden.702 Dadurch wahrt eine lediglich schuldrechtliche Wirkung Sinn und Zweck des tarifdispositiven Rechts, zum Nachteil der Arbeitnehmer von gesetzlichen Vorschriften abweichende Arbeitsbedingungen nur dann wirksam werden zu lassen, wenn sie Gewähr für sachliche Angemessenheit bieten. Die Annahme einer normativen Wirkung ist also aus Sicht des tarifdispositiven Rechts nicht notwendig. Allein die Tatsache, dass die Arbeitsvertragsparteien aufgrund der Anordnung in den Erstreckungsklauseln gezwungen sind, auf abgeschlossene Regelungskomplexe oder den gesamten Tarifvertrag Bezug zu nehmen,703 macht diese Bezugnahme auch nicht zu einer Rechtswahl. Weder handelt es sich bei dem Tarifvertrag um eine fremde Rechtsordnung, zumal da es sich immer um den einschlägigen Tarifvertrag handeln muss, noch ist es Anliegen der Arbeitsvertragsparteien, sich der tariflichen Ordnung zu unterwerfen, denn dann hätten sie auch den Verbänden beitreten können. Die Annahme eines solchen Parteiwillens ist reines Postulat. Schließlich wollten die Arbeitsvertragsparteien dies gerade vermeiden. Vielmehr stellen die Erstreckungsklauseln das individualrechtliche Pendant zur Anerkennung der Tarifautonomie dar. Dort wo die Tarifpartner angemessene, von der gesetzlichen Lage abweichende Arbeitsbedingungen ausgehandelt haben, soll auch den Arbeitsvertragsparteien die Schaffung inhaltsgleicher vertraglicher Arbeitsbedingungen offen stehen. Die Anforderungen an den Umfang der Bezugnahme sind Tatbestandsvoraussetzung für das Zurückweichen des zwingenden Charakters der Arbeitnehmerschutzvorschriften. Außerdem ist mit der Feststellung, dass sich die Bezugnahme mit der Rechtswahl des Internationalen Privatrechts vergleichen lasse, nicht viel gewonnen. Sie erklärt nicht hinreichend, welche Wirkung die „gewählten“ Normen zeitigen.704 Zudem führt der Vergleich mit der Rechtswahl eher zu einer Komplizierung der Rechtslage, da die Abgrenzung zwischen einer Unterwerfung unter den Tarifvertrag in Anlehnung an die kollisionsrechtliche Verweisung aus dem Internationalen Privatrecht und einer inhaltlichen Verweisung auf einen Tarifvertrag in Anlehnung an die materiellrechtliche Verweisung des Internationalen Privatrechts notwendig wird.705 Die Grenzen können durchaus fließend sein, werden sich in den meisten Fällen nicht einmal feststellen lassen. Derartige Unsicherheiten werden vermieden, wenn man sich auf den vertraglichen Charakter und die schuldrechtliche Wirkung der Bezugnahme auf einen von tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften abweichenden Tarifvertrag beschränkt. Der Vergleich mit dem Internationalen Privatrecht erklärt folglich nichts, sondern ist nur der Versuch, das Einwirken der Tarifnormen von außen auf das Ar702 703 704 705
Vgl. dazu ausführlich unten 1. Teil: § 4 B. III. Vgl. dazu unten 1. Teil: § 4 B. III. M. Reichel, Arbeitsvertragliche Bezugnahme, S. 9. Vgl. zum Ganzen Kroppholler, Internationales Privatrecht, § 40 I, S. 285 ff.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
beitsverhältnis auch bei lediglich individualrechtlicher Geltungsgrundlage zu konstruieren. Damit wird künstlich die mit dem Außerkrafttreten der Tarifvertragsverordnung ebenfalls hinfällig gewordene Rechtsfigur der Berufung wiedererrichtet. Die so geschaffene Geltung der Tarifnormen gegen den Willen der Arbeitsvertragsparteien nimmt man dann zum Anlass, die für ein derartiges Einwirken anzuwendenden Vorschriften, explizit § 4 TVG, heranziehen zu können.706 Dem kann nicht gefolgt werden. III. Ergebnis und Schlussfolgerungen Durch die Bezugnahme der Arbeitsvertragsparteien auf einen von tarifdispositiven gesetzlichen Arbeitnehmerschutzvorschriften abweichenden Tarifvertrag entsteht keine Tarifbindung. Ebenso wenig wirken die in Bezug genommenen Tarifregelungen normativ auf das Bezug nehmende Arbeitsverhältnis ein. Vielmehr hebt der Gesetzgeber die Beschränkung der Privatautonomie, die er durch den für die Arbeitsvertragsparteien zwingenden Charakter des tarifdispositiven Rechts errichtet hat, für Arbeitsvertragsgestaltungen wieder auf, die inhaltlich den abweichenden Tarifnormen entsprechen.707 Dieses Ergebnis zieht für die Bezug nehmenden Arbeitsverhältnisse die Konsequenz nach sich, dass diese rein nach schuldrechtlichen Gesichtspunkten zu beurteilen sind. Für den Fall, dass ein Bezug nehmendes Arbeitsverhältnis gleichzeitig in den Geltungsbereich eines Tarifvertrags fällt, an den die Arbeitsvertragsparteien gemäß § 3 TVG gebunden sind, können daher nicht die Grundsätze über die Tarifkonkurrenz angewendet werden.708 Vielmehr setzt sich, soweit nicht das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG eingreift, die tarifliche Regelung aufgrund ihrer normativen Wirkung durch.709 Des Weiteren ist auch § 4 Abs. 4 TVG nicht auf die Bezugnahme anwendbar, da es sich um vertragliche Vereinbarungen und nicht um normativ wirkende Tarifnormen handelt. Ein Verzicht auf die vertraglichen Ansprüche ist daher nach den allgemeinen schuldrechtlichen Maßstäben möglich.710 Ebenso sind die Regeln über die Verwirkung auf die vertraglichen Vereinbarungen anwendbar. Für die Auslegung der in Bezug genommenen Tarifregelungen bleibt es trotz der rein vertragsrechtlichen Konstruktion der Be706 707 708
149.
Vgl. von Hoyningen-Huene, RdA 1974, 138, 149 ff. H. Dietz, DB 1974, 1770, 1771; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 705. So aber aufgrund seiner abweichenden Ansicht von Hoyningen-Huene, RdA 1974, 138,
709 Allgemein unabhängig von Tarifverträgen, die von tarifdispositiven Vorschriften abweichen: Hanau / Kania, Festschrift für Schaub, S. 239, 241; ebenso: Hohenstatt, DB 1992, 1678, 1682; BAG vom 4. 9. 1996, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag, ohne allerdings die frühere Ansicht explizit aufzugeben; anders noch BAG vom 20. 3. 1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz. 710 BAG vom 31. 5. 1990, AP Nr. 13 zu § 13 BUrlG Unabdingbarkeit; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 BUrlG Rn. 22.
§ 4 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Erstreckungsklauseln
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zugnahme bei den von der Rechtsprechung für die Auslegung von Tarifverträgen entwickelten Grundsätzen, die sich an der Auslegung von Rechtsnormen orientieren. Die Tarifnormen werden zwar in den Vertragsinhalt übernommen, sie sind aber gleichzeitig außerhalb des Vertragswerkes stehende Rechtsnormen. Mit dem ihnen in dieser Funktion eigenen Inhalt wollten sie die Vertragsparteien in ihre Vereinbarungen einbeziehen. Dieser Inhalt wird aber aufgrund der auf Tarifnormen anzuwendenden Auslegungsgrundsätze ermittelt, die sich auch dann nicht ändern können, wenn die Tarifnormen zum Gegenstand eines Verweises gemacht werden.
B. Das Bezugnahmeobjekt Nach dem in dieser Hinsicht im Wesentlichen übereinstimmenden Wortlaut der Erstreckungsklauseln ist das zulässige Bezugnahmeobjekt einer einzelvertraglichen Vereinbarung die einschlägige abweichende tarifvertragliche Regelung. Wie unschwer zu erkennen ist, handelt es sich dabei um eine wenig präzise Umschreibung des rechtlich möglichen Bezugnahmegegenstandes. Dementsprechend kontrovers sind daher insbesondere die Fragen, was unter Einschlägigkeit bzw. Geltungsbereich zu verstehen ist, ob ein nachwirkender Tarifvertrag taugliches Bezugnahmeobjekt sein kann und schließlich in welchem Umfang die Arbeitsvertragsparteien auf den abweichenden Tarifvertrag verweisen müssen.
I. Der einschlägige Tarifvertrag bei Eröffnung des Geltungsbereichs mehrerer abweichender Tarifverträge Mitunter kann die Situation eintreten, beispielsweise bei gleichzeitiger Existenz eines Verbands- und Haustarifvertrags, dass der Geltungsbereich mehrerer von tarifdispositiven Gesetzesvorschriften abweichender Tarifverträge für ein Arbeitsverhältnis eröffnet ist. Es stellt sich dann für die Arbeitsvertragsparteien die Frage, auf welchen der einschlägigen Tarifverträge sie aufgrund der gesetzlichen Erstreckungsklauseln verweisen dürfen. Einige Autoren wollen für die Entscheidung dieser Frage auf die Regeln über die Tarifkonkurrenz zurückgreifen.711 Das hieße, dass die Arbeitsvertragsparteien ausschließlich auf den spezielleren der einschlägigen Tarifverträge verweisen dürfen.712 Nur dann könnte die Erstreckungsklausel 711 Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 43; Gaul / Boewer, Probleme des Urlaubsrechts, S. 139 f.; Hueck / Nipperdey / Tophoven / Stahlhacke, TVG, § 3 Rn. 4; Kramer, Kündigungsvereinbarungen, S. 132 f.; Natzel, BUrlG, § 13 Rn. 20; von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 102; Schnorr, AuR 1963, 193, 196. 712 BAG vom 14. 6. 1989, AP Nr. 16 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; vom 5. 9. 1990, AP Nr. 19 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; vom 20. 3. 1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; vom 22. 3. 1994 – 1 ABR 47 / 93 – n. v.
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ihrem Zweck entsprechen und in einem Betrieb einheitliche Urlaubsbedingungen schaffen.713 Für den Fall, dass man den Arbeitsvertragsparteien die Wahl zwischen den Tarifverträgen ließe, seien Manipulationen zulasten des Arbeitnehmers unter Ausnutzung des Tarifvorrangs nicht ausgeschlossen.714 Die abweichende Ansicht überlässt den Arbeitsvertragsparteien die Wahl zwischen mehreren einschlägigen Tarifverträgen.715 Im Hinblick auf § 622 Abs. 4 S. 2 BGB argumentieren die Autoren, dass sein Regelungsgehalt nicht gegen die Wahlmöglichkeit spreche.716 Sinn der Beschränkung auf den Geltungsbereich sei es, die Dispositionsfreiheit der Arbeitsvertragsparteien auszuschließen, sich unter mehreren tarifvertraglichen Regelungen die für den Arbeitgeber günstige tarifvertragliche Regelung auszusuchen.717 Der Wortlaut der Erstreckungsklauseln, der entweder von dem einschlägigen Tarifvertrag oder von dem Geltungsbereich des Tarifvertrags spricht, in dem sich das Arbeitsverhältnis befinden muss, macht keine Aussage zu einer Mehrheit anwendbarer Tarifverträge. Bei unbefangener Betrachtung kann von einem einschlägigen Tarifvertrag nur gesprochen werden, wenn sein Geltungsbereich abgesehen von der Tarifbindung eröffnet ist.718 Ebenso gut kann der einschlägige Tarifvertrag aber auch der nach den Regeln der Tarifkonkurrenz speziellere, d. h. der im Betrieb anzuwendende Tarifvertrag sein. Wiederum liegt das Schwergewicht der Argumentation zur Entscheidung der Streitfrage auf dem Regelungszweck. Das tarifdispositive Recht im Allgemeinen und die Erstreckungsklauseln im Speziellen vorfolgen das Ziel, sachnahe und angemessene vom gesetzlichen Mindestschutz abweichende Regelungen auf betrieblicher Ebene oder innerhalb einer Branche einheitlich zur Verfügung zu stellen. Der Gesetzgeber geht dabei davon aus, dass die Arbeitsvertragsparteien allein nicht in der Lage sind, solche Regelungen zu schaffen, da zwischen ihnen anders als zwischen den Sozialpartnern die Verhandlungspositionen nicht ausgeglichen sind.719 Wenn für die Öffnung der gesetzlichen Regelungen aber die Sachgerech713 So für § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 102. 714 Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 43. 715 Bader in: Bader / Bram / Dörner / Wenzel, § 622 BGB Rn. 63; Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 45; wohl auch Richardi, ZfA 1971, 73, 85, der feststellt, dass die Bezugnahme nur auf die Tarifverträge beschränkt ist, deren Geltungsbereich eröffnet ist, dass die Arbeitsvertragsparteien aber dennoch bei Überschneidungen der Geltungsbereiche die Wahl zwischen mehreren tarifvertraglichen Regelungen haben. 716 Bader, in: Bader / Bram / Dörner / Wenzel, § 622 BGB Rn. 63. 717 Richardi, ZfA 1971, 73, 85. 718 Kramer, Kündigungsvereinbarungen, S. 132; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 BUrlG Rn. 19; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 25; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 75 in Verbindung mit 65. 719 Allgemein: Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389; für § 7 ArbZG: Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 490; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 4; für § 21a JArbSchG: Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 2; für § 17 BetrAVG: Entwurf der Bun-
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tigkeit der tariflichen Regelung entscheidend war, dann muss diese anhand objektiver Kriterien festgestellt werden und kann nicht zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien stehen, da diesen der Gesetzgeber das notwendige Urteilsvermögen abspricht. Derart objektive Kriterien zur Feststellung der sachnächsten Regelung stellen die Grundsätze über die Tarifkonkurrenz dar. Sie besagen, dass immer der speziellere Tarifvertrag in einem Betrieb anzuwenden ist.720 Dieser Spezialitätsgrundsatz ist daher auch für die Feststellung des einschlägigen Tarifvertrags als zulässigem Bezugnahmeobjekt anzuwenden. Ein Wahlrecht der Arbeitsvertragsparteien wird dem Zweck der Erstreckungsklauseln nicht gerecht. Zudem verfolgen die Erstreckungsklauseln das Ziel, einheitliche Arbeitsbedingungen innerhalb eines Betriebes anwenden zu können.721 Die durch sie eröffnete privatautonome Regelungskompetenz soll sich dabei jedoch vollständig auf den von der tariflichen Regelung vorgegebenen Bereich beschränken. Für die tarifgebundenen Arbeitnehmer gilt nach den Grundsätzen der Tarifeinheit im Betrieb immer nur ein Tarifvertrag. Nur die Geltung dieses im Betrieb anzuwendenden Tarifvertrags können die Arbeitsvertragsparteien durch einzelvertragliche Übernahme vereinbaren. Im Einklang mit dem Regelungszweck der Erstreckungsklauseln ist daher der Geltungsbereich bzw. die Einschlägigkeit einer tarifvertraglichen Regelung anhand der Regeln über die Tarifkonkurrenz zu bestimmen. Der einschlägige Tarifvertrag ist daher bei Existenz mehrerer Tarifverträge, deren Geltungsbereich eröffnet ist, immer der speziellere. II. Der nachwirkende Tarifvertrag als taugliches Bezugnahmeobjekt Auch hinsichtlich der Bezugnahme ergeben sich durch einen nachwirkenden von tarifdispositiven Vorschriften abweichenden Tarifvertrag tarifrechtliche Probleme. Während allgemein anerkannt ist, dass ein einmal in Bezug genommener Tarifvertrag auch für das Arbeitsverhältnis maßgeblich bleibt, wenn er in das Stadium der Nachwirkung eingetreten ist,722 ist nicht abschließend geklärt, ob ein ledesregierung eines Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung, BTDrucks. 7 / 1281, S. 31; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 168; Höfer / Abt, BetrAVG, § 17 Rn. 109; für § 1 Abs. 3 Nr. 1 AÜG: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung zu dem Entwurf eines Beschäftigungsförderungsgesetzes 1985, BT-Drucks. 10 / 3206, S. 33; Sandmann / Marschall, AÜG, Art. 1 § 1 Anm. 78. 720 BAG vom 20. 3. 1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz; Gaul / Boewer, Probleme des Urlaubsrechts, S. 139. 721 BAG vom 27. 6. 1978, AP Nr. 12 zu § 13 BUrlG; Schaub, ArbRHB § 124 IV. 3. a), Rn. 34. 722 BAG vom 5. 10. 1999, AP Nr. 51 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; BAG vom 27. 1. 1987, AP Nr. 42 zu § 99 BetrVG [B III 2 b der Gründe]; Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 41; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 196; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 21; von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 125. 12*
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diglich nachwirkender Tarifvertrag taugliches Bezugnahmeobjekt im Sinne der gesetzlichen Erstreckungsklauseln sein kann. 1. Meinungsstand Anfänglich lehnte der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts die Bezugnahme auf einen nachwirkenden Tarifvertrag im Rahmen von § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG unter dem Hinweis auf die ständige Rechtsprechung ab, nach der ein im Nachwirkungszeitraum begründetes Arbeitsverhältnis nicht mehr von dem nachwirkenden Tarifvertrag erfasst werde und deshalb bei der Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses auch nicht auf einen nachwirkenden Tarifvertrag Bezug genommen werden könne.723 In einer späteren Entscheidung hat der 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts einen lediglich nachwirkenden Tarifvertrag als zulässiges Bezugnahmeobjekt im Sinne von § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG anerkannt.724 Diesen Wechsel der Rechtsprechung begründet das Gericht damit, dass der Gesetzgeber mit der Vorschrift die breite Anwendung des tariflichen Urlaubsrechts in einem Betrieb und damit eine möglichst gleichmäßige Behandlung aller Arbeitnehmer erreichen wollte. Es könne als sicher gelten, dass der Gesetzgeber einer von dem Gesichtspunkt der betrieblichen Zweckmäßigkeit geprägten Norm einen weitgehenden Anwendungsbereich hat sichern wollen. Die Beschränkung der Zulässigkeit einer Bezugnahme gemäß § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG auf die Geltungsdauer des Tarifvertrags gefährdet das Ziel der gleichmäßigen urlaubsrechtlichen Behandlung aller Arbeitnehmer eines Betriebes nicht unerheblich. Nicht einmal organisierte Arbeitnehmer, die erst nach dem Auslaufen des Tarifvertrags in den Betrieb eingetreten sind, könnten an der einschlägigen Tarifregelung teilhaben und würden innerhalb eines Betriebes nicht mehr einheitlich behandelt.725 Das Argument des 5. Senats, dass auch mittels Bezugnahme nicht herbeigeführt werden könne, was kraft Tarifbindung nicht möglich sei, überwindet der 6. Senat mit der Erwägung, dass es der weitreichenden Zweckbestimmung der Norm entspreche, nicht nur die völlig fehlende sondern auch die nicht mehr wirksam werdende Tarifgebundenheit bei neu eintretenden Arbeitnehmern zu ersetzen.726 Der überwiegende Teil des Schrifttums stimmt dieser neuen Rechtsprechung zu.727 Auch der nachwirkende Tarifvertrag habe Normwirkung, genieße Vorrang 723 BAG vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG; zum Verhältnis von nachwirkendem Tarifvertrag und neu begründetem Arbeitsverhältnis vgl. st. Rspr. seit BAG vom 6. 6. 1958, AP Nr. 1 zu § 4 TVG Nachwirkung; zuletzt vom 11. 6. 2002, AP Nr. 113 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung; vom 7. 11. 2001, AP Nr. 11 zu § 3 TVG Verbandsaustritt. 724 BAG vom 27. 6. 1978, AP Nr. 12 zu § 13 BUrlG; offen gelassen von BAG vom 5. 10. 1999, AP Nr. 51 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen. 725 BAG vom 27. 6. 1978, AP Nr. 12 zu § 13 BUrlG. 726 BAG vom 27. 6. 1978, AP Nr. 12 zu § 13 BUrlG. 727 Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 126; Bepler, in: Däubler, TVG, § 4 Rn. 850 f.; Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 41; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 196;
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vor dem Gesetz und könne daher in Bezug genommen werden.728 Zudem bezweckten die Erstreckungsklauseln die Schaffung einheitlicher Arbeitsbedingungen im Betrieb, was nur erreicht werden könne, wenn auch die Bezugnahme auf einen nachwirkenden Tarifvertrag möglich sei.729 Die Vertreter der Gegenansicht730 argumentieren, dass der Tarifvertrag im Nachwirkungsstadium mit seiner zwingenden Wirkung einen wesentlichen Teil seiner ordnenden Wirkung einbüße und daher seine Anwendung nicht mehr zwischen den nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien vereinbart werden könne.731 Gleichzeitig weisen sie darauf hin, dass auch bei vorliegender Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien ein neues Arbeitsverhältnis nicht dem Tarifvertrag unterliegen würde, so dass dies erst recht nicht in Gestalt der Bezugnahme durch nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien erreicht werden könne.732 Andere Autoren betonen, dass nur im Geltungsbereich eines Tarifvertrags auf diesen Bezug genommen werden könnte, womit auch der zeitliche Geltungsbereich gemeint sei, so dass auf einen nachwirkenden Tarifvertrag eine wirksame Bezugnahme nicht mehr möglich sei.733 2. Stellungnahme Der Wortlaut der Erstreckungsklauseln spricht im Hinblick auf das Bezugnahmeobjekt von den abweichenden tariflichen Regelungen oder einfach nur von den unklar Boewer, TzBfG, § 12 Rn. 52: „Die vertragliche Bezugnahme gilt auch für den nachwirkenden Tarifvertrag (§ 4 Abs. 5 TVG).“; Kraft, in: Soergel, BGB, § 622 Rn. 21; Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 140; Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 46; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 46; Schaub, ArbRHB, § 124 IV. 3. b), Rn. 35; Spilger, in: GKKSchR, § 622 BGB Rn. 188; Trieschmann, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, AuR 1966, 285, 287 f., bereits gegen die alte Rspr. des BAG; Zwanziger, in: Kittner / Däubler / Zwanziger, KSchR, § 622 BGB Rn. 31. 728 Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 126; Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 41; Neumann, ArbRGgw. Bd. 7 (1969), S. 23, 36; ders. / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 46; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 46; Trieschmann, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, AuR 1966, 285, 287. 729 Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 41; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 196; Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 140; Neumann, ArbRGgw. Bd. 7 (1969), S. 23, 36; ders. / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 21; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 46; Schaub, ArbRHB § 124 IV. 3. a), Rn. 34; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 188; Siara, BUrlG, § 13 Rn. 4c. 730 Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 25 f., lehnen bereits den Vorrang nachwirkender Tarifverträge ab; Hueck, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG; Lieb, ZfA 1970, 197, 204; Natzel, BUrlG, § 13 Rn. 19; von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 104; Wank, in: ErfK, § 7 ArbZG Rn. 22; anders noch ders., NZA 1993, 961, 965, und ders., in: MüHBArbR, § 119 Rn. 60; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 65. 731 Hueck, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG. 732 Hueck, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG; Lieb, ZfA 1970, 197, 204; von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 104. 733 Wank, in: ErfK, § 7 ArbZG, Rn. 22; wohl auch von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 104.
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tariflichen Regelungen. Hinweise auf die Behandlung nachwirkender tarifvertraglicher Vorschriften ergeben sich aus dem Wortlaut für keine der gesetzlichen Erstreckungsklauseln. Ebenso wenig sind die Gesetzesmaterialien in dieser Hinsicht aussagekräftig. Auch systematisch finden sich keine Anhaltspunkte. Weder die tarifdispositiven Gesetze noch das Tarifvertragsgesetz regeln die Bezugnahme hinsichtlich nachwirkender Tarifnormen, schon gar nicht für den Bereich der Abweichung von tarifdispositivem Recht. Die Argumentation mit dem Geltungsbereich, der auch eine zeitliche Komponente enthalte, so dass er bei Ablauf des Tarifvertrags nicht mehr eröffnet sei, ist trotz ihrer vordergründigen Richtigkeit formalistisch und greift zu kurz. Auf sie kann die Entscheidung, ob nachwirkende Tarifnormen taugliches Bezugnahmeobjekt sind, nicht sinnvoll gestützt werden. Die Erstreckungsklauseln machen eine Ausnahme von der grundsätzlichen Unwirksamkeits- bzw. Nichtigkeitsfolge hinsichtlich von den gesetzlichen Vorschriften abweichender vertraglicher Regelungen.734 Sie zeitigen primär eine individualrechtliche Wirkung. Die gesetzliche Anordnung ist notwendig, damit die Verweisung überhaupt wirksam erfolgen kann. Bezweckt werden soll dadurch, dass in einzelnen Betrieben bzw. Branchen einheitliche Arbeitsbedingungen herrschen können. Es hängt entscheidend von der Funktion der Nachwirkung ab, ob die Arbeitsvertragsparteien die lediglich nachwirkenden Tarifnormen ebenfalls kraft einzelvertraglicher Bezugnahme auf alle Arbeitnehmer eines Betriebes oder einer Branche ausdehnen können sollen. Nur wenn der Zweck der Erstreckungsklauseln eine betriebs- bzw. brancheneinheitliche Geltung auch der nachwirkenden Tarifnormen erfordert bzw. das Telos der Nachwirkung dem Konzept der Erstreckungsklauseln nicht zuwiderläuft, dann ist die Bezugnahme auch auf nachwirkende von tarifdispositiven Vorschriften abweichende Tarifnormen zuzulassen. Allein der Verlust der zwingenden Wirkung der nachwirkenden Tarifnormen hat keine Auswirkungen auf den Vorrang vor dem Gesetz, wie die Betrachtungen zur Nachwirkung der abweichenden Tarifvertragsregelungen selbst bereits gezeigt haben.735 Wie ebenfalls bereits erörtert, hat die Nachwirkung eine Ordnungs-, eine Inhaltsschutz- sowie eine Überbrückungsfunktion. Es hat sich gezeigt, dass sich im Hinblick auf die Abweichung von tarifdispositivem Recht lediglich die Überbrückungsfunktion der Nachwirkung aktualisiert. Das heißt, die Nachwirkung dient in diesem Bereich der Wahrung der Kontinuität der tariflichen Ordnung der Arbeitsverhältnisse. Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, wenn man die Bezugnahme auf den lediglich nachwirkenden Tarifvertrag zulässt, da so einheitliche Arbeitsbedingungen in einem Betrieb hergestellt werden können, was die Erstreckungsklauseln letztendlich auch bezwecken. Darüber hinaus wird dem Arbeitgeber so ermöglicht, alle tarifgebundenen Arbeitnehmer in seinem Betrieb für den Fall gleich zu behandeln, dass tarifgebundene Arbeitnehmer während des Nachwirkungszeitraums in den Betrieb eingetreten sind. 734 735
Vgl. dazu oben 1. Teil: § 2 C. III. Siehe oben 1. Teil: § 3 A. III.
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Allerdings ergibt sich dadurch möglicherweise ein Widerspruch zur ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Dieses vertritt den Standpunkt, dass die Nachwirkung im Nachwirkungszeitraum neu abgeschlossene Arbeitsverträge nicht erfasst. Diese Folge scheint auf den ersten Blick umgangen zu werden, wenn die Arbeitsvertragsparteien den nachwirkenden Tarifvertrag durch einzelvertragliche Bezugnahme doch auf das neu begründete Arbeitsverhältnis anwenden könnten. In dieser Hinsicht muss man jedoch zwei Dinge voneinander trennen: die unmittelbare, wenn auch nicht zwingende, Einwirkung von Normen auf das Arbeitsverhältnis von außen und die privatautonome Gestaltung des Arbeitsverhältnisses durch Verweis auf bestimmte Regelungsinhalte. Durch die unmittelbare Einwirkung der nachwirkenden Tarifnormen von außen auf das Arbeitsverhältnis will man den Arbeitnehmern den Bestand an Arbeitsbedingungen sichern, den sie bis dato hatten. Die Nachwirkung soll sicherstellen, dass das Arbeitsverhältnis nicht inhaltsleer wird und kein Hin und Her der tariflichen Arbeitsbedingungen auftritt. Mit der Anerkennung der Bezugnahme hingegen verdeutlicht der Gesetzgeber, dass die inhaltliche Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses in Abweichung von gesetzlichen Arbeitsbedingungen unbedenklich ist, soweit Erstreckungsklauseln die Bezugnahme zulassen. Vor diesem Hintergrund ist die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu sehen. Aus den Entscheidungen zur Nachwirkung für neu abgeschlossene Arbeitsverhältnisse kann mit Sicherheit nur abgeleitet werden, dass für neu begründete Arbeitsverhältnisse die unmittelbare Einwirkung der nachwirkenden Tarifnormen von außen aus Sicht der Funktion der Nachwirkung und mit Blick auf die Schutzbedürftigkeit der Arbeitnehmer nicht notwendig ist. Damit ist aber noch kein Verdikt der Bedenklichkeit über inhaltlich gleich lautende Arbeitsbedingungen gefällt. Die Tatsache, dass auch nachwirkende abweichende Tarifnormen Vorrang vor dem Gesetz genießen und somit aus Sicht des Gesetzgebers einen unbedenklichen Vertragsinhalt darstellen, bewirkt daher, dass die Arbeitsvertragsparteien den Inhalt eines solchen Tarifvertrags mittels Bezugnahme vereinbaren können, soweit sein Geltungsbereich im Übrigen eröffnet ist. Hinzu kommt die Funktion der Erstreckungsklauseln als Möglichkeit, die Arbeitsbedingungen im Betrieb bzw. in einer Branche zu vereinheitlichen. Dies ist dem Arbeitgeber nur effektiv möglich, wenn er auch im Nachwirkungszeitraum eines Tarifvertrags die tariflichen Arbeitsbedingungen auf nicht tarifgebundene Arbeitnehmer oder neu eintretende Arbeitnehmer, die sogar tarifgebunden sein können, erstrecken kann.736 3. Ergebnis Die Auslegung der Erstreckungsklauseln ergibt somit, dass der zeitliche Geltungsbereich einer abweichenden Tarifnorm für die Zulässigkeit einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme im Rahmen des tarifdispositiven Rechts nicht ausschlag736
So bereits Trieschmann, Anm. zu BAG vom 15. 2. 1965, AuR 1966, 285, 287.
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gebend ist. Auch ein nachwirkender Tarifvertrag kann daher taugliches Bezugnahmeobjekt im Sinne der Erstreckungsklauseln sein. III. Globalverweis oder Einzelverweis Hinsichtlich des zulässigen Bezugnahmeobjekts ist insbesondere auch nicht abschließend geklärt, ob die Arbeitsvertragsparteien auf den gesamten, die Abweichung von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht enthaltenden Tarifvertrag bzw. den die Abweichung enthaltenden Regelungskomplex vollständig verweisen müssen oder ob sie isoliert die abweichenden Einzelregelungen in Bezug nehmen können. Für § 48 Abs. 2 S. 2 ArbGG und § 89a Abs. 2 sowie §§ 104 Abs. 1 S. 2, 139 Abs. 3 S. 2 und 140 Abs. 1 S. 2 SeemG jeweils in Verbindung mit § 89a Abs. 2 SeemG stellt sich diese Frage allerdings nicht. Die genannten Vorschriften ordnen an, dass der gesamte Tarifvertrag übernommen werden muss. Befürworter der Möglichkeit einer isolierten Bezugnahme allein auf die von den tarifdispositiven Vorschriften abweichenden Tarifnormen finden sich im Schrifttum nur vereinzelt.737 Insbesondere Meinel / Heyn / Herms738 ziehen in ihrem Kommentar zum Teilzeit- und Befristungsgesetz die Regierungsbegründung heran, welche vorsehe, dass die Anwendung gerade der abweichenden Tarifregelungen einzelvertraglich ermöglicht werden sollte.739 Der Wortlaut der Tariföffnungsklauseln untermaure die Zulässigkeit einer isolierten Bezugnahme.740 Weiterhin bezweckten die Tariföffnungsklauseln, dass isoliert im Hinblick auf die einzelnen tarifdispositiven Vorschriften im Teilzeit- und Befristungsgesetz branchenspezifische Lösungen gefunden werden können.741 Den zitierten Autoren ist zuzugeben, dass der Wortlaut der Erstreckungsklauseln im Teilzeit- und Befristungsgesetz insbesondere im Zusammenhang mit der Regierungsbegründung so verstanden werden kann, dass eine isolierte Bezugnahme möglich ist. Dabei verkennen die Autoren jedoch die besondere rechtliche Funktion der Erstreckungsklauseln. Diese nehmen den tarifdispositiven Vorschriften für den Fall den zwingenden Charakter, dass die privaten Vertragsparteien auf abweichende tarifliche Regelungen Bezug nehmen. Die vertraglichen Vereinbarungen sind dann weder unwirksam noch tritt die Nichtigkeitssanktion des § 134 BGB ein. Die Bezugnahme auf einen grundsätzlich der Parteidisposition entzogenen Regelungsgegenstand soll unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich zulässig sein, wo sie ohne gesetzliche Gestattung wegen des für Privatrechtssubjekte zwingenden 737 Meinel / Heyn / Herms, TzBfG, § 14 Rn. 96; für § 622 Abs. 3 BGB a. F.: Neumann, ArbRGgw. Bd. 7 (1969), S. 23, 35. 738 TzBfG, § 14 Rn. 96. 739 Begründung zum Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes über Teilzeitarbeit und befristete Arbeitsverträge, BT-Drucks. 14 / 4374, S. 20. 740 Meinel / Heyn / Herms, TzBfG, § 14 Rn. 96. 741 Meinel / Heyn / Herms, TzBfG, § 14 Rn. 96.
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Charakters des Gesetzes an sich ausgeschlossen wäre. Die aus dem zwingenden Charakter des tarifdispositiven Rechts fließende Unwirksamkeits- bzw. Nichtigkeitsfolge bezieht sich ihrer Natur nach aber bereits nur auf die zum Nachteil der Arbeitnehmer abweichenden tariflichen Regelungen, so dass der Gesetzgeber auch nur für diese die Ausnahme von der Unwirksamkeits- bzw. Nichtigkeitsfolge regeln muss. Hinsichtlich anderer Tarifvertragsvorschriften ist die arbeitsvertragliche Bezugnahme bereits aufgrund der Privatautonomie möglich. Über die Voraussetzungen für die Aufhebung der Nichtigkeitsfolge ist in den Formulierungen der Erstreckungsklauseln daher explizit noch gar nichts gesagt. Das verdeutlicht insbesondere die Regelung des § 89a Abs. 2 SeemG, der neben der Rechtsfolge, dass die abweichenden tariflichen Regelungen zum individuellen Vertragsinhalt gemacht werden können, auch die weitere Voraussetzung enthält „sofern die Anwendung des gesamten Tarifvertrags vereinbart wird.“ Demgegenüber fordern Rechtsprechung und der überwiegende Teil der Literatur, dass zwar nicht der gesamte, die Abweichung enthaltende Tarifvertrag, immer aber der die Abweichung enthaltende Regelungskomplex vollständig übernommen werden müsse.742 Bei einigen Tariföffnungsklauseln ergebe sich dies bereits aus dem Wortlaut.743 Im Hinblick auf die tarifdispositiven Vorschriften des Teilzeitund Befristungsgesetzes folge es aus der Systematik des § 22 Abs. 2 TzBfG, wonach aus dem unmissverständlichen Wortlaut hervorgehe, dass sämtliche für das Arbeitsverhältnis maßgebliche Tarifbestimmungen übernommen werden müssen.744 Darüber hinaus biete nur der Regelungskomplex als ganzer die vom Ge742 LAG Hamburg, vom 9. 7. 1970, BB 1970, 1178 f.; LAG Düsseldorf vom 12. 11. 1974, EzA § 622 BGB Nr. 10, beide noch zu § 622 Abs. 3 BGB a. F.; Backhaus, in: APS, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rn. 410, der allerdings wegen der unklaren Formulierung des § 14 TzBfG die Übernahme des gesamten Tarifvertrags empfiehlt; Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 123; Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 29; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 193; Boewer, TzBfG, § 12 Rn. 52, § 14 Rn. 264; Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 48; Brecht, Entgeltfortzahlung, § 4 Rn. 28; Gaul / Boewer, Probleme des Urlaubsrechts, S. 137; Geyer / Knorr / Krasney, EFZG, § 4 Rn. 111; Hold, in: Kaiser / Dunkl / Hold / Kleinsorge, EFZG, § 4 Rn. 124; Kraft, in: Soergel, BGB, § 622 Rn. 21; Kunz / Wedde, EFZR, § 4 EFZG Rn. 80; Leinemann, in: MüHBArbR, § 89 Rn. 116; ders. / Linck, Urlaubsrecht 1995, § 13 Rn. 18; Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 142; Lorenz, in: Däubler, TVG, § 3 Rn. 267; Müller-Glöge, in: ErfK, § 622 BGB Rn. 83; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 23; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 45; Richardi, ZfA 1971, 73, 87; Schaub, ArbRHB, § 124 IV. 3. b), Rn. 35; Schmitt, EFZG, § 4 Rn. 146, wonach sich diese Konsequenz ergebe, weil nur die Tarifvertragsparteien die Gewähr dafür bieten, dass die Abweichung von den an sich zwingenden gesetzlichen Regelungen nicht allein zum Nachteil des Arbeitnehmer erfolgt; Schütz, in: ders. / Hauck, Handbuch des Urlaubsrechts, Rn. 918; Siara, BUrlG, § 13 Anm. 4e; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 351, 343 ff.; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 75; dies., JArbSchG, § 21a Rn. 34; Zwanziger, in: Kittner / Däubler / Zwanziger, KSchR, § 622 BGB Rn. 33, der rechtspolitisch allerdings die Bezugnahme auf den gesamten Tarifvertrag bevorzugen würde; ders., ebd., § 12 TzBfG Rn. 32. 743 LAG Hamburg vom 9. 7. 1970, BB 1970, 1178; Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 30. 744 Boewer, TzBfG, § 14 Rn. 264.
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setzgeber erwartete richtige und ausgewogene Lösung.745 Außerdem soll auf diese Weise verhindert werden, dass die Übernahme auf die für den Arbeitnehmer ungünstigeren Regelungen beschränkt wird.746 Dem könne auch nicht das formale Argument entgegen gehalten werden, nicht alle Tariföffnungsklauseln verlangten die Bezugnahme auf die gesamte der Regelungsmaterie des tarifdispositiven Gesetzes entsprechende tarifliche Regelung.747 Speziell für § 622 Abs. 4 BGB ziehen die Autoren den Erst-Recht-Schluss, wenn schon bei der weniger einschneidenden inhaltlichen Gestaltung des Urlaubsanspruchs eine Richtigkeitsgewähr durch Bezugnahme auf den gesamten Regelungskomplex notwendig sei, dann müsse dies erst recht für die Vereinbarung über Kündigungsregelungen gelten, die von existentieller Bedeutung für die Arbeitnehmer sind.748 Nur so werde auch erreicht, dass die abweichenden Regelungen wirklich einheitlich gelten.749 Auch für die These, es müsse immer der die Abweichung enthaltende Regelungskomplex vereinbart werden, ist der Wortlaut der Erstreckungsklauseln nicht verlässlich. Die Vorschriften weisen kein einheitliches Formulierungsmuster auf. Vielmehr „gilt“ gemäß § 622 Abs. 4 S. 2 BGB die „abweichende tarifliche Regelung“, wenn ihre Anwendung vereinbart ist, was auf die Zulässigkeit einer isolierten Bezugnahme hindeutet. Nach § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG hat die „abweichende tarifliche Regelung Geltung“, wenn die einschlägige tarifliche Urlaubsregelung vereinbart wurde, was auf die Bezugnahme auf den entsprechenden Regelungskomplex hinweist. § 17 Abs. 3 S. 2 BetrAVG wiederum verleiht der „abweichenden tariflichen Regelung Geltung“, wenn die „einschlägige tarifliche Regelung“ vereinbart ist, was die Deutung zulässt, dass der gesamte, die Abweichung enthaltende Tarifvertrag in Bezug genommen werden muss. Gemäß §§ 12 Abs. 3 S. 3 und 13 Abs. 4 S. 2 TzBfG sowie § 4 Abs. 4 S. 2 EFZG können die tariflichen Regelungen über den jeweiligen Regelungsbereich der betreffenden tarifdispositiven Vorschriften vereinbart werden, was auf die Bezugnahme allein auf den gesamten Regelungskomplex hindeutet. § 14 Abs. 2 S. 4 TzBfG gestattet hingegen, 745 Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 38; Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 48; Höfer / Abt, BetrAVG, § 17 Rn. 114a; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht 1995, § 13 Rn. 18; Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 142; Lorenz, in: Däubler, TVG, § 3 Rn. 267; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 23; Richardi, ZfA 1971, 73, 87; Schaub, ArbRHB, § 124 IV. 3. b), Rn. 35; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 186; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 34; Zwanziger, in: Kittner / Däubler / Zwanziger, KSchR, § 622 BGB Rn. 33; Schnorr, AuR 1963, 193, 196. 746 Brecht, Entgeltfortzahlung, § 4 Rn. 28; Hold, in: Kaiser / Dunkl / Hold / Kleinsorge, EFZG, § 4 Rn. 124; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 23, die darüber hinaus argumentieren, dass eine isolierte Bezugnahme den Zweck der Tariföffnung im Urlaubsrecht, einen Günstigkeitsvergleich zu vermeiden, unterlaufen würde. 747 So aber, Neumann, ArbGgw. Bd. 7, S. 35; dagegen: Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 186. 748 Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 186. 749 Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 48; Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 142; Höfer / Abt, BetrAVG, § 17 Rn. 114a.
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dass „die tarifliche Regelung“ vereinbart werden kann, was unter Einbeziehung von Satz 3 sowohl als isolierte Bezugnahmemöglichkeit 750 aber auch als die notwendige Bezugnahme auf den gesamten Tarifvertrag verstanden werden kann. Schließlich sehen §§ 7 Abs. 3 S. 1 sowie 12 ArbZG und 21a Abs. 2 JArbSchG vor, dass „die abweichenden tariflichen Regelungen“ übernommen werden können, was sich ohne Not als die Gestattung einer isolierten Bezugnahme deuten lässt. Allerdings verwendet § 89a Abs. 2 SeemG dieselbe Formulierung und fügt dennoch im Nachsatz hinzu, „sofern die Anwendung des gesamten Tarifvertrags vereinbart wird“, was den Befund wieder relativiert. Allein auf der Basis des Wortlauts ließen sich demnach für die verschiedenen Vorschriften unterschiedliche Ergebnisse rechtfertigen. Die Gesetzesmaterialien geben diesbezüglich ebenso wenig Aufschluss wie systematische Erwägungen, so dass eine allein an der jeweiligen, möglicherweise zufälligen Formulierung orientierte differenzierende Auslegung willkürlich wäre. Vielmehr zeigt sich erneut, dass die Erstreckungsklauseln mit dem Hinweis auf die abweichenden tariflichen Regelungen primär die Rechtsfolge ansprechen, dass die Arbeitsvertragsparteien trotz des für sie normalerweise zwingenden Charakters des tarifdispositiven Rechts unter Ausschluss der Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB die abweichenden Tarifvertragsregelungen als Vertragsinhalt vereinbaren dürfen. Für die Anforderungen an das Bezugnahmeobjekt, die diese Rechtsfolge herbeizuführen vermögen, ist mangels anderer verlässlicher Kriterien der hinter den einzelnen Erstreckungsklauseln stehende Zweck entscheidend. Nur wenn sich aus teleologischer Sicht unterschiedliche Gesichtspunkte für die einzelnen Gebiete des tarifdispositiven Rechts ergeben, wird eine differenzierende Auslegung der einzelnen Erstreckungsklauseln erforderlich. Die gesetzliche Abweichungsbefugnis zugunsten der Tarifvertragsparteien beruht für alle Bereiche auf der Einschätzung, dass die Sozialpartner in der Lage sind, aufgrund ihrer ausgeglichenen Verhandlungsmacht und gesteigerten Sachkenntnis interessengerechte und den jeweiligen Bedürfnissen des Einzelfalls angemessene tarifliche Regelungen zu schaffen. Alle Erstreckungsklauseln sollen darüber hinaus sicherstellen, dass betriebs- oder brancheneinheitliche Arbeitsbedingungen herrschen können, auch wenn keine geschlossene Tarifbindung vorliegt.751 Liegt ein entscheidender Beweggrund für die Öffnung der gesetzlichen Regelung für die Tarifvertragsparteien darin, dass der Gesetzgeber in sie das Vertrauen auf „richtige“ Regelungen setzt, so muss sich diese Richtigkeitsgewähr auch noch in dem widerspiegeln, was im Rahmen des Einzelvertrags aufgrund einer privatautonomen Bezugnahme auf den abweichenden Tarifvertrag maßgeblich ist. Entscheidendes Gewicht hat dabei, dass das als Arbeitsbedingung gilt, was nach den Darauf weist auch Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 343, hin. Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 41; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 196; Kramer, Kündigungsvereinbarungen, S. 131; Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 140, 142; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 21; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 46; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 188; Siara, BUrlG, § 13 Rn. 4a. 750 751
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Spielregeln des Tarifvertragssystems zustande gekommen ist. Ließe das Gesetz zu, dass die Arbeitsvertragsparteien nur auf einzelne Teilregelungen des tariflichen Konzepts verweisen, so zerstört dies den Regelungszusammenhang als Kompromissgefüge. Auch die Richtigkeitsgewähr ist dann nicht mehr gegeben, deretwegen der Gesetzgeber die Tariföffnung innerhalb der arbeitsrechtlichen Bestimmungen verankert hat. Diese Gefahr besteht unabhängig von dem jeweiligen Regelungskontext, in dem sich die Erstreckungsklausel findet. Aus den einzelnen tarifdispositiven Vorschriften wird somit nicht ersichtlich, dass sie eine unterschiedliche Bestimmung des Umfangs der Bezugnahme erfordern. Ist der teleologisch entscheidende Beweggrund für die Ermöglichung der einzelvertraglichen Bezugnahme demnach die Richtigkeitsgewähr der abweichenden Tarifnormen, die nur bei Erhaltung des tariflichen Gesamtgefüges vermutet werden, kann, dann müsste man mit Wiedemann752 und Oetker753 die Bezugnahme auf alle in einem inneren Zusammenhang mit der abweichenden tariflichen Regelung stehenden Tarifvertragsvorschriften fordern. Die Autoren verlangen immer dann die Bezugnahme auf das gesamte Tarifvertragswerk, wenn infolge der besonderen Bedingungen einer Branche die Ausgeglichenheit der Arbeitsbedingungen nur durch eine Globalbezugnahme hergestellt werden könne, beispielsweise eine ungünstige Arbeitszeitregelung durch eine besonders vorteilhafte Urlaubsregelung ausgeglichen werde.754 Diese Lösung widerspricht aber nicht nur dem in dieser Hinsicht eindeutigen Wortlaut des Gesetzes, der eine derartige Prüfung nicht vorsieht. Vielmehr würde es den Arbeitsvertragsparteien und im Streitfall den Gerichten eine inhaltliche Prüfung des Tarifvertrags abverlangen, welche die ersten aus fachlichen und die zweiten aus rechtlichen Gründen nicht leisten können. Diesem Problem der mangelnden praktischen Umsetzbarkeit kann nur dadurch abgeholfen werden, dass man stets die Bezugnahme auf den gesamten, die Abweichung enthaltenden Tarifvertrag fordert. Diese Ansicht teilen einige Vertreter im Schrifttum, die allein die Bezugnahme auf den gesamten Tarifvertrag als zulässig anerkennen.755 Nur so ließen sich Unsicherheiten über eine mit der gesetzlichen Konzeption vereinbare Bezugnahme vermeiden.756 Außerdem ergebe sich die vom In: Wiedemann, TVG, Einl. Rn. 403. In: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 258. 754 Vgl. Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 403; Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 258. 755 Maschmann, in: Annuß / Thüsing, TzBfG, § 14 Rn. 67; Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 326, der die Bezugnahme auf den gesamten Tarifvertrag jedenfalls dann fordert, wenn eine eindeutige gesetzliche Regelung fehlt; Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 249; wohl auch Biedenkopf, Anm. zu BAG vom 31. 3. 1966, AP Nr. 54 zu § 611 BGB Gratifikation, explizit allerdings nur im Hinblick auf das tarifdispositive Richterrecht und in dem Bewusstsein der abweichenden gesetzlichen Regelung im BUrlG, und Schaub, ArbRHB, § 44 VIII. 2. a), Rn. 111, der fordert, dass sämtliche für teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer geltende Bestimmungen übernommen werden. 756 Maschmann, in: Annuß / Thüsing, TzBfG, § 14 Rn. 68. 752 753
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Gesetzgeber von tarifvertraglichen Regelungen erwartete Angemessenheit oftmals nicht allein aus dem das tarifdispositive Recht betreffenden Regelungskomplex, so dass zur Wahrung der Interessengerechtigkeit auf alle in Zusammenhang stehenden Regelungen im Tarifvertrag verwiesen werden müsse. Da dies im Streitfalle aber nicht einfach festzustellen sei, entspreche die Bezugnahme auf den gesamten, die Abweichung enthaltenden Tarifvertrag am ehesten der Intention der Erstreckungsklauseln des tarifdispositiven Rechts.757 Gegen dieses Argument ist zu Recht einzuwenden, dass so den Arbeitsvertragsparteien eine komplette Tarifvertragsregelung aufgezwungen würde, die sie in der Form nicht als ihren Vertragsinhalt wollten.758 Der relativ geringen Gefahr, dass eine Abweichung von tarifdispositivem Recht nicht bereits im einschlägigen Regelungskomplex durch Zugeständnisse ausgeglichen wird, sondern durch Kompromisse in anderen Regelungsbereichen Kompensierung erfährt, dadurch abzuhelfen, dass in jedem Fall der Tarifvertrag vollständig in Bezug genommen werden muss, ist unverhältnismäßig. Den nicht tarifgebundenen Arbeitnehmer belastet es nicht unangemessen, wenn er das Risiko der regelungsbereichsfremden Kompensation trägt. Schließlich beruht der Entschluss, nicht Gewerkschaftsmitglied zu werden und dadurch in den Genuss aller Vor- und Nachteile der tariflichen Regelungen zu kommen, auf seiner freien Entscheidung. Darüber hinaus willigt er, wenn auch beeinträchtigt durch die gestörte Verhandlungsparität im Rahmen des Arbeitsverhältnisses, bei der Bezugnahme in eine entsprechende vertragliche Regelung ein. Daher ist in tatbestandlicher Hinsicht zu fordern, dass die Arbeitsvertragsparteien bei der Bezugnahme auf den jeweils gesamten, die Abweichung enthaltenden Regelungskomplex verweisen, nicht jedoch den gesamten Tarifvertrag zum Gegenstand ihrer Bezugnahme machen müssen. In systematischer Hinsicht wird dieses Ergebnis durch einen Umkehrschluss aus den eingangs genannten Erstreckungsklauseln bestätigt, die die Bezugnahme auf den gesamten die Abweichung enthaltenden Tarifvertrag vorschreiben. Mangels ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung in den Erstreckungsklauseln, die nicht explizit die Bezugnahme auf das komplette Tarifvertragswerk verlangen, muss für diese mittels eines argumentum e contrario geschlussfolgert werden können, dass eine Bezugnahme auf sie auch dann wirksam ist, wenn sie sich nur auf Teilbereiche des betreffenden Tarifvertrags erstreckt. IV. Zusammenfassung Sind die Geltungsbereiche mehrerer Tarifverträge eröffnet, so ist der einschlägige Tarifvertrag als taugliches Bezugnahmeobjekt im Sinne der Erstreckungsklau757 Schiek, in: Däubler, TVG, Einl. Rn. 236; Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 249; ähnlich argumentiert Biedenkopf, Anm. zu BAG vom 31. 3. 1966, AP Nr. 54 zu § 611 BGB Gratifikation. 758 Rolfs, TzBfG, § 14 Rn. 93.
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seln des tarifdispositiven Rechts durch die Anwendung der Regeln zur Tarifkonkurrenz zu ermitteln. Den Arbeitsvertragsparteien steht in dieser Hinsicht kein Wahlrecht zu. Unabhängig davon, dass im Nachwirkungsstadium der zeitliche Geltungsbereich eines Tarifvertrags nicht mehr eröffnet ist, kann ein abgelaufener, aber nachwirkender Tarifvertrag dennoch zulässiger Gegenstand einer Bezugnahme durch nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien sein. Im Hinblick auf den Umfang einer im Sinne der Erstreckungsklauseln zulässigen Verweisung auf einen von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichenden Tarifvertrag ist stets zu fordern, dass die Arbeitsvertragsparteien nicht isoliert die abweichenden tariflichen Regelungen übernehmen, sondern auf den gesamten, die Abweichung enthaltenden tarifvertraglichen Regelungskomplex Bezug nehmen.
C. Anforderungen an die Bezugnahmeabrede Nach einhelliger Ansicht muss der in Bezug genommene Tarifvertrag in der Bezugnahmeabrede konkret bestimmt, zumindest aber hinreichend bestimmbar sein.759 Dieser Grundsatz stellt keine mit dem tarifdispositiven Recht verbundene Besonderheit dar. Vielmehr ergibt er sich bereits aus den allgemeinen Grundsätzen der Vertragsauslegung.760 Die vertragliche Gestaltung der Arbeitsbedingungen erfolgt in den wenigsten Fällen durch detaillierte individuell gestaltete Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und dem einzelnen Arbeitnehmer. Vielmehr ist die Ausgestaltung von Vertragsverhältnissen im Allgemeinen und dem Arbeitsverhältnis im Besonderen geprägt durch nicht ausdrückliche Übereinkünfte.761 An erster Stelle sind konkludente Vereinbarungen zu nennen, die nicht durch wörtliche Erklärungen erfolgen, sondern bei denen sich der rechtlich relevante Erklärungsgehalt aus den Umständen und dem Verhalten der Vertragspartner ergibt. Vor allem auf dem Gebiet der von den gesetzlichen Erstreckungsklauseln angestrebten Vereinheitlichung der arbeitsvertraglichen Vereinbarungen auf betrieblicher Ebene kommt die Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses durch einheitliche Arbeitsbedingungen hinzu. Diese werden maßgeblich durch Gesamtzusagen und Betriebliche Übungen geprägt. Angesichts dieser in der Praxis weit verbreiteten Einflussfaktoren auf die Arbeitsbedingungen stellt sich die Frage, ob sie die rechtliche Grundlage einer Bezugnahmevereinbarung bilden können, mit der ein von tarifdispositiven Vorschriften abweichender Tarifvertrag in das Arbeitsverhältnis inkorporiert wird. 759 LAG Hamm, vom 29. 9. 1975, BB 1976, 603; Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 28; Kraft, in: Soergel, BGB, § 622 Rn. 21; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 569; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 69. 760 Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 230. 761 Hanau / Kania, Festschrift für Schaub, S. 239, 258; Henssler, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 683.
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Einzelne Erstreckungsklauseln sehen jedoch eine bestimmte Form für die Bezugnahmeabrede der nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien vor. Namentlich handelt es sich um § 7 Abs. 3 und § 12 S. 2 ArbZG762, § 21a Abs. 2 JArbSchG, § 101 Abs. 2 S. 3 ArbGG, §§ 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG. Für sie scheidet die Möglichkeit einer nicht ausdrücklichen Bezugnahme auf den abweichenden Tarifvertrag aus. Für die übrigen Erstreckungsklauseln stellt sich die Frage, ob auch durch nicht ausdrückliche Vereinbarungen Bezug genommen werden kann, gleichermaßen. Sie fordern tatbestandlich für die Zulässigkeit der Bezugnahme eine „Vereinbarung“ der abweichenden tariflichen Regelungen. Ob eine solche Vereinbarung auch in schlüssigem Verhalten oder einer betrieblichen Übung liegen kann, soll Gegenstand der folgenden Untersuchungen sein. Die Problematik ist auch nach dem Inkrafttreten des Nachweisgesetzes763 aktuell. Dieses regelt in § 2 Abs. 1 S. 1, dass die wesentlichen Vertragsbedingungen schriftlich vom Arbeitgeber niederzulegen und dem Arbeitnehmer auszuhändigen sind. Der Hinweis auf die anzuwendenden Tarifverträge gemäß § 2 Abs. 1 S. 2 Nr. 10 NachwG muss jedoch lediglich in allgemeiner Form gehalten sein. Er erfordert weder eine detaillierte Angabe der auf das Arbeitsverhältnis anzuwendenden Tarifverträge, noch die ausdrückliche Bezeichnung des in Bezug genommenen Tarifvertrags.764 Höhere Anforderungen stellt § 2 Abs. 3 S. 1 NachwG, der dem Arbeitgeber gestattet, seine Pflicht zur Niederschrift hinsichtlich bestimmter Arbeitsbedingungen bei einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag durch einen qualifizierten Hinweis auf den anzuwendenden Tarifvertrag zu ersetzen.765 Dieser qualifizierte Hinweis muss den anzuwendenden Tarifvertrag hinsichtlich Branche und Tarifgebiet spezifizieren, damit der Arbeitnehmer ihn unter mehreren Verträgen identifizieren kann.766 In diesem Fall existiert zwar ein ausdrücklicher Hinweis, welcher Tarifvertrag Anwendung findet, so dass das Vorliegen einer wirksamen betrieblichen Übung nicht mehr relevant zu werden 762 Der EuGH geht in seinem Urteil vom 5. 10. 2004, Rs. C-397 / 01 bis C-403 / 01, NZA 2004, 1145 ff., noch über das Schriftformerfordernis hinaus und lässt eine Abweichung von der in Art. 6 der RL 93 / 104 / EG festgelegten wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden – auch wenn diese auf der Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag beruht – nur zu, wenn der Arbeitnehmer ausdrücklich und frei zugestimmt hat (EuGH vom 5. 10. 2004, NZA 2004, 1145, 1149). Auch das Arbeitszeitgesetz sieht in § 7 Abs. 7 ArbZG für bestimmte Arbeitszeitverlängerungen, insbesondere auch für solche, die auf einer Bezugnahme gemäß § 7 Abs. 3 ArbZG beruhen, das Erfordernis einer schriftlichen Einwilligung des betroffenen Arbeitnehmers vor. 763 Vom 20. 7. 1995, BGBl. 1995 I, S. 946. 764 Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Anpassung arbeitsrechtlicher Bestimmungen an das EG-Recht, BT-Drucks. 13 / 668, S. 11; Preis, in: ErfK, § 2 NachwG Rn. 23. 765 Entwurf der Bundesregierung eines Gesetzes zur Anpassung arbeitsrechtlicher Bestimmungen an das EG-Recht, BT-Drucks. 13 / 668, S. 11; Preis, in: ErfK, § 2 NachwG Rn. 33. 766 Preis, in: ErfK, § 2 NachwG Rn. 34.
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scheint.767 Das Nachweisgesetz begründet jedoch kein konstitutives Schriftformerfordernis. Eine Verletzung der Nachweispflicht hat daher keinen Einfluss auf die Wirksamkeit der vereinbarten Arbeitsvertragsbedingungen.768 Deshalb stellt sich auch weiterhin die Frage, ob bei fehlender schriftlicher Vereinbarung eine stillschweigende Einbeziehung eines von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichenden Tarifvertrags erfolgt ist.769
I. Das Bewusstsein zur Abweichung Die Bezugnahme auf einen von tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften abweichenden Tarifvertrag wirft in zweifacher Hinsicht Fragen auf. Zum einen handelt es sich dabei um die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, die mit den damit verbundenen Problemen einhergeht. Zum anderen stellt sie in der Regel eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen des Arbeitnehmers im Vergleich zu den gesetzlichen Arbeitsbedingungen dar. Diese Besonderheit hat wiederholt Anlass zu Äußerungen in Rechtsprechung und Schrifttum gegeben, die fordern, dass der Wille der Arbeitsvertragsparteien eine abweichende tarifliche Regelung im Sinne der Erstreckungsklauseln zu übernehmen eindeutig erkennbar sein müsse.770 Dies resultiere daraus, dass es sich bei den Erstreckungsklauseln um Ausnahmevorschriften für den grundsätzlich einseitig zwingenden Charakter des tarifdispositiven Rechts handele.771 Notwendig sei nicht lediglich, dass die Parteien erkennbar einen bestimmten Tarifvertrag in Bezug nähmen,772 sondern beide Seiten des Einzelarbeitsvertrags müssten mit der Anwendung des Tarifvertrags einschließlich der Abweichung vom Gesetz einverstanden sein.773 Dabei bleibt im Dunkeln, was unter dieser Forderung tatsächlich genau zu verstehen ist.
767 Henssler, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 683, 702, spricht davon, dass „viele der früher problematischen Folgen der Tarifbindung durch betriebliche Übung ( . . . ) seit Inkrafttreten des NachwG entschärft“ seien. 768 Preis, in: ErfK, Einf. NachwG Rn. 3; Richardi, in: MüHBArbR, § 43 Rn. 35. 769 Eine Sanktionsnorm für die Vernachlässigung der Pflichten aus dem Nachweisgesetz findet sich nicht. Allenfalls kann sich dies auf die Beweislastverteilung innerhalb eines Arbeitsrechtsstreits auswirken (vgl. dazu Preis, in: ErfK, Einf. NachwG Rn. 19) oder zu einem Schadensersatzanspruch führen (vgl. dazu BAG vom 17. 4. 2002, AP Nr. 6 zu § 2 NachwG), die materiellrechtliche Feststellung, ob der abweichende Tarifvertrag wirksam in Bezug genommen wurde, erübrigt sich jedoch nicht. 770 Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 37; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 189, „bei Abweichung zuungunsten des Arbeitnehmers allerdings muss die Übung den Parteien nicht nur bekannt sein; vielmehr müssen beide mit der Anwendung der Tarifnorm einschließlich der Abweichung vom Gesetz einverstanden sein“; LAG Köln, vom 15. 8. 1997, LAGE § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 44. 771 Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 37. 772 So aber LAG Hamm, vom 29. 9. 1975, BB 1976, 603. 773 LAG Köln, vom 15. 8. 1997, LAGE § 1 KSchG Betriebsbedingte Kündigung Nr. 44.
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Da die arbeitsvertragliche Bezugnahmeabrede eine rechtsgeschäftliche Vertragsabsprache darstellt,774 finden auf sie die allgemeinen zivilrechtlichen Regeln für den Austausch von Willenserklärungen Anwendung. Diese setzen sich in subjektiver Hinsicht aus dem Handlungswillen, dem Erklärungsbewusstsein sowie einem konkreten Geschäftswillen zusammen.775 Ob eine Willenserklärung, d. h. im vorliegenden Zusammenhang eine auf die Einbeziehung des abweichenden Tarifvertrags gerichtete Erklärung, vorliegt, beurteilt sich jedoch nicht nach dem tatsächlichen Vorliegen dieser drei subjektiven Komponenten.776 Allein maßgeblich ist, ob ein durchschnittlicher Teilnehmer am Rechtsverkehr die abgegebene Erklärung als eine auf die Herbeiführung einer Rechtsfolge gerichtete Willensäußerung verstehen durfte, die sich inhaltlich darauf bezieht, einen bestimmten Tarifvertrag in das Arbeitsverhältnis kraft Verweisung einzubeziehen. 777 Weicht dieser äußere Erklärungstatbestand von den inneren, subjektiven Vorstellungen der Vertragsgegenseite ab, sind die rechtsgeschäftlichen Vorschriften über Willensmängel anzuwenden, das heißt in der Regel die Irrtumsvorschriften der §§ 119 ff. BGB.778 Das fehlende Bewusstsein, dass mit der Bezugnahme auch eine nachteilige Abweichung von den gesetzlich angeordneten Arbeitsbedingungen für den Arbeitnehmer eintritt, wird dabei als Rechtsfolgenirrtum in der Regel unbeachtlich sein.779 Nach dem ersten zivilrechtlichen Befund muss in der Bezugnahmeabrede, daher nicht das Bewusstsein der Vertragspartner zum Ausdruck kommen, dass damit zugleich von der gesetzlichen Ausgangslage abgewichen wird. Das subjektive Vorliegen eines solchen Bewusstseins kann in praxi ohnehin nicht nachgewiesen werden. Das Vorhandensein einer inneren Tatsache für die Wirksamkeit einer Willenseinigung zu fordern, widerspricht vielmehr der allgemeinen zivilrechtlichen Konzeption und kann mit den Stellungnahmen in Rechtsprechung und Literatur nicht gemeint gewesen sein. Die gesetzlichen Erstreckungsklauseln stellen ein darüber hinaus gehendes Erfordernis einer ausdrücklichen Einigung über die Abweichung von tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften ebenfalls nicht auf.780 Sie sprechen nur davon, dass die Anwendung des betreffenden Tarifvertrags vereinbart werden muss. Ihrem Vgl. oben 1. Teil: § 4 A. Statt aller Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl., § 24 Rn. 2 ff. 776 BGH vom 7. 6. 1984, BGHZ 91, 324, 329 f.; BAG vom 30. 10. 1984, AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Betriebliche Übung; Kramer, in: MüKo BGB, vor § 116 Rn. 13; Henssler, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 683, 686. 777 Allgemein BGH vom 29. 11. 1994, NJW 1995, 953; vom 2. 11. 1989, BGHZ 109, 171, 177; vom 7. 6. 1984, BGHZ 91, 324, 330. 778 Henssler, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 683, 686; Kramer, in: MüKo BGB, vor § 116 Rn. 41. 779 Zur Unbeachtlichkeit des Rechtsfolgenirrtums vgl. nur Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 36 Rn. 73 ff. 780 Dörner, in: ErfK, § 13 BUrlG Rn. 53; grundsätzlich auch Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 190. 774 775
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Sinn nach ist eine über die bloße Bezugnahme hinausgehende Einigung der Vertragsparteien über die gleichzeitige Abweichung vom Gesetz auch nicht notwendig. Die Existenz der gesetzlichen Erstreckungsklauseln erklärt sich aus dem zwingenden Charakter der tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften im Hinblick auf die Arbeitsvertragsparteien. Ohne die gesetzliche Erlaubnis der Bezugnahme wäre die vertragliche Vereinbarung als verkürzte Vertragsinhaltsabsprache mit dem Inhalt des zum Nachteil des Arbeitnehmers vom Gesetz abweichenden Tarifvertrags nämlich entweder unwirksam oder gemäß § 134 BGB in Verbindung mit den gesetzlichen Vorschriften nichtig.781 Da das für die Parteien des Individualarbeitsverhältnisses zwingende Gesetz aber selbst anordnet, dass die Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag als eine besondere vertragliche Gestaltungsform trotz des zwingenden Charakters zulässig ist, tritt die Unwirksamkeitsbzw. Nichtigkeitsfolge für diesen Fall nicht ein. Allein diese rechtstechnisch notwendige Funktion erfüllen die Erstreckungsklauseln und ermöglichen damit die betriebseinheitliche Anwendung eines Tarifvertrags, auch wenn dieser in Teilen von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften abweicht. Eine gesonderte, ausdrückliche Einigung über die damit verbundene Verschlechterung der gesetzlichen Arbeitsbedingungen für den Arbeitnehmer fordern sie nicht.782 Aus teleologischer Sicht ist diese auch nicht notwendig. Der Arbeitnehmerschutz wird dadurch gewährleistet, dass dem Tarifvertrag im Allgemeinen eine materielle Richtigkeitsgewähr zukommt. Darüber hinaus gestatten die Erstreckungsklauseln nur die Bezugnahme auf den einschlägigen Tarifvertrag,783 so dass im Besonderen zusätzlich gewährleistet ist, dass der im Tarifvertrag niedergelegte Interessenausgleich auch für das spezielle Arbeitsverhältnis angemessen ist. Einen darüber hinausgehenden Schutz hat der Gesetzgeber nicht für notwendig erachtet. Wollte man über den Wortlaut der Erstreckungsklauseln hinaus verlangen, dass die Arbeitsvertragsparteien in ihren Erklärungen auch ausdrücklich eine Vereinbarung über die Abweichung vom Gesetz treffen, dann wären damit erhebliche Beweisprobleme verbunden. Rechtssicherheit würde nur herrschen, wenn eine diesbezügliche Einigung der Arbeitsvertragsparteien schriftlich niedergelegt ist. Vgl. zum Unterschied oben 1. Teil: § 2 C. III. Vgl. BAG vom 19. 9. 1985, AP Nr. 21 zu § 13 BUrlG, wo der 6. Senat eine dynamische Bezugnahmeabrede als wirksam im Sinne von § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG einstufte, bei der naturgemäß keine Einigung der Arbeitsvertragsparteien über die Abweichung vom Gesetz stattfinden kann; BAG vom 27. 6. 1978, AP Nr. 12 zu § 13 BUrlG, in dem der 6. Senat eine Bezugnahmeabrede, die die Vorschriften eines Manteltarifvertrags auf das Arbeitsverhältnis für anwendbar erklärte, als wirksam im Sinne von § 13 Abs. 1 S. 2 einstufte, ohne dass die Arbeitsvertragsparteien sich über die Abweichung vom Gesetz geeinigt hätten; BAG vom 3. 12. 1964, AP Nr. 4 zu § 13 BUrlG, betreffend einen Sachverhalt, in dem die Parteien auf ein Urlaubsabkommen Bezug genommen hatten, ohne dass das BAG prüft, ob sie sich auch über die Abweichung vom Gesetz geeinigt haben; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 189, 190, der allerdings bei der Bezugnahme durch betriebliche Übung bei Abweichungen zuungunsten der Arbeitnehmer wiederum eine ausdrückliche Vereinbarung fordert. 783 Vgl. dazu oben, 1. Teil: § 4 B. I. 781 782
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Hinsichtlich der Formfreiheit der Bezugnahmeabreden besteht jedoch weitestgehend Einigkeit.784 Sie wird insbesondere dadurch nahe gelegt, dass nur einzelne Erstreckungsklauseln eine schriftliche Vereinbarung fordern,785 der Großteil von ihnen aber nicht. Die Formulierungen in Rechtsprechung und Literatur, die scheinbar verlangen, dass sich die Arbeitsvertragsparteien auch über die mit der Bezugnahme auf den abweichenden Tarifvertrag verbundenen Abweichung vom gesetzlichen Schutzniveau einigen, sind daher zu relativieren. Es liegt nahe, dass es sich dabei um untechnische Hinweise auf die eingangs geschilderte Problematik handelt, die die Frage betrifft, ob neben einer ausdrücklichen Bezugnahmeabrede auch andere arbeitsvertragliche Einigungsformen wie eine konkludente Vereinbarung, eine Gesamtzusage oder eine betriebliche Übung als Grundlage einer Bezugnahme auf einen von tarifdispositiven Vorschriften abweichenden Tarifvertrag dienen können. Dem wird im Folgenden nachgegangen. II. Die konkludente Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag Unter einer konkludenten Vertragsvereinbarung, die missverständlich zuweilen auch als stillschweigende Vertragsabrede bezeichnet wird, versteht man die Vereinbarung einer bestimmten vertraglichen Regelung durch schlüssiges Verhalten.786 Das Bundesarbeitsgericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass unabhängig von der Abweichung von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag auch durch eine konkludente Vertragsabrede zulässig ist.787 Das Schrifttum folgt dieser Ansicht nahezu einhellig.788 So784 Vgl. nur Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 189; Kraft, in: Soergel, BGB, § 622 Rn. 21; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 BUrlG Rn. 17; Lipke, in: GK-KSchR, § 14 TzBfG Rn. 313a; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 47; Schmitt, EFZG, § 4 Rn. 147; Zwanziger, in: Kittner / Däubler / Zwanziger, KSchR, § 622 BGB Rn. 34. 785 Explizit handelt es sich dabei um §§ 7, 12 ArbZG, 21a JArbSchG, 48, 101 ArbGG, §§ 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG. 786 Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 24 Rn. 17 ff. 787 BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; vom 11. 8. 1988, AP Nr. 5 zu § 625 BGB; vom 23. 2. 1988; AP Nr. 17 zu § 1 BetrAVG Zusatzversorgungskassen; vom 11. 6. 1975, EzA § 3 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 1. 788 Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 189; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 335; Backhaus, in: APS, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rn. 411, unter Aufgabe der abweichenden Ansicht in der Vorauflage, wo noch die Schriftform für die Vereinbarung gefordert wurde; Dörner, in: KassHBArbR, 6. 1. Rn. 147; Etzel, NZA 1987, Beilage Nr. 1, S. 19, 27; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 733; Gaul, ZTR 1991, 188, 191; Hanau / Kania, Festschrift für Schaub, S. 239, 258; Hromadka / Maschmann, Arbeitsrecht II, § 13 Rn. 260; Lorenz, in: Däubler, TVG, § 3 Rn. 329; Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 256; ders., Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Schaub, ArbRHB, § 208 III. 3., Rn. 14; Stein, Tarifvertragsrecht, Rn. 231; kritisch Preis, Vertragsgestaltung im Arbeitsrecht, S. 393, der auf die praktischen Schwierigkeiten hinweist; sowie bereits Nikisch, ArbR II, § 71 V 2, S. 275; Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. II / 1, § 23 III, S. 483.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
weit ersichtlich, erheben nur Zachert789 und Kramer790 dagegen Widerspruch. Zachert stützt sich dabei maßgeblich auf das Schriftformgebot des § 1 Abs. 2 TVG.791 Dieses werde durch eine „stillschweigende Bezugnahme“ faktisch unterlaufen.792 Darüber hinaus weisen die Autoren auf den Wortlaut der Erstreckungsklauseln hin, die eine „Vereinbarung“ forderten.793 Schließlich seien die Erstreckungsklauseln als Ausnahmevorschriften einer erweiternden Interpretation nur begrenzt zugänglich.794 Das Schriftformgebot des § 1 Abs. 2 TVG resultiert aus dem Normcharakter des Tarifvertrags und dient dazu, den Normunterworfenen den Zugang zu den für sie maßgeblichen Tarifvorschriften zu erleichtern, an deren Entstehungsprozess sie nicht beteiligt waren.795 Bei der arbeitsvertraglichen Verweisung auf einen Tarifvertrag handelt es sich jedoch um eine, wenn auch verkürzte, Vertragsinhaltsabsprache. Zwischen dem Tarifvertrag als normativ wirkendem Kollektivvertrag und dem Individualvertrag ist jedoch streng zu unterscheiden. Nur für die Kollektivvereinbarungen gilt das Formerfordernis des § 1 Abs. 2 TVG. Dieses Formerfordernis wahren ordnungsgemäß zustande gekommene Tarifnormen unabhängig davon, ob sie Bezugnahmeobjekt einer arbeitsvertraglichen Verweisung sind oder nicht.796 Der Sinn des tarifrechtlichen Formgebots bleibt gewahrt, da die tarifliche Regelung nur unverändert übernommen werden darf. Die einzelvertragliche Bezugnahmeabsprache gehorcht demgegenüber voll und ganz schuldrechtlichen Regeln. Solange der Arbeitsvertrag selbst keinem vertraglichen oder gesetzlichen Formerfordernis unterliegt, können in diesem auch unabhängig von einer bestimmten Form belastende Vereinbarungen getroffen werden. Es ist daher nicht ersichtlich, warum bei einer Verweisung auf den Tarifvertrag strengere Anforderungen zu stellen sein sollen.797 Auch die Auslegung der gesetzlichen Erstreckungsklauseln führt nicht zu einem abweichenden Ergebnis. Ihrem Wortlaut nach setzen sie alle eine Vereinbarung zwischen den nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien voraus.798 Der Begriff In: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 73. Kündigungsvereinbarungen, S. 134 ff. 791 Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 73. 792 Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 73. 793 Kramer, Kündigungsvereinbarungen, S. 135; Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 73. 794 Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 73. 795 BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 516; Wiedemann, in: ders., TVG, § 1 Rn. 228; anders: Nömeier, Bezugnahme auf Tarifvertragsinhalte im Einzelarbeitsverhältnis, S. 105. 796 BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Nömeier, Bezugnahme auf Tarifvertragsinhalte, S. 105; Lorenz, in: Däubler, TVG, § 3 Rn. 329. 797 BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Oetker, Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 47; Schmitt, EFZG, § 4 Rn. 147. 789 790
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der Vereinbarung als solcher ist neutral. Er erlangt seinen juristischen Gehalt erst durch zusätzliche Attribute. So werden zum Beispiel konkludente Vereinbarungen in der juristischen Fachsprache von ausdrücklichen Vereinbarungen unterschieden. Aus dem Begriff „Vereinbarung“ allein kann demnach nicht darauf geschlossen werden, dass es sich stets um eine ausdrückliche handeln muss. Dass Vereinbarungen im Sinne der gesetzlichen Erstreckungsklauseln nicht notwendig ausdrückliche Vereinbarungen sind, bestätigt zudem § 101 Abs. 2 S. 3 ArbGG. Dieser fordert anders als die Erstreckungsklauseln in den übrigen Arbeitnehmerschutzgesetzen und abweichend von dem im selben Gesetz enthaltenen § 48 Abs. 2 S. 2 ArbGG eine ausdrückliche und schriftliche Vereinbarung. Wo der Gesetzgeber eine schriftliche Vereinbarung für erforderlich gehalten hat, hat er dies für die Übernahme abweichender Tarifvertragsregelungen ausdrücklich angeordnet.799 Daraus lässt sich der Umkehrschluss ziehen, dass für die Bezugnahme auf von tarifdispositivem Recht abweichende Tarifverträge grundsätzlich auch eine konkludente Abmachung ausreicht.800 Konkludente Vereinbarungen setzen wie alle vertraglichen Abreden übereinstimmende Willenserklärungen voraus. Sie unterscheiden sich lediglich dadurch von ausdrücklichen Vertragsabreden, dass die Willenserklärung nicht explizit artikuliert wird, sondern sich ihr Inhalt aus den Umständen und dem Verhalten der Vertragspartner ergibt. Immer handelt es sich aber bei der Vereinbarung um einen Austausch von Willenserklärungen.801 Konkludente Vereinbarungen können daher dem Wortlaut der Erstreckungsklauseln, die alle eine Vereinbarung der abweichenden Tarifnormen vorsehen, nicht widersprechen. Denn bei ihnen handelt es sich um eine, wenn auch nicht wörtlich geäußerte Willenseinigung. Auch aus teleologischen Gesichtspunkten ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, eine ausdrückliche Vereinbarung fordern zu müssen. Der Gesetzgeber wollte durch die Eröffnung der Bezugnahmemöglichkeit die einheitliche Anwendung der von tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften abweichenden tariflichen Arbeitsbedingungen in einem Betrieb bzw. einer Branche ermöglichen. Aus Sicht des Gesetzgebers ist die Ausdehnung der Privatautonomie trotz des damit verbundenen Verlustes an Rechtspositionen auf Seiten des Arbeitnehmers gerechtfertigt, da die Tarifvertragsparteien die Gewähr für die Richtigkeit der von ihnen vereinbarten 798 Vgl. § 622 Abs. 4 S. 2 BGB; § 7 Abs. 3, § 12 S. 2 ArbZG; § 21a Abs. 2 JArbSchG; § 12 Abs. 3 S. 3, § 13 Abs. 4 S. 2, § 14 Abs. 2 S. 4 TzBfG; § 4 Abs. 4 S. 2 EFZG; § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG; § 17 Abs. 3 S. 2 BetrAVG; § 48 Abs. 2 S. 2, § 101 Abs. 2 S. 3 ArbGG; §§ 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG. 799 Vgl. § 7 Abs. 3 und § 12 S. 2 ArbZG, § 21a Abs. 2 JArbSchG, § 101 Abs. 2 S. 3 ArbGG, §§ 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG. 800 Oetker, Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. Diesen systematischen Aspekt vernachlässigen Kramer, Kündigungsvereinbarungen, S. 135, und Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 73, wenn sie allein auf den Wortlaut von einzelnen Erstreckungsklauseln abstellen. 801 Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 24 Rn. 17.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
Regelungen bieten und zusätzlich immer der Geltungsbereich des Tarifvertrags für das übernehmende Arbeitsverhältnis eröffnet sein muss. Dadurch wird garantiert, dass die Tarifnormen auch inhaltlich für das betreffende Arbeitsverhältnis angemessen sind. An dieser Ausgangslage ändert sich unabhängig davon, ob die Arbeitsvertragsparteien eine ausdrückliche oder konkludente Regelung treffen, nichts. Die Richtigkeitsgewähr der abweichenden tariflichen Regelungen und die Einschlägigkeit des Geltungsbereichs hat der Gesetzgeber als ausreichende Schutzmechanismen dafür angesehen, den Arbeitnehmer vor einem unbedachten Verzicht auf seine gesetzlich abgesicherten Rechtspositionen zu bewahren. Ein darüber hinaus gehendes Bewusstsein von gesetzlichen Arbeitsbedingungen abzuweichen muss sich nicht in den (schlüssigen) Erklärungen der Arbeitsvertragsparteien manifestieren. Bereits eingangs dieses Paragraphen wurde gezeigt, dass die Bezugnahme eine verkürzte Vertragsinhaltsregelung darstellt. Für den Fall, dass diese mit dem Inhalt eines abweichenden Tarifvertrags übereinstimmt, macht das Gesetz eine Ausnahme von der aus dem einseitig zwingenden Charakter der Arbeitnehmerschutzvorschriften resultierenden Unwirksamkeits- oder Nichtigkeitsfolge in Verbindung mit § 134 BGB.802 Dabei hat der Gesetzgeber bewusst eine rein vertragsrechtliche Konstruktion gewählt. Somit müssen den Arbeitsvertragsparteien auch alle anerkannten vertraglichen Gestaltungsmittel für die Bezugnahme zur Verfügung stehen. Diesem Ergebnis steht auch nicht die Entscheidung des EuGH vom 5. 10. 2004 entgegen, der für Abweichungen von der gemeinschaftsrechtlich festgelegten wöchentlichen Höchstarbeitszeit die freie und in voller Sachkenntnis abgegebene, individuelle Zustimmung des Arbeitnehmers fordert.803 Die ausdrückliche Zustimmung der gewerkschaftlichen Verhandlungspartner in einem Tarifvertrag stehe der Zustimmung des Arbeitnehmers selbst nicht gleich.804 Dieser Standpunkt lässt sich nicht hinsichtlich aller Erstreckungsklauseln verallgemeinern. Er bezieht sich speziell auf das europarechtlich überformte Arbeitszeitrecht, für das die Richtlinie 93 / 104 / EG in Art. 18 Abs. 1 b) i) das Zustimmungserfordernis des Arbeitnehmers ausdrücklich vorsieht. Zudem verfolgt das Arbeitszeitrecht den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer (§ 1 Nr. 1 ArbZG) und damit ein besonders elementares Schutzinteresse. Daraus erklärt sich, dass im Gegensatz zu den übrigen Erstreckungsklauseln § 7 Abs. 3 ArbZG für die arbeitsvertragliche Übernahme einer abweichenden Arbeitszeitregelung die Schriftform anordnet und § 7 Abs. 7 ArbZG die schriftliche Einwilligung des Arbeitnehmers in eine vom Gesetz abweichende Arbeitszeitverlängerung fordert. Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag stellt eine verkürzte Vertragsinhaltsabsprache dar. Sie rückt daher im Hinblick auf ihre Rechtswirkungen in die Nähe der Einbeziehung allgemeiner Geschäftsbedingungen in einen Vertrag. Eine Anwen802 803 804
Vgl. zu der Unterscheidung oben 1. Teil: § 2 C. III. EuGH vom 5. 10. 2004, Rs. C-397 / 01 bis C-403 / 01, NZA 2004, 1145, 1149. EuGH vom 5. 10. 2004, Rs. C-397 / 01 bis C-403 / 01, NZA 2004, 1145, 1149.
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dung der Vorschriften des § 305 Abs. 2 und 3 BGB zur Einbeziehung allgemeiner Geschäftsbedingungen auf den Arbeitsvertrag scheidet gemäß § 310 Abs. 4 S. 2 HS 2 BGB eindeutig aus. Aber selbst für das von § 305 Abs. 2 BGB a. E. geforderte Einverständnis des Vertragspartners ist allgemein anerkannt, dass es auch konkludent zum Ausdruck kommen kann.805 In der Parallelbewertung spricht daher auch dieser Gesichtspunkt für die Zulässigkeit einer konkludenten Bezugnahme auf einen Tarifvertrag. III. Bezugnahme kraft Gesamtzusage Ähnlich fällt die Beurteilung bei der Gesamtzusage aus. Das arbeitsrechtliche Schrifttum hält eine Bezugnahme auf von tarifdispositivem Recht abweichende Tarifverträge mittels Gesamtzusage nahezu einhellig für zulässig, ohne sich näher mit der Frage auseinanderzusetzen. 806 Die früher umstrittene rechtsdogmatische Einordnung der Gesamtzusage kann heute als geklärt angesehen werden. Nach allgemeiner Ansicht stellen die Gesamtzusage, mit der ein Arbeitgeber einseitig eine Änderung der Arbeitsbedingungen im Betrieb bekannt gibt, und die in der Regel stillschweigende Kenntnisnahme der Arbeitnehmer einen Austausch von Willenserklärungen zwischen Arbeitgeber und den einzelnen Arbeitnehmern dar, bei dem der Zugang der Annahmeerklärung der Arbeitnehmer jedoch gemäß § 151 S. 1 BGB entbehrlich ist.807 Auch die Gesamtzusage ist also eine vertragliche Abrede, bei der Willenserklärungen ausgetauscht werden. Sie entspricht somit dem Wortlaut der Erstreckungsklauseln, da sie eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer darstellt. Abgesehen von diesem eher formalen Befund wahrt ein Verweis auf den abweichenden Tarifvertrag auch das Schutzbedürfnis der Arbeitnehmer. Zwar ist die Aussage, dass die Arbeitnehmer mittels einer Willenserklärung in den Verlust ihrer gesetzlichen Rechtspositionen einwilligen eher ein Postulat. Gerade bei einer Gesamtzusage sieht sich der einzelne Arbeitnehmer der einseitigen Regelungsmacht des Arbeitgebers ausgesetzt und wird dieser nichts entgegensetzen. Dem steht jedoch gegenüber, dass die aufgrund der ausgeglichenen Verhandlungsstärke der Koalitionen zustande gekommenen Abweichungen von den tarifdispositiven Vorschriften die Arbeitnehmerinteressen nach der gesetzlichen Prämisse ausrei805 Basedow, in: MüKo BGB, § 305 Rn. 83; Larenz / Wolf, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, § 43 Rn. 19; Medicus, BGB-AT, Rn. 408. 806 Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 189; Gaul, ZTR 1993, 355, 356; Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 256. 807 Seit BAG (GS) vom 16. 9. 1986, AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972, allg. Meinung; vgl. zuletzt BAG vom 22. 1. 2003, AP Nr. 247 zu § 611 BGB Gratifikation; Lieb, ArbR, Rn. 53; Richardi in: MüHBArbR, § 12 Rn. 42; Zöllner / Loritz, § 6 I 6e, S. 71; aus dem älteren Schrifttum: Nikisch, ArbR I, S. 264; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 302 ff.; Seiter, Die Betriebsübung 1967, S. 65; zumindest gegen eine Bindung des Arbeitgebers aufgrund einseitiger Erklärung Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. I, S. 151, Fn. 14.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
chend wahren. Diese tariflichen Arbeitsbedingungen sollen nach der gesetzgeberischen Konzeption einer betriebseinheitlichen Anwendung offen stehen. Dieses Ziel kann effektiv nur erreicht werden, wenn die dafür in der Praxis üblichen und rechtlich anerkannten Einheitsregelungen den Arbeitsvertragsparteien auch für eine Bezugnahme auf den Tarifvertrag im Bereich des tarifdispositiven Rechts zur Verfügung stehen. § 101 Abs. 2 ArbGG bestätigt dieses Ergebnis wiederum. Im Gegensatz zu allen anderen Erstreckungsklauseln fordert er eine ausdrückliche Vereinbarung. Wie bereits im Hinblick auf die konkludente Bezugnahme festgestellt, legt dies den Umkehrschluss nahe, dass in den von § 101 Abs. 2 ArbGG nicht erfassten Fällen der Bezugnahme auf einen von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrag keine ausdrückliche Bezugnahmevereinbarung erforderlich ist. Auch der Verweis auf einen von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrag mittels Gesamtzusage ist somit zulässig. IV. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung Hinsichtlich der Zulässigkeit einer Bezugnahme auf einen von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichenden Tarifvertrag mittels betrieblicher Übung bietet sich ein differenziertes Meinungsbild. Im Allgemeinen ist die Bezugnahmemöglichkeit auf einen Tarifvertrag mittels betrieblicher Übung weit überwiegend anerkannt.808 Abweichend davon hat das Bundesarbeitsgericht809 jedoch die Bezugnahme auf einen von den tarifdispositiven Kündigungsfristen abweichenden Tarifvertrag mit der Begründung abgelehnt, § 622 Abs. 4 S. 2 BGB sei zu entnehmen, dass der betroffene Arbeitnehmer die betriebliche Übung nicht nur habe kennen müssen, sondern dass er hiermit auch einverstanden gewesen sein müsse.810 808 BAG vom 17. 4. 2002, AP Nr. 6 zu § 2 NachwG; vom 27. 6. 2001 – 10 AZR 488 / 00 – n. v.; vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; vom 11. 6. 1975, EzA § 3 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 1 = AuR 1975, 247; LAG Hamburg vom 7. 6. 1995, AuR 1996, 75, 76; Hanau / Kania, Festschrift für Schaub, S. 239, 258; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 335, 345; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 733; Gaul, ZTR 1991, 188, 191, ders., ZTR 1993, 355, 356; Henssler, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 683, 694 f.; Lorenz, in: Däubler, TVG, § 3 Rn. 272; a. A. nur Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 73, 104 ff. Vorliegend sollen nur die Besonderheiten einer Bezugnahme auf einen von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrag im Mittelpunkt stehen. Zu den weiteren allgemeinen Grenzen der Bezugnahme auf einen Tarifvertrag durch betriebliche Übung vgl. die st. Rspr. des Bundesarbeitsgerichts, die das Entstehen einer betrieblichen Übung im Bereich des öffentlichen Dienstes nur unter engen Voraussetzungen zulässt, BAG vom 24. 3. 1993, AP Nr. 38 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; vom 14. 9. 1994, AP Nr. 46 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; vom 16. 7. 1996, AP Nr. 7 zu § 1 BetrAVG Betriebliche Übung; kritisch dazu: Singer, Verbot widersprüchlichen Verhaltens, S. 239 ff.; ders., ZfA 1993, 487, 498 ff. 809 Mit Urteil vom 3. 7. 1996 – 2 AZR 469 / 95 – n. v. 810 BAG vom 3. 7. 1996 – 2 AZR 469 / 95 – n. v.; ebenso bereits BAG vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG, allerdings in Bezug auf einen nur noch nachwirkenden Tarifvertrag.
§ 4 Anwendungsprobleme im Geltungsbereich der Erstreckungsklauseln
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Wenn die Norm ausdrücklich eine Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien verlange, so setze das übereinstimmende Willenserklärungen voraus.811 Das LAG Köln hat im Anschluss daran für die Vereinbarung verkürzter Kündigungsfristen, die in einem Tarifvertrag abweichend von § 622 BGB niedergelegt waren, entschieden, dass immer übereinstimmende Willenserklärungen erforderlich seien, wenn ein tarifdispositives Gesetz für abweichende Regelungen im Wortlaut eine Vereinbarung der Arbeitsvertragsparteien verlange.812 In derartigen Fällen sei die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, der eine Abweichung vom Gesetz einschließt, durch betriebliche Übung nur zulässig, wenn die Übung den Beteiligten nicht nur bekannt, sondern beide Seiten des Einzelarbeitsvertrages auch mit der Anwendung des gesamten Tarifvertrags einschließlich der Abweichung vom Gesetz einverstanden seien.813 Die beiden Judikate stimmen zwar im Ergebnis überein, betreffen aber im Ausgangspunkt unterschiedliche Sachverhalte. Die Ausführungen in dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts beziehen sich auf ein neu begründetes Arbeitsverhältnis in einem Betrieb, in dem kraft betrieblicher Übung der von § 622 BGB abweichende Tarifvertrag Anwendung fand. Demgegenüber hatte das LAG Köln einen Sachverhalt zu entscheiden, in dem das Arbeitsverhältnis bereits mehrere Jahre bestand und der abweichende Tarifvertrag ebenfalls aufgrund einer betrieblichen Übung anzuwenden war. Hinsichtlich der gesetzlichen Erstreckungsklausel in § 13 Abs. 1 S. 2 BUrlG ließ der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts bereits 1965 eine Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag mittels betrieblicher Übung grundsätzlich zu.814 Wie bereits der 2. Senat forderten die Richter des 5. Senats für neu in den Betrieb eintretende Arbeitnehmer, dass diesen die betriebliche Übung entweder bekannt gewesen sein musste oder sie sich mit deren Anwendung auf das Arbeitsverhältnis einverstanden erklärt haben.815 Die fast einhellige Auffassung im arbeitsrechtlichen Schrifttum geht davon aus, dass eine Vereinbarung eines von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichenden Tarifvertrags auch durch eine betriebliche Übung erfolgen kann.816 Die Stellungnahmen differenzieren daBAG vom 3. 7. 1996 – 2 AZR 469 / 95 – n. v. LAG Köln, vom 15. 8. 1997, EzA § 1 Kündigungsschutzgesetz Betriebsbedingte Kündigung Nr. 44, S. 4 f. – bereits begründetes Arbeitsverhältnis 813 LAG Köln, vom 15. 8. 1997, EzA § 1 Kündigungsschutzgesetz Betriebsbedingte Kündigung Nr. 44, S. 4 f. 814 BAG vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG. 815 BAG vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG. 816 Backhaus, in: APS, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rn. 411; Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 28; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 190; Dörner, ErfK, § 13 BUrlG Rn. 53; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 705; Leinemann / Linck, Urlaubsrecht, § 13 BUrlG Rn. 17; Müller-Glöge, ErfK, § 622 BGB Rn. 88; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 20; Oetker, Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; ders., in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 256; Kraft, in: Soergel, BGB, § 622 Rn. 21; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 47; Stahlhacke / Preis / Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz, § 18 VI 4, S. 381; Zwanziger, in: Kittner / Däubler / Zwanziger, KSchR, § 622 BGB Rn. 34; grundsätzlich auch Henssler, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 683, 701; a. A. Koberski / Clasen / Menzel, TVG, § 3 Rn. 51; Lipke, in: GK-KSchR, § 14 TzBfG Rn. 313a; 811 812
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
bei in der Regel nicht zwischen bereits bestehenden Arbeitsverhältnissen und solchen, die hinsichtlich der Eingliederung in einen Betrieb mit bereits bestehender betrieblicher Übung neu begründet werden.817 1. Bezugnahme kraft betrieblicher Übung im bestehenden Arbeitsverhältnis Im Wortlaut aller gesetzlichen Erstreckungsklauseln findet sich das Erfordernis der Vereinbarung des die Abweichung beinhaltenden Tarifvertrags. Erforderlich für die Übernahme ist daher stets der Austausch von übereinstimmenden Willenserklärungen. Stellt man die betriebliche Übung mit der in Rechtsprechung und Schrifttum herrschenden Auffassung818 dogmatisch auf eine vertragliche Grundlage,819 so bildet dies vom Arbeitgeber wiederholt gezeigte Verhalten, den Tatbestand einer Willenserklärung, die von den Arbeitnehmern konkludent gemäß § 151 BGB unter Verzicht auf den Zugang ihrer Annahmeerklärung stillschweigend angenommen wird.820 Die Bezugnahme auf den Tarifvertrag erfolgt in diesem Fall durch den Austausch übereinstimmender Willenserklärungen, so dass sich kein Konflikt mit dem Tatbestand der gesetzlichen Erstreckungsklauseln ergibt.821 Das LAG Köln hat sich mit der dogmatischen Grundlage der betrieblichen Übung nicht auseinandergesetzt und die Bezugnahme durch betriebliche Übung mit dem Hinweis als unzulässig abgelehnt, dass der Verweis den Austausch gegenseitiger Willenserklärungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erfordere.822 Sollte Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 189, der bei Abweichungen zuungunsten des Arbeitnehmers eine ausdrückliche Vereinbarung über die Abweichung vom Gesetz fordert. 817 Zur Relevanz dieser Differenzierung vgl. Seiter, Betriebsübung, S. 113 ff.; ebenso Backhaus, AuR 1983, 65, 69; ohne die Differenzierung allerdings ders., in: APS, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rn. 411. 818 BAG vom 10. 8. 1988, AP Nr. 33 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; vom 24. 3. 1993, AP Nr. 38 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; Bickel, Anm. zu BAG vom 13. 1. 1986, AP Nr. 27 zu § 242 BGB Betriebliche Übung; Buchner, Anm. zu BAG vom 5. 2. 1971, AP Nr. 10 zu § 242 BGB Betriebliche Übung, zumindest kritisch gegenüber dem Ansatz einer Vertrauenshaftung; Hueck, Festschrift für Lehmann II, S. 636 ff.; Richardi, in: MüHBArbR, § 13 Rn. 16; Säcker, Gruppenautonomie, S. 485 ff.; ähnlich Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 189, eine betriebliche Übung stehe im Ergebnis vertraglichen Abmachungen gleich; zum Überblick über die ältere Rechtsprechung des BAG vgl. Backhaus, AuR 1983, 65, 67 ff. 819 Aus dem breiten Meinungsspektrum zur dogmatischen Begründung der rechtlichen Bindung an eine betriebliche Übung haben sich der vertragsrechtliche Ansatz und die Haftung aus einem Vertrauenstatbestand als gegensätzliche Konzepte durchgesetzt; zum Überblick über die darüber hinaus gehenden, zumeist älteren Begründungsansätze vgl. Richardi, MüHBArbR, § 13 Rn. 5 ff.; Seiter, Betriebsübung, S. 48 ff., 53 ff., 62 ff., 67 ff. 820 Zur Kritik daran vgl. Canaris, Vertrauenshaftung, S. 257; Hanau, AcP 165 (1965), 220, 260. 821 Backhaus, in: APS, Kündigungsrecht, § 14 TzBfG Rn. 411; Henssler, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 683, 701 f.; Oetker, Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 822 So auch Koberski / Clasen / Menzel, TVG, § 3 Rn. 51.
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damit eine zusätzliche ausdrückliche Einigung über die Abweichung vom Gesetz gemeint gewesen sein, ist unter Verweis auf die obigen Ausführungen nochmals zu betonen, dass es auf einen in der Bezugnahmeabrede zum Ausdruck kommenden Willen zur Abweichung vom Gesetz nicht ankommt.823 Schwierigkeiten entstehen nur, wenn man die Bindung aufgrund einer betrieblichen Übung als Vertrauenstatbestand auffasst.824 Dieser Ansatz basiert auf dem Gedanken, dass die betriebliche Übung einen Tatbestand des venire contra factum proprium825 oder aber der Erwirkung bildet.826 Folgt man diesem Konzept, so ist eine „Vereinbarung“ im Sinne der gesetzlichen Erstreckungsklauseln auf der Grundlage einer betrieblichen Übung nicht zu begründen. Gegen eine haftungsrechtliche Deutung der Bindungswirkung einer betrieblichen Übung spricht, dass sie sich nur für eine zugunsten des Arbeitnehmers wirkende Selbstbindung des Arbeitgebers als Erklärungsansatz eignet. Sie versagt, wo der Arbeitnehmer durch ein wiederholt vom Arbeitgeber gezeigtes Verhalten belastet wird.827 Um aber den praktischen Bedürfnissen gerecht zu werden, und insbesondere um die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, der unabhängig von der Abweichung von tarifdispositiven Vorschriften auch für den Arbeitnehmer belastend wirkende Regelungen enthalten kann, erklären zu können, ist daher der vertragsrechtliche Ansatz als Erklärungskonzept für die betriebliche Übung zu Grunde zu legen. Abgesehen von der eher formaljuristischen Begründung, dass die betriebliche Übung bei vertragsrechtlichem dogmatischem Verständnis auf übereinstimmend abgegebenen Willenserklärungen beruht und somit eine „Vereinbarung“ im Sinne der Erstreckungsklauseln darstellt, ist auch aus Gründen des Schutzbedürfnisses der Arbeitnehmer nichts gegen die Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag mittels betrieblicher Übung einzuwenden. Das von dem Arbeitgeber im Rahmen einer betrieblichen Übung gezeigte Verhalten stellt nichts anderes als eine konkludente Willenserklärung dar,828 mit der einzigen Besonderheit, dass sie sich Vgl. bereits oben unter 1. Teil: § 4 C. I. So Canaris, Vertrauenshaftung, S. 387 ff.; Hanau, AcP 165 (1965), 220, 260 ff.; Lieb, ArbR, Rn. 54; Seiter, Betriebsübung, S. 89 f., 92; Singer, ZfA 1993, 487, 494; jüngst Maties, Die gegenläufige betriebliche Übung, S. 74 ff., 110. kritisch zur Vertragstheorie auch Backhaus, AuR 1983, 65, 70. 825 Singer, Verbot widersprüchlichen Verhaltens, S. 235 ff.; ders., ZfA 1993, 487, 494. 826 So Canaris, Vertrauenshaftung, S. 388; Hanau, AcP 165 (1965), 220, 261; jüngst Maties, Die gegenläufige betriebliche Übung, S. 102 f. 827 Oetker, Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; deswegen lehnt Lieb, ArbR, Rn. 68, die Anwendung der betrieblichen Übung zulasten der Arbeitnehmer ab; anders Canaris, Vertrauenshaftung, S. 410, der auch auf eine den Arbeitnehmer belastende Betriebsübung die Regeln der Erwirkung anwenden will. 828 In diese Richtung auch Oetker, Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; bereits Nikisch, ArbR I, S. 264 Fn. 38, sah den einzigen Unterschied zwischen betrieblicher Übung und Gesamtzusage darin, dass im letzten Fall der Arbeitgeber ausdrücklich eine Änderung der Arbeitsbedingungen erkläre, während sie sich im ersten Fall aus seinem Verhalten ergibt. 823 824
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
an eine Vielzahl der Belegschaftsmitglieder und nicht lediglich an einen einzelnen Arbeitnehmer wendet. Die oftmals gegen eine Bezugnahme auf einen Tarifvertrag kraft betrieblicher Übung ins Feld geführten Schwierigkeiten bei der Feststellung des Umfangs, in dem der entsprechende Tarifvertrag ins Arbeitsverhältnis inkorporiert wurde, unterscheiden sich zwischen konkludenter Bezugnahme und Bezugnahme durch betriebliche Übung kaum.829 Die Möglichkeit zur konkludenten Bezugnahme wird jedoch fast einhellig anerkannt.830 Bei konsequenter Anwendung der Grundsätze muss daher auch die Bezugnahme mittels betrieblicher Übung als zulässig erachtet werden. Zudem kommt dem Tarifvertrag, auch wenn er von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften zum Nachteil der Arbeitnehmer abweicht, aufgrund des ausgeglichenen Machtverhältnisses zwischen den sozialen Gegenspielern eine materielle Richtigkeitsgewähr zu. Durch die zwingende Festlegung auf den einschlägigen Tarifvertrag als Bezugnahmeobjekt, wird darüber hinaus zusätzlich sichergestellt, dass die tariflichen Arbeitsbedingungen für das jeweilige Arbeitsverhältnis angemessen sind. Tatbestandlich setzt die betriebliche Übung voraus, dass der Arbeitgeber wiederholt tarifliche Vorschriften auf das Arbeitsverhältnis angewendet hat, woraus die Arbeitnehmer schließen konnten, dass er sich daran in Zukunft festhalten lassen will. Im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses ist in zeitlicher Hinsicht genügend Raum für die Entstehung eines solchen Erklärungstatbestandes durch wiederholte tatsächliche Übung über einen bestimmten Zeitraum hinweg. Durch widerspruchslose Duldung dieser Praxis willigen die Arbeitnehmer in die Bezugnahme ein. Auf dem Boden des hier zu Grunde gelegten vertragsrechtlichen Begründungsansatzes der Bindungswirkung einer betrieblichen Übung ist durch Auslegung zu ermitteln, in welchem Umfang der Tarifvertrag in Bezug genommen wurde. Auch wenn nur einzelne Tarifbestimmungen wiederholte Anwendung gefunden haben, ergibt sich für die Bezugnahme auf einen von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrag, dass zumindest auf den gesamten Regelungskomplex Bezug genommen werden muss, in dem sich die abweichende Tarifvorschrift befindet.831 Unabhängig davon bezweckt die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag im Allgemeinen und die Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag im Besonderen im Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers die Gleichstellung von Arbeitnehmern, die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft sind, und den nicht tarifgebungenden Arbeitnehmern. In erster Linie wird in einem solchen Fall der gesamte Tarifvertrag und nicht lediglich der die Abweichung enthaltende Regelungskomplex in Bezug genommen sein. In Betrieben nicht tarifgebundener Arbeitgeber ist die Reichweite der Bezugnahme im konkreten Einzelfall zu bestimmen.832 Allgemein dazu Hanau / Kania, Festschrift für Schaub, S. 239, 258 ff. Vgl. oben 1. Teil: § 4 C. II. 831 Vgl. oben, 1. Teil: § 4 B. III. 832 Vgl. dazu ausführlich, Hanau / Kania, Festschrift für Schaub, S. 239, 258 ff.; Oetker, Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme. 829 830
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Grundsätzlich ist demnach die Bezugnahme auf einen von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichenden Tarifvertrag durch betriebliche Übung im Rahmen eines bestehenden Arbeitsverhältnisses anzuerkennen. 2. Bezugnahme mittels betrieblicher Übung und neu eintretende Arbeitnehmer Etwas anders stellt sich die Situation für einen neu in den Betrieb eintretenden Arbeitnehmer dar. Gegenüber dem neu hinzukommenden Arbeitnehmer hat sich der durch die wiederholte Anwendung tariflicher Vorschriften geschaffene Erklärungstatbestand nicht realisiert. Das Bundesarbeitsgericht fordert für diese Fälle, dass der Arbeitnehmer die entsprechende betriebliche Übung kannte bzw. von dieser unterrichtet wurde und sich mit ihrer Anwendung auch in seinem Arbeitsverhältnis einverstanden erklärt.833 Nur dann lägen die für eine „Vereinbarung“ im Sinne von § 622 Abs. 4 S. 2 BGB erforderlichen Willenserklärungen vor.834 Dieser Befund deckt sich auch mit den Stellungnahmen im Schrifttum. Canaris geht unabhängig von der ansonsten von ihm hinsichtlich der betrieblichen Übung vorgezogenen Konzeption der Vertrauenshaftung davon aus, dass die Willenserklärungen zwischen Arbeitgeber und neu eintretendem Arbeitnehmer gemäß § 157 BGB so auszulegen sind, dass ein neu eintretender Arbeitnehmer das Vertragsangebot des Arbeitgebers so verstehen müsse, dass dieser ihn zu den im Betrieb üblichen Bedingungen einstellen will. Mit seiner Annahme akzeptiert der Arbeitnehmer im Betrieb existierende Betriebliche Übungen. Von dieser Annahme nicht gedeckt seien jedoch Übungen, mit denen der Arbeitnehmer nicht zu rechnen brauchte.835 Als Fälle, in denen dies relevant wird, nennt Canaris die Bezugnahme auf Tarifverträge für Außenseiter.836 Seiter weist auf außergewöhnliche Übungen und das Abweichen von dispositiven Vorschriften hin,837 führt selbst aber als Kriterium ein, dass der Arbeitgeber den neu eintretenden Arbeitnehmer über solche Übungen zu informieren habe, die diesen von dem Entschluss, in den Betrieb einzutreten, abhalten könnten.838 Speziell für die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag hält Seiter 833 BAG vom 3. 7. 1996 – 2 AZR 469 / 95 – n. v., für eine Bezugnahme auf einen von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrag kraft betrieblicher Übung; ebenso allgemein für die Erstreckung einer belastenden betrieblichen Übung auf neu eintretende Arbeitnehmer vgl. BAG vom 15. 2. 1965, AP Nr. 6 zu § 13 BUrlG; unklar BAG vom 14. 7. 2002, AP Nr. 6 zu § 2 NachwG, der Arbeitnehmer habe bei einer bestehenden betrieblichen Übung auch für ihn ungünstige Regelungen gegen sich gelten zu lassen; für eine ausdrückliche Einwilligung des neu eintretenden Arbeitnehmers ebenfalls: Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 190; Henssler, 50 Jahre Bundesarbeitsgericht, S. 683, 702; Hueck, Festschrift für Lehmann II, S. 633, 639; wohl auch Schaub, ArbRHB, § 111 I. 2. e), Rn. 6. 834 BAG vom 3. 7. 1996 – 2 AZR 469 / 95 – n. v. 835 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 255; ebenso Richardi, in: MüHBArbR, § 13 Rn. 30. 836 Canaris, Vertrauenshaftung, S. 256 Fn. 8. 837 Seiter, Betriebsübung, S. 116; unter Rückgriff auf Hueck, Festschrift für Lehmann II, S. 633, 640. 838 Seiter, Betriebsübung, S. 117.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
eine rechtsgeschäftliche Vereinbarung hinsichtlich der Einbeziehung der Bezugnahmeabrede für erforderlich.839 Von anderer Seite wird stets die ausdrückliche Zustimmung des Arbeitnehmers zur Anwendung der ihn belastenden betrieblichen Übung gefordert.840 Sowohl nach der Vertragstheorie als auch nach der Theorie der Vertrauenshaftung sind also für den hier betrachteten Bereich der Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, der von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften abweicht, ausdrückliche Erklärungen der Vertragsparteien zumindest aber die Kenntnis des neu eintretenden Arbeitnehmers von der im Betrieb bestehenden Übung erforderlich, mittels derer auf den Tarifvertrag Bezug genommen wird. Anders als in dem vom 10. Senat des Bundesarbeitsgerichts jüngst entschiedenen Sachverhalt, in dem ein aufgrund einer Betrieblichen Übung entstandener Anspruch auch für neu eintretende Arbeitnehmer als maßgeblich erkannt wurde, sofern nur die weiteren Anspruchsvoraussetzungen vorliegen,841 ist die Einwilligung des Arbeitnehmers in eine belastende betriebliche Übung vor dem teleologischen Hintergrund der gesetzlichen Erstreckungsklauseln auch zwingend. Immerhin büßt der Arbeitnehmer einen Teil des ihm zustehenden gesetzlichen Schutzniveaus ein. Dies ist nur legitim, wenn er klar zum Ausdruck bringt, dass sich seine Arbeitsbedingungen an den abweichenden tarifvertraglichen Bedingungen oder überhaupt an einem für ihn an sich nicht geltenden Tarifvertrag ausrichten sollen, der naturgemäß sowohl begünstigende als auch belastende Regelungen enthält. Dies kann der Arbeitnehmer aber nur dann klar zum Ausdruck bringen, wenn ihm eine entsprechende Bezugnahme im Betrieb in Gestalt einer betrieblichen Übung bekannt war und er diese in seinen Willen aufnehmen konnte. Mit dem Bundesarbeitsgericht842 ist daher für neu in den Betrieb eintretende Arbeitnehmer bei einer Bezugnahme auf einen von tarifdispositiven Vorschriften abweichenden Tarifvertrag zu fordern, dass sie von einer entsprechenden bestehenden betrieblichen Übung unterrichtet werden und sich mit deren Anwendung einverstanden erklären können. 3. Ergebnis Während bei neu in einen Betrieb eintretenden Arbeitnehmern die ausdrückliche Vereinbarung der Anwendung einer betrieblichen Übung, mit der auf einen abweichenden Tarifvertrag Bezug genommen wird, zu fordern ist, kann bei bereits bestehenden Arbeitsverhältnissen ohne weiteres die Bezugnahme auf einen abweichenSeiter, Betriebsübung, S. 118. Hueck, Festschrift für Lehmann II, S. 633, 640; Nikisch, ArbR I, § 25 V 4, S. 267. 841 BAG vom 27. 6. 2001 – 10 AZR 488 / 00 – n. v., unter anderem begründet mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz; vom 5. 2. 1971, AP Nr. 10 zu § 242 BGB Betriebliche Übung = BAGE 23, 213; so auch Canaris, Vertrauenshaftung, S. 255 und S. 387, und Backhaus, AuR 1983, 65, 70, die jeweils als Begründung den Gleichbehandlungsgrundsatz heranziehen. 842 Vom 3. 7. 1996 – 2 AZR 469 / 95 – n. v. 839 840
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den Tarifvertrag nach den allgemeinen Grundsätzen der betrieblichen Übung erfolgen.
V. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass vorbehaltlich einer anderen gesetzlichen Anordnung alle arbeitsrechtlich anerkannten Gestaltungsformen einheitlicher Arbeitsbedingungen für die Übernahme der von tarifdipositivem Recht abweichenden Tarifnormen zulässig sind. Insbesondere kann die Bezugnahme auf den abweichenden Tarifvertrag auch durch konkludente Vereinbarung, betriebliche Übung und Gesamtzusagen erfolgen. Ebenso wenig ist, vorbehaltlich einer gesetzlichen oder vertraglichen Anordnung, an die Bezugnahmeabrede ein bestimmtes Formerfordernis zu stellen. Im Rahmen der gesetzlichen Erstreckungsklauseln stellt sich das allgemein bei einer nicht ausdrücklichen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag auftretende Problem der Feststellung des Verweisungsobjektes nicht,843 da die Erstreckungsklauseln einheitlich nur den Verweis auf den einschlägigen Tarifvertrag gestatten. Der Umfang der Bezugnahme ist durch Auslegung zu ermitteln. Dabei wird relevant, ob es sich bei den Bezug nehmenden Arbeitgebern und Arbeitnehmern um beiderseits nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien handelt. Die gesetzlichen Erstreckungsklauseln bezwecken, die einheitliche Anwendung eines Tarifvertrags in einem Betrieb oder einer Branche auch dann zu ermöglichen, wenn er von an sich zwingendem Arbeitnehmerschutzrecht abweicht. Ist der Arbeitgeber Mitglied eines Arbeitgeberverbandes, dann dient die arbeitsvertragliche Bezugnahme im Zweifel der Schaffung einheitlicher Arbeitsbedingungen im Betrieb.844 In diesem Fall kann auch bei der Anwendung nur einzelner wesentlicher Arbeitsbedingungen des abweichenden Tarifvertrags davon ausgegangen werden, dass das gesamte Tarifwerk durch die schlüssige vertragliche Vereinbarung in Bezug genommen wurde.845 Grundsätzlich ist aber auch die nur teilweise Bezugnahme auf einen Tarifvertrag denkbar.846 Lässt sich demnach ein Wille zu einer betriebseinheitlichen Vgl. dazu Hanau / Kania, Festschrift für Schaub, S. 239, 259. Ständige Rechtsprechung vgl. BAG vom 17. 4. 2002, AP Nr. 6 zu § 2 NachwG; vom 30. 8. 2000, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; BAG vom 21. 1. 1997, AP Nr. 64 zu § 77 BetrVG 1972 [unter II. 2. a) aa) der Gründe]; vom 20. 3. 1991, AP Nr. 20 zu § 4 TVG Tarifkonkurrenz [B. II. 1. b) der Gründe]; vom 4. 9. 1996, AP Nr. 5 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 731; Oetker, Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag. 845 So BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag (mit zustimmender Anm. Oetker); Hanau / Kania, Festschrift für Schaub, S. 239, 259. 846 BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag; Däubler, Tarifvertragsrecht, Rn. 334; Etzel, NZA 1987, Beilage Nr. 1, S. 19, 25 f.; Löwisch / Rieble, TVG, § 3 Rn. 248; Oetker, Anm. zu BAG vom 19. 1. 1999, AP Nr. 9 zu § 1 TVG Bezug843 844
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Geltung tariflicher Arbeitsbedingungen nicht aus den Umständen ableiten, dann ist durch eine Einzelfallbetrachtung festzustellen, welchen Umfang die Bezugnahme auf den Tarifvertrag haben sollte. Die Tatsache, dass der Arbeitgeber nicht Mitglied eines Arbeitgeberverbandes ist, fließt in diese Einzelfallbeurteilung ein. Die Bezugnahme im Rahmen der gesetzlichen Erstreckungsklauseln muss sich allerdings mindestens auf den gesamten, die Abweichung von tarifdispositiven Vorschriften enthaltenden Regelungskomplex beziehen. Dies zieht einer Beschränkung der Bezugnahme auf einzelne Tarifvertragsvorschriften eine äußere Grenze. Einige Erstreckungsklauseln (§ 48 Abs. 2 S. 1 ArbGG, § 89a Abs. 2 SeemG) verlangen nach ihrem eindeutigen Wortlaut sogar, dass die Arbeitsvertragsparteien auf den gesamten, die Abweichung vom Gesetz enthaltenden Tarifvertrag verweisen.
D. Die in Bezug genommenen abweichenden Tarifregelungen als Mindestarbeitsbedingungen Die gesetzlichen Erstreckungsklauseln sehen in ihrem Wortlaut nur vor, dass der einschlägige Tarifvertrag von nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern und Arbeitgebern vereinbart werden kann. Die Frage, ob darüber hinaus nicht beiderseits tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien in einem Arbeitsvertrag individuelle Abreden treffen können, die sich oberhalb des tariflichen, aber unterhalb des gesetzlichen Schutzniveaus bewegen, lassen sie offen. Die weit überwiegende Ansicht im Schrifttum geht davon aus, dass vertragliche Vereinbarungen immer dann möglich sind, wenn sie sich günstiger gestalten als der von tarifdispositivem Recht abweichende Tarifvertrag.847 Ausführlicher befasst sich mit der Frage H. Dietz,848 der sich sehr weit von dem gesetzlichen Wortlaut entfernt und sogar die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf fremde Tarifverträge zulassen will, sofern sie nur günstiger sind als der einschlägige Tarifvertrag. Angesichts dieser Stellungnahme fragt sich, warum der Gesetzgeber den nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien nur die Bezugnahme auf den einschlägigen Tarifvertrag bzw. im Geltungsbereich eines Tarifvertrags gestattet hat. Wollte man H. Dietz folgen, wären die tatbestandlichen Anforderungen der Erstreckungsklauseln überflüssig. Die Gesetzesmaterialien geben über diese konkrete Fragestellung keine Auskunft. Im Hinblick auf das berechtigte Schutzinteresse der betroffenen Arbeitnehmer ergeben sich aus einem so nahme auf Tarifvertrag; ders., in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 238; anders nur Zachert, in: Kempen / Zachert, TVG, § 3 Rn. 85. 847 Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 124; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 194; H. Dietz, DB 1974, 1770, 1172; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 24, 42, 47; von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 101; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 351; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 405; Roggendorff, ArbZG, C § 7 Rn. 53; Wank, in: ErfK, § 7 ArbZG, Rn. 24; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 71; a. A. wohl Geyer / Knorr / Krasney, EFZG, § 4 Rn. 111. 848 DB 1974, 1770, 1771.
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weitgehenden Verständnis der Erstreckungsklauseln allerdings keine Probleme. Da die übernommenen Regelungen günstiger sind als das tarifliche Schutzniveau, verbessern sich die Arbeitsbedingungen insgesamt. Zu berücksichtigen ist aber auch, dass sich eine so großzügige Interpretation des Gesetzeswortlauts mit dem teleologischen Konzept hinter den Erstreckungsklauseln decken muss. Hätte der Gesetzgeber tatsächlich, wie H. Dietz die gesetzlichen Erstreckungsklauseln im Zusammenhang mit den zugehörigen Tariföffnungsklauseln versteht,849 von dem Schutzniveau des abweichenden Tarifvertrags aus die tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften vollständig zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien stellen wollen, dann verwundert der sehr enge Wortlaut. Verfehlt ist es, in der Bezugnahmemöglichkeit für die Arbeitsvertragsparteien auf einen abweichenden Tarifvertrag eine aus der Tarifautonomie abgeleitete Befugnis zur Abweichung von den gesetzlichen Vorschriften zu erblicken.850 Im Grunde herrscht Einigkeit darüber, dass der Zweck der Erstreckungsklauseln die Möglichkeit zur Schaffung einheitlicher Arbeitsbedingungen in einem Betrieb oder einer Branche ist.851 Darüber hinaus unterstreichen sie die Bedeutung der Tarifautonomie.852 Die abweichenden tariflichen Regelungen sollten demnach nicht nur zwischen beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien gelten, sondern auch auf die übrigen Arbeitsverhältnisse ausstrahlen können. In den Materialien ist jedoch nicht die Rede davon, dass sobald ein abweichender Tarifvertrag existiert, dieser die untere Grenze des Zulässigen markiert und darüber hinaus die tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften zur Disposition der Arbeitsvertragsparteien stehen. Vielmehr bringt das tatbestandliche Erfordernis der Bezugnahme auf den einschlägigen Tarifvertrag zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber nur diesen als angemessenen Ausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen ansieht. Nur der Tarifvertrag, dessen Geltungsbereich grundsätzlich eröffnet ist, besitzt die materielle Richtigkeitsgewähr, die die Absenkung der individualvertraglichen Arbeitsbedingungen unter das gesetzliche Schutzniveau rechtfertigt. Der Gesetzgeber ging in allen Fällen tarifdispositiver Vorschriften davon aus, dass allein die einschlägigen Tarifverträge die Gewähr für ausgewogene, interessengerechte und angemessene Regelungen bieten. Unter diesem Blickwinkel kann entgegen H. Dietz mit den Erstreckungsklauseln nicht die vollständige Dispositivität der gesetzlichen Regelungen oberhalb des tariflichen Status quo bezweckt worden sein. Vgl. H. Dietz, DB 1974, 1770, 1771. Insoweit richtig H. Dietz, DB 1974, 1770, 1771. 851 Berscheid, in: Stahlhacke, GK-BUrlG, § 13 Rn. 41; Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 196; Kramer, Kündigungsvereinbarungen, S. 131; Linck, in: APS, Kündigungsrecht, § 622 BGB Rn. 140, 142; Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 21; Preis, in: Staudinger, BGB, § 622 Rn. 46; Spilger, in: GK-KSchR, § 622 BGB Rn. 188; Siara, BUrlG, § 13 Rn. 4a. 852 Allgemein: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 698; Herschel, RdA 1969, 211, 212; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 389; für § 13 BUrlG: Berscheid, in: GK-BUrlG, § 13 Rn. 2, 12; Boldt / Röhsler, BUrlG, § 13 Rn. 2; für § 17 BetrAVG: Blomeyer / Otto, BetrAVG, § 17 Rn. 168. 849 850
14 Bock
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Im Einklang mit der Vereinheitlichungsfunktion und der eindeutigen Anknüpfung an die allein Tarifverträgen zukommende materielle Richtigkeitsgewähr können die gesetzlichen Erstreckungsklauseln grundsätzlich nur so interpretiert werden, dass sie den Arbeitsvertragsparteien allein die Bezugnahme auf den im Betrieb oder in der jeweiligen Branche einschlägigen Tarifvertrag gestatten.853 Damit ist natürlich noch kein endgültiges Urteil darüber gesprochen, ob nicht doch einzelvertragliche Verbesserungen der individuellen Arbeitsbedingungen nach der gesetzlichen Lage zulässig sind. Schließlich muss parallel zu der Interpretation der gesetzlichen Erstreckungsklauseln auch deren Wechselbeziehung zu der arbeitsvertraglichen Regelungsbefugnis beiderseits tarifgebundener Arbeitsvertragsparteien berücksichtigt werden. Für diese besteht anerkanntermaßen die Möglichkeit, im Günstigkeitsbereich Vereinbarungen zu treffen, die sich oberhalb des tariflichen, aber unterhalb des gesetzlichen Schutzniveaus bewegen. Es wäre nicht einsichtig, wenn der Arbeitgeber nur den tarifgebundenen Arbeitnehmern übertarifliche Leistungen gewähren dürfte, den Außenseitern hingegen nicht.854 In dieser Hinsicht ist aber zu differenzieren zwischen einer Abweichung von einzelnen tariflichen Regelungen und der Errichtung einer neuen, die bestehende tarifliche Ordnung vollständig aufhebenden Einheitsregelung der Arbeitsbedingungen, beispielsweise durch die Bezugnahme auf einen branchenfremden Tarifvertrag. Bei einem Vergleich zwischen dem einschlägigen Tarifvertrag und dem in Bezug genommenen fremden Tarifvertrag wird sich mit aller Wahrscheinlichkeit nicht dessen vollkommene Günstigkeit ergeben. In der Regel ist zu erwarten, dass nur einzelne Regelungen günstiger sein werden, als die entsprechenden Vorschriften des einschlägigen Tarifvertrags. Auch beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien ist daher die vollständige Bezugnahme auf einen nicht einschlägigen Tarifvertrag verwehrt. Vielmehr ist für jede einzelne Tarifbestimmung ein Günstigkeitsvergleich vorzunehmen. Im Hinblick auf einzelne Teilregelungen ist jedoch durchaus denkbar, dass die Arbeitsvertragsparteien von dem an sich geltenden Tarifvertrag abweichen dürfen. Dabei kann es wiederum keinen Unterschied machen, ob sie dies durch eine selbst formulierte Regelung tun oder ob sie auf einen anderen Tarifvertrag Bezug nehmen.855 Aufgrund der Vereinheitlichungsfunktion der gesetzlichen Erstreckungsklauseln muss vor diesem Hintergrund auch nicht tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien die Herstellung einheitlicher Arbeitsbedingungen möglich sein, indem sie ihre Arbeitsbedingungen an die zwischen den tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien geltende Rechtslage anpassen. Für nicht beiderseits tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien resultiert daraus, dass sie grundsätzlich nur die einschlägige tarifvertragliche Regelung übernehmen 853 So auch Stahlhacke / Preis / Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz, § 18 VI 4, Rn. 383. 854 H. Dietz, DB 1974, 1770, 1771; von Rhein, Die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, S. 101; vgl. auch Borrmann, BUrlG, § 13 Rn. 9. 855 Roggendorff, ArbZG, C § 7 Rn. 53.
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dürfen. Anderenfalls verstoßen ihre Absprachen gegen das von den tarifdispositiven Vorschriften errichtete gesetzliche Verbot abweichender vertraglicher Vereinbarungen. Da es im Ergebnis für den Arbeitnehmer keinen Unterschied macht, ob formal ein Verweis im Arbeitsvertrag auf den einschlägigen Tarifvertrag erfolgt oder ob die Arbeitsvertragsparteien unmittelbar eine gleich lautende Regelung treffen, ist beides zulässig.856 In der Praxis werden gleich lautende vertragliche Regelungen aber wegen des Gebots, auf den gesamten tariflichen Regelungskomplex zu verweisen, nicht vorkommen, da es sehr zufällig ist, dass eine vertragliche Individualregelung mit dem Regelungskomplex für eine Bezugnahme im Rahmen der gesetzlichen Erstreckungsklauseln übereinstimmt. Von den Bedingungen des in Bezug genommenen einschlägigen tarifvertraglichen Regelungskomplexes dürfen nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien dann jedoch zugunsten der Arbeitnehmer im Hinblick auf jede einzelne Regelung abweichen.857 Ausgeschlossen ist allerdings die vollständige oder teilweise Bezugnahme auf einen fremden Tarifvertrag.858 Nur nach einem Verweis auf einen im einschlägigen abweichenden Tarifvertrag enthaltenen Regelungskomplex können nicht beiderseits tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien von einzelnen darin enthaltenen tariflichen Regelungen im Günstigkeitsbereich abweichen.859
E. Zusammenfassung Die Bezugnahme im Rahmen der gesetzlichen Erstreckungsklauseln des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts unterscheidet sich grundsätzlich nicht von der allgemeinen arbeitsvertraglichen Verweisung auf einen Tarifvertrag. Es handelt sich bei der Bezugnahmeabrede um eine herkömmliche individualrechtliche Regelung mit rein vertraglicher Wirkung. Eine besondere Form der Tarifbindung wird durch die Bezugnahme aufgrund der gesetzlichen Erstreckungsklauseln nicht errichtet. Vielmehr sind die gesetzlichen Erstreckungsklauseln notwendig, um in den Grenzen der zulässigen Verweisung auf abweichende Tarifverträge die im Hinblick auf die Arbeitsvertragsparteien zwingende Wirkung der tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften zurückzunehmen, damit abweichende Regelungen nicht unwirksam sind bzw. die Nichtigkeitsfolge des § 134 BGB nicht eintritt. Zulässiges Verweisungsobjekt ist der Tarifvertrag, dessen Geltungsbereich eröffnet ist. Der maßgebliche Tarifvertrag ist bei Einschlägigkeit mehrerer Tarifwerke anhand der objektiven Regeln der Tarifkonkurrenz zu ermitteln. Ein Wahlrecht der Arbeitsvertragsparteien zwischen verschiedenen Tarifverträgen, deren Geltungs856 Insofern ist H. Dietz, DB 1974, 1770, 1771, Recht zu geben; dagegen Kramer, Kündigungsvereinbarungen, S. 138. 857 Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 24. 858 Stahlhacke / Preis / Vossen, Kündigung und Kündigungsschutz, § 18 VI 4, Rn. 383. 859 Neumann / Fenski, BUrlG, § 13 Rn. 24.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
bereich eröffnet ist, besteht nicht. Auch ein nachwirkender Tarifvertrag kann taugliches Objekt einer Bezugnahme sein. Vorbehaltlich abweichender Anordnungen in den Erstreckungsklauseln selbst, müssen die Arbeitsvertragsparteien stets den gesamten die Abweichung enthaltenden tariflichen Regelungskomplex übernehmen. Nur so bietet die in Bezug genommene Regelung Gewähr dafür, einen angemessen Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite zu repräsentieren. Die Bezugnahmeabrede unterliegt, abgesehen von abweichenden Anordnungen in einzelnen Erstreckungsklauseln, keinen Formerfordernissen. Neben ausdrücklichen Bezugnahmeabreden im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses sind konkludente Verweisungen ebenso möglich wie die Bezugnahme mittels Gesamtzusage oder betrieblicher Übung. Im Hinblick auf letztere ist jedoch eine Einschränkung hinsichtlich neu in den Betrieb eintretender Arbeitnehmer zu machen. Für diese entfaltet eine bestehende Bezugnahme kraft betrieblicher Übung nur Wirkung, wenn sie die Übung kannten und sich mit der Anwendung innerhalb ihres Arbeitsverhältnisses einverstanden erklärt haben. Aus der Existenz eines von tarifdispositivem Arbeitsrecht abweichenden Tarifvertrags folgt nicht, dass in seinem Geltungsbereich der Spielraum zwischen tariflichem und gesetzlichem Schutzniveau vollständig zur Disposition nicht tarifgebundener Arbeitsvertragsparteien steht. Diese können ihre Arbeitsbedingungen nur unter den gesetzlichen Schutzstandard absenken, indem sie auf einen abweichenden Tarifvertrag im Rahmen der gesetzlichen Erstreckungsklauseln Bezug nehmen. Haben sie einen derartigen Verweis in ihrem Arbeitsverhältnis verankert, steht es ihnen lediglich frei von einzelnen Bedingungen des abweichenden Tarifvertrags zugunsten des Arbeitnehmers abzuweichen, auch wenn sie dadurch hinter den gesetzlichen Anforderungen zurückbleiben.
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie bei der Abweichung von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht Im Bereich des Arbeitszeitrechts hat der Gesetzgeber nicht nur den Tarifvertragsparteien gestattet, abweichend von den gesetzlichen Vorschriften regelnd tätig zu werden. Vielmehr sollen auch in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung bzw. einer Bordvereinbarung, allerdings nur aufgrund eines Tarifvertrags, Abweichungen von bestimmten arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen zulässig sein (vgl. §§ 7 Abs. 1 bis 2a, 12 S. 1 ArbZG, § 21a JArbSchG, §§ 89a Abs. 1 und 1a, 100a Abs. 1, 104 Abs. 2, 139 Abs. 3 S. 1, 140 Abs. 1, 141 SeemG). Darüber hinaus können der gesetzlichen Regelung zufolge in einem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers wiederum durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung bzw. Bordvereinbarung abweichende tarifliche Vereinbarungen übernommen werden (vgl. §§ 7
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Abs. 3, 12 S. 2 ArbZG, § 21a Abs. 2 JArbSchG, §§ 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG). Mit dieser besonderen Anordnung dringt der Gesetzgeber in umkämpfte dogmatische Bereiche des Tarif- und Betriebsverfassungsrechts vor. Die Beteiligung der Betriebspartner im Rahmen der Abweichung von tarifdispositiven gesetzlichen Vorschriften stellt noch ein recht junges rechtliches Regelungsinstrumentarium dar. Erst 1984 fanden Tariföffnungsklauseln, die auch die Abweichung aufgrund eines Tarifvertrags in einer Betriebsvereinbarung zulassen, in das Jugendarbeitsschutzgesetz und das Seemannsgesetz Eingang. 1994 folgte dann die Aufnahme einer entsprechenden Vorschrift in das Arbeitszeitgesetz. Dementsprechend fehlt es nicht an kritischen Stellungnahmen, die Bedenken gegen eine solche Beteiligung der Betriebspartner an der Abweichung von gesetzlichen Vorschriften zum Nachteil der Arbeitnehmerschaft äußerten.860 Wank861 hält insbesondere die in § 7 ArbZG enthaltene Möglichkeit, dass die Betriebspartner aufgrund eines Tarifvertrags von den tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes abweichen können, für verfassungswidrig. Den Betriebspartnern komme keine Befugnis zu, die wöchentliche Arbeitszeit normativ für Außenseiter festzulegen. Im Hinblick auf nicht tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien benötigten sie stets eine Ermächtigungsgrundlage für die Regelung. Die Tarifvertragsparteien könnten den Betriebspartnern keine Regelungsbefugnisse übertragen, da deren Legitimation ebenfalls nur auf die Koalitionsmitglieder beschränkt sei. Dies gelte auch, wenn der Tarifvertrag sich auf die Bestimmung der betrieblichen Arbeitszeit beschränke, die Festlegung der individuellen Arbeitszeit jedoch den Betriebspartnern überlasse.862 Bedenken erheben auch Buschmann und Ulber, die darauf hinweisen, dass den Betriebsparteien keine originäre Regelungskompetenz über die Dauer der regelmäßigen Arbeitszeit zustehe. Nach der verfassungsrechtlichen Wertordnung, wie sie in Art. 9 Abs. 3 GG, Art. 12 GG, § 4 Abs. 3 TVG und § 77 Abs. 3 BetrVG zum Ausdruck komme, sei eine so zentrale Frage wie die Höchstdauer der Arbeitszeit grundsätzlich den Tarifvertragsparteien vorbehalten, da sie die Gewähr einer verantwortungsvollen Regelung bieten und nur zwischen ihnen eine ausdrückliche Verhandlungsparität bestehe.863
A. Die Abweichung von tarifdispositivem Arbeitszeitrecht durch Betriebsvereinbarung im Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers Die von den Vertretern im Schrifttum in die Diskussion eingebrachten Schlagworte der Delegation tariflicher Regelungsmacht864 bzw. einer unzulässigen Unter860 861 862 863 864
Dobberahn, Arbeitszeitrecht, Rn. 144; Erasmy, NZA 1994, 1105, 1111. ErfK, § 7 ArbZG Rn. 3. Wank, NJW 1996, 2273, 2280. Buschmann / Ulber, ArbZG, § 7 Rn. 5. Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 37; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 7.
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werfung der Außenseiter unter den Tarifvertrag geben Anlass für die grundsätzliche Frage nach der dogmatischen Einordnung der Rolle der Betriebspartner bei der Abweichung von den tarifdispositiven Arbeitszeitregelungen. Zudem ist klärungsbedürftig, welche Funktion die arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln einnehmen, die die Abweichung von bestimmten arbeitszeitrechtlichen Vorschriften in einer Betriebsvereinbarung aufgrund eines Tarifvertrags gestatten.
I. Die Unterscheidung zwischen der Delegation tariflicher Rechtssetzungsmacht und eigener betrieblicher Regelungskompetenz der Betriebspartner Die Parteien einer Betriebsvereinbarung dürfen nur aufgrund eines Tarifvertrags von den tarifdispositiven Rechtsvorschriften abweichen.865 Dabei müssen sie die tariflich vorgegebenen Grenzen genau einhalten. Die Unselbständigkeit bei der Regelung von Abweichungen legt nahe, dass es sich lediglich um eine von den Tarifvertragsparteien abgeleitete Befugnis handelt. Zahlreiche Autoren sprechen im Zusammenhang mit den Öffnungsklauseln des Arbeitszeitrechts von der Delegation der tariflichen Abweichungsbefugnis, ohne dass allerdings deutlich wird, ob sie daran besondere Rechtsfolgen knüpfen.866 Im Allgemeinen wird im Hinblick auf die Einbeziehung der Betriebsparteien in die von den Koalitionen vorgenommene Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen zwischen delegierter Regelungsmacht der Betriebspartner und deren originären Zuständigkeiten unterschieden.867 Unter der Delegation von Befugnissen wird im öffentlichen Recht die Übertragung von Zuständigkeiten eines Staatsorgans auf ein anderes verstanden.868 Dieses Verständnis kann auch für das hier zu betrachtende Problem zugrunde gelegt werden. Der Delegatar wird danach allein aufgrund ihm übertragener fremder Befugnisse tätig.869 Im Verhältnis der Tarifvertragsparteien zu den Betriebspartnern bedeutet dies, dass die Parteien der Betriebsvereinbarung „Tarifnormen“ setzen; sie werden nicht aufgrund der ihnen durch das Betriebsverfassungsgesetz verliehenen Regelungskompetenz tätig, sondern vervollständigen die tarifliche Regelung.870 Das Institut der Delegation beschränkt sich dabei nicht auf die Verleihung der Befugnis zur Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe im Tarifvertrag,871 sondern kann gleichermaßen einen echten Entscheidungsspielraum für die Betriebspartner enthalten.872 865 Vgl. § 7 Abs. 1, 2, 2a ArbZG; § 21a Abs. 1 JArbSchG; § 89a Abs. 1, 1a; § 100a Abs. 1; § 104 Abs. 2 S. 1; § 140 Abs. 1 S. 1 SeemG. 866 Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 40; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 7, 10; dies., JArbSchG, § 21a Rn. 6, 8. 867 Vgl. Schwarze, Der Betriebsrat, S. 287; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 316 f. 868 Badura, Staatsrecht, F 15, S. 546; Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 524 ff. 869 Schwarze, Der Betriebsrat, S. 288. 870 Schwarze, Der Betriebsrat, S. 288.
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Ein Tätigwerden der Betriebspartner im Rahmen einer Delegation tariflicher Regelungsbefugnisse bewirkt, dass die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG von vornherein nicht eingreift. Da die Betriebspartner aufgrund der Ausstattung mit fremden Befugnissen für den betreffenden Bereich keinerlei eigene Kompetenzen besitzen, erübrigt sich auch der Kompetenzentzug 873 durch § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG zum Schutz der Tarifautonomie. Darüber hinaus unterliegt die Wirkung einer Betriebsvereinbarung, die delegierte tarifliche Regelungsbefugnisse wahrnimmt, der Beschränkung, dass sie sich nur auf die tarifgebundenen Arbeitsverhältnisse874 erstreckt. Die Tarifvertragsparteien können nur im Hinblick auf Koalitionsmitglieder ihre originäre Regelungsbefugnis ausüben. Sie sind nicht in der Lage, mehr Befugnisse zu übertragen als sie selbst besitzen.875 Anders ist die Rechtslage bei einer tariflichen Öffnungsklausel im Sinne des § 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG. Durch eine solche beseitigen die Tarifvertragsparteien die Kompetenzsperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG und stellen so die Kompetenz der Betriebspartner wieder uneingeschränkt her.876 Enthält die Tariföffnung keine eingrenzenden Vorgaben, dann können die Betriebspartner grundsätzlich alle materiellen Arbeitsbedingungen regeln, die anderenfalls Gegenstand einer tariflichen Vereinbarung gewesen wären. Die betriebliche Regelung erfasst in diesem Fall alle Arbeitnehmer des Betriebes, unabhängig von deren Gewerkschaftszugehörigkeit. Dies ergibt sich aus der in § 77 Abs. 3 BetrVG zum Ausdruck kommenden Allzuständigkeit der Betriebsparteien für die Regelung materieller Arbeitsbedingungen. Zur betriebsweit zwingenden Regelung materieller Arbeitsbedingungen bedürfen die Betriebsparteien nicht etwa einer konkreten ermächtigenden Norm.877 Vielmehr folgt aus allgemeinen Grundsätzen des Betriebsverfassungsrechts, dass die Parteien einer Betriebsvereinbarung für die gesamte Belegschaft materielle Arbeitsbedingungen festlegen können.878 Von einer derartigen umfassenden Rege871 So aber Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 318 f., der die Delegation weitgehend mit tariflichen Bestimmungsklauseln gleichsetzt. 872 Schwarze, Der Betriebsrat, S. 288. 873 Richtigerweise ist § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG als Kompetenznorm und nicht als Kollisionsnorm einzustufen, vgl. Kreutz, GK-BetrVG, § 77 Rn. 65. 874 Nur für den Fall, dass § 3 Abs. 2 TVG eingreift, werden dann alle Arbeitsverhältnisse eines Betriebs erfasst. 875 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 319; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 206; Zöllner, ZfA 1988, 265, 276; insoweit ist auch Wank, ErfK, § 7 ArbZG Rn. 3, und dems., NJW 1996, 2273, 2280, zuzustimmen. 876 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 320. 877 So aber Richardi, in: ders., BetrVG, § 77 Rn. 64; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 320; Wank, NJW 1996, 2273, 2280; Wiedemann, in: ders.: TVG, § 1 Rn. 206. 878 BAG (GS) vom 7. 11. 1989, AP Nr. 46 zu § 77 BetrVG 1972; ebenfalls schon BAG vom 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972; zustimmend Buchner, DB 1985, 913, 916; Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, § 77 Rn. 45 f., § 88 Rn. 4; Galperin / Löwisch, BetrVG, § 88 Rn. 2; von Hoyningen-Huene, Anm. zu BAG vom 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972; Wiese, in: GK-BetrVG, § 88 Rn. 7, 12; Worzalla, in: Hess / Schlochauer / Worzalla / Glock, BetrVG, § 77 Rn. 15; Zöllner, ZfA 1988, 265, 276.
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lungskompetenz der Betriebspartner ging der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts bereits 1956 noch zu § 57 BetrVG 1952 aus.879 Der allgemeine betriebsverfassungsrechtliche Grundsatz kommt in § 77 Abs. 1 und 3 BetrVG deutlich zum Ausdruck. § 77 Abs. 1 BetrVG geht ohne inhaltliche Einschränkung davon aus, dass Arbeitgeber und Betriebsrat miteinander Vereinbarungen treffen können. Zum Schutz der Tarifautonomie macht § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG davon eine Ausnahme.880 Wenn demnach aber nur materielle Arbeitsbedingungen, die in Tarifverträgen geregelt sind oder üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein können, dann muss im Umkehrschluss die Regelung aller materiellen Arbeitsbedingungen, für die § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG nicht zutrifft, zulässig sein.881 In diesem Fall ist die Tarifautonomie mangels Regelungen, denen ein Unterlaufen auf betrieblicher Ebene droht, nicht mehr schutzbedürftig.882 Dasselbe gilt, wenn die Tarifvertragsparteien ausdrücklich die Regelung bestimmter materieller Arbeitsbedingungen in einer Betriebsvereinbarung zulassen (§ 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG).883 Dadurch werden aber nicht etwa Regelungsbefugnisse von den Tarifvertragsparteien auf die Betriebspartner übertragen; das ist auch nicht erforderlich.884 Vielmehr lebt die ursprüngliche, umfassende Regelungskompetenz der Betriebspartner wieder auf.885 Auch § 88 BetrVG bestätigt dieses Ergebnis. Die Norm regelt die Zulässigkeit freiwilliger Betriebsvereinbarungen zwischen dem Betriebsrat und Arbeitgeber im Bereich sozialer Angelegenheiten. Der darin aufgeführte Katalog ist nicht abschließend, wie die Verwendung des Begriffs „insbesondere“ zeigt, so dass über die aufgeführten Gegenstände hinaus eine umfassende betriebliche Regelungsbefugnis besteht.886 Der Katalog zulässiger Regelungsgegenstände ist allein auf soziale Angelegenheiten bezogen. Er entfaltet daher für darüber hinaus gehende 879 BAG (GS) vom 16. 3. 1956, AP Nr. 1 zu § 57 BetrVG 1952 [unter I. 1. der Gründe]; vgl. ebenfalls BAG vom 19. 5. 1978, AP Nr. 1 zu § 88 BetrVG 1972 [unter 4. a) der Gründe]. 880 BAG vom 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972. 881 BAG vom 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972; BAG (GS) vom 7. 11. 1989, AP Nr. 46 zu § 77 BetrVG 1972; Kreutz, in: GK-BetrVG, § 77 Rn. 70. Entgegen Wank, ErfK, § 7 ArbZG Rn. 3, und dems., NJW 1996, 2273, 2280, existiert damit eine gesetzliche Regelung, die die Allzuständigkeit der Betriebsparteien begründet und dem von Art. 12 Abs. 1 GG errichteten Gesetzesvorbehalt genügt. 882 BAG vom 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972. 883 BAG vom 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972. 884 Gegen eine derartige Formulierung ausdrücklich von Hoyningen-Huene, Anm. zu BAG vom 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972; ebenso Zöllner, ZfA 1988, 265, 276. 885 Buchner, DB 1985, 913, 915; von Hoyningen-Huene, Anm. zu BAG vom 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972; Wiese, in: GK-BetrVG, § 88 Rn. 7, 12; Zöllner, ZfA 1988, 265, 276; unzutreffend Wank, ErfK, § 7 ArbZG Rn. 3, und ders., NJW 1996, 2273, 2280, der auch in § 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG einen Fall der Delegation tariflicher Regelungsbefugnisse auf die Betriebsparteien erblickt. 886 BAG (GS) vom 7. 11. 1989, AP Nr. 46 zu § 77 BetrVG 1972; Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, § 77 Rn. 45 f., § 88 Rn. 4.
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Regelungen auch keine einschränkende Indizwirkung. Aufgrund der vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten ist vielmehr von einer umfassenden Regelungsbefugnis der Betriebspartner auszugehen. Dies wird umso deutlicher, als sich die weitreichende Regelung des § 77 BetrVG im allgemeinen Teil für die Mitwirkung der Arbeitnehmer an betrieblichen Entscheidungen befindet.887 Die Allzuständigkeit der Betriebsparteien steht zudem in Übereinstimmung mit den Gesetzesmaterialien. 888 Schließlich bestätigt eine Parallelbetrachtung zu dem Gesetz über Sprecherausschüsse die Allzuständigkeit der Betriebspartner. § 28 Abs. 1 SprAuG ist § 1 Abs. 1 TVG nachgebildet und erlaubt den Abschluss von Richtlinien über den Inhalt, Abschluss oder über die Beendigung der Arbeitsverhältnisse der leitenden Angestellten mit unmittelbarer und zwingender Wirkung. Es ist nicht anzunehmen, dass der Gesetzgeber dem Sprecherausschuss weiter reichende Regelungsbefugnisse einräumen wollte, als den Betriebsparteien. Vielmehr spricht er in § 28 Abs. 2 SprAuG aus, was für das Betriebsverfassungsrecht ein allgemein anerkannter Grundsatz ist.889 Daraus ergibt sich, dass die Betriebspartner in einer Betriebsvereinbarung grundsätzlich alle materiellen Arbeitsbedingungen regeln dürfen, sofern die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG nicht entgegensteht. Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, dass die Betriebspartner sowohl kraft eigener, aber auch aufgrund einer von den Tarifvertragsparteien abgeleiteten bzw. delegierten Kompetenz regelnd tätig werden können. Betriebsvereinbarungen, die auf einer tariflichen Delegation beruhen, wirken nur in dem von § 3 Abs. 1 und 2 TVG festgelegten Rahmen der Tarifbindung der betroffenen Arbeitsvertragsparteien. Demgegenüber entfalten Betriebsvereinbarungen, die auf der eigenen Regelungskompetenz der Betriebspartner zur Festlegung der materiellen Arbeitsbedingungen in den Grenzen des § 77 Abs. 3 BetrVG basieren, betriebsweit die in § 77 Abs. 4 BetrVG angeordnete unmittelbare und zwingende Wirkung. II. Die Abweichung von den arbeitsschutzrechtlichen Arbeitszeitvorschriften als Fall gesetzlich gestatteter Delegation tariflicher Regelungsmacht Bereits die Betrachtung der Reichweite der Wirkung tariflicher Abweichungen von den arbeitszeitrechtlichen gesetzlichen Vorschriften hat gezeigt, dass zwischen Kreutz, in: GK-BetrVG, 5. Aufl., § 77 Rn. 70. Der schriftliche Bericht des Ausschusses für Arbeit zu dem Entwurf des Betriebsverfassungsgesetzes ging von einer umfassenden Regelungskompetenz der Betriebspartner in einer Betriebsvereinbarung für alle sozialen Angelegenheiten aus, BT-Drucks. I / 3585, S. 11; die Regierungsbegründung zum Betriebsverfassungsgesetz 1972 verweist darauf, dass die Neuregelung in § 77 BetrVG nur einige redaktionelle Änderungen enthielt, BT-Drucks. VI / 1786, S. 47. 889 BAG (GS) vom 7. 11. 1989, AP Nr. 46 zu § 77 BetrVG 1972; Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, § 77 Rn. 45 f., § 88 Rn. 4. 887 888
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der arbeitsschutzrechtlich relevanten Verschiebung der Arbeitszeitgrenzen und der individuellrechtlich maßgeblichen Festlegung der materiellen Arbeitsverpflichtung zu unterscheiden ist.890 Vorerst soll die arbeitsschutzrechtliche Veränderung der zulässigen Höchstarbeitszeit im Vordergrund stehen. Die von den arbeitszeitrechtlichen Vorschriften abweichenden Festlegungen anderer als der gesetzlich vorgesehenen Arbeits- und Pausenzeiten wirken sich nicht unmittelbar auf das Arbeitsverhältnis aus. Sie bedürfen vielmehr der Umsetzung durch tarifliche, vertragliche oder eine Regelung in einer Betriebsvereinbarung. Es handelt sich demnach nicht um materielle Arbeitsbedingungen,891 so dass die Allzuständigkeit der Betriebsparteien grundsätzlich nicht eröffnet ist. Darüber hinaus verdanken die Tarifvertragsparteien die Existenz der primär für sie allein bestehenden Abweichungsbefugnis, wie in den übrigen Bereichen des tarifdispositiven Rechts auch, der dem Tarifvertrag zugeschriebenen materiellen Richtigkeitsgewähr. Aufgrund des nach gesetzgeberischer Annahme allein zwischen den Tarifvertragsparteien ausgeglichenen Machtverhältnisses rechtfertigt sich die Befugnis zur Veränderung des gesetzlichen Schutzniveaus, da grundsätzlich nur ein Tarifvertrag die Gewähr für angemessene und interessengerechte Regelungen bietet.892 Die Betriebsparteien können diese Gewähr nicht liefern. Einerseits handelt es sich bei Arbeitgeber und Betriebsrat nicht um mitgliedschaftlich organisierte Interessengruppen. Andererseits fehlen den Betriebsparteien die maßgeblich den Machtausgleich bewirkenden Möglichkeiten zum Einsatz von Kampfmitteln.893 All dies legt nahe, dass die Abweichung von den arbeitszeitlichen Rechtsvorschriften eine originäre Kompetenz der Tarifvertragsparteien darstellt. So erklärt sich auch, dass die Tariföffnungsklauseln den Betriebspartnern die Abweichung vom Gesetz nur aufgrund eines Tarifvertrags gestatten. Die Tarifvertragsparteien können nur selbst über die Übertragung der ihnen zustehenden Befugnisse entscheiden. Gleichzeitig obliegt es ihnen, die äußersten Grenzen der auf die Betriebspartner übertragenen Ermächtigung zu ziehen. Die Abweichungsbefugnis der Betriebspartner von dem tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht aufgrund eines Tarifvertrags im Arbeitszeitbereich stellt sich daher als eine von den Tarifvertragsparteien auf die Betriebspartner delegierte dar. Die gesetzlichen Vorschriften in den Tariföffnungsklauseln erfüllen in diesem Zusammenhang mehrere Funktionen. Im Hinblick auf die Tarifvertragsparteien sichern sie die Delegation der tariflichen Regelungsmacht rechtsstaatlich ab. Durch 890 Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 498; ders., ArbZG, § 7 Rn. 15 f.; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 277; vgl. zudem oben 1. Teil: § 3 A. II. 1. 891 Vgl. vielfach auch die Einordnung der gesetzlichen Höchstarbeitszeiten als öffentlichrechtliche Normen, bspw. bei Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 45; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 490; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 1 Rn. 19. 892 Insoweit ist Buschmann / Ulber, ArbZG, § 7 Rn. 5, zuzustimmen. 893 Das ergibt sich bereits aus § 74 Abs. 2 S. 1 BetrVG und wird auch von Buschmann / Ulber, ArbZG, § 7 Rn. 5, zutreffend betont.
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die Übertragung tariflicher Regelungsbefugnisse entsteht im Hinblick auf die tarifunterworfenen Arbeitsvertragsparteien die Gefahr eines Schutzdefizits, für den Fall, dass die Betriebsparteien nicht gleichermaßen wie die Koalitionen einen ausreichenden Arbeitnehmerschutz gewährleisten können. Die tarifvertragliche Regelungsbefugnis ist nicht nur Berechtigung, sondern auch Verpflichtung zur angemessenen Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen im Interesse der Koalitionsmitglieder. Hinzu kommt, dass die Übertragung von Regelungsbefugnissen eines demokratisch legitimierten Regelungsorgans auf eine andere, nicht gleichermaßen legitimierte Instanz unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten bedenklich erscheint.894 Allgemein werden daher an die Zulässigkeit der Delegation tariflicher Regelungsbefugnisse auf die Betriebspartner strenge einschränkende Anforderungen gestellt.895 Hat der Gesetzgeber aber selbst in den Tariföffnungsklauseln des Arbeitszeitrechts diese Möglichkeit vorgesehen, so können sich aus rechtsstaatlicher Sicht keine Bedenken mehr ergeben. Der Gesetzgeber hat sozusagen die Delegation der originär tariflichen Abweichungskompetenz vom Gesetz auf die Betriebspartner mit den entsprechenden Passagen in den Tariföffnungsklauseln legitimiert. Damit die Delegation dennoch dem berechtigten Schutzinteresse der betroffenen Arbeitsvertragsparteien entspricht, muss die Übertragung der Abweichungsbefugnis eindeutig und klar umrissen sein.896 Über diese Legitimationsfunktion hinaus nehmen die arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln im Hinblick auf die Betriebsparteien das aus dem grundsätzlich zwingenden Charakter des tarifdispostiven Rechts fließende gesetzliche Verbot abweichender Regelungen zurück. Entsprechende Festlegungen in einer Betriebsvereinbarung sind dann nicht mehr gemäß § 134 BGB nichtig, sondern werden durch die Regelung in den Tariföffnungsklauseln möglich. Schließlich stellen diese auch sicher, dass die entsprechenden Betriebsvereinbarungen unabhängig von der Einordnung der ermächtigenden Tarifnormen in den Kanon des § 1 Abs. 1 TVG betriebsweite Geltung erlangen,897 und nicht, wie das für den Regelfall tariflicher Delegation eintritt, nur die Arbeitsverhältnisse erfassen, die auch von einer entsprechenden Tarifnorm erfasst worden wären. An diese Ergebnisse muss sich dann auch die Erkenntnis anschließen, dass die im Schrifttum geäußerten Bedenken898 nicht geteilt werden können. Aus Sicht der den Tarifvertragsparteien grundsätzlich allein zukommenden Abweichungsbefugnis ergibt sich durch die Formulierung der Tariföffnungsklauseln keine Beeinträchtigung. Die Tarifvertragsparteien entscheiden allein über Qualität und Quantität Ausführlich zu diesen Gefahren Schwarze, Der Betriebsrat, S. 291 ff. Schwarze, Der Betriebsrat, S. 312. 896 Buschmann / Ulber, ArbZG, § 7 Rn. 6; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 507 f. 897 Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 318. 898 Buschmann / Ulber, ArbZG, § 7 Rn. 5; Wank, ErfK, § 7 ArbZG Rn. 3; ders., NJW 1996, 2273, 2280 f. 894 895
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der betrieblichen Abweichungsbefugnisse.899 Hinsichtlich der Außenseiter hat der Gesetzgeber selbst die Legitimität sichergestellt und die betriebsweite Wirkung angeordnet. Nicht die Tarifvertragsparteien gehen über ihre auf die Koalitionsmitglieder beschränkte Legitimation hinaus, sondern das Gesetz ordnet die betriebsweite Wirkung der abweichenden Regelungen für alle Arbeitnehmer an,900 unabhängig davon, ob diese tarifgebunden sind oder nicht.
III. Die Festlegung der individuellen Arbeitszeit als Ausdruck der eigenen Zuständigkeit der Betriebspartner Der Unterscheidung zwischen arbeitsschutzrechtlicher und materiellrechtlicher Wirkung arbeitszeitrechtlicher Regelungen in einem Tarifvertrag folgend, soll nun die Festlegung der materiellrechtlichen Arbeitsverpflichtung durch Betriebsvereinbarung in dem Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers näher beleuchtet werden. Für die Festlegung der materiellen Arbeitsbedingungen und damit auch für die Regelung der individuellen Arbeitszeitdauer haben die Betriebspartner eine umfassende Regelungskompetenz, soweit die Materie nicht tariflich geregelt ist bzw. üblicherweise tariflich geregelt wird. Diese Regelungskompetenz können sie in den Grenzen des gesetzlich Zulässigen wahrnehmen.901 Sie ist von den in § 87 Abs. 1 BetrVG geregelten zwingenden Mitbestimmungstatbeständen zu unterscheiden. Diese sehen erzwingbare Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats vor. Das Mitbestimmungsrecht wird in der Regel durch Betriebsvereinbarung ausgeübt. Unbedingt notwendig ist dies jedoch nicht. Keinesfalls kann § 87 Abs. 1 BetrVG jedoch als Kompetenznorm des Betriebsrats zum Abschluss von Betriebsvereinbarungen im Bereich der Abweichung von tarifdispositiven Vorschriften herangezogen werden.902 Zum einen würden die engen tatbestandlichen Voraussetzungen des Mitbestimmungsrechts hinsichtlich der Arbeitszeit (vgl. § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG) nur bedingt die Festlegung der materiellen Arbeitsverpflichtung erlauben. Zum anderen ist ein Rückgriff auf § 87 Abs. 1 BetrVG auch nicht nötig, da der Abschluss von Betriebsvereinbarungen eben nicht auf dem Prinzip der konkreten Einzelermächtigung beruht, sondern grundsätzlich eine Kompetenz der Betriebspartner zum Abschluss von Betriebsvereinbarungen über materielle Arbeitsbedingungen besteht, die lediglich durch § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG begrenzt wird. Ebenso wenig können die Tariföffnungsklauseln des Arbeitszeitrechts als Kompetenznormen für die Regelung der individuellen Arbeitsverpflichtung durch BeSchliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 506 ; ders., ArbZG, § 7 Rn. 23. So auch Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 314. 901 Zum Ganzen BAG vom 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972; BAG (GS) vom 7. 11. 1989, AP Nr. 46 zu § 77 BetrVG 1972; Kreutz, in: GK-BetrVG, § 77 Rn. 70. 902 So aber Wank, ErfK, § 7 ArbZG Rn. 3. 899 900
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triebsvereinbarung herangezogen werden.903 Diese beziehen sich nur auf eine Abweichung von den gesetzlichen Vorschriften zur Höchstarbeitszeit, nicht jedoch auf die Regelung der individuellen Arbeitsverpflichtung. Ein Rückgriff auf diese ist bereits tatbestandlich nicht möglich, aufgrund der bestehenden Kompetenz der Betriebspartner aber auch nicht notwendig. Bevor näher auf die Reichweite der betrieblichen Regelungskompetenz bei der Umsetzung veränderter Arbeitszeitgrenzen in einer Betriebsvereinbarung eingegangen wird, sei der Blick noch einmal auf die gesetzlichen Grenzen einer derartigen Betriebsvereinbarung gerichtet. Inhaltlich ziehen zwingende gesetzliche Vorschriften einer Betriebsvereinbarung wie jeder privatrechtlichen Abmachung904 Grenzen. Ein Verstoß führt gemäß § 134 BGB zur Nichtigkeit. Liegt jedoch eine abweichende tarifliche Regelung hinsichtlich der zulässigen Arbeitszeitgrenzen vor, dann sind aufgrund der gesetzlichen Anordnung in den Tariföffnungsklauseln die Arbeitszeitgrenzen bereits betriebsweit verschoben.905 Die tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitrechts stehen dann einer Regelung der individuellen Arbeitszeit in einer Betriebsvereinbarung nicht mehr entgegen. Es finden vielmehr die abweichenden tariflichen Arbeitszeitgrenzen Anwendung. Erst Recht gilt dies, wenn die Tarifvertragsparteien die Abweichungsbefugnis an die Betriebspartner übertragen hatten. Dann legen diese die betrieblichen Höchstarbeitszeiten selbst fest und können die so in Abweichung vom Gesetzesrecht neu gezogenen Grenzen im Anschluss selbst ausfüllen. Dabei stellt sich das Problem, inwieweit sich die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG einschränkend auf die Kompetenz zum Abschluss von Betriebsvereinbarungen auswirkt. Es sind mehrere Fallkonstellationen zu unterscheiden. Der Tarifvertrag kann die Abweichung vom Arbeitszeitrecht selbst regeln und anschließend sogleich die materielle Arbeitsverpflichtung der Arbeitnehmer festlegen. Er kann sich aber auch auf die Abweichung vom Gesetz beschränken. Schließlich besteht die Möglichkeit, dass der Tarifvertrag auch die Abweichung vom tarifdispositiven Arbeitszeitrecht den Betriebspartnern überlässt. In diesem letzten Fall verzichtet der Tarifvertrag gerade auf eine eigene Regelung der individuellen Arbeitszeit der Arbeitnehmer und überlässt diese den Betriebspartnern. Trotz der Tarifbindung des Arbeitgebers und der Eröffnung des Geltungsbereichs des Tarifvertrags enthält sich der Tarifvertrag einer eigenen Regelung, so dass weder eine tarifliche noch eine tarifübliche Regelung im Raume steht. Die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG greift dann gar nicht ein. Es Erwogen von Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 335 ff. Zur Einordnung der Betriebsvereinbarung als privatrechtlicher Vereinbarung mit gesetzlich angeordneter unmittelbarer und zwingender Wirkung, vgl. Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, BetrVG, § 77 Rn. 13; Kreutz, in: GK-BetrVG, § 77 Rn. 31 ff.; Richardi, in: ders., BetrVG, § 77 Rn. 23 ff.; Worzalla, in: Hess / Schlochauer / Worzalla / Glock, BetrVG, § 77 Rn. 5 ff. 905 Vgl. oben 1. Teil: § 3 A. II. 1 a) cc). 903 904
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
erübrigt sich daher auch, in dieser Konstellation die Übertragung der Abweichungsbefugnisse als tarifliche Öffnungsklausel auszulegen, was bei Bestehen der Regelungssperre durchaus denkbar gewesen wäre. Eindeutig ist die Rechtslage ebenfalls, wenn der Tarifvertrag sowohl die Abweichung vom Gesetz als auch die individuelle Arbeitsverpflichtung eigenständig regelt. Dann ist aufgrund der Tarifbindung des Arbeitgebers und der Eröffnung des Geltungsbereichs des Tarifvertrags eindeutig eine tarifliche Regelung vorhanden. Der Abschluss einer Betriebsvereinbarung in dieser Situation ist auf dem Boden der herrschenden Vorrangtheorie nur möglich, wenn ein Mitbestimmungstatbestand des § 87 Abs. 1 BetrVG eingreift oder die Tarifvertragsparteien ausdrücklich eine Öffnungsklausel im Sinne des § 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG im Tarifvertrag vorsehen. Für den Fall schließlich, dass der Tarifvertrag lediglich abweichend vom Gesetz die Arbeitszeitgrenzen verschiebt, ohne die individuelle Arbeitszeit der Arbeitnehmer zu regeln, wird in der Regel aufgrund der klar möglichen Unterscheidung zwischen arbeitsschutzrechtlich wirkender Verschiebung der Arbeitszeitgrenzen und materiellrechtlich wirkender Festlegung der individuellen Arbeitszeit auch keine tarifliche Regelung vorliegen. Die Tarifüblichkeit wäre in einem solchen Fall nur zu bejahen, wenn der Verzicht auf die materiellrechtliche Regelung der Arbeitszeit im Tarifvertrag nicht endgültig wäre, sondern nur als vorübergehend einzuordnen ist.906 Dies wird aber nur selten der Fall sein. In der Regel greift daher auch in diesem letzten Fall die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG grundsätzlich nicht ein. Den Betriebspartnern steht auch hier die Regelung der materiellen Arbeitspflicht in einer Betriebsvereinbarung offen. Aus diesen Betrachtungen folgt zugleich, dass die Kritik Wanks an der Anerkennung einer Allzuständigkeit der Betriebspartner zur Festlegung der individuellen Arbeitszeit907 zumindest für den Bereich des tarifdispositiven Arbeitszeitrechts ins Leere geht. Seine Kritik an dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 18. 8. 1987908 betraf einen Tarifvertrag, der eine betriebliche wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden vorsah, die Festlegung der regelmäßigen individuellen Arbeitszeit jedoch in einer Bandbreite zwischen 37 und 40 Stunden pro Woche der Regelung in einer Betriebsvereinbarung überließ. Für den Bereich oberhalb des gesetzlichen Schutzniveaus fragt sich – und insoweit sind die Erwägungen Wanks berechtigt,909 ob so deutlich wie bei der Abweichung von tarifdispositiven Vorschrif906 Ausführlich zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Tarifüblichkeit Kreutz, in: GK-BetrVG, § 77 Rn. 95 ff., m. w. N. 907 Wank, NJW 1996, 2273, 2280 f.; kritisch zu diesem Urteil auch Löwisch, Arbeitsrechtsordnung, S. 69, der in den Betriebspartnern bei einer Öffnung des Tarifvertrags für umsetzende betriebliche Regelungen die Vollstrecker des Willens der Tarifvertragspartner erblickt. 908 AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 11972. 909 Insoweit ist auch Löwisch, Arbeitsrechtsordnung, S. 69, zuzustimmen, der für die Ausfüllung tariflicher Vorgaben durch Betriebsvereinbarung hinsichtlich der Außenseiter eine Legitimation der tariflichen Normsetzung anmahnt.
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie
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ten zwischen einer arbeitsschutzrechtlichen Regelung und der materiellrechtlichen Festlegung der individuellen Arbeitszeit unterschieden werden kann. Im Bereich der Abweichung von tarifdispositivem Recht jedoch stellt die Verschiebung der Arbeitszeitgrenzen eine nur den Tarifvertragsparteien zukommende Regelungsbefugnis dar, die sie kraft gesetzlicher Regelung in den Tariföffnungsklauseln auch auf die Betriebspartner übertragen können. Die arbeitsschutzrechtlich wirkende Festlegung der betrieblichen Höchstarbeitszeit ist daher im Gegensatz zu einer von den arbeitszeitrechtlichen Vorschriften nicht abweichenden betrieblichen Höchstarbeitszeit, für die eine tarifliche Regelung nicht besteht, in einer Betriebsvereinbarung ohne tarifliche Delegation gar nicht möglich. Der Kompetenzkonflikt des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG kann für den tarifdispositiven Regelungsbereich gar nicht auftreten, so dass die Vorschrift des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG als Kollisionsnorm auch nicht eingreift. Die Abweichungen hinsichtlich der betrieblichen Arbeitszeitgrenzen vom Arbeitszeitgesetz haben darüber hinaus auch bereits Kraft der gesetzlichen Regelung betriebsweite Wirkung. Für alle Arbeitnehmer des Betriebes und nicht lediglich für die tarifgebundenen gelten daher die vom Gesetz abweichenden Höchstarbeitszeiten. Ein sich daran anschließendes Außenseiterproblem bei der Festlegung der individuellen Arbeitszeit, bei dem der persönliche Geltungsbereich der Festlegung der individuellen Arbeitszeiten weiter reicht, als der persönliche Geltungsbereich der tariflichen Öffnungsklausel, kann sich dann gar nicht stellen. Die Befürchtungen Wanks sind daher für den Bereich des tarifdispositiven Rechts nicht zu teilen.910
IV. Zusammenfassung Hinsichtlich des Abschlusses von Betriebsvereinbarungen ist zwischen Regelungen des Betriebsrats aufgrund delegierter Befugnisse und solchen kraft eigener Zuständigkeit zu unterscheiden. Die Abweichung von den gesetzlichen Arbeitszeitgrenzen in einer Betriebsvereinbarung aufgrund eines Tarifvertrags beruht auf der Delegation der den Tarifvertragsparteien durch die Tariföffnungsklauseln überlassenen Regelungsmacht. Die gesetzlichen Tariföffnungsklauseln erfüllen dabei die Funktion, die durch das tarifdispositive Gesetzesrecht für abweichende Betriebs910 Inwieweit sie für das Verhältnis zwischen einer nicht von dem Arbeitszeitgesetz abweichenden tariflichen Festlegung einer bestimmten Höchstarbeitszeit und ergänzenden betrieblichen Regelungen der individuellen Arbeitszeiten berechtigt sind, soll hier nicht vertieft werden. Allerdings spricht viel für das Vorliegen einer Betriebsnorm, wenn der Tarifvertrag die betrieblich zulässige Höchstarbeitszeit regelt, die dann gemäß § 3 Abs. 2 TVG ohnehin auch für Außenseiter gilt. Sehen die Tarifvertragsparteien im Anschluss an diese eine Öffnungsklausel gem. § 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG vor, dann ist mit dem Bundesarbeitsgericht, BAG vom 18. 8. 1987, AP Nr. 23 zu § 77 BetrVG 1972, und BAG (GS) vom 7. 11. 1989, AP Nr. 46 zu § 77 BetrVG 1972, von einer sich daran anschließenden Zuständigkeit der Betriebspartner für die Festlegung der individuellen Arbeitszeit auszugehen und ein Außenseiterproblem tritt auch dann nicht auf; vgl. zum ganzen auch Linnenkohl, ArbRGgw. Bd. 26 (1989), 83, 93 f.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
vereinbarungen errichtete Wirksamkeitsgrenze zurückzunehmen. Gleichzeitig dehnen sie den persönlichen Geltungsbereich der abweichenden Tarifnormen und Betriebsvereinbarungen auf den gesamten Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers aus. Regelungen der individuellen Arbeitsverpflichtung der Arbeitnehmer beruhen hingegen auf der originären Allzuständigkeit des Betriebsrats für die Festlegung der materiellen Arbeitsbedingungen. Nur wenn in diesem Bereich tarifliche Regelungen existieren bzw. üblich sind, greift die Sperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG ein und steht einer Betriebsvereinbarung entgegen. Die gesetzlichen Tariföffnungsklauseln erfassen die Festlegung der materiellen Arbeitsverpflichtung nicht. Sie verdrängen daher auch nicht die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG. Enthält ein Tarifvertrag daher neben der Verschiebung der Arbeitszeitgrenzen Festlegungen zur materiellen Arbeitsverpflichtung der Arbeitnehmer oder ist eine solche tarifüblich, dann ist eine Umsetzung der von dem Arbeitszeitrecht abweichenden Vorgaben zur betrieblichen Höchstarbeitszeit in einer Betriebsvereinbarung ausgeschlossen. Etwas anderes gilt nur, wenn sich im Tarifvertrag eine Öffnungsklausel gemäß § 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG findet oder sich der Betriebsrat auf einen Tatbestand der zwingenden Mitbestimmung des § 87 Abs. 1 BetrVG berufen kann. Arbeitsvertragliche Festlegungen der individuellen Arbeitsverpflichtung der Arbeitnehmer sind demgegenüber in den tarifvertraglich vorgegebenen Grenzen sowie innerhalb eines gegebenenfalls von einer Betriebsvereinbarung festgelegten Rahmens immer möglich.
B. Die Übernahme abweichender tariflicher Regelungen in einer Betriebsvereinbarung Grundsätzlich können nicht beiderseits tarifgebundene Arbeitsvertragsparteien nicht mittels einer Betriebsvereinbarung auf einen von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften abweichenden Tarifvertrag Bezug nehmen. Dem steht die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG entgegen.911 Die zum Teil noch vertretene abweichende Ansicht912 knüpft an § 59 BetrVG 1952 an, der die Vorgängerregelung der heute aktuellen betriebsverfassungsrechtlichen Regelungssperre zugunsten der Tarifautonomie bildete. Für diesen war anerkannt, dass er einer Bezugnahme auf einen Tarifvertrag durch Betriebsvereinbarung nicht entgegensteht, da durch die Übernahme einer tariflichen Regelung keine Konkurrenz durch betrieb911 Für das Urlaubsrecht Dörner, in: ErfK, § 13 BUrlG Rn. 60; Schütz, in: KassHBArbR, 2.4 Rn. 814; für § 4 Abs. 4 EFZG: Schmitt, EFZG, § 4 Rn. 160; allgemein Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 4 Rn. 581. 912 Hess, in: ders. / Schlochauer / Glaubitz, BetrVG, 5. Auflage, § 77 Rn. 162; Stege / Weinspach / Schiefer, BetrVG, § 77 Rn. 21; ähnlich auch Worzalla, in: Hess / Schlochauer / Worzalla / Glock, BetrVG, § 77 Rn. 162, der die teilweise Bezugnahme in Einzelfällen zulassen will.
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie
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liche Vereinbarungen errichtet, sondern der Schutzzweck gegenüber der Tarifautonomie sogar betont werde.913 Demgegenüber stellen die Gesetzesmaterialien zu § 77 Abs. 3 BetrVG eindeutig klar, dass auch eine Bezugnahme auf einen Tarifvertrag durch Betriebsvereinbarung ausgeschlossen sein soll. Zweck der Tarifsperre ist zu verhindern, dass tarifliche Regelungen durch Betriebsvereinbarungen entgegen dem gesetzlich eigentlich vorgesehenen Wege der Allgemeinverbindlicherklärung gemäß § 5 TVG auf Außenseiter im Betrieb ausgedehnt werden.914 Die arbeitszeitrechtlichen Erstreckungsklauseln weisen abweichend von dieser Grundregel die Besonderheit auf, dass sie ausdrücklich die Übernahme einer von den tarifdispositiven Arbeitszeitvorschriften abweichenden tarifvertraglichen Regelung durch Betriebsvereinbarung gestatten.915 Dadurch ergibt sich ein bis heute nicht abschließend beleuchtetes Konkurrenzproblem zwischen tarifvertraglicher, betrieblicher und individualvertraglicher Regelung der Arbeitszeit durch Bezugnahme auf die einschlägigen Tarifverträge. Darüber hinaus stellt sich für die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag durch Betriebsvereinbarung die Frage, ob diese, wie für den Arbeitsvertrag allgemein anerkannt, als dynamische Blankettverweisung erfolgen kann.
I. Das Verhältnis zwischen tariflicher, betrieblicher und individualvertraglicher Regelung bei der Übernahme tariflicher Arbeitszeitregelungen Die gesetzlichen Erstreckungsklauseln des Arbeitszeitrechts erlauben sowohl den Betriebsparteien als auch den Arbeitsvertragsparteien, allerdings nur für den Fall, dass ein Betriebsrat nicht besteht, in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers, auf abweichende Tarifnormen Bezug zu nehmen. Ihrem Wortlaut nach unterscheiden sie nicht zwischen der arbeitsschutzrechtlichen und materiellrechtlichen Wirkung916 der arbeitszeitrechtlichen Tarifnormen. Da die Tariföffnungsklauseln jedoch nur die Verschiebung der Arbeitszeitgrenzen betreffen917 und das gesamte Arbeitszeitrecht lediglich Höchstarbeitszeiten vorschreibt, primär also an den Arbeitgeber adressiert ist, liegt auch für die Erstreckungsklauseln nahe, dass diese grundsätzlich ausschließlich die arbeitsschutzrechtliche Wirkung der abweichenden Tarifnormen betreffen. Aufgrund der Unterscheidung zwischen ar913 Dietz, BetrVG, 4. Auflage, § 59 Rn. 9; Galperin / Siebert, BetrVG, 4. Auflage, § 59 Rn. 12; Neumann / Duesberg, Betriebsverfassungsrecht 1960, S. 469 f.; Schnorr, AuR 1963, 193, 198; Stahlhacke, DB 1960, 579, 581. 914 Regierungsbegründung zum Entwurf des Betriebsverfassungsgesetzes, BT-Drucks. VI / 1786, S. 47. 915 Vgl. § 7 Abs. 3 S. 1, § 12 S. 2 ArbZG; § 21a Abs. 2 JArbSchG; §§ 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG. 916 Vgl. dazu oben 1. Teil: § 3 A. II. 1. 917 Vgl. dazu oben 1. Teil: § 3 A. II. 1 a).
15 Bock
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
beitsschutzrechtlicher und materiellrechtlicher Wirkung der Abweichungen im Arbeitszeitrecht und der Übernahmebefugnis sowohl für Betriebs- als auch Arbeitsvertragsparteien ergeben sich verschiedene Fallkonstellationen, für die der Umfang der Bezugnahmebefugnis jeweils gesondert betrachtet werden muss. 1. Bezugnahme bei unmittelbar im Tarifvertrag geregelter Abweichung von arbeitszeitrechtlichen Vorschriften Den ersten möglichen Ausgangspunkt für eine Bezugnahme auf einen Tarifvertrag mit arbeitszeitrechtlichen Regelungen mittels Betriebsvereinbarung bilden solche Tarifnormen, die unmittelbar und abschließend die Arbeitszeitgrenzen abweichend von den gesetzlichen Vorschriften regeln. Ein solcher Tarifvertrag kann sich auf die damit verbundene arbeitsschutzrechtliche Regelungskomponente beschränken. Er kann aber auch gleichzeitig die individuelle Arbeitsverpflichtung der Arbeitnehmer mitregeln. a) Ausschließlich arbeitsschutzrechtliche Regelung im Tarifvertrag Beschränkt sich der in Bezug genommene Tarifvertrag auf die Verschiebung der Arbeitszeitgrenzen, dann gilt für den Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers, dass dieser die abweichenden tarifvertraglichen Regelungen durch Betriebs- oder Dienstvereinbarung übernehmen kann. Da Betriebs- und Dienstvereinbarungen grundsätzlich Vertragscharakter haben und lediglich hinsichtlich ihrer Wirkungen rechtliche Besonderheiten aufweisen, wären die übernehmenden Betriebsvereinbarungen ohne die entsprechenden Erstreckungsklauseln gemäß § 134 BGB in Verbindung mit den entsprechenden arbeitszeitrechtlichen Vorschriften nichtig.918 Die gesetzlichen Erstreckungsklauseln beseitigen die Verbotswirkung des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts. Da sie weiterhin ausdrücklich die Übernahme abweichender tarifvertraglicher Regelungen durch Betriebsvereinbarung in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers gestatten, kann sich auch aus § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG kein Hindernis für eine solche übernehmende Betriebsvereinbarung ergeben. Unabhängig davon, ob die Existenz des abweichenden Tarifvertrags dazu führt, dass dessen Festlegungen in dem Betrieb des nicht tarifgebundenen Arbeitgebers „tarifüblich“ sind, gestattet das Gesetz919 die Bezugnahme durch Betriebsvereinbarung, so dass § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG hinter dieser ausdrücklichen gesetzgeberischen Erlaubnis als lex generalis zurücktritt.920 Vgl. dazu bereits oben 1. Teil: § 2 C. III. In § 7 Abs. 3 S. 1, § 12 S. 2 ArbZG; § 21a Abs. 2 S. 1 JArbSchG; §§ 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG. 920 So explizit auch Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 43; Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 266; wenig trennscharf jedoch Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 312 ff., der dadurch zu pau918 919
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie
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Für die arbeitsvertragliche Bezugnahme auf einen Tarifvertrag, der ausschließlich die Arbeitszeitgrenzen verschiebt, ergibt sich als einzige beschränkende Voraussetzung, dass sie nur dann zulässig ist, wenn in dem betroffenen Betrieb kein Betriebsrat existiert.921 Der Gesetzgeber hat sich im Arbeitszeitrecht deutlich für die vorrangige Regelungskompetenz der Betriebspartner entschieden.922 b) Arbeitsschutzrechtliche und materiellrechtliche Regelung der Arbeitszeit im Tarifvertrag Legt der abweichende Tarifvertrag neben der arbeitsschutzrechtlichen Komponente der Verschiebung der Arbeitszeitgrenzen auch eine materielle Arbeitsverpflichtung der Arbeitnehmer fest, ergeben sich diffizilere Probleme hinsichtlich der Übernahme derartiger Bestimmungen in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers durch Betriebsvereinbarung. Die für die Übernahme durch Betriebsvereinbarung anzuwendenden Erstreckungsklauseln sprechen davon, dass „abweichende tarifvertragliche Regelungen“ vereinbart werden können. Sie erfassen bei einer engen Auslegung des Wortlauts nicht die Übernahme der tariflichen Regelung der individuellen Arbeitsverpflichtung durch eine Betriebsvereinbarung. Insbesondere der systematische Zusammenhang mit den zugehörigen Tariföffnungsklauseln, die sich nur auf die Verschiebung der Arbeitszeitgrenzen beziehen, und der auf die Festlegung der Arbeitszeitgrenzen beschränkte Anwendungsbereich des Arbeitszeitrechts legen ein solch enges Verständnis nahe. In diesem Fall könnten für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Übernahme tariflicher Abreden durch Betriebsvereinbarung nur die allgemeinen Vorschriften Anwendung finden. Insbesondere wäre dann § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG maßgeblich. Die Vorschrift entzieht den Betriebspartnern die Regelungskompetenz, soweit es sich bei dem Gegenstand der Betriebsvereinbarung um eine tariflich geregelte oder üblicherweise tariflich geregelte Materie handelt. Die Tarifsperre kann im hier beschriebenen Fall der Übernahme einer tariflichen Vereinbarung in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers nur entgegenstehen, wenn die materiellrechtliche tarifliche Bestimmung als tarifüblich einzustufen ist. Geht man mit der vorherrschenden Ansicht davon aus, dass auch bei einer fehlenden Tarifbindung des Arbeitgebers Tarifüblichkeit im Sinne des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG vorliegen kann,923 schalen Urteilen kommt, dass er die getrennt zu betrachtenden Fallgruppen gemeinsam abhandelt. 921 Vgl. § 7 Abs. 3 S. 1 ArbZG, § 21a Abs. 2 JArbSchG, § 89a Abs. 2, § 100a Abs. 2 SeemG. 922 Gesetzentwurf der Bundesregierung Arbeitszeitrechtsgesetz, BT-Drucks. 12 / 5888, S. 27; Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 121. 923 Vgl. statt aller BAG vom 21. 1. 2003, AP Nr. 1 zu § 21a BetrVG 1972; vom 24. 1. 1996, AP Nr. 8 zu § 77 BetrVG 1972 Tarifvorbehalt; Fitting / Kaiser / Heither / Engels / Schmidt, 15*
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
so führt die Tatsache, dass der Geltungsbereich des betreffenden Tarifvertrags eröffnet ist,924 dazu, dass die Festlegung der materiellen Arbeitsverpflichtung eine Materie bildet, die üblicherweise in einem Tarifvertrag geregelt ist. Für eine Bezugnahme in einer Betriebsvereinbarung wären die Betriebsparteien daher auf eine Öffnungsklausel im Tarifvertrag gemäß § 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG angewiesen, die ihnen die Übernahme des arbeitszeitrechtlichen Regelungskomplexes gestattet. Die gesetzlichen Erstreckungsklauseln des Arbeitszeitrechts helfen bei einem engen Verständnis nicht weiter, weil sie dann nur die arbeitsschutzrechtliche Wirkung abdecken.925 Für die Praxis würde dadurch das wenig befriedigende Resultat entstehen, dass in einer Betriebsvereinbarung durch Bezugnahme auf den Tarifvertrag zwar die betrieblichen Arbeitszeitgrenzen verschoben, die tariflichen Vorgaben zur materiellen Arbeitsverpflichtung jedoch nicht mit übernommen werden könnten.926 Damit wären Abgrenzungsprobleme und Streitigkeiten über die Rechtsnatur der betreffenden Tarifvertragsvorschriften vorprogrammiert. Besonders deutlich werden die auftretenden Probleme, wenn es sich bei den abweichenden tarifvertraglichen Vorschriften um so genannte Doppelnormen handelt. Es ist einhellig anerkannt, dass der Tarifvertrag unmittelbar, ohne zuvor ausdrücklich in einer separaten Vorschrift die Arbeitszeitgrenzen im Betrieb zu verschieben, die individuelle Arbeitszeit der Arbeitnehmer abweichend von den gesetzlichen Vorschriften festlegen kann. Derartige Regelungen werden als Doppelnormen charakterisiert, die sowohl arbeitsschutzrechtliche als auch materiellrechtliche Wirkung zeitigen.927 Hier ist es unmöglich, im Rahmen einer Bezugnahme zwischen arbeitsschutzrechtlicher und materiellrechtlicher Wirkung zu trennen, wenn nur eine Vorschrift existiert, auf die Bezug genommen werden kann. Der Abschluss einer Betriebsvereinbarung, die allein die betrieblichen Arbeitszeitgrenzen entsprechend der tarifvertraglichen Regelung abweichend vom Arbeitszeitrecht festlegt, ist rechtlich nicht zulässig. Das Gesetz sieht nur eine Übernahme des Tarifvertragstextes durch Betriebsvereinbarung vor. Abweichende Regelungen können durch Betriebsvereinbarung nur in BetrVG, § 77 Rn. 78; Galperin / Löwisch, BetrVG, § 77 Rn. 81; a. A. Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 333 ff.; Kreutz, GK-BetrVG, § 77 Rn. 100; Richardi, in: ders., BetrVG, § 77 Rn. 260. 924 Das ergibt sich aus dem Regelungszusammenhang der gesetzlichen Erstreckungsklauseln des Arbeitszeitrechts, die nur die Übernahme im Geltungsbereich des abweichenden Tarifvertrags gestatten: vgl. § 7 Abs. 3 S. 1 ArbZG, § 21a Abs. 2 S. 1 JArbSchG, §§ 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG. 925 So Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 43; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 337 f.; keine Differenzierung in dieser Hinsicht und dementsprechend weites Verständnis bei Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 568; Kritik an der dadurch auch materiellrechtlich eröffneten Übernahmemöglichkeit bei: Wank, ErfK, § 7 ArbZG Rn. 3, ohne vertiefte Auseinandersetzung mit § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG für eine Befugnis zur Übernahme auch der materiellrechtlichen Tarifnormen Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 73. 926 So im Ergebnis Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 338. 927 Vgl. dazu oben 1. Teil: § 3 A. II. 1. c).
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie
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dem Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers aufgrund des Tarifvertrags getroffen werden. Dieses Ergebnis fügt sich systematisch nahtlos in das Konzept der Erstreckungsklauseln des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts außerhalb der arbeitszeitrechtlichen Vorschriften ein. Denn diese verzichten für die in ihnen enthaltenen materiellen Arbeitsbedingungen ebenfalls ausnahmslos auf die Zulassung einer Übernahme der abweichenden tarifvertraglichen Vorschriften in einer Betriebsvereinbarung. Daher ist eine solche Übernahme nur in dem Ausnahmefall möglich, dass der entsprechende Tarifvertrag eine Öffnungsklausel im Sinne des § 77 Abs. 3 S. 2 BetrVG enthält. Dennoch führt die soeben beschriebene sehr formale Lösung zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten und Problemen in der alltäglichen betrieblichen Handhabung. Praktikabel und allein sinnvoll ist es daher, den Wortlaut der Erstreckungsklauseln so zu interpretieren, wie er bei unbefangener Gesetzeslektüre erscheint. Der arbeitszeitrechtliche Regelungskomplex des jeweils einschlägigen Tarifvertrags kann daher in einer Betriebsvereinbarung in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers nur so übernommen werden, wie er formuliert ist. Darin sind zwangsläufig auch die materiellrechtlichen Festlegungen der individuellen Arbeitszeit eingeschlossen. Rechtspolitisch kann man dieses Ergebnis durchaus für verfehlt halten. Auf der Grundlage der gesetzlichen Regelung ist es indes die einzig vertretbare Lösung, da anderenfalls erhebliche Verwirrung und damit verbundene Rechtsunsicherheit die Folgen wären. Für eine Bezugnahme auf materiellrechtliche Regelungen in einem Arbeitsvertrag bildet § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG kein Hindernis. Der Gesetzgeber hat jedoch in § 7 Abs. 3 S. 1 ArbZG, § 21a Abs. 2 JArbSchG, § 89a Abs. 2, § 100a Abs. 2 SeemG ausdrücklich den Vorrang einer Übernahme der abweichenden Regelung durch Betriebs-, Dienst- oder Bordvereinbarung vorgesehen. Würde die Übernahme in einer Betriebsvereinbarung an der Regelungssperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG scheitern, so könnte auf dem Boden der gesetzlichen Vorschrift die abweichende tarifliche Regelung überhaupt nicht übernommen werden, da ein Betriebsrat besteht. Dieses Ergebnis kann vor dem Hintergrund des Vereinheitlichungszwecks der Erstreckungsklauseln928 ebenfalls nicht richtig sein. Auch der Zusammenhang mit der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen von den tarifdispositiven Arbeitszeitvorschriften abweichenden Tarifvertrag bestätigt somit, dass die Erstreckungsklauseln so auszulegen sind, dass der arbeitszeitrechtliche Regelungskomplex des abweichenden Tarifvertrags in seiner jeweiligen konkreten Fassung unabhängig von dem arbeitsschutzrechtlichen oder materiellrechtlichen Charakter der Tarifnormen in Bezug zu nehmen ist. Mit diesem Ergebnis verbunden ist aber noch eine weitere Überlegung. Interpretiert man den Wortlaut der Erstreckungsklauseln in § 7 Abs. 3 S. 1 ArbZG, § 21a Abs. 2 JArbSchG, § 89a Abs. 2, § 100a Abs. 2 SeemG weit, dann muss auch in dem Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers die Übernahme materiellrechtlich 928
Neumann / Biebl, ArbZG, § 7 Rn. 42; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 62.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
wirkender tarifvertraglicher Regelungen der individuellen Arbeitszeit durch Betriebsvereinbarung für die nicht tarifunterworfenen Arbeitnehmer bereits aufgrund einer analogen Anwendung der gesetzlichen Erstreckungsklauseln möglich sein.929 Dort wirken die Regelungen zur individuellen Arbeitszeit nicht bereits kraft tariflicher Anordnung, da es sich insofern um Inhaltsnormen handelt.930 Der Wortlaut sieht für den Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers die Bezugnahme zwar nicht vor, da er sie nur in Betrieben eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers regelt. Insofern ist das Gesetz jedoch lückenhaft. Der Gesetzgeber ging ersichtlich davon aus, dass sowohl arbeitsschutzrechtliche als auch materiellrechtliche Tarifvertragsvorschriften betriebseinheitlich gelten, und hat dabei übersehen, dass nur im konkreten Einzelfall anhand des jeweiligen Tarifvertragstextes festgestellt werden kann, ob eine Inhalts- oder eine Betriebsnorm im Sinne des § 3 Abs. 2 TVG vorliegt.931 Wenn aber die Betriebspartner in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers tarifübliche Vorschriften durch Betriebsvereinbarung als gesetzliche Ausnahme von § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG übernehmen können, dann muss dies auch für den Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers gelten. Die Tarifsperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG gilt für tariflich geregelte materielle Arbeitsbedingungen gleichermaßen wie für üblicherweise in einem Tarifvertrag geregelte Arbeitsbedingungen. Darüber hinaus kann nur auf diese Weise der von den gesetzlichen Erstreckungsklauseln verfolgte Vereinheitlichungszweck erfüllt werden. Die in einem nicht tarifgebundenen Betrieb bestehende Bezugnahmemöglichkeit auf einen abweichenden Tarifvertrag durch Betriebsvereinbarung muss demgemäß auch in einem tarifgebundenen Betrieb für die Tarifnormen Anwendung finden können, die nicht bereits gemäß § 3 Abs. 2 TVG betriebsweit gelten. Dies gilt unabhängig davon, ob der Tatbestand des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG erfüllt ist oder nicht.932 2. Bezugnahme bei tariflicher Übertragung der Abweichungsbefugnis auf die Betriebsparteien Sieht ein Tarifvertrag vor, dass die Betriebsparteien in einer bestimmten Art und Weise von den tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitrechts abweichen dürSo auch Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 206. Überwiegende Ansicht: Denecke / Neumann, AZO, 11. Aufl., § 7 Rn. 14; Galperin, BB 1963, 739, 743; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 590; Peters / Ossenbühl, Übertragung, S. 138; Prill, Rechtsnatur, S. 74 f.; Roggendorff, ArbZG, § 7 Rn. 29; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 499; ders., Festschrift für Schaub, S. 675, 690 ff.; Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 305; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 120; vgl. dazu oben 1. Teil: § 3 A. II. 1 b) cc). 931 Vgl. dazu oben 1. Teil: § 3 A. II. 1 a) bb). 932 Die gesetzliche Verbotswirkung können die arbeitszeitrechtlichen tarifdispositiven Vorschriften in dem Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers nicht entfalten, da die Arbeitszeitgrenzen ja betriebsweit verschoben werden, in dieser Hinsicht ist die Analogie daher nicht erforderlich. 929 930
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie
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fen, dann regelt ein solcher Tarifvertrag naturgemäß nicht gleichzeitig materielle Arbeitsverpflichtungen der Arbeitnehmer. Für Betriebsvereinbarungen, die eine solche tarifliche Regelung auf der Grundlage der gesetzlichen Erstreckungsklauseln übernommen haben, sieht nur § 7 Abs. 3 S. 2 ArbZG ausdrücklich vor, dass auch die übernehmenden Betriebspartner von der im Tarifvertrag vorgesehenen Abweichungsbefugnis Gebrauch machen dürfen. Die Erstreckungsklauseln des § 21a Abs. 2 JArbSchG, § 89a Abs. 2, § 100a Abs. 2 SeemG behandeln diese Konstellation nicht ausdrücklich. Dennoch geht das Schrifttum im Hinblick auf diese Vorschriften überwiegend davon aus, dass eine Abweichungsbefugnis aufgrund eines Tarifvertrags auch in dem Betrieb, in dem die tarifliche Regelung nur kraft Übernahme gilt, genutzt werden kann.933 Mit der Schaffung der Erstreckungsklausel habe der Gesetzgeber auch die weitere Delegation der Normsetzungsbefugnis zugelassen.934 Die ausdrückliche gesetzliche Regelung in § 7 Abs. 3 S. 2 ArbZG hatte in dieser Hinsicht klarstellende Funktion935 und verdeutlicht, was der Auffassung im Schrifttum entsprach. Eine gesetzliche Regelung – ob nun explizit in § 7 Abs. 3 S. 2 ArbZG oder implizit durch eine entsprechende Auslegung der §§ 21a Abs. 2 JArbSchG, 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG – ist notwendig, da es sich bei einer Übernahme der tariflichen Regelung, auch wenn sie durch Betriebsvereinbarung erfolgt, eben nur um eine privatautonome Vereinbarung handelt. Die tarifdispositiven Vorschriften sollen aber nach der eindeutigen gesetzgeberischen Konzeption nur gegenüber einer unmittelbaren tariflichen Abweichung oder einer auf einer tariflichen Anordnung beruhenden und damit von den Tarifvertragsparteien an die jeweiligen Betriebspartner überantworteten Abweichungsbefugnis nachgiebig sein.936 Eine Übernahme durch Betriebsvereinbarung erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Sie ist eben keine tarifliche Regelung. Darüber hinaus haben die Tarifvertragsparteien, die die Abweichungsbefugnis vorsehen, keinen Einfluss darauf, welche Betriebsparteien nicht tarifgebundener Betriebe ihre Regelungen übernehmen. Die Delegationskette ist daher nicht lückenlos geschlossen. Diese Aspekte machen die gesetzliche Regelung notwendig, die den übernehmenden Betriebspartnern die Wahrnehmung der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis gestattet. Gleichermaßen gilt das soeben gesagte für eine arbeitsvertragliche Übernahme eines abweichenden Tarifvertrags, der eine Abweichungsbefugnis vorsieht. Anders als für übernehmende Betriebsvereinbarungen sehen die arbeitszeitrechtlichen Er933 Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 40; eingeschränkt Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 36, der dies nicht bei einer vollständigen Delegation der Abweichungsbefugnis auf die Betriebspartner zulassen will. 934 Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 40; abweichend Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 36. 935 Vgl. Begründung der Bundesregierung zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Vereinheitlichung und Flexibilisierung des Arbeitszeitrechts, BT-Drucks. 12 / 5888, S. 27. 936 Das ergibt sich aus den Eingangssätzen der arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
streckungsklauseln jedoch für die übernehmenden Arbeitsvertragsparteien nicht die Möglichkeit vor, tarifvertragliche Abweichungsbefugnisse zu nutzen. Dies ergibt zum einen der Umkehrschluss aus § 7 Abs. 3 S. 2 ArbZG, der nur Betriebsvereinbarungen nennt. Zum anderen folgt dasselbe Ergebnis aus der Subsumtion unter §§ 21a Abs. 2 JArbSchG, 89a Abs. 2, 100a Abs. 2 SeemG, die im Wortlaut nur die Übernahme eines Tarifvertrags, jedoch nicht die Übernahme einer Betriebsvereinbarung gestatten. Die Delegation der Abweichungsbefugnis wiederum erfolgt durch die Tarifvertragsparteien aber nur auf die Betriebspartner, so dass sie für Arbeitsvertragsparteien nicht besteht.937 Diese können nach dem Wortlaut der Erstreckungsklauseln eine abweichende Betriebsvereinbarung nicht in Bezug nehmen.938 Die ausdrückliche gesetzliche Regelung in § 7 Abs. 3 S. 2 ArbZG dient der Klarstellung.939 Wegen des missverständlichen Wortlauts der übrigen Erstreckungsklauseln, der bei enger Interpretation nur die Übernahme einer abweichenden, nicht jedoch einer rein zulassenden,940 tariflichen Regelung gestattet, wäre eine Anpassung auch dieser arbeitszeitrechtlichen Vorschriften rechtspolitisch zu begrüßen. Da der Tarifvertrag, der das Bezugnahmeobjekt bildet, in dem Fall, dass er lediglich Abweichungsbefugnisse an die Betriebspartner überträgt, selbst keine Regelung der individuellen Arbeitszeiten der einzelnen Arbeitnehmer enthalten wird, steht auch § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG einer materiellrechtlichen Regelung der Arbeitszeiten in einer Betriebsvereinbarung nicht entgegen, da dann keine tarifübliche Regelung im Sinne der Tarifsperre vorliegt. II. Die Zulässigkeit dynamischer Blankettverweisungen in einer Betriebsvereinbarung bei der Übernahme abweichender Arbeitszeitregelungen Der durch das Gesetz vorgegebene Rahmen zulässiger Bezugnahmen auf von tarifdispositiven Vorschriften abweichende Tarifvertragsregelungen kann von den Betriebspartnern durch einen Verweis auf den einschlägigen und geltenden Tarifvertrag ausgefüllt werden. Grundsätzlich errichtet das tarifdispositive Recht explizit keine formalen oder inhaltlichen Anforderungen an die Bezugnahmeabrede. Zusätzlich ist aber die allgemeine Formvorschrift des § 77 Abs. 2 BetrVG zu be937 Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 42; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 36. 938 Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 42; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 36. 939 Insofern übt sich die Regierungsbegründung, BT-Drucks. 12 / 5888, S. 27, in Zurückhaltung. 940 Darauf stützen auch Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 36, ihre abweichende Ansicht, nach der sie keine Abweichung in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers zulassen wollen, wenn der übernommene Tarifvertrag nur zulassende Vorschriften enthält.
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie
233
achten. Keinerlei rechtliche Bedenken bestehen gegen einen Verweis auf einen konkreten Tarifvertrag, der in der Bezug nehmenden Betriebsvereinbarung eindeutig bezeichnet wird. Verweist die Betriebsvereinbarung jedoch auf den jeweils einschlägigen, zur Zeit geltenden Tarifvertrag, so werden gegen eine solche dynamische Blankettverweisung unabhängig davon, ob es sich bei der Verweisung um eine Bezugnahme im Rahmen der gesetzlichen Erstreckungsklauseln handelt, Bedenken erhoben. Das Schrifttum erblickt in einer solchen Praxis eine unzulässige Entäußerung der betrieblichen Normsetzungsmacht.941 Das Bundesarbeitsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahr 1992 eine dynamische Blankettverweisung in einer Betriebsvereinbarung für unzulässig gehalten, da die Betriebspartner dadurch ihre Normsetzungsbefugnis vollständig einer dritten Stelle überließen.942 Der Verzicht auf eine vorhersehbare und bestimmbare eigene inhaltliche Regelung sei unzulässig und die Unterwerfung unter künftige Regelungen mit den Funktionen des Betriebsverfassungsrechts nicht vereinbar.943 Nur unter der einschränkenden Voraussetzung, dass ein enger sachlicher Zusammenhang zwischen dem in Bezug genommenen Tarifvertrag und dem Betrieb besteht, in dem die Betriebsvereinbarung Anwendung finden soll, hielt das Gericht die Bezugnahme für zulässig. Für die Feststellung des engen sachlichen Zusammenhangs entsprechen die vom Bundesarbeitsgericht aufgestellten Kriterien denen, die es auch für einen tarifvertraglichen Verweis auf ein anderes Tarifwerk anwendet.944 Ein Teil des Schrifttums überträgt diese Rechtsprechungsgrundsätze auf die Bezugnahme in einer Betriebsvereinbarung auf einen Tarifvertrag, der von tarifdispositivem Recht abweicht.945 Demgegenüber erheben einzelne Autoren keine Einwände gegen eine Jeweiligkeitsklausel in einer Betriebsvereinbarung, soweit sie sich auf einen von tarifdispositivem Recht abweichenden Tarifvertrag bezieht. Sie begründen diesen Standpunkt damit, dass der Betriebsrat in dem von den Erstreckungsklauseln eröffneten Bereich gerade keine eigene Normsetzungsbefugnis habe, derer er sich entäußern könne, daher sei eine dynamische Blankettverweisung auch nicht bedenklich.946 Der Wortlaut der Erstreckungsklauseln führt bezüglich dieser Frage nicht weiter. Nach der hier vertretenen Auffassung zur gesetzlichen Konzeption machen die Erstreckungsklauseln eine Ausnahme von § 134 BGB, der wegen des Charakters der zwingenden Arbeitnehmerschutzvorschriften als Verbotsgesetze grundsätzlich die Nichtigkeit einer abweichenden vertraglichen Regelung zur Folge hat.947 Auch Betriebsvereinbarungen sind inhaltlich Grenzen gesetzt. Eine dieser inhaltlichen Grenzen bildet das zwingende staatliche Arbeitnehmerschutzrecht, über das sich 941 942 943 944 945 946 947
Oetker, in: Wiedemann, TVG, § 3 Rn. 267; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 69. BAG vom 23. 6. 1992, AP Nr. 55 zu § 77 BetrVG 1972. BAG vom 23. 6. 1992, AP Nr. 55 zu § 77 BetrVG 1972. BAG vom 23. 6. 1992, AP Nr. 55 zu § 77 BetrVG 1972. Buschmann / Ulber, ArbZG, § 7 Rn. 30. Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 125. Vgl. dazu oben 1. Teil: § 2 C. III.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
auch Betriebsvereinbarungen nicht hinwegsetzen können. Diese Grenze öffnen die Erstreckungsklauseln. Gleichzeitig stellen sie einen Ausnahmetatbestand zu § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG dar, indem sie ausdrücklich die Bezugnahme auf den einschlägigen Tarifvertrag, und damit eine tarifübliche Regelung, gestatten.948 Inwieweit dynamische Blankettverweisungen zulässig sind, wird aus den gesetzlichen Erstreckungsklauseln nicht deutlich. Systematisch finden sich ebenso wenig Anhaltspunkte wie in den Gesetzesmaterialien. Entscheidendes Gewicht liegt daher auf einer teleologischen Betrachtung. Das Verbot dynamischer Blankettverweisungen in einer Betriebsvereinbarung verfolgt den Zweck, die Vorhersehbarkeit und Bestimmbarkeit des Inhalts einer Betriebsvereinbarung, die gemäß § 77 Abs. 4 BetrVG unmittelbar und zwingend wirkt, für die Normadressaten sicherzustellen. Die normative Wirkung der Regelungen macht es notwendig, dass diese rechtsstaatlichen Anforderungen genügen. Dazu gehört, dass eine ausreichend enge Rückkopplung zwischen dem Recht setzenden Organ und der sie legitimierenden Gruppe der Normunterworfenen besteht. Das Recht setzende Organ darf daher die inhaltliche Ausgestaltung der geschaffenen Normen nicht einem nicht legitimierten dritten Organ überlassen, ohne dass die Rechtspositionen der betroffenen Normadressaten ausreichend gewahrt werden. Dabei ist insbesondere im Hinblick auf den Bereich des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts weniger die Blankettverweisung problematisch, bei der in der Regel das gesamte Tarifwerk in Bezug genommen wird, da die Erstreckungsklauseln ohnehin so auszulegen sind, dass der gesamte einschlägige Regelungskomplex übernommen werden muss.949 § 89a Abs. 2 SeemG fordert sogar ausdrücklich die Übernahme des gesamten Tarifvertrags. Vielmehr wirft die Dynamik die beschriebenen Probleme auf. Denn dadurch findet, wie das Bundesarbeitsgericht zutreffend ausführt, eine vorherige Unterwerfung unter eine zukünftige Regelung statt,950 von der im Vorfeld nicht bekannt ist, ob sie beispielsweise Abweichungen von tarifdispositiven Vorschriften enthält. Bereits im Zusammenhang mit der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf einen abweichenden Tarifvertrag hatte sich gezeigt, dass ein gesonderter Abweichungswille in den Bezugnahmeabreden nicht zum Ausdruck kommen muss, sondern dass allein der Verweis auf den einschlägigen Tarifvertrag ausreicht.951 Aus dem Umstand, dass der in Bezug genommene Tarifvertrag von tarifdispositivem Recht abweicht, ergeben sich daher keine zusätzlichen Anforderungen an die Bestimmtheit einer verweisenden Betriebsvereinbarung. Auch der Grund der betrieblichen Normsetzungsbefugnis kann keine Auswirkungen auf die allgemein bestehenden Anforderungen an Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit der betrieblichen Regelungsinstrumente haben. Maßgeblich ist allein die unmittelbare und zwingende Einwirkung von Betriebsvereinbarungen (§ 77 948 949 950 951
Oben 1. Teil: § 5 B. I. Vgl. dazu oben, 1. Teil: § 4 B. III. BAG vom 23. 6. 1996, AP Nr. 55 zu § 77 BetrVG 1972. Vgl. dazu oben 1. Teil: § 4 C. I.
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie
235
Abs. 4 BetrVG) auf die Arbeitsverhältnisse der Normunterworfenen. Baeck und Deutsch952 ist aber insofern Recht zu geben, dass es sich zumindest bei der Abweichung von den Arbeitszeitgrenzen um eine lediglich delegierte Rechtsetzungsmacht handelt, für die der Tarifvertrag die maßgeblichen Entscheidungen trifft. Dem Gesetzgeber geht es im Rahmen der gesetzlichen Erstreckungsklauseln gerade um die Anbindung der betrieblichen an die tarifliche Normsetzung, so dass das Argument des Bundesarbeitsgerichts, eine vorherige Unterwerfung unter eine fremde Regelung verstoße gegen die Funktionen des Betriebsverfassungsrechts,953 gegen die dynamische Verweisung im Rahmen einer gesetzlichen Erstreckungsklausel nicht greift. Dies wird weiterhin daran deutlich, dass bei der Übernahme sowohl der arbeitsschutzrechtlich, als auch der materiellrechtlich wirkenden abweichenden tarifvertraglichen Regelungen der Gesetzeszweck der Erstreckungsklauseln darin besteht, die Arbeitsbedingungen innerhalb einer Branche im Anschluss an die geltenden Tarifverträge zu vereinheitlichen. Dieser Zweck wird durch eine dynamische Blankettverweisung nicht beeinträchtigt. Vielmehr begünstigt eine Jeweiligkeitsklausel den Gleichlauf zwischen tariflicher und betrieblicher Rechtssetzung. Schließlich würde auch die Übertragung der allgemein vom Bundesarbeitsgericht aufgestellten Anforderungen für die Zulässigkeit einer dynamischen Bezugnahme auf einen Tarifvertrag durch eine Betriebsvereinbarung auf das tarifdispositive Recht diesen Befund nicht verändern. Das Bundesarbeitsgericht zieht die Parallele zu der Bezugnahme von Tarifverträgen untereinander und deutet an, dass auch in einer Betriebsvereinbarung eine dynamische Blankettverweisung nur bei einem engen Zusammenhang der Geltungsbereiche zulässig sein soll. Die gesetzlichen Erstreckungsklauseln im Bereich des tarifdispositiven Rechts fordern jedoch die Identität der Geltungsbereiche zwischen verweisender und in Bezug genommener Regelung. Sie gehen daher noch über das von der Rechtsprechung geforderte Maß hinaus. Zusammenfassend ergibt sich daraus, dass im Rahmen einer Bezugnahme auf von tarifdispositiven Arbeitszeitvorschriften abweichende Tarifverträge auch eine dynamische Blankettverweisung in einer Betriebsvereinbarung zulässig ist. III. Zusammenfassung Die Erstreckungsklauseln gestatten den Parteien einer Betriebs-, Dienst- bzw. Bordvereinbarung auf einen von den tarifdispositiven Arbeitszeitvorschriften abweichenden Tarifvertrag Bezug zu nehmen. Sie erfüllen in diesem Rahmen die Funktion, das durch den gegenüber den Betriebsparteien zwingenden Charakter der tarifdispositiven Vorschriften errichtete gesetzliche Verbot einer Abweichung 952 953
Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 125. BAG vom 23. 6. 1996, AP Nr. 55 zu § 77 BetrVG 1972.
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
von den staatlichen Arbeitszeitregelungen aufzuheben. Für den Fall, dass der in Bezug genommene Tarifvertrag neben einer arbeitsschutzrechtlich wirkenden Abweichung von den gesetzlichen Höchstarbeitszeitgrenzen auch eine Regelung der materiellen Arbeitsverpflichtung der Arbeitnehmer enthält, sind die Erstreckungsklauseln extensiv auszulegen. Grundsätzlich beziehen sie sich nur auf den arbeitsschutzrechtlichen Aspekt der Festlegung der Arbeitszeit. Da in der Praxis aber den Betriebspartnern bzw. Arbeitsvertragsparteien die Unterscheidung zwischen arbeitsschutzrechtlichen und materiellrechtlichen Regelungen in einem Tarifvertrag nicht zuzumuten, diese bei Normen mit Doppelcharakter mitunter auch nicht ohne weiteres möglich ist, sind die Erstreckungsklauseln insbesondere im Hinblick auf ihren Vereinheitlichungszweck so auszulegen, dass immer die konkrete einschlägige tarifliche Regelung im Hinblick auf beide Wirkungsebenen in Bezug zu nehmen ist. Sofern § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG einer derartigen Bezugnahme durch Betriebsvereinbarung entgegensteht, wird er durch die Anordnung der gesetzlichen Erstreckungsklauseln als den spezielleren Regelungen verdrängt. Über den Wortlaut der Erstreckungsklauseln hinaus ist die Bezugnahme auf einen von den arbeitszeitrechtlichen Vorschriften abweichenden Tarifvertrag auch in dem Betrieb eines tarifgebundenen Arbeitgebers zulässig. Legt der abweichende Tarifvertrag keine eigenen abweichenden Regelungen fest, sondern gestattet lediglich die Abweichung durch eine Betriebsvereinbarung, kann davon auch durch den Betriebsrat in einem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers Gebrauch gemacht werden. Ausdrücklich gestattet dies nur § 7 Abs. 3 S. 2 ArbZG. Auch die übrigen arbeitszeitrechtlichen Erstreckungsklauseln sind trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Regelung entsprechend auszulegen. Daher kann auch in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers im Anwendungsbereich der tarifdispositiven Vorschriften des Jugendarbeitsschutz- und Seemannsgesetzes mittels Betriebsvereinbarung von einer zugelassenen Abweichungsbefugnis Gebrauch gemacht werden, wenn diese den einschlägigen Tarifvertrag in Bezug nimmt. Im Hinblick auf die Gestaltung der Bezugnahme in einer Betriebsvereinbarung ergeben sich aus dem spezifischen Zweck des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts keine besonderen Anforderungen. Insbesondere steht es den Betriebspartnern frei, eine Bezugnahme als dynamische Blankettverweisung auszugestalten. Diese ist grundsätzlich nur zulässig, soweit ein enger sachlicher Zusammenhang zwischen den Geltungsbereichen besteht. Da die gesetzlichen Erstreckungsklauseln jedoch ohnehin nur die Bezugnahme des einschlägigen Tarifvertrags gestatten, ist der enge sachliche Zusammenhang gegeben.
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie
237
C. Die Rolle der Dienstvereinbarungen bei der Abweichung von tarifdispositivem Recht Im Zuge der Änderungen durch das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. 12. 2003954 hat der Gesetzgeber im Arbeitszeitgesetz die Möglichkeiten zur Abweichung von den tarifdispositiven Vorschriften und für die Übernahme abweichender Tarifvertragsvorschriften, die nach dem Gesetzeswortlaut nur für die Parteien einer Betriebsvereinbarung bestanden, ausdrücklich auch auf die Dienstvereinbarung ausgedehnt.955 Damit hat er zumindest im Anwendungsbereich des Arbeitszeitgesetzes den Streit entschieden, ob die Abweichungs- und Übernahmemöglichkeiten der Betriebspartner auch den Parteien einer Dienstvereinbarung offen stehen. Dies wurde zur vorhergehenden Rechtslage sowohl befürwortet956 als auch abgelehnt.957 Die Gegner dieser Möglichkeit beriefen sich auf § 73 Abs. 1 S. 1 BPersVG, der nur dort Dienstvereinbarungen für zulässig erklärt, wo es das Bundespersonalvertretungsgesetz ausdrücklich vorsieht. Da dieses die Schaffung von Dienstvereinbarungen aufgrund eines von tarifdispositivem Gesetzesrecht abweichenden Tarifvertrags nicht enthalte, könnten auch keine diesbezüglichen Dienstvereinbarungen abgeschlossen werden.958 Als Gegenargument dafür kann nicht die Erwägung dienen, der Gesetzgeber habe den Terminus „Betriebsvereinbarung“ nur als Oberbegriff verwenden wollen und ihm sei die explizite Unterscheidung überflüssig erschienen.959 Die enumerative Regelung in § 73 Abs. 1 S. 1 BPersVG ist klar und eindeutig. Zudem bestätigen die tarifdispositiven Vorschriften im Seemannsgesetz, in denen der Gesetzgeber explizit zwischen der Betriebs- und der Bordvereinbarung unterscheidet,960 dass ihm die Unterschiede zwischen den verschiedenen kollektiven Regelungen auf betrieblicher Ebene bewusst waren. Die Verwendung des Terminus „Betriebsvereinbarung“ als Oberbegriff ist daher nur schwerlich zu begründen. Um so mehr ist die gesetzgeberische Klarstellung im Arbeitszeitgesetz daher zu begrüßen. Schließlich bestand ein erheblicher Bedarf nach der Einbeziehung der Dienstvereinbarung in die spezifischen betriebsverfassungsrechtlichen Befugnisse des Arbeitszeitrechts. Denn die in § 7 Abs. 2 Nr. 4 ArbZG geregelten AbweiBGBl. 2003 I, S. 3002. Vgl. § 7 Abs. 1, 2, 2a, 3 und § 12 ArbZG. 956 Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 25, 28; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 519; ders., ArbZG, § 7 Rn. 36. 957 Buschmann / Ulber, ArbZG, 3. Aufl., § 7 Rn. 4; Roggendorff, ArbZG, C § 7 Rn. 24; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 6. 958 Roggendorff, ArbZG, C § 7 Rn. 24; Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 6. 959 Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 519; ders., ArbZG, § 7 Rn. 36. 960 Vgl. § 89a Abs. 1, 1a und 2, § 100a Abs. 1, § 104 Abs. 2, § 139 Abs. 3, § 140 Abs. 1 SeemG. 954 955
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
chungs- bzw. Übernahmebefugnisse durch Betriebsvereinbarung im Bereich des öffentlichen Dienstes wären vollkommen bedeutungslos gewesen, wenn die Dienstvereinbarung ausgespart geblieben wäre.961 Die Tariföffnungen im Jugendarbeitsschutzgesetz hat der Gesetzgeber im Zuge der aktuellen Gesetzesänderung unverändert gelassen. Dadurch entsteht eine Regelungslücke, für die sich die Frage stellt, ob sie durch Analogie zu den Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes zu füllen ist.962 Das würde neben der teleologischen Vergleichbarkeit hinsichtlich der Regelungen des Arbeitszeitgesetzes mit denen des Jungendarbeitsschutzgesetzes voraussetzen, dass die Lücke in § 21a JArbSchG planwidrig ist. Die Änderung des Arbeitszeitgesetzes erfolgte anlässlich der Urteile des EuGH zu Arbeitsbereitschaft und Bereitschaftsdienst als Arbeitszeit.963 In diesem Zusammenhang nahm der Gesetzgeber gleichzeitig die Klarstellung vor, dass abweichende Regelungen aufgrund eines Tarifvertrags nicht nur in einer Betriebsvereinbarung, sondern auch in einer Dienstvereinbarung getroffen werden können.964 Ausführungen im Hinblick auf das Jugendarbeitsschutzgesetz finden sich hingegen nicht. Daher kann die Änderung des Arbeitszeitgesetzes nicht als eine bewusste Beibehaltung der ursprünglichen Regelung in § 21a JArbSchG verstanden werden. Es liegt somit eine planwidrige Regelungslücke vor, die bei teleologischer Vergleichbarkeit in Analogie zu §§ 7 und 12 ArbZG zu schließen ist.965 Das Hauptargument für die Einbeziehung der Dienststellenpartner in die eigentlich nur den Betriebspartnern aufgrund eines Tarifvertrags vorbehaltenen Abweichungsbefugnisse war, dass anderenfalls § 7 Abs. 2 Nr. 4 ArbZG fast vollständig leer laufen würde.966 Auch das Jugendarbeitsschutzgesetz findet auf staatliche Verwaltungen und Betriebe Anwendung. Wegen § 21a Abs. 1 Nr. 4 JArbSchG, der Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 519; ders., ArbZG, § 7 Rn. 36. Mit der befürwortenden Ansicht von Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 25, 28, und der ablehnenden Sicht von Zmarzlik / Anzinger, JArbSchG, § 21a Rn. 6, ist der Meinungsstreit im Hinblick auf das Jugendarbeitsschutzgesetz immer noch aktuell. 963 Vgl. EuGH vom 9. 9. 2003, Rs C- 151 / 02 Jaeger, ABl. 2003, Nr. C 264, S. 14 ff.; vom 3. 7. 2001, Rs C-241 / 99, ABl. 2001, Nr. C 289, S. 5 ff. 964 Beschlussempfehlung des Ausschusse für Wirtschaft und Arbeit, BT-Drucks. 15 / 1587, S. 30. 965 Dass der Gesetzgeber im Zuge der Schaffung des Gesetzes für Reformen am Arbeitsmarkt nicht gleichzeitig auch mit der Änderung des Seemannsgesetzes dort die Dienstvereinbarung in die Tariföffnungsklauseln aufnahm (vgl. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Arbeit, BT-Drucks. 15 / 1587, S. 13 f.), belegt nicht, dass diese nur für die tariflichen Abweichungen nach dem Arbeitszeitgesetz maßgeblich sein sollte. Zwar ist das Seemannsgesetz grundsätzlich auch auf Kauffahrteischiffe in staatlichem Eigentum anwendbar, für die das Betriebsverfassungsgesetz gemäß § 130 BetrVG nicht gilt und somit auch Betriebs- und Bordvereinbarungen nicht möglich sind. Es existiert derzeit aber keine staatlich betriebene Handelsflotte, so dass für die Dienstvereinbarung im Bereich der Tariföffnungsklauseln des Seemannsgesetzes kein Anwendungsbereich bestanden hätte. Eine Einfügung war daher nicht notwendig. 966 Baeck / Deutsch, ArbZG, 1. Auflage, § 7 Rn. 36. 961 962
§ 5 Das Verhältnis zwischen Tarifautonomie und Betriebsautonomie
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abweichende tarifliche Vereinbarungen für die Samstagsarbeit Jugendlicher auch im Bereich der Kranken-, Kinder- und Altenpflege gestattet, besteht auch für Betriebe in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft ein Bedürfnis für den Abschluss ergänzender Dienstvereinbarungen, da in solchen Betrieben gemäß § 130 BetrVG die von § 21a ES JArbSchG vorgesehenen Betriebsvereinbarungen nicht abgeschlossen werden können. Durch die Einbeziehung der Dienstvereinbarung in die Abweichungsbefugnisse auch für das Jugendarbeitsschutzgesetz ist kein Schutzdefizit für die betroffenen Jugendlichen zu befürchten. Die Wirkung der Dienstvereinbarung gleicht der einer Betriebsvereinbarung.967 Die besonderen Belange der Jugendlichen können ausreichende Berücksichtigung finden, da das Personalvertretungsrecht eine Jugend- und Auszubildendenvertretung vorsieht (§§ 57 bis 64 BPersVG). Daher ist § 21a JArbSchG so zu lesen, dass auch aufgrund eines Tarifvertrags in einer Betriebs- oder Dienstvereinbarung von den dort aufgeführten Vorschriften in dem zugelassenen Umfang abgewichen werden kann. Praktisch bedeutet das, dass die Dienststellenpartner die in § 75 Abs. 3 BPersVG vorgesehenen Mitbestimmungsrechte bei Vorhandensein einer entsprechenden Regelung im Tarifvertrag968 auch durch Dienstvereinbarung ausüben können, was ihnen sonst aufgrund der zwingenden Regelungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes verwehrt gewesen wäre.
D. Zusammenfassung Die im Arbeitszeitrecht eröffnete Möglichkeit für die Betriebs- und Dienststellenpartner, aufgrund eines Tarifvertrags von den tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitrechts abweichen zu können, beruht auf der Delegation tariflicher Regelungsmacht durch die Tarifvertragsparteien. Diese wird durch die arbeitszeitrechtlichen Tariföffnungsklauseln gestattet. Da es sich um einen Fall delegierter Regelungsbefugnis der Betriebsparteien handelt, steht § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG einer Abweichung von dem tarifdispositiven Arbeitszeitrecht durch Betriebsvereinbarung nicht entgegen. Im Hinblick auf die Festlegung der individuellen Arbeitsverpflichtung der einzelnen Arbeitnehmer greift § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG jedoch ein. Eine Regelung der materiellrechtlichen Arbeitsverpflichtung in einer Betriebsvereinbarung ist daher nur zulässig, wenn eine tarifliche Regelung fehlt oder nicht üblich ist bzw. der Tarifvertrag ausdrücklich entsprechende Betriebsvereinbarungen zulässt. Arbeitsvertraglich kann von den Arbeitszeitvorschriften zum Nachteil 967 Mit diesem Argument für den Gleichlauf, allerdings noch zur ursprünglichen Rechtslage auch Molitor / Volmer / Germelmann, JArbSchG, § 21a Rn. 28. 968 Vgl. § 75 Abs. 5 BPersVG, anders als im Betriebsverfassungsrecht ist im Personalvertretungsrecht die Zweischrankentheorie anzuwenden, da mangels Möglichkeit zum Abschluss freiwilliger Dienstvereinbarungen (vgl. § 73 Abs. 1 BPersVG) ansonsten der Anwendungsbereich des § 75 Abs. 5 BPersVG vollkommen leer liefe (Schaub, ArbRHB, § 268 I. 2. a) dd), Rn. 11).
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1. Teil: Einfachgesetzlich ausgestaltete Tarifautonomie
der Arbeitnehmer nicht abgewichen werden. Besteht jedoch ein abweichender Tarifvertrag und existiert keine ergänzende Betriebsvereinbarung, steht einer Festlegung der individuellen Arbeitsverpflichtung in einem Arbeitsvertrag nichts entgegen. Die arbeitszeitrechtlichen Erstreckungsklauseln gestatten Betriebs-, Dienst- und gegebenenfalls Bordvereinbarungen, auf abweichende Tarifvertragsregelungen in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers Bezug zu nehmen. Entgegen der sonst im Arbeitszeitrecht üblichen Differenzierung zwischen arbeitsschutzrechtlicher und materiellrechtlicher Wirkung sind die Erstreckungsklauseln auf den arbeitszeitrechtlichen Tarifvertragskomplex in seiner konkreten Gestalt anzuwenden. Nur so können die Erstreckungsklauseln ihrem Vereinheitlichungszweck gerecht werden. Darüber hinaus sind sie, soweit die materiellrechtlichen tarifvertraglichen Abweichungen betroffen sind, analog auf Betriebe tarifgebundener Arbeitgeber anzuwenden. Lässt ein Tarifvertrag die Abweichung von den staatlichen Arbeitszeitvorschriften in einer Betriebsvereinbarung zu, so können auch im Geltungsbereich des Jugendarbeitsschutzgesetzes sowie des Seemannsgesetzes trotz des Fehlens einer § 7 Abs. 3 S. 2 ArbZG entsprechenden Vorschrift die Betriebspartner in dem Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers von der Zulassung Gebrauch machen, indem sie den Tarifvertrag in Bezug nehmen. Soweit der Tatbestand des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG erfüllt ist, wird dieser durch die spezielleren Erstreckungsklauseln verdrängt. An die Bezugnahmeabrede sind über den allgemein für Betriebsvereinbarungen geltenden § 77 Abs. 2 BetrVG hinaus keine besonderen Anforderungen zu stellen. Sie kann sogar in Gestalt einer dynamischen Blankettverweisung auf den jeweils geltenden Tarifvertrag erfolgen. Die Dienstvereinbarung tritt neben die Betriebsvereinbarung als Regelungsinstrument mit dem einerseits aufgrund eines Tarifvertrags von den tarifdispositiven Vorschriften des Arbeitszeitrechts abgewichen und andererseits auf abweichende tarifliche Regelungen Bezug genommen werden kann. Da § 21a JArbSchG die Dienstvereinbarung nicht erwähnt, ist er insofern analog anzuwenden.
2. Teil
Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht und verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie Bereits im ersten Teil wurde darauf hingewiesen, dass sich im tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht das besondere Verhältnis zwischen staatlicher Arbeitnehmerschutzgesetzgebung und tarifvertraglicher Regelung der materiellen Arbeitsbedingungen äußert. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ergibt sich diesbezüglich die Frage, ob die Tarifdispositivität bestimmter arbeitsrechtlicher Vorschriften ein Zugeständnis des Gesetzgebers an die Tarifvertragsparteien ist, das vollkommen in seiner freien Entscheidung steht, oder ob der Gesetzgeber aufgrund der Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verpflichtet ist, tarifdispositives Gesetzesrecht zu schaffen. Die verfassungsrechtliche Problematik beschränkt sich aber nicht auf diese Frage, sondern impliziert darüber hinaus, dass unter Umständen vielleicht sogar das tarifdispositive Recht selbst vor dem Hintergrund der Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis problematisch sein könnte. Diesen Fragen gilt es im folgenden Teil der Arbeit nachzugehen.
§ 6 Ableitung des Schutzumfangs der Tarifautonomie aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG Nach seinem Wortlaut garantiert Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG jedermann und für alle Berufe, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden. Die Interpretation des Grundrechtstatbestandes ist auf dieser Basis allerdings bei der Bestimmung des Gewährleistungsgehaltes der Koalitionsfreiheit nicht stehen geblieben. Neben den Schutz der individuellen Koalitionsbildungsfreiheit traten zusätzliche Garantiegehalte. Im Hinblick auf Natur und Reichweite verfassungsrechtlicher Beschränkungen der gesetzlichen Normsetzungsbefugnis im Bereich des Arbeitnehmerschutzrechts ist von besonderem Interesse, in welchem Umfang Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG die tarifvertragliche Regelungsbefugnis überhaupt garantiert und welcher Natur diese Garantie ist.
A. Methodische Besonderheiten bei der Interpretation von Grundrechten Bei Grundrechten handelt es sich um Rechtsnormen, die grundsätzlich der Auslegung nach den allgemeinen methodischen Regeln zugänglich sind, wie die übri16 Bock
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
gen Rechtsvorschriften auch.1 Die Verfassungsnormen und insbesondere die Grundrechte sind in ihrem Wortlaut jedoch bewusst allgemein gehalten. Sie regeln grundlegende Voraussetzungen für das Verhältnis zwischen Bürger und Staat im freiheitlichen Gemeinwesen. Aufgrund dieser bedeutsamen Stellung aber auch mangelnden Genauigkeit wird der klassische Auslegungskanon vereinzelt als nicht geeignet für die konkretisierende Inhaltsbestimmung der Grundrechte eingestuft.2 Die herkömmlichen Auslegungsmethoden reichten für die Erfassung des Auslegungsgehaltes der Grundrechte nicht aus, da diese keinen aus dem Verfassungstext unmittelbar ableitbaren vorgegebenen Inhalt aufwiesen.3 Hesse betont daher, dass nicht die herkömmlichen Auslegungsgrundsätze anzuwenden seien, sondern den wirklichen Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation nachgegangen werden solle.4 Seiner Ansicht nach ist dafür die Begründung und Bewusstmachung eines bestimmten Vorverständnisses der zu interpretierenden Verfassungsnorm notwendig, durch das die Erwartungen an die Norm Konturen erlangen.5 Darüber hinaus sei die Interpretation nur bezogen auf ein konkretes Problem möglich und sinnvoll.6 Da die Verfassung aber kein in sich geschlossenes System darstelle, erfordere ihre Interpretation ein besonderes Verfahren, dass sich von dem bloßen Nachvollziehen von etwas Vorgegebenem unterscheide.7 In einem topischen Vorgehen müssten daher leitende Gesichtspunkte für die Konkretisierung gefunden werden, die durch das zu lösende Problem sachlich und im Übrigen normativ gebunden seien.8 Als derartige topoi identifiziert Hesse den Verfassungstext9, die Prinzipien der Einheit der Verfassung, der praktischen Konkordanz, den Maßstab funktioneller Richtigkeit sowie den Vorrang der integrierenden Wirkung, wonach der Interpretation Vorrang zu geben sei, die einheitsstiftend und -erhaltend wirke.10 Die Grenze einer derartig modifizierten Verfassungsinterpretation bildeten aber stets der Wortlaut und dessen sinnvolles Verständnis.11 Hesse geht demnach im Einklang mit der herkömmlichen Auslegung vom Wortlaut aus. Die von ihm aufgefundenen topoi der Verfassungsinter1 von Münch, in: von Münch / Kunig, GG, Vorb. Art. 1 – 19 Rn. 50; Sachs, in: ders., GG, Einf. Rn. 46; Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 230; ders., in: HBStR VII, § 164 Rn. 18. 2 Böckenförde, NJW 1974, 1529; ders., NJW 1976, 2089, 2091; Hesse, Verfassungsrecht, § 2 Rn. 56; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 176; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2105; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 73. 3 Hesse, Verfassungsrecht, § 2 Rn. 54. 4 Hesse, Verfassungsrecht, § 2 Rn. 59. 5 Hesse, Verfassungsrecht, § 2 Rn. 62. 6 Hesse, Verfassungsrecht, § 2 Rn. 64. 7 Hesse, Verfassungsrecht, § 2 Rn. 67. 8 Hesse, Verfassungsrecht, § 2 Rn. 67. 9 Hesse, Verfassungsrecht, § 2 Rn. 68. 10 Hesse, Verfassungsrecht, § 2 Rn. 71 ff. 11 Hesse, Verfassungsrecht, § 2 Rn. 77.
§ 6 Ableitung des Schutzumfangs der Tarifautonomie
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pretation drücken darüber hinaus Aspekte aus, die sich auch in dem klassischen Auslegungskanon finden.12 Wenn Hesse als Leitlinie für die Auslegung die Einheit der Verfassung sowie die praktische Konkordanz heranzieht, so äußern sich darin systematische Gesichtspunkte.13 Funktionelle Richtigkeit sowie die integrative Wirkung einer gefundenen Auslegung sind Aspekte, die Bestandteile der teleologischen Auslegung bilden.14 Insofern stellt seine topische Methode keine vollkommen neue und eigenständige Vorgehensweise dar. Vielmehr können die von ihm vorgeschlagenen topoi in die Auslegung nach dem herkömmlichen Auslegungskanon integriert werden.15 Demgegenüber betont eine andere Strömung in der Literatur speziell im Hinblick auf die Grundrechte, dass diese in den spezifischen Gesamtzusammenhang einer Staatsauffassung einbezogen seien, der die Interpretation und Konkretisierung zu einem gewissen Ausmaß determiniere.16 In diesem Zusammenhang finden verschiedene Grundrechtstheorien Anwendung, die von einem bestimmten Menschenbild der Träger der Freiheitsgewährleistungen ausgehen. Die Ergebnisse der Auslegung einer grundrechtlichen Freiheit weichen dann mitunter sehr voneinander ab, je nachdem welche Grundrechtstheorie zugrunde lag. Unterschieden werden die liberale, die institutionelle, die Werttheorie der Grundrechte, die demokratisch-funktionale, die sozialstaatliche Grundrechtstheorie17 sowie jüngst die Verfahrenstheorie.18 Die Berufung auf eine bestimmte, die für das Grundgesetz richtige,19 Grundrechtstheorie als Basis für die Verfassungsinterpretation birgt die Gefahr in sich, dass die Vielfalt und Komplexität der Regelungsinhalte der Grundrechte dadurch nicht abschließend erfasst werden können.20 Dementsprechend wird nur selten auf eine einzelne Grundrechtstheorie zurückgegriffen. Insbeson12 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 178; Brugger, AöR 119 (1994), 1, 22 ff.; Starck, in: HBStR VII, § 164 Rn. 19. 13 Sachs, in: ders., GG, Einf. Rn. 50; Starck, in: HBStR VII, § 164 Rn. 19; allgemein Brugger, AöR 119 (1994), 1, 25. 14 Brugger, AöR 119 (1994), 1, 31 für die integrierende Wirkung der Verfassung, funktionelle Richtigkeit ordnet er als systematischen Aspekt ein; so auch Sachs, in: ders., GG, Einf. Rn. 51, der die funktionelle Auslegung als systematische Frage einordnet; ausführlich zur teleologischen Auslegung bei Grundrechten und der „integrierenden Funktion der Verfassung“ Starck, in: HBStR VII, § 164 Rn. 21, 27 ff. 15 Vgl. auch Sachs, in: ders., GG, Einf. Rn. 49, der betont, dass im Wege der Auslegung hinreichend verifizierte Wertüberzeugungen des GG im Rahmen teleologischer Interpretation fruchtbar zu machen seien. 16 Böckenförde, NJW 1974, 1529; kritisch Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2106 f. 17 Vgl. dazu Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1530 ff. 18 Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 428 ff. 19 Diese sieht Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1537 f., in einer Kombination aus der den Grundrechten als Freiheitsrechten zugrunde liegenden liberalen Grundrechtstheorie und der die sozialen Voraussetzungen dieser Freiheitswahrnehmung absichernden sozialstaatlichen Theorie. 20 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 30.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
dere das Bundesverfassungsgericht wendet die bekannten Grundrechtstheorien alternativ an.21 Im Ausgangspunkt liegt dem Grundgesetz, wie die Verankerung der Freiheitsrechte als klassische Abwehrrechte gegenüber dem Staat beweist, sicherlich ein liberaler Ansatz zugrunde.22 Die Entwicklung der Dogmatik, die mittlerweile auch Teilhabe- und Leistungsrechte gewährt, zeigt jedoch, dass der Bedeutungsgehalt der Grundrechte sich darauf nicht beschränkt.23 Zudem kann es nicht dem Rechtsanwender überlassen bleiben, welche Grundrechtstheorie er als die maßgebliche einstuft.24 Der Inhalt der jeweiligen Grundrechtstheorien lässt sich vielmehr im Rahmen historischer, systematischer und teleologischer Überlegungen erfassen.25 Wiederum liegt es daher nahe, diese Gegebenheiten bei der Anwendung der herkömmlichen Auslegung zu berücksichtigen. Vor allem im Hinblick auf die Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist auf dem Boden der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie26 der Versuch unternommen worden, die Koalitionen einer Gemeinwohl- bzw. Sozialstaatsbindung zu unterwerfen.27 Das Sozialstaatsprinzip als Verfassungsgrundsatz bindet grundsätzlich nur die öffentliche Gewalt. Die Koalitionen üben jedoch in keinerlei Hinsicht öffentliche Gewalt aus.28 Die Betätigung der Koalitionen stellt die kollektive Ausübung von Privatautonomie dar,29 bei der die Einzelinteressen der in der Koalition zusammengeschlossenen Arbeitnehmer bzw. Arbeitgeber gebündelt wahrgenom21 Vgl. BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 337 (liberale Theorie); vom 28. 2. 1961, BVerfGE 12, 205, 259 f. (institutionelle Theorie); vom 15. 1. 1958, BVerfGE 7, 198, 205 (Werttheorie); vom 11. 5. 1976, BVerfGE 42, 163, 170 f. (demokratische Theorie); vom 18. 7. 1972, BVerfGE 33, 303, 330 ff. (sozialstaatliche Theorie); vom 20. 12. 1979, BVerfGE 53, 30, 65 (Verfahrenstheorie); Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 30; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2106; kritisch dazu Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1536. 22 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 515; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2107; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 75; vgl. auch die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes bei von Doemming / Füsslein / Matz, JöR 1 (1951), S. 117. 23 Auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 516 ff., plädiert für die Anwendung eines Theoriebündels. 24 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 516; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 179; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 75. 25 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 180; allgemein Brugger, AöR 119 (1994), 1, 29; vgl. insbesondere auch die Argumentation von Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1537 ff., selbst zur Grundrechtstheorie des Grundgesetzes. 26 Allgemein zu den daraus einschränkend für die Freiheitswahrnehmung abgeleiteten Folgen Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 5. 27 Vgl. nur Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 27 ff., 42 f.; jüngst Heise, Zulässigkeit zweiseitig zwingender Normen, S. 201 f. 28 Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrags, S. 59; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 8 ff. 29 BAG vom 14. 10. 1997, AP Nr. 155 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie; vom 11. 3. 1998, AP Nr. 12 zu § 1 TVG Tarifverträge: Luftfahrt; vom 31. 7. 2002, AP Nr. 14 zu § 1 TVG Tarifverträge: Luftfahrt; Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 259; ähnlich auch BVerfG vom 27. 2. 1973, BVerfGE 34, 307, 317.
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men werden. Wiederholt wurden die Koalitionen aufgrund der bedeutenden Rolle, die sie für das Wirtschaftsleben spielen, dem öffentlich-rechtlichen Bereich zugeordnet.30 Sie sollen eine quasistaatliche Funktion wahrnehmen, indem sie die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch Gesamtvereinbarungen gestalten.31 Diese Tätigkeit, durch die das Arbeitsleben sinnvoll geordnet werde, liege im gesteigerten öffentlichen Interesse.32 Auch die Einbindung in staatliche Entscheidungsprozesse durch die Mitwirkung in pluralistisch zusammengesetzten Gremien soll sie aus dem Kreis der privaten Vereinigungen herausheben.33 Zum einen werden mit einer derartigen Betrachtungsweise zwei Begriffe der Öffentlichkeit miteinander vermengt. Allein die Breitenwirkung koalitiver Betätigung und ihre Bedeutung, die weit über den Mitgliederkreis und den potentieller Verhandlungspartner hinausgeht, erheben die Koalitionen nicht in den Status öffentlich-rechtlicher Institutionen. Diese Öffentlichkeitswirkung ist eine soziologische Erscheinung, die die Ausprägung der Koalitionsbetätigung in der Gesellschaft beschreibt.34 Sie führt dadurch aber nicht zu einer Eingliederung der Koalitionen in die öffentliche Gewalt.35 Durch einen solchen Schluss von der tatsächlichen Bedeutung der Sozialpartner auf ihren Status als öffentlich-rechtliche Einrichtungen wird ihr rein privatrechtlicher Charakter zu Unrecht verschleiert36 und der Weg zu einer Bindung an auch für die Staatsgewalt maßgebliche Grenzen, wie eben das Sozialstaatsprinzip, bereitet.37 So richtig die Erkenntnis ist, dass der Grundrechtskanon nicht Ausgangspunkt einer uneingeschränkten gemeinschaftsschädigenden 30 Dabei sind verschiedene Konstruktionen gewählt worden, die von der Einordnung als öffentlich-rechtliche Verbände, so Krüger, NJW 1956, 1217, 1220; Scheffler, NJW 1965, 849, 851; über Beleihung, so Drewes, Gewerkschaften in der Verwaltungsordnung, S. 176 ff.; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S. 380; G. Müller, DB 1957, 718, 720; Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 62; bis hin zur Einordnung als Mischform reichen, so Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 29; ähnlich auch ders., ArbRGgw. Bd. 12 (1974), 17, 36; kritisch zu diesen Tendenzen Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 160 ff. 31 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 29. 32 BVerfG vom 6. 5. 1964, BVerfGE 18, 18, 28; vom 26. 5. 1970, BVerfGE 28, 295, 304, spricht sogar von der Erfüllung einer öffentlichen Aufgabe; vom 24. 5. 1977, 44, 322, 340 f.; vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 369; vom 15. 7. 1980, BVerfGE 55, 7, 24, wo sich wieder die Formulierung „öffentliche Aufgabe“ findet. 33 Drewes, Gewerkschaften in der Verwaltungsordnung, S. 30 ff.; jüngst Heise, Zulässigkeit zweiseitig zwingender Normen, S. 201 f.; dagegen Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 163 f. 34 Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 165; Ossenbühl, NJW 1965, 1561, 1562. 35 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 10; Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 163, 165; Ossenbühl, NJW 1965, 1561, 1562. 36 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 10. 37 Coester, Vorrangprinzip des Tarifvertrages, S. 60; für eine Gemeinwohlbindung bereits Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 32; für eine Unterwerfung unter das Sozialsstaatsprinzip jüngst Heise, Zulässigkeit zweiseitig zwingender Normen, S. 88 ff.; gegen eine Gemeinwohlbindung der Koalitionen Rieble, ZTR 1993, 54, 60; sehr kritisch Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 166, der dabei die Gefahr eines Zustands totalitärer und freiheitsvernichtender Identität von Staat und Gesellschaft sieht.
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Freiheitsbetätigung sein kann, so wenig ist zur Verhinderung derartiger Folgen die Einführung einer die Freiheitsgewährleistungen von vornherein begrenzenden immanenten Bindung an das Sozialstaatsprinzip notwendig. Nur bei einem unbefangenen Herangehen an die Interpretation der Grundrechte bleibt auch gewährleistet, dass die dem Grundrechtskatalog innewohnende gesellschaftliche Dynamik, die gerade den Grund für die bewusst offene Formulierung der verfassungsrechtlichen Gewährleistungen bildet, nicht durch das Festhalten an vorgeformten Leitbildern grundrechtlicher Freiheitsbetätigung ignoriert wird. Auch im Hinblick auf die Grundrechte sind daher die herkömmlichen Auslegungsmethoden anzuwenden, in deren Rahmen im Hinblick auf die teleologische, historische und systematische Auslegung die Besonderheiten der Grundrechte im Vergleich zu anderen Rechtsvorschriften und insbesondere auch die gesellschaftlich-öffentliche Funktion der Koalitionen gesteigert berücksichtigt werden können. Dabei nehmen die Koalitionen grundsätzlich dieselbe Stellung ein wie andere Grundrechtsträger auch. Ihre besondere Öffentlichkeitswirkung ist natürlich im Rahmen der Auslegung des Freiheitstatbestandes zu berücksichtigen.
B. Die Tarifautonomie als eine grundrechtliche Gewährleistung der Koalition Dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zufolge ist der Einzelne in der Entscheidung zur Bildung einer Koalition und deren interner Ausgestaltung durch ein Grundrecht geschützt. Neben der in dieser positiven Schutzkomponente enthaltenen Freiheit zur Gründung, zum Beitritt und zur Betätigung als Mitglied einer Koalition schützt Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG auch eine negative Komponente der Koalitionsfreiheit in Gestalt des Austritts aus einer Koalition und des Fernbleibens von einer solchen.38 Es hat sich die Überzeugung herausgebildet, dass dieser Schutz zugunsten des Einzelnen unvollkommen bliebe, wenn nicht auch die Vereinigung, die Koalition als solche im Hinblick auf ihren Bestand und ihre koalitionsspezifische Betätigung am verfassungsrechtlichen Schutz teilnehmen würde. So sehr Einigkeit über das Ob dieses Schutzes besteht, gehen die Meinungen über seine dogmatische Konstruktion auseinander. Das Bundesverfassungsgericht hat früh in einer grundlegenden Entscheidung vom 18. 11. 195439 den Standpunkt bezogen, dass die in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verankerte Koalitionsfreiheit neben dem Einzelnen auch die Koalition als solche schützt, ohne dass es dafür eines Rückgriffs auf 38 Statt aller BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 367; vom 14. 7. 1983, BVerfGE 64, 208, 213; vom 23. 4. 1986, BVerfGE 73, 261, 270; zuletzt vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304, und 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 155; BAG vom 17. 12. 1998, – 1 AZR 364 / 97 – n. v.; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 65; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 9 Rn. 25; Löwer, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 9 Rn. 85; Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 169, 221. 39 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 101, 106.
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Art. 19 Abs. 3 GG bedürfe.40 Dem folgen das Bundesarbeitsgericht und die herrschende Lehre.41 Das Bundesverfassungsgericht stützt seine Argumentation auf die historisch gewachsene und mittlerweile selbstverständliche rechtliche Anerkennung der Koalitionen. Der bereits unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung anerkannte Schutz der Koalitionen als solcher durch die Koalitionsfreiheit sei auch auf dem Boden des Grundgesetzes maßgeblich, obgleich eine Art. 165 WRV entsprechende Vorschrift keinen Eingang in das Grundgesetz gefunden habe. Entscheidend sei darüber hinaus das ausdrückliche Bekenntnis des Grundgesetzes zum sozialen Rechtsstaat, das es verbiete, ein Grundrecht, dessen Ausdehnung auf soziale Gemeinschaften sich bereits in der Weimarer Zeit angebahnt habe, nunmehr ohne zwingenden Grund in seiner Wirksamkeit auf Einzelpersonen zu beschränken.42 Dem tritt ein Teil der Lehre mit der Befürchtung entgegen,43 dass die Anerkennung eines originären Schutzes der Vereinigung als solcher zu einer nicht vor Art. 9
40 Seither ständige Rechtsprechung, vgl. BVerfG vom 14. 4. 1964, BVerfGE 17, 319, 333; BVerfG vom 6. 5. 1964, BVerfGE 18, 18, 26; BVerfG vom 30. 11. 1965, BVerfGE 19, 303, 312; BVerfG vom 19. 10. 1966, BVerfGE 20, 312, 317; BVerfG vom 26. 5. 1970, BVerfGE 28, 295, 304; BVerfG vom 26. 5. 1970, BVerfGE 28, 310, 313; BVerfG vom 18. 12. 1974, BVerfGE 38, 281, 303, 304, 305; BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 367; BVerfG vom 15. 7. 1980, BVerfGE 55, 7, 21; BVerfG vom 17. 2. 1981, BVerfGE 57, 220, 245; BVerfG vom 20. 10. 1981, BVerfGE 58, 233, 246; BVerfG vom 23. 4. 1986, BVerfGE 73, 261, 270; BVerfG vom 26. 6. 1991, BVerfGE 84, 212, 224; BVerfG vom 2. 3. 1993, BVerfGE 88, 103, 114; BVerfG vom 10. 1. 1995, BVerfGE 92, 26, 38; BVerfG vom 4. 7. 1995, BVerfGE 92, 365, 393; BVerfG vom 14. 11. 1995, BVerfGE 93, 352, 357; BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 282; BVerfG vom 24. 2. 1999, BVerfGE 100, 214, 221; BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 282; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304. 41 BAG vom 14. 2. 1967, AP Nr. 10 zu Art. 9 GG; vom 14. 2. 1978, AP Nr. 26 zu Art. 9 GG; vom 8. 12. 1978, AP Nr. 28 zu Art. 9 GG; vom 23. 2. 1979, AP Nr. 29 zu Art. 9 GG; vom 23. 9. 1986, AP Nr. 45 zu Art. 9 GG; vom 13. 11. 1991, AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung; Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 49; Badura, Staatsrecht, C 98, S. 237; ders., ArbRGgw. Bd. 15 (1977), 17, 20; Bauer, in: Dreier, GG, Art. 9 Rn. 69; Caspar, Stellung der Gewerkschaften im Betrieb, S. 71 ff.; Dieterich, RdA 2002, 1, 8; ders., DB 2001, 2398, 2400; ders., AuR 2001, 390; Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 68, 72 (der diesbezüglich sogar von Verfassungsgewohnheitsrecht ausgeht); Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 100 ff.; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 89; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 39; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 128, 182; Gragert, Flexibilisierung von Tarifverträgen, S. 7; Gröbing, AuR 1986, 297; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht II, S. 381; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 33 ff.; ders. ArbRGgw. Bd. 12 (1974), 17, 23; Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 31; Scheuner, Koalitionsfreiheit, S. 38 f.; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 62 ff.; Sodan, JZ 1998, 421, 422; Weber, Verfassungsbeschwerde, S. 18; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 90; wohl auch Löwisch / Rieble, MüHBArbR, § 244 Rn. 9. 42 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 101. 43 Bruhn, Tariffähigkeit, S. 81 ff.; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 70; ders., Festschrift für Friauf, S. 377, 380; Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 47; Richardi, in:
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Abs. 3 GG zu rechtfertigenden Ablösung des kollektiven Grundrechts von seiner individuellen Grundlage führen würde44 und dadurch nicht adäquat lösbare Konflikte zwischen den Rechtspositionen des Einzelnen und solchen des Kollektivs auftreten würden.45 Im Rahmen des von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG bereitgestellten Schutzes habe die Koalitionsfreiheit in ihrer kollektiven Komponente nur dienende Funktion gegenüber der individuellen Komponente.46 Sie müsse daher als aufsummierte Wahrnehmung der individuellen Freiheit verstanden werden.47 Folgerichtig könne dann nur das Individuum eine Verletzung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geltend machen. Ein Schutz der Koalition selbst sei lediglich über Art. 19 Abs. 3 GG zu erreichen.48 Der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG kann sicherlich nicht als verlässliche Stütze für die eine oder die andere Position dienen. Auch die historische Entwicklung der Garantie lässt sich als Begründung sowohl für als auch gegen die Einbeziehung der Koalition als solcher ins Feld führen.49 Im Grundrechtstatbestand kommt jedoch die besondere Zwecksetzung der Koalitionen zum Ausdruck, die in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besteht. Deren Schutz durch die Garantie der Koalitionsfreiheit bliebe unvollkommen, wollte man sie nur als eine Bündelung der Wahrnehmung geschützter Einzelgarantien verstehen.50 Im Zusammenhang mit der verfassungsrechtlichen Gewährleistung sind einige koalitionsspezifische Betätigungen denkbar, die dem Individuum gerade verwehrt sind. Dabei ist etwa der Abschluss von Tarifverträgen oder die Durchführung von Arbeitskämpfen zu nennen. Diese Aktivitäten sind aber inteStaudinger, BGB, Vorbem. zu §§ 611 ff. Rn. 541; ders., in: Richardi, BetrVG, § 2 Rn. 76; Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 170, 240; ders., Koalitionsfreiheit, S. 62 ff., 135 ff., 145 ff.; A. Wiedemann, Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, S. 50 ff.; Zöllner / Loritz, Arbeitsrecht, S. 119 f.; zumindest kritisch: Rupp, JZ 1998, 919, 921 f. 44 Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 47; Richardi, in: Staudinger, BGB, Vorbem. zu §§ 611 ff. Rn. 541; ders., in: Richardi, BetrVG, § 2 Rn. 76; A. Wiedemann, Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, S. 51. 45 A. Wiedemann, Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, S. 51 f. 46 Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 47; ähnlich auch Richardi, in: Staudinger, BGB, Vorbem. zu §§ 611 ff. Rn. 541; A. Wiedemann, Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, S. 52. 47 Zöllner / Loritz, Arbeitsrecht, S. 119 f. 48 Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 70; ders., Festschrift für Friauf, S. 377, 380; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 135. 49 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 62, betont, dass der Wortlaut keine kollektive Komponente erwähnt; dennoch hat sich der Parlamentarische Rat ausführlich mit der ausdrücklichen Normierung des Streikrechts als einer Komponente der kollektiven Betätigungsfreiheit befasst, diese aber wegen der kasuistischen Schrankenregelung nicht in den Wortlaut aufgenommen (vgl. Protokolle der Sitzungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, 1948 / 49, S. 213, 215; von Doemming / Füsslein / Matz, JöR 1 (1951), S. 118, 120 ff., 123). 50 Badura, ArbRGgw. Bd. 15 (1977), 17, 20; Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 70; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 89; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 37; ders., ArbRGgw. Bd. 12 (1974), 17, 23.
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grale Bestandteile einer effizienten Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen.51 Eines dieser Instrumente hat der Verfassungsgeber 1968 sogar ausdrücklich in Art. 9 Abs. 3 S. 3 GG aufgenommen, was für die Einbeziehung der Koalition als solcher in den Garantiegehalt der Koalitionsfreiheit spricht.52 Der Individualschutz würde an seiner Durchsetzungskraft verlieren, wollte man diese Betätigungen nur als Reflex der individuellen Koalitionsfreiheit schützen und nur dem Individuum gestatten, eine Verletzung dieser Rechtspositionen geltend zu machen. Davon geht auch das Bundesverfassungsgericht aus, wenn es in einem der auf die Grundsatzentscheidung folgenden Judikate ausführt: „Indes ist die Koalitionsfreiheit nur dann sinnvoll, wenn die Rechtsordnung den Koalitionen auch die Erreichung ihres in Art. 9 Abs. 3 GG bezeichneten Zwecks, nämlich die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern, gewährleistet; das tut sie nur, wenn sie der Koalition das Recht gibt, diesen Zweck durch spezifisch koalitionsmäßige Betätigung zu verwirklichen.“53
Diesen Zusammenhang sehen auch die Autoren, die einen Kollektivschutz aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ablehnen. Demzufolge legt Scholz der durch Art. 19 Abs. 3 GG eröffneten Möglichkeit, Personenmehrheiten in den Schutz individueller Grundrechtspositionen einzubeziehen, ein weites Verständnis bei und erfasst einen Großteil der koalitionsspezifischen Betätigungen, die dem Einzelnen nicht offen stehen, über Art. 19 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG.54 Das wird der grundgesetzlichen Konzeption nicht vollkommen gerecht. Art. 19 Abs. 3 GG besitzt keinen eigenständigen Schutzbereich. Er ist vollkommen akzessorisch zu den im Grundrechtsteil verankerten Einzelgarantien; nur was dort an individuellen Grundrechtspositionen vorgesehen ist, dehnt Art. 19 Abs. 3 GG bei wesensmäßiger Vergleichbarkeit auf juristische Personen aus.55 Einen anderen Weg geht Bruhn.56 Er konstruiert eine Grundrechtsträgerschaft der Koalition selbst aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 3 GG.57 Für die Zulässigkeit einer solchen Konstruktion bietet die Verfassung jedoch erst recht keine fundierten Anhaltspunkte. Vielmehr tritt die allgemeine Betätigungsfreiheit als lex generalis von vornherein hinter die spezielle Freiheitsgarantie des Art. 9 Abs. 3 GG zurück.58 51 Badura, ArbRGgw. Bd. 15 (1977), 17, 20; Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 71; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 102; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 39; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 184; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 64. 52 Badura, ArbRGgw. Bd. 15 (1977), 17, 18; Bauer, in: Dreier, GG, Art. 9 Rn. 69; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 63. 53 BVerfG, vom 6. 5. 1964, BVerfGE 18, 18, 26. 54 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 240; ders., Koalitionsfreiheit, S. 144 f. 55 So auch Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 101; Rupp, JZ 1998, 919, 922; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 90. 56 Bruhn, Tariffähigkeit, S. 85 ff. 57 Bruhn, Tariffähigkeit, S. 85. 58 Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen, S. 38.
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Sofern die Kritiker gegen eine Einbeziehung der Vereinigungen als solcher in den Schutzbereich die daraus resultierenden Konflikte zwischen der Individualgewährleistung und dem Kollektivschutz anführen,59 kann das nicht überzeugen. Derartige Konfliktlagen können an mehreren Stellen der Verfassung auftreten. Diese sind mit den herkömmlichen Mitteln zur Herbeiführung von Konkordanz in den Gewährleistungsbereichen zu bewältigen.60 Die damit verbundenen Schwierigkeiten sind als Verfassungsrealität hinzunehmen. Zudem ist mit der Anerkennung einer eigenständigen kollektiven Garantie im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG noch kein Urteil über das Verhältnis der beiden Gewährleistungsgehalte zueinander gesprochen. Ebenso wenig resultiert aus der Anerkennung des Doppelgrundrechts automatisch die Subsidiarität des individuellen Schutzes.61 Darüber hinaus ist nicht anzunehmen, dass sich das Konfliktpotential durch eine Ableitung des Kollektivschutzes aus Art. 19 Abs. 3 GG wesentlich verringert. Einen weiteren Aspekt führt Wiedemann ein, der darauf hinweist, dass den Koalitionen als Sozialpartnern eine „öffentliche Aufgabe“ zugewiesen ist, der eine rein individualistische Auffassung der Koalitionsfreiheit nicht gerecht werden würde.62 Die Effektivität der Gewährleistung der Koalitionsfreiheit als Instrument zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erfordert die Einbeziehung der Vereinigung selbst in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Sein Gewährleistungsgehalt erfasst demnach neben der individuellen Koalitionsfreiheit auch Bestand, Zweck und koalitionsspezifische Betätigung der Koalitionen als solcher.
C. Schutz der Tarifautonomie und der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG In Rechtsprechung und Literatur besteht Einigkeit darüber, dass Art. 9 Abs. 3 GG neben der Koalitionsbildungsfreiheit auch die koalitionsmäßige Betätigung, insbesondere die Tarifautonomie und mit dieser die tarifvertragliche Regelungsbefugnis, schützt. Die dogmatische Grundlage und der Umfang dieses Schutzes sind allerdings seit mehreren Jahrzehnten noch nicht abschließend geklärt.
59 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 170, 240; ders., Koalitionsfreiheit, S. 62 ff.; ebenso jüngst Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 47. 60 Schwarze, Der Betriebsrat, S. 64 f. 61 So aber A. Wiedemann, Bindung der Tarifnormen an Grundrechte, S. 53; erwogen auch von Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 63 f., im Ergebnis aber abgelehnt; dagegen ausdrücklich: Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 183 f. 62 In: Wiedemann, TVG, Einl. Rn. 90; sich diesem anschließend Gragert, Flexibilisierung von Tarifverträgen, S. 7.
§ 6 Ableitung des Schutzumfangs der Tarifautonomie
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I. Meinungsstand Während sich das Bundesverfassungsgericht in den letzten Jahren um eine einheitliche Linie hinsichtlich der Schutzbereichsbestimmung der Koalitionsfreiheit bemüht hat und insbesondere den Anschluss an die allgemein gebräuchliche Grundrechtsdogmatik sucht, bietet das Schrifttum ein weit gefächertes Spektrum im Hinblick auf das Verständnis von Natur und Umfang der verfassungsrechtlichen Garantie der Koalitionsfreiheit und vor allem der Tarifautonomie. 1. Rechtsprechung Bereits in einer der ersten Entscheidungen zu Art. 9 Abs. 3 GG stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass das Grundrecht der Koalitionsfreiheit den Zusammenschluss von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu einem bestimmten Gesamtzweck schütze, der in einer aktiven Wahrnehmung der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen liege.63 In diesem Rahmen könnten die Koalitionen Einfluss auf die Gestaltung der Löhne und Arbeitsbedingungen nehmen und insbesondere zu diesem Zweck Gesamtvereinbarungen treffen.64 Die historische Entwicklung habe dazu geführt, dass diese Vereinbarungen in Gestalt geschützter Tarifverträge mit Normativcharakter und Unabdingbarkeit abgeschlossen werden.65 Daher müsse im Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG ein verfassungsrechtlich geschützter Kernbereich auch in der Richtung liegen, dass ein Tarifvertragssystem im Sinne des modernen Arbeitsrechts staatlicherseits überhaupt bereitzustellen sei.66 In derselben Entscheidung ging das Bundesverfassungsgericht zugleich davon aus, dass sich der Gesetzgeber zugunsten der Tarifvertragsparteien seines Normsetzungsrechts begebe.67 Daher liege es ebenfalls im gesetzgeberischen Ermessen, die Grenzen der Tariffähigkeit zu ziehen.68 In der Gestaltung und sachgemäßen Fortbildung der normativen Vorgaben sei der Gesetzgeber nur dadurch beschränkt, dass mit der Koalitionsfreiheit zugleich die Institution eines gesetzlich geregelten und geschützten Tarifvertragssystems verfassungsrechtlich gewährleistet sei.69 Dass Art. 9 Abs. 3 GG mit der Koalitionsfreiheit auch die Tarifautonomie und damit den Kernbereich eines Tarifvertragssystems garantiere, bestätigte das Bundesverfassungsgericht in darauf folgenden Judikaten.70 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 106. BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 106. 65 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 106. 66 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 106. 67 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 108. 68 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 107 f. 69 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 108. 70 BVerfG vom 6. 5. 1964, BVerfGE 18, 18, 28; vom 19. 10. 1966, BVerfGE 20, 312, 317; vom 27. 2. 1973, BVerfGE 34, 307, 316 f.; vom 18. 12. 1974, BVerfGE 38, 281, 305 f.; vom 63 64
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
Die bereits in der ersten Entscheidung zur Tarifautonomie anklingende Beschränkung des grundrechtlichen Schutzes aus Art. 9 Abs. 3 GG auf einen Kernbereich baute das Bundesverfassungsgericht in der Folgezeit aus und engte den Schutz der koalitionsgemäßen Betätigung auf das für Erhalt und Sicherung des Bestandes der Koalitionen unerlässliche Maß ein.71 Insbesondere sollte diese Unerlässlichkeitsgrenze auch für die Koalitionsbetätigung im Rahmen der Tarifautonomie gelten.72 Das Bundesarbeitsgericht sowie ein Großteil des Schrifttums übernahmen die Kernbereichsrechtsprechung. 73 Sie war aber auch Gegenstand entschiedener Kritik.74 In einer Entscheidung vom 14. 11. 1995 stellte das Bundesverfassungsgericht schließlich klar, dass bei einer Beschränkung des Schutzes aus Art. 9 Abs. 3 GG auf das Unerlässliche das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelte Verständnis der Koalitionsfreiheit nur unvollständig wiedergegeben werde. Ausgangspunkt der Kernbereichsformel sei die Überzeugung, dass das Grundgesetz die Betätigungsfreiheit der Koalitionen nicht schrankenlos gewährleiste, sondern eine Ausgestaltung durch den Gesetzgeber zulasse.75 Mit der Kernbereichsformel umschreibe das Bundesverfassungsgericht die Grenze, die dabei durch den Gesetzgeber zu beachten sei. Diese werde überschritten, soweit einschränkende Regelungen nicht zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten seien.76 Das Bundesverfassungsgericht wollte den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG damit nicht von vornherein auf den Bereich des Unerlässlichen beschränken.77 Der Grundrechtsschutz erstrecke sich vielmehr auf alle Verhaltensweisen, die koalitionsspezifisch sind.78 Ob eine koalitionsspezifische Betätigung für die Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit unerlässlich sei, könne demgegenüber erst bei Einschränkung der Freiheit Bedeutung erlan24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 340 f., 345; vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 367; vom 20. 10. 1981, BVerfGE 58, 233, 246. 71 BVerfG vom 26. 5. 1970, BVerfGE 28, 295, 304; vom 18. 12. 1974, BVerfGE 38, 281, 305; vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 368. 72 BVerfG vom 18. 12. 1974, BVerfGE 38, 281, 305. 73 BAG vom 8. 12. 1978, AP Nr. 28 zu Art. 9 GG; vom 23. 2. 1979, AP Nr. 29 zu Art. 9 GG; vom 23. 2. 1979, AP Nr. 30 zu Art. 9 GG; vom 14. 7. 1981, AP Nr. 1 zu § 1 TVG Verhandlungspflicht; vom 23. 9. 1986, AP Nr. 45 zu Art. 9 GG; vom 13. 11. 1991, AP Nr. 7 zu § 611 BGB Abmahnung; BVerwG vom 16. 6. 1982, BVerwGE 66, 7, 12; Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 103, 154; Caspar, Stellung der Gewerkschaften, S. 78 f.; Isensee, in: Zukunft der sozialen Partnerschaft, S. 172 ff.; Meik, Kernbereich der Tarifautonomie, S. 71 ff.; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 33 ff., 89 ff.; im Grundsatz auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 227 ff.; Kemper, Schutzbereich der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 88, 91; ders., in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 9 Rn. 167 ff.; Schwarze, JuS 1994, 653, 657 ff. 74 Gröbing, AuR 1986, 297 ff., 302; Hanau, ArbRdGgw. Bd. 17 (1980), 37, 49 f.; Herschel, AuR 1981, 265, 266 ff.; Zechlin, NJW 1985, 585, 590 ff. 75 BVerfG vom 14. 11. 1995, BVerfGE 93, 352, 359. 76 BVerfG vom 14. 11. 1995, BVerfGE 93, 352, 359. 77 BVerfG vom 14. 11. 1995, BVerfGE 93, 352, 359. 78 BVerfG vom 14. 11. 1995, BVerfGE 93, 352, 358.
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gen.79 Mit der vorliegenden Entscheidung rücke der Senat nicht von der früheren Rechtsprechung ab, es werde nur eine Klarstellung vorgenommen, die wegen der nicht fern liegenden Missverständnisse, zu denen die früheren Entscheidungen geführt hatten, veranlasst gewesen sei.80 Seitdem bezieht das Bundesverfassungsgericht alle koalitionsspezifischen Betätigungen in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG ein.81 Dies gelte auch, soweit Art. 9 Abs. 3 GG den Koalitionen einen spezifischen Wirkungskreis für den Abschluss von Tarifverträgen gewährleiste.82 Die Aushandlung von Tarifverträgen gehöre zu den wesentlichen Zwecken der Koalitionen.83 Hierin sollten sie nach dem Willen des Grundgesetzes frei sein. Der Staat enthalte sich in diesem Betätigungsfeld grundsätzlich einer Einflussnahme und überlasse die erforderlichen Regelungen der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zum großen Teil den Koalitionen, die sie autonom durch Vereinbarung träfen.84 Der den Koalitionen überlassene Teil der Regelungen beziehe sich auf solche Materien, die sie in eigener Verantwortung zu ordnen vermögen, wozu vor allem das Arbeitsentgelt und die anderen materiellen Arbeitsbedingungen wie etwa Arbeits- und Urlaubszeiten sowie nach Maßgabe von Herkommen und Üblichkeit weitere Bereiche des Arbeitsverhältnisses, außerdem darauf bezogene soziale Leistungen und Einrichtungen gehörten.85 Dieser neuen Rechtsprechung haben sich das Bundesarbeitsgericht und die Instanzgerichte angeschlossen.86 Abschließend geklärt ist der Umfang des Schutzbereiches von Art. 9 Abs. 3 GG im Hinblick auf die tarifvertragliche Regelungsbefugnis durch diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dennoch nicht. In seiner Entscheidung vom 24. 4. 1994 führt es aus: „Wieweit damit die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie in jeder Richtung zutreffend umschrieben ist und wo ihr grundrechtlicher Schutz endet, bedarf hier keiner Klärung.“87 BVerfG vom 14. 11. 1995, BVerfGE 93, 352, 358. BVerfG vom 14. 11. 1995, BVerfGE 93, 352, 360. 81 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 283; vom 24. 2. 1999, BVerfGE 100, 214, 221; vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 282; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304; vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153. 82 BVerfG vom 24. 4. 1994, BVerfGE 96, 268, 283; vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 282; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304; vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153. 83 BVerfG vom 24. 4. 1994, BVerfGE 96, 268, 283; vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 282; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304; vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153. 84 BVerfG vom 24. 4. 1994, BVerfGE 96, 268, 283; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304; vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 153 f. 85 BVerfG vom 24. 4. 1994, BVerfGE 96, 268, 283; vgl. auch BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 282; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304; vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154. 86 Vgl. BAG vom 31. 7. 2002, AP Nr. 14 zu § 1 TVG Tarifverträge: Luftfahrt; LAG Hamburg, vom 19. 5. 1998, NZA-RR 1998, 440 ff.; LAG Düsseldorf, vom 9. 1. 1998, LAGE § 113 InsO Nr. 2. 79 80
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
Auch im Hinblick auf die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers lässt die Rechtsprechung noch Fragen offen. Die in der ersten Entscheidung zur Tarifautonomie gelieferte Begründung für die Einbeziehung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit legt nahe, dass das Bundesverfassungsgericht von einer Institutsgarantie ausgeht, wenn es sich hauptsächlich darauf stützt, dass die Koalitionsfreiheit nicht ihres historischen Sinnes beraubt werden dürfe, der darin bestehe, dass die Koalitionen die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch normativ wirkende Gesamtvereinbarungen beeinflussen.88 Dort bezeichnet das Gericht die Garantie der Tarifautonomie auch ausdrücklich als institutionelle Gewährleistung.89 Für die Vorgaben an den Gesetzgeber, die dieser bei seiner ausgestaltenden Tätigkeit zu beachten hat, lassen sich in der Rechtsprechung lediglich Anhaltspunkte finden. In früheren Entscheidungen betont das Bundesverfassungsgericht, dass der Gesetzgeber sich bei der Ausgestaltung am Normziel des Art. 9 Abs. 3 GG zu orientieren habe, die Parität der Tarifvertragsparteien nicht verfälschen dürfe und der grundrechtlichen Freiheit den größtmöglichen Anwendungsbereich sichern müsse.90 Mitunter betont das Gericht, dass die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers ihre Grenzen am objektiven Gehalt des Art. 9 Abs. 3 GG finde.91 Dies deutet darauf hin, dass eine gegen die Vorgaben für die zulässige Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit verstoßende gesetzliche Regelung nicht zu einem Eingriff und damit nicht zu einem subjektivrechtlichen Abwehranspruch führt. In seinem klarstellenden Beschluss vom 14. 11. 1995 wiederum scheint das Bundesverfassungsgericht die Kernbereichsformel als Grenze der zulässigen Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit heranzuziehen, 92 wenn es ausführt: „Ausgangspunkt der Kernbereichsformel ist die Überzeugung, daß das Grundgesetz die Betätigungsfreiheit der Koalitionen nicht schrankenlos gewährleistet, sondern eine Ausgestaltung durch den Gesetzgeber zuläßt. Mit der Kernbereichsformel umschreibt das Ge87 BVerfG vom 24. 4. 1994, BVerfGE 96, 268, 283; entgegen Thüsing / Zacharias, Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, EzA Art. 9 GG Nr. 75, S. 16, ist diesbezüglich auch durch die jüngste Entscheidung des BVerfG nicht „der Nebel gewichen“, da das Gericht den Eingriff „jedenfalls“ zum Schutze von Gemeinwohlbelangen mit verfassungsrechtlichem Rang zulässt und ihn nicht auf solche beschränkt. 88 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 106. 89 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 108; in den folgenden Entscheidungen ist allerdings nur von der Gewährleistung eines Tarifvertragssystems die Rede, vgl. BVerfG vom 19. 10. 1966, BVerfGE 20, 312, 317; vom 18. 12. 1974, BVerfGE 38, 281, 306; vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 369; vom 20. 10. 1981, BVerfGE 58, 233, 248. 90 BVerfG vom 10. 1. 1995, BVerfGE 92, 26, 41; hinsichtlich der Zweckorientierung an Art. 9 Abs. 3 GG auch BVerfG vom 6. 5. 1964, BVerfGE 18, 18, 30; vom 19. 10. 1966, BVerfGE 20, 312, 317; vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 369; hinsichtlich des größtmöglichen Anwendungsbereichs vgl. auch BVerfG vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 345. 91 BVerfG vom 4. 7. 1995, BVerfGE 92, 365, 394. 92 So auch Heimes, Anm. zu BVerfG vom 14. 11. 1995, MDR 1996, 562, 565; Stein, AuR 1998, 1, 3.
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richt die Grenze, die dabei zu beachten ist; sie wird überschritten, soweit einschränkende Regelungen nicht zum Schutz anderer Rechtsgüter von der Sache her geboten sind.“93
2. Literatur Das Schrifttum zeichnet sich durch eine Fülle von Vorschlägen zu Umfang und dogmatischer Begründung des verfassungsrechtlichen Schutzes der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis aus. In den Stellungnahmen vermischen sich verschiedene Konzeptionen, so dass eine klare systematische Zuordnung aller Positionen kaum möglich erscheint. Allenfalls lassen sich verschiedene Argumentationsrichtungen identifizieren. Das Meinungsspektrum teilt sich dabei grob in zwei Hauptströmungen. Auf der einen Seite stehen die Ansichten, welche die tarifvertragliche Regelungsbefugnis als quasistaatliche Normsetzung einstufen. Auf der anderen Seite finden sich Stellungnahmen, die den Tarifvertragsschluss ausschließlich als Grundrechtsausübung begreifen und die Reichweite seines grundrechtlichen Schutzes auch dementsprechend bestimmen. a) Tarifvertragsparteien als Normsetzungsinstanzen Insbesondere ältere Stellungnahmen leiten aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG eine quasistaatliche Normsetzungsbefugnis der Koalitionen durch Tarifverträge ab und versuchen anschließend, eine abstrakte Kompetenzabgrenzung zwischen den beiden arbeitsrechtlichen Normsetzungsinstanzen vorzunehmen.94 Als Leitbilder dienen dabei vor allem Art. 72 GG, Art. 28 Abs. 2 GG sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV.95 Besonders häufig ziehen diese Autoren als Prinzip zur Abgrenzung der konkurrierenden Normsetzungsbefugnisse das Subsidiaritätsprinzip heran.96 Danach sollen die Tarifvertragsparteien vorrangig zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zuständig sein. Erst dort, wo eine gesetzliche Regelung der Sicherung des Existenzminimums und des Gemeinwohls dient, das heißt die Befriedung der notwendigen sozialen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeitnehmer verfolgt, ende die Zuständigkeit der Tarifvertragsparteien.97 Demgegenüber soll in dem Bereich, in dem ein RisikoBVerfG vom 14. 11. 1995, BVerfGE 93, 352, 359. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 153 ff.; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 147 ff.; Löwer, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 9 Rn. 64. 95 Vgl. diesbezüglich die Ausführungen bei Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 147 ff.; dem auch zuneigend Oetker, ZG 1998, 155, 164, 166. 96 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 187 ff.; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 173 ff.; jüngst übernommen von Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 67 f. 97 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 155 f.; Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 70; Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 186, der parallel zu der für 93 94
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
und Vorteilsausgleich zwischen den Parteien des Arbeitsverhältnisses erfolge, eine konkurrierende Zuständigkeit zwischen staatlichem Gesetzgeber und den Tarifvertragsparteien bestehen.98 Dort gehe die tarifvertragliche Regelungsbefugnis der staatlichen Ordnung der materiellen Arbeitsbedingungen vor, wenn letztere nicht durch überwiegende Interessen des Allgemeinwohls zwingend gefordert werde.99 b) Tarifvertragliche Festlegung der Arbeitsbedingungen als Grundrechtsausübung Die Erkenntnis, dass Art. 9 Abs. 3 GG in einem gewissen Umfang auch die Tarifautonomie als die von staatlicher Seite unbeeinträchtigte Freiheit, die Arbeitsbedingungen der Koalitionsmitglieder durch unmittelbar und zwingend wirkende Gesamtvereinbarungen zu regeln, schützt, erfährt im Schrifttum einhellige Anerkennung. Allerdings eröffnet sich hinsichtlich der grundrechtsdogmatischen Begründung und der Bestimmung der Grenzen dieses Schutzes ein weites Meinungsspektrum, das einer Systematisierung nur bedingt zugänglich ist. Ein Großteil der Autoren sieht durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG neben Koalitionsbestand und Koalitionsbetätigung unter anderem auch die Institutsgarantie eines Tarifvertragssystems als garantiert an.100 Diese Gewährleistung verpflichte den Gesetzgeber, ein Tarifvertragssystem überhaupt bereitzustellen und in diesem Rahmen die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sicherzustellen. Der so geschaffene einfache Normenkomplex des Tarifvertragssystems sei aber nicht in seiner konkreten Erscheinungsform geschützt, sondern lediglich gegen seine vollständige Abschaffung oder die Beeinträchtigung seines Wesens abgesichert.101 Die Auffassung Art. 12 GG entwickelten Drei-Stufen-Theorie für jede arbeitsrechtliche Regelungsmaterie einen ausschließlich den Koalitionen vorbehaltenen Kernbereich identifiziert und in der verbleibenden Randzone zwischen einer äußeren Ringzone, in der der Gesetzgeber mit jedem sachlichen Grund ausgestaltend tätig werden könne, einer zweiten Ringzone, in der der Gesetzgeber zum zwingend erforderlichen Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter tätig werden darf, und einer dritten Ringzone differenziert, in der nur gesetzliche Regelungen zur Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zulässig sein sollen. 98 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 157. 99 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 187, wobei allerdings berücksichtigt werden muss, dass Biedenkopf noch auf dem Boden der Kernbereichslehre argumentiert und bei einer ausdrücklich angeordneten zwingenden Wirkung des staatlichen Gesetzes unabhängig von seiner Kompetenzabgrenzung die tarifliche Regelungsbefugnis ausschließt (vgl. dazu dens., Grenzen der Tarifautonomie, S. 163). 100 Badura, Staatsrecht, C 20 S. 105; Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 681; dem institutionellen Charakter des Tarifvertragssystem neigt auch Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 302 ff., zu; ähnlich auch Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 99 ff., mit seiner zweistufigen Garantie der tariflichen Normsetzungsbefugnis: in abstracto durch Art. 9 Abs. 3 GG und konkret durch einfaches Gesetz. 101 Badura, Staatsrecht, C 20 S. 105; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 121.
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von einem institutionellen Schutz der Tarifautonomie lehnt Scholz ab, der stattdessen von einer gesondert in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG enthaltenen Koalitionsmittelgarantie ausgeht.102 Diese erfasse alle funktionstypischen Betätigungen der Koalitionen, deren Verfügbarkeit unverzichtbar sei und die ihnen von der Rechtsordnung bereitgestellt werden müssten.103 Es gelte der Grundsatz der Freiheit der Koalitionsmittel, d. h. den Koalitionen sei grundsätzlich die Wahl der Mittel überlassen, die sie zur Erreichung des Koalitionszwecks für geeignet halten.104 Über die Eigenschaft eines Koalitionsmittels als funktionstypisch entscheide in erster Linie die Koalition selbst, je nachdem wie stark sie davon Gebrauch mache.105 Die funktionstypischen Koalitionsmittel seien lediglich mittelbar geschützt, soweit sie sich als typische bzw. existentielle tatsächliche Instrumentarien der Koalitionen etabliert hätten.106 Der Schutz habe lediglich dienende Funktion gegenüber dem ebenfalls durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Koalitionsverfahren als dem von der Verfassung als solchen vorausgesetzten Prozess antagonistischer Interessenauseinandersetzung und -einigung.107 Allerdings könne der Gesetzgeber über funktionstypische Koalitionsmittel nur insoweit disponieren, wie es um deren konkrete Ausgestaltung gehe und einschränkend nur tätig werden, solange einzelne Koalitionsmittel in ihren Funktionsansprüchen miteinander kollidierten.108 Nicht ganz eindeutig ist der Standpunkt Säckers, der im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG mehrere funktionelle Kernbereichsgarantien identifiziert, die er durch die Bildung einzelner Unterkernbereiche konkretisiert.109 Der hier vorrangig interessierende funktionelle Kernbereich der verbandsmäßigen Gestaltung der Arbeitsbedingungen enthalte, so Säcker, zumindest den Unterkernbereich verbandsmäßiger Lohngestaltung, der vom Bundesverfassungsgericht anerkannt worden110 und aus historischen Gründen durch einen Unterkernbereich der verbandsmäßigen Arbeitszeitgestaltung zu ergänzen sei.111 Ob weitere Unterkernbereiche, wie beispielsweise die verbandsmäßige Regelung des Urlaubs, des Arbeitsplatzschutzes, des Prämienwesens oder der Eigentumsförderung in Arbeitnehmerhand, in die Garantie einzubeziehen seien, lässt Säcker zunächst offen,112 ergänzt den funktionellen Kernbereich später aber durch einen Unterkernbereich verbandsmäßiger Ge102 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 297; ebenfalls bereits ders., Koalitionsfreiheit, S. 120 noch unter der Verwendung des Begriffs „aktual-typisches Mittel“. 103 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 120; ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 297. 104 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 298. 105 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 120; hinsichtlich der Arbeitskampfmittel ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 315. 106 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 259. 107 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 280. 108 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 298. 109 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 45 f. 110 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 46. 111 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 94. 112 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 46, 94.
17 Bock
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staltung der vermögenswirksamen Anlage von Lohnbestandteilen und der Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivitätszuwachs der Unternehmungen.113 Für den Bereich des funktionellen Kernbereichs der verbandsmäßigen Gestaltung der Arbeitsbedingungen will Säcker den Koalitionen eine gegenüber dem Gesetzgeber und privaten Vereinbarungen vorrangige Regelungskompetenz einräumen.114 Ein Regelungsmonopol der Koalitionen sei hingegen nicht vertretbar, da eine staatliche Aufsicht die Koalitionen nicht dazu anhalten könne, von ihrer Regelungsbefugnis auch tatsächlich Gebrauch zu machen, und deshalb nicht gewährleistet sei, dass notwendige Festlegungen auch tatsächlich getroffen würden.115 Den Tarifvertragsparteien komme aber eine Normsetzungsprärogative zu, die bewirke, dass von den tariflichen Bestimmungen abweichende Vereinbarungen nur vorrangig seien, wenn der Tarifvertrag dies ausdrücklich zulasse oder es sich um für die Arbeitnehmer günstigere Regelungen handele.116 Allgemeine Arbeitsbedingungen im funktionellen Kernbereich der Koalitionszweckgarantie könnten jedoch gegenüber einer neuen allgemeinen und gleichen Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen durch die Tarifvertragsparteien keinen Bestand haben, unabhängig davon, ob diese günstiger oder ungünstiger für die betroffenen Arbeitnehmer ist.117 Allerdings unterliege auch die Normsetzungsprärogative Beschränkungen. Sie reiche nur von einer das Existenzminimum sichernden unteren bis zu einer oberen Grenze in Gestalt gruppenegoistisch übersteigerter, gemeinwohlschädigender Regelungen.118 Über den funktionellen Kernbereich hinaus bestehe keine verfassungsrechtlich gewährleistete Normsetzungsbefugnis der Koalitionen. Eine solche Ansicht führte aufgrund der schrankenlosen Garantie der kollektiven Koalitionsfreiheit entweder dazu, dass der Gesetzgeber in die Rolle des Zuschauers gedrängt würde, oder dass man unter Verstoß gegen die sorgsam abgestufte Schrankensystematik des Grundgesetzes in diesem Bereich einen Vorbehalt einfachgesetzlicher Einschränkung des Grundrechts anerkennen müsse.119 Insbesondere sei der funktionelle Kernbereich auch nicht mit dem Wesensgehalt gleichzusetzen. Die Wesensgehaltsgarantie werde nur für Grundrechte mit Gesetzesvorbehalt relevant, da nur bei diesen eine Einschränkung überhaupt möglich sei, wohingegen bei Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG jeder Eingriff eine Verletzung darstellen würde, so dass es einer Wesensgehaltsgarantie in dieser Hinsicht nicht bedürfe.120
Säcker, ArbRGgw. Bd. 12 (1974), 17, 38 ff., 40. Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 48. 115 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 50. 116 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 50. 117 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 51; ders., DB 1971, 1476; dann seien gesetzliche Vorschriften auch ohne ausdrückliche Anordnung als tarifdispositiv einzuordnen. 118 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 55. 119 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 56. 120 Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 56. 113 114
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Ausgehend von den verschiedenen Modellen für die Einbeziehung der Tarifautonomie in den Schutzgehalt des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG stellt ein Teil des Schrifttums weiter fest, dass sich der grundrechtliche Schutz der Tarifautonomie auch restriktiv auf die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG geregelte Gesetzgebungskompetenz des Staates für das Arbeitsrecht auswirke. Die gesetzliche Regelungsmacht sei in keinem Bereich vollständig ausgeschlossen, habe aber den Vorrang der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen, sei sozusagen subsidiär.121 Einige Autoren gehen sogar darüber hinaus und setzen den sachlichen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, der sich auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bezieht, mit dem sachlich-gegenständlichen Schutzumfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis gleich.122 Staatliche Gesetzgebung in diesem Bereich habe sich an der vorbehaltlosen Grundrechtsgewährleistung messen zu lassen.123 Insbesondere Kempen stuft staatliche Arbeitnehmerschutzgesetzgebung als einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ein.124 Dieser sei nur durch kollidierendes Verfassungsrecht zu rechtfertigen.125 Für zweiseitig zwingende Regelungen fordert Kempen sogar das Vorliegen einer grundrechtlichen Schutzpflicht, die der Gesetzgeber mit seiner Regelung erfüllt.126 Ähnlich geht Wolff127 vor. Er unterscheidet im Anschluss an Däubler128 strukturgestaltende und sachentscheidende gesetzliche Regelungen.129 Staatliche Arbeitnehmerschutzgesetze als sachentscheidende Normen könnten Wolff zufolge nur durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden.130 121 Dieterich, AuR 2001, 390, 391; ders., DB 2001, 2398, 2401; Gragert, Flexibilisierung von Tarifverträgen, S. 11; Kempen, Festschrift für Schaub, S. 357, 360; ders. RdA 1994, 140, 147; ders., AuR 1996, 336, 341; anders noch Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 125 ff., der staatliche Arbeitnehmerschutzgesetzgebung im Kernbereich der Koalitionsfreiheit als ausgeschlossen ansieht und den Kernbereich für jede Regelungsmaterie anhand Säckers Lehre von den Unterkernbereichen konkretisieren will (S. 128 ff.); im darüber hinaus bestehenden Konkurrenzbereich zwischen Gesetzgeber und Tarifparteien nimmt er eine abstrakte Zuständigkeitsabgrenzung vor [vgl. oben 2. Teil: § 6 C. I. 2. a)]. 122 Butzer, RdA 1994, 375, 377; Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 105 ff.; Dieterich, RdA 2002, 1, 8; ders., AuR 2001, 390; Gragert, Flexibilisierung von Tarifverträgen, S. 15; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31; Kempen, RdA 1994, 140, 147; ders., AuR 1996, 336, 340; Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 36 f.; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 88; Sodan, JZ 1998, 421, 423 ff.; P. Wolff, Kollision tarifvertraglicher Normsetzung und Gesetzgebung, S. 70 f. 123 Butzer, RdA 1994, 375, 379; Kempen, RdA 1994, 140, 147; ders., AuR 1996, 336, 340, 342; ders., Festschrift für Schaub, S. 357, 361; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 88; P. Wolff, Kollision tarifvertraglicher Normsetzung und Gesetzgebung, S. 78 ff. 124 Kempen, RdA 1994, 140, 147; ders., AuR 1996, 336, 342. 125 Kempen, RdA 1994, 140, 147; ders., AuR 1996, 336, 342; ders., Festschrift für Schaub, S. 357, 361. 126 Kempen, AuR 1996, 336, 341; ders., Festschrift für Schaub, S. 357, 362. 127 Kollision tarifvertraglicher Normsetzung und Gesetzgebung, S. 73 ff. 128 Grundrecht auf Mitbestimmung, S. 211 ff., 213 ff., der allerdings an die Differenzierung andere Rechtsfolgen knüpft. 129 P. Wolff, Kollision tarifvertraglicher Normsetzung und Gesetzgebung, S. 74 ff.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
Diese letzte Konsequenz wollen Wank131 und Kamanabrou132 hingegen nicht ziehen. Sie plädieren für eine Ergänzung des Art. 9 Abs. 3 GG um einen ungeschriebenen einfachen Gesetzesvorbehalt, um die auf Schutzbereichsebene erzielte Weite der Garantie wieder zu kompensieren.133 Ähnlich argumentieren Löwisch und Rieble,134 die jedoch den sachlich-gegenständlichen Schutzumfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis aus Art. 9 Abs. 3 GG nur auf solche Gegenstände ausdehnen wollen, bei denen ausschließlich Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen berührt sind.135 Auch Zöllner beschränkt die tarifvertragliche Regelungsbefugnis nur auf einen Ausschnitt des von dem Grundrechtstatbestand eröffneten Bereichs.136 Er will beschäftigungspolitische Bestimmungen aus der verfassungsrechtlichen Garantie der tariflichen Normsetzungsmacht ausnehmen.137 Die soeben beschriebenen Ansichten, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Ausgestaltung des Art. 9 Abs. 3 GG in Form eines einfachgesetzlichen Tarifvertragssystems und die sachlich-gegenständliche Reichweite des Schutzes der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis im Rahmen der Garantie der Koalitionsfreiheit losgelöst voneinander behandeln. Es wird dabei nicht deutlich, in welcher Beziehung das Begriffspaar der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen und das einfachgesetzlich geregelte Tarifvertragssystem zueinander stehen und ob sich die Ausgestaltungsbedürftigkeit der Koalitionsbetätigungsgarantie auf die sachlich-gegenständliche Weite der Befugnis zur Tarifnormsetzung auswirkt. Die aus diesem Zusammenhang resultierenden Schwierigkeiten für die Abgrenzung zwischen ausgestaltenden gesetzlichen Regelungen und Eingriffen in die Tarifautonomie haben einzelne Autoren zum Anlass genommen, die Trennung zwischen diesen beiden grundrechtsdogmatischen Kategorien aufzugeben und für Beeinträchtigungen der Koalitionsfreiheit einheitliche Zulässigkeitsmaßstäbe aufzustellen. Henssler hält eine Abgrenzung zwischen Eingriff und Ausgestaltung für unmöglich.138 Stattdessen entwickelt er abgestufte Schutzbereiche der Sekundärgarantien des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, die über die Koalitionsbildungsfreiheit hinausgehen. Neben einem unantastbaren Wesensgehalt identifiziert er einen zentralen, nur durch kollidierendes Verfassungsrecht begrenzbaren Tätigkeitsbereich und eine dritte Zone unmittelbarer Koalitionszweckverwirklichung, die unter Wahrung des P. Wolff, Kollision tarifvertraglicher Normsetzung und Gesetzgebung, S. 78 ff. Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG. 132 RdA 1997, 22, 32 ff. 133 Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 33. 134 Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 246 Rn. 56 ff.; Löwisch, ZIP 2001, 1565, 1566. 135 Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 246 Rn. 59. 136 Zöllner, DB 1989, 2121, 2122; für eine sachlich-gegenständliche Beschränkung der verfassungsrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis auch Rieble, ZTR 1993, 54, 55. 137 Zöllner, DB 1989, 2121, 2122; so auch Rieble, ZTR 1993, 54, 56 f. 138 Henssler, ZfA 1998, 1, 11. 130 131
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Verhältnismäßigkeitsprinzips durch jede das Gemeinwohl verfolgende Regelung eingeschränkt werden dürfe.139 Die Tarifautonomie sei schrankenrechtlich in allen drei Garantiebereichen angesiedelt.140 Dem Gesetzgeber stehe die Gestaltung des Organisationsbereiches der Koalitionen und ihres Verhältnisses zueinander in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit offen.141 Bei der Regelung materieller Arbeitsbedingungen bewege sich die Festlegung originärer Lohnfragen auf der obersten Eingriffsstufe, auf der gesetzliche Bestimmungen nur bei einem Versagen der Tarifvertragsparteien trotz konkreter und schwerer Gefährdung von Gemeinschaftsgütern mit Verfassungsrang vorübergehend möglich sind.142 Üblicherweise tariflich geregelte Arbeitsbedingungen könnten zum Schutze von Rechtsgütern Dritter und wichtigen Gemeinwohlinteressen gesetzlich geordnet werden.143 Hinsichtlich üblicherweise nicht tariflich geregelter Materien, sei eine gesetzliche Regelung bereits bei dem Vorliegen eines sachlichen Grundes im Sinne einer vernünftigen Gemeinwohlerwägung gerechtfertigt.144 In ähnlicher Weise geht Schwarze von der Erkenntnis aus, dass auch ausgestaltende legislative Maßnahmen nicht freiheitsindifferent seien.145 Eine Abgrenzung zwischen beiden habe dies zu berücksichtigen und sei daher nur aufgrund gradueller Unterschiede zwischen Eingriff und Ausgestaltung, nicht jedoch strukturell vorzunehmen.146 Auf dem Boden der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik befassen sich nur Kemper und Friese ausführlich mit dem ansonsten im Schrifttum vernachlässigten Zusammenhang zwischen dem einfachgesetzlich geschaffenen Tarifvertragssystem und dem sachlich-gegenständlichen Umfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis. Kemper identifiziert die Tarifautonomie als Einrichtungsgarantie und unterstellt sie einem lediglich wesensmäßigen Schutz.147 Das Wesen der Tarifautonomie erkennt er im tariflichen Einigungsprozess, der ungestört von staatlicher Aushöhlung stattzufinden habe.148 Eine Bestimmung des Schutzumfanges kann nach Kemper nicht anhand einzelner Regelungsgegenstände erfolgen, sondern nur vom Eingriff her. Ein solcher liege vor, wenn der gesamte den Tarifvertragsparteien noch zur Verfügung stehende Verhandlungsspielraum so durch gesetzliche Arbeitsrechtsvorschriften eingeengt werde, dass er seine Funktion, für ein ausgeglichenes Verhandlungsgleichgewicht zu sorgen, nicht mehr erfüllen könne.149 Kemper be139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149
Henssler, ZfA 1998, 1, 12. Henssler, ZfA 1998, 1, 14. Henssler, ZfA 1998, 1, 15 ff. Henssler, ZfA 1998, 1, 33. Henssler, ZfA 1998, 1, 34. Henssler, ZfA 1998, 1, 34 f. Schwarze, JuS 1994, 653, 658. Schwarze, JuS 1994, 653, 658. Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 120 ff. Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 118, 121. Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 121.
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zieht also den aus dem Institutscharakter der Tarifautonomie folgenden Wesensschutz auch auf den sachlich-gegenständlichen Umfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis. Er spaltet die Frage nach dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Umfang der den Tarifvertragsparteien verliehenen Kompetenz nicht von der verfassungsrechtlich gebotenen Übertragung derselben durch einfaches Gesetz ab. Ähnlich geht Friese vor, indem sie im Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG natürliche Betätigungen, bei deren Ausübung die Tarifvertragsparteien ihre Freiheit am besten unter staatlicher Abwesenheit verwirklichen können, und ausgestaltungsbedürftige Betätigungen identifiziert, für deren Wahrnehmung die Koalitionen staatlicher Mitwirkung, insbesondere der Bereitstellung einfachgesetzlicher Normen bedürften.150 Im Gegensatz zu Kemper stützt sie die staatliche Schaffung derartiger ergänzender Normenkomplexe nicht auf deren Schutz im Rahmen einer Institutsgarantie, sondern leitet aus der objektiven Schutzkomponente der Grundrechte eine Ausgestaltungspflicht des Staates ab. Aufgrund dieser sei der Gesetzgeber verpflichtet, zumindest derartige gesetzliche Vorschriften bereit zu stellen, die zu einer sinnvollen Grundrechtsverwirklichung erforderlich sind.151 Nach Friese habe der Gesetzgeber daher in instrumenteller aber auch in sachlich-gegenständlicher Hinsicht lediglich ein funktionsfähiges Tarifvertragssystem zu errichten. Dieses sei aufgrund der Entwicklungsoffenheit des Grundrechts der Koalitionsfreiheit nicht dadurch inhaltlich zu konkretisieren, dass der Schutzbereich einen Kanon von Regelungsgegenständen erfasst. Vielmehr sei der Schutzumfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis in sachlich-gegenständlicher Hinsicht nur funktionell bestimmbar.152 Das Grundrecht beinhalte die tarifvertragliche Regelungsbefugnis sachlich-gegenständlich insoweit, als die sinnvolle Verwirklichung des Koalitionszwecks einen ungestörten Verhandlungsprozess erfordere, der erst dann nicht mehr gewährleistet sei, wenn staatliche Regelungen der Arbeitsbedingungen so zahlreich werden, dass die Verhandlungspositionen der Tarifvertragsparteien nicht mehr von einem gegenseitigen Machtausgleich gekennzeichnet sind.153 Gegen eine gegenständliche Garantie der Tarifautonomie wendet sich auch Wiedemann,154 der wie Friese ein funktionales Verständnis der Gewährleistung der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis bevorzugt. Allerdings lehnt er lediglich eine Tabuzone für den staatlichen Gesetzgeber ab, in der dieser nicht mit den Tarifvertragsparteien in Konkurrenz treten darf.155 Einseitig zwingende ArbeitnehmerFriese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 209 ff., 214. Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 218 ff., 221; der Maßstab wurde aufgegriffen von Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 128 ff. 152 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 255. 153 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 256 f. 154 In: ders., TVG, Einl. Rn. 395; ebenso ders., Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 691: die Normsetzung der Tarifvertragsparteien dürfe durch staatliche Regelungen nicht ausgehöhlt oder erdrosselt werden. 150 151
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schutzgesetze stuft er jedoch als Eingriffe in den Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ein und unterwirft den staatlichen Gesetzgeber insoweit einem Rechtfertigungszwang.156 Einen ähnlichen Standpunkt nimmt auch Badura ein, der zwar von einer Einrichtungsgarantie ausgeht,157 allerdings zugunsten der Tarifautonomie in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG einen unmittelbaren abwehrrechtlichen Schutz gegen staatliche Gesetzgebung im Tätigkeitsbereich der Tarifautonomie erblickt.158 Er will den Schutzbereich der Tarifautonomie durch die Garantie der Koalitionsfreiheit so weit ziehen, wie die auf der Gleichgewichtigkeit der Tarifvertragsparteien beruhende Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags reicht.159 3. Zusammenfassung Die Rechtsprechung entnimmt Art. 9 Abs. 3 GG, dass dieser in einem gewissen Umfang die Tarifautonomie schützt, wenn auch die dogmatische Grundlage und die exakten Grenzen dieses Schutzes noch nicht abschließend geklärt sind. Insbesondere garantiert das Grundrecht nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts den Koalitionen das Recht, die Löhne und nach Maßgabe von Herkommen und Üblichkeit auch andere Arbeitsbedingungen sowie darauf bezogene Leistungen und Einrichtungen unabhängig von staatlichem Einfluss in eigener Verantwortung zu regeln. Darüber hinaus bedarf die Koalitionsfreiheit der einfachgesetzlichen Ausgestaltung, bei der der Gesetzgeber die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie zu beachten hat. Das Bild im Schrifttum ergibt eine weite Bandbreite unterschiedlicher grundrechtsdogmatischer Modelle. Sie variieren von einem auf das Wesen beschränkten institutionellen Schutz der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis bis hin zu einer umfassenden schrankenlosen Gewährleistung der tariflichen Normsetzung für alle Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. In diesem letzten Fall ist der nach dem Grundrechtswortlaut maximal mögliche Umfang erreicht.
II. Keine Beschränkung des Grundrechtsschutzes für die koalitionsmäßige Betätigung auf unerlässliche Betätigungsformen Darüber, dass die Garantie der Koalitionsbildung eine leere Hülse wäre, wenn den frei gebildeten Vereinigungen nicht auch ihre spezifische Betätigung durch die 155 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 395 und 141; ders., Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 690. 156 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133, 136. 157 Badura, Staatsrecht, C 98 S. 237. 158 Badura, Staatsrecht, C 100 S. 242. 159 Badura, Staatsrecht, C 100 S. 243, allerdings finden sich bei ihm keine Ausführungen zur Konkretisierung dieses Maßstabs.
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Verfassung gewährleistet wird, besteht derzeit in den Stellungnahmen zur Koalitionsfreiheit kein Streit. Der nach dem Wortlaut vorbehaltlosen Garantie der Koalitionsfreiheit in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG steht allerdings eine reiche Vielfalt an möglichen koalitionsmäßigen Betätigungsformen gegenüber. Zudem garantiert das Grundrecht ausdrücklich nur die Bildung von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Dies hat Anlass zu Bestrebungen gegeben, die Betätigungsgarantie zugunsten der Koalitionen von vornherein zu beschränken. Die Rechtsprechung hat von ihrem Versuch, die Gewährleistung koalitionsmäßiger Verhaltensweisen in Gestalt der Kernbereichslehre auf ein für den Koalitionsbestand unerlässliches Maß einzuengen, mittlerweile Abstand genommen. Dennoch erhebt sich die Frage, ob sich durch die Ableitung der Betätigungsfreiheit aus der Bestandsgarantie und der damit nur mittelbaren Gewährleistung eine immanente Beschränkung des grundrechtlichen Schutzes für koalitionsgemäße Betätigungen im Allgemeinen und die tarifvertragliche Regelungsbefugnis im Besonderen ergibt. Tatsächlich erfolgt die Einbeziehung der koalitionsspezifischen Betätigungen in den grundrechtlichen Schutzbereich nicht vollkommen ohne Anknüpfung an den Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 GG. Dieser erwähnt die besondere Funktion der Koalitionen, die in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besteht, weist so auf die Betätigung der Koalitionen hin und bezieht sie dadurch in den Schutz der Verfassungsgarantie ein.160 Die grundrechtliche Zweckbestimmung für die Koalitionen bildet dabei in Form des Begriffspaars der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen die Grundlage, aber auch die Grenze des Betätigungsschutzes der Koalitionen, so dass jedenfalls nur solche Verhaltensweisen geschützt sind, die der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dienen.161 Aus dem Wortlaut folgt hingegen nicht zwingend, dass die Betätigungsgarantie nur solche Aktivitäten der Koalitionen schützt, die für die Erreichung des Koalitionszwecks unerlässlich sind.162 Richtig ist, dass zwischen dem 160 BVerfG vom 26. 6. 1991, BVerfGE 84, 212, 224; kritisch Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 298, auch Art. 159 WRV habe die Zwecksetzung der Koalitionen enthalten, ohne dass ein Betätigungsschutz anerkannt worden sei. 161 Vgl. BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 283; vom 24. 2. 1999, BVerfGE 100, 214, 221; vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 282; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304; Butzer, RdA 1994, 375, 377; Badura, Staatsrecht, C 99, S. 240; ders., ArbRGgw. Bd. 15 (1977), 17, 27; Bruhn, Tariffähigkeit, S. 77; Caspar, Stellung der Gewerkschaften, S. 73; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 109; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 226; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 54, 69; Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen, S. 35; Sodan, JZ 1998, 421, 422; anders Kemper, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 9 Abs. 3 Rn. 201 ff., der den Betätigungsschutz darauf beschränken will, was für die Erreichung des Koalitionszwecks unerlässlich ist, allerdings findet sich bei ihm ein falsches Verständnis der BVerfG-Rechtsprechung. Diese ging von der Unerlässlichkeit für Sicherung und Erhalt des Bestandes der Koalitionen, nicht von Unerlässlichkeit für die Zweckerreichung aus. 162 Herschel, AuR 1981, 265, 267; so aber Kemper, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 9 Abs. 3 Rn. 201, 204.
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ausdrücklich im Wortlaut verankerten Koalitionszweck und den für seine Erreichung vorgenommenen Betätigungen unterschieden werden muss.163 Allerdings ist auf der Grundlage des Wortlauts von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ebenfalls denkbar, alle Betätigungsformen in den grundrechtlichen Schutz einzubeziehen, die zur Erreichung des Koalitionszwecks geeignet sind. Diese lassen sich durchaus auch objektiv eingrenzen. So besteht nicht die Gefahr, den Schutzbereich dadurch ins Unermessliche auszudehnen, dass es allein von der subjektiven Zweckbestimmung der Koalitionen abhinge, ob eine Maßnahme zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bestimmt ist.164 Das Bundesverfassungsgericht betont in seiner Rechtsprechung, dass bei der Anwendung des Art. 9 Abs. 3 GG dessen historische Entwicklung maßgeblich zu berücksichtigen sei.165 Bereits die Mitglieder des Parlamentarischen Rates gingen jedoch davon aus, dass die Betätigungen der Koalitionen in die verfassungsrechtliche Garantie einzubeziehen sind. Auf die geplante ausdrückliche Verankerung des Streikrechts im Grundrechtstatbestand verzichtete man im Parlamentarischen Rat nur, um den Verfassungstext nicht unnötig mit kasuistischen Regelungen anzufüllen.166 Da sich der Parlamentarische Rat allerdings nur mit dem Streik ausführlich befasst und auch nur im Hinblick auf diesen einen einfachen Gesetzesvorbehalt erwogen hat,167 können aus diesen Diskussionen keine Rückschlüsse auf die Betätigungsgarantie im Allgemeinen gezogen werden. Vielmehr spricht dieser Umstand dafür, dass die allgemeine Betätigungsfreiheit umfassend gewährleistet sein sollte. Die Übertragung von Rechtsprechungsgrundsätzen, die zu den Vorgängerregelungen des Art. 9 Abs. 3 GG in der Weimarer Reichsverfassung (Art. 159 und Art. 165 Abs. 1 WRV) ergangen sind, ist schon wegen der grundlegenden dogmatischen Unterschiede zwischen den Freiheitsgewährleistungen in der Weimarer Republik und dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes nicht möglich.168 Zu163 Grundlegend Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 260 f., 297 ff.; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 32. 164 Kemper, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 9 Abs. 3 Rn. 200, geht von einer rein subjektiven Zweckbestimmung bestimmter Betätigungen durch die Koalitionen aus, was seiner Ansicht nach zu einem uferlosen Schutzbereich führen würde. 165 BVerfG vom 18. 11. 1954, BVerfGE 4, 96, 106, 107 f.; vom 30. 11. 1965, BVerfGE 19, 303, 314; vom 19. 2. 1975, BVerfGE 38, 386, 394; vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 347 f.; vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 367; ebenso Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 55 f.; im Ergebnis zustimmend Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 296, allerdings gegen die Begründung des Bundesverfassungsgerichts, Art. 9 Abs. 3 GG sei kein klassisches Grundrecht. 166 Parlamentarischer Rat, Stenographische Berichte der Verhandlungen des Hauptausschusses 1948 / 49, S. 215. 167 Parlamentarischer Rat, Stenographische Berichte der Verhandlungen des Hauptausschusses 1948 / 49, S. 213 ff.; vgl. auch von Doemming / Füsslein / Matz, JöR 1 (1951), S. 118; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 294. 168 C. Schmitt, Freiheitsrechte, in: ders., Aufsätze, S. 140, 143 ff.; ders., Verfassungslehre, S. 170; vgl. auch Stern, Staatsrecht III / 1, § 68 S. 758.
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dem existierte in der damaligen Zeit im Hinblick auf die Schutzintensität der koalitionsmäßigen Betätigungen kein abschließendes dogmatisches Konzept,169 so dass auch dieser Aspekt einer unbesehenen Anwendung der restriktiven Rechtsprechung zu Art. 159 und Art. 165 Abs. 1 WRV auf die aktuelle Garantie der Koalitionsfreiheit entgegensteht. Das hauptsächlich für die Begründung eines nur eingeschränkten Schutzes der Koalitionsbetätigungsfreiheit herangezogene Argument, die Koalitionsbetätigungsfreiheit habe gegenüber der Koalitionsbildungsfreiheit lediglich dienenden Charakter, sei nur das Mittel um die Effektivität der Bildungsgarantie zu gewährleisten,170 scheint auf den ersten Blick tragend für eine wie auch immer vorgenommene Einschränkung des umfassenden Schutzes der Koalitionsfreiheit im Hinblick auf die koalitionsmäßige Betätigung zu sein. Tatsächlich unterscheidet sich Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG durch die in seinem Text formulierte Zweckbindung von den umfassend formulierten klassischen Grundrechten.171 Dennoch weist das in der zugrunde liegenden Entwicklung deutlich werdende Verhältnis zwischen Arbeitnehmervereinigungen und Staat durchaus Züge eines klassischen Freiheitsrechtskonflikts auf.172 Durch die sich im 19. Jahrhundert entwickelnde Industriearbeit verschlechterten sich die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer aufgrund der voranschreitenden Technisierung erheblich.173 Erschwerend kam hinzu, dass durch das zu dieser Zeit herrschende Überangebot an Arbeitskräften auf Seiten der Arbeitgeber keine Anreize zu einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen bestanden. Die Arbeitnehmerschaft sah als einzigen Ausweg aus dieser Situation die gemeinschaftliche Verfolgung ihrer Interessen. Ausgehend von dieser Situation entstanden unter den Handwerksgesellen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erste Zusammenschlüsse.174 Im Zuge der Revolution von 1848 kamen mit dem Buchdruckerverein 169 Vgl. die voneinander abweichenden Entscheidungen des RG vom 2. 7. 1925, RGZ 111, 199, 202 und vom 11. 2. 1926, RGZ 113, 33, 36 f. 170 Daran anknüpfend Henssler, ZfA 1998, 1, 12, mit seinem abgestuften Schutzbereich; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 133, mit seiner Unterscheidung eines unmittelbaren und eines mittelbaren Schutzbereichs; Säcker, Grundprobleme der kollektiven Koalitionsfreiheit, S. 45 f., mit der Bildung von Unterkernbereichen; Friauf, RdA 1986, 188, 190, und Kamanabrou, RdA 1997, 22, 32 f., mit den unterschiedlichen Schranken hinsichtlich der Koalitionsbildungs- und Betätigungsfreiheit; kritisch Oetker, ZG 1998, 155, 161; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 110. 171 BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 366; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 210; Gröbing, AuR 1986, 297, 298; Sodan, JZ 1998, 421, 422. 172 BVerfG vom 26. 6. 1991, BVerfGE 84, 212, 224; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 212; Kemper, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 9 Abs. 3 Rn. 167; vgl. auch Kittner, in: AK-GG, Art. 9 Abs. 3 Rn. 5 ff. 173 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 86; M. Schneider, Geschichte der Gewerkschaften, S. 22. 174 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 98; M. Schneider, Geschichte der Gewerkschaften, S. 24 f.
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und dem Verein der Zigarettenarbeiter weitere Arbeitnehmervereinigungen hinzu.175 Von staatlicher Seite reagierte man restriktiv auf die Kollektivierung der Arbeitnehmerseite. Zwar wurden Schutzgesetze zugunsten der Arbeitnehmerschaft erlassen,176 allerdings waren diese abgesehen von sozialen Fürsorgegedanken entscheidend militärisch motiviert und sollten darüber hinaus maßgeblich dazu dienen, die Arbeitnehmerschaft mit der bestehenden Ordnung auszusöhnen und dadurch den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie zu entfremden.177 Historisch bedingt,178 verbot der Staat Arbeitnehmerzusammenschlüsse, vor allem aber Arbeitskämpfe strikt.179 Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lockerte er diese Verbote bzw. hob sie auf. So konnte sich eine Gewerkschaftsbewegung entwickeln. Diese kollektivierte Selbsthilfe der Arbeitnehmer fand schließlich, wenn auch nicht durch die Einsicht in die effizientere Wirkungsweise der Selbstregulierung bedingt,180 in Gestalt der Art. 159 und 165 WRV Eingang in den Grundrechtskatalog der Weimarer Reichsverfassung. Unabhängig von der zugrunde liegenden Motivation bedeutete diese Aufnahme in den Kreis der klassischen liberalen Grundrechte, dass die Verfassung den Koalitionen eine Freiheitssphäre ohne staatliche Einflussnahme und Beeinträchtigung zuerkannte. Gerade auch vor dem Hintergrund des Verbots der Gewerkschaften durch das Arbeitsordnungsgesetz aus dem Jahre 1933181 bestätigt die Aufnahme in den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes die Anerkennung der Koalitionsfreiheit als liberale Freiheitsgarantie gegenüber staatlicher Repression. Insofern unterscheidet sich die Koalitionsfreiheit nicht von Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 91. So das Preußische Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken vom 9. 3. 1839, Pr. Ges.-Slg. 1839, S. 156 (abgedruckt bei Huber, Dokumente I, S. 79 f.), das die Gesundheit der potentiellen Rekruten im Blick hatte (vgl. dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 88; M. Schneider, Geschichte der Gewerkschaften, S. 23, sowie Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 27 f), sowie die Preußische Gewerbeordnung vom 17. 1. 1845 (Pr. Ges.-Slg. 1845, S. 41), nach der die Bildung von Vereinigungen auf Seiten der Arbeitnehmerschaft verboten und unter Strafe gestellt waren (abgedruckt bei Huber, Dokumente II, S. 311, Fn. 21). 177 Vgl. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 129. 178 Die Zusammenschlüsse der arbeitenden Bevölkerung wurden vielfach als Konspiration oder Verschwörung gewertet, vgl. dazu Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 81. Bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich daher Verbote von Zusammenschlüssen der Gesellen, wie das Koalitionsverbot unter Maria Theresia aus dem Jahre 1738, ausführlich Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 81 ff. 179 Vgl. Preußische Gewerbeordnung vom 17. 1. 1845 (Pr. Ges.-Slg. 1845, S. 41, abgedruckt bei Huber, Dokumente II, S. 311, Fn. 21); nach dem Scheitern der Revolution von 1848 wurden die Koalitionsverbote wieder eingeführt, z. B. durch das Preußische Vereinsgesetz von 1850 (M. Schneider, Geschichte der Gewerkschaften, S. 32). 180 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 212; Nörr, ZfA 1992, 361, 366, der davon ausgeht, dass die Erweiterung des Grundrechtskatalogs in der Weimarer Reichsverfassung nur durch die Vergrößerung der die Staatsgewalt tragenden Bevölkerungsteile bewirkt wurde. 181 Vgl. dazu Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 133 ff. 175 176
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den liberalen Freiheitsrechten und teilt die ihnen eigene umfassende Freiheitsschutzfunktion in Abgrenzung zur staatlichen Aktivität.182 Mit dieser Einordnung ist aber nur eine umfassende Freiheitsgewähr zu vereinbaren, wie sie auch den übrigen Freiheitsrechten zukommt. Den Grundrechtsschutz in einem Bereich von vornherein zu begrenzen, der den Koalitionen in Abwesenheit des Staates faktisch zur Verfügung steht, hieße diesen historischen Anerkennungsprozess zu unterlaufen.183 Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG garantiert den Koalitionen daher grundsätzlich neben der Gewährleistung freier Bildung und dem Bestand der Vereinigungen die staatlicherseits unbeeinflusste Ausübung ihrer koalitionsspezifischen Betätigungen. Die ihnen so durch Art. 9 Abs. 3 GG eingeräumte Autonomie bezieht sich maßgeblich auf die Gestaltung des Verbandslebens. Der umfassende Freiheitsraum eröffnet den Koalitionen aber ebenfalls die freie Wahl der Mittel, mit denen sie die ihnen durch das Grundgesetz zugewiesene Aufgabe der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erreichen wollen.184 Gleichzeitig folgt aus dem umfassenden abwehrrechtlichen Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG, dass sich die Gewährleistung in erster Linie auf Betätigungsformen bezieht, die sich gerade in staatlicher Abwesenheit am besten verwirklichen lassen.185 Die Reichweite der verfassungsrechtlichen Garantie hinsichtlich solcher Verhaltensweisen, die die Ausstattung mit einer gesonderten einfachgesetzlich zugewiesenen Kompetenz erfordern, kann nicht von vornherein mit dem Umfang der umfassenden abwehrrechtlichen Schutzkomponente der Koalitionsbetätigungsgarantie, also dem gesamten Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, gleichgesetzt werden. Dies gilt insbesondere für die Schaffung unmittelbar und zwingend wirkender Gesamtvereinbarungen.186 Die Koalitionen sind hier von einer Mitwirkung des Staates bei der Grundrechtsverwirklichung abhängig. Art. 1 Abs. 3 GG bewirkt zwar, dass auch in diesem Bereich der grundrechtliche Schutz nicht vollständig einer staatlichen Inhaltsbestimmung anheim gegeben ist. Der Charakter des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG als auch in kollektivrechtlicher Hinsicht liberaler Freiheitsgarantie 187 bedingt jedoch, dass die umfassende Gewährleistung ei182 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 212; Lübbe-Wolff, DB 1988, Beilage Nr. 9, S. 1, 3. 183 Caspar, Stellung der Gewerkschaften, S. 72; Gröbing, AuR 1986, 297, 298; mit leicht anderem Akzent Herschel, AuR 1981, 265, 267, der einen Widerspruch zwischen der Reduzierung des Betätigungsschutzes und sozialem Rechtsstaat feststellt; Heimes, Anm. zu BVerfG vom 14. 11. 1995, MDR 1996, 562, 564; ebenso aber ohne historische Begründung Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung , S 111. 184 So bereits BVerfG vom 26. 6. 1991, BVerfGE 84, 212, 224; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 109; Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 297. 185 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 213; Höfling, Anm. zu BVerfG vom 27. 4. 1999, in: JZ 2000, 44; ders., Festschrift für Friauf, S. 377, 384; Schwarze, JuS 1994, 653, 656. 186 Höfling, Festschrift für Friauf, S. 377, 384. 187 BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 367.
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nes von staatlichem Einfluss unbeeinträchtigten Freiheitsraumes nur für natürliche, den Koalitionen faktisch mögliche Betätigungsformen gilt.188 Der Schutzumfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis lässt sich hingengen nicht allein dadurch abschließend bestimmen, dass Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG eine umfassende Freiheitsgarantie enthält, deren Schutzgehalt im Hinblick auf die Koalitionsbetätigung nicht von vornherein auf das Maß des Unerlässlichen beschränkt ist. Vielmehr sind dazu weiterführende Betrachtungen zu dem Verhältnis zwischen Grundrechtsgarantie und der staatlichen Mitwirkung bei ihrer Verwirklichung erforderlich. III. Bedeutung der gesetzlichen Ausgestaltung im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist grundsätzlich ein liberales Freiheitsrecht, bei dem die Abwehrfunktion gegenüber staatlicher Intervention ebenso im Vordergrund steht, wie bei den anderen Grundrechten des ersten Abschnitts des Grundgesetzes. Neben Handlungsformen, welche die Koalitionen gerade in Abwesenheit vom Staat am besten verwirklichen können, treten im Schutzbereich der kollektiven Koalitionsfreiheit ausgestaltungsbedürftige Betätigungen, deren Wahrnehmung ohne die Bereitstellung normativer Vorgaben nicht sinnvoll möglich ist.189 Insbesondere im Hinblick auf die Gewährleistung der Tarifautonomie stellt sich die Frage, ob und wie sich die Ausgestaltungsbedürftigkeit des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG auf den Schutzumfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis auswirkt. 1. Der durch die tarifliche Normsetzungsbefugnis veranlasste Ausgestaltungsbedarf im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG Der Abschluss von Tarifverträgen gehört zu den klassischen und zentralen Betätigungsformen der Koalitionen zur Wahrnehmung ihrer verfassungsrechtlichen Aufgabe. Er dient in erster Linie der Überwindung des im Individualarbeitsverhältnis bestehenden Verhandlungsungleichgewichts zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Damit Tarifverträge diese Voraussetzung erfüllen können, ist es erforderlich, dass sich gleichgewichtige Partner bei den Verhandlungen gegenüberstehen. In dieser Hinsicht ist die Formulierung von Voraussetzungen notwendig, die die Funktionsfähigkeit des Tarifvertrags und seines Entstehungsprozesses absichern. 188 So insbesondere unter Verwendung des Begriffs der „natürlichen“ Betätigungsformen Schwarze, Der Betriebsrat, S. 76; ders., JuS 1994, 653, 656; Höfling, Festschrift für Friauf, S. 377, 384; J. Ipsen, JZ 1997, 473, 479; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 215. 189 Schwarze, Der Betriebsrat, S. 76; zu der dadurch veranlassten Ausgestaltungspflicht des staatlichen Gesetzgebers im Allgemeinen Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 180 ff., 184; aus dem neueren Schrifttum Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, S. 247 ff.
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Dies erfordert vom Gesetzgeber die Aufstellung von gesetzlichen Bedingungen für die Teilnahme am tariflichen Verfahren.190 Darüber hinaus sieht sich der Tarifvertrag als Verhandlungsergebnis des tariflichen Einigungsprozesses bei seiner Durchsetzung verschiedenen Gefahren ausgesetzt. Zum einen ist die zwischen den Verbänden zustande gekommene Gesamtvereinbarung als Vertragswerk grundsätzlich nur zwischen den Parteien bindend, die sie abgeschlossen haben. Sie erfordert zu ihrer Effektivität im Hinblick auf die Erfüllung des Koalitionszwecks demnach eine rechtliche Konstruktion, die sicherstellt, dass die Gesamtvereinbarung ihre Schutzwirkung auch im Individualarbeitsverhältnis entfalten kann. Zum anderen besteht für Tarifverträge die Gefahr, dass abweichende vertragliche Vereinbarungen zwischen den Arbeitsvertragsparteien ihre Schutzwirkung konterkarieren. In dieser Hinsicht ist der Gesetzgeber angehalten, die kollektiven Verhandlungsergebnisse gegen einzelvertragliche Unterwanderung abzusichern.191 Weiterhin ist die Interessenwahrnehmung durch die Koalitionen von vornherein auf die Austragung eines Interessenkonflikts angelegt. Beide Kontrahenten dieses Konflikts sind gleichermaßen Träger des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG.192 In diesem Rahmen benötigen die Koalitionen trotz des Konfliktpotentials die Mitwirkung des sozialen Gegenspielers und Dritter. Ohne einfachgesetzliche Normen sind derartige Beziehungen zwischen den von der Grundrechtsnorm betroffenen Kontrahenten nicht handhabbar.193 Im Falle der Koalitionsfreiheit kommt erschwerend die erhebliche Ungenauigkeit des Tatbestandes des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG hinzu. Unmittelbar aus dem Wortlaut lassen sich keine Einzelheiten für die Bestimmung des Schutzbereichs bzw. die Maßstäbe für das Verhältnis zwischen den an dem Interessengegensatz beteiligten Kräften ableiten. Darüber hinaus zeitigt die Betätigung der Koalitionen im Rahmen der Tarifautonomie erhebliche Auswirkungen auf das Wirtschafts- und Sozialsystem. Zum einen können Tarifauseinandersetzungen empfindliche Folgen für die betroffenen Kampfparteien und für die Allgemeinheit nach sich ziehen.194 Zum anderen be190 Vgl. Badura, Staatsrecht, C 98 S. 238; Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 127; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 303. 191 Höfling, Festschrift für Friauf, S. 377, 385, spricht von einer rechtsgestaltenden Wirkung, für deren Wahrnehmung die Koalitionen auf normative Ausgestaltung angewiesen sind. 192 Butzer, RdA 1994, 375, 379; Friauf, RdA 1986, 188, 189; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 216. 193 Butzer, RdA 1994, 375, 379; Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 126; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 216, 218; Höfling, Festschrift für Friauf, S. 377, 386; Jarass, in: ders. / Pieroth, GG, Art. 9 Rn. 35; allgemein zur Funktion der gesetzlichen Ausgestaltung als Abgrenzung und Gewichtung zwischen konkurrierenden Grundrechtsgarantien Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 185. 194 Auch Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 183, geht von einem umso stärkeren Ausgestaltungsbedürfnis der Grundrechte aus, je intensiver deren „Sozialbezug“ ist.
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rührt die koalitionsmäßige Betätigung zahlreiche Belange des gesellschaftlichen Lebens und ist damit in komplexe Zusammenhänge des Gemeinwesens einbezogen, die sich mitunter dem Einfluss der Koalitionen selbst entziehen.195 Schließlich ist die Koalitionsfreiheit auf das Wirtschaftsleben und das Sozialsystem und damit einem äußerst wandelbaren Gegenstand bezogen, der es erfordert, dass die Bedingungen der Grundrechtsausübung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung angepasst werden können.196 Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit wird daher auch verbreitet als entwicklungsoffen bezeichnet.197 Unter allen diesen Aspekten fordert die effektive Grundrechtswahrnehmung durch die Koalitionen, vor allem in ihrer besonderen Rolle als Tarifvertragsparteien, ein regelndes Tätigwerden des staatlichen Gesetzgebers. Ob dieser zu einer Mitwirkung bei der Grundrechtsverwirklichung angehalten werden kann und in welchem Maße er dabei verpflichtet ist, beantwortet sich aus dem Gewährleistungsgehalt des Grundrechts der Koalitionsfreiheit. 2. Verfassungsrechtliche Vorgaben für die gesetzgeberische Ausgestaltung Ein gesetzgeberisches Tätigwerden im Wirkungsbereich der Grundrechte kann sich nicht frei von einer verfassungsrechtlichen Bindung vollziehen.198 Dies ergibt sich bereits aus Art. 1 Abs. 3 GG. Die vollständige Einbeziehung aller ergänzenden einfachgesetzlichen Vorschriften in den grundrechtlichen Schutzbereich würde allerdings zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass der Gesetzgeber eine einmal geschaffene einfachgesetzliche Regelung unabhängig von deren Bedeutung für die Grundrechtsausübung nur unter erschwerten Bedingungen ändern bzw. abschaffen kann. Ein solches Ergebnis widerspricht offensichtlich der grundgesetzlichen Konzeption. Ebenso wenig kann jedoch die Entscheidung über die Schaffung einfachgesetzlicher Komplementärnormen vollständig zur Disposition des Gesetzgebers stehen. Denn dann hätte es dieser in der Hand, eigenständig über den Umfang der Grundrechtsausübung zu entscheiden, obwohl die Grundrechte den Grundrechtsträgern gerade einen Freiraum gegenüber dem Staat sichern sollen. Die Intensität der staatlichen Bindung bei der Grundrechtsausgestaltung ist eng mit der verfassungsrechtlichen Grundlage der Ausgestaltungsbefugnis des Staates verknüpft, so dass Erkenntnisse über sie nicht ohne die Betrachtung der dogmatischen Basis der einfachgesetzlichen Komplementierung der Verfassungsgarantie möglich sind. 195 BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 368; vom 20. 10. 1981, BVerfGE 58, 233, 247; Butzer, RdA 1994, 375, 379; Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 167. 196 BVerfG vom 20. 10. 1981, BVerfGE 58, 233, 247; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 217. 197 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 217; Oetker, ZG 1998, 155, 166. 198 Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 182; Heimes, Anm. zu BVerfG vom 14. 11. 1995, MDR 1996, 562, 565; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 304.
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a) Begründungsmodelle für die Ausgestaltungsbefugnis bzw. -pflicht des Gesetzgebers und deren Auswirkungen Weit überwiegend wird die gesetzgeberische Ausgestaltungsbefugnis im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG mit dem Institutscharakter der Tarifautonomie begründet.199 Die Ursprünge dieser Ansicht gehen auf die unter der Geltung der Weimarer Reichsverfassung entstandene Lehre von den Einrichtungsgarantien zurück.200 Sie diente dazu, den Gesetzgeber an der Abschaffung bestimmter einfachgesetzlicher Vorschriften zu hindern und das Fehlen einer Bindung des gesetzgebenden Staates an die freiheitsrechtlichen Garantien der Weimarer Reichsverfassung zu überwinden. Im Mittelpunkt stand weniger die Konstitution neuer Aspekte grundrechtlicher Freiheit, sondern die Absicherung bereits bestehender Rechtsinstitute und Normenkomplexe. Vorwiegend diente die Figur der klassischen Einrichtungsgarantien daher der Begrenzung staatlicher Regelungsbefugnis im Wirkbereich der verfassungsrechtlichen Grundfreiheiten.201 Das Modell der Institutsgarantie ermöglicht die Begründung einer Ausgestaltungsbefugnis des Grundrechts durch den einfachen Gesetzgeber bei gleichzeitiger Einbeziehung eines bestimmten Bestandes an einfachgesetzlichen Vorschriften in den grundrechtlichen Schutzbereich.202 Der Gewährleistungsbereich hinsichtlich der einfachgesetzlichen Vorschriften beschränkt sich allerdings auf die Regelungen, die der grundrechtlichen Freiheit ihr Gepräge geben und soll diese lediglich vor einer gesetzgeberischen Aushöhlung bewahren.203 Die Schutzintensität erhöht sich, wenn aus dem grundrechtlichen Garantiegehalt eine objektivrechtliche Schutzkomponente abgeleitet wird, die neben den in erster Linie auf einen subjektivrechtlichen Schutz im Sinne einer Abwehrfunktion gegenüber staatlicher Intervention gerichteten Gewährleistungsinhalt tritt. Seinen Anfang nahm die Entwicklung objektivrechtlicher Funktionen der Grundrechte mit dem Lüth-Urteil204 des Bundesverfassungsgerichts. Insbesondere aus dem Grundrechtsschutz fließende Schutzpflichten des Staates sollen eine gesetzgeberische 199 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 94 ff.; ders, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 9 Rn. 173; F. Kirchhof, Private Normsetzung, S. 515 f.; Meik, Kernbereich der Tarifautonomie, S. 71 ff.; Otto, Festschrift für Zeuner, S. 121, 127; Rupp, JZ 1998, 919, 924; Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 680 ff. Unabhängig von Art. 9 Abs. 3 GG begründet Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 184, allgemein die Ausgestaltungsbefugnis und -pflicht mit Institutsgarantien. 200 Vgl. C. Schmitt, Freiheitsrechte, in: ders., Aufsätze, S. 140 ff.; ders., Verfassungslehre, S. 170 ff.; Wolff, Festgabe für Kahl, S. 1 ff.; wobei zwischen den privatrechtlichen Rechtsinstituten und den öffentlich-rechtlichen Institutionen zu differenzieren ist. 201 C. Schmitt, Freiheitsrechte, in: Aufsätze, S. 140, 142 f. 202 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit, S. 226; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 116. 203 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 121 f.; Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 682. 204 BVerfG vom 15. 1. 1958, BVerfGE 7, 198, 204 ff.
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Pflicht zur Bereitstellung komplementärer Normen im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG begründen. Aufgrund einer aus der kollektiven Koalitionsbetätigungsfreiheit resultierenden Schutzpflicht sei der Gesetzgeber verpflichtet, die zur Grundrechtsausübung notwendigen einfachgesetzlichen Regelungen zur Verfügung zu stellen.205 Ausgehend von der dem Staat obliegenden Verpflichtung, die Funktionsfähigkeit einer grundrechtlich garantierten Einrichtung auch gegen Beeinträchtigungen von dritter Seite abzusichern, leiten einzelne Autoren eine staatliche Pflicht zur Bereitstellung der Normenkomplexe ab, die für die Funktionsfähigkeit der grundrechtlichen Freiheitsgewährleistung überhaupt notwendig sind.206 Besonderes Gewicht legt insbesondere Waechter auf den Wortlaut einzelner Grundrechte, die im Tatbestand von „Gewährleistung“ und „Schutz“ sprechen.207 In dieser Hinsicht handele es sich nicht um einen Schutz vor der staatlichen Ordnung, sondern um einen Schutz durch die staatliche Ordnung.208 Kempen erkennt in Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG eine ausdrückliche, unmittelbar grundrechtliche Schutzpflicht zur realen Ermöglichung insbesondere der Tarifautonomie als einem historisch als besondere Problemzone erfahrenen Schutzobjekt.209 Auch Oetker begründet die Verpflichtung des Gesetzgebers, den Koalitionen ein effektives Instrumentarium zur tarifvertraglichen Gestaltung der Arbeitsbedingungen zur Verfügung zu stellen, mit einer aus der Koalitionsfreiheit fließenden Schutzpflicht.210 Schließlich leiten überwiegend Autoren in aktuellen Stellungnahmen des Schrifttums die Ausgestaltungsbefugnis und -pflicht des Gesetzgebers aus einer eigenständigen objektivrechtlichen Grundrechtskomponente unabhängig von einer staatlichen Schutzpflicht ab. Der objektivrechtliche Gehalt der Grundrechte soll den Staat verpflichten, alles für die Verwirklichung derselben zu tun. Bei Angewiesenheit des Grundrechtsschutzes auf einfachgesetzliche Komplementärnormen müsse der Gesetzgeber diese zur Verfügung stellen.211 Insbesondere im Hinblick 205 Kempen, Festschrift für Gitter, S. 427, 431, 443; Oetker, ZfA 2001, 287, 305; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 305.; allgemein: Waechter, Verwaltung 29 (1996), 47, 55. 206 Waechter, Verwaltung 29 (1996), 47, 55. 207 Waechter, Verwaltung 29 (1996), 47, 54 f. 208 Waechter, Verwaltung 29 (1996), 47, 55. 209 Kempen, Festschrift für Gitter, S. 427, 443. 210 Vgl. Oetker, ZfA 2001, 287, 305. 211 Butzer, RdA 1994, 375, 378; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 126 ff.; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 218 ff.; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 390; Konzen, Anm. zu BVerfG vom 4. 7. 1995, SAE 1996, 216, 218 f.; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 77; ders., JuS 1994, 653, 657; ähnlich auch Höfling, Festschrift für Friauf, S. 377, 385, der von einem leistungsrechtlichen Gehalt des Grundrechts spricht. Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 120, 188 ff., 258 ff. und ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 GG Rn. 167, 297 f., leitet die Verpflichtung des Gesetzgebers zur Bereitstellung „existenznotwendiger Verbandsgrundrechte“ organisatorischer Art aus dem Sozialstaatsprinzip in Verbindung mit dem Grundrecht ab. Soweit sich einfachgesetzliche Regelungen zu einem funktionstypischen Instrumentarium verfestigt haben, bezieht er diese allerdings mittelbar in den Grundrechtsschutz
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auf die Koalitionsfreiheit bestehe ein solcher Bedarf. Eine Grenze, die der Gesetzgeber im Rahmen der so begründeten Ausgestaltungsbefugnis stets zu beachten habe, sei das Verhältnismäßigkeitsprinzip. 212 Dabei bleiben die Anforderungen aber nicht stehen. Auch eine auf die objektivrechtliche Funktion der Grundrechte gestützte Ausgestaltungsverpflichtung verlange von dem Gesetzgeber nicht die Bereitstellung aller der Grundrechtsverwirklichung irgendwie dienlichen Betätigungsformen. In Parallele zu der ebenfalls auf den objektiven Gehalt der Grundrechte gestützten Schutzpflichtenkonzeption soll auch hinsichtlich der Ausgestaltung zur Ermöglichung der Grundrechtswahrnehmung das Untermaßverbot maßgeblich sein.213 Dieses als solches noch nicht abschließend konkretisierte Prinzip sei dahingehend auszufüllen, dass der Gesetzgeber zur Bereitstellung aller der einfachgesetzlichen Normenkomplexe verpflichtet sei, die zu einer effektiven Grundrechtswahrnehmung erforderlich sind.214 b) Die eigenständige objektivrechtliche Komponente der Grundrechtsverwirklichung als maßgebliche grundrechtsdogmatische Basis für die Ausgestaltungspflicht und -befugnis des Gesetzgebers Die in Bezug auf die Grundfreiheiten der Weimarer Reichsverfassung entstandene Lehre von den Einrichtungsgarantien ist in ihrer ursprünglichen Bedeutung trotz der Unterschiede zwischen Grundgesetz und Weimarer Reichsverfassung auf den Grundrechtskatalog übertragen worden.215 Nach dem Verständnis der Freiheitsrechte in der Weimarer Reichsverfassung handelte es sich bei diesen entweder um bloße Programmsätze oder sie standen unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze und waren daher lediglich besondere Ausprägungen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.216 Sie errichteten keine Verfassungsbindung des Gesetzgebers, so dass die Institutsgarantien erst die Möglichkeit lieferten, den Gesetzgeber an der Abschaffung bzw. Veränderung bestimmter einfachgesetzlicher ein; zur Kritik daran Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 222 f., und Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 126 Fn. 146, die sich gegen eine aus dem Sozialstaatsprinzip abgeleitete Verpflichtung des Staates zur Schaffung der organisatorischen Rahmenbedingungen zur Grundrechtsverwirklichung wenden. 212 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 229 f.; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 127; gegen die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Söllner, NZA 2000, Beilage Nr. 24, S. 33, 36. 213 Döttger, Schutz tarifvertraglicher Normsetzung, S. 127; Höfling, Festschrift für Friauf, S. 377, 385; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 395. 214 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 129 ff. 215 H. Klein, DVBl. 1994, 489, führt aus, die Anerkennung grundrechtlicher Einrichtungsgarantien sei nach Inkrafttreten des Grundgesetzes zu keinem Zeitpunkt grundsätzlich in Frage gestellt worden; vgl. auch F. Klein, in: von Mangoldt / Klein, GG, Vorb. A VI 3 b, S. 84; Hesse, EuGRZ 1978, 427, 431. 216 C. Schmitt, Freiheitsrechte, in: ders., Aufsätze, S. 140, 142 f.; Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 1, 2; Waechter, Verwaltung 29 (1996), 47, 49.
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Rechtspositionen zu hindern und so ein legislatives Leerlaufen der Freiheitsrechte zu vermeiden.217 Eine auch den Gesetzgeber bindende Funktion der Grundrechte, die ihn hinderte, Grundrechtsgarantien legislativ auszuhöhlen, wird heute durch Art. 1 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 2 GG sichergestellt. Der Rückgriff auf die Einrichtungsgarantien ist in dieser Hinsicht folglich überflüssig.218 Dementsprechend modifiziert das jüngere Schrifttum die Figur der Institutsgarantie, um sie als Begründung für eine Ausgestaltungspflicht und -befugnis des Gesetzgebers heranziehen zu können. Sie finde ihre verfassungsrechtliche Berechtigung in dem Angewiesensein einiger Grundrechte auf einfachgesetzliche Ergänzung und legitimiere die ausgestaltende Normsetzung des Gesetzgebers.219 Diese Autoren stellen die Einrichtungsgarantie im klassischen Sinne auf ein neues Fundament,220 ohne das sie nicht geeignet ist, eine Ausgestaltungsbefugnis und -pflicht des Gesetzgebers zu begründen. Das herkömmliche Verständnis der Einrichtungsgarantien, wie es aus der Dogmatik zur Weimarer Reichsverfassung entlehnt wurde, war auf eine Domestizierung des nicht grundrechtsgebundenen Gesetzgebers ausgerichtet. Einrichtungsgarantien fungierten als Schutzmechanismus für vorgefundene bzw. bestehende Normenkomplexe. In dieser engen Funktion sind sie nicht in der Lage, allgemeingültige Vorgaben für die auf die Grundrechte des Grundgesetzes bezogene ausgestaltende Gesetzgebung zu liefern.221 So begrüßenswert die Bemühungen um eine Fruchtbarmachung der Lehre von den Institutsgarantien für den derzeitigen Grundrechtskatalog sind, so vermag sie doch nicht als tragfähige Grundlage für die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers im Bereich des Art. 9 Abs. 3 GG zu dienen. Als Begründung dafür genügt allerdings nicht, dass die Koalitionsfreiheit nicht existentiell auf ergänzende einfachgesetzliche Normen angewiesen wäre.222 Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG garantiert den Koalitionen einen umfassenden Freiheitsbereich zur Erfüllung ihrer verfassungsrechtlich übertragenen Funktion, die in der Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen besteht. In diesem Rahmen sind die Koalitionen auch in der Wahl der zur Ausfüllung des Koalitionszwecks heranzuziehenden Mittel 217 C. Schmitt, Freiheitsrechte, in: ders., Aufsätze, S. 140, 143 ff.; ders., Verfassungslehre, S. 170; vgl. auch Bryde, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 14 Rn. 32; Stern, Staatsrecht III / 1, § 68 S. 758. 218 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 441 ff., 444, „dogmatisch überflüssige Konstruktion“; Bryde, in: v. Münch / Kunig, GG, Art. 14 Rn. 32; Dreier, in: ders., GG, Vorb. Rn. 108: „für das Feld der Grundrechte obsolet“; Maurer, Staatsrecht, § 9 Rn. 22, „überholt“; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 304, „dogmatisch überholt“; Waechter, Verwaltung 29 (1996), 47, 49 f. 219 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 94 f. 220 Vgl. Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 94 ff.; ders. in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 9 Abs. 3 Rn. 173, 226 ff., der die Institutsgarantien zu einem Ausgestaltungsauftrag umformuliert; ebenso: Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, S. 247 ff., 251; F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 513 ff. 221 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 118. 222 So aber Th. Schmidt, Günstigkeitsprinzip, S. 63 f.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
frei.223 Die so erreichte Flexibilität der Grundrechtsgewährleistung wird dem hinter ihr stehenden Bereich des Wirtschafts- und Arbeitslebens gerecht, der einer starken Entwicklung unterworfen ist. Diese umfassende Autonomie der Koalitionen bedarf in Teilen der Ergänzung durch ein einfachgesetzliches Instrumentarium. Das unterscheidet die Koalitionsfreiheit von anderen als Institutsgarantien anerkannten Grundrechtsgewährleistungen, die ohne einfachgesetzliche Umsetzung nur der Bezeichnung nach existieren würden, wie beispielsweise das Eigentum, das Erbrecht oder die Ehe. Die einfachrechtlichen Rechtsinstitute sind im Rahmen der Koalitionsfreiheit aber gerade nicht freiheitskonstituierend, sondern lediglich freiheitsergänzend.224 Da die Koalitionsfreiheit daher unabhängig von den sie ergänzenden Normenkomplexen als unmittelbare Freiheitsgewährleistung existiert, erübrigt sich auch eine Einbeziehung einfachgesetzlicher Normen in den grundrechtlichen Schutzbereich. Notwendig ist lediglich ein dogmatischer Hebel, mit dem der Gesetzgeber dazu angehalten werden kann, die Verwirklichung der Grundrechtsgarantie durch die Bereitstellung dafür notwendiger einfachgesetzlicher Instrumentarien zu ermöglichen.225 Eine mit der Anerkennung von Institutsgarantien226 im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 GG verbundene Einbeziehung der komplementären Vorschriften in den Schutzbereich würde zu einer Verfestigung der einfachgesetzlichen Rechtslage führen, indem sie partiell in Verfassungsrang erhoben würden.227 Eine solche Vorgehensweise stünde der Entwicklungsoffenheit der Koalitionsfreiheit entgegen. Die Anpassung der komplementären Regelungen an veränderte Gegebenheiten wäre dann zwar nicht unmöglich, aber doch zumindest erschwert. Hinzu kommt, dass die Aufgabe der Koalitionen verschiedene Bereiche des Arbeitslebens tangiert und nicht auf den Abschluss von Tarifverträgen beschränkt ist. Die Koalitionsfreiheit bedarf daher in verschiedener Hinsicht der Ergänzung durch ein Instrumentarium. Dies würde zu einer Anerkennung verschiedener Institutsgarantien im Rahmen der allgemeinen Koalitionsbetätigungsfreiheit führen, was im Gegensatz zu den als anerkannt geltenden Institutsgarantien des Grundrechtskatalogs eine im Wortlaut keinerlei Anklang findende Anfüllung des Grundrechtsgehalts mit zusätzlichen Gewährleistungen bedeuten würde. Der aus der Anwendung der Lehre von den Institutsgarantien resultierende lediglich wesensmäßige Schutz der ergänzenden einfachgesetzlichen NormenkomDöttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 119. Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 119; Löwer, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 9 Rn. 57; A. Wiedemann, Bindung der Tarifnormen, S. 63 f. 225 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 126; Löwer, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 9 Rn. 57. 226 Aber auch mit dem relativen Schutzmodell Frieses, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 223 ff., 226, das in seinem Umfang weiter reicht als die Lehre von den Instituten, indem es nicht nur für das Wesen notwendige Regelungen in den Schutzbereich einbezieht, sondern für eine sinnvolle Grundrechtsverwirklichung notwendige Vorschriften. 227 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 120; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 84; Waechter, Verwaltung 29 (1996), 47, 55. 223 224
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plexe verstärkt die soeben erhobenen konstruktiven Bedenken.228 Dieser sehr begrenzte Gewährleistungsgehalt bewirkt, dass für die koalitionsmäßigen Instrumentarien allgemein und speziell in Bezug auf das Tarifvertragssystem nur ein äußerster Rahmen an Vorschriften Teil der Verfassungsgarantie wäre. Dem Gesetzgeber ist demnach nur ein Leitbild für die Ausgestaltung vorgegeben. Die Institutsgarantie des Tarifvertragssystems kann daher keine Maßstäbe für die gesetzgeberische Ausgestaltung in dem Bereich liefern, der sich nicht auf das Wesen der konkreten Betätigungsform bezieht. Kann man dieses Problems noch durch die Anwendung des allgemein im Rechtsstaatsprinzip verankerten und daher alle staatliche Gesetzgebung bindenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Herr werden, so führt die nur beschränkte Schutzintensität aufgrund der Institutsgarantien spätestens vor dem Hintergrund der grundsätzlich umfassenden Freiheitsgewährleistung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu einem Missverhältnis. Die Freiheitsgarantien der Grundrechte im Allgemeinen und der Koalitionsfreiheit im Besonderen sollen den Grundrechtsträgern eine innerhalb der vorgegebenen Grenzen möglichst maximale Grundrechtsverwirklichung garantieren. Dies steht in keinem Verhältnis zu einer auf die Grenzen des Art. 19 Abs. 2 GG beschränkten Gewährleistung des dafür notwendigen Instrumentariums.229 Die Lehre von den Institutsgarantien kann demnach nicht als Grundlage und Maßstab für die Ausgestaltung der Koalitionsbetätigungsfreiheit dienen. Vielmehr ist die Lösung unmittelbar im objektivrechtlichen Gehalt der Grundrechte zu suchen. In der aktuellen Grundrechtsdogmatik ist allgemein anerkannt, dass die Grundrechte neben der subjektivrechtlichen Abwehrkomponente in ihrem Schutzgehalt auch objektivrechtliche Gewährleistungen beinhalten.230 In diesem Rahmen kommt den grundrechtlichen Schutzpflichten besondere Bedeutung zu. Aber auch ihre Heranziehung als Grundlage für eine Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers hinsichtlich ergänzender Regelungen im Rahmen der Koalitionsfreiheit begegnet konstruktiven Bedenken. Das Schutzpflichtkonzept richtet sich vornehmlich auf Fallgestaltungen, bei denen private Dritte ein durch eine grundrechtliche Freiheit geschütztes Verhalten beeinträchtigen. 231 Derartigen Störungen soll der Einzelne nicht uneingeschränkt ausgesetzt sein. Deswegen wird der Staat in die Pflicht genommen, solchen Tendenzen entgegenzutreten. Die Schutzpflichtkonstruktion erfasst also stets ein Dreiecksverhältnis.232 Außerdem kann sich der Schutz gegen 228 Insofern zutreffend Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 226, die die Rechtsfolgen ebenfalls für zu restriktiv hält; kritisch auch Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 120 f. 229 Auch Schwarze, Der Betriebsrat, S. 86, betont, die Institutsgarantie könne wegen ihrer konnexen Funktion nur zur Erweiterung, nicht aber zur Einschränkung der Freiheitsgarantie herangezogen werden. 230 Hesse, in: HBVerfR, § 5 Rn. 50; Isensee, in: HBStR V, § 111 Rn. 84; ausführlich zur Entwicklung Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 1, 4 ff. 231 H. Klein, DVBl. 1994, 489, 490; Hesse, in: HBVerfR, § 5 Rn. 50; Isensee, in: HBStR V, § 111 Rn. 85.
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Beeinträchtigungen von außen nur auf ein bereits bekanntes Schutzgut beziehen; er setzt folglich eine bereits konturierte Freiheit voraus. Die Ausgestaltungsbedürftigkeit der Koalitionsfreiheit ergibt sich jedoch nicht aus einer von dritter Seite drohenden Beeinträchtigung der Freiheit. Vielmehr bedarf sie von vornherein der Freiheitssicherung durch Bereitstellung ergänzender, die Wahrnehmung der Freiheit ermöglichender rechtlicher Mittel und Kompetenzen. Durch die Ausgestaltung soll die Koalitionsfreiheit gerade konturiert und auf einfachgesetzlichem Wege ergänzt werden. Die Pflicht zur Ausgestaltung richtet sich allein an den staatlichen Gesetzgeber, es ist also lediglich das Verhältnis zwischen Staat und den Trägern der Koalitionsfreiheit betroffen.233 Für die in diesem Zweierverhältnis bestehenden Bindungen kann die Schutzpflichtkonzeption keine tragfähige Basis liefern. Der objektivrechtliche Gehalt der Grundrechte erschöpft sich jedoch nicht in einer an den Staat gerichteten Schutzpflicht vor Beeinträchtigungen des grundrechtlich geschützten Lebensbereiches durch Dritte. Anerkannt ist darüber hinaus unter anderem ein Auftrag zur Bereitstellung der für die Grundrechtswahrnehmung erforderlichen einfachgesetzlichen Instrumentarien und Regeln.234 Für dessen Existenz kann es nicht ausschließlich darauf ankommen, ob sich im Grundrechtswortlaut ein ausdrücklicher Anhaltspunkt für einen gesetzgeberischen Gestaltungsauftrag findet.235 Auch der Einwand, dass nur eine bereits bestehende Freiheit – sei sie faktischer oder normativer Art – ausgestaltet werden könne,236 vermag speziell im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG einer Verankerung der Ausgestaltungspflicht des Gesetzgebers nicht im Wege zu stehen. Der von der Grundrechtsgarantie der Koalitionsfreiheit erfasste Lebensbereich vereinigt faktisch mögliche Betätigungsformen und solche, die der Ergänzung durch rechtlich verliehene Kompetenzen bedürfen. Da sich die Freiheitsgewährleistung aber nicht auf Letztere beschränkt, vermag die Freiheit unabhängig von rechtlichen Normenkomplexen 232 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 f.; Dreier, in: ders., GG, Vorb. Rn. 101; Dürig, in: Maunz / Dürig, GG, Std. Nov. 1997, Art. 1 Abs. 1 Rn. 2; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 228 f., Fn. 297; Isensee, in: HBStR V, § 111 Rn. 84 f.; ders. Grundrecht auf Sicherheit, S. 34, wo er von einem „Rechts-Dreieck“ spricht; Jarass, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 35, 40; H. Klein, DVBl. 1994, 489, 490; Stern, Staatsrecht III / 1, S. 945 f. 233 Grenzwertig ist in dieser Hinsicht lediglich die koordinierende Funktion der Ausgestaltung, wenn es um die Mitwirkung Dritter im Rahmen der Ausübung der Koalitionsfreiheit geht, die sich ebenfalls nur durch die Bereitstellung verbindlicher Regelungen für die Gestaltung derartiger Koordinationsprozesse bewerkstelligen lässt. Dieser Fall stellt aber keine klassische Fallgestaltung der Ausgestaltung dar. Als Ausnahme kann er daher nicht argumentativ für die Aktivierung der Schutzpflichtkomponente des Grundrechts als dogmatische Grundlage der Ausgestaltung herangezogen werden. 234 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 441 ff.; Hesse, EuGRZ 1978, 427, 434 ff.; ders., in: HBVerfR, § 5 Rn. 42 ff. 235 So aber Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 92 f. 236 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 93.
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bestehen und ist daher einer Ausgestaltung zugänglich. Richtigerweise bildet daher die objektivrechtliche Komponente des Grundrechtsschutzes auch in Bezug auf Art. 9 Abs. 3 GG den Ausgangspunkt der Bereitstellung der für die Grundrechtsausübung notwendigen einfachgesetzlichen Normenkomplexe. Der den Gesetzgeber bei der Erfüllung seiner Ausgestaltungsaufgabe bindende Maßstab leitet sich aus der Funktion dieser Ausgestaltungsaufgabe ab. Sie soll die grundrechtliche Freiheit vor einem Leerlaufen bewahren. Es hatte sich bereits gezeigt, dass die Koalitionsbetätigungsgarantie nicht als rein akzessorische Sekundärgarantie zur Koalitionsbildungsfreiheit besteht und daher nicht auf das für Erhalt und Sicherung des Koalitionsbestandes unerlässliche Maß beschränkt werden kann.237 Vielmehr ist die Betätigung in dem Umfang garantiert, der den Koalitionen die effektive Wahrnehmung der ihnen von der Verfassung übertragenen Aufgabe der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ermöglicht. Dieser Maßstab muss auch für die einfachgesetzliche Ausgestaltung gelten. Nicht das für eine Wahrnehmung der Grundrechtsgarantie überhaupt unverzichtbare Instrumentarium als Existenzbedingung einer Freiheitsausübung ist bereitzustellen. Angesichts der mit der Wahrnehmung des Koalitionszwecks verbundenen Verantwortung gegenüber den Koalitionsmitgliedern ist den Koalitionen vielmehr das einfachgesetzliche Instrumentarium bereitzustellen, das für eine effektive, d. h. sinnvolle Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erforderlich ist.238 Nur dann rechtfertigt sich auch die staatliche Zurückhaltung in diesem Bereich, für dessen sozial verträgliche Gestaltung der Staat im Ausgangspunkt selbst zuständig ist. c) Die effektive Grundrechtsverwirklichung als Maßstab für die Bestimmung der sachlich-gegenständlichen Reichweite der tariflichen Normsetzungsbefugnis Der staatliche Gesetzgeber hat aufgrund der in der objektivrechtlichen Komponente der Grundrechte verankerten Ausgestaltungspflicht und -befugnis die Koalitionen mit dem für deren sinnvolle Grundrechtswahrnehmung erforderlichen Instrumentarium auszustatten. Der Abschluss von Tarifverträgen stellt das zentrale und historisch bedeutsamste Mittel der Koalitionszweckverfolgung dar.239 Keine Seite stellt daher ernsthaft in Frage, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, ein ein237 In diese Richtung aber Höfling, Festschrift für Friauf, S. 377, 385, 387 f., der die Kernbereichslehre auch nach der Rechtsprechungswende für die dogmatische Begrenzung der gesetzgeberischen Ausgestaltungsbefugnis fruchtbar machen will, indem er die abwehrrechtliche Komponente des Art. 9 Abs. 3 GG vorbehaltlos, die leistungsrechtliche jedoch nur für einen Kernbereich gewähren will. 238 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 128; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 225; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 78. 239 Vgl. nur Dieterich, DB 2001, 2398, 2400; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 284.
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fachrechtliches Tarifvertragssystem zu schaffen. Diese Pflicht begründet sich aber nicht ausschließlich historisch-traditionell. Die Aufnahme der Koalitionsfreiheit in den Grundrechtskatalog geht auf die Erkenntnis zurück, dass die unterlegene Stellung des Arbeitnehmers im Individualarbeitsverhältnis durch die Kollektivierung der nicht funktionsfähigen Privatautonomie ausgeglichen werden kann. Ebenso wie sich die einen Teil der Privatautonomie bildende individuelle Vertragsfreiheit aber in den Bahnen eines einfachgesetzlichen privatrechtlichen Vertragsrechtssystems bewegt, muss auch auf kollektivierter Ebene ein derartiges Vertragssystem bereitgestellt werden.240 Dies gilt zumindest insoweit, als sich die Anwendung des individuellen Vertragsrechts für die koalitionäre Zweckverfolgung nicht als tragfähig erweist. Über die Fähigkeit der Koalitionen mittels kollektivierter Interessenwahrnehmung im Bereich des Arbeitsverhältnisses für die Vertragsparteien sachgerechte Ergebnisse herbeizuführen und damit einen Beitrag zur Verwirklichung des Koalitionszwecks zu leisten, besteht kein Zweifel.241 Damit ergibt sich aber gleichzeitig, dass die sinnvolle Wahrnehmung der in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verankerten grundrechtlichen Freiheit auch die Bereitstellung des soeben beschriebenen Kollektivvertragssystems für den Abschluss von Tarifverträgen notwendig macht. In Abgrenzung zum herkömmlichen privatrechtlichen Vertragsrechtssystem erfordert das Kollektivvertragssystem für seine Funktionsfähigkeit und für die effektive Verwirklichung des in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verankerten Koalitionszwecks, dass die zwischen den Koalitionen getroffenen Vereinbarungen nicht lediglich diese binden, sondern unmittelbare Wirkung für die Parteien des Arbeitsverhältnisses entfalten. Denn an die Individualvertragspartner sind die Kollektivvereinbarungen primär adressiert. Darüber hinaus besteht das Bedürfnis, die Gesamtvereinbarungen gegen eine Unterwanderung durch abweichende einzelvertragliche Vereinbarungen abzusichern, die dem kollektiven Verhandlungsergebnis zuwiderlaufen.242 Als tragfähige Lösung dieses Problems hat sich in der Vergangenheit die normative Wirkung243 der Tarifverträge herausgebildet, die bereits auf die Tarifvertragsverordnung vom 23. 12. 1918244 zurückgeht. 240 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 132 f.; vgl. auch Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 89. 241 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 284 ff.; gegen die entschiedene Kritik Reuters, ZfA 1995, 1, 11 ff., an der Funktionsfähigkeit des Kollektivvertragssystems. 242 Schwarze, Der Betriebsrat, S. 79. 243 Für die hier allein interessierende Frage nach dem Umfang einer Garantie der sachlichgegenständlichen Reichweite der Schaffung tarifvertraglicher Regelungen mit normativer Wirkung durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist der Streit um ihren Ursprung, der zwischen den Vertretern der Delegations-, Integrations- und Sanktionstheorie geführt wird, unerheblich. Gleichgültig ob die Rechtsnormwirkung auf staatlicher Delegation (Delegationstheorie) beruht, unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 GG (Integrationstheorie) folgt oder die staatliche Anerkennung privater Rechtsetzung (Sanktionstheorie) darstellt, ist dem Grundrechtstatbestand selbst die Reichweite dieser Normierungsbefugnis zu entnehmen. Vgl. zum ganzen Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 557 ff.; Kemper, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 9 Abs. 3 Rn. 227 ff.; Wiedemann, in: ders., TVG, § 1 Rn. 40 ff.
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Die Maßstäbe für die Reichweite der vom Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 GG geforderten normativen Wirkung der kollektiven Gesamtvereinbarungen resultieren aus einem mehrseitigen Beziehungsgeflecht zwischen Tarifvertragsparteien, staatlichem Gesetzgeber und den Parteien des Individualarbeitsverhältnisses. Alle drei Instanzen sind grundsätzlich in der Lage, die Arbeitsbedingungen zu regeln. Zwischen ihnen ist eine Verteilung der Regelungsbefugnis vorzunehmen, die im Ergebnis zu einer effektiven Verwirklichung des Koalitionszwecks durch die Tarifvertragsparteien führen kann. Nach der einen Seite stehen die Koalitionen in Beziehung zu den Parteien des Individualarbeitsverhältnisses. Innerhalb dieser ist das kollektive Verhandlungsergebnis gegenüber den privatautonomen Regelungsmöglichkeiten abzusichern. Der Gesetzgeber hat dabei über den Umfang der normativen Wirkung dergestalt zu entscheiden, dass er ihr Ob und ihre Intensität regelt. Die Intensität bezieht sich dabei auf die Frage, gegenüber welchen individualvertraglichen Abmachungen sich die tariflichen Festlegungen durchsetzen sollen. Sie äußert sich beispielsweise in der Existenz eines Günstigkeitsprinzips, wie es § 4 Abs. 3 TVG im bundesdeutschen Tarifvertragsrecht verkörpert. Nach der anderen Seite bildet sich eine Konfliktbeziehung zwischen den Tarifvertragsparteien und dem staatlichen Gesetzgeber. Dieser hat anhand der ihn bindenden grundrechtlichen Vorgaben den gegenständlichen Umfang, also die von der normativen Wirkung erfassten Materien, in Abgrenzung zu seiner eigenen legislativen Regelungsbefugnis im Bereich der Arbeitsbedingungen festzulegen. Betroffen ist in dieser Hinsicht der Umfang der normativen Wirkung der Tarifverträge in seiner sachlich-gegenständlichen Reichweite.245 Diese beiden Blickrichtungen staatlicher Regelungsentscheidungen können nicht losgelöst voneinander betrachtet werden.246 Primäre Motivation der Anordnung der normativen Wirkung des Tarifvertrags ist die Absicherung der Schutzwirkung auch im Hinblick auf das Individualarbeitsverhältnis. Diese normative Wirkung konstituiert aber den Tarifvertrag erst als solchen und macht die tarifvertragliche Vereinbarungsbefugnis zu einer tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis.247 Von dieser teleologischen Grundlage, die sich auf Effektivitätserwägungen gründet, kann die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis aber auch bei der Bestimmung ihrer sachlich-gegenständlichen Reichweite nicht abgelöst werden, denn die eine ist ohne die andere nicht denkbar. Die aus diesem Zusammenhang gezogene Schlussfolgerung, dass die Zweckbindung der normativen Wirkung unbesehen ihre Ausdehnung auf den gesamten Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen RGBl. 1918, S. 1456. So zutreffend und eindeutig herausgearbeitet von Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 248. 246 So aber Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 248, mit einer getrennten Untersuchung, inwieweit die normative Wirkung instrumentell bzw. sachlich-gegenständlich vom Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG erfasst wird. 247 Das gilt natürlich nicht für den schuldrechtlichen Teil des Tarifvertrags; vgl. die Terminologie des § 1 Abs. 1 TVG. 244 245
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
nach sich zieht,248 bedarf allerdings erst der Begründung anhand des Grundrechtstatbestandes.249 Vorerst ergibt sich aus dem bisher Geschilderten nur, dass der Gesetzgeber aufgrund der in dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit verankerten objektivrechtlichen Schutzkomponente die Pflicht hat, die normative Wirkung der tariflichen Regelungen sachlich-gegenständlich sowie im Hinblick auf ihre Intensität in dem Umfang bereitzustellen, der für die sinnvolle Grundrechtsverwirklichung erforderlich ist.250 Eine Grenze zieht dieser ausgestaltenden Tätigkeit nur der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere bedarf der Gesetzgeber nicht bestimmter Gemeinwohlziele oder Rechtsgüter, die seiner gesetzlichen Regelung zugrunde liegen.251 3. Der Zusammenhang zwischen der gesetzgeberischen Pflicht zur einfachgesetzlichen Ausgestaltung und der unmittelbaren grundrechtlichen Gewährleistung eines ergänzenden Normenkomplexes Die bisherigen Untersuchungen haben ergeben, dass der Gesetzgeber aufgrund der neben der Abwehrkomponente in Art. 9 Abs. 3 GG enthaltenen objektivrechtlichen Verbürgung dazu verpflichtet ist, den Koalitionen einfachrechtlich den Abschluss unmittelbar und zwingend wirkender Gesamtvereinbarungen in einem sachlich-gegenständlichen Umfang und mit einer Intensität zu ermöglichen, die für eine sinnvolle Grundrechtswahrnehmung, d. h. für die effektive Verwirklichung des Koalitionszwecks, notwendig sind. In der sachlich-gegenständlichen Reichweite, in der der Grundrechtstatbestand die normative Wirkung koalitiver Gesamtvereinbarungen erfordert, muss der Gesetzgeber nicht nur objektivrechtlich tätig werden, sondern führt dessen Unterlassen der einfachgesetzlichen Bereitstellung der normativen Wirkung zu einem Grundrechtseingriff.252 In dieser Hinsicht realisiert sich das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das den Gesetzgeber bei seinem ausgestaltenden Tätigwerden bindet, in Gestalt des Untermaßverbots.253 Bei umgekehrter So Kempen, RdA 1994, 140, 147; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 86. Insofern zutreffend Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 249. 250 Letztlich ist für die Reichweite der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis unerheblich, ob sie unmittelbar durch Art. 9 Abs. 3 GG garantiert wird, oder ob der Gesetzgeber nur zu einer einfachgesetzlichen Schaffung entsprechender Kompetenznormen verpflichtet ist, da sich diese immer aus der Freiheitsgewährleistung ergibt, vgl. Schwarze, Der Betriebsrat, S. 77; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 249. 251 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 126 f.; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 229 f. 252 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 130; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 223, 228; Rüfner, in: HBStR V, § 117 Rn. 15; für grundrechtliche Schutzpflichten Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 81; ablehnend Isensee, in: HBStR V, § 111, Rn. 160; Stern, Staatsrecht III / 1, S. 654 ff.; kritisch auch Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 1, 16 ff. 253 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 127. 248 249
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Blickrichtung folgt daraus, dass der grundrechtlich geforderte sachlich-gegenständliche Mindestumfang der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis Teil des Schutzbereiches der Koalitionsfreiheit ist.254 In welcher Art und Weise der Gesetzgeber seiner Pflicht zur Ausgestaltung nachkommt, ist seinem Gestaltungsspielraum überlassen. Er muss jedoch die vom Grundrecht vorgegebenen Grenzen einhalten. Diese erfordern, dass den Koalitionen die effektive Erfüllung des Koalitionszwecks, der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, möglich sein muss. Das wiederum setzt voraus, dass die Koalitionen Kollektivvereinbarungen schließen können, die auch gegenüber den Individualvertragsparteien bindend wirken und so gegen eine Unterwanderung durch abweichende einzelvertragliche Vereinbarungen abgesichert sind. Diese tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis wird vom Grundrecht aber nur in dem sachlich-gegenständlichen Umfang erfordert und gehört auch nur insoweit zum Schutzbereich, wie sie für die effektive Verfolgung des Koalitionszwecks notwendig ist. Mit der Anerkennung des § 1 Abs. 1 TVG255 hat der bundesrepublikanische Gesetzgeber eine zulässige Form der Ausgestaltung der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis gewählt.256 Dessen Grenzen müssen sich aber nicht mit dem Schutzumfang der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG decken. Die Reichweite des grundrechtlichen Schutzbereichs im Hinblick auf den sachlich-gegenständlichen Umfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis muss unabhängig von der einfachgesetzlichen Rechtslage bestimmt werden. Dies erfolgt durch die Auslegung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG.
IV. Bestimmung der Reichweite des Schutzes der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis aus Art. 9 Abs. 3 GG Das Maß des für eine sinnvolle Grundrechtsausübung erforderlichen bestimmt sich anhand der Grundrechtsgarantie selbst. Anhand ihrer Auslegung ist zu ermitteln, in welchem Umfang die Koalitionen unmittelbar und zwingend wirkender Gesamtvereinbarungen bedürfen. Besonderes Augenmerk liegt auf der teleologischen Auslegung, da es schließlich um die effektive Verwirklichung des Koalitionszwecks geht.
254 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 221, 249; im Ansatz ebenso Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 111. 255 Das Tarifvertragsgesetz trat vor dem Grundgesetz in Kraft und gelangte aufgrund der Art. 123, 125 GG in den Rang von Bundesrecht. 256 Badura, Staatsrecht, C 100, S. 241; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 132; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 286 f.; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 299.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
1. Wortlaut Der Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG scheint auf den ersten Blick für Erkenntnisse über den Schutzumfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis im Rahmen der Koalitionsbetätigungsgarantie nicht ergiebig zu sein, da er sich allein auf die Koalitionsbildung bezieht. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass im Grundrechtstatbestand die Zweckbindung der Koalitionen verankert ist. Der Gewährleistungsgehalt umfasst die freie Koalitionsbildung „zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“. Daraus lässt sich zweierlei ableiten. Zum einen ist die bei unbesehener Betrachtung allein auf die Koalitionsbildung gerichtete Grundrechtsgarantie tätigkeitsbezogen, so dass die Einbeziehung einer Koalitionsbetätigungsgarantie und mit dieser der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis als einer klassischen Koalitionsbetätigung in den Schutzbereich sich auch auf den Wortlaut stützen kann. Zum anderen sind die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrem Wortlaut nach nicht auf den Abschluss von Tarifverträgen beschränkt, sondern beinhalten die Möglichkeit vielfältiger Tätigkeitsformen, die der Interessenwahrnehmung der Koalitionsmitglieder dienen. Daraus folgt für die Garantie der tarifvertraglichen Normsetzung, dass sie wenn auch eine zentrale,257 so doch nur eine unter mehreren möglichen Formen der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen darstellt. Bei der Interpretation des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG kann daher nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, dass sich der sachlich-gegenständliche Umfang des Schutzes der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis mit der aus dem Wortlaut zu entnehmenden äußersten Grenze der Koalitionsbetätigungsgarantie in Gestalt der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen deckt.258 Es besteht somit ein Unterschied zwischen dem sachlich-gegenständlichen Schutzumfang der koalitionsmäßigen Betätigung und dem sachlich-gegenständlichen Schutzumfang der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis. Die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bilden lediglich die äußerste Grenze. Da deren Wahrung und Förderung aber nicht ausschließlich durch den Abschluss von Tarifverträgen erfolgt, ist es ebenso wenig zwingend, dessen sachlich-gegenständlichen Regelungsbereich für den gesamten Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen dem Grundrechtsschutz des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu unterstellen.259 Das heißt Dieterich, DB 2001, 2398, 2400; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 284. Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 109; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 249; Rieble, ZTR 1993, 54, 55. 259 So aber ohne nähere Auseinandersetzung mit der Frage Butzer, RdA 1994, 375, 377; Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 105 ff.; Dieterich, RdA 2002, 1, 8; ders., AuR 2001, 390; Gragert, Flexibilisierung von Tarifverträgen, S. 15; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31; Kempen, RdA 1994, 140, 147; ders., AuR 1996, 336, 340; Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 36 f.; Schwarze, Der Betriebsrat, S. 88; Sodan, JZ 1998, 421, 423 ff.; P. Wolff, Kollision tarifvertraglicher Normsetzung und Gesetzgebung, S. 70 f. 257 258
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nicht, dass bei Nichteröffnung des Schutzbereichs die Tarifvertragsparteien gehindert wären, in Bereichen, die nicht innerhalb der Verfassungsgarantie liegen, Regelungen in einem Tarifvertrag zu treffen. Insoweit ist das Tarifvertragsgesetz als die derzeit existierende einfachgesetzliche Ausgestaltung des Tarifvertragssystems maßgeblich. So weit die mögliche Auslegung des § 1 Abs. 1 TVG reicht, ist es den Tarifvertragsparteien eröffnet, normative Tarifvertragsvorschriften zu schaffen. Darüber hinaus sind in einem noch weiteren Umfang schuldrechtliche Vereinbarungen zwischen den Tarifvertragsparteien möglich. Der einfachgesetzliche Rahmen muss sich aber nicht mit dem Schutzbereich der Verfassungsgarantie decken, sondern kann über diesen hinaus gehen. 2. Systematik Im Rahmen der systematischen Auslegung des Grundrechtstatbestandes des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist das Augenmerk zum einen auf die Rolle des Vertrags über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. 5. 1990260 (1. Staatsvertrag) zu richten. Zum anderen muss die Stellung der Koalitionsfreiheit innerhalb des Grundrechtsteils des Grundgesetzes stärkere Berücksichtigung finden, als bisher geschehen. a) Einfluss des Vertrags über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion In dem Gemeinsamen Protokoll über Leitsätze formuliert der 1. Staatsvertrag im Rahmen der Generellen Leitsätze hinsichtlich der Sozialunion unter A. III. 3., dass Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen nicht vom Staat, sondern durch freie Vereinbarungen von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Arbeitgebern festgelegt werden. Dies nehmen der 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts und einige Autoren zum Anlass, den Bestimmungen des 1. Staatsvertrags eine verbindliche Bedeutung für die inhaltliche Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Garantie der Koalitionsfreiheit beizumessen. Der 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts geht davon aus, dass der Gesetzgeber durch das Zustimmungsgesetz zum 1. Staatsvertrag vom 25. 6. 1990 dessen Regelungen in seinen Willen aufgenommen habe und daher die Rechtsauffassung der Parteien des Staatsvertrags nicht ohne Bedeutung für die Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland sei.261 Kissel bezeichnet die Leitsätze des 1. Staatsvertrags als verbindliche Auslegungsregeln für die Anwendung des Art. 9 Abs. 3 GG.262 Schrader263 und Gitter264 verstehen sie als bindende BGBl. 1990 II, S. 537 = GBl. DDR 1990 I, S. 332. BAG vom 6. 6. 2000, AP Nr. 9 zu § 97 ArbGG 1979. 262 Kissel, NZA 1990, 545, 549; ähnlich Richardi, DB 1990, 1613, 1615, der ohne nähere Auseinandersetzung die Leitsätze des 1. Staatsvertrags zur Konkretisierung der Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis heranzieht. 260 261
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Auslegungsregeln für das Arbeitsrecht im Allgemeinen. Gaul sieht in dem Gemeinsamen Protokoll des 1. Staatsvertrags eine normative Vorgabe für die Koalitionsvoraussetzungen.265 G. Müller erblickt in den Vorgaben des 1. Staatsvertrags eine zu beachtende Interpretationshilfe.266 Richardi ordnet den 1. Staatsvertrag als ein für die Interpretation des geltenden Arbeitsrechts grundlegendes Rechtsdokument ein.267 Löwisch und Rieble stehen dem kritisch gegenüber. Nach ihrer Ansicht habe der 1. Staatsvertrag mit dem Vollzug des Beitritts der Länder der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland seine Bedeutung verloren und seine Bestimmungen seien gemäß Art. 40 Abs. 1 des Einigungsvertrags gegenstandslos geworden.268 Zudem handelte es sich bei den Leitsätzen nur um unverbindliche Äußerungen der Rechtsauffassung der beiden Vertragsparteien, nicht aber um verbindliche Normierungen zur Konkretisierung der Koalitionsfreiheit. 269 Ähnlich argumentiert Oetker, der dem 1. Staatsvertrag nur dann eine Bedeutung für die Auslegung des bundesdeutschen Arbeitsrechts beimisst, wenn er sich im Rahmen des Auslegungskanons berücksichtigen lässt.270 Für die systematische Auslegung sei der 1. Staatsvertrag jedoch nicht maßgeblich, da ihm im Verhältnis zu bundesdeutschen Vorschriften keine rechtliche Verbindlichkeit zukomme.271 Innerhalb der historischen Auslegung, bei der die Regelungsvorstellungen des Gesetzgebers zu berücksichtigen sind, entfalteten die Bestimmungen des 1. Staatsvertrags keine Auswirkungen, da sie – wenn auch von dem Willen der bundesdeutschen Staatsorgane getragen – doch aus einer Zeit nach dem Inkrafttreten der auszulegenden Vorschriften stammen.272 Ihnen komme daher der Charakter eines Hilfsmittels zu, das Zweifel beseitigen und durch Auslegung erzielte Ergebnisse bestätigen könne.273 Sowohl die Bundesrepublik als auch die ehemalige DDR ratifizierten den 1. Staatvertrag durch Zustimmungsgesetze.274 Art. 17 des 1. Staatsvertrags regelte, dass in der DDR Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, Arbeitskampfrecht, BetriebsSchrader, „Durchsetzungsfähigkeit“, S. 139; ders., NZA 2001, 1337, 1339 f. Gitter, Festschrift für Kissel, S. 265, 273. 265 Gaul, ZTR 1991, 443, 446. 266 G. Müller, DB 1992, 269, 273 Fn. 43; ebenso jüngst Schüren / Riederer Frfr. von Paar, AuR 2004, 241, 243. 267 Richardi, DB 1990, 1613, 1615. 268 Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 242 Rn. 19; Rieble, Anm. zu BAG vom 20. 11. 1990, SAE 1991, 316, 317; ebenso Zachert, Festschrift für Kehrmann, S. 335, 338. 269 Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 242 Rn. 19 f.; Rieble, Anm. zu BAG vom 20. 11. 1990, SAE 1991, 316, 317. 270 Oetker, Festschrift für Stahlhacke, S. 363, 389. 271 Oetker, Festschrift für Stahlhacke, S. 363, 389. 272 Oetker, Festschrift für Stahlhacke, S. 363, 389 f. 273 Oetker, Festschrift für Stahlhacke, S. 363, 390. 274 In der Bundesrepublik durch Gesetz vom 25. 6. 1990, BGBl. 1990 II, S. 518; in der DDR durch Gesetz vom 21. 6. 1990, GBl. 1990 I, S. 331. 263 264
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verfassung, Unternehmensmitbestimmung und Kündigungsschutz entsprechend dem Recht der Bundesrepublik Deutschland gelten, sich näheres aber aus dem gemeinsamen Protokoll über die Leitsätze ergebe. Art. 4 Abs. 1 S. 1 des 1. Staatsvertrags sah vor, dass solche Vorschriften des DDR-Rechts im Lichte der Leitsätze auszulegen und anzuwenden seien, die nach dem 30. 6. 1990 im Übergangsstadium der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion fortgalten. Der unmittelbare Regelungsgehalt des 1. Staatsvertrags sowie der in ihm enthaltenen Leitsätze zur Sozialunion bezog sich demnach allein auf das Gebiet und das Recht der ehemaligen DDR. Für die Übergangszeit bis zur Geltung der bundesdeutschen Vorschriften sollten die Anwendung der noch geltenden bzw. die Schaffung neuer Vorschriften des DDR-Rechts im Einklang mit der bundesdeutschen Arbeitsrechtsordnung stehen.275 Im Hinblick auf das Arbeitsrecht der Bundesrepublik entfaltete der 1. Staatsvertrag nur rechtsändernde Wirkung soweit dies gemäß Art. 4 Abs. 2 des 1. Staatsvertrags in Verbindung mit dessen Anlage 5 vorgesehen war.276 Ansonsten handelte es sich bei den Bestimmungen in den Leitsätzen des Gemeinsamen Protokolls um die Rechtsauffassung der vertragsschließenden Parteien hinsichtlich der Koalitionsfreiheit und insbesondere der Tarifautonomie, die den gesetzes- und richterrechtlichen Status Quo des kollektiven Arbeitsrechts zur Zeit der Vereinheitlichung der beiden deutschen Rechtsordnungen wiedergaben und daher eher deskriptiven Charakter trugen.277 Mit dem Vollzug der Rechtseinheit haben die Leitsätze des 1. Staatsvertrags ihre Bedeutung verloren.278 Die rechtliche Momentaufnahme in den Festlegungen des Gemeinsamen Protokolls kann trotz ihres Eingangs in das einfache Bundesrecht durch das Zustimmungsgesetz nicht für die Zukunft fortgetragen werden. Insoweit ist dem 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts zu widersprechen, der in einem Beschluss vom 6. 6. 2000 feststellte, dass es sich bei den Regelungen im Staatsvertrag zwar nicht um ein materielles Gesetz handele, sie jedoch durch das Zustimmungsgesetz vom 25. 6. 1990 Aufnahme in den Willen des Gesetzgebers gefunden hätten und somit eine Änderung in der Qualität der rechtlichen Kriterien stattgefunden habe.279 Zuvor hätte es sich nur um höchstrichterliche Rechtsprechung gehandelt, an die der Richter nicht gebunden sei.280 Auch 275 Zachert, Festschrift für Kehrmann, S. 335, 338; vgl. dazu ausführlich Oetker, Festschrift für Stahlhacke, S. 363, 370 ff. 276 Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 242 Rn. 19; Rieble, Anm. zu BAG vom 20. 11. 1990, SAE 1991, 316, 317. 277 Oetker, Festschrift für Stahlhacke, S. 363, 385; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 5 I 3, S. 67; Tettinger, BB 1992, 2, 3; noch zurückhaltender Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 242 Rn. 20, es handele sich lediglich um die Auffassung der Vertragsparteien und um nicht mehr als eine unverbindliche Auslegungshilfe. 278 Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 242 Rn. 19; Rieble, Anm. zu BAG vom 20. 11. 1990, SAE 1991, 316, 317; Zachert, Festschrift für Kehrmann, S. 335, 338; dagegen ausdrücklich Gitter, Festschrift für Kissel, S. 265, 271; Schrader, „Durchsetzungsfähigkeit“, S. 139 f.; ders., NZA 2001, 1337, 1340. 279 BAG vom 6. 6. 2000, AP Nr. 9 zu § 97 ArbGG 1979; G. Müller, DB 1992, 269, 273 Fn. 43; Schrader, NZA 2001, 1337, 1339.
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wenn es sich nicht um eine völlig unverbindliche Rechtsauffassung der Parteien des 1. Staatsvertrags handelte,281 beschränkte sich die rechtlich verbindliche Wirkung der Festlegungen in dem Gemeinsamen Protokoll des 1. Staatsvertrags auf die Rechtsangleichung in der ehemaligen DDR. Für die Auslegung von Rechtsnormen des aktuellen Arbeitsrechts ist sie entgegen dem 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts nicht von Bedeutung. Allenfalls kann die in den Regelungen des 1. Staatsvertrags zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung der Staatsorgane bestätigenden Charakter entfalten, wenn unabhängig davon eine Auslegung zu demselben Ergebnis kommt.282 Aber selbst wenn man den Bestimmungen des 1. Staatsvertrags rechtlich verbindliche Wirkungen zuerkennt, dann fragt sich, ob diese Bedeutung für die Auslegung des Schutzbereichs von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG erlangen können. Formell ist der 1. Staatsvertrag durch das Zustimmungsgesetz allenfalls in den Rang einfachen Bundesrechts erhoben worden.283 Aus diesem Grund kann er nicht als sogenannte authentische Interpretation des Grundrechts der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG dienen,284 denn dann würde der Inhalt der Verfassung durch einfaches Recht festgelegt. Dies widerspricht dem Unterschied der beiden Regelungswerke in der Normenhierarchie. 285 Der einfache Gesetzgeber ist nicht der Verfassungsgeber.286 Etwas anderes bewirkten auch die Mehrheitsverhältnisse bei der Verabschiedung des 1. Staatsvertrags nicht. Vielmehr wäre für die Abänderung der im Staatsvertrag enthaltenen Bestimmungen nur eine einfache Mehrheit und nicht die in Art. 79 Abs. 3 GG vorgesehene verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit notwendig.287 Für die systematische Interpretation ist der 1. Staatsvertrag daher nicht ergiebig, ihm kann allenfalls bestätigende Wirkung zukommen, falls die Auslegung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ergibt, dass der Schutzbereich für die Koalitionen umfasst, dass diese unabhängig vom Staat Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen festlegen dürfen. 280 BAG vom 6. 6. 2000, AP Nr. 9 zu § 97 ArbGG 1979; Gitter, Festschrift für Kissel, S. 265, 271 f.; Kissel, NZA 1990, 545, 549; Schrader, „Durchsetzungsfähigkeit“, S. 140 f.; ders., NZA 2001, 1337, 1339. 281 So BAG vom 6. 6. 2000, AP Nr. 9 zu § 97 ArbGG 1979, zutreffend entgegen Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 242 Rn. 20. 282 So zutreffend Oetker, Festschrift für Stahlhacke, S. 363, 390 f. 283 BAG vom 6. 6. 1990, AP Nr. 9 zu § 97 ArbGG 1979; Gitter, Festschrift für Kissel, S. 265, 269; Oetker, Festschrift für Stahlhacke, S. 363, 391; Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236, 238; Schrader, „Durchsetzungsfähigkeit“, S. 138. 284 Leisner, Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, S. 39; Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236, 237; Tettinger, BB 1992, 2, 3. 285 Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236, 238. 286 Leisner, Verfassungsmäßigkeit der Gesetze, S. 39; Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236, 238; Stober, Wirtschaftsverwaltungsrecht, § 5 I 3, S. 67. 287 Schmidt-Preuß, DVBl. 1993, 236, 238.
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b) Art. 9 Abs. 3 GG als Bestandteil des Grundrechtskatalogs Art. 9 Abs. 3 GG findet sich in dem ersten Abschnitt des Grundgesetzes, der mit „Die Grundrechte“ überschrieben ist und Art. 1 bis 19 GG umfasst. Die Gewährleistung der Koalitionsfreiheit ist daher im Gegensatz etwa zur Parteienfreiheit nicht in den Abschnitt über Bund und Länder und damit die staatliche Gewalt aufgenommen. Dadurch manifestiert sich der grundlegende Unterschied zwischen der Freiheitssphäre der Bürger und dem Herrschaftsanspruch des Staates, der die Grundrechte in erster Linie als Abwehrrechte gegenüber der öffentlichen Gewalt erscheinen lässt. Da Grundrechte auch nicht als primär politische Beteiligungsrechte interpretiert werden können, die ihren Trägern eine aktive soziale Rolle zuweisen,288 ist die Ableitung eines allgemeinen arbeitspolitischen Mandats der Koalitionen aus Art. 9 Abs. 3 GG, das diese in den Status eines Ersatzgesetzgebers für den Bereich des Arbeitsrechts erhebt, verfehlt.289 Nur den Freiheitsbereich, der nicht politisch-staatliche Aufgabenwahrnehmung ist, wollen die Grundrechte schützen. Dieser verwirklicht sich jedoch hinsichtlich der Tarifautonomie nur in der kollektivierten Privatautonomie, mit der die Koalitionen die Interessen ihrer Mitglieder im Rahmen der inhaltlichen Ausgestaltung des Individualarbeitsverhältnisses und der Arbeitsbedingungen der in ihnen vereinigten Arbeitsvertragsparteien wahren. Dass sich die Tarifautonomie damit oftmals als Motor der arbeitsrechtspolitischen Entwicklung erweist, ist eine begrüßenswerte Reflexwirkung, ein willkommener Nebeneffekt, der aber nicht Bestandteil der grundrechtlichen Gewährleistung ist.290 Nicht die Stellung der Koalitionen als arbeitsrechtlicher Ersatzgesetzgeber kann im Grundrechtskatalog garantiert sein,291 sondern nur ihre Eigenschaft und spezifische Betätigung als Träger der kollektivierten Privatautonomie ihrer Mitglieder.292 Daran ändert auch das gesteigerte öffentliche Interesse an der Betätigung der Tarifvertragsparteien nichts. Dass sich tarifliche Normsetzung in einem öffentlichkeitswirksamen und für die gesamtgesellschaftliche Situation bedeutsamen Rahmen abspielt, erhebt sie nicht in den Status öffentlich-rechtlicher Institutionen.293 Systematisch ergibt sich damit ein auf die Ausübung kollektivierter Privatautonomie beschränkter Schutzumfang des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Insbesondere 288 So das funktional-demokratische Grundrechtsverständnis, vgl. den Überblick bei Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534 ff. 289 Richardi, DB 1990, 1613, 1615. 290 Coester, Vorrangprinzip, S. 70. 291 Bereits Coester, Vorrangprinzip, S. 59, weist richtig darauf hin, dass die Ausstattung der Tarifnormen mit unmittelbarer und zwingender Wirkung allein eine Frage der Rechtswirkung sei, nicht aber den Prozess und die Motivation der Normgewinnung öffentlich-rechtlichen Grundsätzen unterstelle. 292 Richardi, DB 1990, 1613, 1615; Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 259; dagegen Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 124b ff. 293 Coester, Vorrangprinzip, S. 60 f.
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in der Vergangenheit ist wiederholt der Versuch unternommen worden, die tarifvertragliche Regelungskompetenz als Gesetzgebung zu begreifen, bei der die Tarifvertragsparteien in Konkurrenz zum staatlichen Gesetzgeber treten.294 Den so gewonnenen Kompetenzkonflikt hat man im Anschluss versucht, anhand abstrakter Kriterien zu lösen.295 Eine von der Bestimmung des Schutzbereichs des Grundrechts in Art. 9 Abs. 3 GG losgelöste Zuständigkeitsabgrenzung zwischen Staat und Tarifvertragsparteien verstößt jedoch gegen die grundgesetzliche Konzeption.296 Koalitionen und Staat sind nicht Träger ein und derselben Zuständigkeit.297 Sie treten sich vielmehr im Verhältnis von Rechtssetzungsorgan mit Gesetzgebungskompetenz und Träger einer grundrechtlichen Freiheit gegenüber.298 Dem Staat ist eine Gesetzgebungskompetenz verliehen, die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zum Ausdruck kommt.299 Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG stattet die Koalitionen mit dem Instrument der tarifvertraglichen Rechtssetzungsbefugnis aus.300 Dies bedingt zum einen, dass die Koalitionen an die existierende Rechtsordnung gebunden sind, zum anderen verbietet sich dadurch jede abstrakte Kompetenzabgrenzung zwischen Staat und Tarifvertragsparteien.301 Die Verankerung einer Zuständigkeitsregelung im Grundrechtskatalog wäre zudem denkbar unsystematisch.302 Art. 9 Abs. 3 GG erwähnt schließlich die tarifvertragliche Regelungsbefugnis überhaupt nicht, so dass er als Kompetenznorm im Vergleich zu den sonstigen Verfassungsvorschriften, die das Gesetzgebungsverfahren regeln, überaus unscharf wäre.303
294 Vgl. nur Herschel, Referat D zum 46. DJT, D 21; Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. I, S. 373; auch oben 2. Teil: § 6 C. I. 2. a). 295 Vgl. oben 2. Teil: § 6 C. I. 2. a). 296 Dieterich, AuR 2001, 390, 391; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 307; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 329 f.; ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 259. 297 Isensee, in: Zukunft der sozialen Partnerschaft, S. 159, 165; Kempen, AuR 1996, 336, 341; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 330; ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 272; so aber Herschel, Referat D zum 46. DJT, D 21; Hueck / Nipperdey, ArbR, Bd. I, S. 373; ähnlich jüngst Henssler, ZfA 1998, 1, 17 ff., sowie Oetker, ZG 1998, 155, 164. 298 Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 134; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 330; ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 259; ebenso Richardi, DB 1990, 1613, 1615. 299 Streng genommen ist der Hinweis, dass sich die staatliche Gesetzgebungskompetenz auf dem Gebiet des Arbeitsrechts aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ergebe, verfehlt; sie äußert sich dort lediglich. Diese Norm betrifft die durch den bundesstaatlichen Charakter unseres Staatsgefüges bedingte Notwendigkeit, zwischen staatlichen Bundes- und Landeskompetenzen abzugrenzen; dazu dienen die Art. 70 ff. GG. Die Befugnis zur Rechtsetzung ergibt sich aus der staatlichen Souveränität, die alle dieser unterworfenen Subjekte bindet, darunter auch die Koalitionen. 300 Vgl. dazu oben 2. Teil: § 6 C. III. 301 Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 330. 302 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 75. 303 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 75 f.
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Wenn also einige Autoren für die von ihnen vorgenommene „Zuständigkeitsabgrenzung“304 auf Art. 72 Abs. 2 GG zurückgreifen wollen,305 wenden sie einen Maßstab an, der sich allein auf die Konkurrenz von Bundesgesetzgebung und Landesgesetzgebung im Föderalstaat bezieht. Die These, dass in diesem Bereich zwei verfassungsrechtlich fundierte Normsetzungsbefugnisse miteinander konkurrieren,306 geht zu weit. Zwar haben beide Regelungsbefugnisse einen verfassungsrechtlichen Ursprung, zwischen beiden besteht jedoch ein struktureller Unterschied.307 Die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis bildet ein Instrument zur Ergänzung der Koalitionsbetätigungsfreiheit, während sich in der Gesetzgebungskompetenz die staatliche Souveränität widerspiegelt. Dieser Strukturunterschied setzt sich in der hinter der Regelungsmacht stehenden Motivation fort. Die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis ist kein Selbstzweck. Inhaltlich geht es bei einem Tarifvertragsabschluss um die möglichst maximale Verwirklichung der von den Verbänden vertretenen Interessen. Durch die normative Wirkung wird lediglich der in einer gegebenenfalls kämpferischen Auseinandersetzung erzielte Kompromiss gegen privatautonome Unterwanderung abgesichert. Im Gegensatz dazu ist die Gesetzgebung von vornherein an die Strukturprinzipien der Staatsverfassung und den Grundrechtskatalog gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG). Es geht bei ihr um die möglichst optimale Gestaltung des Gemeinwesens. Die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Ländern lässt sich daher nicht unbesehen auf das Verhältnis zwischen Staatsgewalt und grundrechtlichen Freiheitsträgern anwenden.308 Zudem existiert für die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern in den Art. 70 ff. GG bereits eine sachlich-gegenständliche Aufteilung an Regelungszuständigkeiten, die bei Art. 9 Abs. 3 GG gerade fehlt.309 Aus diesem Grund beschränkt sich Art. 72 Abs. 2 GG auch auf die Behandlung der Aspekte, die für die Verteilung dieser ursprünglich bereits gebundenen Staatsgewalt in Form der Gesetzgebungs304 Erwogen wurde unter anderem auch eine Parallele zu Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV (so Herschel, Referat D zum 46. DJT, D 30 f.; auch Fratzky, Gesetzgebungskompetenz, S. 152, der unter anderem in Art. 140 GG i. V. m Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV den verfassungsrechtlichen Grundsatz erblickt, dass die engere Gemeinschaft Vorrang bei der Gestaltung der eigenen Angelegenheiten genießt), die allerdings das Verhältnis zwischen staatlichen Gesetzen und dem staatlicher Gesetzgebung nicht zugänglichen Bereich der Kirche betreffen und daher auf die staatliche Regelung materieller Arbeitsbedingungen nicht übertragbar sind, vgl. Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 53; vgl. auch Däubler, Mitbestimmung, S. 209. 305 Vgl. Oetker, ZG 1998, 155, 164; im Anschluss an Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 160; im Hinblick auf § 3 BetrVG auch Kempen, AuR 1996, 336, 342; ders., Festschrift für Schaub, S. 357, 364, der Art. 72 Abs. 2 GG in diesem Beitrag lediglich analog auf den von arbeitsrechtlichen Mindestbedingungen offen gelassenen Günstigkeitsbereich anwenden will. 306 So Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 253. 307 Bereits Küchenhoff, RdA 1959, 201, 205. 308 Bieback, AuR 2000, 201, 204. 309 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 53; Däubler, Mitbestimmung, S. 208; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 253.
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macht zwischen Bund und Ländern maßgeblich sind.310 Aufgrund des eng fokussierten Regelungsziels stellt Art. 72 Abs. 2 GG daher keine allgemeine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips dar, an das der Bundesgesetzgeber gebunden ist.311 Ebenso wenig kann Art. 28 Abs. 2 GG als Entscheidungsmaßstab für eine „Zuständigkeitsabgrenzung“ zwischen tarifvertraglicher Normsetzungsbefugnis und gesetzlicher Regelung der Arbeitsbedingungen dienen.312 Strukturell lassen sich zwischen der den Kommunen durch Art. 28 Abs. 2 GG verliehenen Autonomie und der durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gewährleisteten tarifvertraglichen Regelungsbefugnis aufgrund des für beide bestehenden Gegensatzverhältnisses gegenüber der staatlichen Gewalt bereits stärkere Parallelen erkennen als im Vergleich zum Verhältnis zwischen Bundes- und Landesgesetzgeber.313 Allerdings findet sich in Art. 28 Abs. 2 GG bereits ein einfacher Gesetzesvorbehalt, der alle kommunalen Rechtsetzungsakte an die geltenden Gesetze bindet. Die Stellungnahmen in Rechtsprechung und Literatur konzentrieren sich daher auf die Bestimmung eines absoluten Bereiches, in dem der Gesetzgeber an einem Eindringen in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie gehindert ist. In Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG findet sich ein genereller Gesetzesvorbehalt nicht. Zwar sind aufgrund der Normenhierarchie auch die Tarifverträge nur im Rahmen der einfachen Gesetze wirksam. Bedingt durch den grundrechtlichen Schutz des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist der Gesetzgeber aber daran gehindert, durch eigene Gesetze im Bereich der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, ungehindert in den Autonomiebereich der Koalitionen einzudringen. Um die Bestimmung dieses Autonomiebereiches geht es bei der Auslegung des Art. 9 Abs. 3 GG, nicht wie bei Art. 28 Abs. 2 GG um die Bestimmung des Wesensgehaltes.314 Das daneben insbesondere von Biedenkopf zur Zuständigkeitsabgrenzung herangezogene Subsidiaritätsprinzip315 beinhaltet in seiner ursprünglichen Bedeutung, dass eine Aufgabe vorzugsweise durch die jeweils kleinere, sachnähere Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 253. So aber Kempen, Festschrift für Schaub, S. 357, 364; dagegen ausdrücklich Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 254 Fn. 410. 312 So aber Schleusener, ZTR 1998, 545, 547. 313 Oetker, ZG 1998, 155, 166. 314 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 254; Däubler, Mitbestimmung, S. 210; gegen eine Parallele zu Art. 28 Abs. 2 GG auch Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 53, der dabei die Gefahr einer staatlichen Aufsicht über die Koalitionen befürchtet. 315 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 178 ff.; ebenso jüngst Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66 ff., der allerdings in seinen Ausführungen die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit staatlicher Regelung materieller Arbeitsbedingungen mit der Frage nach dem Vorrangverhältnis zwischen existierenden arbeitsrechtlichen Vorschriften und tariflichen Regelungen vermengt, vgl. Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 68. 310 311
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Einheit wahrgenommen werden sollte.316 Abgesehen davon, dass dem Grundgesetz kein allgemeines Subsidiaritätsprinzip zugrunde liegt,317 wäre ein solches nur auf miteinander konkurrierende Kompetenzträger anwendbar, wenn diese die auszuführende Aufgabe jeweils ohne eine Veränderung der zu erfüllenden Funktion wahrnehmen können.318 Dies setzt wiederum voraus, dass die größere Instanz nicht nur räumlich oder nach der Anzahl der von ihr erfassten Personen die umfassendere ist. Bei ihr muss es sich um die nächst höhere, die kleinere Einheit einschließende und an deren Belangen zumindest ebenso beteiligte Einheit handeln.319 Diese Prinzipien sind auf das Verhältnis zwischen Grundrechtsträger und Staat aber nicht übertragbar.320 Aus der grundrechtlichen Freiheitsgewährleistung resultiert ein Ausschließlichkeitsverhältnis zwischen beiden. Das Eingreifen der staatlichen Regelungsbefugnis ist allein mittels einer Grundrechtsbeschränkung möglich. Dass diese im Falle von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG fehlt, berechtigt nicht zur Anwendung eines Subsidiaritätsprinzips.321 Die Bereiche, in denen die staatliche Regelungsbefugnis der tarifvertraglichen vorrangig sein soll, betreffen die Existenzsicherung für den einzelnen bzw. die Umsetzung wichtiger Gemeinwohlinteressen.322 Dabei handelt es sich um klassische sozialstaatliche Belange, denen nicht mittels der Anwendung eines Subsidiaritätsprinzips, sondern richtigerweise durch eine Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit zur Durchsetzung verholfen werden muss, deren nähere Voraussetzungen noch zu beleuchten sind.323 Zum anderen löst die Inkorporation der Koalitionen in die staatliche Hierarchie das Problem der Kompetenzabgrenzung keinesfalls. Auch bei einer „Verstaat316 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 78; Herzog, Staat 2 (1963), 399, 401; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 91; Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille, S. 53. 317 Während der Verhandlungen im Parlamentarischen Rat scheiterte der Versuch, ein Subsidiaritätsprinzip in den Verfassungstext des Grundgesetzes einzuführen (vgl. Herzog, Staat 2 (1963), 399, 412; selbst Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66). Ablehnend ebenfalls Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 78 Fn. 459 mit S. 77 Fn. 452 und Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 271; für ein Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsnorm Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 264 ff. 318 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 78, spricht in dieser Hinsicht von einer erforderlichen Homogenität der konkurrierenden Einheiten; Herzog, Staat 2 (1963), 399, 403; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 93. 319 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 78; Herzog, Staat 2 (1963), 399, 402 f. 320 Kemper, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 9 Abs. 3 Rn. 246. 321 Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 9 Rn. 271; selbst Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66. Das bedeutet allerdings nicht, dass dem Subsidiaritätsprinzip verwandte Wertungskriterien zur Auslegung des grundrechtlichen Schutzbereichs nicht herangezogen werden können, vgl. dazu unten 2. Teil: § 7 C. IV. 322 Vgl. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 158 ff.; Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 68 ff. 323 Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 80; gegen eine Abgrenzung staatlicher Normsetzungsbefugnis und tariflicher Regelungshoheit nach „sozusagen naturrechtlichen Sachgesichtspunkten“ auch Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 690.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
lichung“ der Koalitionen bleibt die Verteilung der Zuständigkeiten notwendig. Vielmehr gefährdet die Gleichsetzung den freiheitlichen Gehalt der Koalitionsbetätigung. Gerade diese Freiheit ist es aber, die es den Koalitionen ermöglicht, ihre öffentlichkeitswirksame, soziale und demokratische Funktion im staatlichen Gefüge wahrzunehmen. c) Ergebnis Die Verfassung gibt den Tarifvertragsparteien auf, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu wahren und zu fördern. Einen Teilbereich dieser Funktion bildet die inhaltliche Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses. Auf diesem Gebiet erfüllen die Koalitionen ihre Aufgabe durch den Abschluss von Gesamtvereinbarungen, um die im Rahmen des Individualarbeitsverhältnisses auf Seiten der Arbeitnehmer beeinträchtigte Verhandlungsposition auszugleichen. Insoweit stellt sich die Koalitionsbetätigung im Zusammenhang mit einem Tarifabschluss als kollektivierte Privatautonomie dar. Die in diesem Prozess getroffenen Gesamtvereinbarungen schützt der Staat mittels ihrer normativen Wirkung lediglich gegen individualrechtliche Unterwanderung, weil sonst die Betätigung der Koalitionen leer laufen könnte. Der 1. Staatsvertrag stellt keinen bindenden Auslegungsmaßstab für Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG dar. Allerdings kann er bestätigende Wirkung für eine mit Hilfe der herkömmlichen Methoden erzielten Auslegung zeitigen. 3. Historisch-teleologische Erwägungen Die Materialien zu Art. 9 Abs. 3 GG enthalten keine Anhaltspunkte für den Schutzumfang der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis. Auf die Regelung der Arbeitsbedingungen in Tarifverträgen gingen die Mitglieder des Parlamentarischen Rates nicht ein, lediglich ein Streikrecht diskutierten sie ausführlicher. Diese Zurückhaltung erklärt sich unter anderem durch die Existenz des Tarifvertragsgesetzes vom 9. 4. 1949, mit dem bereits eine gesetzliche Ordnung des Tarifvertragssystems vorlag, so dass ein unmittelbares Regelungsbedürfnis im Verfassungstext nicht bestand.324 Der Zweck der Freiheitsgewährleistung in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG lässt sich nicht losgelöst von der historischen Entwicklung des Grundrechts betrachten.325 Der geschichtliche Hintergrund der Koalitionsfreiheit deutet aber nicht auf eine umfassende, dem Staat gegenüber ausschließliche bzw. vorrangige Regelungskompetenz 324 Badura, in: HBStR VII, § 159 Rn. 4; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 220; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 296; Rupp, JZ 1998, 919, 924. 325 BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 366 f.; Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen der Tarifautonomie, S. 55 f.; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 19.
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der Koalitionen in Gestalt von Tarifverträgen hin.326 Der Abschluss von Tarifverträgen hat sich als Reaktion auf die Industrialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert als kollektivierte Interessenwahrnehmung der Koalitionsmitglieder bei der inhaltlichen Gestaltung ihrer Individualarbeitsbedingungen als ein Mittel zur Überwindung des gestörten Machtgleichgewichts zwischen den Arbeitsvertragsparteien entwickelt. Als solches ist es in seiner personellen und gegenständlichen Reichweite beschränkt und kann lediglich ergänzend zur gesetzlichen Regelung des Arbeitsrechts hinzutreten, nicht jedoch staatsersetzend wirken. Diese in ihrem Anwendungsbereich begrenzte Funktion der tarifvertraglichen Regelungen kommt bereits in Art. 165 Abs. 1 WRV zum Ausdruck, der den Arbeitern und Angestellten eine lediglich mitwirkende Rolle bei der Gestaltung der Lohn- und Arbeitsbedingungen einräumte.327 Dieses Verständnis der tariflichen Normsetzungsbefugnis setzt sich auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fort, das wiederholt von einem den Koalitionen vom Gesetzgeber „freigelassenen“ Raum zum Abschluss von Tarifverträgen spricht. Diese Stellungnahmen so zu verstehen, dass es im Belieben des staatlichen Gesetzgebers stünde, den Tarifvertragsparteien Regelungsbefugnisse zu übertragen und wieder zu entziehen, geht allerdings zu weit.328 Zumindest kommt darin jedoch die richtige Erkenntnis zum Ausdruck, dass sich der staatliche Gesetzgeber seiner in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und 12 GG zu Tage tretenden Gesetzgebungsbefugnis in keinem Bereich vollständig begibt. Dass die Gestaltungsmacht der Tarifvertragsparteien lediglich neben die staatliche Regelungsbefugnis tritt, bestätigt die Position der Bundesrepublik im Hinblick auf ihre internationalen Verpflichtungen. Während die Bundesregierung das Übereinkommen Nr. 150 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 26. 6. 1978 über die Arbeitsverwaltung, deren Rolle, Aufgaben und Aufbau329 ratifizierte, lehnte sie dies für das Übereinkommen Nr. 154 über die Förderung von Kollektivverhandlungen vom 3. 6. 1981330 ab.331 Art. 2 und 3 des Übereinkommens Nr. 150 gestehen den Mitgliedern zu, bestimmte Maßnahmen der Arbeitspolitik nichtstaatlichen Organisationen, insbesondere Verbänden der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, zu übertragen und anzuvertrauen bzw. bestimmte Tätigkeiten auf dem Gebiet der Arbeitspolitik als Angelegenheiten zu betrachten, welche die Verbände der Arbeit326 Zöllner, DB 1989, 2121, 2122; vgl. zur historischen Entwicklung bereits oben 2. Teil: § 6 C. II. und 2. Teil: § 6 C. IV. 3. 327 Vgl. den Text des Art. 165 Abs. 1 WRV, RGBl. 1919, S. 1383 ff., 1415: „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.“ 328 Säcker, Grundprobleme, S. 46 f. 329 Durch Gesetz vom 8. 9. 1980, BGBl. 1980 II, S. 1254 ff. 330 Vgl. BT-Drucks. 10 / 2124, S. 3 ff. 331 Vgl. BT-Drucks. 10 / 2124, S. 9; Löwisch / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 24.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
geber und Arbeitnehmer gemäß der innerstaatlichen Gesetzgebung oder Praxis durch direkte Verhandlungen untereinander regeln. Art. 5 des Übereinkommens gibt den ratifizierenden Staaten darüber hinaus auf sicherzustellen, dass innerhalb des Systems der Arbeitsverwaltung Beratungen, Zusammenarbeit und Verhandlungen zwischen den öffentlichen Stellen und den maßgebenden Verbänden der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer gewährleistet sind. Das Übereinkommen Nr. 154 über die Förderung von Kollektivverhandlungen vom 3. 6. 1981332 geht in seinem Regelungsinhalt weiter. Art. 5 Abs. 1 und 2b in Verbindung mit Art. 2a des Abkommens sah vor, dass die ausschließlich durch Kollektivverhandlungen wahrzunehmende Festlegung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen schrittweise ausgedehnt wird. Dies hätte zur Folge gehabt, dass eine abschließende gesetzliche Regelung bestimmter Bereiche des Arbeitsrechts ohne eine Abweichungsmöglichkeit für die Tarifvertragsparteien in Zukunft ausgeschlossen gewesen wäre. Dementsprechend führte die Bundesregierung in ihrer Begründung zur Ablehnung der Ratifikation aus, dass dem Gesetzgeber insbesondere auf dem Gebiet des Kündigungsschutzes und der Arbeitsgerichtsbarkeit die zwingende Festlegung arbeitsrechtlicher Regelungen erhalten bleiben müsse.333 In ihrer Stellungnahme erkennt die Bundesregierung an, dass Art. 9 Abs. 3 GG den Gesetzgeber daran hindere, die Festlegung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen in beliebigem Umfang zulasten der Tarifvertragsparteien an sich zu ziehen. Die Praxis des Arbeitslebens in der Bundesrepublik trage dem auch Rechnung.334 Allerdings müsse der staatliche Gesetzgeber zur Regelung befugt bleiben, wenn die Koalitionen ihre Aufgabe im Einzelfall nicht allein erfüllen können und die soziale Schutzbedürftigkeit einzelner Arbeitnehmer oder Arbeitnehmergruppen sowie sonstige öffentliche Interessen ein Eingreifen des Staates erforderlich machten.335 Da die Ratifizierung des Abkommens dazu führen würde, dass sich der Staat in Zukunft aus der ihm verfassungsrechtlich zustehenden Regelungskompetenz für das Arbeitsrecht weitgehend zurückziehen oder alle gesetzlichen Vorschriften arbeitsrechtlicher Natur für tarifdispositiv erklären müsste, sprach sich die Bundesregierung gegen eine Ratifizierung aus.336 Diese Entwicklungen bestätigen, dass sich der staatliche Gesetzgeber durch die Anerkennung der tariflichen Normsetzungsbefugnis keineswegs seiner eigenen Gestaltungsmacht begibt. Unter besonderer Berücksichtigung des historischen Hintergrundes lässt sich für den Zweck der Koalitionsfreiheit daher festhalten, dass dieser zwar allgemein in der Wahrnehmung der Interessen der Koalitionsmitglieder für den gesamten Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besteht. Speziell im Hinblick auf Vgl. BT-Drucks. 10 / 2124, S. 3 ff. Stellungnahme der Bundesregierung, BT-Drucks. 10 / 2124, S. 9. 334 Stellungnahme der Bundesregierung, BT-Drucks. 10 / 2124, S. 9. 335 Stellungnahme der Bundesregierung, BT-Drucks. 10 / 2124, S. 9 f. unter wörtlicher Bezugnahme auf BVerfG vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 340 ff. 336 Stellungnahme der Bundesregierung, BT-Drucks. 10 / 2124, S. 10. 332 333
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den Abschluss von Kollektivvereinbarungen ergibt sich jedoch, dass diese der Überwindung des im Individualarbeitsverhältnis bestehenden Machtungleichgewichts zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern dienen. Der Tarifvertrag als unmittelbar und zwingend wirkende Gesamtvereinbarung muss diese Funktion erfüllen können und sachgerechte Ergebnisse für die inhaltliche Gestaltung des Individualarbeitsverhältnisses liefern. Art. 9 Abs. 3 GG fordert daher, den Koalitionen in ihrer Rolle als Tarifvertragsparteien auch in sachlich-gegenständlicher Hinsicht den Abschluss normativ wirkender Gesamtvereinbarungen in einem Umfang zu garantieren, der für das Erreichen sachgerechter Ergebnisse notwendig ist. Die sachlich-gegenständliche Gewährleistung zwingend und unmittelbar wirkender Gesamtvereinbarungen darf jedoch nicht von der Grundlage ihrer normativen Wirkung abgespalten werden.337 Dieser in der Ausgleichsfunktion zwischen den Parteien des Individualarbeitsverhältnisses liegende Ursprung der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis bildet nicht nur die Legitimation, sondern zugleich auch die Grenze der Freiheitsgewährleistung. Nicht alle denkbaren Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen müssen einer Regelung durch Tarifvertrag offen stehen, sondern nur solche, für die der Tarifvertrag seine spezifische Funktion entfalten kann.338 Das sind vorwiegend die Regelungsgegenstände, die auch einer Festlegung im Individualarbeitsvertrag zugänglich sind. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts handelt es sich dabei um die Materien, welche die Koalitionen in eigener Verantwortung zu ordnen vermögen.339 Das gestörte Verhandlungsgleichgewicht erstreckt sich nur auf den Inhalt des Individualarbeitsverhältnisses. Ebenso droht eine Unterwanderung des Verhandlungsergebnisses, deretwegen die normative Wirkung besteht, nur im einzelvertraglichen Bereich, also nur im Hinblick auf die Individualarbeitsbedingungen. Die dem Tarifvertrag über diese Bedingungen hinaus zugeschriebene Ordnungsfunktion für den Bereich des Arbeitsrechts ist ein Reflex, der aus der kollektivierten Regelung der Bedingungen des Individualarbeitsverhältnisses der Mitglieder fließt.340 Dass diese weithin Vorbildfunktion hat und durch Bezugnahme auch Allgemeingut wird, ist ein willkommener Nebeneffekt, aber nicht Primärziel des Tarifvertragssystems. Diese Zweckbindung der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis führt zu einer ersten äußeren Beschränkung ihrer sachlich-gegenständlichen Reichweite auf die auch einzelvertraglich regelbaren Bedingungen des Individualarbeitsverhältnisses. Wenn sich innerhalb dieses teleologisch vorgegebenen Rahmens ergibt, dass nicht die einzelnen Regelungsmaterien als solche grundrechtlich garantiert werden müssen, um eine effektive Grundrechtsverwirklichung zu erreichen, sondern sich der verfassungsrechtliche Schutz allein auf den tariflichen Einigungsprozess als Garant 337 338 339
283. 340
Vgl. dazu bereits oben 2. Teil: § 6 C. III. 3. Badura, Staatsrecht, C 100 S. 243. BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 283; vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, Ähnlich auch Zöllner, DB 1989, 2121, 2122; Schlachter, JbArbR 40 (2003), 51, 54.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
für die Hervorbringung sachgerechter, die Funktion des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG wahrender Ergebnisse, bezieht, dann kann die grundrechtliche Garantie mit Friese zusätzlich auf ein funktionsfähiges Tarifvertragssystem als solches eingeengt werden, das den Tarifvertragsparteien in sachlich-gegenständlicher Hinsicht lediglich so viel Freiraum sichert, dass diese genügend Verhandlungsgewicht in die Austragung des Interessengegensatzes einbringen können. Nach dieser Ansicht beinhaltet der Grundrechtsschutz gerade nicht die Garantie der tariflichen Normsetzungsbefugnis im Hinblick auf bestimmte Regelungsgegenstände, sondern nur hinsichtlich des verbleibenden Verhandlungsspielraums als solchem. Ein derartiges Schutzbereichsverständnis führt bei der praktischen Anwendung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu einer komplexen Gesamtbetrachtung. Der Schutzbereich ist danach nur beeinträchtigt, wenn die Gesamtheit des noch verbleibenden Regelungsspielraums nicht mehr ausreicht, damit beiden Seiten ausreichend Verhandlungsgewicht im Rahmen des Verhandlungsprozesses zur Verfügung steht. Eine derartige Untersuchung erfordert die Gewichtung der noch zur Verfügung stehenden Regelungsmaterien im Hinblick darauf, welche Bedeutung sie für die Konstitution der Verhandlungsstärke der Koalitionen erlangen. Damit wird bereits für die Bestimmung des Schutzbereichs eine Abwägung getroffen, die grundsätzlich erst in den Bereich der Grundrechtsschranken, insbesondere des Verhältnismäßigkeitsprinzips gehört. Grundrechtsgarantien sind prinzipielle Gewährleistungen eines Freiheitsbereiches, dessen äußerste Grenzen von vornherein großzügig zu ziehen sind. Im Einzelfall kann dieser bei der Kollision mehrerer schutzwürdiger Interessen Einschränkungen erfahren.341 Typische Ausformung der Auflösung dieser Interessenkollisionen ist die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Nur in dessen Rahmen ist eine komplexe Gesamtbetrachtung sinnvoll.342 Das von Friese vorgeschlagene funktionale Verständnis des grundrechtlichen Schutzbereiches im Hinblick auf die sachlich-gegenständliche Reichweite der Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis ist einer rein formalen Auffassung von der Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems als Verhandlungsprozess verhaftet. Als Hauptargument gegen eine materielle Bestimmung des Schutzbereichs von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG in Bezug auf die Kompetenz der Koalitionen zum Abschluss normativ wirkender Gesamtvereinbarungen dient die Entwicklungsoffenheit des Grundrechts und die dieser entgegen wirkende inhaltliche Verfestigung des Grundrechtsschutzes bei einer Konkretisierung des Schutzbereichs anhand bestimmter Regelungsmaterien. Aber auch Friese sieht sich gezwungen, bei der Anwendung des von ihr vorgeschlagenen rein funktionalen Modells die Frage nach der Eröffnung des grundrechtlichen Schutzbereichs im Hinblick auf einzelne Regelungsgegenstände zu beantworten. Dementsprechend kommt sie zu dem Ergebnis, dass die gesetzliche Regelung einer konkreten Materie den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG tangiert, wenn jene für die TarifvertragsparAlexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff. Kritisch aufgrund der schwierigen Handhabung der funktionellen Ansätze auch Oetker, ZfA 2001, 287, 306. 341 342
§ 6 Ableitung des Schutzumfangs der Tarifautonomie
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teien von wesentlicher Bedeutung für den Abschluss und den Inhalt von Tarifverträgen ist und ihr Entzug nicht durch die verbleibenden Regelungsmaterien kompensiert werden kann.343 Die Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis wird dadurch zugunsten einer nur vermeintlichen Flexibilität des Grundrechtstatbestandes erheblich eingeengt. Aufgrund der komplexen Gesamtbetrachtung und der bereits im Rahmen der Schutzbereichsbestimmung erforderlich werdenden Bewertung und Gewichtung ist das funktionale Konzept zudem nur schwer handhabbar. Dabei besteht auch bei der Ausdehnung des sachlich-gegenständlichen Schutzes der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis auf alle arbeitsvertraglich regelbaren Bedingungen des Individualarbeitsverhältnisses ausreichende Flexibilität. Da sich im Inhalt des Individualarbeitsverhältnisses die tatsächliche wirtschaftliche und soziale Entwicklung widerspiegelt, ist die Bestimmung des Schutzumfangs der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis anhand der einzelvertraglich regelbaren Arbeitsbedingungen, wie sie auch das Bundesverfassungsgericht vornimmt, durchaus flexibel. Sie führt weder zu einer nicht gerechtfertigten Beschränkung der Tarifvertragsparteien auf die Regelung der arbeitsvertraglichen Hauptpflichten, noch zementiert sie den Bereich grundrechtlich garantierter tariflicher Regelungsgegenstände. Die grundrechtliche Garantie allein auf die formale Funktionsfähigkeit des tariflichen Verhandlungsprozesses zu reduzieren, greift hingegen zu kurz. Der Grundrechtsschutzbereich erfasst alle der gesetzgeberischen Ausgestaltung bedürftigen Betätigungsformen, die zu einer sinnvollen Wahrnehmung des Koalitionszwecks erforderlich sind. Dieser Koalitionszweck besteht in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen. Speziell für die inhaltliche Gestaltung der Individualarbeitsbedingungen haben die Koalitionen die Aufgabe, die im Einzelarbeitsverhältnis gestörte Verhandlungsparität durch Kollektivvereinbarungen zu überwinden. Die Gefahr des Verhandlungsungleichgewichts besteht auch heute noch344 und ist auf den gesamten Bereich des Individualarbeitsverhältnisses ausgedehnt. In dieser sachlich-gegenständlichen Reichweite, macht die kollektivierte Interessenwahrnehmung nur Sinn, wenn sie durch eine normative Wirkung abgesichert wird. Diese Garantie gilt auch gegenüber dem Staat, der aus der traditionellen Entwicklung der Koalitionen heraus deren eigenständige Interessenwahrnehmung in Art. 9 Abs. 3 GG anerkannt hat. Die formale Funktionsfähigkeit des tariflichen Einigungsprozesses bei der koalitionsgemäßen Interessenwahrung im Bereich der inhaltlichen Gestaltung des Individualarbeitsverhältnisses im Sinne gleichgewichtiger Verhandlungspositionen beschreibt vielmehr die Schwelle, bei deren Überschreiten gesetzgeberische Aktivität in einen rechtswidrigen Eingriff und damit in eine Grundrechtsverletzung umschlägt.345 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 258. BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 250; Kempen, RdA 1994, 140, 144; Kleinherz, Gutachten B zum 63. DJT, B 62 f.; Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit, S. 228. 345 Vgl. dazu auch 2. Teil: § 7 B. II. 343 344
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
4. Ergebnis der Auslegung des Grundrechtstatbestandes Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG schützt die tarifvertragliche Regelungsbefugnis in sachlich-gegenständlicher Hinsicht für alle individualvertraglich regelbaren inhaltlichen Bedingungen des Arbeitsverhältnisses, d. h. für die materiellen Arbeitsbedingungen und die darauf bezogenen sozialen Leistungen und Einrichtungen.346 Ein allgemein- oder beschäftigungspolitisches Mandat der Tarifvertragsparteien für die Schaffung von Tarifnormen besteht nicht. Soweit allerdings die Regelung der inhaltlichen Ausgestaltung des Arbeitsverhältnisses auch beschäftigungspolitische Wirkungen zeitigt, steht dies einer Einbeziehung dieser Materien in den grundrechtlichen Schutzbereich nicht entgegen.347
D. Zusammenfassung Die Grundrechtsgarantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gewährleistet über ihren Wortlaut hinaus, nicht nur dem Individuum die Bildung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberkoalitionen, sondern als Doppelgrundrecht auch die koalitionsspezifische Betätigung für Koalitionsmitglieder und die Vereinigungen als solche. Der Betätigungsschutz ist dabei nicht auf das Maß des für Sicherung und Erhaltung des Bestandes der Koalitionen Unerlässlichen beschränkt. Vielmehr sind alle den Koalitionen faktisch möglichen Betätigungsformen, die sich im Rahmen der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bewegen, in die vorbehaltlose Garantie einbezogen. Uneingeschränkt gilt dieses Ergebnis als Folge des primären Charakters des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG als Freiheitsrecht jedoch nur für solche Betätigungen, die die Koalitionen gerade in Abwesenheit des Staates am besten vornehmen können. In dem Maße, in dem die Koalitionen bei der Verwirklichung ihrer grundrechtlich garantierten Freiheit auf die Existenz von einfachgesetzlichen Normen angewiesen sind, verpflichtet der objektivrechtliche Gewährleistungsgehalt der verfassungsrechtlichen Garantie der Koalitionsfreiheit den staatlichen Gesetzgeber zur Bereitstellung ergänzender Normenkomplexe. Diese objektivrechtliche Ausgestaltungspflicht erstreckt sich jedoch nur auf solche einfachgesetzlichen Vorschriften, die die Koalitionen zu einer sinnvollen Verwirklichung ihrer grundrechtlich zugewiesenen Funktion der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen benötigen. Im Mittelpunkt der Koalitionsbetätigung zur Erreichung des grundrechtlich vorgegebenen Zwecks steht die kollektive Regelung der Bedingungen der Individualarbeitsverhältnisse der Koalitionsmitglieder in Form von Gesamtvereinbarungen. Damit diese ihre spezifische Schutzfunktion auch tatsächlich 346 So die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 283. 347 Vgl. Rieble, ZTR 1993, 54, 57.
§ 7 Verpflichtung des Gesetzgebers
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erfüllen können, ist ihre unmittelbare und zwingende Wirkung für das Arbeitsverhältnis erforderlich. Die besonderen Rechtswirkungen der Gesamtvereinbarungen und die Voraussetzungen ihres Zustandekommens muss der staatliche Gesetzgeber aufgrund des objektivrechtlichen Gehalts der Grundrechtsgewährleistung durch ein einfachgesetzliches Tarifvertragssystem sicherstellen. Zwischen objektivrechtlich veranlasster Ausgestaltungspflicht und subjektivrechtlich garantierter Grundrechtsgewährleistung besteht aber insofern ein Zusammenhang, dass die Vernachlässigung der Ausgestaltungsaufgabe in dem Bereich, der vom Grundrechtsschutzbereich als Minimum an komplementären einfachgesetzlichen Normen vorgegeben wird, gleichzeitig zu einem Eingriff in die Grundrechtsgarantie führt. In dem Umfang, in dem ein staatliches Unterlassen der Ausgestaltung zu einem Eingriff in den grundrechtlichen Schutzbereich führt, umfasst dieser zugleich auch die ausgestaltungsbedürftige Betätigung unmittelbar. Übertragen auf die tarifvertragliche Regelungsbefugnis als ausgestaltungsbedürftige Betätigungsform folgt daraus, dass der grundrechtliche Schutzbereich sie insoweit unmittelbar erfasst, als sie für eine sinnvolle Verwirklichung des Koalitionszwecks erforderlich ist. Die Auslegung des Grundrechtstatbestandes hat in dieser Hinsicht ergeben, dass die tarifliche Regelungsbefugnis in sachlich-gegenständlicher Hinsicht für alle auch arbeitsvertraglich regelbaren Arbeitsbedingungen Teil des Schutzbereichs ist. Im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes garantiert Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG somit die Regelung aller materiellen Arbeitsbedingungen sowie darauf bezogener sozialer Leistungen und Einrichtungen. Auf dieser Grundlage ist nun die Untersuchung der dem Gesetzgeber verbleibenden Regelungsmöglichkeiten im Bereich des Arbeitsrechts anhand der noch zu bestimmenden Schrankenvorgaben des Art. 9 Abs. 3 GG möglich. Im Zentrum wird dabei die Frage stehen, inwieweit sich aus der soeben ermittelten grundrechtlichen Gewährleistung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis Verpflichtungen des Gesetzgebers für eine tarifdispositive Ausgestaltung arbeitnehmerschützender gesetzlicher Vorschriften ergeben.
§ 7 Verpflichtung des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts Die Untersuchungen zur Schutzintensität hinsichtlich der Tarifautonomie aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG haben ergeben, dass die Garantie der Koalitionsfreiheit die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis für alle auch einzelvertraglich regelbaren Arbeitsbedingungen verfassungsrechtlich gewährleistet. Auf dieser Grundlage sind nun nähere Betrachtungen zu den Restriktionen für die gesetzliche Regulierung materieller Arbeitsbedingungen möglich. Der Schutz der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG kann dabei in zweifacher Hinsicht für
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
den Gesetzgeber relevant werden. Das Grundrecht zieht ihm bei der zwingenden Regelung materieller Arbeitsbedingungen Grenzen. An dieser Grenzlinie der Zulässigkeit der zwingenden Normierung staatlicher Arbeitsbedingungen beginnt eine mögliche Verpflichtung des Gesetzgebers zur tarifdispositiven Gestaltung seiner Arbeitnehmerschutzvorschriften. Zuvor stellt sich jedoch die Frage, ob tarifdispositive arbeitsrechtliche Normen vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis überhaupt vollkommen unbedenklich sind. Die Beurteilung dieser Fragen hängt maßgeblich davon ab, ob und in welchem Ausmaß zwingende und tarifdispositive Arbeitnehmerschutzvorschriften den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG beeinträchtigen und wie sie sich gegebenenfalls rechtfertigen lassen.
A. Dogmatischer Ausgangspunkt vor dem Hintergrund des Meinungsbildes in Literatur und Rechtsprechung Der Gedanke einer staatlichen Pflicht zur tarifdispositiven Ausgestaltung gesetzlicher Arbeitnehmerschutzvorschriften hat im Schrifttum wiederholt Ausdruck gefunden. Der Hochschulbeschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1996348 veranlasste Hanau349 zu der Prognose, dass die Erstreckung der vorbehaltlosen Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG auf die tarifvertragliche Regelung aller materiellen Arbeitsbedingungen und darauf bezogener sozialer Leistungen und Einrichtungen350 dazu führen wird, dass der Gesetzgeber verstärkt tarifdispositive Arbeitnehmerschutzvorschriften schaffen müsse, anstatt einseitig zwingende gesetzliche Regelungen zu erlassen. Bereits in seinem Gutachten zum 63. Deutschen Juristentag, der in der arbeits- und sozialrechtlichen Abteilung die Frage untersuchte, welche arbeits- und ergänzenden sozialrechtlichen Regelungen sich zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit empfehlen, hatte Hanau die grundsätzlich tarifdispositive Gestaltung von Teilen des Arbeitsrechts als Ausweg aus der Unflexibilität des deutschen Arbeitsrechts aufgezeigt.351 Vorsichtiger argumentieren Löwisch und Rieble, die den staatlichen Gesetzgeber im grundrechtlich geschützten tariflichen Regelungsbereich nur an das Verhältnismäßigkeitsprinzip binden wollen, aber im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung anmahnen, dass die Tarifdispositivität einer gesetzlichen Regelung stets die erste Wahl darstelle.352 Deutlicher stellt demgegenüber Badura fest, das Verhältnismäßigkeitsprinzip bestimme das tarifdispositive Gesetz als den Regelfall.353 Gegen eine generelle Tarifdispositivität arbeitsBVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268 ff. ZIP 1996, 447; dagegen Konzen, Anm. zu BVerfG vom 4. 7. 1995, SAE 1996, 216, 219. 350 Vgl. BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 282 ff. 351 Hanau, Gutachten C zum 63. DJT, S. 63. 352 Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 244 Rn. 69 a. E., § 246 Rn. 59; dies., TVG, Grundl. Rn. 29. 353 Badura, RdA 1974, 129, 135. 348 349
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rechtlicher Schutzvorschriften wenden sich auch Schaub und Oetker, was aber im Einzelfall eine aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip fließende Verpflichtung des Gesetzgebers zur tarifdispositiven Ausgestaltung bestimmter Vorschriften nicht ausschließe.354 Die These von einer staatlichen Pflicht zur Tarifdispositivität ist jedoch älter. Bereits Biedenkopf kam 1964 zu dem Ergebnis, dass zwingende staatliche Arbeitsgesetze nur insoweit zulässig sind, als der Gesetzgeber dadurch nicht den Kernbereich des Art. 9 Abs. 3 GG verletze.355 Im Bereich der verteilenden Sozialgesetzgebung, darunter versteht Biedenkopf Regelungen, die Risiken, Lasten und Vorteile zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern bzw. der Allgemeinheit verteilen, bestehe eine konkurrierende Zuständigkeit zwischen dem staatlichen Gesetzgeber und den Tarifvertragsparteien.356 Soweit derartige Gesetze auf die Parteien des Einzelvertrags beschränkt seien und nur zwischen diesen einen gerechten Ausgleich bezweckten, sei die gesetzliche Regelungsmacht subsidiär, d. h. die tarifliche Regelung gehe in diesem Bereich der gesetzlichen vor. Eine zwingende gesetzliche Regelung auf diesem Gebiet würde gegen Art. 9 Abs. 3 GG verstoßen.357 Herschel358 leitete 1969 aus Art. 9 Abs. 3 GG die Pflicht des Bundesgesetzgebers ab, den Kernbereich des Tarifsystems zur Verfügung zu stellen. Auf dem Boden der damals vorherrschenden Lehre von der Tarifautonomie als Institutsgarantie, gehörte für ihn dazu auch „das Institut der Zulassungsnormen als aus der Weimarer Zeit überlieferter, abrundender Zusatz zum bestehenden Tarifsystem, zwar nicht begriffsnotwendig, aber in typologischer Beiordnung“359. Gegen eine, wenn auch nur auf einen Teilbereich begrenzte, Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiver Vorschriften im Arbeitsrecht wendet sich Wiedemann.360 Art. 9 Abs. 3 GG garantiere keinen gegenständlichen Bereich, in dem der staatliche Gesetzgeber nicht mit den Sozialpartnern in Konkurrenz treten dürfe.361 Da das geltende Gesetzesrecht in weitem Umfang nur einseitig zwingend ausgestaltet sei und Abweichungen zugunsten der Arbeitnehmer dulde, werde die Tätigkeit der Tarifvertragsparteien nicht über Gebühr beschränkt.362 Auch Gamillscheg sieht den gesetzlichen Status Quo an zwingenden und tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzgesetzen vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie nicht als problematisch an.363 Seiner Ansicht nach habe der 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363
Schaub, ArbRHB, § 31 IV. 3. a), Rn. 50; Oetker, ZfA 2001, 287, 306 f. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 154. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 210. Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 211. RdA 1969, 211 ff. Herschel, RdA 1969, 211, 213. In: Wiedemann, TVG, Einl. Rn. 395. Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 395. Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 395. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 299 f.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
Parlamentarische Rat mit der Einfügung der Garantie des Art. 9 Abs. 3 GG auch nicht bezweckt, dass fortan die gesetzliche Regelung im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlich geforderten Minimum eines tariflichen Regelungsspielraums überprüft werde.364 Es sei noch kein Gesetz daran gescheitert, dass sein Gegenstand auch tariflich hätte geordnet werden können; sollte das Bundesverfassungsgericht einmal in diesem Sinne entscheiden, so wären seine Ausführungen neu zu schreiben.365 Dass ein solches „Abklopfen“366 staatlicher Normen auf ihre Erforderlichkeit vor dem Hintergrund der tariflichen Regelungsbefugnis dennoch nicht vollkommen abwegig ist, belegen drei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in denen die Richter gesetzliche Regelungen materieller Arbeitsbedingungen anhand der sachlich-gegenständlichen Gewährleistung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft haben. Es handelte sich dabei um zwei zwingend ausgestaltete gesetzliche Bestimmungen367 und eine tarifdispositive Vorschrift.368 Zwar hat das Bundesverfassungsgericht ihre Vereinbarkeit mit Art. 9 Abs. 3 GG festgestellt. Dennoch ist dadurch zumindest der Weg zu einer sachlichgegenständlichen Überprüfung gesetzlicher Arbeitnehmerschutzgesetze anhand der in der Garantie der Koalitionsfreiheit enthaltenen tarifvertraglichen Regelungsbefugnis beschritten. Das Meinungsspektrum erweist sich demnach als weit gefächert. Es reicht von Ansichten, die eine Bindung der staatlichen Normsetzungsmacht bei der Entscheidung zwischen dem zwingenden oder tarifdispositiven Charakter eines Gesetzes ablehnen, bis hin zu der Forderung nach einer weitreichenden Öffnung der gesetzlichen Vorschriften für abweichende tarifvertragliche Regelungen. Die Lösung des Problems kann sich nur aus den Vorgaben der Verfassungsgarantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ergeben, an die der Gesetzgeber gebunden ist (Art. 1 Abs. 3 GG). Letztlich hängt die Begründung einer Pflicht zur Schaffung tarifdispositiver Vorschriften davon ab, ob es sich bei Arbeitnehmerschutzgesetzen um Eingriffe in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit oder dessen Ausgestaltung handelt. Darüber hinaus wirken sich die Schranken des Grundrechts erheblich auf den Spielraum aus, welcher dem Gesetzgeber für die Festlegung der materiellen Arbeitsbedingungen verbleibt. Dabei ist stets zu beachten, dass Art. 9 Abs. 3 GG einen Grundrechtstatbestand bildet, der sich grundsätzlich nicht von den übrigen Garantien des Grundrechtskatalogs unterscheidet. Mit den im Schrifttum vereinzelt gebliebenen Stimmen Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 300. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 300. 366 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 300. 367 Vgl. BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268 ff., und vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 282. 368 Vgl. BVerfG vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304; vgl. zur Prüfung von tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften an Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG auch den Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153 ff.; BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG, und vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG. 364 365
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ist daher anzumahnen, sich für die Beantwortung der Frage im Rahmen der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik zu bewegen,369 wohl wissend, dass diese in Teilbereichen noch nicht abschließend gefestigt ist.
B. Beeinträchtigung des Schutzbereichs der Koalitionsfreiheit durch die staatliche Arbeitnehmerschutzgesetzgebung Sowohl im Hinblick auf zwingende als auch tarifdispositive Arbeitnehmerschutzgesetze stellt sich die Frage, ob diese die Schwelle zu einem Eingriff in die Koalitionsbetätigungsgarantie überschreiten. Während einseitig oder zweiseitig zwingend gestaltete Arbeitnehmerschutzvorschriften der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis unmittelbar Grenzen ziehen, lassen tarifdispositive Regelungen zumindest formal die Tarifautonomie unberührt, da sie den Tarifvertragsparteien die Abweichung sowohl zugunsten als auch zulasten der Arbeitnehmer gestatten.
I. Zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht zwischen Grundrechtseingriff und Grundrechtsausgestaltung Neben natürliche Betätigungen der Koalitionen treten im Schutzbereich der kollektiven Koalitionsbetätigungsfreiheit ausgestaltungsbedürftige Handlungsformen.370 Diese genießen im Rahmen des Schutzbereichs zwar denselben Schutz wie die natürlichen Tätigkeiten, der Gesetzgeber ist jedoch verpflichtet, die notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen für ihre Ausübung zu schaffen. Zwangsläufig mischen sich daher im Hinblick auf die Koalitionsfreiheit gesetzgeberische Aktivitäten, die der Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit dienen, mit solchen, die nicht für die Entfaltung des grundrechtlichen Schutzes vorgesehen sind, sondern freiheitsbegrenzenden Charakter haben. Sowohl bei der Grundrechtsbeschränkung als auch bei der Ausgestaltung ist der Gesetzgeber an die Verfassung gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG). Ob er ausgestaltend tätig wird oder die grundrechtliche Freiheit beschränkt, wirkt sich auf die Intensität der Bindung aus371 und führt zu einer gesonderten Behandlung eingreifender und ausgestaltender Gesetze im Hinblick auf ihre verfassungsrechtliche Zulässigkeit. Die sich aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG für den Gesetzgeber ergebenden Restriktionen sind strenger, wenn er mit seiner Arbeitnehmerschutzgesetzgebung in den grundrechtlichen Schutzbereich eingreift.
Butzer, RdA 1994, 375, 385; Friauf, RdA 1986, 188, 190. Vgl. oben, 2. Teil: § 6 C. III. 371 Vgl. oben, 2. Teil: § 6 C. III. 2. c); sowie Thüsing / Zacharias, Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, EzA Art. 9 GG Nr. 75, S. 15. 369 370
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
1. Einseitig oder zweiseitig zwingende Wirkung von Arbeitnehmerschutzgesetzen als untaugliches Abgrenzungskriterium zwischen Eingriff und Ausgestaltung Einigkeit besteht hinsichtlich der Frage, dass die zweiseitig zwingende gesetzliche Regelung materieller Arbeitsbedingungen als Eingriff in das Grundrecht der kollektiven Koalitionsbetätigungsfreiheit zu behandeln ist.372 Wenn darüber hinaus einseitig zwingende Arbeitnehmerschutzgesetze vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG als unbedenklich eingeordnet werden, da durch sie für die Arbeitnehmerseite keine Verschlechterung des gesetzlichen Status Quo drohe und genügend Verhandlungsspielraum der Tarifvertragsparteien im Günstigkeitsbereich verbleibe,373 dann beruht diese Einschätzung auf einem Verständnis des Art. 9 Abs. 3 GG, das diesen als alleiniges Arbeitnehmergrundrecht einordnet.374 Aus Sicht der normunterworfenen Arbeitnehmer resultiert aus der Tarifdispositivität gesetzlich geregelter materieller Arbeitsbedingungen die Gefahr, dass der gesetzliche Status Quo verschlechtert wird. Auf den ersten Blick scheint die Tarifdispositivität daher nur der Arbeitgeberseite zu nützen. Versteht man Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG als bloßes Arbeitnehmerschutzrecht, dann würde ein einseitig zwingendes Gesetz diesem Schutzcharakter nicht entgegenstehen und könnte aus teleologischer Sicht auch keinen Eingriff konstituieren. Eine derartige Pauschalbeurteilung verbietet sich jedoch von vornherein. Es kann nicht ausschließlich anhand der einseitig zwingenden Wirkung beurteilt werden, ob das Gesetz tatsächlich nur positiv für die betroffenen Arbeitnehmer zu bewerten ist. Weiterhin ist heute aber auch selbstverständlich, dass Arbeitnehmer- und Arbeitgebervereinigungen gleichermaßen den Schutz des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG genießen und zwischen ihnen hinsichtlich des Schutzumfangs keine Unterschiede bestehen.375 Allein anhand der Wirkungsweise einer gesetzlichen Regelung als einseitig oder zweiseitig zwingender Vorschrift kann ein gesetzlicher Eingriff in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG daher nicht von der Ausgestaltung der Tarifautonomie unterschieden werden.
372 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133; ähnlich auch Kempen, AuR 1996, 336, 340, der allerdings zwischen der gesetzlichen Regelung einer bereits von bestehenden Tarifverträgen erfassten Materie und tarifvertraglich noch ungeregelten Gegenständen differenzieren will; Dörner, NZA 1998, 561, 566; Stein, AuR 1998, 1, 3 ff. 373 Däubler, Mitbestimmung, S. 213 f.; ähnlich auch Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 395. 374 Hagemeier / Kempen / Zachert / Zilius, TVG, 2. Aufl., § 2 Rn. 81; abgeschwächt auch noch in der Folgeauflage Kempen / Zachert, TVG, § 2 Rn. 82; Kittner, in: AK-GG, Bd. I, Art. 9 Abs. 3 Rn. 26 unter (4); anders jedoch mittlerweile Kempen, AuR 1996, 336, 342. 375 BVerfG vom 4. 7. 1995, BVerfGE 92, 365, 394; Buchner, NZA 1995, 761, 768; Friauf, RdA 1986, 188, 189 f.; Löwisch, ZIP 2001, 1565, 1567.
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2. Der strukturelle Unterschied zwischen Eingriff und Ausgestaltung Dass die Unterscheidung zwischen Eingriff und Ausgestaltung im Rahmen des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nicht überflüssig ist und sie ebenso wenig aufgrund praktisch auftretender Abgrenzungsschwierigkeiten abgetan werden kann,376 haben bereits die Untersuchungen zur objektivrechtlichen Komponente der kollektiven Koalitionsbetätigungsfreiheit377 gezeigt. Und tatsächlich besteht zwischen Eingriff und Ausgestaltung ein struktureller378 und nicht lediglich ein gradueller Unterschied.379 Trotz der noch immer vorherrschenden Unsicherheiten hinsichtlich der Abgrenzung zwischen Eingriff und Ausgestaltung380 lassen sich einige Kriterien finden, die eine Unterscheidung ermöglichen. Eingriffe in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit unterscheiden sich von dessen Ausgestaltung in erster Linie hinsichtlich des Regelungsziels. Während die Ausgestaltung grundsätzlich in eine positive Richtung weist,381 sind Eingriffe auf Freiheitsentzug gerichtet. Die Ausgestaltung des Grundrechts hat die Funktion, durch die Bereitstellung komplementärer Normenkomplexe Betätigungsformen zu eröffnen, um dem Grundrechtsträger so den Gebrauch der ihm garantierten Freiheit zu ermöglichen.382 Neben dieser komplementierenden Funktion erfüllt die Ausgestaltung zusätzlich eine Koordinierungsaufgabe. Ausgestaltende Normen regeln die Verhältnisse der Tarifvertragsparteien sowohl intern als auch innerhalb der Beziehung der in einem Interessengegensatz stehenden Koalitionsgegner untereinander und stellen die Funktionsfähigkeit des Auseinandersetzungsprozesses und mitSo aber Henssler, ZfA 1998, 1, 11. Vgl. oben, 2. Teil: § 6 C. III. 2. b). 378 BVerfG vom 4. 11. 1986, BVerfGE 73, 118, 166, zur Rundfunkfreiheit; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 300; Butzer, RdA 1994, 375, 378; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 114; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 227; Hesse, in: HBVerfR, § 5 Rn. 62 ff.; J. Ipsen, JZ 1997, 473, 479; Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, Art. 9 Rn. 35, Vorb. vor Art. 1 Rn. 34; ders., AöR 110 (1985), 363, 390 ff.; Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 64; Löwer, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 9 Rn. 24, im Hinblick auf die Vereinigungsfreiheit im Allgemeinen; Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, S. 253; Ruck, AöR 117 (1992), 543, 545 f.; Söllner, NZA 2000, Beilage Nr. 24, S. 33, 35; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG. 379 So jedoch Schwarze, JuS 1994, 653, 658; Heimes, Anm. zu BVerfG vom 14. 11. 1995, MDR 1996, 562, 565. 380 Vgl. insbesondere die vollkommen von der bekannten Dogmatik abweichenden Vorschläge von J. Ipsen, JZ 1997, 473 ff., und Isensee, in: HBStR V, § 111. 381 Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 113; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 185. 382 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 444; Butzer, RdA 1994, 375, 378; Dörner, NZA 1998, 561, 564; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 113; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 227; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 183; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 392; Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 64; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 306; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG; für die Rundfunkfreiheit: Ruck, AöR 117 (1992), 543, 545. 376 377
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
hin des gesamten Tarifvertragssystems durch die Aufstellung von Zugangsvoraussetzungen sicher.383 Ihr Regelungsziel ist dementsprechend darauf ausgerichtet, die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems zu wahren und zu verbessern, insbesondere die kollektiven Beziehungen der Koalitionen untereinander, die Modalitäten des tariflichen Verfahrens sowie die Wirkung und Durchsetzbarkeit von Kollektivvereinbarungen zu regeln.384 Aber auch in dieser Hinsicht dient die Ausgestaltung der Entfaltung des Grundrechts und fördert seine Effektivität.385 Dies spiegelt sich auch in den Schutzgütern entsprechender gesetzlicher Regelungen wider, die sich bei Eingriffen im Gegensatz zu ausgestaltenden Vorschriften gerade nicht auf die Koalitionsfreiheit selbst, sondern auf andere rechtspolitische Ziele, vor allem den Schutz von Grundrechten Dritter konzentrieren.386 Auch die Koordinationsfunktion findet jedoch ihre Grenze am grundrechtlichen Schutzbereich. Seine Definition kann nicht als Teil der Ausgestaltung eingeordnet werden.387 Die von Heimes vorgeschlagene Abgrenzung, nach der die Ausgestaltung eine Bestimmung des Schutzbereichs bedingt, die bei zu weitreichender Begrenzung zu einem Eingriff führt, würde die Entscheidung über die Reichweite des Schutzbereichs in die Hände des Gesetzgebers legen. Dieser würde sich dann selbst kontrollieren. Auch der Abgrenzungsvorschlag von Pieroth und Schlink,388 nach dem Ausgestaltungsgesetze das aus der Vergangenheit Überkommene seinem Geist nach fortentwickeln, Eingriffsgesetze hingegen mit der Tradition brechen, verkennt die besonderen Anforderungen, die Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG an die Gesetzgebung stellt. Zum einen ist die Feststellung, wo Tradition fortgebildet und wann mit ihr gebrochen wird, höchst subjektiv. Zum anderen liefert sie keinen Maßstab dafür, derartige gesetzliche Regelungen zu identifizieren, die nicht der Verwirklichung des Grundrechts dienen und daher den gesteigerten Anforderungen der Rechtfertigung unterliegen sollen.389 Im Kontrast zu der grundsätzlich freiheitsermöglichenden Funktion der Ausgestaltung, kommt dem Eingriff freiheitsverkürzende Wirkung zu.390 Ein Grundrechtseingriff ist im Wesentlichen durch seine Imperativität gekennzeichnet.391 383 Butzer, RdA 1994, 375, 380; kritisch Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 306 f., der Normen, die kollidierende Interessen ausgleichen, stets als Eingriffe werten will. 384 Dieterich, RdA 2002, 1, 12; ders., DB 2001, 2398, 2401; Konzen, Anm. zu BVerfG vom 4. 7. 1995, SAE 1996, 216, 218 f. 385 Dörner, NZA 1998, 561, 564. 386 Dieterich, DB 2001, 2398, 2401; Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 114. 387 So aber Heimes, Anm. zu BVerfG vom 14. 11. 1995, MDR 1996, 562, 565; dagegen Döttger, Schutz tariflicher Normsetzung, S. 113. 388 Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 213. 389 Kritisch auch Dieterich, RdA 2002, 1, 12. 390 Butzer, RdA 1994, 375, 378; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 228; Thüsing, Anm. zu BVerfG vom 14. 11. 1995, EzA Art. 9 Nr. 60, S. 15; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133. 391 Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 43; Sachs, in: ders., GG, vor Art. 1 Rn. 80.
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Einseitige Verhaltensanforderungen oder aber rechtsgestaltende Akte bewirken bei Vorliegen eines Grundrechtseingriffs die Verkürzung der Freiheitssphäre des Grundrechtsträgers.392 Gezielte Freiheitsverkürzungen werden dabei sicherlich die Ausnahme sein.393 Aufgrund ihrer funktionssichernden Zielsetzung können auch ausgestaltende Regelungen durchaus belastend für die betroffenen Grundrechtsträger wirken.394 Da ihre primäre Funktion aber nicht in der Begrenzung grundrechtlicher Betätigungsmöglichkeiten zugunsten der Rechtspositionen anderer staatlicher Schutzadressaten besteht, sondern diese lediglich mittelbare Folge der im Vordergrund stehenden Konstituierung bzw. Koordination der grundrechtlicher Freiheit ist, führt dies nicht zu einem Eingriff in den Schutzbereich.395 Aus alledem ergibt sich, dass zwischen Eingriff und Ausgestaltung eine strenge Exklusivität besteht.396 Die Abgrenzung anhand der gesetzgeberischen Intention fügt sich zudem in die Dogmatik zu Eingriff und Ausgestaltung für andere Grundrechte ein. Das Bundesverfassungsgericht hat im Hinblick auf die lange umstrittene Abgrenzung zwischen Enteignung sowie Inhalts- und Schrankenbestimmung im Rahmen von Art. 14 GG die vom Bundesverwaltungsgericht vertretene Schweretheorie,397 welche eine Abgrenzung anhand der Intensität der Belastung für die Grundrechtsträger vornahm, abgelehnt und Enteignungen als den teilweisen oder vollständigen, gezielten Entzug von konkreten subjektiven Eigentumspositionen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 392 Konzen, Anm. zu BVerfG vom 4. 7. 1995, SAE 1996, 216, 219; Sachs, in: ders., GG, vor Art. 1 Rn. 80; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133. 393 Darauf weist Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133, zutreffend hin. 394 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 229; Jarass, AöR 110 (1985), 363, 392; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG. 395 Jarass, AöR 110 (1985), 363, 393; Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 64. Insofern geht die These Schwarzes, JuS 1994, 653, 658, dass zwischen Eingriff und Ausgestaltung lediglich ein gradueller Unterschied bestehe, fehl. Er stützt seine Ansicht allein auf die Tatsache, dass auch als Ausgestaltung eingestufte Regelungen nicht freiheitsindifferent seien und demnach nur die Möglichkeit einer wertenden nicht aber begrifflichen Abgrenzung bestehe. Auch die zahlreichen Abgrenzungsschwierigkeiten können nicht als ausschließliche Begründung für die Aufgabe der Unterscheidung zwischen Ausgestaltung und Eingriff dienen, so aber Henssler, ZfA 1998, 1, 11. 396 Butzer, RdA 1994, 375, 378; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 228; in diese Richtung geht auch die Abgrenzung von P. Wolff, Kollision tarifvertraglicher Normsetzung und Gesetzgebung, S. 73 ff., der strukturgestaltende Gesetze als Ausgestaltung geringeren Anforderungen unterwirft als sachentscheidende Gesetze, die er als Eingriff wertet. Die Kritik Frieses, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 252, Fn. 402, an diesem Ansatz, die sich dagegen wendet, dass Wolff § 1 TVG als strukturgestaltende Norm einordnet, überzeugt nicht vollständig, da § 1 TVG unmittelbar auf die Festlegung der zur Wahrnehmung der Grundrechtsgarantie erforderlichen „Spielregeln“ zielt, während die Regelung materieller Arbeitsbedingungen, in der Terminologie Wolffs sachentscheidende Normen, den Tarifvertragsparteien unmittelbar Regelungsgegenstände entziehen, ohne das Verfahren der Wahrnehmung der Koalitionsfreiheit zu regulieren. 397 St. Rspr. seit BVerwG vom 25. 6. 1957, BVerwGE 5, 143, 145 f.; zur Sonderopfertheorie des Bundesgerichtshofs vgl. exemplarisch BGH vom 6. 10. 1986, BGHZ 99, 24, 27 ff.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
GG eingestuft.398 Auch hier erfolgt die Abgrenzung anhand des gesetzlichen Regelungsziels, so dass dieses Konzept durchaus für die dogmatische Behandlung anderer Grundrechte dienen kann.399 Wendet man diese Erkenntnisse auf die staatlichen Arbeitnehmerschutzgesetze an, so zeigt sich, dass sie den Tarifvertragsparteien Betätigungsmöglichkeiten nehmen. Weil der Tarifvertrag in der Normenhierarchie eine dem staatlichen Gesetz nachrangige Stufe einnimmt, sind tarifvertragliche Regelungen im Bereich der von den gesetzlichen Vorschriften erfassten Materien nur noch in dem vom Gesetzgeber freigelassenen Umfang möglich. Dadurch verringert sich der Aktionsradius der Tarifvertragsparteien bei der kollektiven Gestaltung der materiellen Arbeitsbedingungen. Dies wiederum engt gleichzeitig die durch den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG erfasste Betätigung ein.400 Zudem enthalten die staatlichen Mindestarbeitsbedingungen keine Gestaltung der Koalitionsfreiheit, weder im Hinblick auf das Verhältnis der Koalitionen zueinander noch hinsichtlich der Voraussetzungen für die Befähigung einer Koalition zur Teilnahme an Tarifabschlüssen.401 Nicht Funktionssicherung und Komplementierung der Tarifautonomie sollen durch staatliche Mindestarbeitsbedingungen betrieben werden, sondern der Schutz der Rechtsgüter der Arbeitnehmer. Ein Blick auf die Behandlung zweiseitig zwingender Gesetze verdeutlicht diese Wertung. Zweiseitig zwingende Regelungen werden einhellig als Eingriffe in die Tarifautonomie eingestuft.402 Es besteht aber hinsichtlich der inhaltlichen Zielrichtung kein Unterschied zwischen einseitig und zweiseitig zwingenden Arbeitnehmerschutzgesetzen, so dass auch nicht ersichtlich wird, warum die einen als Eingriff, die anderen hingegen als eine grundrechtsdogmatisch nicht zu erfassende Kategorie zu verstehen sein sollen. Die gesetzliche Regelung materieller Arbeitsbedingungen stellt demnach einen Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützte tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis dar, da den Tarifvertragsparteien durch einseitig zwingende Arbeitnehmerschutzvorschriften Betätigungsfelder entzogen werden.403 398 Im Anschluss an BVerfG vom 12. 6. 1979, BVerfGE 52, 1, 27 f.; vom 14. 7. 1981, BVerfGE 58, 137, 144 f.; vom 15. 7. 1981, BVerfGE 58, 300, 330; zuletzt BVerfG vom 2. 3. 1999, BVerfGE 100, 226, 239 f. 399 Gleichzeitig spricht dies gegen die Abgrenzungsversuche von Schwarze, JuS 1994, 653, 658, und Heimes, Anm. zu BVerfG vom 14. 11. 1995, MDR 1996, 562, 565, die ebenfalls auf die Intensität der gesetzgeberischen Maßnahme abstellen, um zwischen Eingriff und Ausgestaltung zu unterscheiden. 400 Diesen Aspekt betonen auch Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133; abzulehnen ist die Ansicht Oetkers, ZfA 2001, 287, 305, der die Zurückhaltung des Gesetzgebers bei der Durchnormierung der materiellen Arbeitsbedingungen als einen Aspekt der staatlichen Schutzpflicht gegenüber der Tarifautonomie begreift; gegen die Heranziehung des Schutzpflichtkonzepts für die Bindung des Gesetzgebers im Bereich der normativen Garantien des Art. 9 Abs. 3 GG als solches vgl. bereits oben 2. Teil: § 6 C. III. 2. b). 401 Konzen, Anm. zu BVerfG vom 4. 7. 1995, SAE 1996, 216, 219. 402 Vgl. Stein, AuR 1998, 1, 4; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133.
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Auch das Bundesverfassungsgericht404 und mit diesem Vertreter in der Literatur405 stufen staatliche Arbeitnehmerschutzgesetze als Eingriffe in die Tarifautonomie und damit den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit ein. Im Hochschulbeschluss hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere die Tarifsperre des § 57a S. 2 HRG gesondert als zusätzliche Beeinträchtigung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis neben den bereits durch die inhaltlichen Regelungen der §§ 57a ff. HRG bewirkten Eingriffen geprüft.406 Das legt den Schluss nahe, dass es auch einseitig zwingende Regelungen als Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG einordnet. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeichnen sich allerdings zwei unterschiedliche Definitionsmodelle des Eingriffs in die Tarifautonomie ab. So sieht das Bundesverfassungsgericht diesen zum einen in der Vorwegnahme einer bestimmten Regelung und dem damit verbundenen Ausschluss abweichender tarifvertraglicher Gestaltungsmöglichkeiten.407 Mit den gesetzlichen Vorschriften setze der Staat seine eigene Entscheidung an die Stelle eines möglichen Tarifabschlusses und entziehe den Koalitionen einen Teil ihrer grundrechtlich geschützten Freiheit, die darin bestehe, die Angelegenheiten ihrer Mitglieder durch kollektivierte Wahrnehmung ihrer Freiheit eigenständig zu regeln.408 Darüber hinaus begründet das Bundesverfassungsgericht das Vorliegen eines Eingriffs an anderer Stelle mit der Beeinträchtigung der Verhandlungsposition einer der beiden Seiten der Tarifvertragsparteien bei zukünftigen Tarifverhandlungen. Durch die Existenz eines staatlichen Status Quo werde der Entscheidungsspielraum eingeent und damit die Verhandlungsmacht beeinträchtigt. 409 Vereinzelt finden sich speziell hinsichtlich staatlicher Arbeitnehmerschutzgesetze in dem Bereich, der grundsätzlich auch tarifvertraglichen Regelungen zugänglich ist, Stellungnahmen in der Literatur, die sich nicht eindeutig zwischen 403 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133, sieht für den Bereich der gesetzlichen Regelung der individuellen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen die „eigentliche Bedeutung der Eingriffskategorie“; ebenso Stein, AuR 1998, 1, 6. 404 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 282; vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 283; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 283, 305, vgl. auch BAG vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG: „§ 12 und § 4 Abs. 4 EntgeltFG beeinträchtigen zwar den Schutzbereich von Art. 9 Abs. 3 GG.“ 405 Badura, Staatsrecht, C 100 S. 243; Dieterich, Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, AR-Bl. ES 1650 Nr. 21, S. 7; ders., AuR 2001, 390, 391; ders., DB 2001, 2398, 2401; Ulber, ZTR 2005, 70, 77; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133. 406 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 293. 407 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 284. 408 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 284. 409 BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 283; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 305; ähnlich Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133; den nachteiligen Einfluss auf den Verhandlungsspielraum betonen ebenfalls Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 220; Säcker, Grundprobleme, S. 47 f.; für eine ausschließlich funktionale Bestimmung des Eingriffs in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG: Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 255 ff.; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 121.
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Eingriff und Ausgestaltung entscheiden.410 Sie entwickeln eigenständige Maßstäbe, anhand derer festzustellen sei, ob ein staatliches Gesetz einseitig zwingend oder besser tarifdispositiv zu gestalten sei.411 Dadurch lösen sich die vorgeschlagenen Modelle allerdings von der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik ab und setzen sich der Gefahr willkürlicher Ergebnisse aus. Meist sind die Festlegungen vor dem Hintergrund des Grundrechts keineswegs zwingend und ebenso wenig argumentativ abgesichert.
II. Verfassungsrechtliche Zulässigkeit tarifdispositiver Arbeitnehmerschutzgesetze Bevor weiter untersucht wird, inwieweit der durch einseitig oder zweiseitig zwingende Arbeitnehmerschutzvorschriften konstituierte Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG durch den Gesetzgeber gerechtfertigt werden kann, ist die Frage zu beantworten, ob auch tarifdispositives Recht die Tarifautonomie beeinträchtigt und somit die verfassungsrechtliche Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG tangiert. Denn eine Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiver Vorschriften in den Bereichen, in denen die einseitig zwingende staatliche Normsetzung als Grundrechtsverletzung verfassungswidrig wäre, lässt sich nur dann annehmen, wenn die tarifdispositiven Vorschriften zulässige Regelungsinstrumente darstellen. Auf den ersten Blick scheinen sich tarifdispositive Normen nicht belastend auf die tarifvertragliche Regelungsbefugnis auszuwirken, da sie Abweichungen von den gesetzlichen Vorschriften in einem Tarifvertrag sowohl zugunsten als auch zulasten der betroffenen Arbeitnehmer zulassen. Bei genauerer Betrachtung ist die Beziehung zwischen tarifvertraglicher Regelungsbefugnis und tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht jedoch komplexer. 1. Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG durch tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht im Spiegel von Literatur und Rechtsprechung Soweit sich das Schrifttum überhaupt mit der Frage nach einem Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG durch tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht befasst, konstatiert die Mehrheit der Autoren ohne vertiefte Auseinandersetzung mit dem Problem, dass tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht keinen Eingriff in die im Rahmen der kollektiven Koalitionsbetätigungsfreiheit geschützte tarifvertragliche Rege410 Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 154; Henssler, ZfA 1998, 1, 17 ff.; Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 244 Rn. 67; bedingt auch Oetker, ZG 1998, 155, 163 ff. 411 So insbesondere Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 158 ff.; Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 244 Rn. 69, die eine strenge Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes fordern, ohne Anforderungen an die diesem zugrunde liegenden legitimen Schutzgüter zu definieren, woraus ihrer Ansicht nach folge, dass bei gesetzlichen Arbeitsbedingungen deren zweiseitige Tarifdispositivität die erste Wahl sei.
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lungsbefugnis darstelle.412 Friese stellt fest, dass nicht jede Regelung von Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems in gegenständlicher Hinsicht beeinträchtige. Irrelevant sei dieser Aspekt bei einer zweiseitig tarifdispositiven Normierung durch den Gesetzgeber.413 Demgegenüber setzt sich jedoch zunehmend die Erkenntnis durch, dass auch tarifdispositive Vorschriften, die der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis unmittelbar nicht entgegenstehen, einen Einfluss auf den unabhängigen Verhandlungsprozess der Tarifvertragsparteien ausüben.414 Löwisch und Rieble betonen, dass tarifdispositive Regelungen derjenigen Tarifpartei eine bessere Ausgangsposition verschafften, die der gesetzlichen Regelung näher stehe und die sie deshalb nur zu verteidigen brauche. Auch tarifdispositives Recht bedürfe daher eines sachlichen Grundes. Dem Gesetzgeber komme aber beim Erlass tarifdispositiven Rechts ein weites Ermessen zu.415 Kamanabrou führt aus, dass auch tarifdispositive Regelungen im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 GG nicht völlig unproblematisch seien.416 Jede der Tarifvertragsparteien könne bei den Verhandlungen nur eine begrenzte Anzahl von Forderungen durchsetzen, so dass die Partei, die eine vom Gesetz abweichende Regelung wünsche, an anderer Stelle Abstriche machen müsse. Dagegen müssten beide Parteien um eine Vorschrift gleichermaßen kämpfen, wenn der Bereich gesetzlich ungeregelt oder nur Mindestbedingungen festgelegt seien. Würden also in mehreren Bereichen tarifdispositive Normen geschaffen, die eine Seite benachteiligten, könne es zu einem Verlust der Verhandlungsparität kommen.417 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 3. 4. 2001418 eine tarifdispositive Vorschrift als Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gewertet und 412 Butzer, RdA 1994, 375, 384; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG, Bl. 13; wohl auch Grobys / Schmidt / Brocker, NZA 2003, 777, 781; Stein, AuR 1998, 1, 7. 413 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 258. 414 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 51 f., der in gesetzlichen Vorschriften, zwingenden wie tarifdispositiven, ein Einflusspotential für die Tarifverhandlungen sieht; Wiedemann, in ders., TVG, Einl. Rn. 133. Ohne vertiefte Auseinandersetzung stuft Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 310, auch tarifdispositive Vorschriften als Eingriffe ein. Den funktionellen Aspekt der beeinträchtigenden Wirkung gesetzlicher Regelungen der materiellen Arbeitsbedingungen betont auch Zuleger, AuR 1992, 231, 232. 415 Löwisch / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 36, 34; dies., in: MüHBArbR, § 246 Rn. 67. 416 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 29. 417 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 29; ähnlich Lembke, Anm. zu BVerfG vom 29. 12. 2004, BB 2005, 499; wohl auch Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 121, der zwar ausdrücklich, die Problematik des tarifdispositiven Rechts nicht behandelt, aber ausführt, dass mittelbar jede staatliche Gesetzgebung, die materielle Regelungen im Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern enthalte, auch den Spielraum einenge, in dem die Tarifautonomie sich zu entfalten vermöge, und damit drohe, die Autonomie der Tarifvertragsparteien auszuhöhlen und leer laufen zu lassen. Als Beispiele für derartige staatliche Gesetze führt er auch tarifdispositive Vorschriften an. 418 BVerfGE 103, 293 ff.
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anhand der von ihm entwickelten Rechtsprechungsgrundsätze gerechtfertigt. Allerdings geht der Erste Senat in seiner Entscheidungsbegründung bei der Feststellung des Eingriffscharakters der Vorschrift mit keinem Wort auf deren lediglich tarifdispositive Wirkung ein. Vielmehr würdigt das Gericht die staatliche Regelung lediglich ihrem Inhalt nach.419 Dabei verkennt es den bedeutsamen Unterschied zwischen zwingenden gesetzlichen Vorschriften, die den Tarifvertragsparteien Regelungsgegenstände entziehen, und tarifdispositiven Regelungen, die lediglich mittelbar auf die Tarifautonomie einwirken, indem sie den Status Quo der Tarifverhandlungen verändern. Die Reaktionen auf diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fielen hinsichtlich der Feststellung eines Eingriffs in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG positiv aus.420 Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Problematik, ob durch tarifdispositives Recht überhaupt in die Tarifautonomie eingegriffen werden könne, fand dabei allerdings nicht statt. In dem Nichtannahmebeschluss vom 29. 12. 2004 im Hinblick auf eine Verfassungsbeschwerde gegen § 9 Nr. 2 AÜG lässt das Bundesverfassungsgericht schließlich ausdrücklich offen, ob durch diese tarifdispositive Vorschrift überhaupt in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG eingegriffen wird.421 2. Der funktionelle Eingriffsbegriff Wesensmerkmal der klassischen Definition des Grundrechtseingriffs ist, dass die beeinträchtigende Maßnahme einen Imperativ setzt, der dem Grundrechtsträger die Wahrnehmung der grundrechtlichen Freiheit ganz oder teilweise unmöglich macht.422 Neben dieser klassischen Eingriffsdefinition ist heute anerkannt, dass auch bei mittelbaren Beeinträchtigungen der grundrechtlichen Freiheit ein Eingriff in den Schutzbereich vorliegen kann.423 Die belastenden Wirkungen müssen allerdings hinreichend intensiv sein. Die verfassungsrechtliche Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG würdigt den Tarifvertrag als Instrument, das sich zur Überwindung der gestörten Vertragsparität bei der Gestaltung des IndividualVgl. BVerfG vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 305. Vgl. Dieterich, Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, in: AR-Bl. ES 1650 Nr. 21, S. 7, der feststellt, das Bundesverfassungsgericht halte zu Recht daran fest, dass der Gesetzgeber in die Tarifautonomie eingreife, wenn er materielle Arbeitsbedingungen selbst regele; Hanau, Festschrift für Schwerdtner, S. 67, 80 f.; Löwisch, ZIP 2001, 1565, der die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts zu einer Beeinträchtigung der Tarifautonomie als schlüssig bezeichnet, die Tarifdispositivität aber erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeit berücksichtigt; Thüsing / Zacharias, Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, in: EzA Art. 9 GG Nr. 75, S. 16, die die Problematik des lediglich tarifdispositiven Charakters der in Streit stehenden Norm mit keinem Wort erwähnen. 421 BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154. 422 Lübbe-Wolff, Eingriffsabwehrrechte, S. 43; Sachs, in: ders., GG, vor Art. 1 Rn. 80. 423 J. Ipsen, JZ 1995, 473, 478; Lerche, in: HBStR V, § 121 Rn. 52. 419 420
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arbeitsverhältnisses bewährt hat. Diese Zwecksetzung ist es auch, welche die Gewährleistung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis durch die Koalitionsfreiheit in sachlich-gegenständlicher Hinsicht begrenzt.424 Gleichermaßen umfasst der Grundrechtsschutz in seiner Abwehrkomponente gegenüber dem Staat aber auch die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems, das nur dann die ihm durch die Verfassung übertragene Aufgabe sinnvoll wahrnehmen kann, wenn es tatsächlich auch zu einem Ausgleich der gestörten Vertragsparität im Arbeitsverhältnis in der Lage ist.425 Diese Voraussetzung ist wiederum nur erfüllt, wenn zwischen den Tarifvertragsparteien ein Verhandlungsgleichgewicht besteht. Wird dieses beeinträchtigt, dann steht die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems in Frage. Geht die Beeinträchtigung von staatlicher Seite aus, dann ist mit einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des tarifvertraglichen Verhandlungsprozesses auch der grundrechtliche Schutzbereich bedroht. Staatliches Arbeitnehmerschutzrecht übt neben dem Imperativ des Geltungsvorrangs immer auch einen Einfluss auf den Verhandlungsspielraum der Tarifvertragsparteien aus.426 Unabhängig von ihrer zwingenden Geltung schaffen staatliche Arbeitnehmerschutzvorschriften einen Status Quo, der sich auf die Tarifverhandlungen auswirkt. Durch die bloße Existenz staatlichen Rechts verschiebt sich die Ausgangsposition im Rahmen der Verhandlungen zwischen den Tarifvertragsparteien.427 Auf diese Weise kann es einer der Parteien erschwert sein, ihre Interessen angemessen durchzusetzen. Wirkt sich die bloße Existenz gesetzlichen Arbeitsrechts in solch starkem Maße auf den tariflichen Einigungsprozess aus, dass von einem Verhandlungsgleichgewicht nicht mehr gesprochen werden kann und die Tarifvertragsparteien zugleich keine Gewähr mehr für die aufgrund der Verhandlungsparität angenommene Richtigkeit der von ihnen ausgehandelten Vereinbarungen bieten können, dann ist die Schwelle zu einem Eingriff überschritten. Dieser liegt dann unabhängig davon vor, ob die gesetzliche Regelung den Tarifvertragsparteien konkret Regelungsgegenstände entzieht. Ein solcher Zustand tritt aber erst dann ein, wenn der gesamte, den Tarifvertragsparteien zur Verfügung stehende Regelungsspielraum soweit durch staatliches Recht eingeengt und präjudiziert ist, dass den Koalitionen im Rahmen ihrer Auseinandersetzungen zu wenig Bewegungsfreiheit bleibt, um dem Verhandlungspartner ausreichend gewichtige Verhandlungspositionen entgegensetzen zu können. Wann dieser Zustand eintritt, kann nur anhand einer Gesamtbetrachtung festgestellt werden, die alle existierenden staatlichen Arbeitnehmerschutzvorschriften gemeinsam berücksichtigt und den für die Tarifvertragsparteien insgesamt noch verbleibenden Verhandlungsspielraum ermittelt. Vgl. oben 2. Teil: § 6 C. IV. 3. Statt aller Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 131; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 248, 255. 426 Insbesondere Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 121. 427 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 51 f.; Löwisch / Rieble, MüHBArbR, § 246 Rn. 67. 424 425
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Es handelt sich dabei um die funktionelle Komponente eines möglichen Eingriffs in die Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis. Teile des Schrifttums haben diese Variante der Definition eines Eingriffs in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG bereits vorgeschlagen.428 Auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts klingt der funktionelle Aspekt des Schutzes der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis an, dessen Beeinträchtigung zu einem Eingriff in den grundrechtlichen Schutzbereich führen kann. So stellt das Gericht in seinem Beschluss vom 27. 4. 1999 fest, dass die gesetzliche Festlegung von Lohnabstandsklauseln für Arbeitnehmer in Strukturanpassungsmaßnahmen nicht auf eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit abziele, jedoch die Verhandlungsposition der beschwerdeführenden Gewerkschaft beeinträchtige.429 Die angegriffene staatliche Norm lege praktisch das aushandelbare Ergebnis fest und greife dadurch in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ein.430 In dem Beschluss vom 3. 4. 2001 zur Verfassungsmäßigkeit der einseitigen Anrechnungsbefugnis des Arbeitgebers von Maßnahmen der medizinischen Vorsorge oder Rehabilitation auf den tariflichen Erholungsurlaub stellte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts fest, dass diese das von den Tarifvertragsparteien erstrittene Verhandlungsergebnis nachträglich zulasten der Gewerkschaften abändere.431 Dies treffe die Gewerkschaften empfindlich, da ein solches Verhandlungsergebnis regelmäßig durch Nachgeben in anderen Punkten erreicht werde. Die gesetzliche Anrechnungsbefugnis schwäche daher die Verhandlungsposition der Gewerkschaften für die Zukunft.432 Beide Argumentationslinien betonen den funktionellen Aspekt der Tarifautonomie, der den ungestörten Verhandlungsprozess zur Herstellung des Interessenausgleichs zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite betrifft. 3. Maßgeblichkeit des funktionellen Eingriffsbegriffs für Beeinträchtigungen der Tarifautonomie durch tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht Formell lässt das tarifdispositive Recht den Tarifvertragsparteien alle Vereinbarungsmöglichkeiten offen. In Bezug auf die Koalitionen handelt es sich bei tarifdispositiven Vorschriften um nachgiebiges Recht. Es entzieht den Tarifpartnern keine Regelungsgegenstände, weil ihm die gegenüber dem Tarifvertrag vorrangige Geltungsanordnung fehlt. Ebenso wenig enthält es daher einen Imperativ, der die 428 Vgl. die Konzepte von Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 120 ff., und Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 255 ff.; die allerdings einen Eingriff durch staatliches Arbeitnehmerschutzrecht in Art. 9 Abs. 3 GG auf diesen funktionellen Aspekt beschränken wollen. 429 BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 283. 430 BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 283. 431 BVerfG vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 305. 432 BVerfG vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 305.
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Wahrnehmung der grundrechtlichen Freiheit einschränkt. Die Auswirkungen tarifdispositiver Arbeitnehmerschutzvorschriften auf die Tarifautonomie bestehen vielmehr darin, dass es durch die gesetzliche Fixierung eines Ausgangszustandes den tariflichen Verhandlungsprozess negativ beeinflusst. Dieser Einfluss ist allerdings nur mittelbar, stellt also eine lediglich faktische Beeinträchtigung der Tarifautonomie dar.433 Dennoch kann sie vor dem Hintergrund der Grundrechtsgarantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nicht unbeachtet bleiben. Sie ist jedoch nicht als gleichermaßen intensiv einzustufen wie der Entzug tariflicher Regelungsmöglichkeiten durch zwingendes staatliches Recht. Eine zu großzügige Handhabung des Eingriffsbegriffs würde bereits bei Überschreiten einer sehr niedrigen Schwelle eine Rechtfertigungspflicht des Gesetzgebers anhand der vorbehaltlosen Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG auslösen. Dadurch ergibt sich ein Widerspruch zu der umfassenden Gesetzgebungsbefugnis auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts, die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ihren Ausdruck findet. Es ist allgemein anerkannt, dass Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG den Tarifvertragsparteien durch die verfassungsrechtliche Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis zwar ein „Normsetzungsrecht“, nicht jedoch ein „Normsetzungsmonopol“ einräumt.434 Wollte man jede tarifdispositive Arbeitnehmerschutzvorschrift bereits aufgrund des betroffenen Regelungsgegenstandes als Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG werten, dann müsste der Staat eine tarifdispositive Regelung materieller Arbeitsbedingungen in gleichem Maße durch kollidierendes Verfassungsrecht rechtfertigen wie eine zwingende gesetzliche Vorschrift. Für den Gesetzgeber bestünde dann die begründete Gefahr, dass er einen auf sachlich-gegenständlicher Basis festgestellten Eingriff nicht rechtfertigen kann, obwohl es sich lediglich um eine tarifdispositive Regelung handelt. Restriktionen für die staatliche Festlegung materieller Arbeitsbedingungen können aber bereits deshalb nicht zu intensiv sein, weil der Gesetzgeber seiner Schutzfunktion gegenüber den Bürgern nachkommen muss. Eine zu weitreichende Übertragung von Befugnissen an die Tarifvertragsparteien oder gar die Errichtung von Tabuzonen, birgt die Gefahr von Schutzlücken in sich, da die Tarifvertragsparteien im Gegensatz zum Gesetzgeber nicht zur Wahrnehmung ihrer Normsetzungsbefugnis gezwungen werden können, wenn für eine bestimmte Materie Regelungsbedarf besteht.435 Die Anwendung eines funktionellen Eingriffsbegriffs vermeidet die soeben beschriebenen Schwierigkeiten. Der sachlich-gegenständlich basierte Eingriffsbegriff eignet sich nicht für die Beurteilung der Auswirkungen, die das tarifdispositive Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 123. So die plastische Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, in: BVerfG vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 341; vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 284; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 301; zustimmend Hanau, Festschrift für Schwerdtner, S. 67, 81; Henssler, ZfA 1998, 1, 32; Säcker, Gruppenautonomie, S. 261; ders., Grundprobleme, S. 50; ders. / Oetker, Grundlagen und Grenzen, S. 177; Stein, AuR 1998, 1, 3; Thüsing / Zacharias, Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, EzA Art. 9 GG Nr. 75, S. 15. 435 Butzer, RdA 1994, 375, 384. 433 434
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Recht auf die Tarifautonomie ausübt. Nach der funktionellen Definition ergibt sich ein Eingriff erst bei einer hinreichend intensiven Beeinträchtigung der Tarifautonomie durch die Gesamtheit der zwingenden und tarifdispositiven Vorschriften. Diese Betrachtungsweise berücksichtigt den Umstand, dass tarifdispositives Recht formal die tarifliche Festlegung der von der gesetzlichen Vorschrift geregelten Materie nicht ausschließt. Zudem nimmt die komplexe Gesamtbetrachtung Rücksicht darauf, dass im Zuge von Tarifverhandlungen Zugeständnisse an die andere Seite gemacht werden, die oftmals ein anderes Gebiet als die eigentliche Regelungsmaterie betreffen.436 Diese Wechselbeziehung findet bei einer rein sachlich-gegenständlichen Eingriffsbestimmung nicht ausreichend Beachtung. Die ausschließliche Anwendung des funktionellen Eingriffsbegriffs für alle Beeinträchtigungen der Tarifautonomie ist hingegen nicht möglich. Eine rein funktionelle Betrachtung ist einerseits nicht praktikabel. Andererseits liegt in der (einseitig) zwingenden Regelung bestimmter Materien der partiell vollständige Entzug der Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien, der immer zu einer Beeinträchtigung der Tarifautonomie als Teilgarantie der Koalitionsfreiheit führt. 4. Schlussfolgerungen Bei der Anwendung des funktionellen Eingriffsbegriffs ist die Gesamtheit der zwingenden und tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzvorschriften in die Betrachtung einzubeziehen und die Frage zu beantworten, ob sie den Verhandlungsspielraum der Tarifvertragsparteien in einem Umfang einengen, der die Koalitionen an der sinnvollen Verwirklichung ihrer Aufgabe hindert, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern. Grundsätzlich erfolgt diese Beurteilung unabhängig von konkreten tarifvertraglichen Regelungsgegenständen.437 Allerdings existieren Materien im Rahmen der tarifvertraglichen Vereinbarungsbefugnis, die eine so zentrale Rolle für die Tarifvertragsparteien spielen, dass ein gesetzgeberisches Vordringen in diese Bereiche die Vermutung rechtfertigt, dass sie die Funktionsfähigkeit des tarifautonomen Verhandlungsprozesses beeinträchtigen, ohne dass auf die den Tarifvertragsparteien noch verbleibenden Regelungsmöglichkeiten abgestellt werden muss.438 Dies ist insbesondere für staatliche Festlegungen im Bereich der Lohn- und Arbeitszeitgestaltung der Fall.439 436 Diesen Aspekt betont ausdrücklich BVerfG vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 305, Verhandlungsergebnisse würden regelmäßig durch Nachgeben in anderen Punkten erreicht. 437 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 256; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 122. 438 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 256; ähnlich Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 123. 439 Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Band I, Teil 1, S. 97, 164; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 256; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 294, für die Entgeltfestsetzung; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 123.
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Entgegen der Aussage des Bundesverfassungsgerichts, dass der staatliche Gesetzgeber seine Regelungszuständigkeit im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen weit zurückgenommen habe,440 sehen sich die Tarifvertragsparteien einer Fülle arbeitsrechtlicher Regelungen gegenüber. Im Entgeltbereich übt der Gesetzgeber allerdings weitestgehend Zurückhaltung.441 Über die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen wird derzeit zwar diskutiert, umgesetzt ist dieses Vorhaben jedoch noch nicht.442 Zudem hat sich der Gesetzgeber im Gesetz zur Regelung staatlicher Mindestarbeitsbedingungen selbst eine hohe Hürde für die Festlegung von Mindestarbeitsentgelten gesetzt (vgl. § 1 Abs. 2 MindestarbBedG). Auch wenn es der Höhe nach fixierte Mindestlöhne derzeit im deutschen Arbeitsrecht nicht gibt, beinhaltet das Gleichstellungsgebot zwischen Stamm- und Leiharbeitnehmern im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (vgl. §§ 9 Nr. 2, 3 Abs. 1 Nr. 3 AÜG) eine Vorgabe der Arbeitsbedingungen und insbesondere des Entgelts für Leiharbeitnehmer. Die Regelung ist zwar vollständig tarifdispositiv, könnte aber dennoch den tariflichen Verhandlungsprozess – zumindest in der Leiharbeitsbranche – so stark negativ beeinflussen, dass dadurch die Schwelle zu einem Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG überschritten wird.443 Die staatliche Festschreibung eines Status Quo, so wird befürchtet, soll die Attraktivität der Koalitionen, insbesondere der Arbeitnehmerkoalitionen schmälern, da aufgrund der bereits günstigen gesetzlichen Regelungen kein Anreiz für die Arbeitnehmer besteht, einer Gewerkschaft beizutreten.444 Dieses Argument verkennt, dass es sich bei einem Tarifvertrag um ein Kompromissgefüge handelt, bei dem Einbußen im Hinblick auf den tarifdispositiven staatlichen Schutzstandard durch Zugeständnisse im Rahmen der tarifvertraglichen Vereinbarung an anderer Stelle ausgeglichen werden. Zudem tritt die Gefahr eines Attraktivitätsverlustes ebenso durch die allgemein übliche arbeitsvertragliche Bezugnahme auf Tarifverträge ein. In diesem Zusammenhang sind jedoch noch keine Forderungen erhoben worden, im individualvertraglichen Bereich eine § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG vergleichbare Schutzregelung zugunsten der Tarifautonomie einzuführen. In der Zeitarbeitsbranche sind auf Arbeitgeberseite neue Koalitionen entstanden bzw. engagieren sich insbesondere die Arbeitnehmerkoalitionen nach anfänglich starker Zurückhaltung derzeit sehr intensiv, so dass sich die 440 BVerfG vom 27. 2. 1973, BVerfGE 34, 307, 316; vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 340; vom 20. 10. 1981, BVerfGE 58, 233, 246; ähnlich BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 283, und vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304. 441 Vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 297. 442 Vgl. die Gewerkschaftsvorschläge der IG-Metall, Pressemitteilung Nr. 90 / 2004, vom 22. 9. 2004; der NGG, Pressemitteilung vom 2. 10. 2004; und dazu die Stellungnahme des Vorsitzenden der BDA Hundt, Gesetzliche Eingriffe ins Lohnsystem, Pressemitteilung der BDA vom 6. 10. 2004. 443 So insbesondere Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 75 ff.; a. A. Deinert, in: Däubler, TVG, § 4 Rn. 572j. 444 Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 76; Lembke, Anm. zu BVerfG vom 29. 12. 2004, BB 2005, 499, 500; Rieble / Klebeck, NZA 2003, 23, 28.
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Annahme eines Attraktivitätsverlustes nicht bestätigt hat. Vielmehr hat eine Belebung der kollektiven Interessenwahrnehmung und damit des Tarifvertragssystems stattgefunden.445 Gleichzeitig vermuten Gegner des Gleichstellungsgebots, dass die staatliche Schutzvorschrift die Verhandlungsposition der Gewerkschaften so stark verbessern könnte, dass für die Arbeitgeberseite keine zumutbaren Verhandlungspositionen mehr bestehen.446 Die Realität widerlegt diese Befürchtungen bereits. Die aktuellen Tarifabschlüsse in der Zeitarbeitsbranche unterschreiten den gesetzlichen Standard erheblich. Zudem kann nicht auf der einen Seite davon gesprochen werden, dass die Verhandlungsposition der Gewerkschaften durch die gesetzliche Regelung so stark verbessert wird, dass die Arbeitgeber, wollen sie zumutbare Arbeitsbedingungen aushandeln, auf den Weg der Angriffsaussperrung verwiesen sind,447 auf der anderen Seite jedoch gleichzeitig angesichts der sehr arbeitgeberfreundlichen Tarifabschlüsse in der Zeitarbeitsbranche an der Mächtigkeit der tarifschließenden Gewerkschaften und damit ihrer Tariffähigkeit gezweifelt werden.448 Außerdem muss man sich angesichts des in der Zeitarbeitsbranche sehr großen Arbeitskräfteüberschusses stets vor Augen führen, dass die Ausgangsposition der Arbeitgeberseite bei Abweichungen von § 9 Nr. 2 AÜG keinesfalls so schwach ist, wie einige Stimmen glauben machen wollen. Auch wenn das Gleichstellungsgebot zugunsten der Leiharbeitnehmer die Verhandlungspositionen zumindest für den Bereich der Arbeitnehmerüberlassung tangiert, so sind seine Auswirkungen doch nicht so intensiv, dass sie den unabhängigen und gleichgewichtigen Verhandlungsprozess in seiner Funktionsfähigkeit stören und so zu einem Eingriff führen.449 Dichtere gesetzliche Vorgaben als im Entgeltbereich finden sich hinsichtlich der Bestimmung der Arbeitszeit. Der Gesetzgeber hat sich im Arbeitszeitgesetz jedoch auf die Normierung unabweislicher Mindestschutzbestimmungen beschränkt und den darüber hinaus gehenden Bereich in Gestalt tarifdispositiver Vorschriften der Festlegung durch die Tarifvertragsparteien überlassen.450 Da die in diesem Bereich existierenden Tarifabschlüsse sich derzeit innerhalb des Günstigkeitsbereichs bewegen, ist eine Beeinträchtigung des Verhandlungsgleichgewichts durch die tarifdispositiven arbeitszeitrechtlichen Vorschriften nicht zu befürchten. Sollte sich der aktuell zu verzeichnende Trend zu einer Verlängerung 445
Grobys / Schmidt / Brocker, NZA 2003, 777, 781; vgl. auch Ankersen, NZA 2003, 421,
424. 446 Rieble / Klebeck, NZA 2003, 23, 28; Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 81; Lembke, Anm. zu BVerfG vom 29. 12. 2004, BB 2005, 499. 447 Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 86; so Rieble / Klebeck, NZA 2003, 23, 28. 448 Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 84; Schüren / Riederer Frfr. von Paar, AuR 2004, 241, 243 f.; dagegen Ankersen, NZA 2003, 421, 424. 449 Vgl. auch BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154 f. 450 Aus diesem Grund bewerten Löwisch / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 29, das Arbeitszeitgesetz auch als ein gelungenes Beispiel staatlicher Arbeitsgesetzgebung.
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der Wochenarbeitszeit 451 jedoch fortsetzen, kann sich die Bewertung in dieser Hinsicht durchaus in Zukunft verschieben. Die Betrachtung der staatlichen Regelungen in den Zentralbereichen der tarifvertraglichen Vereinbarungsbefugnis zeigt, dass der Gesetzgeber hier noch nicht so weit in die Vereinbarungsbefugnis der Sozialpartner vorgedrungen ist, dass aufgrund einer Vorwegnahme bzw. Präjudizierung besonders wichtiger Regelungsgegenstände eine Beeinträchtigung des tariflichen Verhandlungsprozesses droht. Die Betrachtung des tariflichen Verhandlungs- und Regelungsbereiches, kann aber nicht auf die arbeitsvertraglichen Hauptpflichten beschränkt bleiben. Die grundrechtlich garantierte Regelungstätigkeit der Tarifvertragsparteien reduziert sich nicht auf das individualvertragliche Gegenseitigkeitsverhältnis. Die flächendeckende gesetzliche Durchnormierung tarifvertraglich regelbarer Arbeitsbedingungen, die lediglich Entgelt und Arbeitszeit ausgespart ließe, würde den Verhandlungsspielraum der Koalitionen ebenfalls in einem das Verhandlungsgleichgewicht beeinträchtigenden Maße einengen.452 Trotz der relativ hohen Regulierungsdichte im Bereich des staatlichen Arbeitsrechts kann derzeit jedoch keine Rede davon sein, dass der tarifliche Verhandlungsrahmen durch (einseitig) zwingende oder durch tarifdispositive Vorschriften bereits ausgeschöpft ist.453 Auch in dieser Hinsicht erlangt wieder Bedeutung, dass sich die tariflichen Arbeitsbedingungen weitestgehend im Günstigkeitsbereich, über dem durch das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht errichteten Niveau bewegen. Derzeit findet durch den Umfang an gesetzlichen Regelungen innerhalb des Arbeitsrechts und insbesondere durch tarifdispositive Regelungen noch keine derart starke Einengung des tariflichen Verhandlungsspielraums statt, dass die Funktionsfähigkeit des tariflichen Einigungsprozesses ernsthaft gefährdet wäre. Mehr als eine solche Momentaufnahme ist aber nicht möglich. Für die Feststellung eines mittelbaren Eingriffs in die tarifvertragliche Regelungsbefugnis ist immer die Gesamtheit der Regelungen maßgeblich. Die Beantwortung der Frage, ob der derzeitige Regelungsumfang durch staatliche Vorschriften insgesamt die Tarifautonomie beeinträchtigt, kann immer nur für den gegenwärtigen Zeitpunkt, jedoch nicht generell erfolgen.
451 Vgl. den Ergänzungstarifvertrag (ETV) zwischen dem Verband der Metall- und Elektro-Industrie NRW und der IG Metall hinsichtlich der Standorte Bocholt und Kamp-Lintfort der Siemens AG vom 22. / 23. / 24. 6. 2004, mit dem die Arbeitszeit des Manteltarifvertrags verlängert wurde, vgl. § 2 ETV. 452 Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 258. 453 Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 299 f.; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 122 ff.; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 258.
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III. Ergebnis Einseitig zwingende Arbeitnehmerschutzgesetze stellen Eingriffe in den Schutzbereich der von der Koalitionsbetätigungsgarantie erfassten tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis dar. Sie sind daher an den Vorgaben zu messen, die für die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs gelten. Im Gegensatz dazu überschreitet die tarifdispositive Nomierung staatlicher Arbeitsbedingungen die Schwelle zu einem Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG noch nicht. Aus Sicht der verfassungsrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis ist die Existenz tarifdispositiver Arbeitnehmerschutzvorschriften zulässig. Einseitig zwingende Arbeitnehmerschutzgesetze darf der Gesetzgeber hingegen nur schaffen, wenn er den durch sie hervorgerufenen Grundrechtseingriff zu rechtfertigen vermag. Gelingt ihm dies nicht, führt das zu einer Verletzung des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 GG. Trotz der vorbehaltlos formulierten Garantie der Koalitionsfreiheit unterliegt die Betätigungsfreiheit und mit ihr die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis Schranken. Umfang und Art dieser Grenzen gilt es zu ermitteln, bevor die gesetzgeberische Regelungsaktivität im Bereich des Arbeitsrechts an Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gemessen werden kann.
C. Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts Eine Pflicht des staatlichen Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts ergibt sich immer, wenn vor dem Hintergrund des Schutzes der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG eine (einseitig) zwingende gesetzliche Regelung verfassungsrechtlich unzulässig ist. Die staatliche Verpflichtung zur tarifdispositiven Regelung kann sich nur abstrakt auf einzelne Regelungsgegenstände beziehen, wenn sich aus der grundrechtlichen Gewährleistung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis ein Bereich ableiten lässt, in dem eine zwingende gesetzliche Regelung von vornherein verfassungswidrig wäre. Ist ein solcher Bereich nicht identifizierbar, besteht eine Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Rechts lediglich, wenn sich im konkreten Einzelfall ergibt, dass zwingende gesetzliche Vorschriften gegen das Grundrecht verstoßen. Maßgeblich für diese Feststellungen ist, welchen Anforderungen die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG durch die gesetzliche Regelung von Arbeitsbedingungen im Allgemeinen unterliegt. I. Anforderungen an die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG In welchem Umfang sich der Gesetzgeber durch eigene Arbeitnehmerschutzgesetze in den Regelungsbereich vorwagen darf, der traditionell den Tarifvertrags-
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parteien zum Abschuss von Tarifverträgen überlassen ist, gehört zu den bis heute nicht abschließend geklärten Fragen der Grundrechtsdogmatik. Hinsichtlich der Rechtfertigung von Eingriffen in den Schutzbereich der Koalitionsbetätigungsgarantie sind die Stellungnahmen zahlreich und variieren in der Intensität der Anforderungen erheblich. Bildhaft spricht Zöllner von Art. 9 Abs. 3 GG als einer „Wundertüte“454, aus der sich das jeweilige rechtspolitische Ergebnis gleichsam „hervorzaubern“ ließe.455 Erschwerend kommt hinzu, dass das Schrifttum bei der Auslegung der Koalitionsfreiheit die herkömmlichen Argumentationsstrukturen der Verfassungsdogmatik oftmals verlässt.456 1. Keine absolute Schutzzone der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis gegenüber staatlicher Gesetzgebung Das Bundesverfassungsgericht bringt mit seiner schlagwortartigen Feststellung, Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verleihe den Tarifvertragsparteien nur eine Normsetzungsprärogative, nicht aber ein Normsetzungsmonopol,457 zum Ausdruck, dass neben den Koalitionen stets der Gesetzgeber berechtigt bleibt, eigene arbeitsrechtliche Regelungen zu treffen. Er verfügt über eine umfassende Regelungsbefugnis und einen Regelungsauftrag auf dem Gebiet des Wirtschafts- und Arbeitsrechts, die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und 12 GG zum Ausdruck kommen. Der Kompetenztitel regelt jedoch nur die formelle Zuständigkeit des Bundes- im Verhältnis zum Landesgesetzgeber. Es ist daher verfehlt, von einer mit gleicher Verfassungskraft wie Art. 9 Abs. 3 GG zugewiesenen Gesetzgebungskompetenz zu sprechen.458 Vielmehr handelt es sich um zwei vollkommen verschiedene Arten verfassungsrechtlicher Vorschriften.459 Die Kompetenznorm bestätigt aber die aus der staatlichen Souveränität fließende Regelungsbefugnis des Gesetzgebers, bei deren Wahrnehmung er allerdings gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an die Grundrechte gebunden ist. Art. 9 Abs. 3 GG sichert den Koalitionen dennoch in keinem denkbaren Regelungsbereich eine alleinige Regelungsbefugnis zu. Die staatliche GesetzgebungsZöllner, RdA 1969, 250, 254. Henssler, ZfA 1998, 1, 4. 456 Vgl. die Kritik bei Butzer, RdA 1994, 375, 376. 457 BVerfG vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 341; vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 284; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 301; vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154; zustimmend Badura, Staatsrecht, C 100 S. 243; Hanau, Festschrift für Schwerdtner, S. 67, 81; Henssler, ZfA 1998, 1, 32; Säcker, Gruppenautonomie, S. 261; ders., Grundprobleme, S. 50; Säcker / Oetker, Grundlagen und Grenzen, S. 177; Stein, AuR 1998, 1, 3; Thüsing / Zacharias, Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, EzA Art. 9 GG Nr. 75, S. 15. 458 So aber Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 103; Butzer, RdA 1994, 375, 379; Henssler, ZfA 1998, 1, 17; Oetker, ZG 1998, 155, 165 ff. 459 Dadurch ist aber nicht von vornherein ausgeschlossen, dass Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG eventuell als kollidierendes Verfassungsrecht zur Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG herangezogen werden könnte, vgl. zum Ganzen unten 2. Teil: § 7 C. I. 3. b) dd). 454 455
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befugnis kann nicht durch eine absolute gesetzesfreie Zone zugunsten der Tarifvertragsparteien unterwandert werden.460 Dies erklärt sich bereits aus der begrenzten Legitimation der Tarifvertragsparteien, die allein für die Koalitionsmitglieder tragfähig ist. Nur für diese besteht die Berechtigung der Koalitionen, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch den Abschluss von Kollektivvereinbarungen auf dem Gebiet des Individualarbeitsverhältnisses zu wahren und zu fördern. Grundsätzlich kommt ihnen nicht die Kompetenz zu, die Arbeitsbedingungen für alle Arbeitsvertragsparteien festzulegen.461 Zudem verfügen der Gesetzgeber bzw. andere staatliche Institutionen nicht über die Möglichkeit, die Koalitionen zu einer Wahrnehmung ihrer Aufgaben, insbesondere dem Abschluss von Tarifverträgen anzuhalten.462 Eine Tabuzone für den staatlichen Gesetzgeber in bestimmten Regelungsbereichen könnte deshalb zu Schutzlücken führen, sollten die Koalitionen untätig bleiben. Es ist unwahrscheinlich, dass Art. 9 Abs. 3 GG ein derartiges Ergebnis anstreben wollte. Die uneingeschränkte Existenz des Gesetzes zur Regelung von Mindestarbeitsbedingungen, das dem Gesetzgeber unter besonderen Umständen sogar die Festlegung des Arbeitsentgelts gestattet, bestätigt diesen Befund.463 2. Kein ungeschriebener einfacher Gesetzesvorbehalt im Rahmen der von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützten tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis Anknüpfend an die Unterscheidung zwischen der primär im Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verankerten Koalitionsbildungsgarantie und der nur sekundär im Zuge einer extensiven Interpretation des Grundrechts in den Schutzgehalt inkorporierten Koalitionsbetätigungsgarantie erweitert ein Teil des Schrifttums die Schranken der Koalitionsfreiheit um einen ungeschriebenen einfachen Gesetzesvorbehalt.464 Eine großzügige Interpretation des Schutzbereiches könne auf der Schrankenebene nicht unberücksichtigt bleiben und erfordere die Erweiterung der bei vorbehaltlosen Grundrechtsgarantien lediglich verfassungsimmanenten Schranken in Gestalt kollidierender Grundrechte Dritter oder anderer Rechtswerte von 460 So zutreffend Butzer, RdA 1994, 375, 379; Dieterich, AuR 2001, 390, 391; Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 72; Löwisch, Arbeitsrechtsordnung, S. 64; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 299. 461 Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 72. 462 Säcker, Gruppenautonomie, S. 261. 463 Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 141. 464 Friauf, RdA 1986, 188, 190; Löwisch, ZIP 2001, 1565, 1566; Henssler, ZfA 1998, 1, 6 ff., 12; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG; ähnlich auch Kamanabrou, RdA 1997, 22, 32 f.; Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 67 f.; im Ergebnis auch Löwer, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 9 Rn. 64, der allerdings nicht von einem Gesetzesvorbehalt im technischen Sinne ausgeht, sondern das Verhältnis von Tarifvertrag und Gesetz bei der Regelung materieller Arbeitsbedingungen als Kompetenzkonflikt zweier Normgeber begreift.
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Verfassungsrang um zusätzliche Einschränkungsmöglichkeiten.465 Während einige Autoren nur die Koalitionsbildungsfreiheit als vorbehaltlos einordnen, die Gewährleistung der Koalitionsbetätigungsfreiheit jedoch einem einfachen Gesetzesvorbehalt unterstellen wollen,466 schlagen andere wiederholt Stufenmodelle vor. Diesen ist gemeinsam, dass der Gesetzgeber mit einem Teil der Eingriffe in die tarifvertragliche Regelungsbefugnis öffentliche Interessen verfolgen darf, welche die Schwelle zum kollidierenden Verfassungsrecht nicht überschreiten. Nach Löwisch und Rieble besteht die Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien überhaupt erst im Bereich des Arbeitnehmerschutzes. Gehe es dem Gesetzgeber um den Schutz der Allgemeinheit, sei die Dispositionsbefugnis der Tarifvertragsparteien von vornherein nicht eröffnet.467 Im Konkurrenzbereich des Arbeitnehmerschutzes fordern sie für die Rechtfertigung kollidierendes Verfassungsrecht, wenn der Gesetzgeber materielle Arbeitsbedingungen festlegt, die den Tarifvertragsparteien naturgemäß sehr wichtig sind. Insbesondere sind davon Bestimmungen zum Entgelt und zur Dauer der Arbeitszeit erfasst.468 In Randbereichen – als Beispiele führen die Autoren die Lage der Arbeitszeit, Lohnnebenleistungen oder Formvorschriften an – könnten auch andere Gemeinwohlbelange einen Eingriff rechtfertigen.469 Ähnlich argumentiert Kamanabrou.470 Sie gelangt allerdings zu einer viel stärkeren Beschränkung des Gesetzgebers, da sie immer dann, wenn lediglich Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen berührt sind, staatliche Regelungen nur zum Schutz von Verfassungsrechtsgütern zulassen will.471 Sobald der Gesetzgeber mit seinem Vorhaben den Schutz von Interessen verfolge, die sich nicht mit denen der Tarifunterworfenen deckten und zugleich einen hinreichend großen Personenkreis beträfen, sei ein gesetzlicher Eingriff in die Tarifautonomie auch aufgrund anderer als verfassungsmäßiger Rechtspositionen zulässig.472
465 Friauf, RdA 1986, 188, 190; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 32 f.; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG. 466 Löwisch, ZIP 2001, 1565, 1566; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG. Ebenso Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 67 f., der eine Parallele zwischen Tarifverträgen und Arbeitsverträgen zieht und feststellt, dass bei einer zulässigen Beschränkung der grundsätzlich durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Regelungsmöglichkeiten in einem Arbeitsvertrag, gleiches auch für den Tarifvertrag als kollektivierte Privatautonomie gelten müsse. Dabei verkennt er aber die grundlegenden Unterschiede zwischen Arbeits- und Tarifvertrag einerseits und der Formulierung des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG andererseits. 467 Löwisch / Rieble, MüHBArbR, § 246 Rn. 59; dies., TVG, Grundl. Rn. 29. 468 Löwisch / Rieble, MüHBArbR, § 246 Rn. 58; dies., TVG, Grundl. Rn. 28. 469 Löwisch / Rieble, MüHBArbR, § 246 Rn. 58; dies., TVG, Grundl. Rn. 28. 470 RdA 1997, 22, 32 f. 471 Vgl. Kamanabrou, RdA 1997, 22, 33. 472 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 33.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
Henssler473 wiederum bildet die Stufen für die unterschiedlichen Anforderungen an die Rechtfertigung staatlicher Eingriffe durch gesetzliche Arbeitsbedingungen anhand einer sachlich-gegenständlichen Abgrenzung. Originäre Lohnfragen ordnet er der höchsten Eingriffsstufe zu, auf der der Gesetzgeber nur bei Versagen der Tarifvertragsparteien zur Abwendung konkreter und schwerer Gefahren für Gemeinschaftsgüter mit Verfassungsrang vorübergehend regelnd tätig werden dürfe.474 Bereits Arbeitszeitregelungen nimmt er aus der höchsten Eingriffsstufe aus.475 Als zweite Eingriffsstufe identifiziert er üblicherweise tariflich geregelte Arbeitsbedingungen. Der Gesetzgeber könne in diesem Bereich zum Schutze von Rechtsgütern Dritter und wichtigen Gemeinwohlinteressen regelnd tätig werden, solange den Tarifpartnern insgesamt ein substantieller Restbereich für eigenverantwortliche Gestaltungen verbleibe.476 Auf der niedrigsten Eingriffsstufe, die alle üblicherweise nicht tariflich geregelten Arbeitsbedingungen erfasse, müssten staatliche Normen lediglich von einem sachlichen Grund im Sinne einer vernünftigen Gemeinwohlerwägung getragen sein.477 Henssler begründet sein Stufenmodell vor allem historisch. Darüber hinaus befürchtet er bei einer vorbehaltlosen Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis, dass alle gesetzlichen Schutzgüter unterhalb von Verfassungsrang hinter den tarifvertraglichen Regelungszielen zurücktreten müssten und dadurch demokratiefeindliche Ergebnisse entstehen.478 Das von Löwisch und Rieble vorgeschlagene Modell deckt sich hinsichtlich des sachlich-gegenständlichen Umfangs der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis mit den in dieser Arbeit bereits erzielten Ergebnissen. Die verfassungsrechtliche Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis erstreckt sich nur auf die grundsätzlich auch arbeitsvertraglich regelbaren Arbeitsbedingungen sowie solche, die unmittelbar auf diese bezogen sind. Das entspricht dem Bereich, in dem Kamanabrou für die Rechtfertigung eines gesetzlichen Eingriffs den Schutz kollidierenden Verfassungsrechts fordert. Die Regelungsmaterien, für die sie andere legitime öffentliche Interessen genügen lässt, fallen nach dem hier vertretenen Ansatz bereits gar nicht in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG.479 Auch Henssler fasst den Schutzumfang der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis sehr weit. Die von ihm auf der dritten Eingriffsstufe angesiedelten gesetzlichen Regelungsgegenstände würden auf dem Boden der in der vorliegenden Arbeit entwickelten Konzeption ebenfalls nicht dem grundrechtlichen Schutzbereich unterfallen. Daran zeigt sich, dass die Befürchtungen im Hinblick auf einen ausufernden vorbehaltlosen Grundrechtsschutz größtenteils darauf beruhen, dass der Umfang 473 474 475 476 477 478 479
ZfA 1998, 1, 33 ff. Henssler, ZfA 1998, 1, 33. Vgl. Henssler, ZfA 1998, 1, 33. Henssler, ZfA 1998, 1, 34. Henssler, ZfA 1998, 1, 34. Henssler, ZfA 1998, 1, 27. Vgl. ausführlich 2. Teil: § 6 C. IV.
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der legitimen Koalitionszwecke, der sich auf die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen erstreckt, und die sachlich-gegenständliche Reichweite der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis gleichgesetzt werden. Im Rahmen des Schutzbereichs der Koalitionsbetätigungsfreiheit ist jedoch zwischen dem gesamten Aufgabenbereich der Koalitionen und dem Umfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis als dem Bereich zu differenzieren, in dem die Koalitionen Kollektivnormen zur Überwindung der gestörten Verhandlungsparität im Individualarbeitsverhältnis setzen dürfen. Beachtet man diese Unterscheidung und begrenzt die Reichweite der verfassungsrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis auf den ihr durch die spezifische Zwecksetzung zugeschriebenen Bereich, dann verringert sich der den Tarifvertragsparteien zustehende Regelungsspielraum und das insbesondere von Henssler befürchtete Demokratiedefizit durch einen Ausschluss des Gesetzgebers von wichtigen Regelungsbereichen480 realisiert sich nicht. Ebenso wenig kann dann die Rede davon sein, dass dem Schutzgehalt die für eine vorbehaltlose Garantie erforderliche Konturierung fehle.481 Zum einen enthalten andere schrankenlose Gewährleistungen wie Art. 4 Abs. 1 GG, 5 Abs. 3 GG oder 6 Abs. 1 GG gleichermaßen schwach umrissene Angaben zum Schutzumfang wie Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Zum anderen bedeutet die Reduzierung der staatlichen Eingriffsbefugnisse auf kollidierendes Verfassungsrecht nicht, dass dem Gesetzgeber die Hände gebunden sind.482 Entgegen der Einschätzung von Wank483 und Kamanabrou484 findet eben gerade keine erhebliche Ausdehnung des Schutzbereichs statt, wenn man den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nicht unbesehen auf die tarifvertragliche Regelung aller denkbaren Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ausdehnt, sondern zwischen der allgemeinen Betätigungsgarantie und der Gewährleistung der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis bereits bei der Interpretation des Schutzbereiches unterscheidet. Aber auch darüber hinaus ist nicht ersichtlich, warum die nach ihrem Wortlaut vorbehaltlose Garantie der kollektiven Koalitionsfreiheit in Gestalt der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis einem einfachen Gesetzesvorbehalt unterliegen soll.485 Die Koalitionsbetätigungsfreiheit lässt sich nicht auf einen bloßen Annex zur Koalitionsbildungsfreiheit reduzieren, der lediglich die Effektivität der BeVgl. Henssler, ZfA 1998, 1, 21 f. Friauf, RdA 1986, 188, 191. 482 Vgl. Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133, sowie Kempen, AuR 1996, 336, 341; ders., Festschrift für Schaub, S. 357, 361, die fast schon zu viele Eingriffsmöglichkeiten für den Gesetzgeber sehen; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 317. 483 Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG. 484 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 32 f. 485 Gegen einen einfachen Gesetzesvorbehalt auch Hanau, Gutachten C zum 63. DJT, S. 63; ders., ZIP 2001, 447, der sogar aufgrund der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von einer Pflicht des Gesetzgebers ausgeht, verstärkt tarifdispositive Vorschriften zu schaffen; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 307. 480 481
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standsgarantie absichert.486 Vielmehr findet sie durch die Koalitionszweckbestimmung direkt im Grundrechtswortlaut Anklang. Hinweise auf einen einfachen Gesetzesvorbehalt enthält der Wortlaut hingegen nicht. Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte zeigt zudem, dass der Parlamentarische Rat durchaus gewillt war, einzelne Koalitionsbetätigungen in den verfassungsrechtlichen Schutz der Koalitionsfreiheit einzubeziehen. Für das Streikrecht wurde dies ausdrücklich diskutiert. Die endgültige Aufnahme in den Verfassungstext scheiterte zuletzt daran, dass man sich nicht über eine genaue Formulierung einigen konnte.487 Es war aber gemeinsame Überzeugung der Verfassungsschöpfer, dass auch Koalitionsbetätigungen Teil der verfassungsrechtlichen Garantie sind. Hinsichtlich der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis ist das Schweigen des Grundgesetzes zusätzlich dadurch bedingt, dass der Parlamentarische Rat angesichts des bereits in Kraft befindlichen Tarifvertragsgesetzes vom 9. 4. 1949 keinen ausdrücklichen Regelungsbedarf im Verfassungstext sah.488 Das spricht aber nicht endgültig gegen eine Einbeziehung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis in die vorbehaltlose Garantie der Koalitionsfreiheit. Zudem ergeben sich ernste Bedenken gegen die im Rahmen der vorgestellten Stufenmodelle herangezogenen Kriterien für die Abgrenzung zwischen den Eingriffsstufen. Henssler zieht dafür die Tarifüblichkeit heran. Dieser Ansatz läuft auf eine Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Schutzintensität anhand empirischer Erscheinungen hinaus. Die Tarifvertragsparteien hätten es danach in der Hand, auf den Schutzumfang Einfluss zu nehmen und gewisse Regelungsbereiche für den Gesetzgeber zu sperren. Selbst wenn man eine solche Entwicklung für unwahrscheinlich hält, bleibt problematisch, dass die Tarifüblichkeit keinen zuverlässigen Indikator für die Wichtigkeit und Schutzwürdigkeit eines Regelungsgegenstands bildet. Denn die Existenz zahlreicher tariflicher Festlegungen bestimmter Arbeitsbedingungen belegt nur, dass sich die Tarifvertragsparteien in diesem Bereich gegen Konkurrenzregelungen durchsetzen konnten, nicht jedoch, dass es sich bei diesen Bestimmungen zwingend um besonders schutzwürdige Materien handelte. Sofern für die Bildung von Eingriffsstufen darüber hinaus an die jeweils verfolgten staatlichen Interessen angeknüpft wird, birgt dies die Gefahr eines Zirkelschlusses. Rechtsgüter sind von der Rechtsordnung als schützenswert anerkannte Vgl. dazu bereits oben 2. Teil: § 6 C. II. Vgl. Protokolle der Sitzungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, 1948 / 49, S. 211 ff.; von Doemming / Füsslein / Matz, JöR 1 (1951), S. 118 ff.; vgl. auch Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 294. 488 Badura, in: HBStR VII, § 159 Rn. 4; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 220; Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 296; Rupp, JZ 1998, 919, 924; dieses Schicksal teilen mehrere fundamentale Rechtsgewährleistungen, die daher als „ungeschriebene Verfassungsnormen“ bezeichnet werden, vgl. Badura, in: HBStR VII, § 159 Rn. 4, der sogar von „verschwiegenen Verfassungsartikeln“ spricht; Pecher, Verfassungsimmanente Schranken, S. 222. 486 487
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Interessen der sie innehabenden Rechtsträger.489 Wenn sowohl Löwisch und Rieble als auch Kamanabrou ihre Eingriffsstufen anhand der verfolgten staatlichen Interessen abgrenzen, dann erheben sie die Tatbestandsvoraussetzung zur Rechtsfolge. Es obliegt dem Gesetzgeber, die Ziele seiner Gesetzgebung zu definieren.490 Er legt damit auch die mit seinem Regelungsvorhaben verfolgten Interessen fest. Die Abgrenzung nach geschützten Interessen könnte folglich dazu führen, dass der Gesetzgeber im Rahmen der ihm zustehenden Einschätzungsprärogative die Möglichkeit hätte, mit einer entsprechenden Formulierung der verfolgten staatlichen Ziele über die Intensität der Rechtfertigung zu disponieren. Aus Sicht des Freiheitsschutzes ist das vor dem Hintergrund des Art. 1 Abs. 3 GG bedenklich. Im Ergebnis ist daher auf die Einführung eines ungeschriebenen einfachen Gesetzesvorbehaltes im Rahmen der Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu verzichten. Dem steht auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich der Schranken der Tarifautonomie nicht entgegen. Die Richter haben bis dato noch nicht abschließend zu den Schranken der Koalitionsfreiheit Stellung genommen.491 In seiner Entscheidung vom 10. 1. 1995492 hielt das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz, dessen Regelungsgegenstand sich im Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG bewegte, auch auf der Grundlage wichtiger Gemeinschaftsgüter und nicht lediglich zum Schutz von Rechtsgütern mit Verfassungsrang für zulässig. Die Richter ordneten die Vorschrift jedoch als Ausgestaltung des Tarifvertragssystems und nicht als Eingriff in die Koalitionsfreiheit ein.493 Für die Ausgestaltung gelten nach Ansicht des Gerichts nicht die strengen Anforderungen für die Rechtfertigung aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts. Vielmehr muss sich der Gesetzgeber lediglich am Normziel des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG orientieren und darf die Parität der Tarifvertragsparteien nicht verfälschen.494 Tatsächlich regelte der in Rede stehende § 21 Abs. 4 S. 2 und 3 FlRG die Anwendbarkeit von Tarifverträgen auf Kauffahrteischiffe. Es handelte sich also nicht um die Regelung materieller Arbeitsbedingungen, bei der der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien eine Entscheidung inhaltlich vorweg nimmt und seine eigene Regelung an die Stelle einer Stern, Staatsrecht III / 2, S. 686; in Anlehnung an Binding, Normen, Bd. 1, S. 353 ff. Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 280; Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 133 f.; Wernsmann, NVwZ 2000, 1360, 1363. 491 Vgl. BVerfG vom 24. 6. 1996, BVerfGE 94, 268, 284; vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 283; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 306. Der Nichtannahmebeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154, enthält zwar nicht die bekannte Einschränkung, „jedenfalls“ durch kollidierendes Verfassungsrecht sei ein Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu rechtfertigen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Richter an dieser Stelle eine grundlegende Entscheidung zu den Schranken der Koalitionsbetätigungsgarantie treffen wollten. 492 BVerfGE 92, 26, 38 ff. 493 BVerfG vom 10. 1. 1995, BVerfGE 92, 26, 41, das Gericht spricht nicht von einem Eingriff in den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, sondern verwendet den Begriff der „Beeinträchtigung“. 494 BVerfG vom 10. 1. 1995, BVerfGE 92, 26, 41. 489 490
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tarifvertraglichen Regelung setzt, sondern um eine die Durchführung des Tarifvertragssystems betreffende Vorschrift. Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts kann demnach nicht verallgemeinert und davon ausgegangen werden, dass seit der Entscheidung im 92. Band auch Rechtsgüter unterhalb von Verfassungsrang materielle Arbeitnehmerschutzgesetze zu tragen vermögen. Die Garantie der Koalitionsbetätigungsfreiheit ist daher auch hinsichtlich der Gewährleistung der tarifvertraglichen Normsetzung vorbehaltlos. Zur Rechtfertigung von Eingriffen in diese Teilgarantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG kann sich der Gesetzgeber daher nur auf kollidierendes Verfassungsrecht stützen. 3. Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG durch kollidierendes Verfassungsrecht Dass ein Grundrecht vorbehaltlos garantiert ist, bedeutet nicht, dass der Gesetzgeber in seinen Schutzbereich in keiner Weise eingreifen darf. Seit seiner grundlegenden Entscheidung vom 26. 5. 1970495 erkennt das Bundesverfassungsgericht an, dass die öffentliche Gewalt zum Schutz von Grundrechten Dritter und anderen Rechtswerten von Verfassungsrang unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit den Schutzbereich einer vorbehaltlosen Grundrechtsgarantie antasten kann. Darüber hinaus zieht die voranschreitende Europäisierung dem Grundrechtsschutz zusätzliche Grenzen. Neben der Einschränkungsmöglichkeit vorbehaltloser Grundrechtsgarantien durch kollidierendes Verfassungsrecht ist daher zusätzlich zu berücksichtigen, wie sich die Existenz von Gemeinschaftsrechtsakten auf den Grundrechtsschutz auswirkt. a) Die Relativierung des verfassungsrechtlichen Schutzes durch Rechtsakte der Europäischen Union Die primären und sekundären Rechtsakte der Europäischen Union nehmen in der Normenhierarchie eine Stellung ein, die dem einfachen Bundesrecht und sogar dem Grundgesetz gegenüber vorrangig ist. Die heute herrschende Ansicht vom Anwendungsvorrang496 des Europarechts, der zur Folge hat, dass nationale Vorschriften insoweit keine Anwendung finden, als sie den europäischen Rechtsakten zuwiderlaufen, wirkt sich auch auf die Anwendung der deutschen Grundrechte aus. Ihren Anfang nahm diese Entwicklung mit der Solange I-Entscheidung. In dem Beschluss vom 29. 5. 1974497 sah das Bundesverfassungsgericht den GrundrechtsBVerfGE 28, 243, 261. Vgl. nur P. M. Huber, Europäische Integration, § 9 Rn. 15 f.; Schroeder, in: Streinz / Ohler, EUV / EGV, Art. 249 EGV Rn. 45; Streinz, Europarecht, Rn. 200; Frenz, DVBl. 1995, 408, 413. 497 BVerfGE 37, 271 ff. 495 496
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katalog noch als „ein unaufgebbares, zur Verfassungsstruktur des Grundgesetzes gehörendes Essentiale der geltenden Verfassung“498 an. Ausgangspunkt für diese Aussage war, dass die damals noch in Art. 24 Abs. 1 GG enthaltene Integrationsermächtigung nicht gestatte, den Grundrechtsschutz zu relativieren, solange auf europäischer Ebene kein in der Gemeinschaft allgemein verbindlicher Grundrechtsstandard existiere, der dem des Grundgesetzes auf Dauer adäquat sei.499 Für den damals entschiedenen Fall kam es demzufolge zu dem Ergebnis, dass die Grundrechte auch bei dem Vollzug von Unionsrecht zu beachten seien, solange dieses nicht selbst dem durch das Grundgesetz vorgegebenen Mindeststandard entspreche. Im Grundsatz entspricht dies auch noch der aktuellen Position des Bundesverfassungsgerichts. Allerdings steht es seit der so genannten Vielleicht- und der Solange II-Entscheidung auf dem Standpunkt, dass die europäische Rechtsordnung dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten sei und den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürge.500 Diese Aussage bestätigte das Gericht im Maastricht-Urteil501 und beseitigte gleichzeitig die durch die Formulierungen des Solange II-Beschlusses geschürte Unsicherheit über die Prüfungskompetenz, indem es ankündigte, die Kontrolle über die Wahrung der Wesenszüge der deutschen Grundrechtsordnung in einem Kooperationsverhältnis mit dem Europäischen Gerichtshof ausüben zu wollen.502 In Fortsetzung dieser Rechtsprechung stellte das Bundesverfassungsgericht auch im Bananenmarkt-Beschluss vom 7. 6. 2000 fest, dass es eine Prüfung von Gemeinschaftsrechtsakten an den Grundrechten erst vornehmen werde, wenn europäische Rechtsakte für den Bürger belastend wirkten, das Unionsrecht aber keinen dem grundgesetzlich geforderten Mindeststandard entsprechenden Schutz bereitstellen könne.503 Demgegenüber steht der Europäische Gerichtshof bereits seit den Anfangsjahren der Existenz der Europäischen Gemeinschaften auf dem Standpunkt des uneingeschränkten Vorrangs europäischer Rechtsakte gegenüber nationalen Vorschriften. Er hat das in zahlreichen Entscheidungen zum Ausdruck gebracht, in denen er entgegen dem ersten Eindruck, keinen Geltungsvorrang des Gemeinschaftsrechts aus den Verträgen ableitet, jedoch den nationalen Gerichten auferlegt, gemeinschaftswidrige Vorschriften unangewendet zu lassen.504 Allerdings beziehen sich die entBVerfG vom 29. 5. 1974, BVerfGE 37, 271, 280. BVerfG vom 29. 5. 1974, BVerfGE 37, 271, 280. 500 BVerfG vom 25. 7. 1979, BVerfGE 52, 187, 202 f., wo das Bundesverfassungsgericht die Gleichwertigkeit noch ausdrücklich offen ließ; BVerfG vom 22. 10. 1986, BVerfGE 73, 339, 378 ff. 501 BVerfG vom 12. 10. 1993, BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht 502 BVerfG vom 12. 10. 1993, BVerfGE 89, 155, 174 f. – Maastricht 503 BVerfG vom 7. 6. 2000, BVerfGE 102, 147, 164 – BananenmarktVO. 504 Vgl. EuGH vom 15. 7. 1964, Rs. 6 / 64, Slg. 1964, 1251, 1269 f. (Costa / E.N.E.L.); EuGH vom 17. 12. 1970, Rs. 11 / 70, Slg. 1970, 1125, Rn. 3 S. 1135 (Internationale Handels498 499
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schiedenen Sachverhalte explizit nur auf Vorschriften der Verträge, nicht aber auf Sekundärrecht. In den Entscheidungsgründen spricht der Gerichtshof jedoch von allen unmittelbar geltenden Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane,505 so dass anzunehmen ist, dass sich die Ausführungen zum Vorrang auch auf das Sekundärrecht beziehen. Letztlich geht es bei dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor den deutschen Grundrechten um die Frage nach der Geltung des Art. 1 Abs. 3 GG im Hinblick auf die innerstaatliche Anwendung von europäischen Rechtsakten. Dabei greift die Erwägung, bei der Anwendung von Europarecht übten die deutschen Behörden keine deutsche Staatsgewalt aus,506 sicherlich zu kurz. Die deutsche Staatsgewalt wird tätig, auch wenn sie Gemeinschaftsrecht anwendet.507 Vielmehr bewirkt die in Art. 23 GG vorgesehene europäische Integration mit der gleichzeitigen Übertragung von Hoheitsrechten, dass Art. 1 Abs. 3 GG insoweit zurücktritt, als die uneingeschränkte Anwendung des deutschen Grundrechtskatalogs die Effektivität der Gemeinschaftsrechtsordnung konterkarieren würde.508 Aus alledem folgt, dass zugunsten von Rechtsakten der Europäischen Union vermutet werden kann, dass sie immer dann, wenn sie europarechtskonform zustande gekommen sind, gleichzeitig auch den grundgesetzlichen Schutzstandard wahren.509 Sie sind daher nicht erneut am Grundgesetz zu prüfen. Ebenso wenig finden die Grundrechte Anwendung im Verhältnis zu europarechtlichen Vorschriften des Primär- und Sekundärrechts.510 Dies gilt auch dann, wenn im Einzelfall eine konkrete europarechtliche Vorschrift hinter den Anforderungen eines betroffenen Grundrechtstatbestandes zurückbleibt und sie nach deutschen Maßstäben verfassungswidrig wäre, solange nur im Ganzen die grundgesetzlich geforderten Mindeststandards auf europäischer Ebene gewahrt werden.511 Für das Verhältnis zwischen staatlicher Arbeitnehmerschutzgesetzgebung und der Tarifautonomie ergibt sich daraus, dass immer dann, wenn die gesetzliche Regesellschaft); EuGH vom 9. 3. 1978, Rs. 106 / 77, Slg. 1978, 629, Rn. 17 / 18 S. 644 (Simmenthal); EuGH vom 19. 6. 1990, Rs. C-213 / 89, Slg. 1990, I-2433, Rn. 18 S. I-2473 (Factortame). 505 Vgl. explizit EuGH vom 9. 3. 1978, Rs. 106 / 77, Slg. 1978, 629, Rn. 17 / 18 S. 644 (Simmenthal); EuGH vom 19. 6. 1990, Rs. C-213 / 89, Slg. 1990, I-2433, Rn. 18 S. I-2473 (Factortame); sinngemäß auch EuGH vom 15. 7. 1964, Rs. 6 / 64, Slg. 1964, 1251, 1270 (Costa / E.N.E.L.); EuGH vom 17. 12. 1970, Rs. 11 / 70, Slg. 1970, 1125, Rn. 3 S. 1135 (Internationale Handelsgesellschaft); 506 Erichsen, VerwArch. 66 (1975), 177, 181. 507 Hain, DVBl. 2002, 148, 153; Streinz, in: HBStR VII, § 182 Rn. 31. 508 Dreier, in: ders., GG, Art. 1 III Rn. 19, der von Relativierung der Grundrechtsbindung spricht; Hain, DVBl. 2002, 148, 153. 509 P. M. Huber, Europäische Integration, § 4 Rn. 26. 510 P. M. Huber, Europäische Integration, § 4 Rn. 26. 511 Frenz, DVBl. 1995, 408, 413 f.; Hain, DVBl. 2002, 148, 153; P. M. Huber, Europäische Integration, § 4 Rn. 27; Schroeder, in: Streinz / Ohler, EUV / EGV, Art. 249 EGV Rn. 44; Streinz, in: HBStR VII, § 182 Rn. 32.
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gelung materieller Arbeitsbedingungen in Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Union erfolgt, Besonderheiten für die Überprüfung des Gesetzes an Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gelten. Denn in diesem Zusammenhang ist die soeben beschriebene Relativierung des verfassungsrechtlichen Schutzes durch das Europarecht zu berücksichtigen. Europäische Richtlinien binden insbesondere auch den deutschen Gesetzgeber. Setzt dieser also die zwingenden Vorgaben des Gemeinschaftsrechts in deutsches Recht um, dann gilt Art. 1 Abs. 3 GG nicht und ein möglicher Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG kann nicht eintreten.512 Dies gilt natürlich nur in dem Umfang, in dem der Gesetzgeber keine Spielräume bei der Umsetzung der Richtlinie hat. Sobald er Wahlrechte ausüben kann bzw. ihm ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum bei der Umsetzung zur Verfügung stehen, ist er in vollem Maße an die Grundrechte des Grundgesetzes und damit auch an Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gebunden.513 Bevor demnach eine staatliche Arbeitnehmerschutzvorschrift anhand Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG überprüft wird, ist zu berücksichtigen, ob es sich bei dieser um den Umsetzungsakt einer Richtlinie handelt und inwieweit der Gesetzgeber dabei zwingend durch die Vorgaben der Richtlinie gebunden war. Erst nach dieser Vorprüfung kann sich die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der gesetzgeberischen Maßnahme anhand Art. 9 Abs. 3 GG anschließen. b) Kollidierendes Verfassungsrecht Seit seiner Leitentscheidung vom 26. 5. 1970 eröffnet das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit, „uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen“ durch „kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte“ ausnahmsweise zu begrenzen.514 Damals zog der Erste Senat die in den Art. 12a Abs. 1, 73 Nr. 1, 87a Abs. 1 S. 1 GG vorgesehene Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr als Rechtswert mit Verfassungsrang heran.515 Im Laufe der weiteren Entwicklung sind zahlreiche zusätzliche Rechtswerte dazugekommen. Welche von ihnen im einzelnen in der Lage sind, vorbehaltlose Grundrechtsgarantien einzuschränken und wie sie aufzufinden sind, ist bislang noch nicht abschließend geklärt. Eine derartige Untersuchung kann im Rahmen dieser Arbeit auch nicht vorgenommen werden. Es soll vertieft daher nur auf die Rechtswerte eingegangen werden, die bisher in der Rechtsprechung und Literatur als rechtfertigungsfähige Rechtsgüter für eine Einschränkung der Koalitionsfreiheit Anwendung gefunden haben.
Hain, DVBl. 2002, 148, 154; Streinz, in: HBStR VII, § 182 Rn. 33. Allgemein Dreier, in: ders., GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 24; Hain, DVBl. 2002, 148, 153; Streinz, in: HBStR VII, § 182 Rn. 33. 514 BVerfG vom 26. 5. 1970, BVerfGE 28, 243, 261. 515 BVerfG vom 26. 5. 1970, BVerfGE 28, 243, 261. 512 513
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aa) Grundrechte Dritter Einigkeit besteht darüber, dass Grundrechte Dritter als legitimes Schutzgut für die Rechtfertigung eines Eingriffs in ein vorbehaltlos garantiertes Grundrecht dienen können. Zwischen ihnen besteht in dieser Hinsicht auch keine Rangordnung. Die Gewährleistung der Grundrechte bildet eine konstitutive Existenzbedingung des bundesdeutschen Staates. Kann sich der Gesetzgeber daher als Motivation für seine einseitig zwingende gesetzliche Regelung darauf berufen, dass er den Schutz von Grundrechten Dritter bezweckt,516 dann sind diese geeignet, als legitime Grundlage für einen Eingriff in ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht zu dienen. Nicht erforderlich ist es, dass den Staat eine Schutzpflicht hinsichtlich eines bestimmten Grundrechts trifft.517 Die dogmatische Figur der Schutzpflicht bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Staat und Grundrechtsträger. Der staatliche Gesetzgeber ist dem Grundrechtsberechtigten gegenüber zu einem aktiven Einschreiten zur Wahrung der grundrechtlichen Positionen verpflichtet.518 Das Recht des Staates, aus eigener Initiative zum Schutz bestimmter Grundrechtsgewährleistungen tätig zu werden, wird dadurch jedoch nicht in einer Art Umkehrschluss ausgeschlossen.519 Das Fehlen einer Schutzpflicht besagt lediglich, dass der Staat im Hinblick auf die als kollidierendes Verfassungsrecht herangezogene Grundrechtsgarantie keiner Verpflichtung zu einem Tätigwerden unterliegt. Sobald der Gesetzgeber also mit der legislativen Maßnahme den Schutz von Grundrechten Dritter bezweckt, kommt bei Wahrung der zusätzlichen Anforderungen auch eine Rechtfertigung für Eingriffe in die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis in Betracht. bb) Sozialstaatsprinzip Neben den Grundrechten Dritter führen Rechtsprechung520 und Schrifttum521 wiederholt das Sozialstaatsprinzip als einen Rechtswert von Verfassungsrang an, 516 Höfling, Anm. zu BVerfG vom 27. 4. 1999, in: JZ 2000, 44, 45, scheint in diesem Zusammenhang immer eine grundrechtliche Schutzpflicht zu fordern, damit sich der Staat als Legitimation einer gesetzlichen Regelung auf Grundrechte Dritter berufen kann. 517 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31; ähnlich Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 84; auch Kempen, Festschrift für Schaub, 357, 362; ders, AuR 1996, 336, 340, fordert das Vorliegen einer Schutzpflicht nur für eine zweiseitig zwingende Arbeitnehmerschutzgesetzgebung. 518 Hesse, in: HBVerfR, § 5 Rn. 52; Isensee, in: HBStR, § 111 Rn. 85; Stern, Staatsrecht III / 1, S. 948 ff. 519 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31. 520 Vgl. aktuell, BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 282 ff.; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 306 ff.; vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154; BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG; vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 Abs. 4 EFZG; kritisch insbesondere zur Legitimität des Schutzziels die „Massenarbeitslosigkeit zu bekämpfen“, Wolter, NZA 2003, 1317, 1319. 521 Butzer, RdA 1994, 375, 382; Söllner, NZA 2000, Beilage Nr. 24, S. 33, 36; P. Wolff, Kollision tarifvertraglicher Normsetzung und Gesetzgebung, S. 79 ff.
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der geeignet sei, einen Eingriff in die Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis zu legitimieren. Richtig ist, dass das Sozialstaatsprinzip nicht lediglich einen Programmsatz verkörpert, sondern eine unmittelbar geltende Rechtsnorm darstellt.522 Als Staatskonstitutionsprinzip kommt ihm zudem eine so gesteigerte Bedeutung im Rahmen der Verfassungsrechtsordnung zu, dass es den Grundrechten durchaus ebenbürtig und daher grundsätzlich als Rechtswert von Verfassungsrang im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Rechtfertigung von Eingriffen in vorbehaltlos garantierte Grundrechte einzustufen ist.523 Das Bundesverfassungsgericht sah in diesem Zusammenhang die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit bzw. die Schaffung eines hohen Beschäftigungsstandes als Bestandteil des sozialstaatlichen Gestaltungsauftrags an.524 In diesem Zusammenhang führt das Gericht ebenfalls aus, dass der Gesetzgeber verpflichtet sei, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu sorgen sowie staatliche Fürsorge für diejenigen bereitzustellen, die aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligungen an ihrer persönlichen oder sozialen Entfaltung gehindert seien.525 Aufgrund der mangelnden Konkretisierung des Sozialstaatsprinzips stehe es dem Gesetzgeber aber frei, wie er diesen Auftrag erfülle.526 Die Auffassung, dass aus dem Sozialstaatsprinzip ein Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber fließt, entspricht dem allgemeinen Konsens in der rechtswissenschaftlichen Literatur.527 Das gilt gleichermaßen für die Erkenntnis, dass mangels konkreter Anhaltspunkte im Verfassungstext der Gesetzgeber in der Entscheidung, wie er dem Auftrag nachkommen möchte, relativ frei ist.528 Gemäß Art. 1 Abs. 3 GG bleibt er aber auch bei der Umsetzung eines Verfassungsauftrags an die Grundrechtsordnung gebunden. Das bedeutet, dass er die sozialstaatlichen Anforderungen nur innerhalb der Grenzen wahrnehmen kann, die seiner Regelungsbefugnis durch die Grundrechte gezogen sind. Bestimmt man diese wiederum anhand des Sozialstaatsprinzips und berücksichtigt dabei den durch die Unbestimmtheit des Sozialstaatsprinzips bedingten Freiraum des Gesetzgebers, erliegt man einem Zirkelschluss. Nicht jedes einfache Maurer, Staatsrecht, § 8 Rn. 69; Schnapp, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 20 Rn. 35. Pecher, Verfassungsimmanente Schranken, S. 256; nach Sachs, in: ders., GG, Vor Art. 1 Rn. 130, nur ausnahmsweise. 524 Vgl. BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 284; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 307; kritisch gegenüber einer zu starken Ausdehnung der Rechtswerte von Verfassungsrang in diese Richtung Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 316. 525 BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 284, unter Verweis auf BVerfG vom 18. 7. 1967, BVerfGE 22, 180, 204; vom 22. 7. 1977, BVerfGE 45, 376, 387. 526 BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 284, unter Berufung auf BVerfG vom 19. 12. 1951, BVerfGE 1, 97, 105; ebenso BVerfG vom 18. 7. 1967, BVerfGE 22, 180, 204. 527 Vgl. Butzer, RdA 1994, 375, 382; Maurer, Staatsrecht, § 8 Rn. 69; Stein, AuR 1998, 1, 3. 528 Maurer, Staatsrecht, § 8 Rn. 72; Schnapp, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 20 Rn. 38; Sommermann, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 20 Abs. 1 Rn. 97, 110. 522 523
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Gesetzesvorhaben mit sozialstaatlichem Bezug kann als durch einen Rechtswert von Verfassungsrang getragen angesehen werden.529 Dies widerspricht auch den allgemeinen verfassungsrechtlichen Stellungnahmen, die sich um eine inhaltliche Konkretisierung des Rechtswerts von Verfassungsrang bemüht haben. Sie fassen nur solche Positionen unter diesen Begriff, bei denen es sich um Essentialia des Staates, also Rechtsgüter oder Rechtsinstitutionen von existentieller Bedeutung handelt.530 Damit ist die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen in vorbehaltlose Garantien durch allgemein sozialpolitische Ziele nicht vereinbar. Allenfalls die Sicherung des Existenzminimums und die Beseitigung grober Missverhältnisse, die Anlass zu sozialem Unfrieden geben könnten, würden auf gleicher Ebene mit diesen elementaren Grundprinzipien stehen können, nicht aber jede arbeits- und sozialpolitisch motivierte Regelung.531 Nur bei entsprechender Konkretisierung des sehr wenig konturierten sozialpolitischen Gestaltungsauftrags kann dieser als Rechtswert von Verfassungsrang fungieren.532 Ein entsprechender einschränkender Maßstab lässt sich jedoch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts selbst ableiten. In seiner Entscheidung vom 27. 4. 1999 konkretisiert es den gesetzgeberischen Gestaltungsauftrag aufgrund des Sozialstaatsprinzips dahingehend, dass soziale Gegensätze durch den Staat ausgeglichen werden sollen und Fürsorge für die bereitgestellt werden soll, die aufgrund ihrer persönlichen Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligungen an ihrer persönlichen oder sozialen Entfaltung gehindert seien.533 Adressaten dieses speziellen staatlichen Schutzes sind jedoch Rechtssubjekte, die gleichzeitig Grundrechtsträger sind. Um die Bedeutsamkeit der Grundrechte, die vorbehaltlosen Schutz genießen, nicht zu unterwandern, sollte daher das Sozialstaatprinzip nur in dem Umfang als Verfassungsrechtsgut herangezogen werden, in dem es gleichzeitig grundrechtliche Schutzpositionen Dritter aktualisiert. So wird der erforderliche Gleichlauf zwischen den Grundrechten Dritter und anderen 529 Plastisch formuliert dies Oetker, RdA 1997, 9, 13, der von der „Grobmaschigkeit des Sozialstaatsprinzips“ spricht. 530 Stern, Staatsrecht III / 2, S. 687; kritisch im Hinblick auf die Großzügigkeit des Bundesverfassungsgerichts bei der Anerkennung von Rechtswerten von Verfassungsrang Mahrenholz / Böckenförde, abweichende Meinung zu BVerfG vom 24. 4. 1985, BVerfGE 69, 57, 59 ff.; Dreier, in: ders., GG, Vorb. Rn. 140. Das Bundesverfassungsgericht betont selbst, dass konkrete verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter festgestellt werden müssen, vgl. BVerfG vom 3. 11. 1987, BVerfGE 77, 240, 255; vom 7. 3. 1990, BVerfGE 81, 278, 293. 531 In diesem Sinne Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 231; ders., in: HBStR, § 122 Rn. 23; die Unbestimmtheit des Sozialstaatsprinzips sieht ebenfalls als äußerst problematisch an Sachs, Anm. zu BVerfG vom 27. 4. 1999, in: JuS 2000, 291; kritisch auch Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133; Dieterich, AuR 2001, 390, 392. 532 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 231; Pecher, Verfassungsimmanente Schranken, S. 257; auf den hohen Abstraktionsgrad der Verfassungsstrukturprinzipien weist auch Sachs, in: ders., GG, Vor Art. 1 Rn. 130, hin. 533 BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 284; ebenfalls, vom 18. 7. 1967, BVerfGE 22, 180, 204; vom 22. 7. 1977, BVerfGE 45, 376, 387.
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Rechtswerten von Verfassungsrang als verfassungsimmanente Grundrechtsschranken sichergestellt. Damit verliert das Sozialstaatsprinzip jedoch gleichzeitig seine eigenständige Bedeutung als kollidierendes Verfassungsrechtsgut. Diese Auffassung findet auch Resonanz im Schrifttum, das vereinzelt das Sozialstaatsprinzip nicht eigenständig als Verfassungsrechtsgut heranziehen will, das geeignet ist, vorbehaltlose Grundrechtsgarantien einzuschränken.534 Schließlich spiegelt ein solches Verständnis auch die Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts wider, das bislang das Sozialstaatsprinzip nur in Verbindung mit anderen Grundrechtspositionen als Legitimation für Eingriffe in Art. 9 Abs. 3 GG herangezogen hat.535 Nur auf diese Weise ist letztendlich gewährleistet, dass die Koalitionsbetätigungsfreiheit nicht entgegen der eindeutigen Verfassungsdogmatik einem einfachen Gesetzesvorbehalt unterstellt wird und das Sozialstaatsprinzip selbst zum Transmissionsriemen für beliebige sozialpolitisch motivierte Regelungen auf dem Gebiet des Arbeitsrechts mutiert.536 cc) Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht Zahlreiche Autoren wollen darüber hinaus eine Einschränkung der Koalitionsfreiheit zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zulassen.537 Gleichermaßen finden sich auch Gegenstimmen, die die Möglichkeiten des Staates im Rahmen der Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gerade durch die Tarifautonomie begrenzt sehen.538 Der Staat könne nur eine Führungsrolle einnehmen und versuchen, durch Schaffung der entsprechenden Rahmenbedingungen, die Sozialpartner zu stabilitätsgerechtem Verhalten zu veranlassen.539 534 Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 435 f.; Schnapp, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 20 Rn. 34; auch Kempen, Festschrift für Schaub, S. 357, 362, wendet das Sozialstaatsprinzip nur in Verbindung mit anderen Grundrechten als Schranke an; ähnlich bereits BVerfG vom 27. 1. 1998, BVerfGE 97, 169, 185, hinsichtlich des von Art. 12 Abs. 1 GG geforderten arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes ließe sich dem Sozialstaatsprinzip nichts Näheres entnehmen, insofern sei Art. 12 Abs. 1 GG der konkretere Maßstab. 535 Vgl. BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 284 ff., in Verbindung mit der Entfaltung der Persönlichkeit und damit verbundenen Achtung sowie Selbstachtung (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG); vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 307, in Verbindung mit dem Abbau von Arbeitslosigkeit (Art. 12 Abs. 1 GG), wiederum der Persönlichkeitsentfaltung (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG). 536 So plastisch, Oetker, ZG 1998, 155, 162. 537 Butzer, RdA 1994, 375, 382, der dies allerdings nur feststellt, ohne den Stellenwert des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts als Rechtswert von Verfassungsrang zu begründen; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 135; Otto, Festschrift für Zeuner, S. 121, 138; P. Wolff, Kollision tarifvertraglicher Normsetzung und Gesetz, S. 79, 81; vgl. allgemein, unabhängig von Art. 9 Abs. 3 GG auch Stern, Staatsrecht III / 2, S. 687; dagegen Pecher, Verfassungsimmanente Schranken, S. 265. 538 Fischer-Menshausen, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 109 Rn. 13; kritisch Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 133; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31; Stein, AuR 1998, 1, 4. 539 Fischer-Menshausen, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 109 Rn. 13.
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Das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als solches wird in Art. 104a Abs. 4 S. 1, Art. 109 Abs. 2 und Abs. 4 S. 1 sowie Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG erwähnt. Es reiht sich zwar nicht in den Kanon der klassischen Staatsstrukturprinzipien ein, ist aber dennoch als Staatszielbestimmung verbindlich.540 In einem umfassenden Sinne verdeutlicht es die allgemeine Wirtschaftslenkung konjunktureller Art als Staatsaufgabe und bildet einen Richtpunkt für alle Felder der Politik.541 Inhaltlich hat es durch das Stabilitätsgesetz vom 8. 6. 1967542 Konkretisierung erfahren, das in § 1 als Ziele der Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Preisstabilität, Vollbeschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht und Wirtschaftswachstum nennt, die wegen ihres teilweisen Zielkonfliktes auch als „magisches Viereck“ bezeichnet werden. Von seiner Bedeutung im Rahmen des Verfassungskontexts nimmt das Staatsziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts keinen vergleichbaren Stellenwert wie die klassischen Staatsstrukturprinzipien ein. Ihm kommt nicht deren fundamentale und essentielle Bedeutung zu.543 Tatsächlich hat es auch erst 1976 im Zuge einer Grundgesetznovelle Eingang in den Verfassungstext gefunden und konkretisiert bereits existente Prinzipien, insbesondere das Rechts- und Sozialstaatsprinzip, auch für den Bereich der staatlichen Haushaltspolitik.544 Die Intensität, mit der das Prinzip des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts den Staat bindet, entspricht nicht der, die für die klassischen Staatskonstitutionsprinzipien gilt.545 Die Verfassung erlegt dem Staat lediglich auf, den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen, bzw. erteilt ihm die Erlaubnis, von den in Art. 104a und 115 GG festgelegten haushaltsrechtlichen Vorgaben abzuweichen, um eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts abzuwehren. Diese Verpflichtungen sind nicht vergleichbar mit der strengen Bindung an die Grundrechte durch Art. 1 Abs. 3 GG oder den Vorgaben des in die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG einbezogenen Art. 20 GG. Diese Gründe sprechen gegen die Möglichkeit einer Einschränkung der von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützten tarifvertraglichen Regelungsbefugnis durch den einfachen Gesetzgeber auf der Grundlage des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zudem bisher nur in Verbindung mit anderen kollidierenden Verfassungsrechtsgütern auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht gestützt.546 Die Anerkennung einer diesbezüglichen Rechtfer540 Hofmann, in: HBVerfR, § 21 Rn. 15. Die Terminologie variiert diesbezüglich, Stern, Staatsrecht III / 2, S. 687 f., stuft das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als „Staatsstrukturbestimmung“ ein. 541 Hofmann, in: HBVerfR, § 21 Rn. 16. 542 BGBl. 1967 I, S. 582. 543 Kritisch auch Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31. 544 Fischer-Menshausen, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 109 Rn. 13; Höfling, Anm. zu BVerfG vom 27. 4. 1999, in: JZ 2000, 44, 45. 545 Pecher, Verfassungsimmanente Schranken, S. 265. 546 Vgl. BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 285.
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tigungsmöglichkeit würde zu weitreichende Eingriffe ermöglichen und wäre mit dem Stellenwert der Tarifautonomie innerhalb der Grundrechtsordnung nicht zu vereinbaren. dd) Die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG Das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 9 Abs. 3 GG in Gestalt der Tarifautonomie durch staatliche Arbeitnehmerschutzgesetze bislang noch nicht auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt, der dem Bund eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz verleiht. Demgegenüber zieht Höfling547 diesen Kompetenztitel als Rechtswert von Verfassungsrang heran, der als kollidierendes Verfassungsrecht einen Eingriff in die vorbehaltlose Grundrechtsgarantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu legitimieren vermag. Unabhängig von Eingriffen in die Koalitionsfreiheit hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes als Rechtswerte von Verfassungsrang eingestuft. Bereits in der Leitentscheidung vom 26. 5. 1970 zog der Erste Senat Art. 73 Nr. 1 GG und damit einen Kompetenztitel aus dem Kreis der Gesetzgebungszuständigkeiten als kollidierendes Verfassungsrecht heran. Allerdings fand dieser nur im Zusammenspiel mit anderen materiellrechtlichen Vorschriften, namentlich Art. 12a und Art. 87a Abs. 1 S. 1 GG, Anwendung.548 Seither wird ein Meinungsstreit darüber ausgetragen, ob Kompetenzvorschriften überhaupt geeignet sind, als Rechtswerte von Verfassungsrang die Grundlage für Eingriffe in vorbehaltlos gewährleistete Grundrechtsgarantien zu bilden.549 Die Kompetenztitel der Art. 73 ff. GG sind speziell auf das Verhältnis zwischen Bundes- und Landesgesetzgeber im deutschen Föderalstaat zugeschnitten. Diese Vorschriften zur Gesetzgebungskompetenz verteilen die aus der Staatsgewalt fließende Befähigung zur Gesetzgebung, wie sie sich in den Grenzen der Verfassungsordnung darstellt (vgl. Art. 20 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 3 GG), auf Bund und Länder.550 Den sachlichgegenständlichen Umfang der Befugnis zur Gesetzgebung umgrenzen sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene vorrangig der Grundrechtskatalog und die übrigen Vorschriften der Verfassung. Einen Kompetenztitel isoliert als Rechtswert von Verfassungsrang heranzuziehen, ist daher verfehlt. Das würde überdies dazu führen, dass Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG unter einen einfachen Gesetzesvorbehalt gestellt wird.551 Denn die richtige Erkenntnis, dass der Gesetzgeber seine, ohne Zweifel 547 So Höfling, Anm. zu BVerfG vom 27. 4. 1999, in: JZ 2000, 44, 45 f.; ders., in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 137; dagegen Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 309, allerdings mit der wenig überzeugenden Begründung, der Kompetenztitel legitimiere nur zur Ausgestaltung, nicht zum Eingriff. 548 Dies fordert Stern, Staatsrecht III / 2, S. 686, im Ergebnis grundsätzlich, um Kompetenztitel überhaupt als Rechtswerte von Verfassungsrang heranziehen zu können. 549 Vgl. ausführlich dazu Stern, Staatsrecht III / 2, S. 681 ff.; jüngst Kokott, in: HBGR, § 22 Rn. 53 ff. 550 Mahrenholz / Böckenförde, abweichende Meinung zu BVerfG vom 24. 4. 1985, BVerfGE 69, 57, 60; Stern, Staatsrecht III / 2, S. 684.
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bestehende Gesetzgebungsbefugnis auf dem Gebiet des Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrechts zwangsläufig nur in einem Spannungsverhältnis zu den Tarifvertragsparteien wahrnehmen kann,552 führt bei gegenläufiger Betrachtung dazu, dass jedes Arbeitnehmerschutzgesetz durch einen Rechtswert von Verfassungsrang getragen wäre, was in dieser Reichweite nicht zutreffend erscheint. Vielmehr äußert sich in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und 12 GG lediglich, dass eine der konkreten Verteilung zwischen Bund und Ländern zugrunde liegende Gesetzgebungsmacht des Staates besteht. Für den Grundrechtskonflikt zwischen tarifvertraglicher Regelungsbefugnis und staatlicher Arbeitnehmerschutzgesetzgebung lässt sich aus den Kompetenztiteln dogmatisch jedoch nur ableiten, dass ein Normsetzungsmonopol der Tarifvertragsparteien nicht bestehen kann,553 soll der Gesetzgeber noch in der Lage sein, seine in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und 12 GG zum Ausdruck kommende Gesetzgebungsbefugnis überhaupt wahrzunehmen. Weitere Schlüsse erlaubt die Regelung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 und 12 GG jedoch nicht. ee) Fazit Der Gesetzgeber kann sich für die Legitimation von Eingriffen in die Koalitionsbetätigungsgarantie im Allgemeinen und die tarifvertragliche Regelungsbefugnis im Besonderen nur auf den Schutz von Grundrechten Dritter berufen. Allerdings ist damit nicht die befürchtete zu starke Einengung des Gesetzgebers verbunden, wie sie vereinzelt heraufbeschworen wird. Die Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts bestätigt, dass sich für die verschiedensten Regelungsvorhaben durchaus Anknüpfungspunkte in den Grundrechten für eine Legitimation der gesetzgeberischen Maßnahme finden lassen.554 Kempen geht sogar davon aus, dass für nahezu jedes Regelungsvorhaben ein verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt existiert.555 Die Legitimation durch kollidierendes Verfassungsrecht betrifft jedoch nur die gesetzgeberische Motivation. Der eingreifende Gesetzgeber ist lediglich gehalten, sein Regelungsvorhaben mit dem Schutz von Grundrechtspositionen Dritter zu begründen. Über die erforderliche Intensität bzw. die Auswirkungen eines solchen Schutzzwecks ist damit noch nichts gesagt. Diese werden erst im Rahmen der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit relevant.
551 Vgl. allgemein Stern, Staatsrecht III / 2, S. 683 („Inflationierung der Begrenzungsmöglichkeiten“) und S. 685; ebenso Mahrenholz / Böckenförde, abweichende Meinung zu BVerfG vom 24. 4. 1985, BVerfGE 69, 57, 64. 552 Höfling, Anm. zu BVerfG vom 27. 4. 1999, in: JZ 2000, 44, 46; ders., in: Sachs, GG, Art. 9 Rn. 137. 553 Vgl. dazu bereits oben § 6 B. I. 554 Vgl. nur BVerfG vom 24. 4. 1994, BVerfGE 96, 268, 283; vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 282; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304. 555 Kempen, Festschrift für Schaub, S. 357, 361.
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c) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, dass für die Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit staatlicher Eingriffe in die tarifvertragliche Regelungsbefugnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine maßgebliche, wenn nicht die zentrale Rolle zukommt.556 Die dogmatische Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist noch nicht abgeschlossen. Daher bewegen sich die folgenden Ausführungen auf einem Gebiet, das in der rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung noch keine endgültige Konturierung erfahren hat. Dennoch soll der Versuch unternommen werden, die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips an den Gesetzgeber für den Bereich der Arbeitnehmerschutzgesetzgebung zu konkretisieren. aa) Grundlagen Die Überprüfung einer gesetzlichen Vorschrift am Verhältnismäßigkeitsprinzip erfüllt keinen Selbstzweck. Sie ist nur sinnvoll, wenn die Verhältnismäßigkeit einer gesetzlichen Regelung im Hinblick auf ein bestimmtes gesetzgeberisches Ziel überprüft wird.557 Diese gesetzgeberischen Ziele wiederum müssen legitim, d. h. rechtlich und tatsächlich möglich sowie darüber hinaus von der Rechtsordnung, insbesondere von der Verfassung (vgl. Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 GG), für den Gesetzgeber zugelassen sein.558 Die in einem ersten Schritt zu überprüfende Geeignetheit einer gesetzlichen Regelung setzt voraus, dass diese tauglich ist, das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel zu erreichen.559 Das Bundesverfassungsgericht verlangt auf der Prüfungsstufe der Geeignetheit, dass die zu beurteilende gesetzliche Regelung den erstrebten Erfolg zumindest fördert.560 Dabei ist eine lediglich teilweise Eignung bereits ausreichend.561 Die Geeignetheit liegt nur dann nicht vor, wenn es sich bei der erlassenen Vorschrift um ein gänzlich untaugliches Mittel handelt.562 Die Tauglichkeit wird anhand bewährter Hypothesen über die Wirklichkeit beurteilt.563 556 So insbesondere Löwisch / Rieble, MüHBArbR, § 246 Rn. 58 f.; dies., TVG, Grundl. Rn. 28 f.; Löwisch, Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, AR-Bl. ES 1650, Nr. 21, S. 7; im Allgemeinen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 ff. 557 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100 f.; Michael, JuS 2001, 148, 148 f.; Wernsmann, NVwZ 2000, 1360, 1362. 558 Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 60; Wernsmann, NVwZ 2000, 1360, 1362. 559 Michael, JuS 2001, 148, 149; Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 283. 560 BVerfG vom 16. 3. 1971, BVerfGE 30, 292, 316; vom 9. 3. 1994, BVerfGE 90, 145, 172; vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154. 561 Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 60; Michael, JuS 2001, 148, 149. 562 BVerfG vom 9. 3. 1971, BVerfGE 30, 250, 263; vom 3. 4. 1974, BVerfGE 37, 104, 119.
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Erforderlich ist eine gesetzliche Regelung nach den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips, wenn kein gleichermaßen wirksames, den Grundrechtsträger nicht oder nicht in gleicher Intensität belastendes Mittel zur Verfügung steht.564 Die Existenz eines milderen Mittels ist ausgeschlossen, wenn und soweit die geringere Belastung auf Seiten des Grundrechtsträgers zulasten eines anderen geht.565 Im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung ist den Gerichten die Entwicklung neuer Zweckalternativen entzogen, lediglich Mittelalternativen können von ihnen erwogen werden.566 Wenn das zur Überprüfung anstehende staatliche Mittel ein Gesetz, also eine abstrakt-generelle Regelung ist, dann ist auch im Rahmen der Erforderlichkeitskontrolle die geringere Belastungsintensität für die Grundrechtsträger nur generell zu beurteilen.567 Der dritte Prüfungspunkt der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne568 erfordert schließlich eine Gesamtabwägung dahingehend, ob hinsichtlich der Schwere des 563
453.
Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 282; Schlink, Festschrift 50 Jahre BVerfG, S. 445,
564 BVerfG vom 18. 12. 1968, BVerfGE 25, 1, 18; vom 16. 3. 1971, BVerfGE 30, 292, 316; Boerner, ZTR 1996, 435, 445; Michael, JuS 2001, 148, 149; Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 285; Schlink, Festschrift 50 Jahre BVerfG, S. 445, 454. Dass es sich um ein milderes Mittel handelt, ist bereits dann zu bejahen, wenn allein hinsichtlich des geprüften Grundrechts die Belastung nicht so stark ausfällt wie bei einem anderen Mittel. Einige Autoren wollen ein milderes Mittel nur annehmen, wenn in die Grundrechtsposition des Betroffenen nicht gleichermaßen intensiv eingegriffen und die Allgemeinheit nicht gleichermaßen stark belastet wird (Lücke, (Un-)Zumutbarkeit, S. 53 f.; Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 339; Bender, NJW 1955, 938, 938; ders., Anm. zu OVG Lüneburg, vom 25. 10. 1956, DVBl. 1957, 278, 280; Schoch, in: Schmidt-Aßmann, Besonderes Verwaltungsrecht, 2. Kap. Rn. 107, S. 166). Die Erforderlichkeitsprüfung als Teilfrage des Verhältnismäßigkeitsprinzips dient wie dieses selbst der Überprüfung von Eingriffen in die durch die Grundrechte geschützte Individualsphäre der Grundrechtsträger. Nur das im Hinblick auf die geschützte Individualposition erforderliche Mittel soll der Staat verwenden dürfen. Daher genügt es, die Prüfung auf das konkret in Rede stehende Grundrecht zu beschränken. Zudem erfolgt die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Maßnahme anhand mehrerer möglicherweise verletzter Grundrechtspositionen, so dass bei der Einbeziehung mehrerer Rechtspositionen in die Erforderlichkeitsprüfung die Gefahr einer Doppelverwertung bestimmter Gesichtspunkte besteht. Der Aspekt einer schädlichen Auswirkung auf die Allgemeinheit kann im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Berücksichtigung finden; vgl. auch Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 68. 565 Michael, JuS 2001, 148, 149. 566 Michael, JuS 2001, 148, 149; vgl. ausführlich zu den Unstimmigkeiten bei der Bestimmung des Zwecks einer gesetzlichen Regelung: Wernsmann, NVwZ 2000, 1360 ff. 567 BVerfG vom 26. 6. 1961, BVerfGE 13, 21, 29; Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 64, 139. 568 Teilweise wird diesem Bestandteil der Verhältnismäßigkeitsprüfung die Existenzberechtigung abgesprochen: Schlink, Festschrift 50 Jahre BVerfG, S. 445, 458 ff.; sehr kritisch auch: Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 289 ff., mit dem Argument, dass das Gewichten und Abwägen von verfolgten öffentlichen Zwecken und beeinträchtigten privaten Gütern rationaler und verbindlicher Maßstäbe entbehrt und dadurch zu subjektiven Beurteilungen der Recht sprechenden Richter verleitet; ablehnend auch Scherzberg, DVBl. 1999, 356, 364.
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Eingriffs sowie des Gewichts und der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe die Grenze des Zumutbaren noch nicht überschritten ist.569 Dabei dürfen auf der einen Seite das gesetzgeberisch verfolgte Ziel und das beeinträchtigte Grundrecht abstrakt nicht außer Verhältnis zueinander stehen. Auf der anderen Seite muss die Intensität des konkreten Grundrechtseingriffs in Relation zu den für das jeweils verfolgte öffentliche Interesse bestehenden Gefahren angemessen sein.570 Der abstrakte Vergleich zwischen dem gesetzgeberisch verfolgten Gemeinwohlbelang und dem beeinträchtigten grundrechtlichen Schutzgut hat in diesem Zusammenhang Indizwirkung und kann als Grundlage für die Verteilung der Argumentationslast dienen.571 Keinesfalls soll jedoch auf dieser Basis eine abstrakte Rangfolge der Wertigkeit der verschiedenen Grundrechtsgüter erfolgen.572 Da es auch hier um die Verhältnismäßigkeit gesetzlicher Regelungen geht, ist die Belastung der Grundrechtsträger unabhängig vom konkreten Einzelfall typisiert zu betrachten.573 bb) Der Einschätzungsvorrang und -spielraum des Gesetzgebers Der Aufgaben- und Funktionsverteilung im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung nach dem Grundgesetz entspricht die richterliche Zurückhaltung bei der Überprüfung gesetzgeberischer Betätigung.574 Die rechtspolitische Ordnung des Gemeinwesens obliegt vorrangig dem Gesetzgeber und im Rahmen dieser Verantwortung auch die Entscheidung über die Einschränkung der Freiheitsbereiche der Grundrechtsträger.575 Das Bundesverfassungsgericht hütet nur über die Wahrung der Verfassung, an die der Gesetzgeber gemäß Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG gebunden ist.576
Dem ist entgegenzuhalten, dass bei einer strukturierten und sorgfältigen Handhabung des Maßstabs der Zumutbarkeit die Gefahr einer rein subjektiven Beurteilung ausgeschaltet werden kann, vgl. Michael, JuS 2001, 148, 150 Fn. 12. 569 BVerfG vom 16. 3. 1971, BVerfGE 30, 292, 316; vom 5. 3. 1974, BVerfGE 37, 1, 22; vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 365; vom 15. 12. 1983, BVerfGE 65, 1, 54; vom 9. 3. 1994, BVerfGE 90, 145, 173; vom 15. 1. 2002, BVerfGE 104, 337, 349; Michael, JuS 2001, 148, 149. 570 Michael, JuS 2001, 148, 150. 571 Michael, JuS 2001, 148, 150. 572 Michael, JuS 2001, 148, 150. 573 BVerfG vom 26. 6. 1961, BVerfGE 13, 21, 29; Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 139. 574 BVerfG vom 14. 1. 1981, BVerfGE 56, 54, 81; vom 28. 7. 1987, 1 BvR 842 / 87, NJW 1987, 2287; Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 97; Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 85; H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2103. 575 BVerfG vom 25. 2. 1975, BVerfGE 39, 1, 72; Oetker, RdA 1997, 9, 16. 576 Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 98; Jakbos, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 85.
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Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist daher stets ein Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers zu beachten.577 Anders als hinsichtlich der staatlichen Verwaltung ist die Intensität, mit der legislative Eingriffe in Grundrechtsgarantien an dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gemessen werden, geringer. Bereits für die Wahl des legitimen Ziels lassen sich deutliche Unterschiede zwischen dem Staat in seiner Rolle als Legislative und Exekutive ausmachen. Der Kreis der zulässigen öffentlichen Interessen, welche die Verwaltung verfolgen darf, ergibt sich aus dem ermächtigenden Gesetz. Eine derartige Beschränkung der legitimen Ziele existiert für den Gesetzgeber nicht. Ihn engen lediglich die in der Verfassung, insbesondere im Grundrechtskatalog, enthaltenen Ge- und Verbote bei der Festlegung seiner Zwecke ein.578 Darüber hinaus obliegt es jedoch seiner politischen Entscheidung,579 ob und mit welchen Mitteln er ein bestimmtes öffentliches Interesse verfolgen will. Insbesondere die Einschätzung, dass für ein schützenswertes Gut eine Gefahr besteht, der nur mit einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme begegnet werden kann, entzieht sich einer strengen richterlichen Kontrolle.580 Das Gericht kann nur überprüfen, ob die Tatsachengrundlage, von der der Gesetzgeber bei seiner Einschätzung ausgegangen ist, der Wirklichkeit entspricht.581 Darüber hinaus sind nach ständiger Rechtsprechung und überwiegender Ansicht im Schrifttum auch hinsichtlich der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung die Einschätzungsprärogative und der Entscheidungsvorrang des Gesetzgebers zu berücksichtigen.582 Dementsprechend hat die Überprüfung der gesetzgeberischen Einschätzung, dass das Gesetzesvorhaben den ihm zugedachten Zweck fördert, allein von dem Erkenntnisstand auszugehen, den der Gesetzgeber zum Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahme hinsichtlich der zu erwartenden Ent577 St. Rspr. vgl. nur den Nichtannahmebschluss des BVerfG vom 29. 10. 1997 – 1 BvL 4 / 93 – n. v.; darüber hinaus BVerfVG vom 6. 10. 1987, BVerfGE 77, 84, 106; vom 27. 11. 1990, BVerfGE 83, 130, 141; vom 15. 1. 2002, BVerfGE 104, 337, 349; Hanau, Gutachten C zum 63. DJT, S. C 63; Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 101; Wernsmann, NVwZ 2000, 1360, 1363. 578 Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 280; Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 133 f.; Wernsmann, NVwZ 2000, 1360, 1363. 579 Sei es auf wirtschafts-, gesellschafts- oder rechtspolitischem Gebiet, vgl. BVerfG vom 9. 3. 1971, BVerfGE 30, 250, 263. 580 BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 332 ff., 334; vom 6. 10. 1987, BVerfGE 77, 84, 106; vom 27. 11. 1990, BVerfGE 83, 130, 140 f.; vom 9. 3. 1994, BVerfGE 90, 145, 173; vom 29. 10. 1997 – 1 BvL 4 / 93 – n. v.; vom 15. 1. 2002, BVerfGE 104, 337, 348; Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 101 ff.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 333; Stettner NVwZ 1989, 806, 808. 581 Vgl. BVerfG vom 2. 10. 1973, BVerfGE 36, 47, 60 ff.; vom 15. 12. 1983, BVerfGE 65, 1, 55; Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 102; Schwerdtfeger, Festschrift für Ipsen, S. 173, 181. 582 BVerfG vom 6. 10. 1987, BVerfGE 77, 84, 106; vom 29. 10. 1997 – 1 BvL 4 / 93 – n. v.; Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 282; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 333.
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wicklung hatte, und sich auf die Tatsachengrundlage zu beschränken.583 Die mit dieser ex ante Beurteilung verbundene Gefahr von Einschätzungsfehlern ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hinzunehmen. Eine Fehlprognose des Gesetzgebers führe nicht per se zur Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Regelung.584 Hinsichtlich der Erforderlichkeit obliegt allein dem Gesetzgeber die Auswahl zwischen zwei gleichermaßen geeigneten Maßnahmen, deren freiheitsbeschränkende Wirkung als identisch zu bewerten ist. Auch in diesem Rahmen kommt wieder die Einschätzungsprärogative zum Tragen, nach der die Beurteilung der Wirksamkeit einer Maßnahme anhand der ex ante Perspektive des Gesetzgebers zu überprüfen ist und nur einer eingeschränkten Kontrolle unterliegt.585 Weniger Spielraum bleibt für den Gesetzgeber bei der im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne vorzunehmenden Gesamtabwägung. Zwar sind die Gerichte an die prognostischen Einschätzungen des Gesetzgebers gebunden. Sie können demnach nicht ihre eigene Auffassung von den Auswirkungen einer gesetzgeberischen Maßnahme, der darauf beruhenden Bestimmung des Grades der Beeinträchtigung des Grundrechts und der Gewichtung der in die Abwägung einzustellenden Rechtsgüter zugrunde legen.586 Auf der vom Gesetzgeber herangezogenen Grundlage bewerten aber die Richter, ob sich das Ausmaß der Zweckerreichung im Verhältnis zur Intensität der Freiheitsbeschränkung im Bereich des Zumutbaren bewegt.587 Der zugunsten des Gesetzgebers zu berücksichtigende Einschätzungs- und Prognosespielraum führt nicht dazu, dass keinerlei Überprüfung der gesetzgeberischen Annahmen erfolgt.588 Das Bundesverfassungsgericht wendet in dieser Hinsicht allerdings verschieden strenge Maßstäbe zur Überprüfung der legislativen Einschätzungen an. Die Prüfungsintensität reicht dabei von einer bloßen Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitsprüfung hin zu einer strengen Inhaltskontrol583 BVerfG vom 9. 3. 1971, BVerfGE 30, 250, 263; Jakobs, Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, S. 63; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 333. 584 BVerfG vom 18. 12. 1968, BVerfGE 25, 1, 12 f.; vom 9. 3. 1971, BVerfGE 30, 250, 263; Schwerdtfeger, Festschrift für Ipsen, S. 173, 182, wonach der Gesetzgeber sich das Risiko einer Fehlprognose bewusst machen müsse und nach ordnungsgemäßer Abwägung bereit sein, es in Kauf zu nehmen. 585 Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 214; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 333; Stettner, NVwZ 1989, 806, 808; in diese Richtung auch Hanau, Gutachten C zum 63. DJT, S. C 63, sowie Löwisch, ZIP 2001, 1565, 1566. 586 Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 334; anders Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 215, der davon ausgeht, dass im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne „nur“ eine wertende Betrachtung vorgenommen wird. 587 Bereits für eine „verfestigte“ Kontrolldichte im Rahmen der Verhältnismäßigkeit Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 348. 588 Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 213 f., der in den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips die Ausrichtung der Rechtsetzung an den seinstatsächlichen Gegebenheiten erblickt.
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le.589 Bei einer bloßen Evidenzkontrolle überprüft das Bundesverfassungsgericht nur, ob die äußersten Grenzen der grundrechtlichen Vorgaben überschritten sind, d. h. ein Verstoß „offensichtlich“, „evident“ bzw. „eindeutig“ ist.590 Bei der Vertretbarkeitsprüfung beinhaltet der Kontrollmaßstab die Entscheidung darüber, ob die gesetzgeberische Einschätzung nachvollziehbar, d. h. durch eine sachgerechte und vertretbare Beurteilung des erreichbaren Materials getragen war.591 Dazu gehöre die Ausschöpfung aller dem Gesetzgeber zugänglichen Erkenntnisquellen.592 Den strengsten Prüfungsmaßstab bildet die Inhaltskontrolle, bei der das Gericht unter dem Gesichtspunkt materieller Richtigkeit umfassend kontrolliert, ob die gesetzgeberische Maßnahme sachlich mit den Anforderungen des Grundgesetzes zu vereinbaren ist.593 Das Bundesverfassungsgericht hat bisher keine einheitlichen Vorgaben entwickelt, anhand derer es entscheidet, welcher Prüfungsmaßstab anzuwenden ist.594 Grundsätzlich legt es den heranzuziehenden Kontrollmaßstab in Abhängigkeit von der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter und der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs fest, wobei letztere wiederum davon beeinflusst wird, inwieweit sich der Gesetzgeber ein hinreichend sicheres Urteil bilden konnte.595 Am Ende ist anhand des konkreten Einzelfalls zu entscheiden, welcher Prüfungsmaßstab den besonderen Funktionen und Verantwortlichkeiten der staatlichen Gewalten am besten gerecht wird.596 Allerdings lassen sich durchaus Leitlinien identifizieren. Eine intensive Inhaltskontrolle nimmt das Bundesverfassungsgericht beispielsweise nur vor, wenn eine schwere Beeinträchtigung individueller Grundrechtspositionen vorliegt, durch die insbesondere irreversible Verletzungen der 589 BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 333, wo der „Methodenkanon“ (H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2105) zwar nur für den Prognosespielraum des Gesetzgebers entwickelt wurde, der sich aber als Kennzeichen funktionell-rechtlicher Verhältnisbestimmung von Gesetzgebung und Verfassungsgerichtsbarkeit verallgemeinern lässt, so H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2105; vgl. auch Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 102, sowie S. 308; Stettner, NVwZ 1989, 806, 808. 590 BVerfG vom 16. 3. 1971, BVerfGE 30, 292, 317; vom 31. 7. 1973, BVerfGE 36, 1, 17; vom 5. 3. 1974, BVerfGE 37, 1, 20; vom 22. 5. 1979, BVerfGE 51, 193, 210. 591 BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 334; vgl. auch BVerfG vom 18. 12. 1968, BVerfGE 25, 1, 12, 17; vom 9. 3. 1971, BVerfGE 30, 250, 263; vom 15. 1. 2002, BVerfGE 104, 337, 349. 592 BVerfG vom 19. 3. 1975, BVerfGE 39, 210, 230 f.; vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 334. 593 BVerfG vom 23. 3. 1960, BVerfGE 11, 30, 45; vom 4. 3. 1964, BVerfGE 17, 269, 276 ff.; vom 25. 2. 1975, BVerfGE 39, 1, 46, 51 ff.; vom 21. 6. 1977, BVerfGE 45, 187, 237 ff. 594 Kritisch insoweit Butzer, RdA 1994, 375, 382; Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 106 f.; H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2105; Ossenbühl, Festgabe 25 Jahre BVerfG I, S. 458, 504, beklagt das „verwirrende und buntscheckige Bild“. 595 BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 332 f.; vom 27. 11. 1990, BVerfGE 83, 130, 141; vom 9. 3. 1994, BVerfGE 90, 145, 173; Stettner, NVwZ 1989, 806, 809. 596 Horn, Experimentelle Gesetzgebung, S. 98; H.-P. Schneider, NJW 1980, 2103, 2105.
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Grundrechtsgarantie drohen.597 Mit zunehmender Komplexität der zu beurteilenden Verhältnisse, vor allem wenn diese schwer überschaubar und im Einzelnen unklar sind, vergrößert sich der Spielraum des Gesetzgebers.598 Gleichzeitig verringert sich der Maßstab, mit dem die gesetzgeberischen Einschätzungen und Prognosen überprüft werden. Veranlasst durch die wirtschaftspolitische Neutralität des Grundgesetzes und der auf diesem Gebiet nur schwer zu prognostizierenden Entwicklung fasst das Bundesverfassungsgericht die Einschätzungs- und Beurteilungsprärogative des Gesetzgebers auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung besonders weit.599 Wendet man diese Erkenntnisse auf gesetzgeberischer Eingriffe in die durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützte tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis an, dann erlangt der in diesem Bereich von vornherein bestehende weite Einschätzungs- und Prognosespielraum des Gesetzgebers Bedeutung. Da Eingriffe des Gesetzgebers auf diesem Gebiet nicht die Gefahr irreversibler und schwerer individueller Grundrechtsverletzungen mit sich bringen, scheidet eine strenge Inhaltskontrolle der gesetzgeberischen Maßnahmen im Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG aus,600 soweit er die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis betrifft. Für die Überprüfung der Annahmen des Gesetzgebers im Sinne einer Vertretbarkeits- bzw. einer Evidenzkontrolle ist hingegen Raum.601 Je intensiver sich der Grundrechtsschutz aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gestaltet, desto eher wird eine etwas strengere Vertretbarkeitsprüfung der bloßen Evidenzkontrolle vorzuziehen sein. Die allgemeinen Vorgaben hinsichtlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung behalten darüber hinaus auch für die Überprüfung der Vereinbarkeit staatlicher Arbeitnehmerschutzgesetze mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ihre Bedeutung.
Vgl. BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 333; Butzer, RdA 1994, 375, 383. BVerfG vom 6. 10. 1987, BVerfGE 77, 84, 107; vgl. bereits BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 333; Löwisch, ZIP 2001, 1565, 1567. 599 BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 307; vom 6. 10. 1987, BVerfGE 77, 84, 106; vgl. auch BVerfG vom 14. 10. 1975, BVerfGE 40, 196, 222 f.; zustimmend Boerner, ZTR 1996, 435, 445; für den Bereich der Beschäftigungspolitik wendet sich Dieterich, Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, AR-Bl. ES 1650, Nr. 21, S. 7, ausdrücklich gegen einen weiten Einschätzungsspielraum, da die Einschätzungen des Gesetzgebers und der Tarifvertragsparteien dort divergieren könnten und bei einem Vorrang der gesetzgeberischen Einschätzung die grundrechtliche Gewährleistung der Tarifautonomie kaum noch praktische Bedeutung hätte; ebenfalls kritisch Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 138 ff.; Wolter, NZA 2003, 1317, 1319. 600 Vgl. in diesem Sinne auch die Argumentation des BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 333, im Mitbestimmungsurteil. 601 Vgl. auch BVerfG vom 1. 3. 1979, BVerfGE 50, 290, 333 f., wo das Gericht ausdrücklich offen lässt, ob es sich bei der Überprüfung der Einführung der Unternehmensmitbestimmung angesichts der komplexen und wenig überschaubaren Zusammenhänge auf eine Evidenzkontrolle hätte beschränken müssen, da die gesetzgeberischen Erwägungen vertretbar waren; ebenso Butzer, RdA 1994, 375, 383. 597 598
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4. Zusammenfassung Ein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützte tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis muss sich an der vorbehaltlosen Garantie des Grundrechts messen lassen. Die Einbettung der deutschen Rechtsordnung in den übergeordneten Zusammenhang der Europäischen Union wirkt sich zusätzlich auf die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers aus. Setzt dieser in Form von staatlichen Arbeitnehmerschutzgesetzen europäische Richtlinienvorgaben um, findet keine Überprüfung der Umsetzungsakte anhand der Grundrechte statt. Dies gilt aber nur insoweit als dem Gesetzgeber bei der Umsetzung keine Wahlrechte oder Spielräume zur Verfügung gestanden haben. Im Übrigen findet die vorbehaltlose Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ihre Schranken nur in kollidierendem Verfassungsrecht. Daraus folgt für staatliche Arbeitnehmerschutzgesetze, dass diese nur zum Schutz von Grundrechten Dritter bzw. anderen Rechtswerten mit Verfassungsrang erlassen werden dürfen. Speziell für die Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG scheidet die Berufung auf das Sozialstaatsprinzip, die Kompetenzvorschrift des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG sowie das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht als Rechtswerte von Verfassungsrang aus. Im Wesentlichen bleibt dem Gesetzgeber daher bei der zwingenden Normierung materieller Arbeitsbedingungen nur der Grundrechtsschutz, um den Eingriff in die tarifvertragliche Regelungsbefugnis zu legitimieren. Staatliche Arbeitnehmerschutzgesetze müssen zudem den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Bei der Überprüfung ist der Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu berücksichtigen, der auf dem Gebiet der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitspolitik aufgrund der diesen Feldern zugrunde liegenden komplexen Zusammenhänge und Entwicklungen besonders umfangreich ist. Speziell für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit legislativer Eingriffe in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist daher im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung nur eine Evidenz- oder eine Vertretbarkeitskontrolle durchzuführen. Eine strenge Inhaltskontrolle der staatlichen Arbeitnehmerschutzgesetze anhand der grundrechtlichen Vorgaben scheidet aus.
II. Zur abstrakten Bestimmung von Regelungsmaterien, die ausschließlich einer tarifdispositiven gesetzlichen Regelung zugänglich sind Erst auf der Grundlage der allgemeinen Anforderungen an die Rechtfertigung eines legislativen Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, ist die nähere Konturierung der Maßstäbe möglich, aus denen sich eine Pflicht des Gesetzgebers zur tarifdispositiven Regelung materieller Arbeitsbedingungen ergeben kann. Eine solche besteht immer dann, wenn sich ein Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützte tarifvertragliche Regelungsbefugnis durch zwingendes
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Arbeitnehmerschutzrecht nicht rechtfertigen lässt. Diese Situation ergibt sich zum einen, wenn der Gesetzgeber seine zwingende Normierung nicht auf Grundrechte Dritter bzw. andere Rechtswerte von Verfassungsrang stützen kann. Hinsichtlich derartiger Regelungsvorhaben ergibt sich abstrakt eine Pflicht des Gesetzgebers zur tarifdispositiven Regelung. Zum anderen ist der Gesetzgeber zur tarifdispositiven Normierung verpflichtet, wenn eine zwingende gesetzliche Festlegung im Lichte des Grundrechts der Koalitionsfreiheit unverhältnismäßig wäre. Um diesbezüglich eine Pflicht zur tarifdispositiven Regelung zu identifizieren, muss die Wirkkraft des Grundrechtsschutzes aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG auf abstrakt abgrenzbare Stufen unterschiedlicher Schutzintensität untersucht werden, die für bestimmte Regelungsbereiche von vornherein eine zwingende gesetzliche Regelung materieller Arbeitsbedingungen verbieten. Fälle, in denen es bereits an einem verfassungsrechtlich legitimierten Schutzgut für ein zwingendes Arbeitnehmerschutzgesetz fehlt, sind kaum denkbar.602 Das staatliche Arbeitnehmerschutzrecht dient naturgemäß dem Schutz von Arbeitnehmerinteressen. Diese bestehen hauptsächlich in dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer, aber auch dem Bestandsschutz des Arbeitsverhältnisses. Damit seien nur zwei bedeutende Komplexe des Arbeitnehmerschutzes angeführt. Für diese lässt sich aber in jedem Fall ein verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt finden. Darüber hinaus ist stets zu berücksichtigen, dass die Auffindung kollidierenden Verfassungsrechts unabhängig von einer qualitativen Wertung ist. Ausreichend für die erste Stufe der Rechtfertigungsanforderungen eines Eingriffs in ein vorbehaltlos garantiertes Grundrecht ist allein die Verfolgung eines Schutzzwecks, der verfassungsrechtlich verankert ist. Ihm muss nicht ein bestimmtes Gewicht zukommen. Diese Abwägung, d. h. die Gewichtung des verfassungsrechtlich fundierten Schutzzwecks und der Vergleich mit dem entgegenstehenden Schutzgut, das bei der vorliegenden Fragestellung in Gestalt der Tarifautonomie bereits feststeht, findet erst auf einer späteren Stufe im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung statt. Das Schwergewicht liegt somit auf der Verhältnismäßigkeitsprüfung, da sich ein Rechtsgut von Verfassungsrang und damit kollidierendes Verfassungsrecht im Hinblick auf das staatliche Arbeitnehmerschutzrecht ohne Schwierigkeiten finden lässt. Hauptgegenstand der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist die Untersuchung, ob der staatliche Eingriff in seiner Reichweite im Vergleich zu der Schutzintensität hinsichtlich des beeinträchtigten Grundrechts angemessen ist. Allgemein herrscht Einigkeit darüber, dass die Schutzintensität im Rahmen der grundrechtlichen Garantie der Koalitionsbetätigungsfreiheit nicht für alle Regelungsgegenstände der tariflichen Normsetzungsbefugnis gleich hoch ist. Das Bundesverfassungsgericht und zahlreiche Vertreter des Schrifttums stimmen darin überein, dass die Schutzintensi602 Vgl. auch BVerfG vom 24. 4. 1994, BVerfGE 96, 268, 283; vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 282; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304; Kempen, Festschrift für Schaub, S. 357, 361.
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tät durch das Grundrecht variiert, je nachdem wie zentral der durch die staatliche Gesetzgebung entzogene Regelungsgegenstand für die Tarifvertragsparteien ist. In seiner Entscheidung vom 24. 4. 1996603 hat das Bundesverfassungsgericht einen ersten Versuch unternommen, die Abstufungen in der grundrechtlichen Schutzintensität mit Inhalt zu füllen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung führt das Gericht aus, dass die Wirkkraft des Schutzes aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG in dem Maße zunehme, in dem eine Materie aus Sachgründen am besten von den Tarifvertragsparteien geregelt werden könne, weil diese nach der dem Art. 9 Abs. 3 GG zugrunde liegenden Vorstellung des Verfassungsgebers die gegenseitigen Interessen angemessener zum Ausgleich bringen können als der Staat.604 Dies gelte vor allem für die Festsetzung der Löhne und der anderen materiellen Arbeitsbedingungen.605 Äußerlich werde die Nähe einer Materie zur Tarifautonomie erkennbar anhand des Umfangs, in dem die Tarifvertragsparteien bereits tatsächlich von ihrer Regelungsmacht Gebrauch gemacht hätten.606 Bestehende tarifvertragliche Regelungen genössen grundsätzlich einen stärkeren Schutz als die Tarifautonomie in Bereichen, die die Koalitionen ungeregelt gelassen hätten.607 Ob und welche Konsequenzen es daraus jedoch für die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit gesetzlicher Regelungen zieht, bleibt allerdings offen.608 Das Bundesverfassungsgericht stellt für die Unterschiede in der Wirkkraft des Grundrechtsschutzes sowohl auf einen inhaltlichen als auch auf einen formalen Aspekt ab. Das Kriterium der aus Sachgründen besseren Eignung der Tarifvertragsparteien für die Erzielung eines angemessenen Interessenausgleichs knüpft an die zu regelnde Materie an. Die These, bestehende tarifliche Regelungen genössen einen stärkeren Schutz als noch ungeregelte Materien, richtet sich auf das formale Kriterium der Existenz von Tarifverträgen in diesem Bereich. 1. Schutzintensität und ausgeübte Tarifautonomie Die Feststellung des Bundesverfassungsgerichts, die ausgeübte Tarifautonomie genieße einen stärkeren Schutz als Materien, die die Tarifvertragsparteien noch ungeregelt gelassen hätten, hat in der Literatur breite Zustimmung gefunden.609 VerBVerfGE 94, 268 ff. BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 285. 605 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 285; Bestätigung der Rechtsprechung durch BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 283 f.; ohne Rückgriff auf die aus Sachgründen bessere Regelungsmöglichkeit durch die Tarifvertragsparteien, aber unter Anknüpfung an die Tarifüblichkeit, BVerfG vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 308 (Die letztgenannte Entscheidung ist zwar auch ein Beschluss des Ersten Senats, allerdings hatte das Richterkollegium gewechselt). 606 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 285. 607 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 285; zustimmend Löwisch, ZIP 2001, 1565, 1567. 608 Bieback, AuR 2000, 201, 202. 603 604
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einzelt findet sich sogar die These, dass gegenüber bestehenden Tarifverträgen nur eine tarifdispositive gesetzliche Regelung zulässig sei.610 Allerdings ist nicht ersichtlich, warum die „ausgeübte Tarifautonomie“ einen intensiveren Schutz genießen sollte als die nur potentielle Regelungsmöglichkeit hinsichtlich bestimmter Materien. Dementsprechend betont auch Butzer zutreffend, dass eine tarifvertragliche Regelung gegenüber einer gesetzlichen Regelung, die grundsätzlich mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar ist, nicht immun sein könne.611 Auch Wank lehnt einen gesonderten Bestandsschutz für Tarifverträge ab.612 Die Garantie bestehender Tarifverträge könne nicht weiter reichen als die Betätigungsgarantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG im Allgemeinen.613 Sollte im Hinblick auf bestehende Tarifverträge nur eine tarifdispositive Regelung zulässig sein, dann wäre es dem Gesetzgeber verwehrt, für tariflich bereits festgelegte Regelungsmaterien unabdingbare Mindestbedingungen zu setzen. Der Umfang der gesetzgeberischen Regelungsbefugnis kann aber nicht von empirischen Untersuchungen abhängig sein.614 Die Zahl der erreichten Tarifabschlüsse macht nur bedingt eine Aussage über die Bedeutung der Materie für die Tarifautonomie. In viel stärkerem Maße indiziert sie, dass sich in dem betreffenden Bereich Durchsetzungspotential realisieren konnte. Allenfalls dann, wenn die Regelungsdichte über einen längeren Zeitraum konstant hoch bleibt, also eine traditionelle Verfestigung im Hinblick auf die Regelung der konkreten Materie eintritt, kann von der Wahrnehmung der tariflichen Regelungsbefugnis auch auf ihre Bedeutung für die Tarifvertragsparteien und auf die Notwendigkeit eines intensiveren Grundrechtsschutzes geschlossen werden.615 Unüberwindliche praktische Probleme ergeben sich bei der ausschließlichen Heranziehung der Tarifüblichkeit zudem für die Feststellung, wann eine tarifliche Regelung vorliegt, wenn die existierenden Tarifverträge nur regional oder branchenspezifisch gelten.616 In der Pauschalität, dass der Schutz der Tarifautonomie in dem Maße zunehme, in dem die Tarifvertragsparteien von ihrer Regelungsmacht bereits Gebrauch gemacht haben, kann das Ergebnis daher nicht richtig sein. Bestehende Tarifverträge sind aufgrund ihrer nachgeordneten Stellung in der Normenhierarchie dem Gesetz gegenüber gerade nicht vorrangig.617 609 Badura, Staatsrecht, C 100 S. 243; Boerner, ZTR 1996, 435, 444; Thüsing / Müller, Anm. zu BVerfG vom 24. 4. 1996, EzA Art. 9 GG Nr. 61, S. 21; Thüsing / Zacharias, Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, EzA Art. 9 GG Nr. 75, S. 17; wohl auch Kempen / Zachert, TVG, Einl. Rn. 110 f. 610 Zuleger, AuR 1992, 231, 232, für die gesetzliche Aufhebung von tariflichen Ansprüchen auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. 611 Butzer, RdA 1994, 375, 384; kritisch auch Stein, AuR 1998, 1, 5. 612 Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG. 613 Butzer, RdA 1994, 375, 384. 614 Stein, AuR 1998, 1, 5. 615 Dies ist beispielsweise hinsichtlich der Entgelt- und Arbeitszeitregelungen der Fall. Ebenso Stein, AuR 1998, 1, 5. 616 Stein, AuR 1998, 1, 5. 617 Butzer, RdA 1994, 375, 385.
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Vielmehr liegt es nahe, die Frage nach den allgemeinen Regeln zu behandeln. Hinsichtlich privatrechtlicher Verträge, die gleichermaßen wie Tarifverträge durch zwingendes Gesetzesrecht verdrängt werden, ist anerkannt, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung zwingender gesetzlicher Regelungen an das Rückwirkungsverbot gebunden ist.618 Daraus ziehen einige Autoren den Schluss, dass auch hinsichtlich der Verdrängung bestehender Tarifverträge das Rückwirkungsverbot anzuwenden sei.619 Für die Anwendung des aus dem Rechtsstaatsprinzip fließenden Rückwirkungsverbots ist zwischen echter und unechter Rückwirkung620 bzw. der Rückbewirkung von Rechtsfolgen und der tatbestandlichen Rückanknüpfung621 zu unterscheiden. Eine echte Rückwirkung liegt danach vor, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift.622 Derartige Gesetze sind grundsätzlich unzulässig. Etwas anderes soll nur gelten, wenn zwingende Gründe des Gemeinwohls vorliegen oder es an einem schützwürdigen Vertrauen des Einzelnen in die bestehende Rechtslage fehlt.623 Eine unechte Rückwirkung liegt hingegen vor, wenn die Norm zwar nur für die Zukunft gilt, aber auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet.624 Derartige Regelungen sind zulässig, wenn die Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, das Vertrauen des Einzelnen auf die Fortgeltung der bestehenden Rechtslage überwiegen.625 Wiedemann sieht den Tatbestand der echten Rückwirkung bzw. der Rückbewirkung von Rechtsfolgen in der Praxis als so gut wie nie erfüllt an.626 Er zieht eine Parallele zwischen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Verträgen im Allgemeinen, bei denen es einen gesetzgeberischen Eingriff in der Regel 618 BVerfG vom 25. 5. 1993, BVerfGE 88, 384, 403; Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 688. 619 Butzer, RdA 1994, 375, 385; Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 688; grundsätzlich auch Kamanabrou, RdA 1997, 22, 33 f., die allerdings für das Rückwirkungsverbot nicht viele Anknüpfungspunkte sieht. 620 So die Terminologie des Ersten Senats, BVerfG vom 31. 5. 1960, BVerfGE 11, 139, 145 f.; seitdem st. Rspr., aus neuerer Zeit BVerfG vom 15. 10. 1996, BVerfGE 95, 64, 86 f. 621 So die Terminologie des Zweiten Senats, BVerfG vom 14. 5. 1986, BVerfGE 72, 200, 242. 622 BVerfG vom 31. 5. 1960, BVerfGE 11, 139, 145 f.; vom 15. 10. 1996, BVerfGE 95, 64, 86 (Erster Senat); BVerfG vom 14. 5. 1986, BVerfGE 72, 200, 242 (Zweiter Senat). 623 BVerfG vom 25. 5. 1993, BVerfGE 88, 384, 404; vom 15. 10. 1996, BVerfGE 95, 64, 86 (Erster Senat); BVerfG vom 14. 5. 1986, BVerfGE 72, 200, 242 (Zweiter Senat). 624 BVerfG vom 23. 3. 1971, BVerfGE 30, 392, 402 f.; vom 15. 10. 1996, BVerfGE 95, 64, 86 (Erster Senat); BVerfG vom 14. 5. 1986, BVerfGE 72, 200, 242 (Zweiter Senat). 625 BVerfG vom 25. 5. 1993, BVerfGE 88, 384, 406 f. (Erster Senat); BVerfG vom 30. 9. 1987, BVerfGE 76, 256, 356 (Zweiter Senat). 626 Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 689.
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als unechte Rückwirkung qualifiziert habe.627 Beim Tarifvertrag komme als Besonderheit hinzu, dass er nicht nur die Verhältnisse der vertragsschließenden Tarifvertragsparteien betreffe, sondern zugleich als Rechtsnorm die Verhältnisse der in seinen Geltungsbereich fallenden Arbeitnehmer gestalte.628 Daraus ergebe sich im Gegensatz zu herkömmlichen Dauerschuldverhältnissen eine zusätzliche Begrenzung für Gesetze, die in laufende Tarifverträge eingreifen.629 Wendet man die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts auf die Verdrängung laufender Tarifverträge durch zwingende Arbeitnehmerschutzgesetze an, so ergibt sich in der Regel tatsächlich weder eine echte Rückwirkung noch eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen. Grundsätzlich gelten neu in Kraft tretende Gesetze für die Zukunft und verdrängen auch erst ab ihrem Geltungsbeginn entgegenstehende Tarifverträge. Eine Änderung der Rechtslage in der Vergangenheit findet demnach nicht statt. Auch die Voraussetzungen einer tatbestandlichen Rückanknüpfung liegen bei der Verdrängung eines laufenden Tarifvertrags durch ein zwingendes Gesetz nicht vor. Lediglich der Tatbestand der unechten Rückwirkung kann erfüllt sein, wenn das nur für die Zukunft wirkende Gesetz in einen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt des laufenden Tarifvertrags eingreift und tarifliche Rechtspositionen beeinträchtigt. Folge der unechten Rückwirkung ist die Interessenabwägung zwischen den Allgemeinwohlzielen des Gesetzgebers und dem schutzwürdigen Vertrauen der Tarifvertragsparteien in die Abwesenheit gesetzlicher Regelungen. Es ist bereits äußerst unwahrscheinlich, dass ein schutzwürdiges Vertrauen auf eine Regelungsabstinenz des Gesetzgebers überhaupt entstehen kann. Unterstellt man dieses, dann ist der aufgrund des Rückwirkungsverbots anzuwendende Prüfungsmaßstab immer noch weniger streng als die aus Art. 9 Abs. 3 GG fließende Rechtfertigungsbedürftigkeit anhand kollidierenden Verfassungsrechts. Laufende Tarifverträge daher gegen einen Eingriff durch staatliche Gesetze von vornherein abzusichern, würde den Wertungen der grundgesetzlichen Ordnung widersprechen. Die Unterscheidung in der Schutzintensität zwischen ausgeübter und noch nicht betätigter Tarifautonomie ist daher abzulehnen. Darüber hinaus ist bei der Anwendung des Rückwirkungsverbots streng zwischen dem schutzwürdigen Vertrauen der Arbeitnehmer in den Fortbestand von Rechtspositionen, die aus dem von einem Gesetz verdrängten Tarifvertrag fließen, und den Vertrauensschutzpositionen der Tarifvertragsparteien zu trennen.630 WähWiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 689. Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 689. 629 Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 689. 630 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 34, die dafür auf den nach ihrer Ansicht in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG enthaltenen ungeschriebenen Gesetzesvorbehalt abstellt. Aber auch nach der hier vertretenen Konzeption müssen die Tarifvertragsparteien auf Eingriffe auf der Grundlage von kollidierendem Verfassungsrecht gefasst sein und können daher kein schutzwürdiges Vertrauen bilden. Nicht klar unterscheiden in dieser Hinsicht Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG, und Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 689. 627 628
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rend für die Arbeitnehmer der Tatbestand der unechten Rückwirkung bzw. tatbestandlichen Rückanknüpfung vorliegen kann, ist auf Seiten der Tarifvertragsparteien nicht ersichtlich, inwieweit sie ein schutzwürdiges Vertrauen in die Abwesenheit staatlicher Regelungen fassen können. Sie sehen sich der staatlichen Regelungsmacht aufgrund der nachgeordneten Stellung des Tarifvertrags in der Normenhierarchie vielmehr ständig ausgesetzt. Schutz erfahren sie in dieser Hinsicht eben durch die Bindung des Gesetzgebers an Art. 9 Abs. 3 GG. Soweit den Tarifvertragsparteien dadurch besondere Belastungen entstehen, dass das Gesetz bestehende Tarifverträge verdrängt, ist dies mit Wank und Kamanabrou im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu berücksichtigen.631 Dort ist insbesondere zu fragen, ob dem Gesetzgeber nicht zumutbar war, den Ablauf der Tarifverträge abzuwarten.632 Für die den Tarifvertragsparteien naturgemäß sehr wichtigen Tarifverträge im Entgelt- und Arbeitszeitbereich wird das wegen der für diese typischen kurzen Laufzeiten oftmals der Fall sein.633 Eine sofortige Verdrängung solcher Tarifverträge kann durchaus unverhältnismäßig und daher unzulässig sein. Der Gesetzgeber sieht daher weitestgehend Übergangsregelungen im Hinblick auf laufende Tarifverträge vor.634 Es ergibt sich jedoch keine pauschale Pflicht des Gesetzgebers zur tarifdispositiven Gestaltung von gesetzlichen Regelungen in den Bereichen, die bereits tariflich erschlossen sind. 2. Schutzintensität und Eignung zum Interessenausgleich Das Bundesverfassungsgericht hat mit der Eignung zum Interessenausgleich einen Maßstab für die Konkretisierung der unterschiedlich intensiven Wirkkraft des Grundrechtsschutzes im Rahmen von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG entwickelt. Dieser besteht in der besseren Befähigung der Tarifvertragsparteien zu einem Interessenausgleich zwischen den gegensätzlichen Positionen der von ihnen vertretenen Mitglieder. a) Tragfähigkeit des Ausgangspunkts des Bundesverfassungsgerichts Die historische Entwicklung der Tarifautonomie belegt, dass sie als Mittel der kollektiven Selbsthilfe in Reaktion auf das Ausbleiben staatlicher Maßnahmen gegen die dramatische Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden ist.635 Aufgrund staatlichen Versagens haben die Koali631 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 34; Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG. 632 Wank, Anm. zu BVerfG vom 10. 1. 1995, AP Nr. 76 zu Art. 9 GG; ebenso Kamanabrou, RdA 1997, 22, 33. 633 So Kamanabrou, RdA 1997, 22, 33., für befristete Tarifverträge, deren Laufzeit absehbar ist. 634 Vgl. § 25 S. 1 ArbZG. 635 Vgl. oben 2. Teil: § 6 C. IV. 3.
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tionen die Interessenwahrnehmung zugunsten ihrer Mitglieder in die eigene Hand genommen. Diesem Umstand trägt die Grundrechtsgarantie Rechnung und auf diesen Zusammenhang rekurriert das Bundesverfassungsgericht auch mit der Formulierung: „nach der dem Art. 9 Abs. 3 GG zugrunde liegenden Vorstellung des Verfassungsgebers“636. Neben diesen historischen Hintergrund, der den traditionellen Aspekt der besseren Eignung der Tarifvertragsparteien für den Interessenausgleich betont, tritt mit der materiellen Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags ein funktioneller Aspekt,637 der immer dann stark ausgeprägt und daher besonders schutzwürdig ist, wenn die Tarifvertragsparteien zur Wahrnehmung der ihnen übertragenden Aufgaben besser geeignet sind als der staatliche Gesetzgeber. Dann erfüllen die Koalitionen die ihnen vom Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG übertragene Funktion der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besonders gut und der Zweck der Grundrechtsgarantie wird effektiv verwirklicht.638 Den Maßstab für die Bestimmung der Wirkkraft des Grundrechtsschutzes in der besseren Eignung der Tarifvertragsparteien zum Interessenausgleich zu suchen, erscheint daher im Ausgangspunkt äußerst plausibel.639 Die Ausfüllung des adäquaten Maßstabs mit geeigneten Kriterien bereitet allerdings einige Schwierigkeiten. Das Bundesverfassungsgericht geht auf die von ihm als maßgeblich erkannten Sachgründe inhaltlich im weiteren Fortgang seiner Entscheidung nicht mehr ein. Ebenso wenig finden sich in späteren Judikaten Ausführungen zur ihrer Beschreibung. Vielmehr zieht sich der Erste Senat darauf zurück, die Abstufung ausschließlich anhand der Tarifüblichkeit vorzunehmen. Diese bildet jedoch kein inhaltliches Kriterium für die bessere Eignung der Tarifvertragsparteien zum Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite, sondern – so der Erste Senat selbst – lediglich ein äußeres Anzeichen, einen Indikator. Als solcher ist die Tarifüblichkeit jedoch nicht verlässlich, da sie nur belegt, dass in dem jeweiligen Bereich Kollektivregelungen geschlossen wurden. Eine Aussage über den Stellenwert der Regelungsmaterie im Rahmen der Tarifautonomie trifft sie hingegen nicht.640 Bis auf wenige Andeutungen enthält sich auch das Schrifttum einer inhaltlichen Konkretisierung für die aus Sachgründen bessere Eignung der Tarifvertragsparteien zum Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Isensee weist lediglich darauf hin, dass der staatliche Gesetzgeber aufgrund des hohen BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 285. Dass die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags nicht alle Interessen befriedigen kann und auch Fehler vorkommen, ist dabei zwangsläufig, vgl. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 285. Dies berechtigt jedoch nicht, die Existenz der Richtigkeitsgewähr vollständig in Frage zu stellen, so aber Reuter, RdA 1994, 152, 160; ders., ZfA 1995, 1, 11 ff. 638 Zustimmend Pieroth, Festschrift 50 Jahre BVerfG II, S. 293, 310. 639 Ebenso Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 144; auch Bieback, AuR 2000, 201, 204, will darauf abstellen, ob die Tarifvertragsparteien selbst zur Regelung der Materie in der Lage sind oder ein zwingendes Erfordernis nach einer gesamtstaatlichen Regelung bestehe. 640 Vgl. oben unter 2. Teil: § 7 C. I. 2. 636 637
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Grades an Detailliertheit auf dem Lohn- und Gehaltssektor nicht in der Lage wäre, die Befriedungsfunktion zu erfüllen, die den Tarifvertragsparteien derzeit zukomme.641 In die gleiche Richtung geht die Äußerung Gamillschegs, dass die staatlichen Behörden hoffnungslos überfordert wären, wollten sie die Regelung der Arbeitsbedingungen in gleicher Ausführlichkeit übernehmen, wie die Tarifpartner.642 Dieselbe Diagnose stellt Buchner hinsichtlich staatlicher Entgeltfestsetzung.643 Auch Kühling verdeutlicht in seiner abweichenden Meinung zum Hochschulbeschluss, dass bei komplexen Interessenlagen die Tarifvertragsparteien auf den ergänzenden Regelungsbedarf regelmäßig sach- und zeitgerechter reagieren können als der Gesetzgeber.644 b) Inhaltliche Kriterien zur Ausfüllung des Maßstabs der besseren Eignung Der als richtig einzustufende Maßstab der Rechtsprechung und des überwiegenden Schrifttums beruht auf einem Vergleich zwischen den Tarifvertragsparteien und dem staatlichen Gesetzgeber. Beide Regelungsinstanzen lassen sich auf der Ebene ihrer institutionellen Eigenschaften, aber auch anhand des ihnen zur Verfügung stehenden Instrumentariums vergleichen. Auf beiden Ebenen ergeben sich Unterschiede, die sich auf die Leistungsfähigkeit hinsichtlich des Interessenausgleichs im Bereich der Ausgestaltung der individuellen Arbeitsbedingungen auswirken. Die vorrangige Funktion des Tarifvertragssystems besteht in der Überwindung des strukturellen Ungleichgewichts zwischen den Parteien des Arbeitsverhältnisses. Trotz vereinzelter kritischer Gegenstimmen, ist dieses Machtungleichgewicht zwischen den Arbeitsvertragsparteien auch heute noch vorhanden und bedarf eines Ausgleiches, damit auch auf dem Gebiet der individuellen Arbeitsbedingungen Vertragsgerechtigkeit herrschen kann.645 Um dies zu gewährleisten, bieten sich grundsätzlich zwei verschiedene Wege an.646 Zum einen kann der Gesetzgeber die Verhandlungsmacht des Arbeitgebers durch zwingende gesetzliche Vorschriften inhaltlich binden, wie dies durch das staatliche Arbeitnehmerschutzrecht bereits geschieht. Zum anderen bietet die Verstärkung der Verhandlungsposition der Arbeitnehmerseite durch Kollektivierung eine Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen. Jeder der Wege ist unterschiedlich geeignet, um den angestrebten InteressenausIsensee, in: Zukunft der sozialen Partnerschaft, S. 185. Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 292. 643 Buchner, NZA 1996, 1177, 1178. 644 Sondervotum zu BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 294, 296. 645 BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154; Friese, Kollektive Koalitionsfreiheit und Betriebsverfassung, S. 250; Kempen, RdA 1994, 140, 144; Kleinherz, Gutachten B zum 63. DJT, B 62 f.; Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit, S. 228. 646 Grundlegend zu dieser Unterscheidung Biedenkopf, Grenzen der Tarifautonomie, S. 8; Zöllner / Loritz, ArbR, § 1 I. 2., S. 3 f. 641 642
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gleich zwischen den Parteien des Individualarbeitsverhältnisses herzustellen, was sich sowohl aus den institutionellen Eigenschaften der Regelungsträger als auch aus den spezifischen Besonderheiten der Regelungsinstrumente ergibt. aa) Unterschiede zwischen den Regelungsinstanzen Ein bedeutsamer Unterschied besteht zwischen Tarifvertragsparteien und Staat als Initiatoren des Interessenausgleichs hinsichtlich des durch sie repräsentierten Personenkreises. Während die Koalitionen in der Regel nur die Interessen ihrer Mitglieder wahrnehmen wollen und auch können, ist der staatliche Gesetzgeber demokratisch legitimiert und dazu berufen, die Interessen aller Bürger zu wahren. Wo sich also partiell die Interessen der Individuen, die in ein Arbeitsverhältnis involviert sind, mit denen anderer Personenkreise überschneiden, sind die Tarifvertragsparteien nicht ohne weiteres prädestiniert, diese Regelungsmaterie auszugestalten. Je stärker demnach Interessen der Allgemeinheit berührt sind, jedoch weniger die spezifischen Belange der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, desto weniger eignen sich die Tarifvertragsparteien als Träger des Interessenausgleichs.647 Naturgemäß stehen die Tarifvertragsparteien ihren Mitgliedern um einiges näher als der Staat. Durch die Organisationsform als Verein verfügen die Koalitionen über spezifische Informationen bezüglich ihrer Mitglieder, die staatlichen Stellen nicht ohne weiteres zugänglich sind. Zudem herrscht zwischen Koalitionen als Organisationen und ihren Mitgliedern ein besonderes Vertrauensverhältnis, das den Tarifvertragsparteien einen umfassenden Einblick in die Verhältnisse und Bedürfnisse ihrer Mitglieder bietet. Aus dieser Nähebeziehung begründet sich auch die gesteigerte Sachkenntnis der Tarifvertragsparteien hinsichtlich der durch sie repräsentierten Arbeitnehmer und Arbeitgeber. In den Bereichen, in denen es entscheidend auf spezifische Sachkenntnis im Rahmen einer Regelungsmaterie ankommt, die nur den Koalitionen zur Verfügung stehen kann, sieht sich der staatliche Gesetzgeber einem Informationsdefizit ausgesetzt, das ihn als Träger des Interessenausgleichs weniger geeignet erscheinen lässt.648 bb) Unterschiede zwischen den Regelungsinstrumenten In erster Linie unterscheiden sich Tarifvertrag und Gesetz als Regelungsinstrumente hinsichtlich ihres Anwendungsbereichs. Während der Tarifvertrag grundsätzlich nur für die Koalitionsmitglieder gilt, erstreckt sich das Gesetz in seiner Wirkung auf alle in den Anwendungsbereich fallenden Personen. Je mehr bei einem Regelungsgegenstand demnach einheitliche Maßstäbe erforderlich sind, desto eher ist das Gesetz das geeignete Regelungsinstrument. 647 648
So auch Rieble, ZTR 1993, 54, 56. Vgl. auch Schlachter, JbArbR 40 (2003), 51, 53.
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Darüber hinaus kommt dem Tarifvertrag im Vergleich zum Gesetz eine gesteigerte Flexibilität zu.649 Diese ergibt sich nicht nur in zeitlicher Hinsicht, da Tarifverträge zumeist kurze Laufzeiten haben, sondern auch im Hinblick auf den Inhalt, da das Zustandekommen eines Tarifvertrags keinem gleichermaßen formalisierten Verfahren unterliegt wie die Gesetzgebung. Er eignet sich daher viel besser zur Berücksichtigung detaillierter Regelungen von Einzelfällen, kann regionale Besonderheiten durch im Geltungsbereich begrenzte Zusatzregelungen berücksichtigen und viel schneller als ein Gesetz an zeitlich bedingte Veränderungen angepasst werden. Mit wachsendem Grad an Detailliertheit eines zu regelnden Interessenkonflikts bzw. steigendem Maß an regionalen Unterschieden für eine Regelungsmaterie, erhöht sich auch die Eignung des Tarifvertrags als Regelungsinstrument. Der Tarifvertrag ist seiner Natur nach ein Vertrag. Sein Inhalt wird durch den in einem Verhandlungsprozess gewonnenen Ausgleich zwischen gegensätzlichen Verhandlungspositionen gestaltet. In diesen Einigungsprozess können daher bestenfalls nur Positionen eingestellt werden, die dergestalt quantifizierbar sind, dass sie sich in einer Gegenleistung bewerten und messen lassen. Sobald es um Leistungen geht, die sich dem entziehen, wird ein vertraglicher Einigungsprozess zunehmend ungeeigneter. Dementsprechend verringert sich auch die Eignung des Tarifvertrags als Mittel zum Interessenausgleich. Während der soeben identifizierte Unterschied allgemein für Vertragsverhandlungen gilt, ergeben sich aus den Druckmitteln, die den Tarifvertragsparteien zur Verfügungen stehen, weitere Besonderheiten. Da den Tarifverhandlungen von der Arbeitnehmerseite aus mit Hilfe einseitiger Arbeitsniederlegungen Nachdruck verliehen wird, versagt der tarifliche Einigungsprozess, wo eine solche Arbeitsverweigerung sich nicht existentiell auf den Arbeitgeber auswirkt, bzw. dieser durch Verzicht auf eine Maßnahme oder ähnlichen Reaktionen dem dadurch erzeugten Druck ausweichen kann.650 Bereiche, in denen sich derartige Phänomene zeigen, sind einer Regelung durch Gesetz demnach besser zugänglich. cc) Fazit Mit wachsender Komplexität einer Regelungsmaterie ist der zeitlich und inhaltlich flexiblere Tarifvertrag dem Gesetz als Regelungsinstrument vorzuziehen. Versagen jedoch die vertragstypischen Mechanismen des Aushandelns von Leistung und Gegenleistung bzw. die spezifischen Druckmittel, die den Koalitionen zur Verfügung stehen, in einem Bereich bei der Herbeiführung eines Interessenausgleichs, tritt das Gesetz als geeignetes Regelungsinstrument in den Vordergrund. Gleichzeitig ist der umfassend legitimierte Gesetzgeber gegenüber den Tarifvertragsparteien besser zur einheitlichen Regelung bestimmter Materien geeignet, die über den Kreis der Koalitionsmitglieder hinauswirken. Erfordert ein Regelungsgegenstand 649 650
Schlachter, JbArbR 40 (2003), 51, 53. Vgl. die Fallkonstellation in BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 287.
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allerdings spezifische Sachkenntnisse aus der Sphäre der Arbeitnehmer bzw. Arbeitgeber, erweisen sich die Tarifvertragsparteien als die besser geeignete Regelungsinstanz. Darüber hinaus wird aber auch deutlich, dass die institutionellen und die instrumentellen Unterschiede zwischen Tarifautonomie und Gesetzgebung nicht unabhängig voneinander sind. Die lediglich auf die Koalitionsmitglieder beschränkte Wirkung des Tarifvertrags findet ihre Parallele in der beschränkten Legitimation der Tarifvertragsparteien. Die gesteigerte Sachnähe und Kenntnis der Tarifvertragsparteien korreliert mit der Flexibilität des Tarifvertrags in inhaltlicher und zeitlicher Hinsicht. Bisher zeigt sich demnach, dass der Grundrechtsschutz aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG für Materien, die ihrer normativen Regelung ein hohes Maß an Flexibilität und Detailliertheit abverlangen, besonders intensiv ist. Ob die Unterschiede in der Geeignetheit zum Interessenausgleich allerdings markant genug sind, um daraus abstrakte Abstufungen in der Schutzintensität abzuleiten, ist eine weitergehende Frage, die separate Betrachtung erfordert. 3. Schlussfolgerungen für die Pflicht des Gesetzgebers zur tarifdispositiven Regelung Art. 9 Abs. 3 GG gehört aufgrund seiner tatbestandlichen Weite und des durch Auslegung des Grundrechtstatbestandes erheblich erweiterten Garantieumfangs zu den am wenigsten konkretisierten Freiheitsrechten des Grundgesetzes. Daraus erklärt sich das gesteigerte Interesse an klaren Orientierungsmaßstäben für seine Handhabung. Die wiederholt vorzufindenden Stufenmodelle zur Konkretisierung der Grundrechtsgarantie651 sind dadurch motiviert, subsumtionsfähige Einzelheiten für den Schutzumfang des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu identifizieren, die seine Anwendung im konkreten Fall erleichtern sollen. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob sich abstrakt ein bestimmter Bereich identifizieren lässt, der dem Gesetzgeber nur die Schaffung tarifdispositver arbeitsrechtlicher Vorschriften gestattet. a) Keine abstrakte Abstufung innerhalb der Schutzintensität durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG Gegen die Bildung abstrakter Stufen unterschiedlicher Schutzintensität im Gewährleistungsbereich des Art. 9 Abs. 3 GG, in denen der Gesetzgeber zur zwingenden gesetzlichen Regelung berechtigt oder aber auf eine tarifdispositive Regelung beschränkt sein soll, spricht der Charakter der Grundrechte als Prinzipien, deren genaue Grenze nur durch Abwägung im Einzelfall festgestellt werden kann. Die Grundrechte stellen prinzipielle Garantien dar, ordnen also an, dass ihr normativer 651
Vgl. dazu oben 2. Teil: § 7 C. I. 2.
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Gehalt bezogen auf die rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten in möglichst hohem Maße verwirklicht wird.652 Sie sind demnach Optimierungsgebote, deren Regelungsanliegen in unterschiedlichem Grad abhängig von den tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten erfüllt werden kann.653 Grundrechtskollisionen sind entsprechend dieses bedingten Regelungsinhalts durch Gewichtung und Abwägung der gegenläufigen Prinzipien zu lösen.654 Die Rahmenbedingungen für die Abwägung zwischen den Grundrechtgewährleistungen können aber von Fall zu Fall voneinander abweichen, so dass eine abstrakte Stufenbildung der im Einzelfall angemessenen Abwägung zuwiderläuft. Auch die Erfahrungen mit der zu Art. 12 Abs. 1 GG entwickelten Stufentheorie zeigen, dass die Aufstellung starrer Konkretisierungen nur sehr begrenzt durchführbar ist.655 Im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 GG entfernt sich das Bundesverfassungsgericht zugunsten einer Verhältnismäßigkeitsabwägung im Einzelfall mehr und mehr von der Prüfung anhand der Stufentheorie.656 Die Stufentheorie zu Art. 12 Abs. 1 GG sieht sich zudem der berechtigten Kritik ausgesetzt, dass die Zuordnung bestimmter Verhaltensweisen zu Berufsausübung bzw. Berufszugang im Einzelnen unsicher und der Übergang zwischen den einzelnen Eingriffsstufen fließend ist.657 In die gleiche Richtung geht die Kritik an der Unterscheidung auf 652 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75; Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2091; Schwarze, ZTR 1996, 1, 3. 653 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 f. 654 Dies entspricht der ständigen Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts: vgl. BVerfG vom 17. 8. 1956, BVerfGE 5, 85, 204: „möglichst weitgehende Entfaltung seiner Persönlichkeit“; BVerfG vom 11. 6. 1958, BVerfGE 7, 377, 403: „Die Berufswahl ( . . . ) muß von Eingriffen ( . . . ) möglichst unberührt bleiben.“; BVerfG vom 17. 6. 1961, BVerfGE 13, 97, 105: „bei der Berufswahl die größtmögliche Freiheit“; speziell für Art. 9 Abs. 3 GG im Verhältnis zum Arbeitsrechtsgesetzgeber, Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 300, der keinen übergeordneten Grundsatz für die Abgrenzung eines von der Gesetzgebung zu achtenden Freiraums erkennen kann. 655 Anders jedoch Kamanabrou, RdA 1997, 22, 33, die davon ausgeht, dass Stufenmodelle insbesondere im Bereich von Art. 12 GG bereits erfolgreich angewendet werden; vorsichtiger Henssler, ZfA 1998, 1, 32 f. 656 In neueren Entscheidungen erwähnt das Bundesverfassungsgericht die Stufentheorie insbesondere bei der Prüfung von Eingriffen in die Freiheit der Berufsausübung nicht mehr, vgl. BVerfG vom 25. 3. 1992, BVerfGE 86, 28, 42 ff.; vom 3. 7. 2003, NJW 2003, 2520, 2521; vom 15. 12. 1999, BVerfGE 101, 331, 347 ff.; vom 11. 2. 2003, BVerfGE 107, 186, 196. In einer Entscheidung vom 26. 2. 1997, BVerfGE 95, 193, 214, schließlich betont der Erste Senat, dass sich die Einzelgarantien des Art. 12 Abs. 1 GG nicht klar trennen lassen (so bereits BVerfG vom 21. 2. 1995, BVerfGE 92, 140, 151) und ein Eingriff daher durch hinreichende Gemeinwohlgründe getragen sowie nach Art der beeinträchtigten Betätigung und Intensität des Eingriffs angemessen sein müsse. Diese Rechtsprechung hat er in dem Beschluss vom 19. 7. 2000, BVerfGE 102, 197, 213 bestätigt. Vereinzelt finden sich natürlich auch Entscheidungen, die noch Anklänge an die Stufentheorie enthalten, so z. B. der Nichtannahmebeschluss des Ersten Senats vom 16. 3. 2000, NJW 2000, 1779. 657 Gubelt, in: von Münch / Kunig, GG, Art. 12 Rn. 14; Gusy, JA 1992, 257, 263; Henssler, ZfA 1998, 1, 33; Papier, DVBl. 1984, 801, 803.
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der Rechtsfolgenseite zwischen überragend wichtigen Gemeinschaftsgütern und lediglich wichtigen Gemeinschaftsgütern, die abstrakt nicht zu treffen ist, soll sie nicht lediglich ein Postulat bleiben.658 Die Drei-Stufen-Lehre zu Art. 12 Abs. 1 GG ist zudem vom Bundesverfassungsgericht entworfen worden, als das Verhältnismäßigkeitsprinzip noch keine ausdrückliche Anerkennung durch die Verfassungsrechtsprechung erfahren hatte. In seiner Entscheidung vom 17. 7. 1961659 ordnete der Erste Senat die Stufentheorie als Folge aus der strengen Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ein, so dass die Drei-Stufen-Lehre eher als ein Vorläufer desselben anzusehen ist.660 Man kann sie jedoch nicht als ein Modell für die anhand verschiedener Schutzzonen pauschalisierte Konkretisierung des Schutzumfangs anderer Grundrechtsgarantien heranziehen.661 All diese Umstände sprechen gegen die Bestrebungen, starre Abstufungen innerhalb der Schutzintensität des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu entwickeln.662 So unbefriedigend die Kapitulation vor der Komplexität der Materie auf den ersten Blick erscheinen mag, stellt sie dennoch den einzigen Weg dar, der Eigenart der kollektiven Koalitionsbetätigungsfreiheit als besonders komplexem und starker Entwicklung unterworfenem Schutzgut gerecht zu werden. Wollte man aus den soeben beschriebenen inhaltlichen Kriterien für die unterschiedliche Schutzintensität der einzelnen Regelungsgegenstände im Rahmen der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis konkret umrissene Schutzzonen ableiten, dann setzte dies voraus, dass sich der Grad der unterschiedlichen Eignung von Tarifvertragsparteien und staatlichem Gesetzgeber exakt erfassen und anschließend verlässlich bewerten sowie gewichten ließe. Da aber bereits die Abwägungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung als ein sich rationaler Überprüfung entziehender Prozess angeprangert und in Frage gestellt werden,663 ist ein solches Unterfangen sehr kritisch zu bewerten. Dasselbe gilt für den Vorschlag, eine Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiver Vorschriften ab einem bestimmten Detailliertheitsgrad der gesetzlichen Regelung zu begründen.664 Die bisherigen Untersuchungen haben gezeigt, dass sich der Tarifvertrag als Regelungsinstrument und die Koalitionen als Regelungsinstanzen besser für betriebsspezifische, also besonders detaillierte RegelunVgl. auch Gusy, JA 1992, 257, 264. BVerfGE 13, 97, 104. 660 Gusy, JA 1992, 257, 264. 661 So aber ausdrücklich Kamanabrou, RdA 1997, 22, 33, die betont, dass ein einfacher Gesetzesvorbehalt „im Rahmen der sogenannten Stufentheorie seit Jahren erfolgreich auf Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG angewandt“ werde. 662 Kritisch diesbezüglich ebenfalls Höfling, Anm. zu BVerfG vom 27. 4. 1999, JZ 2000, 44, 45; auch Oetker, ZG 1998, 155, 163, betont, dass schematische Problemlösungen wenig weiterhelfen. 663 Pieroth / Schlink, Grundrechte, Rn. 289. 664 Aufgeworfen, aber gleichzeitig abgelehnt von Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 395. 658 659
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gen eignen. Aber auch hier gilt, dass sich der Grad der Detailliertheit einer Regelung nicht so exakt bewerten und gewichten lässt, dass Stufen gebildet werden können, deren Überschreiten den Gesetzgeber zu einer tarifdispositiven Regelung zwingt. So verständlich das Verlangen nach klaren Strukturen und handhabbaren Kategorisierungen gerade im Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist, muss sich dennoch die Überzeugung durchsetzen, dass die verfassungsdogmatischen Erkenntnismittel begrenzt sind. b) Gesteigerte Schutzintensität für die arbeitsvertraglichen Hauptpflichten und die damit verbundenen Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs Das bedeutet allerdings nicht, dass der vom Bundesverfassungsgericht aufgeworfene Maßstab keinerlei Nutzen bringt. Er ist in der Lage, Material für die Argumentation im Einzelfall zu liefern und dadurch Orientierungsleitlinien vorzugeben – nicht mehr und nicht weniger. Wendet man den Maßstab an, ergibt sich für die naturgemäß sehr detaillierten und mit hohem Anpassungsbedarf ausgestatteten Entgelt- und Arbeitszeitregelungen, dass diese in den Tarifvertragsparteien weit besser geeignete Regelungsinstanzen finden, als im staatlichen Gesetzgeber. Ihnen kommt daher bei Anwendung des Maßstabs des Bundesverfassungsgerichts, in der hier vorgenommenen Konkretisierung, ein besonders intensiver Schutz durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Stellungnahmen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts665 und der Literatur,666 die größtenteils an die traditionelle Bedeutung dieser Regelungsgegenstände anknüpfen, sowie mit dem einfachrechtlichen Befund. So formuliert beispielsweise der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 18. 5. 1990667 im Gemeinsamen Protokoll über Leitsätze in Abschnitt A. III Nr. 3, dass Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen nicht vom Staat, sondern durch freie Vereinbarungen von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und Arbeitgebern festgelegt werden.668 Das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen vom 11. 1. 1952669 sieht in § 1 Abs. 1 vor, dass die Regelung von Entgelten und sonstigen Arbeitsbedingungen grundsätzlich in freier Vereinbarung zwischen den Tarifvertragsparteien durch Tarifverträge erfolgt. Nur unter den engen Voraussetzungen 665 BVerfG vom 27. 4. 1999, BVerfGE 100, 271, 284; vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 304; vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154. 666 Statt aller Butzer, RdA 1994, 375, 383; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 144. 667 BGBl. 1990 II, S. 537. 668 Vgl. zur lediglich bestätigenden Rolle des 1. Staatsvertrags bei der Grundrechtsauslegung oben 2. Teil: § 6 C. IV. 2. a). 669 BGBl. 1952 I, S. 17.
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des § 1 Abs. 2 MindestarbBedG kann der Staat die Regelung des Entgelts und sonstiger Arbeitsbedingungen durch Mindestarbeitsbedingungen vornehmen. Damit errichtet sich der Gesetzgeber selbst eine hohe Schwelle für sein eigenes Tätigwerden. Die einfachrechtlichen Vorschriften erfassen den gesamten Bereich, der in der vorliegenden Arbeit als grundrechtlich geschützter Umfang der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis identifiziert wurde. Sie differenzieren nicht zwischen den einzelnen Regelungsmaterien. Durch ihre ausdrückliche Nennung wird lediglich die tarifliche Entgeltfestsetzung besonders betont und aus dem Kanon der übrigen tarifvertraglichen Regelungsgegenstände herausgehoben.670 Die Anerkennung der Tarifautonomie im Allgemeinen und des Sonderstatus der tariflichen Lohn- und Gehaltsregelungen im Besonderen setzt sich auch auf europäischer Ebene fort.671 Die Relativierung des Grundrechtsschutzes durch Gemeinschaftsrechtsakte672 aktualisiert sich für alle Regelungsbereiche, in denen eine Richtlinienkompetenz besteht. Für das Arbeits- und Sozialrecht besteht eine solche jedoch nicht unbegrenzt. Art. 137 EGV legt im Allgemeinen die Kompetenzen des Rates bei der Verbesserung und Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen im Rahmen der gemeinsamen Sozialpolitik fest.673 In Abs. 5 enthält er eine Einschränkung. Die Regelungsbefugnis des Rates wird für Bestimmungen hinsichtlich des Arbeitsentgelts ausdrücklich ausgeschlossen. Damit ist einer der bedeutendsten Wettbewerbsparameter der möglichen Harmonisierung im Rahmen des europäischen Gemeinschaftsrechts entzogen.674 Im Hinblick auf die Festlegung des Arbeitsentgelts sieht sich die Tarifautonomie daher auch nicht der durch Gemeinschaftsrechtsakte hervorgerufenen Relativierung ihres Grundrechtsschutzes ausgesetzt.675 Die Ausnahme ist allerdings auf den Bereich der Entgeltfestsetzung beschränkt. Für die tarifvertragliche Festlegung des Entgelts ist die Schutzintensität aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG demnach besonders hoch. Das Arbeitsentgelt bildet eine der sich im Arbeitsvertrag synallagmatisch gegenübertretenden Hauptleistungspflichten. Diese spielen naturgemäß eine besondere Rolle für die Tarifvertragspartner, weil sie von gesteigertem Interesse für die Arbeitsvertragsparteien und daher auch die Koalitionen als deren Interessenvertreter sind. Zudem konzentrieren sich Ver670 Deutlicher Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht I, S. 296 f., der das Entgelt als Vorbehaltsgut der Tarifvertragsparteien durch § 3 StabG und § 6 Abs. 2 HaushG bestätigt sieht, die jeweils vorbehaltlich tariflicher Abweichungen gelten. 671 Eichenhofer, in: Streinz, EUV / EGV, Art. 137 EGV Rn. 33. 672 Vgl. dazu oben 2. Teil: § 7 C. I. 3. a). 673 Eichenhofer, in: Streinz, EUV / EGV, Art. 137 EGV Rn. 1; Krebber, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, Art. 137 EGV Rn. 1. 674 Eichenhofer, in: Streinz, EUV / EGV, Art. 137 EGV Rn. 32; Krebber, in: Calliess / Ruffert, EUV / EGV, Art. 137 EGV Rn. 8. 675 Vgl. dazu oben 2. Teil: § 7 C. I. 3. a).
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
tragsverhandlungen im Allgemeinen auf die gegenseitigen Hauptpflichten, die durch andere Vertragsabsprachen lediglich ergänzt werden. Da es sich auch bei Tarifabschlüssen um Vertragsschlüsse handelt, die lediglich kollektiviert erfolgen, bilden die arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten das Herzstück der Verhandlungen und Abschlüsse und stehen daher im Zentrum der Tarifautonomie. Das Arbeitsentgelt und die Arbeitsleistung, die sich aus einer sachlich-gegenständlichen, einer örtlichen und einer Zeitkomponente zusammensetzt, bilden im Arbeitsverhältnis das Synallagma. Entgelt und Arbeitszeit hatten sich ohnehin bereits als die Regelungsgegenstände erwiesen, für deren Festlegung die Tarifvertragsparteien besser geeignet sind als der Gesetzgeber, weswegen die tarifliche Regelungsmacht in diesem Bereich besonders schutzwürdig ist. Daraus lässt sich allgemein ableiten, dass die grundrechtliche Schutzintensität für tarifvertragliche Regelungsgegenstände, welche die arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten betreffen, besonders hoch ist. Für die daran zu knüpfenden Rechtsfolgen lässt sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts fruchtbar machen. In seiner Entscheidung vom 24. 4. 1996 deutete der Erste Senat an, dass der Prüfungsmaßstab für die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers bei zunehmender Schutzintensität des Grundrechts strenger wird,676 ohne allerdings Ausführungen zu Inhalt und Voraussetzungen dieser strengeren Prüfung zu machen. Die zuvor bereits angestellten Untersuchungen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz haben bereits ergeben, dass im Rahmen der Überprüfung von Eingriffen in die Koalitionsfreiheit sowohl eine Evidenz- als auch eine strengere Vertretbarkeits- oder Plausibilitätskontrolle Anwendung finden können. Bezogen auf die unterschiedlich starke Wirkkraft des Grundrechtsschutzes aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ergibt sich daraus, dass der Gesetzgeber bei Eingriffen in die tarifvertragliche Regelungsbefugnis im Bereich der arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten hinsichtlich seiner Annahmen der strengeren Plausibilitätskontrolle und nicht lediglich einer Evidenzprüfung unterliegt.677 c) Ergebnis Ein klar abgrenzbarer Kreis arbeitsrechtlicher Regelungsgegenstände, für den nur die Schaffung tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts in Frage kommt, lässt sich aus der verfassungsrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Rege676 BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 268, 285, dem folgend Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 144. 677 Nicht mit der hier vorgeschlagenen Differenzierung, aber für fassbarere Kriterien für die Überprüfung der gesetzgeberischen Einschätzungsprärogative Kühling, Sondervotum zu BVerfG vom 24. 4. 1996, BVerfGE 94, 294, 297, der für eine Plausibilitätskontrolle plädiert; Dieterich, AuR 2001, 390, 392, der fordert, dass der Gesetzgeber „solide Gründe“ für ein Abweichen von den arbeitsmarktpolitischen Einschätzungen der Tarifvertragsparteien vorbringen kann.
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lungsbefugnis nicht ableiten.678 Aus Art. 9 Abs. 3 GG ergibt sich keine allgemeine oder für einen bestimmten Bereich der arbeitsrechtlichen Aktivitäten des Gesetzgebers bestehende abstrakte Pflicht zur Schaffung tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts.
III. Die einzelfallbezogene Bestimmung einer gesetzlichen Pflicht zur tarifdispositiven Regelung Die Antwort auf die Frage, ob der Gesetzgeber im Einzelfall verpflichtet ist, eine von ihm als (einseitig) zwingend vorgesehene Arbeitnehmerschutzvorschrift tarifdispositiv auszugestalten, kann nur die Prüfung der zwingenden Vorschriften anhand der Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis in Art. 9 Abs. 3 GG geben. Der legislative Eingriff ist dabei nur zum Schutz von Grundrechten Dritter oder anderer Rechtswerte von Verfassungsrang zulässig. Besonderes Gewicht kommt darüber hinaus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu. Prognosen und Entscheidungen, für die der Gesetzgeber über einen Spielraum verfügte, sind bei Betroffenheit der arbeitsvertraglichen Hauptpflichten grundsätzlich einer strengeren Vertretbarkeitskontrolle und nicht lediglich einer bloßen Evidenzkontrolle zu unterziehen. Eine Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts kann sich diesbezüglich nur in folgenden Konstellationen ergeben. 1. Tarifdispositivät und der Schutz von Rechtsgütern mit Verfassungsrang Die Vermutung Hanaus, dass sich aus dem vorbehaltlosen Schutz der Tarifautonomie durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG als solchem bereits eine Verpflichtung des Gesetzgebers zu einer weitreichenderen tarifdispositiven Regelung der staatlichen Arbeitnehmerschutzvorschriften ergebe,679 ist im Ergebnis nicht begründet. Der Handlungsspielraum des Gesetzgebers wird nicht über das herkömmliche Maß eingeschränkt, wenn Eingriffe in die tarifvertragliche Regelungsbefugnis durch den staatlichen Gesetzgeber nur aufgrund kollidierenden Verfassungsrechts zulässig sind. Das Arbeitnehmerschutzrecht dient naturgemäß dem Schutz von Arbeitnehmerinteressen. Wesentliche Schutzzwecke der zwingenden gesetzlichen Regelungen sind der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer und der Bestandsschutz hinsichtlich des Arbeitsverhältnisses. Diese finden in Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 12 Abs. 1 GG ohne weiteres eine verfassungsrechtliche Fundierung. Dem Arbeitnehmerschutzrecht kommt daher als Wesensmerkmal gerade zu, dass der Gesetzgeber bei seinen Festlegungen einen angemessenen Ausgleich zwischen den von ihm ge678 Vgl. auch Däubler, in: ders., TVG, Einl. Rn. 136; Wiedemann, in: ders., TVG, Einl. Rn. 395. 679 Hanau, ZIP 1996, 447.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
schützten Grundrechtspositionen der Arbeitnehmer und den beeinträchtigten grundrechtlichen Schutzgütern der Koalitionen suchen muss. Ausreichend für die erste Stufe der Rechtfertigungsanforderungen eines Eingriffs in ein vorbehaltlos garantiertes Grundrecht ist allein die Verfolgung eines Schutzzwecks, der verfassungsrechtlich verankert ist. Dem identifizierten Rechtsgut von Verfassungsrang muss jedoch nicht bereits ein besonderes Gewicht zukommen. Diese Abwägung in Gestalt der Gewichtung des verfassungsrechtlich geschützten Rechtsguts und der Vergleich mit dem entgegenstehenden Verfassungsrechtsgut der Tarifautonomie findet erst auf der Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung statt. Auf ihr liegt daher auch das Schwergewicht, da sich eine geschützte Grundrechtsposition der Arbeitnehmerseite und damit kollidierendes Verfassungsrecht in der Regel finden lässt.680 Nur im Ausnahmefall kann sich im Hinblick auf einzelne arbeitnehmerschutzrechtliche Regelungen einmal das Fehlen eines verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunktes für den verfolgten staatlichen Zweck und damit eine Pflicht zur tarifdispositiven Regelung ergeben.681 2. Tarifdispositivität als Erforderlichkeitsfrage Löwisch und Rieble haben darauf hingewiesen, dass es sich bei der Frage nach der notwendigen Tarifdispositivität staatlicher Arbeitnehmerschutzregelungen um einen Aspekt der Erforderlichkeit handelt. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit sei stets zu fragen, ob der Gesetzgeber nicht als mildere Einschränkung der Tarifautonomie die Form tarifdispositiven Rechts wählen müsse.682 Im Vergleich zum (einseitig) zwingenden Arbeitnehmerschutzrecht lässt tarifdispositives Recht den Tarifvertragsparteien in jede Richtung offen, eine von der gesetzlichen Lösung abweichende Regelung zu treffen. Es stellt daher tatsächlich eine mildere Beeinträchtigung der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis dar, als ein zwingendes Gesetz.683 In dieser Allgemeinheit ist die Feststellung, die Entscheidung für die Tarifdispositivität einer gesetzlichen Regelung sei immer eine Frage der Erforderlichkeit, jedoch nicht richtig. Vielmehr ist zwischen Gesetzen zu differenzieren, die allein oder primär den Arbeitnehmerschutz intendieren, und solchen, die zugunsten eines dritten Ziels die sich gegenüber stehenden Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen in einen angemessenen Ausgleich bringen wollen. Für erstere, deren Ziel allein die Absicherung der Arbeitnehmer ist, stellt sich das tarifdispositive Recht stets als ein weniger gut geeignetes Mittel zur Zielerreichung des Arbeitnehmerschutzes dar, da es auch Abweichungen gestattet, die für die Arbeitnehmer nachteilig sind. So explizit Kempen, Festschrift für Schaub, S. 357, 361. Vgl. hierzu unten 3. Teil: § 8 A. III. 1. 682 Löwisch / Rieble, in: MüHBArbR, § 246 Rn. 59; dies., TVG, Grundl. Rn. 29. 683 Zu der Frage, ob auch von tarifdispositivem Recht selbst ein Eingriff ausgeht, vgl. oben 2. Teil: § 7 B. II. 680 681
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Für die zweite Gruppe besteht durchaus die Möglichkeit, dass die tarifdispositive Regelung das gesetzgeberische Ziel besser erreicht als eine zwingende Norm. Sie stellt für den Fall fehlender Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien eine gesetzliche Vorschrift bereit, erlaubt darüber hinaus jedoch den Tarifvertragsparteien die Vereinbarung spezieller Festlegungen für den Einzelfall. Nicht immer werden sich Bestimmungen des staatlichen Arbeitsrechts eindeutig in diese beiden Gruppen einordnen lassen. Die getroffene Unterscheidung kann jedoch als Richtlinie bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer gesetzlichen Regelung dienen. Hinsichtlich der Einschätzung des Gesetzgebers, inwieweit die jeweiligen Regelungen zur Zielerreichung geeignet sind, ist wiederum dessen Einschätzungs- und Prognosespielraum zu beachten. Ob seine Ansichten zur Zweckerreichung richtig sind, unterliegt nur einer eingeschränkten richterlichen Kontrolle. Je nachdem, ob sich die gesetzlichen Vorschriften im Bereich der arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten oder einem gleichermaßen zentralen Regelungsbereich bewegen,684 besteht diese eingeschränkte Kontrolle in einer Plausibilitätsprüfung der gesetzgeberischen Annahmen oder lediglich in einer Evidenzkontrolle.685 Ergibt die Prüfung, dass eine tarifdispositive Vorschrift für die Regelung der in Rede stehenden individuellen Arbeitsbedingungen, das gesetzgeberisch verfolgte Ziel gleichermaßen erreicht hätte, dann ist die Schaffung einer (einseitig) zwingenden Vorschrift ausgeschlossen und für den Gesetzgeber der Rückgriff auf die Form des tarifdispositiven Rechts geboten. 3. Tarifdispositivität als Frage der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Die Problematik einer Verpflichtung des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Rechts erschöpft sich nicht in der Erforderlichkeitsfrage. Selbst wenn eine zwingende gesetzliche Regelung im konkreten Fall erforderlich sein sollte, kann sie sich als unzumutbar für die beeinträchtigten Tarifvertragsparteien darstellen. In diesem Fall besteht für den Gesetzgeber nur noch die Möglichkeit, eine tarifdispositive Ausgestaltung seiner Regelung zu treffen, die in der konkreten Situation das von ihm verfolgte Ziel nicht gleichermaßen erreicht wie eine zwingende gesetzliche Regelung. Will der Gesetzgeber jedoch an der Regelung dieser Materie festhalten, steht ihm dazu nur noch das Mittel des tarifdispositiven Rechts zur Verfügung. Für den ersten Schritt der abstrakten Abwägung zwischen den beeinträchtigten Rechtsgütern ist der durch die vorbehaltlose Garantie der Koalitionsfreiheit zum Ausdruck kommende hohe Stellenwert der Tarifautonomie zu berücksichtigen. 684 Die Untersuchungen zur Verhältnismäßigkeit im allgemeinen haben ergeben, dass für den anzuwendenden Maßstab stets die Entscheidung im Einzelfall maßgeblich ist, vgl. oben, 2. Teil: § 7 C. I. 3. c) bb). 685 Vgl. dazu oben 2. Teil: § 7 C. I. 3. c) bb).
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
Dieser erste Befund hat aber nicht mehr als Indizcharakter. Entscheidender für die Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist vielmehr die Gesamtabwägung zwischen Eingriffsintensität und dem Nutzen, den der Gesetzgeber durch die zwingende Ausgestaltung für das von ihm verfolgte Schutzinteresse erzielt. Dabei erlangt die Wirkkraft des Grundrechtsschutzes aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG entscheidende Bedeutung. Für bestimmte Regelungsmaterien, insbesondere die arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten, ist sie besonders intensiv. Allerdings kann der Gesetzgeber eine Beeinträchtigung der tariflichen Befugnisse zur Arbeitszeitfestlegung durchaus vor Art. 9 Abs. 3 GG rechtfertigen, wenn die in diesem Bereich bestehende tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis nur in einem geringen Maß betroffen ist und einem wichtigen gesetzgeberischen Ziel gegenüber steht, das durch die getroffene staatliche Maßnahme optimal erreicht werden kann. Demgegenüber kann ein Eingriff in die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis auf einem weniger zentralen Gebiet verfassungswidrig sein, wenn er die tarifvertragliche Regelungsbefugnis in diesem Bereich massiv beeinträchtigt, sein Ziel wahrscheinlich nur unzureichend erfüllen wird und die verfolgten staatlichen Interessen nicht besonders vordringlich sind. Allerdings muss der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien einen ausreichend großen Regelungsspielraum belassen und sich bei einseitig zwingenden Arbeitnehmerschutzvorschriften auf einen vertretbaren Mindestschutz beschränken.686 Es geht jedoch zu weit, wenn Löwisch / Rieble687 daraus im Allgemeinen ein Abstandsgebot der gesetzlichen Mindestarbeitsbedingungen zu den geltenden Tarifvereinbarungen ableiten. Die Angemessenheit des gesetzlichen Schutzniveaus muss objektiv feststellbar sein und kann – das haben bereits die Untersuchungen zur Tarifüblichkeit als Kriterium für die Schutzintensität des Art. 9 Abs. 3 GG gezeigt – insbesondere nicht relativ zum tariflichen Schutzniveau bestimmt werden. Das hindert jedoch nicht daran, diesen Aspekt im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu berücksichtigen und in die Gesamtabwägung einfließen zu lassen. Für die Frage nach der Vereinbarkeit einer zwingenden gesetzlichen Regelung mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist allerdings ausschließlich relevant, inwieweit die Gewährleistung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis durch die zwingende gesetzliche Regelung beeinträchtigt wird. Auf Seiten der Koalitionen können daher nicht die Arbeitnehmerinteressen als beeinträchtigte Grundrechtspositionen in die Abwägung eingestellt werden. Diese Unterscheidung hat das Bundesverfassungsgericht nicht immer konsequent genug vorgenommen.688 Auf die Intensität des Grundrechtseingriffs wirkt sich auch die zeitliche Komponente der Geltungsdauer Löwisch / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 33. TVG, Grundl. Rn. 33. 688 Vgl. BVerfG vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 308 f.; dagegen ausdrücklich Dieterich, AuR 2001, 390, 392; ders., Anm. zu BVerfG vom 3. 4. 2001, AR-Bl. ES 1650, Nr. 21, S. 8; Dörner, NZA 1998, 561, 567. 686 687
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eines Gesetzes aus.689 Nicht relevant für die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist allerdings, dass ein Gesetz nach kurzer Zeit bereits wieder aufgehoben wurde.690 Bei der Beurteilung der gesetzgeberischen Einschätzungen ist stets eine ex ante Perspektive einzunehmen.691 Ergibt die Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, dass die zwingende Ausgestaltung einer arbeitsrechtlichen Regelung die Tarifvertragsparteien unverhältnismäßig stark belastet, dann ist dem Gesetzgeber die zwingende Normierung dieser Materie verwehrt und für eine Weiterverfolgung seiner Ziele steht ihm nur der Weg des tarifdispositiven Rechts offen.
IV. Staatliche Subsidiarität bei der Regelung materieller Arbeitsbedingungen Erkenntnisse zum Schutzumfang der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, insbesondere im Verhältnis zum staatlichen Gesetzgeber, lassen sich nach der in dieser Arbeit zugrunde gelegten Konzeption ausschließlich aus einer grundrechtsdogmatischen Betrachtung gewinnen. Dieser Ansatz steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der überwiegenden Ansicht im Schrifttum. Dennoch findet sich auch in aktuellen Stellungnahmen wiederholt die These von einer nur subsidiären Regelungszuständigkeit des staatlichen Gesetzgebers bei der Festlegung der materiellen Arbeitsbedingungen.692 Dies stellt nur auf den ersten Blick einen Widerspruch dar. Die grundrechtsdogmatische Betrachtung, in der hier vorgeschlagenen Form weist nämlich, wie abschließend gezeigt werden soll, zumindest im Ergebnis, Parallelen zu einer „Zuständigkeitsabgrenzung“ anhand des Subsidiaritätsgedankens auf. Dem Subsidiaritätsprinzip wird eine lange historische Tradition zugeschrieben.693 Wortwörtlichen Ausdruck hat es in Art. 5 Abs. 2 EGV gefunden, der vorsieht, dass die Gemeinschaft nur dann tätig wird, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können. Im Allgemeinen bedeutet Subsidiarität, dass eine übergeordnete Einheit nur dann zur Wahrnehmung bestimmter Aufgaben befugt ist, wenn sich nicht auf niedrigerer Stufe ebenso gute bzw. bessere Lösungsmöglichkeiten Wiedemann, Festschrift für Stahlhacke, S. 675, 690; ders., TVG, Einl. Rn. 150. So aber BVerfG vom 3. 4. 2001, BVerfGE 103, 293, 309. 691 Mit dieser Kritik insbesondere Dieterich, AuR 2001, 390, 393. 692 Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 66 ff. 693 Seinen Ursprung soll es in dem Gedanken der Sophrosyme, d. h. der weisen Selbstbeschränkung des Mächtigen bei der Ausübung seiner Macht haben. 1891 hat Papst Leo XIII. ähnliche Gedanken in seinem Rundschreiben „Rerum Novarum“ entwickelt. Papst Pius XI. hat den Begriff „subsidiär“ in der Enzyklika „Quadragesimo Anno“ von 1931 verwendet (vgl. zum Ganzen Andelewski, Staatliche Mindestarbeitsbedingungen, S. 57 Fn. 53; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 18 ff.; Küchenhoff, RdA 1959, 201, 202). 689 690
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
finden lassen.694 Demnach knüpft das Susbsidiaritätsprinzip an die Geeignetheit zur Wahrnehmung bestimmter Aufgaben an. Bei den in dieser Arbeit vorgenommenen grundrechtsdogmatischen Betrachtungen hat sich gezeigt, dass der Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG für die tarifvertragliche Regelung materieller Arbeitsbedingungen in den Gebieten am stärksten ist, für die sich die Tarifvertragsparteien als Regelungsinstanzen und der Tarifvertrag als Regelungsinstrument im Vergleich zur staatlichen Gesetzgebung am besten eignen. Einen solchen Vergleich legt auch der Subsidiaritätsgedanke zugrunde. Im Rahmen der Prüfung staatlicher Arbeitnehmerschutzgesetze am Maßstab des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG entscheidet die Eignung der Tarifvertragsparteien zur Herbeiführung des Interessenausgleichs zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung über die Strenge des anzuwendenden Prüfungsmaßstabs. Je geeigneter die Tarifpartner zur Schaffung eines interessengerechten Kompromisses sind, desto strengeren Zulässigkeitsanforderungen unterliegt eine gesetzliche Regelung vor dem Hintergrund des Grundrechts der Koalitionsfreiheit. Darüber hinaus erlangt die Frage nach der Eignung der Tarifvertragsparteien zur Lösung eines Interessenkonflikts im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsabwägung im engeren Sinne entscheidende Bedeutung für die Feststellung der Eingriffsintensität und wirkt sich somit auf die Anforderungen an das Gewicht der öffentlichen Interessen aus, die der Gesetzgeber dem Schutz der Koalitionsfreiheit entgegen zu setzen hat. Auch daraus ergibt sich die Regel, dass es für den Staat umso schwerer sein wird, eine gesetzliche Regelung vor der Grundrechtsgarantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu rechtfertigen, je geeigneter die Tarifpartner zur Herbeiführung einer eigenen Lösung sind. Aufgrund dieser Einbruchstellen im Rahmen der grundrechtsdogmatischen Verteilung der Zuständigkeitsbereiche zwischen staatlichem Gesetzgeber und den Tarifvertragsparteien, durch die der Subsidiaritätsgedanke gleichsam Einzug in die Grundrechtsprüfung findet, ist es in einem untechnischen Sinne durchaus legitim, von einer nur subsidiären Zuständigkeit des Gesetzgebers zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gegenüber den Tarifvertragsparteien zu sprechen.695 Denn in dem Umfang, in dem die Tarifpartner besser in der Lage sind, die Interessen ihrer Mitglieder wahrzunehmen, sind sie dem staatlichen Gesetzgeber gegenüber insoweit vorrangig, dass sie einen besonders intensiven vorbehaltlosen Grundrechtsschutz genießen und der Staat für eigene Gesetzgebungsvorhaben in Rechtfertigungszwang gerät. Dabei darf allerdings niemals aus den Augen verloren werden, dass es sich nicht um die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen zwei gleichgeordneten Normgebern handelt, sondern um die Lösung eines Grundrechtskonflikts.696 694 Jakobs, Verhältnismäßigkeit, S. 97; Herzog, Staat 2 (1963), S. 399, 401; zur rechtlichen Verbindlichkeit dieses Prinzips überhaupt: Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 149 ff. 695 So Kempen, RdA 1994, 140, 147. Zu den Zusammenhängen zwischen Übermaßverbot und Subsidiaritätsprinzip, Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 91 f.
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D. Zusammenfassung Staatliches Arbeitnehmerschutzrecht nimmt inhaltlich die Entscheidung über die Ausgestaltung bestimmter materieller Arbeitsbedingungen vorweg und entzieht dadurch die betroffenen Regelungsgegenstände dem gestaltenden Zugriff der Tarifvertragsparteien. Es führt daher zu einem Grundrechtseingriff in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, der auch die Tarifautonomie umfasst. Demgegenüber stellt tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht trotz seiner negativen Auswirkungen auf den tariflichen Verhandlungs- und Einigungsprozess keinen Eingriff in die grundrechtlich garantierte Tarifautonomie dar. Der Gesetzgeber kann den Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG durch einseitig zwingende Arbeitnehmerschutzvorschriften rechtfertigen, wenn er seine staatliche Maßnahme auf kollidierendes Verfassungsrecht stützt und die Grenzen des Verhältnismäßigkeitsprinzips wahrt. Dieser Maßstab gilt nur, soweit die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte nicht durch zwingende Vorgaben des Gemeinschaftsrechts relativiert ist. Setzt die staatliche Maßnahme europarechtliche Vorschriften um, ohne dass dem Gesetzgeber ein Ermessenspielraum oder Wahlrechte eingeräumt waren, scheidet eine Überprüfung des Umsetzungsakts an den nationalen Grundrechten aus. Die Wirkkraft des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG für die Tarifautonomie ist für die unterschiedlichen tariflichen Regelungsmaterien unterschiedlich intensiv. Dies führt jedoch nicht dazu, dass sich abstrakt ein Kreis von Regelungsgegenständen identifizieren lässt, den der staatliche Gesetzgeber nur tarifdispositiv normieren dürfte. Vielmehr kann sich eine Pflicht zur tarifdispositiven Regelung nur im Einzelfall ergeben. Dem Gesetzgeber kommt auf dem Gebiet des Arbeits-, Sozial- und Wirtschaftsrechts ein weiter Gestaltungs- und Einschätzungsspielraum zu. Dieser führt zu einer Lockerung des Prüfungsmaßstabs im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Die Anforderungen an den Gesetzgeber wachsen jedoch mit der zunehmenden Schutzintensität durch die Grundrechtsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Sie nimmt in dem Maße zu, in dem sich die Tarifpartner besser zum Interessenausgleich zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite eignen. Institutionell sind die Tarifvertragsparteien und instrumentell der Tarifvertrag im Bereich der arbeitsvertraglichen Hauptpflichten zu angemesseneren Regelungen in Lage als die staatliche Gesetzgebung. Für die staatlichen Bestimmungen im Bereich des Arbeitsentgelts und der Arbeitszeit gelten daher im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung die strengeren Anforderungen einer Vertretbarkeitskontrolle der gesetzgeberischen Einschätzungen und Entscheidungen, während für die übrigen ar- beitsrechtlichen Bereiche eine Evidenzkontrolle Anwendung findet. 696 Vgl. allgemein zur strikten Unterscheidung zwischen Verhältnismäßigkeitsprüfung und Subsidiaritätsprinzip Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 201.
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2. Teil: Verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie
Eine Pflicht zur tarifdispositiven Gestaltung staatlicher Regelungsvorhaben ergibt sich in diesem Zusammenhang zum einen, wenn sich für die zwingende gesetzliche Festlegung kein verfassungsrechtlich fundierter Schutzzweck identifizieren lässt, und zum anderen, wenn eine tarifdispositive Vorschrift das gesetzgeberische Ziel gleichermaßen erreicht, also nicht erforderlich im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist. Darüber hinaus ist der Gesetzgeber zur Wahl einer tarifdispositiven Lösung verpflichtet, wenn die (einseitig) zwingende gesetzliche Festlegung die Tarifautonomie vor dem Hintergrund des staatlichen Regelungszwecks unangemessen stark beeinträchtigt und daher unverhältnismäßig ist.
3. Teil
Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse auf ausgewählte Bereiche des Arbeitnehmerschutzrechts Die verfassungsrechtlichen Vorgaben für das Verhältnis zwischen grundrechtlich geschützter tarifvertraglicher Normsetzungsbefugnis und tarifdispositiver Ausgestaltung des Arbeitnehmerschutzrechts sollen im Folgenden auf einige Regelungskomplexe des Arbeitnehmerschutzrechts angewandt werden. Es hatte sich bereits gezeigt, dass tarifdispositive Vorschriften selbst zwar nicht vollkommen unbeachtlich im Hinblick auf eine Beeinträchtigung der kollektiven Koalitionsbetätigungsfreiheit in Gestalt der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis sind, dass sie jedoch nur mittelbare Auswirkungen auf den grundrechtlichen Schutzbereich haben. Der Gesamtumfang des tarifdispositiven Rechts im Zusammenspiel mit den zwingenden gesetzlichen Regelungen erreicht derzeit noch kein Maß, das zu einer negativen Beeinflussung der tariflichen Verhandlungen führt. Daher konstituiert tarifdispositives Recht keinen Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG. Lediglich die zwingende Ausgestaltung gesetzlicher Mindestarbeitsbedingungen stellt unmittelbar eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG dar. Für ausgewählte Bereiche des Arbeitnehmerschutzrechts soll im Folgenden exemplarisch anhand konkreter Regelungsfragen, die im Interesse der Tarifvertragsparteien stehen, untersucht werden, inwieweit die derzeitige zwingende bzw. tarifdispositive Ausgestaltung arbeitnehmerschützender gesetzlicher Vorschriften mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG vereinbar ist.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse Im Folgenden sollen die verfassungsrechtlichen Untersuchungsergebnisse auf ausgewählte Arbeitnehmerschutzvorschriften angewendet werden. Gegenstand der Betrachtungen ist dabei zum einen, ob der Gesetzgeber hinsichtlich existierender einseitig zwingender staatlicher Arbeitsbedingungen verpflichtet ist, eine tarifdispositive Gestaltungsform zu wählen. Zum anderen wird die Anwendung der Gesetze durch die Rechtsprechung anhand Art. 9 Abs. 3 GG zu prüfen sein. In diesem Zusammenhang können die im ersten Teil der Arbeit zunächst auf einfachrechtlicher Basis gezogenen Grenzen der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnisse auf ihre Vereinbarkeit mit der verfassungsrechtlichen Garantie überprüft und so die Frage nach der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Verbots mittelbarer Ein-
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
griffe in zwingende Arbeitnehmerschutzvorschriften durch die Abweichung von tarifdispositivem Recht beantwortet werden.1 Ergibt die Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse, dass die zwingende staatliche Vorgabe bestimmter materieller Arbeitsbedingungen nicht zulässig ist, ist mittels einer verfassungskonformen Auslegung die Tarifdispositivität der staatlichen Regelung anzunehmen. Insoweit ergibt sich unter Umständen ein neuer Anwendungsbereich für die Figur des verdeckt tarifdispositiven Rechts.2 Besteht die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung nicht, da der Wortlaut entgegensteht, kann die Gesetzeslage nur de lege ferenda an die verfassungsrechtlichen Vorgaben angepasst werden. Maßgeblich für die Beurteilung einer Pflicht zur Tarifdispositivität ist, ob der durch eine einseitig zwingende gesetzliche Regelung bestimmter Mindestarbeitsbedingungen bewirkte Eingriff in die Tarifautonomie vor Art. 9 Abs. 3 GG gerechtfertigt werden kann. Dazu muss der Gesetzgeber den Schutz eines Rechtsguts von Verfassungsrang bezwecken. Die gesetzliche Vorschrift muss zur Erreichung dieses Zwecks geeignet und erforderlich sowie im Hinblick auf die für die Tarifautonomie beeinträchtigende Wirkung verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Exemplarisch soll diese Untersuchung für Regelungsfragen aus dem Kündigungsschutzrecht, dem Urlaubsrecht, dem Arbeitszeitrecht, dem Entgeltfortzahlungsrecht sowie für die derzeit diskutierte Einführung gesetzlicher Mindestentgelte vorgenommen werden.
A. Staatliches Kündigungsschutzrecht und Tarifautonomie An dieser Stelle können nicht alle derzeit existierenden Kündigungsschutzvorschriften auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin übeprüft werden. Vielmehr soll anhand ausgewählter Regelungsfragen, an denen die Tarifvertragsparteien ein gesteigertes Interesse haben, untersucht werden, ob die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu vereinbaren sind oder ob die Grundrechtsgarantie deren Tarifdispositivität fordert.
I. Staatliches Kündigungsschutzrecht und tarifvertragliches Regelungsinteresse Im Kündigungsschutzrecht ist ausschließlich die Festlegung der Kündigungsfristen gemäß § 622 Abs. 4 S. 1 BGB zur Disposition der Tarifvertragsparteien gestellt. Die umfassend angeordnete Tarifdispositivität des § 622 Abs. 1 bis 3 BGB stellen einige Autoren jedoch in Frage.3 Die Auslegungsregel der Rechtsprechung, 1 2 3
Vgl. oben 1. Teil: § 3 C. Vgl. oben 1. Teil: § 2 A. III. 3. Vgl. oben, 1. Teil: § 3 C. I. 2.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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nach der bei inhaltlicher Übereinstimmung einer tarifvertraglichen Regelung mit dem Gesetz im Zweifel eine nur deklaratorische Tarifvertragsbestimmung vorliegen soll, schränkt zusätzlich die Möglichkeiten der Tarifvertragsparteien ein, den durch das tarifdispositive Recht eröffneten Spielraum zu nutzen.4 Über § 622 Abs. 4 S. 1 BGB hinaus sehen die gesetzlichen Regelungen keine tariflichen Abweichungen vor. Insbesondere die Beschlüsse des 65. Deutschen Juristentages sowie die von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände erhobenen Forderungen zur Flexibilisierung des Kündigungsschutzrechts5 zeigen jedoch, dass Bedarf für abweichende Regelungen besteht. Insbesondere die zwingende gesetzliche Festlegung der Schwellenwerte in § 23 Abs. 1 KSchG, der Wartezeit für das Eingreifen des Kündigungsschutzgesetzes in § 1 Abs. 1 KSchG sowie der Kriterien für die Sozialauswahl (§ 1 Abs. 3 S. 1 KSchG) stehen im Mittelpunkt der Kritik.6 Die Alternativvorschläge fordern, die Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG von derzeit 6 Monaten auf 247 bzw. 36 Monate8 anzuheben. In § 23 Abs. 1 KSchG soll der Schwellenwert von derzeit 10 auf 20 Arbeitnehmer erhöht werden.9 Schließlich fordert die Arbeitgeberseite, dass die in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG verankerten Kriterien zur Sozialauswahl auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltsverpflichtungen beschränkt werden.10 Statt den gesetzlichen Schutzstandard entsprechend diesen Forderungen herabzusetzen, bietet sich für die Flexibilisierung des staatlichen Kündigungsschutzes die Figur des tarifdispositiven Rechts an,11 die wenigstens den Tarifvertragsparteien ermöglicht, die gesetzlichen Vorschriften an die Besonderheiten des EinzelVgl. oben, 1. Teil: § 3 B. II. 1. BDA, 9 Thesen für eine moderne Arbeitsmarktverfassung, Nr. 1; BDA, Bürokratieabbau jetzt!, S. 15 ff. 6 Beschlüsse des 65. DJT, B. 4. und 5., S. 8; Junker, Gutachten B zum 65. DJT, B 46 ff.; BDA, 9 Thesen für eine moderne Arbeitsmarktverfassung, Nr. 1; BDA, Bürokratieabbau jetzt!, S. 15 f. 7 BDA, 9 Thesen für eine moderne Arbeitsmarktverfassung, Nr. 1; Bauer, NZA 2002, 529, 530; kritisch dazu Thüsing, NJW 2004, 2576, 2577. 8 Beschlüsse des 65. DJT, B. 5., S. 8; BDA, Bürokratieabbau jetzt!, S. 15 f. 9 Beschlüsse des 65. DJT, B. 4., S. 8; BDA, 9 Thesen für eine moderne Arbeitsmarktverfassung, Nr. 1; BDA, Bürokratieabbau jetzt!, S. 16; Entwurf der FDP-Fraktion eines Gesetzes zur beschäftigungswirksamen Änderung des Kündigungsschutzgesetzes, vom 17. 11. 1998, BT-Drucks. 14 / 44; Junker, Gutachten B zum 65. DJT, B 71; für eine Anknüpfung an das Unternehmen mit einem Schwellenwert von 20 Arbeitnehmern Bauer, NZA 2002, 529, 531, 533; Gesetzesantrag des Freistaates Bayern, BR-Drucks. 701 / 03. 10 BDA, Bürokratieabbau jetzt!, S. 16; BDA 9 Thesen für eine moderne Arbeitsmarktverfassung, Nr. 1; Bauer, NZA 2002, 529, 533; Jahresgutachten 2003 / 04 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Nr. 695, BT-Drucks. 15 / 2000, S. 390. 11 So bereits P. Hanau, Gutachten C zum 63. DJT, S. C 63; für eine dispositive Gestaltung Junker, Gutachten B zum 65. DJT, B 73, hinsichtlich der Wartezeit des § 1 Abs. 1 KSchG. 4 5
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
falls anzupassen. Das dabei bestehende Spannungsverhältnis zwischen staatlichem und tariflichem Regelungsinteresse wird an der aus dem Jahre 1984 stammenden Stellungnahme der Bundesregierung zu dem ILO-Abkommen Nr. 154 deutlich. Die zu diesem Zeitpunkt CDU / CSU-geführte Bundesregierung ging davon aus, dass unter anderem für das Kündigungsschutzrecht eine ausschließlich tarifdispositive Regelung nicht in Frage komme.12 Aus diesem Grund lehnte sie die Ratifizierung des Abkommens ab.13 Eine Pflicht zur Tariföffnung der gesetzlichen Regelung ergibt sich allerdings nur, wenn die einseitig zwingende Festlegung im Gesetz einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG darstellt. Indem der Gesetzgeber einseitig zwingend vorgibt, dass der allgemeine Kündigungsschutz spätestens nach einer Wartezeit von 6 Monaten eingreifen muss, dass bei einer betriebsbedingten Kündigung im Rahmen der Sozialauswahl zwingend bestimmte Kriterien zu berücksichtigen sind und dass die kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften in Betrieben mit mehr als 10 Arbeitnehmern uneingeschränkt Anwendung zu finden haben, entzieht er insoweit den Tarifvertragsparteien die eigene unabhängige Regelungsbefugnis und greift dadurch in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ein. Im Folgenden ist daher zu untersuchen, ob sich diese Eingriffe rechtfertigen lassen. Gleichzeitig ist die einschränkende Auslegung des bereits tarifdispositiv gestalteten § 622 Abs. 4 S. 1 BGB auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu überprüfen.
II. Tarifdispositivität des § 1 Abs. 1 und 3 S. 1 sowie des § 23 Abs. 1 KSchG Führt die zwingende gesetzliche Regelung zu einer Verletzung der verfassungsrechtlichen Garantie der Tarifautonomie, dann muss der Gesetzgeber eine tarifdispositive Regelung vornehmen. Bei einer entsprechenden Offenheit des Wortlauts sind die gegen Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verstoßenden Vorschriften verfassungskonform auszulegen und wären dann verdeckt tarifdispositiv. Lässt der Wortlaut eine derartige Auslegung nicht zu, kann die Tarifdispositivität nur de lege ferenda herbeigeführt werden. 1. Prüfungsgegenstand und Prüfungsmaßstab Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist verletzt, wenn sich der Gesetzgeber für eine einseitig zwingende Regelung nicht auf ein Schutzgut von Verfassungsrang stützen kann 12 Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Übereinkommen Nr. 154 der ILO, BTDrucks. 10 / 2124, S. 10. 13 Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Übereinkommen Nr. 154 der ILO, BTDrucks. 10 / 2124, S. 9.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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bzw. die gesetzliche Bestimmung nicht geeignet, erforderlich oder in Bezug zur Tarifautonomie verhältnismäßig im engeren Sinne ist. Die verfassungsrechtliche Untersuchung wird vorliegend nur im Hinblick auf die Tarifautonomie vorgenommen. Die darüber hinaus gehende Frage, ob der Gesetzgeber auch die übrigen Grundrechte ausreichend berücksichtigt hat, würde den Rahmen dieser Arbeit übersteigen. Für die Überprüfung der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ergeben sich aus der Begrenzung des Prüfungsgegenstandes keine Änderungen. Hinsichtlich der Erforderlichkeit kommt es bei der Frage, ob der Gesetzgeber wegen Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu einer verstärkt tarifdispositiven Regelung verpflichtet ist, nur darauf an, ob die naturgemäß für die Tarifautonomie weniger beeinträchtigende tarifdispositive gesetzliche Festlegung das gesetzgeberische Ziel ebenso effektiv erreicht wie eine einseitig zwingende Bestimmung. Denn nur in diesem Fall wäre die zwingende Regelung nicht erforderlich und der Gesetzgeber zu einer tarifdispositiven Gestaltung verpflichtet.14 Neben dem begrenzten Prüfungsgegenstand sind für die Grundrechtsprüfung anhand von Art. 9 Abs. 3 GG auch Besonderheiten beim Prüfungsmaßstab zu beachten. Der Gesetzgeber hat bei der Regelung im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zudem einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum.15 Die verfassungsrechtlichen Untersuchungen im zweiten Teil haben ergeben, dass je nach der beeinträchtigten tariflichen Regelungsmaterie unterschiedliche Prüfungsmaßstäbe für die Untersuchung anzuwenden sind, ob der Gesetzgeber sich innerhalb der durch den Gestaltungsspielraum vorgegebenen Grenzen gehalten hat.16 Insbesondere wenn der Gesetzgeber Materien zwingend gesetzlich regelt, die Gegenstand der arbeitsvertraglichen Hauptpflichten sind, ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine strengere Vertretbarkeits- und nicht lediglich eine Evidenzkontrolle im Hinblick auf die Prognose- und Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers anzuwenden.17 Bei der Normierung des Kündigungsschutzrechts sind die arbeitsvertraglichen Hauptpflichten nicht betroffen. Das schließt jedoch die Maßgeblichkeit der strengeren Vertretbarkeitskontrolle nicht aus. Die Regel, dass bei Festlegungen im Bereich des arbeitsvertraglichen Synallagmas der Überprüfungsmaßstab strenger wird, hat lediglich Indizcharakter. Letztendlich sind für die Entscheidung die Umstände des Einzelfalls maßgeblich. Der staatliche Kündigungsschutz regelt Fragen des Bestands des Arbeitsverhältnisses. Festlegungen in dieser Hinsicht haben für die Arbeitsvertragsparteien essentielle Bedeutung. Darüber hinaus bezieht sich der staatliche Kündigungsschutz auf alle Branchen, so dass die tarifvertragliche Regelungsbefugnis flächendeckend beeinträchtigt wird. Der gesetzgeberische Eingriff 14 15 16 17
Vgl. oben 2. Teil: § 7 C. III. 2. Vgl. oben 2. Teil: § 7 C. I. 3 c) bb). Vgl. oben 2. Teil: § 7 C. II. 3. b). Vgl. dazu oben 2. Teil: § 7 C. II. 3 b).
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
ist daher verhältnismäßig intensiv. Für die Überprüfung staatlicher Bestandsschutzregelungen ist folglich der strengere Maßstab der Vertretbarkeitskontrolle anzuwenden. Dies führt dazu, dass die Prognosen und Einschätzungen des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar gewesen sein müssen und sich die Verfassungswidrigkeit nicht erst bei einer offensichtlichen gesetzgeberischen Fehleinschätzung ergibt.18 2. Keine Relativierung des Grundrechtsschutzes aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben Bei der Grundrechtsprüfung sind allerdings gemeinschaftsrechtliche Bindungen des Gesetzgebers zu beachten, die diesen unter Umständen zu einer zwingenden gesetzlichen Regelung verpflichtet haben. Diese Relativierung des deutschen Grundrechtsschutzes durch Rechtsakte der Europäischen Union schließt eine Prüfung bestimmter gesetzlicher Regelungen an Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG aus, wenn der Gesetzgeber im Hinblick auf die Vorschrift keinen Regelungsspielraum hatte.19 Im Hinblick auf die Schwellenwerte zum Eingreifen des Kündigungsschutzgesetzes, die Wartezeit und die Festlegung der Kriterien zur Sozialauswahl bestehen keine gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben an den deutschen Gesetzgeber. Bis auf die Massenentlassungsrichtlinie, RL 98 / 59 / EG, vom 20. 7. 1998,20 welche die Vorgängerregelungen der Richtlinien RL 75 / 129 / EWG, vom 17. 2. 1975,21 und RL 92 / 56 / EWG, vom 24. 6. 1992,22 ablöste, beruht der allgemeine arbeitsrechtliche Bestandsschutz durch das Kündigungsschutzgesetz nicht auf Rechtsakten der Europäischen Union, zu deren Umsetzung der bundesrepublikanische Gesetzgeber verpflichtet war. Die zwingenden Regelungen in § 1 Abs. 1 und Abs. 3 S. 1 sowie § 23 Abs. 1 KSchG können daher umfassend an Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gemessen werden. 3. Schutzgut von Verfassungsrang Die zwingende gesetzliche Festlegung der Schwellenwerte und der Wartezeit für das Eingreifen des Kündigungsschutzgesetzes sowie der Kriterien für die Sozialauswahl muss, um den Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG23 rechtfertigen zu können, von einem gesetzgeberischen Ziel getragen werden, das entweder in dem Schutz von Grundrechtspositionen Dritter oder anderer Rechtswerte von Verfassungsrang 18 19 20 21 22 23
Vgl. dazu oben 2. Teil: § 7 C. I. 3. c) bb). Vgl. oben 2. Teil: § 7 C. I. 3. a). ABl. EG 1998 Nr. L 225, vom 12. 8. 1998, S. 16. ABl. EG 1975 Nr. L 48, vom 22. 2. 1975, S. 29. ABl. EG 1992 Nr. L 245, vom 26. 8. 1992, S. 3. Vgl. dazu oben 2. Teil: § 7 B. I.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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besteht.24 Die gesetzlichen Bestimmungen in § 1 Abs. 1, § 1 Abs. 3 S. 1 und § 23 Abs. 1 S. 1 KSchG bezwecken wie die Einführung der übrigen Vorschriften des allgemeinen Kündigungsschutzes, den Arbeitnehmern den Bestand des Arbeitsverhältnisses als wirtschaftliche und soziale Existenzgrundlage zu sichern. Im Unterschied zu den im Betriebsrätegesetz aus dem Jahre 1920 verankerten Kündigungsschutzvorschriften, die in erster Linie einen flankierenden Schutz für die Wahrnehmung und Ausübung betrieblicher Rechte darstellten,25 soll der allgemeine, bundesweit einheitliche Kündigungsschutz durch das Kündigungsschutzgesetz einen umfassenden Bestandsschutz konstituieren.26 Durch die Schaffung dieses Kündigungsschutzrechts kommt der Gesetzgeber zugleich seinem im Sozialstaatsprinzip wurzelnden Gesetzgebungsauftrag zum Ausgleich der sozialen Gegensätze und zur Schaffung einer gerechten Sozialordnung nach.27 Daneben tritt die dem Staat durch das in Art. 12 Abs. 1 GG verankerte Grundrecht der Berufsfreiheit in seiner Funktion als objektive Wertentscheidung der Verfassung auferlegte Schutzpflicht gegenüber den Arbeitnehmern. Diese gibt dem Staat die Bereitstellung eines gewissen Maßes an Bestandsschutz für das Arbeitsverhältnis auf.28 In dieser Pflicht äußert sich zudem der Schutz der Menschenwürde des Einzelnen.29 Dementsprechend bezeichnet auch der Regierungsentwurf aus dem Jahr 1951 als Schutzgut des Kündigungsschutzgesetzes den Arbeitsplatz und die Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers, welche die Grundlage seiner wirtschaftlichen und sozialen ExisVgl. dazu oben 2. Teil: § 7 C. I. 3. Vgl. § 84 BRG, dazu Flatow / Kahn-Freund, BRG, § 84 IV., S. 443, § 84 sei nicht nur dazu bestimmt, für den Gekündigten eine Garantie gegen eine sozial und wirtschaftlich ungerechtfertigte Entziehung seiner Existenzgrundlage zu schaffen, sondern auch der durch die Betriebsvertretung repräsentierten Belegschaft die Gewähr zu bieten, dass willkürliche Änderungen in der Zusammensetzung der Belegschaft unterblieben. Für § 96 BRG, der ein Zustimmungsrecht zur Kündigung eines Betriebsratsmitglieds vorsah, versteht sich der flankierende Schutzcharakter von selbst. 26 Zuvor waren bereits in verschiedenen Ländergesetzen Kündigungsschutzregelungen vorhanden. Der Entwurf des Wirtschaftsrats für ein Kündigungsschutzgesetz wurde nicht genehmigt. Daraufhin erarbeiteten die Sozialpartner den so genannten Hattenheimer Entwurf (vgl. RdA 1950, 63 ff.), dem ein Regierungsentwurf folgte (vgl. RdA 1951, 58 ff.), welcher 1951 als Gesetz in Kraft trat und nur wenige Änderungen erfahren hat. 27 BVerfG vom 13. 1. 1982, BVerfGE 59, 231, 266; Fiebig, in: ders. / Gallner / Giebeling / Mestwerdt / Nägele / Pfeiffer, KSchG, § 1 Rn. 1; ebenso jüngst die Bundesregierung, Antwort auf die kleine Anfrage zum Wandel der Arbeitswelt und Modernisierung des Arbeitsrechts, BT-Drucks. 15 / 2932, S. 5; Stelljes, Grundlage und Reichweite des allgemeinen Kündigungsschutzes, S. 98 ff., und Kehrmann, AiB 1995, 746, ziehen das Sozialstaatsprinzip als alleinige Grundlage des allgemeinen Kündigungsschutzes heran. 28 BVerfG vom 27. 1. 1998, BVerfGE 97, 169, 176 f.; vom 24. 4. 1991, BVerfGE 84, 133, 147; vom 21. 2. 1995, BVerfGE 92, 140, 150; Canaris, Anm. zu BVerfG vom 7. 2. 1990, AP Nr. 65 zu Art. 12 GG; ders., Grundrechte und Privatrecht, S. 82; Fiebig, in: ders. / Gallner / Giebeling / Mestwerdt / Nägele / Pfeiffer, KSchG, § 1 Rn. 1; Oetker, AuR 1997, 41, 50 f.; ders., RdA 1997, 9, 15 ff.; Papier, DVBl. 1984, 801, 813, allerdings ohne den Gesetzgeber zum Erlass bestimmter Normen zu verpflichten; Richardi, in: MüHBArbR, § 10 Rn. 13 f., 61; kritisch: Isensee, HBStR V, § 111 Rn. 129 ff. 29 Kittner, in: Kittner / Däubler / Zwanziger, KSchR, Einleitung Rn. 10. 24 25
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
tenz bilden.30 Das mit den Vorschriften zur Sozialwidrigkeit von Kündigungen verfolgte gesetzgeberische Ziel findet seine Grundlage daher in den Verfassungsgarantien des Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG.31 Diese konkretisieren zugleich den aus dem in Art. 20 GG verankerten Sozialstaatsprinzip fließenden Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber.32 Die Regelungen zu Schwellenwerten und zur Wartezeit in § 1 Abs. 1 und § 23 Abs. 1 KSchG beziehen sich nicht unmittelbar auf den arbeitsrechtlichen Bestandsschutz. Sie dienen in erster Linie der Wahrung von Arbeitgeberinteressen. Sie sollen sich von Arbeitnehmern, die erst kurze Zeit Teil der Belegschaft sind, relativ unkompliziert wieder trennen können. Im Hinblick auf die ausreichende verfassungsrechtliche Legitimation müssen die Regelungen des Kündigungsschutzgesetzes jedoch als Einheit betrachtet werden. Mit der alleinigen gesetzlichen Normierung eines Kündigungsschutzes, der eine arbeitgeberseitige Kündigung nur bei Vorliegen von Kündigungsgründen zulässt, ist das gesetzgeberische Anliegen, den Arbeitnehmern einen ausreichenden Bestandsschutz zur Verfügung zu stellen, nicht erreicht. Es werden auch Regelungen zur Umsetzung dieses Ziels benötigt, die eher formalen Charakter tragen. Solche zwingend ausgestalteten Regelungen stellen die §§ 1 Abs. 1 S. 1 und 23 Abs. 1 KSchG dar. Mit ihnen gleicht der Gesetzgeber das Bestandsinteresse der Arbeitnehmer und das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers aus, welche Art. 12 Abs. 1 GG gleichermaßen verfassungsrechtlich schützt.33 Die einseitig zwingende Festlegung der Höchstwartezeit und maximalen Schwellenwerte verhindert jedoch gleichzeitig zum Nachteil der Arbeitnehmer vom Gesetz abweichende autonome Abmachungen, die den Bestandsschutz, beispielsweise durch eine Verlängerung der Wartzeit oder eine Anhebung der Schwellenwerte, beeinträchtigen würden. Daher sind auch diese eher technischen Regelungen von dem eingangs beschriebenen Schutzziel des Art. 12 Abs. 1 GG in Form eines Bestandsschutzes für die Arbeitnehmer gedeckt und dadurch verfassungsrechtlich legitimiert.
30 Entwurf eines Bundeskündigungsschutzgesetzes, in: RdA 1951, 58, 63; zur Kritik an dieser Begründung des Kündigungsschutzes mit dem Vorschlag den Kündigungsschutz als Flankenschutz für die Ausübung betrieblicher Rechte und Freiheiten zu begreifen, vgl. Reuter, in: Festschrift für Wiedemann, S. 449, 458; Bestätigung der existentiellen Bedeutung des Kündigungsschutzes jüngst durch die Bundesregierung, Antwort auf die kleine Anfrage zum Wandel der Arbeitswelt und Modernisierung des Arbeitsrechts, BT-Drucks. 15 / 2932, S. 5. 31 Blanke, AuR 2003, 401. 32 Zu der Problematik, dass das Sozialstaatsprinzip zumindest für das Arbeitnehmerschutzrecht keinen eigenständigen Rechtswert von Verfassungsrang bildet, vgl. oben 2. Teil: § 7 C. I. 3. b) bb). 33 K. Gamillscheg, Beendigung des Arbeitsverhältnisses, S. 41; Oetker, RdA 1997, 9, 11 f.; Urban, Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 52.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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4. Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG sind zwingende kündigungsschutzrechtliche Vorschriften und damit der Ausschluss der grundsätzlich ebenfalls eröffneten tarifvertraglichen Regelungsbefugnis nur dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn die einseitig zwingende Festlegung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt, d. h. geeignet, erforderlich und im Hinblick auf ihre für die Tarifautonomie beeinträchtigende Wirkung verhältnismäßig im engeren Sinne ist. a) Geeignetheit An die Geeignetheit einer gesetzlichen Regelung sind keine übermäßig strengen Anforderungen zu stellen. Sie liegt bereits vor, wenn die gesetzliche Regelung das mit ihr verfolgte Ziel fördert. Das in § 1 Abs. 1 KSchG ausgesprochene Verbot, dem Arbeitnehmer den allgemeinen gesetzlichen Kündigungsschutz erst nach einer längeren Wartezeit als 6 Monaten zur Verfügung zu stellen, fördert das gesetzgeberische Ziel, die Arbeitnehmer mit einem angemessenen Bestandsschutz auszustatten. Gleichermaßen fällt auch die Beurteilung der in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG aufgestellten Kriterien für die Sozialauswahl aus. Deren zwingende Festschreibung stellt die Berücksichtigung der besonderen Lebensumstände und Verhältnisse der Arbeitnehmer sicher, die sich auf ihr Bestandsinteresse auswirken, und fördert damit ebenfalls das gesetzgeberische Ziel. Schließlich kann auch für die zwingende Fixierung der Kleinbetriebsklausel nichts anderes gelten. Sie verhindert, dass Betriebe mit mehr als 10 Arbeitnehmern sich dem gesetzlich vorgesehenen allgemeinen Kündigungsschutz entziehen können und fördert so gleichermaßen die Bereitstellung eines angemessenen Bestandsschutzes für die dort beschäftigten Arbeitnehmer. An der Eignung der einseitig zwingend ausgestalteten §§ 1 Abs. 1, 1 Abs. 3 und 23 Abs. 1 KSchG ergeben sich daher keine Zweifel. b) Erforderlichkeit Erforderlich ist die gesetzliche Regelung, wenn sich das gesetzgeberische Ziel nicht gleichermaßen auf einem für die Tarifautonomie weniger beeinträchtigenden Weg erreichen lässt. Die Erforderlichkeitsprüfung beinhaltet bei der Beantwortung der Frage nach einer Pflicht des Gesetzgebers zur Tarifdispositivität der §§ 1 Abs. 1 und Abs. 3 sowie 23 Abs. 1 KSchG daher nur die Frage, ob die für die Tarifautonomie weniger belastende tarifdispositive Ausgestaltung dieser Vorschriften das gesetzgeberische Ziel gleichermaßen gut erreicht.34 Da die einseitig zwingenden Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes hier nur anhand der verfassungsrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis gemessen werden, haben 34
Vgl. oben 3. Teil: § 8 A. II. 1.; grundlegend oben 2. Teil: § 7 C. III. 2.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
für die Erforderlichkeitsprüfung die Beeinträchtigung von Arbeitgeberinteressen sowie beschäftigungspolitische Aspekte außen vor zu bleiben. Ziel der kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften ist die Bereitstellung eines Bestandsschutzes für die Arbeitnehmer. Dieser ist naturgmäß weniger effizient, wenn er erst nach einer längeren Wartezeit als 6 Monaten einsetzt, weniger als die in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG vorgesehenen Kriterien für die Sozialauswahl erfasst und erst in Betrieben einsetzt, die beispielsweise mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigen. Da die tarifdispositive Gestaltung der genannten Vorschriften jedoch die Möglichkeit beinhaltet, dass die Tarifvertragsparteien von der gesetzlichen Festlegung zum Nachteil der Arbeitnehmer abweichen können, stellt die Tarifdispositivität dieser Regelungen gegenüber ihrer einseitig zwingenden Gestaltung kein gleichermaßen effektives Mittel zur Zielerreichung dar. Demgemäß ist die einseitig zwingende Regelung erforderlich. Dass das tarifdispositive Recht das gesetzgeberische Ziel nicht gleichermaßen erreicht, wie eine zwingende Regelung, folgt allerdings nicht bereits daraus, dass die Tarifvertragsparteien von staatlicher Seite nicht zu einer Regelung gezwungen werden können. Treffen die Tarifvertragsparteien keine von den gesetzlichen Vorschriften abweichenden Vereinbarungen, dann verbleibt es bei der gesetzlichen Regelung, welche die Arbeitnehmer mit einem entsprechenden Schutz ausstattet. c) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist nun zu prüfen, ob die Beeinträchtigung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis vor dem Hintergrund des verfolgten Arbeitnehmerschutzes angemessen, also den Tarifvertragsparteien zumutbar ist. Für diese Prüfung ist maßgeblich, welche Rechtsgüter sich gegenübertreten, wie intensiv der Eingriff in die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis ist und wie effektiv die gesetzliche Regelung das staatliche Schutzziel fördert. Abermals findet der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers Berücksichtigung. aa) Angemessenheit der Festlegung der Wartezeit in § 1 Abs. 1 KSchG Der vorbehaltlos geschützten Koalitionsfreiheit tritt als gesetzgeberisches Schutzgut der Bestandsschutz zugunsten der Arbeitnehmer gegenüber. Dieser steht in seiner Bedeutung der vorbehaltlos garantierten Koalitionsfreiheit in nichts nach, da der Gesetzgeber so die ihm von dem Grundrecht des Art. 12 Abs. 1 GG auferlegte Schutzpflicht erfüllt. Zudem dient die berufliche Tätigkeit in der heutigen Gesellschaft der Entfaltung der Persönlichkeit und zeitigt sozialintegrativen Charakter, so dass sich in Gestalt des arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes auch eine besondere persönlichkeitsrechtliche Schutzkomponente der Berufsfreiheit realisiert.35
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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Die Regelung des § 1 Abs. 1 KSchG bezieht sich auf alle Branchen und erfasst daher eine große Zahl von Arbeitnehmern und Betrieben. Allerdings handelt es sich bei der Wartezeit bis zum Eingreifen des Kündigungsschutzes nicht um eine Kernregelung des Kündigungsschutzrechts. Der Eingriff in die Tarifautonomie ist daher nicht sehr intensiv. Die Eingriffsintensität steigt jedoch, wenn es sich bei der betroffenen Regelungsmaterie um einen Gegenstand handelt, für dessen Festlegung die Tarifvertragsparteien im Vergleich zum Gesetzgeber besser geeignet sind. Dies ist für besonders komplexe Regelungsmaterien der Fall, bei denen vielschichtige Voraussetzungen zu berücksichtigen sind. In diese hat der Gesetzgeber keinen so tiefen Einblick wie die Tarifvertragsparteien als grundsätzlich sachnähere und kompetentere Parteien bei der Beurteilung betrieblicher Interna. Bei der Beurteilung der Frage, ob der Kündigungsschutz keinesfalls zu einem späteren Zeitpunkt als nach 6 Monaten eingreifen soll, ist die besondere Kompetenz der Sozialpartner nicht unbedingt ausschlaggebend. Die in diesem Punkt vorzunehmende Abwägung zwischen Bestandsinteresse der Arbeitnehmer und Beendigungsinteresse der Arbeitgeber ist eine arbeitsrechtspolitische Entscheidung die weniger durch betriebs- und branchenspezifische Eigenheiten geprägt ist. Der Gesetzgeber kann sie daher ebenso gut selbst treffen. Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber mit den Regelungen des Kündigungsschutzrechts die ihm von Art. 12 Abs. 1 GG auferlegte Schutzpflicht erfüllt. Hinsichtlich des gesetzlichen Schutzminimums fehlen bislang detaillierte Stellungnahmen.36 Insbesondere ist vor einer Überspannung der Schutzpflichtkonzeption zu warnen. Der Regelungsauftrag lässt sich nicht auf spezielle Einzelbestimmungen konkretisieren, zu deren Schaffung der Gesetzgeber in jedem Fall verpflichtet ist.37 Darüber hinaus ist die einfachgesetzliche Umsetzung des Schutzauftrags stets in ihrer Gesamtheit zu betrachten, so dass aus dem Grundrecht nicht eine isolierte Pflicht zur Bereitstellung einzelner Schutzvorschriften folgt.38 Dementsprechend verbietet sich auch der Schluss, die sechsmonatige Wartefrist sei von der Schutzpflicht gefordert. Dies steht jedoch der Verfassungsmäßigkeit des § 1 Abs. 1 KSchG nicht entgegen. Der Gesetzgeber ist bei einem Eingriff in die Tarifautonomie nicht auf Regelungen beschränkt, welche die Mindestanforderungen einer gesetzlichen Schutzpflicht erfüllen. Er kann vielmehr auch über das Mindestmaß hinausgehen.39 Das von Art. 12 Abs. 1 GG geforderte Schutzpflichtminimum deckt sich 35 BVerfG vom 27. 1. 1976, BVerfGE 41, 251, 263 f.; vom 3. 7. 1979, BVerfGE 50, 290, 362; vom 7. 2. 1990, BVerfGE 81, 242, 254; K. Gamillscheg, Beendigung des Arbeitsverhältnisses, S. 40; Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit, S. 223; Thüsing, NJW 2004, 2576, 2577; Urban, Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 51. 36 Vgl. insbesondere Oetker, RdA 1997, 9, 15 f. 37 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 83; Dieterich, RdA 1995, 129, 134; Oetker, RdA 1997, 9, 16; ders., AuR 1997, 41, 50; Papier, DVBl. 1984, 801, 813, der plastisch von einem diesbezüglich „naiven Verfassungsrausch“ spricht. 38 Oetker, RdA 1997, 9, 18. 39 Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 84 f.; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
nicht mit dem von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gerade noch tolerierten Eingriffsmaximum. Dazwischen existiert vielmehr ein breites Spektrum, in dem der Gesetzgeber einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum hat. In diesem Bereich muss er lediglich zu vertretbaren Ergebnissen kommen. Wenn der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang entscheidet, dass der allgemeine gesetzliche Kündigungsschutz spätestens 6 Monate nach der Begründung des Arbeitsverhältnisses eingreifen soll, dann ist diese Einschätzung vertretbar. Schließlich handelt es sich vorrangig um eine arbeitsrechtspolitische Frage und weniger um einen Aspekt, der durch branchenund betriebsspezifische Besonderheiten geprägt wird. Die gesteigerte Sachkompetenz der Tarifvertragsparteien für solche Belange realisiert sich daher nicht. Die einseitig zwingende Ausgestaltung des § 1 Abs. 1 KSchG erweist sich somit als verhältnismäßig im engeren Sinne. bb) Angemessenheit der zwingenden Festlegung der Kriterien für die Sozialauswahl Ähnlich fällt die Beurteilung für die zwingende Festlegung der Kriterien für die Sozialauswahl bei der betriebsbedingten Kündigung (§ 1 Abs. 3 S. 1 KSchG) aus. Die besondere Sachnähe und Beurteilungskompetenz der Tarifvertragsparteien realisiert sich auch bei der Entscheidung über das Ob der Berücksichtigung bestimmter Kriterien der Sozialauswahl nicht. Bei der Dauer der Betriebszugehörigkeit, dem Lebensalter, den Unterhaltsverpflichtungen und der Schwerbehinderung handelt es sich um objektive Eigenschaften, deren Maßgeblichkeit für das Bestandsinteresse des Arbeitnehmers sich nicht von der Hand weisen lässt. Die gesetzgeberische Entscheidung, diese Kriterien heranzuziehen, greift damit nicht in einen Bereich über, für dessen Regelung die Tarifvertragsparteien sich besonders eignen. So deutlich sich beurteilen lässt, dass die Kriterien des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG für das Bestandsinteresse des Arbeitnehmers eine Rolle spielen, so wenig ist die Gewichtung, wie sehr sie dies tun, allgemein greifbar. Diese Beurteilung variiert vielmehr von Branche zu Branche und von Betrieb zu Betrieb. In dieser Hinsicht erscheinen die Tarifvertragsparteien als die kompetenteren Entscheidungsinstanzen, da sie den betrieblichen und branchenspezifischen Eigenheiten näher stehen als der staatliche Gesetzgeber. Diesem Aspekt hat der Gesetzgeber aber bereits Rechnung getragen, indem er in § 1 Abs. 4 KSchG tarifliche Festlegungen hinsichtlich der Gewichtung der Kriterien für die Sozialauswahl nur einer Kontrolle auf grobe Fehlerhaftigkeit unterwirft. Hinzu kommt, dass die von dem Gesetzgeber als zwingend zu berücksichtigenden Sozialauswahlkriterien nicht nur von der aus Art. 12 Abs. 1 GG fließenden Garantie eines Bestandsschutzes im Arbeitsverhältnis gestützt werden. Mit der Aufnahme der Schwerbehinderung und der Unterhaltspflichten in den Katalog des § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG schützt der Gesetzgeber zusätzlich Ehe und Familie sowie Behinderte vor Benachteiligung, was ihm Art. 6 GG und Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG nahelegen. Darüber hinaus wird die Berücksichtigung der besonderen Schutz-
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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bedürftigkeit bestimmter Arbeitnehmergruppen, wie älterer Arbeitnehmer, Schwerbehinderter und Alleinerziehender zum Mindestinhalt gesetzlicher Bestandsschutzregelungen gerechnet, welche die aus Art. 12 Abs. 1 GG fließende Schutzpflicht dem Gesetzgeber abverlangt.40 Diese Grundsätze sollen insbesondere auch in Kleinbetrieben, für die der Gesetzgeber die Geltung des Kündigungsschutzgesetzes nicht vorgesehen hat, aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit §§ 138, 242 BGB gelten.41 Es ist daher vertretbar, wenn der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien die Regelungskompetenz hinsichtlich der Berücksichtigung der in § 1 Abs. 3 S. 1 KSchG genannten Kriterien entzieht und diese zum unabänderlichen Bestandteil der bei einer betriebsbedingten Kündigung durchzuführenden Sozialauswahl macht. Der zwingende Charakter des § 1 Abs. 3 KSchG beeinträchtigt daher die tarifvertragliche Regelungsbefugnis ebenfalls nicht unangemessen. cc) Angemessenheit des Schwellenwertes in der Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 KSchG Kein anderes Ergebnis kann sich für den Schwellenwert des § 23 Abs. 1 KSchG ergeben. Seine Auswirkung auf die verfassungsrechtliche Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis ist von vornherein nur mittelbar. Die Festlegung, für welche Betriebe ein allgemeiner Kündigungsschutz gelten soll, ist grundsätzlich nicht in einem Individualarbeitsvertrag möglich und unterfällt daher als solche nicht der verfassungsrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Allerdings finden in allen Betrieben, die nicht unter die Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 KSchG fallen, die zwingenden Kündigungsschutzvorschriften Anwendung. Den Tarifvertragsparteien sind daher für die Arbeitsverhältnisse in diesen Betrieben die im Kündigungsschutzgesetz einseitig zwingend festgelegten Regelungsgegenstände entzogen. Dies beeinträchtigt die tarifvertragliche Regelungsbefugnis. Allerdings ist dadurch die Eingriffsintensität nicht besonders hoch. Demgegenüber sind die Beeinträchtigungen für die Effizienz des Bestandsschutzes bei einer Erhöhung des Schwellenwertes in § 23 Abs. 1 KSchG erheblich. Die Kleinbetriebsklausel entscheidet über die Anwendbarkeit der kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften in einem Betrieb. Bereits bei dem aktuellen Schwellenwert von 10 Arbeitnehmern sind ca. 20 bis 25% der Arbeitsverhältnisse42 und etwa 80% aller Betriebe43 von dem kündigungsschutzrechtlichen Bestandsschutz aus40 So BVerfG vom 24. 4. 1991, BVerfGE 84, 133, 154 ff.; BAG vom 19. 1. 1995, AP Nr. 12 zu Art. 13 Einigungsvertrag, allerdings gestützt auf das Sozialstaatsprinzip; Ascheid, NZA 1993, 97, 103; Oetker, RdA 1997, 8, 18. 41 BVerfG vom 27. 1. 1998, BVerfGE 97, 169, 179. 42 Hanau, Deregulierung des Arbeitsrechts, S. 5: 1997 ca. 30 %; Reuter, Festschrift für Wiedemann, S. 449, 466: 2002 nicht weniger als 25%.; Junker, Gutachten B zum 65. DJT, B 24: ca. 20 %.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
genommen. Die derzeitige Kleinbetriebsklausel des § 23 Abs. 1 KSchG bewegt sich bereits in der Nähe des von der Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG vorgegebenen Schutzminimums.44 Dieses verbietet dem Gesetzgeber in jedem Fall, bei der Abgrenzung zwischen Kleinbetrieben, für die der arbeitsrechtliche Bestandsschutz gelockert ist, und anderen Betrieben, auf die Festlegung einer für die Unterscheidung maßgeblichen Arbeitnehmerzahl zu verzichten.45 Vor diesem Hintergrund und aufgrund der nur geringen Eingriffsintensität in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG erscheint es vertretbar, wenn der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien die Entscheidung über den betrieblichen Schwellenwert für das Eingreifen des Kündigungsschutzgesetzes nicht überlässt. Der einseitig zwingende Charakter des § 23 Abs. 1 KSchG beeinträchtigt daher die von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützte Tarifautonomie nicht unangemessen. 5. Zusammenfassung Die verfassungsrechtliche Prüfung des § 1 Abs. 1 und Abs. 3 S. 1 sowie des § 23 Abs. 1 KSchG offenbart keine Verletzung des Grundrechts aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Der durch die einseitig zwingende Gestaltung der genannten Vorschriften bewirkte Eingriff in die Tarifautonomie wahrt insbesondere die Grenzen der Verhältnismäßigkeit. Demgemäß ist der Gesetzgeber auch nicht verpflichtet, diese Vorschriften tarifdispositiv auszugestalten. Eine verfassungskonforme Auslegung der Bestimmungen, die deren verdeckte Tarifdispositivität bewirken würde, erübrigt sich damit ebenfalls.
III. Auslegungsfragen zu § 622 Abs. 4 BGB und Tarifautonomie Nachdem soeben legislative Eingriffe in die tarifvertragliche Regelungsbefugnis im Vordergrund standen, sollen nun die restriktive Auslegung der Tariföffnungsklausel in § 622 Abs. 4 S. 1 BGB, die eine entfristete Kündigung ablehnt, sowie die Auslegungsregel des Bundesarbeitsgerichts, die bei inhaltlicher Identität einer tariflichen Vereinbarung mit der gesetzlichen Regelung im Zweifel von einer bloß deklaratorischen Bestimmung ausgeht, auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG überprüft werden.
43 Bader, NZA 2003, 249, 250; Buschmann, AuR 2004, 1, 3, unter Berufung auf Zahlen aus 1996. 44 Vgl. BVerfG vom 27. 1. 1998, BVerfGE 97, 169, 181 f. (zu den von der Kleinbetriebsklausel betroffenen Arbeitnehmerzahlen) und 183 f.: „Mit dieser Grenzziehung trifft das Gesetz die Gruppe der schützwürdigen Kleinunternehmer mit hinreichender Genauigkeit.“; Blanke, AuR 2003, 401, 406; Buschmann, AuR 2004, 1, 3. 45 BVerfG vom 27. 1. 1998, BVerfGE 98, 186, 195; Blanke, AuR 2003, 401, 406, 414.
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1. Art. 9 Abs. 3 GG und die restriktive Auslegung des § 622 Abs. 4 S. 1 BGB Die Grundrechte beinhalten neben ihrer Abwehrfunktion gegenüber unmittelbaren gesetzgeberischen Eingriffen Grundsatzentscheidungen für die gesamte Rechtsordnung.46 Sie sind daher auch und gerade bei der Auslegung einfachrechtlicher Vorschriften zu beachten.47 Die Auslegung einfachgesetzlicher Normen und damit deren Anwendung betrifft das originäre Betätigungsfeld der rechtsprechenden Gewalt, die Art. 1 Abs. 3 GG ebenso an die Grundrechte bindet wie die Legislative. Der Prinzipiencharakter der Grundrechte und die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers zur Konkretisierung der grundrechtlichen Anforderungen an die Bürger führt dazu, dass vorrangig die Legislative die verschiedenen grundrechtlichen Schutzbereiche gegeneinander abgrenzt, die sich widerstreitenden Interessen ausgleicht und die dabei erzielten Ergebnisse in Form einfachgesetzlicher Regeln niederlegt.48 Daraus ergibt sich für die Vorschriften des einfachen Gesetzesrechts die grundsätzliche Vermutung, dass sie die angestrebte praktische Konkordanz zwischen den Grundrechtspositionen herstellen. Dennoch verbleiben beim Richter stets die Kompetenz und die Pflicht, die konkrete streitentscheidende Norm auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen.49 Einen Teil dieser Aufgabe bildet die Verpflichtung zur verfassungskonformen Auslegung. Dabei hat der Richter für die Anwendung einer Vorschrift, bei der verschiedene Auslegungsvarianten möglich sind, diejenige zu wählen, die mit den Vorgaben der Verfassung vereinbar ist.50 Aber auch darüber hinaus darf ein Gericht bei der Anwendung einfachgesetzlicher Vorschriften, die nicht in Widerspruch zu den Grundrechten stehen, diese für die Auslegung nicht unberücksichtigt lassen.51 Dabei legt das Bundesverfassungsgericht aber weniger strenge Maßstäbe an als für den unmittelbar regelnden Gesetzgeber. Bei der Auslegung einfachrechtlicher Vorschriften seien die Grundrechte zu beachten. Ein Verstoß gegen diese liege jedoch erst vor, wenn die richterliche Rechtsfindung auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruht oder diese vollständig unberücksichtigt gelassen hat.52 In diesem Zusam46 BVerfG vom 7. 2. 1990, BVerfGE 81, 242, 254; vom 19. 10. 1993, BVerfGE 89, 214, 229; Dieterich, RdA 1993, 67, 70; Schwarze, ZTR 1996, 1, 2. 47 BVerfG vom 6. 2. 2001, BVerfGE 103, 89, 100; vom 6. 5. 1997, BVerfGE 96, 56, 64; vom 19. 10. 1993, BVerfGE 89, 214, 229; Badura, HBGR, § 20 Rn. 26, S. 801. 48 BVerfG vom 6. 5. 1997, BVerfGE 96, 56, 64; vom 7. 2. 1990, BVerfGE 81, 242, 255; Oetker, RdA 1997, 9, 16. 49 BVerfG vom 28. 3. 1984, BVerfGE 66, 313, 319; Dreier, in: ders., GG, Art. 1 III Rn. 61; Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 211. 50 BVerfG vom 28. 3. 1984, BVerfGE 66, 313, 319; vom 15. 6. 1983, BVerfGE 64, 229, 242; vom 1. 3. 1978, BVerfGE 48, 40, 45; vom 8. 3. 1972, BVerfGE 32, 373, 383 f.; Dieterich, RdA 1993, 67, 70. 51 BVerfG vom 7. 2. 1990, BVerfGE 81, 242, 256; Badura, in: HBGR, § 20 Rn. 26, S. 801; Dieterich, RdA 1993, 67, 70.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
menhang geht es also nicht um die Optimierung des grundrechtlichen Schutzes für die beteiligten Seiten.53 Die Rechtsanwendung ist nicht auf die Herstellung eines weitgehenden Grundrechtsschutzes gerichtet, sondern auf die Vereinbarkeit der erzielten Ergebnisse mit den äußeren Grenzen der Grundrechtsgarantien.54 Diese Grundsätze sind auch für die Auslegung der Tariföffnungsklauseln maßgeblich. Im Hinblick auf § 622 Abs. 4 S. 1 BGB muss die Rechtsanwendung daher sowohl der von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG garantierten tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis als auch dem staatlichen Schutzinteresse gerecht werden, das hinter den für tarifdispositiv erklärten Kündigungsfristen steht. Soweit in diesem Zusammenhang die den kündigungsschutzrechtlichen Vorschriften im Allgemeinen zugrundeliegende Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG zur Bereitstellung eines arbeitsrechtlichen Bestandsschutzes relevant wird, kann die Rechtsanwendung nur daraufhin überprüft werden, ob sie den Schutzzweck der grundrechtlichen Schutzpflicht grundlegend verfehlt hat. Es geht jedoch nicht darum zu kontrollieren, ob die Auslegung der Schutznormen den bestmöglichen Schutz sichert.55 Die gesetzlich vorgeschriebenen Kündigungsfristen bezwecken einen temporären Schutz vor den mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses verbundenen negativen Auswirkungen und sollen dem Arbeitnehmer ermöglichen, sich auf die mit der Kündigung verbundenen Veränderungen einzustellen.56 Einen Bestandsschutz im eigentlichen Sinne stellen die Kündigungsfristen nicht zur Verfügung.57 Dieser kann nur durch Regelungen gewährleistet werden, die die Kündigungsentscheidung des Arbeitgebers unter inhaltlichen Gesichtspunkten binden.58 Es fragt sich daher, ob die Bestimmungen zu den Kündigungsfristen von der Schutzpflicht des Art. 12 Abs. 1 GG überhaupt gefordert werden oder ob sich in dieser Hinsicht lediglich der allgemeine sozialstaatliche Auftrag an den Gesetzgeber realisiert.59 Zumindest aktualisiert sich nicht die besondere persönlichkeitsrechtliche Kom52 St. Rspr. seit BVerfG vom 10. 6. 1964, BVerfGE 18, 85, 93; vom 11. 5. 1976, BVerfGE 42, 143, 149; zuletzt BVerfG vom 7. 2. 1990, BVerfGE 81, 242, 253; vom 6. 2. 2001, BVerfGE 103, 89, 100; vom 16. 11. 1993, BVerfGE 89, 276, 285; vom 19. 10. 1993, BVerfGE 89, 214, 230; ebenso Badura, HBGR, § 20 Rn. 26, S. 801; für eine nur eingeschränkte Bindungswirkung an die Grundrechte bei privatrechtlichen Sachverhalten auch Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1445. 53 BVerfG vom 16. 11. 1993, BVerfGE 89, 276, 286; Schwarze, ZTR 1996, 1, 4. 54 BVerfG vom 10. 6. 1964, BVerfGE 18, 85, 92 f.; vom 16. 11. 1993, BVerfGE 89, 276, 285; vom 6. 2. 2001, BVerfGE 103, 89, 100. 55 BVerfG vom 21. 4. 1994, EzA-SD 1994, Nr. 12, S. 4 f. – 1 BvR 711 / 93 – n. v. 56 Urban, Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 66 f. 57 Güntner, AuR 1974, 97, Fn. 2; Oetker, Dauerschuldverhältnis, S. 280 f.; ders., AuR 1997, 41; Preis, NZA 1997, 1256, 1258; von Stebut, Der soziale Schutz, S. 26 f.; Urban, Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 66; a. A. wohl BGH vom 8. 10. 1990, NJW 1991, 102, 104; vgl. dazu Oetker, Dauerschuldverhältnis, S. 281. 58 Oetker, Dauerschuldverhältnis, S. 281; von Stebut, Der soziale Schutz, S. 30; Urban, Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 67. 59 So Kehrmann, AiB 1993, 746; ebenso für den gesamten arbeitsrechtlichen Bestandsschutz, Stelljes, Grundlage und Reichweite des allgemeinen Kündigungsschutzes, S. 88 f.
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ponente60 des Bestandsschutzes aus Art. 12 Abs. 1 GG. Aber selbst wenn man die Schutzpflicht des Art. 12 Abs. 1 GG weit versteht, lässt sie sich im Hinblick auf den zu ihrer Erfüllung notwendigen Mindestbestand gesetzlicher Vorschriften nur schwer konkretisieren. Dem Gesetzgeber werde lediglich eine nach seinem Ermessen umzusetzende Direktive vorgegeben, so dass sie in der Regel keine rechtliche Fixierung auf bestimmte normative Gestaltungen zulässt.61 Dieterich formuliert die dem Gesetzgeber von Art. 12 Abs. 1 GG vorgegebene Regelungsverpflichtung so, dass jener den Schutz gewährleisten muss, der unerlässlich ist, um die einseitige Durchsetzung überlegener Vertragsmacht zu verhindern.62 Gerade diesen Ausgleich der im Individualarbeitsverhältnis gestörten Vertragsparität stellt der Tarifvertrag her. Die ihm innewohnende Richtigkeitsgewähr garantiert die Angemessenheit der Ergebnisse. Es ist davon auszugehen, dass die für die Arbeitnehmer nachteilige Verkürzung der Kündigungsfristen an anderer Stelle durch Zugeständnisse ausgeglichen wird.63 Zudem werden die Tarifvertragsparteien eine extreme Verkürzung der gesetzlichen Kündigungsfristen nur vorsehen, wenn dies unabweislich ist. Ein Schutzdefizit auf Seiten der Arbeitnehmer ist bei einer weiten Auslegung des § 622 Abs. 4 S. 1 BGB daher nicht zu befürchten. Hinzu kommt, dass sich bei der Festlegung der Länge der Kündigungsfristen die im Vergleich zum Gesetzgeber gesteigerte Sachkompetenz der Tarifvertragsparteien realisiert und eine Intensivierung der grundrechtlichen Schutzintensität aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG bewirkt.64 Die Länge der Kündigungsfristen wird von den betrieblichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten determiniert. Sie variiert stark innerhalb der verschiedenen Branchen. Wirtschaftszweige mit einer hohen Fluktuation sind auf besonders kurze Kündigungsfristen angewiesen. Die Tarifvertragsparteien können die zugrunde liegenden sachlichen Gegebenheiten viel besser beurteilen und ermitteln als der staatliche Gesetzgeber, der den erforderlichen Einblick nicht besitzt. Die gesteigerte Wirkkraft des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG bei der Festlegung der Kündigungsfristen verpflichtet den gesetzesanwendenden Richter daher zu besonderer Zurückhaltung bei einer restriktiven Auslegung des § 622 Abs. 4 S. 1 BGB. Wenn also Fälle denkbar sind, in denen eine entfristete Kündigung erforderlich ist, dann rechtfertigt sich auch eine dementsprechend weite Auslegung des § 622 Abs. 4 S. 1 BGB. Wie die Tarifvertragsparteien in jedem Einzelfall den ihnen zur Verfügung gestellten Spielraum nutzen, obliegt ihrer Verhandlung. Die ausgegli60 Vgl. dazu BVerfG vom 27. 1. 1976, BVerfGE 41, 251, 263 f.; vom 3. 7. 1979, BVerfGE 50, 290, 362; vom 7. 2. 1990, BVerfGE 81, 242, 254; Rütten, Institutionelle Arbeitslosigkeit, S. 223. 61 BVerfG vom 27. 1. 1998, BVerfGE 97, 169, 176; Oetker, AuR 1997, 41, 50 f.; Papier, DVBl. 1984, 801, 813; Preis, NZA 1997, 1256, 1257. 62 Dieterich, RdA 1995, 129, 134; ihm folgend Urban, Kündigungsschutz außerhalb des Kündigungsschutzgesetzes, S. 55. 63 K. Gamillscheg, Beendigung des Arbeitsverhältnisses, S. 34. 64 Vgl. dazu oben 2. Teil: § 7 C. II. 2.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
chenen Machtverhältnisse zwischen den sich dabei gegenübertretenden Verhandlungsparteien führen zu angemessenen Ergebnissen und entziehen sich einer Einzelfallkontrolle. Aus diesem Grund verbietet sich auch die flexible Handhabung des § 622 Abs. 4 S. 1 BGB, bei der in jedem Fall die Angemessenheit oder Zwecktauglichkeit der tarifvertraglichen Frist überprüft würde.65 Dies würde auf eine Inhaltskontrolle der Tarifverträge hinauslaufen, die vor Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG keinen Bestand haben kann.66 Die Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags sorgt automatisch für die Angemessenheit der Ergebnisse. 2. Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG und die Auslegungsregel des Bundesarbeitsgerichts Für die Frage, ob sich tarifvertragliche Vorschriften, die mit den gegenwärtigen gesetzlichen Regelungen wörtlich oder inhaltlich übereinstimmen, gegenüber tarifdispositivem Recht durchsetzen, das zeitlich nach dem Tarifvertrag in Kraft getreten ist, kommt es entscheidend darauf an, ob man diesen Tarifnormen konstitutiven oder deklaratorischen Charakter zumisst. Bisher haben die Untersuchungen ergeben, dass durch Auslegung der betreffenden Tarifnormen zu ermitteln ist, ob ihnen gegenüber der gesetzlichen Regelung ein eigenständiger Charakter zukommen soll oder ob sie lediglich auf die gesetzliche Rechtslage hinweisen. Erst wenn die Auslegung keine eindeutigen Ergebnisse zu Tage fördert, kann eine Auslegungsregel angewendet werden. Die vom Bundesarbeitsgericht vorgeschlagene Regel, im Zweifel sei bei wörtlicher oder inhaltlicher Identität mit der gesetzlichen Vorschrift keine konstitutive Regelung anzunehmen, ist abzulehnen.67 Offen blieb vorerst, ob dies bereits aus der verfassungsrechtlichen Garantie der Tarifautonomie in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG folgt. Wiederum gilt der eingeschränkte Prüfungsmaßstab für die Anwendung einfachen Gesetzesrechts, der besagt, dass die Rechtsanwendung nur auf ein grundsätzliches Unverständnis bzw. auf eine vollständige Außerachtlassung der Grundrechte überprüft werden kann. Die in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zum Ausdruck kommende Anerkennung der Tarifvertragsparteien als vorrangige Träger des Interessenausgleichs zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite verbietet die Missachtung des in der Tarifvereinbarung zum Ausdruck kommenden Willens der Tarifpartner.68 Das Grundrecht der kollektiven Koalitionsbetätigungsgarantie gebietet also eine sorgfältige Auslegung des Tarifvertrags zur Ermittlung des konstitutiven oder deklaratorischen Charakters der mit dem Gesetz übereinstimmenden Tarifvertragsvorschrift.69 Eine unbesehene Anwendung einer Zweifelsregel würde 65 66 67 68 69
So wohl Oetker, RdA 1997, 9, 17. Rieble, ZTR 1993, 54, 56. Vgl. oben 1. Teil: § 3 B. II. Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 584; Sandmann, RdA 2002, 77. Sandmann, RdA 2002, 73, 78.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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der grundrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis nicht ausreichend Rechnung tragen. Unabhängig von der Notwendigkeit einer vorherigen Auslegung muss aber auch die Zweifelsregel selbst das Grundrecht der Koalitionsfreiheit hinreichend berücksichtigen. Bei wörtlicher oder inhaltsgleicher Übernahme einer gesetzlichen Regelung in den Tarifvertragstext sprachen die stärkeren Argumente für einen eigenständigen Regelungswillen der Tarifvertragsparteien.70 Jede eigenständige Formulierung im Tarifvertragstext spricht, anders als ein bloßer Verweis auf eine gesetzliche Vorschrift, dafür, dass die Tarifvertragsparteien von ihrer Normsetzungsbefugnis Gebrauch machen wollten. Setzt sich das Bundesarbeitsgericht über diesen Wortlautbefund hinweg, missachtet es die nahe liegende Bedeutung des Tarifvertragstextes, die bei einer Wiederholung oder sinngemäßen Wiedergabe des Gesetzestextes mit höherer Wahrscheinlichkeit für eine eigenständige Regelung spricht als für einen deklaratorischen Hinweis auf die gesetzlichen Vorschriften. Schließlich erscheint auch der Standpunkt des 2. Senats des Bundesarbeitsgerichtes, die Tarifvertragsparteien müssten seine Rechtsprechung kennen und ihre Regelungstätigkeit danach ausrichten, vor dem Hintergrund der grundrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis bedenklich.71 Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG garantiert den Tarifvertragsparteien den unabhängigen und von staatlichen Einflüssen ungestörten Verhandlungsprozess als Mittel zur Erzielung eines sachgerechten Interessenausgleichs zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite. Bürdet man den Tarifvertragsparteien die ständige Informationslast über die Rechtsprechung auf und zwingt sie, die Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung nachzuvollziehen, dann drängt der Staat in Gestalt der rechtsprechenden Gewalt in den freien Verhandlungsprozess der Tarifvertragsparteien und beeinträchtigt die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie.72 Auf Seiten der Rechtsprechung ist daher aufgrund der Verfassungsgarantie der tarifvertraglichen Normsetzung stärkere Zurückhaltung geboten. Das Grundrecht des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verlangt somit vom Richter eine sorgfältige Auslegung der tarifvertraglichen Vereinbarungen. Lassen sich durch diese keine eindeutigen Ergebnisse erzielen, dann ist davon auszugehen, dass die Tarifvertragsparteien durch eine ausführliche Formulierung im Tarifvertragstext von ihrer Normsetzungsbefugnis Gebrauch machen wollten, auch wenn diese inhaltlich oder wörtlich dem Gesetzestext entspricht.
Vgl. oben 1. Teil: § 3 B. II. 2. c). Buchner, SAE 1987, 45, 51, 52; Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 582; Sandmann, RdA 2002, 73, 78. 72 Preis, Festschrift für Schaub, S. 571, 582 f.; Sandmann, RdA 2002, 73, 78, 80. 70 71
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
3. Ergebnis Die verfassungsrechtliche Garantie der Tarifautonomie durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG steht einer restriktiven Auslegung der Tariföffnungsklausel des § 622 Abs. 4 S. 1 BGB entgegen. Die Tarifvertragsparteien müssen das durch die vollständige Tarifdispositivität der Kündigungsfristen eröffnete Gestaltungsspektrum ausschöpfen können. Insbesondere darf ihnen die Vereinbarung „entfristeter Kündigungen“ nicht verwehrt werden. Die vorwiegend im Anwendungsbereich des § 622 BGB vom 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts angewendete Zweifelsregel, wonach bei inhaltlicher oder wörtlicher Identität einer tarifvertraglichen Kündigungsfristenvereinbarung eine deklaratorische Regelung vorliegen soll, ist vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG abzulehnen. Im Zweifel wollen die Tarifvertragsparteien auch bei inhaltlicher Identität von ihrer Normsetzungsbefugnis Gebrauch machen.
B. Verstärkte Tarifdispositivität des Arbeitszeitrechts Der gesetzliche Spielraum zur Regulierung des Arbeitszeitrechts ist erheblich durch gemeinschaftsrechtliche Vorgaben begrenzt. Die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, RL 2003 / 88 / EG vom 4. 11. 2003,73 die die Richtlinie 93 / 104 / EG, vom 23. 11. 1993,74 abgelöst hat, erlaubt dem Gesetzgeber nur hinsichtlich weniger in der Richtlinie enthaltener Vorgaben, die Festlegung den Tarifvertragsparteien zu überlassen. Ähnliches gilt hinsichtlich der Arbeitszeit Jugendlicher, für die die Richtlinie über den Jugendarbeitsschutz, RL 94 / 33 / EG, vom 22. 6. 1994,75 einheitliche Standards vorgibt. In Gestalt von § 21a JArbSchG hat der Gesetzgeber die ihm bei der Umsetzung der Richtlinie verbleibenden Spielräume vollständig an die Tarifvertragsparteien weitergegeben.76 Im Gegensatz dazu hat er sich bei der Umsetzung der Richtlinie 93 / 104 / EG77 dafür entschieden, nicht alle für die Sozialpartner eröffneten Abweichungsbefugnisse von den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben auch den deutschen Tarifvertragsparteien zu überlassen. ABl. der EU 2003 Nr. L 299 vom 18. 11. 2003, S. 9. ABl. der EG 1993 Nr. L 307 vom 13. 12. 1993, S. 18; geändert durch RL 2000 / 34 / EG vom 22. 6. 2000, ABl. EG 2000 Nr. L 195, vom 1. 8. 2000, S. 41. 75 ABl. der EG Nr. L 216 vom 20. 8. 1994, S. 12. 76 Vgl. Entwurf der Bundesregierung eines Jugendarbeitsschutzgesetzes, BT-Drucks. 13 / 5494, S. 1; Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, BT-Drucks. 13 / 6407, S. 1; auch Zmarzlik, DB 1997, 674 ff. 77 Der Inhalt der aktuellen Arbeitszeitrichtlinie 2003 / 88 / EG deckt sich bis auf Art. 5, der nicht mehr vorschreibt, dass die wöchentliche Ruhezeit den Sonntag einschließen muss, mit den Vorgaben der Richtlinie 93 / 104 / EG, vgl. Erwägungsgrund Nr. 17 RL 2003 / 88 / EG, ABl. EU 2003 Nr. L 299, vom 18. 11. 2003, S. 9, 10; Baeck / Deutsch, ArbZG, Einführung Rn. 20. 73 74
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393
So legt § 4 S. 1 ArbZG die Dauer der Erholungspausen einseitig zwingend fest, und § 7 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG gestattet den Tarifvertragsparteien entgegen der Richtlinienvorgabe in Art. 4 RL 2003 / 88 / EG nur die Verteilung der Gesamtpausenzeit auf angemessene Kurzpausen in Schicht und Verkehrsbetrieben. § 7 Abs. 2 Nr. 3 und 4 ArbZG erlaubt den Tarifvertragsparteien lediglich in Pflege- und Betreuungsbetrieben sowie dem öffentlichen Dienst die Verkürzung der Pausen. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber die von Art. 2 Nr. 4 b) ii) und Art. 8 S. 2 RL 2003 / 88 / EG eröffneten Möglichkeiten nicht genutzt, den Tarifvertragsparteien die Definition der Nachtarbeit im Allgemeinen bzw. die Festlegung von Tätigkeiten, bei denen besondere Gefahren oder eine erhebliche geistige oder körperliche Belastung besteht, zu überlassen. Vielmehr hat er diese Materien selbst geregelt (vgl. § 2 Abs. 3 bis 5 sowie §§ 6 und 8 ArbZG). Art. 18 RL 2003 / 88 / EG lässt die tarifvertragliche Abweichung von den Vorgaben über die tägliche und wöchentliche Ruhezeit, die Nachtarbeit und Bezugszeiträume zu, wobei der von den Tarifvertragsparteien maximal vereinbarte Bezugszeitraum für die wöchentliche Höchstarbeitszeit gemäß Art. 19 RL 2003 / 88 / EG nicht länger als 12 Monate sein darf. Diese Regelungsbefugnisse stellte der deutsche Gesetzgeber größtenteils in Gestalt des § 7 Abs. 1, 2 und 2a ArbZG zur Disposition der Tarifvertragsparteien. Er hat sie jedoch auf einzelne Branchen beschränkt und der Abweichungsbefugnis der Tarifvertragsparteien äußerste Grenzen gezogen (vgl. § 7 Abs. 1, 2, 2a, 8, 9 ArbZG), wozu er allerdings gem. Art. 18 Abs. 3 RL 2003 / 88 / EG auch verpflichtet war. Die Richtlinie 2003 / 88 / EG sieht zudem in Abweichung von RL 93 / 104 / EG nicht mehr vor, dass die wöchentliche Mindestruhezeit den Sonntag einschließen muss (vgl. jeweils Art. 5 der Richtlinien). Dennoch ordnet § 9 Abs. 1 ArbZG unverändert ein grundsätzliches Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen zwischen 0 und 24 Uhr an. Löwisch / Rieble halten das Arbeitszeitgesetz zwar für ein gelungenes Beispiel staatlicher Arbeitsbedingungen, weil der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien mit § 7 ArbZG ein eigenes Konzept des Arbeitszeitschutzes erlaube, diesem aber auch im Interesse des unabweislichen Gesundheitsschutzes absolute Grenzen ziehe.78 Da die Arbeitszeitgestaltung neben der Festlegung der Löhne und Gehälter zu den „Essentialia tarifvertraglicher Vereinbarungsbefugnis“ gehört,79 soll im Folgenden dennoch exemplarisch anhand ausgewählter zwingender Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes untersucht werden, ob der Gesetzgeber aufgrund der in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG garantierten tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis verpflichtet war, die ohnehin engen gemeinschaftsrechtlichen Gestaltungsspielräume an die Tarifvertragsparteien weiterzugeben und die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes in stärkerem Umfang tarifdispositiv auszugestalten.
Löwisch / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 29. Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Band I, Teil 1, S. 97 ff., S. 164; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 123. 78 79
394
3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
I. Tarifvertragliche Regelungsbefugnis und Festlegung der Dauer sowie Verteilung der Pausenzeiten Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht war der Gesetzgeber nicht gezwungen, die Dauer der Erholungspausen selbst gesetzlich zu regeln. Er hätte dies auch den Tarifvertragsparteien überlassen können. Der Grundrechtsschutz aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist daher nicht relativiert und eine Überprüfung der diesbezüglichen gesetzlichen Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes, sofern sie nicht tarifdispositiv sind, anhand der verfassungsrechtlichen Garantie der Tarifautonomie ist möglich. Die einseitig zwingende gesetzliche Regelung lässt sich rechtfertigen, wenn sie sich auf ein Schutzgut von Verfassungsrang stützen kann und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. 1. Legitimes staatliches Schutzziel Die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes sollen die Arbeitnehmer vor den aus einer zu starken Arbeitsbelastung resultierenden Gesundheitsgefahren schützen. Die Gefahren für die Gesundheit der Arbeitnehmer können durch eine zu starke Belastung durch die Arbeit selbst veranlasst sein, aber auch durch Fehler drohen, die infolge von auf Überlastung beruhender Müdigkeit gehäuft auftreten.80 Das Arbeitszeitgesetz formuliert in § 1 Nr. 1 selbst, dass Zweck der gesetzlichen Regelung sei, die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeitszeitgestaltung zu gewährleisten und die Rahmenbedingungen für flexible Arbeitszeiten zu verbessern. Spezifisch beschäftigungspolitische Aspekte liegen den Arbeitszeitregelungen jedoch primär nicht zugrunde; sie dienen insbesondere nicht dazu, über eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung Arbeitsplätze zu schaffen.81 In dem vom Gesetzgeber bezweckten Gesundheitsschutz spiegelt sich dessen Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG wider. In seinem Beschluss zur Zulässigkeit von Abtreibungen hatte das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit die Pflicht des Staates abgeleitet, sich bei drohender Beeinträchtigung des Lebens und der Gesundheit schützend vor die bedrohten Individuen zu stellen.82 Diese Schutzpflicht für die Gesundheit der Grundrechtsberechtigten hat das Bundesverfassungsgericht explizit auch hinsichtlich der durch Arbeit, insbesondere Nachtarbeit, drohenden Gefahren bestätigt.83 Die Nachtarbeit bedürfe angesichts ihrer nachgewiesenen Schädlichkeit für die menschliche Gesundheit einer gesetzlichen Regelung.84 Ein besonderer gesetzli80 81 82 83 84
Vgl. auch BVerfG vom 28. 1. 1992, BVerfGE 85, 191, 212 f. Tietje, Arbeitszeitrecht, S. 57. BVerfG vom 25. 2. 1975, BVerfGE 39, 1, 41 ff.; Badura, Staatsrecht, C 22, S. 97. BVerfG vom 28. 1. 1992, BVerfGE 85, 191, 212 f. BVerfG vom 28. 1. 1992, BVerfGE 85, 191, 213.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
395
cher Schutz sei nicht deswegen entbehrlich, weil sie durchweg aufgrund privatautonomer Vereinbarungen verrichtet werde. Wo es an einem annähernden Kräftegleichgewicht der Beteiligten fehle, sei mit den Mitteln des Vertragsrechts allein kein sachgerechter Ausgleich der Interessen zu gewährleisten. Dies sei bei Arbeitsverträgen typischerweise der Fall.85 Gleichzeitig betont das Gericht aber auch, dass dem Staat bei der Erfüllung dieser Schutzpflicht ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukomme, der auch Raum für die Berücksichtigung konkurrierender öffentlicher und privater Interessen lasse.86 Daraus lässt sich verallgemeinernd ableiten, dass der staatliche Gesetzgeber bei der gesetzlichen Regelung des Arbeitszeitrechts seiner Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nachkommt. Für das Arbeitszeitrecht ist daher eine legitime Basis in Form kollidierenden Verfassungsrechts vorhanden. 2. Verhältnismäßigkeit der einseitig zwingenden gesetzlichen Regelung Die nur eingeschränkte Einbindung der Tarifvertragsparteien in die Festlegung der Pausendauer ist verhältnismäßig, wenn sie geeignet und erforderlich ist, um das gesetzgeberische Schutzziel zu erreichen, sowie die Beeinträchtigungen der Tarifautonomie im Verhältnis zu den mit der gesetzlichen Regelung erreichten Schutzwirkungen nicht unangemessen erscheinen. a) Prüfungsmaßstab Die Wirkkraft des Grundrechtsschutzes aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ist nicht für alle tarifvertraglichen Regelungsmaterien gleich intensiv. Sie variiert zwischen einer bloßen Evidenzkontrolle und einer strengeren Vertretbarkeitsprüfung der gesetzgeberischen Prognosen und Entscheidungen.87 Die Festlegung der Pausendauer und der Verteilung der Pausenzeiten stellt einen Aspekt der Arbeitszeitgestaltung dar. Sie bildet gleichzeitig einen Teil der Vereinbarung der gegenseitigen Hauptleistungspflichten und damit der essentiellen Regelungsgegenstände der von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützten tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis. Die verfassungsrechtliche Schutzintensität ist daher besonders hoch. Dementsprechend unterliegt der Gesetzgeber der strengeren Vertretbarkeitsprüfung und nicht lediglich einer Evidenzkontrolle.88
85 86 87 88
BVerfG vom 28. 1. 1992, BVerfGE 85, 191, 213. BVerfG vom 28. 1. 1992, BVerfGE 85, 191, 212. Vgl. oben 2. Teil: § 7 C. I. 3. c) bb). Vgl. oben 2. Teil: § 7 C. II. 3. b).
396
3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
b) Geeignetheit und Erforderlichkeit Die einseitig zwingende Normierung der Mindestpausendauer verschafft den Arbeitnehmern eine gewisse Erholungszeit während ihrer täglichen Arbeit, die weder vom Arbeitgeber noch von den Tarifvertragsparteien unterschritten werden darf. Dadurch fördert sie den Gesundheitsschutz zugunsten der Arbeitnehmer und ist somit geeignet, das gesetzgeberische Ziel zu erreichen. Der grundsätzliche Ausschluss einer tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis von den gesetzlichen Vorgaben zur Pausendauer ist erforderlich, wenn eine tarifdispositive Regelung das gesetzgeberische Ziel nicht gleichermaßen erreicht hätte.89 Eine tarifdispositive Vorschrift eröffnet den Tarifvertragsparteien immer auch die Möglichkeit, das gesetzliche Schutzniveau zu unterschreiten. Dadurch ergeben sich aus Sicht der Arbeitnehmer und für das auf ihrer Seite bestehende Schutzinteresse Nachteile, so dass eine tarifdispositive Regelung zwar die Tarifvertragsparteien weniger belastet, gleichzeitig aber auch das gesetzgeberische Schutzziel weniger intensiv erfüllt. Die einseitig zwingende Regelung ist daher zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks auch erforderlich. c) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Mit der vorbehaltlos garantierten Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG und dem Gesundheitsschutz des Art. 2 Abs. 2 GG kollidieren zwei Verfassungsrechtsgüter, denen im Rahmen der Grundrechtsordnung eine bedeutsame Rolle zukommt. Der gesetzgeberische Eingriff durch § 4 ArbZG betrifft einen Teilaspekt der Arbeitszeitgestaltung und damit eines der Essentialia der tarifvertragichen Vereinbarungsbefugnis,90 für das die Wirkkraft des Grundrechtsschutzes aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG besonders hoch ist.91 Die Beeinträchtigung der Tarifautonomie ist daher besonders intensiv. Dieser erste Befund relativiert sich jedoch dadurch, dass den Tarifvertragsparteien die Entscheidung über die Dauer der Erholungspausen nicht vollständig entzogen ist. Zumindest in den Pflegeberufen und im öffentlichen Dienst können die Tarifvertragsparteien gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 und 4 ArbZG die Pausendauer abweichend von § 4 ArbZG verkürzen. Sie müssen allerdings zur Sicherstellung eines ausreichenden Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer einen Zeitausgleich vorsehen. Zu dieser letzten Einschränkung ist der Gesetzgeber sogar gemäß Art. 18 Abs. 3 der Arbeitszeitrichtlinie, RL 2003 / 88 / EG, gezwungen. Betrachtet man zudem, dass die in § 4 S. 1 ArbZG vorgesehene Mindestpausendauer für eine Arbeitszeit zwischen 6 und 9 Stunden 30 Minuten sowie bei einer Arbeitszeit von mehr als 9 Stunden 45 Minuten beträgt, die gemäß § 4 S. 2 ArbZG in Vgl. dazu grundsätzlich 2. Teil: § 7 C. III. 2. Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Band I, Teil 1, S. 97, 164; Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 123. 91 Vgl. dazu oben 2. Teil: § 7 C. II. 3. b). 89 90
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
397
Zeitabschnitte von jeweils 15 Minuten eingeteilt werden dürfen, so bewegt sich die gesetzliche Regelung bereits auf einem Niveau, das vor dem Hintergrund der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht mehr viel Raum zur Absenkung nach unten lässt.92 Wenn die Tarifvertragsparteien also gemäß § 7 Abs. 2 Nr. 3 und 4 ArbZG die Gesamtpausendauer verkürzen und darüber hinaus gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG noch kürzere Pausenabschnitte, als sie in § 4 S. 2 ArbZG festgeschrieben sind, vereinbaren dürfen, dann hat der Gesetzgeber ihnen aus Sicht des Gesundheitsschutzes bereits maximale Regelungsspielräume übertragen. Zwar ist die Tariföffnungsklausel des § 7 Abs. 1 Nr. 2 ArbZG auf Verkehrs- und Schichtbetriebe beschränkt, das Arbeitszeitgesetz enthält jedoch keine einschränkene Definition des Schichtbetriebs, so dass darunter alle Betriebe zu verstehen sind, in denen – nicht zwangsläufig von allen Arbeitnehmern – Schicht gearbeitet wird.93 Daraus ergibt sich für die Tarifvertragsparteien ein weiter Handlungsspielraum.94 Es erscheint angesichts der den Gesetzgeber bindenden Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG mehr als nur vertretbar, die Mindestpausendauer auch gegenüber tarifvertraglichen Vereinbarungen auf dem in § 4 ArbZG vorgesehenen Niveau einheitlich festzuschreiben. Die den Tarifvertragsparteien zugestandenen Abweichungsbefugnisse eröffnen einen beträchtlichen Gestaltungsspielraum. Insgesamt beeinträchtigt die Regelung der Mindestpausendauer im Arbeitszeitgesetz die tarifvertragliche Regelungsbefugnis daher nicht unangemessen. 3. Ergebnis Die in § 4 ArbZG grundsätzlich einseitig zwingend festgelegte Mindestpausendauer stellt einen verhältnismäßigen Eingriff in die verfassungsrechtliche Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis dar. Der Gesetzgeber ist nicht zu einer vollständig tarifdispositiven Regelung der Pausenzeiten verpflichtet.
II. Tarifvertragliche Regelungsbefugnis und die Festlegung von Höchstarbeitszeiten Der deutsche Gesetzgeber schreibt, anders als von der Arbeitszeitrichtlinie vorgesehen (Art. 6 RL 2003 / 88 / EG), keine durchschnittliche Höchstarbeitszeit innerhalb eines bestimmten Bezugszeitraums vor, sondern legt eine werktägliche Höchstarbeitszeit von 8 Stunden fest (§ 3 S. 1 ArbZG). Er konnte daher auf die Allgemein ebenso Löwisch / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 29. Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 68; Roggendorff, ArbZG, C § 7 Rn. 40, der die Abweichungsmöglichkeit jedoch auf die Schicht arbeitenden Betriebsteile beschränkt; Schliemann, in: ders. / Meyer, Arbeitszeitrecht, Rn. 545; a. A. Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 7 Rn. 29. 94 Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 68. 92 93
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
Normierung einer wöchentlichen Ruhezeit verzichten (vgl. Art. 5 RL 2003 / 88 / EG) und sich auf die Festlegung einer täglichen Ruhezeit beschränken (§ 5 ArbZG, Art. 3 RL 2003 / 88 / EG).95 Die Tarifvertragsparteien dürfen gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 2 bis 4 ArbZG die werktägliche Arbeitszeit über zehn Stunden hinaus ohne Beschränkung verlängern sowie gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2 ArbZG die tägliche Ruhezeit unter bestimmten Voraussetzungen verkürzen. Eine äußerste Grenze zieht § 7 Abs. 8 S. 1 ArbZG der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis, wonach eine tarifliche Arbeitszeitverlängerung die wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden im Durchschnitt von 12 Kalendermonaten nicht überschreiten darf. Zu dieser Einschränkung war der Gesetzgeber allerdings gemäß Art. 19 Unterabsatz 2 RL 2003 / 88 / EG verpflichtet. § 7 Abs. 2a ArbZG geht darüber sogar noch hinaus und eröffnet den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, auch ohne Zeitausgleich von den §§ 3, 5 Abs. 1 und 6 Abs. 2 ArbZG abzuweichen, wenn in die Arbeitszeit regelmäßig und in erheblichem Umfang Arbeitsbereitschaft oder Bereitschaftsdienst fallen sowie durch besondere Regelungen sichergestellt wird, dass die Gesundheit der Arbeitnehmer nicht gefährdet wird.96 Anhand dieses kurzen Abrisses wird deutlich, dass der Gesetzgeber die von Art. 18 RL 2003 / 88 / EG eröffneten Abweichungsbefugnisse für die Tarifvertragsparteien zwar nicht pauschal und vollständig in Form tarifdispositiver Vorschriften innerhalb der deutschen Rechtsordnung umgesetzt hat. Er eröffnet den deutschen Tarifvertragsparteien jedoch einen beträchtlichen Spielraum, der zwar formalen Einschränkungen unterliegt, aber mit einer erheblichen Flexibilität bei der Anpassung der gesetzlichen Vorgaben an betriebliche Besonderheiten verbunden ist.97 Im Anwendungsbereich des § 7 Abs. 1, 2 und 2a ArbZG begrenzt der Gesetzgeber die Abweichungsbefugnis allein in dem Rahmen, den ihm die Arbeitszeitrichtlinie vorgibt. Zieht man in Betracht, dass den Gesetzgeber aus Art. 2 Abs. 2 GG eine Schutzpflicht hinsichtlich der Gesundheit der Arbeitnehmer trifft, so kann das Ausmaß an zwingenden Arbeitszeitregelungen nicht als eine unangemessene Beeinträchtigung der tarifvertraglichen Vereinbarungsbefugnis angesehen werden. Bei der Festlegung der Höchstarbeitszeit waren kaum größere Spielräume für die Tarifvertragsparteien denkbar.98 Die wenigen zwingenden Vorgaben zur HöchstarbeitsVgl. auch Buschmann, AuR 2004, 1, 4 Fn. 35. Die letzte Einschränkung ist durch Art. 18 Abs. 3 RL 2003 / 88 / EG, vormals Art. 17 Abs. 3 Unterabsatz 3 RL 93 / 104 / EG, vorgegeben. Die Weite der Tariföffnungsklausel wird durch das Einwilligungserfordernis durch den Arbeitnehmer in § 7 Abs. 7 ArbZG wieder abgeschwächt, das durch Art. 22 Abs. 1 a) und b) RL 2003 / 88 / EG veranlasst ist. Buschmann, AuR 2004, 1, 4 f., kritisiert diese Tariföffnungsklausel als zu weit und die Übertragung der Aufgabe des Gesundheitsschutzes auf die Tarifvertragsparteien als zu pauschal; ebenfalls kritisch Ulber, ZTR 2005, 70 ff. 97 Baeck / Deutsch, ArbZG, § 7 Rn. 68, 74. 98 Nach Buschmann, AuR 2004, 1, 4 f., und Ulber, ZTR 2005, 70, 71 ff., habe der deutsche Gesetzgeber die von der Richtlinie eröffneten Spielräume sogar überschritten; anders Stellungnahme der BDA zu dem Änderungsantrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90 / Die 95 96
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
399
zeit können ohne Vorbehalte zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Arbeitnehmer gerechtfertigt werden99 und verletzen die Koalitionsfreiheit nicht. Eine Pflicht des Gesetzgebers zu einer verstärkten Schaffung tarifdispositiver Vorschriften im Rahmen der Festlegungen des Arbeitszeitgesetzes zur Höchstarbeitszeit ergibt sich nicht.
III. Tarifvertragliche Regelungsbefugnis und die Arbeitsfreiheit von Sonn- und Feiertagen Die Richtlinie 2003 / 88 / EG sieht den Sonntag im Gegensatz zur Richtlinie 93 / 104 / EG nicht mehr zwingend als arbeitsfreien Tag vor (vgl. Art. 5 RL 2003 / 88 / EG). Dies geht auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 12. 11. 1996100 zurück, in dem Art. 5 Abs. 2 RL 93 / 104 / EG für nichtig erklärt wurde, da der Sonntag in keinem engeren Zusammenhang mit der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer stehe als ein anderer Wochentag. Der Einschluss des Sonntags in die wöchentliche Mindestruhezeit hänge in Anbetracht der Unterschiedlichkeit der kulturellen, ethnischen und religiösen Faktoren letztlich von den Mitgliedstaaten selbst ab.101 Dennoch hat der deutsche Gesetzgeber § 9 ArbZG im Zuge der Änderung des Arbeitszeitgesetzes durch das Gesetz zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 24. 12. 2003102 unberührt gelassen. Daher fragt sich, ob die damit verbundenen Beschränkungen der Tarifautonomie vor Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG Bestand haben können. 1. Legitimes staatliches Schutzziel Hinsichtlich des Arbeitsverbots an Sonn- und Feiertagen gibt § 1 Nr. 2 ArbZG Aufschluss über das gesetzgeberische Motiv. Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage sollen als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung der Arbeitnehmer geschützt werden. Sie dienen primär der Erholung der Arbeitnehmer und damit dem Gesundheitsschutz. Gleichzeitig begünstigen sie aber auch – soweit einschlägig – die Religionsausübung bzw. politische oder gesellschaftliche Aktivitäten. Der überwiegende Teil der gesetzlichen Feiertage ist religiös motiviert. Grünen zum Entwurf eines Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt, S. 8, die sich explizit gegen das Einwilligungserfordernis durch den Arbeitnehmer in § 7 Abs. 7 ArbZG wendet, dabei allerdings verkennt, dass die Abweichungsbefugnis ohne Zeitausgleich in § 7 Abs. 2a ArbZG gemäß Art. 22 Abs. 1 a) RL 2003 / 88 / EG nur auf diese Weise umzusetzen war. 99 Allgemein ebenso Löwisch / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 29; auch Ulber, ZTR 2005, 70, 77 ff., nach dessen Ansicht die gesetzlichen Regelungen den Tarifvertragsparteien sogar zu viel Spielräume lassen. 100 Rs. C-84 / 94, Slg. 1996 I, 5755, 5805 f.; Baeck / Deutsch, ArbZG, Einführung Rn. 23. 101 EuGH vom 12. 11. 1996, Rs. C-84 / 94, Slg. 1996 I, 5755, 5805 f. 102 BGBl. 2003 I, S. 3002 ff., 3005.
400
3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
Durch das Arbeitsverbot wird den Arbeitnehmern die Religionsausübung an diesen Tagen erleichtert bzw. ermöglicht und daher eine in Art. 4 Abs. 1 GG garantierte Verhaltensweise geschützt.103 Gleichzeitig kommt der Gesetzgeber mit dem Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen dem in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe nach.104 Darüber hinaus werden die Feiertage mit religiösem Hintergrund aber auch traditionell für politisch motivierte Versammlungen und Demonstrationen genutzt.105 Durch die gesetzliche Freistellung von der Arbeitsverpflichtung an diesen Tagen fördert der Gesetzgeber diese Betätigungen und schützt damit gleichzeitig die in den Art. 5 Abs. 1 GG und 8 GG garantierten Betätigungen. Es finden sich auch Feiertage ohne jegliche religiöse Anknüpfung, wie der 1. Mai und der 3. Oktober. Die insbesondere am 3. Oktober vorgesehene Arbeitsruhe dient der Würdigung der deutschen Wiedervereinigung für die Bundesrepublik Deutschland.106 Als Nationalfeiertag mit Gründungscharakter steht dieser Tag auf einer Stufe mit der Festlegung der Nationalhymne oder der Flagge als staatlicher Symbolik.107 Gleichzeitig ermöglicht das Arbeitsverbot den Arbeitnehmern über den Erholungseffekt108 hinaus die Teilnahme an politischen Aktivitäten, was insbesondere für den Tag der Arbeit gilt, den typischerweise die Gewerkschaften für Demonstrationen und Kundgebungen nutzen.
103 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird nur untersucht, ob sich bei isolierter Betrachtung die arbeitszeitrechtlichen Vorschriften als ein verhältnismäßiger Eingriff in die im Rahmen der kollektiven Koalitionsbetätigungsgarantie geschützte tarifvertragliche Regelungsbefugnis darstellen. Nicht untersucht werden kann, ob der eindeutig an der christlich-abendländischen Tradition der Bundesrepublik ausgerichtete Feiertagsschutz des staatlichen Gesetzgebers vor dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG) und der negativen Religionsfreiheit bzw. der staatlichen religiösen Neutralität (Art. 4 GG) Bestand haben kann. 104 BVerfG vom 17. 11. 1992, BVerfGE 87, 363, 393; Zmarzlik / Anzinger, ArbZG, § 1 Rn. 15; zum Verfassungsrang dieses Schutzguts auch BVerfG vom 9. 6. 2004, NJW 2004, 2363, 2370. 105 So traditionell der Ostermontag für die Ostermärsche der Friedensbewegung, vgl. dazu BVerfG vom 12. 4. 2001, NJW 2001, 2075, 2076. 106 Insbesondere die heftige Kritik an den aktuellen Vorschlägen der Bundesregierung den 3. Oktober als selbstständigen Feiertag abzuschaffen und den Tag der Einheit auf den jeweils ersten Sonntag im Oktober zu verlegen verdeutlicht die zentrale Rolle, die der Feiertag im Selbstverständnis der Bürger spielt. 107 Vgl. für die Anerkennung der Staatsflagge und der Hymne als Rechtswerte von Verfassungsrang BVerfG vom 7. 3. 1990, BVerfGE 81, 278, 293 f.; vom 7. 3. 1990, E 81, 298, 308; kritisch Gusy, Anm. zu BVerfG vom 7. 3. 1990 (Deutschlandlied), JZ 1990, 640, 641. Die fundamentale Bedeutung der Wiedervereinigung für das Selbstverständnis der Bundesrepublik kommt nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, dass das Grundgesetz vor der Wiedervereinigung nur übergangsweise bis zu dem Zeitpunkt gelten sollte, bis sich das gesamte deutsche Volk eine einheitliche Verfassung gibt, Art. 146 GG a. F. (vgl. auch Art. 146 GG n. F.). 108 Von BVerfG vom 9. 6. 2004, NJW 2004, 2363, 2370, ausdrücklich auch als ein Aspekt des Verfassungsgebots in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV angesehen.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
401
Daher lassen sich für den mit der Regelung in § 9 ArbZG verfolgten Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV, Art. 4 Abs. 1 GG, Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 8 GG, dem staatlichen Repräsentationsanspruch sowie nicht zuletzt in Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich anerkannte Schutzgüter finden. 2. Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Regelung Die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes zur Arbeitsfreiheit der Sonn- und Feiertage ist verhältnismäßig, wenn sie zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks geeignet und erforderlich sowie die durch sie verursachten Beeinträchtigungen der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis im Verhältnis zum Stellenwert des gesetzgeberischen Ziels und dem Maß seiner Erreichung angemessen sind. Dabei ist der Prognose- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu berücksichtigen. Als Prüfungsmaßstab ist die Vertretbarkeitskontrolle anzuwenden.109 a) Geeignetheit und Erforderlichkeit Die Vorschriften des Arbeitszeitgesetzes zur Sonn- und Feiertagsruhe stellen sicher, dass die Arbeitnehmer an diesen Tagen nicht arbeiten müssen und sich daher dem Zweck dieser Tage entsprechend verhalten können. Sie fördern damit das gesetzgeberische Ziel, die Arbeitsruhe an diesen Tagen sicherzustellen und „die seelische Erhebung der Arbeitnehmer“ (§ 1 Nr. 2 ArbZG) zu schützen. Daher sind sie geeignet, den hinter der Regelung stehenden Zweck zu erreichen. Eine umfassende Tarifdispositivität des § 9 ArbZG würde den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit eröffnen, zum Nachteil der Arbeitnehmer von § 9 ArbZG abzuweichen und im Vergleich zu einer einseitig zwingenden Regelung den gesetzgeberischen Schutzzweck nicht gleichermaßen erreichen. Die gesetzliche Regelung ist in ihrer derzeitigen Form daher auch erforderlich. b) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Endgültigen Aufschluss über die Vereinbarkeit der arbeitszeitgesetzlichen Regelungen zur Sonn- und Feiertagsruhe kann wiederum nur die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne liefern. Der Gesetzgeber verfolgt mit der in § 9 ArbZG festgelegten Sonn- und Feiertagsruhe den Schutz bedeutsamer Grundrechtspositionen. Durch die gesetzliche Anordnung entzieht er den Tarifvertragsparteien die Dispositionsbefugnis über einen Aspekt der Arbeitszeitgestaltung, die eine zentrale Rolle im Rahmen der tarifvertraglichen Festlegung der Arbeitsbedingungen einnimmt. Allerdings ist das grundsätzliche Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen 109
Zur Begründung vgl. oben 3. Teil: § 8 B. I. 2. a).
26 Bock
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
bereits stark durchbrochen. § 10 ArbZG gestattet für zahlreiche Branchen und Betriebe Ausnahmen von der Grundregel des § 9 ArbZG. Zusätzlich dürfen die Tarifvertragsparteien unter anderem gemäß § 12 S. 1 Nr. 1 ArbZG die Mindestanzahl der beschäftigungsfreien Sonntage herabsetzen, gemäß § 12 S. 1 Nr. 2 ArbZG den Wegfall von Ersatzruhetagen für auf Werktage fallende Feiertage anordnen sowie gemäß § 12 S. 1 Nr. 3 ArbZG die Arbeitszeit in vollkontinuierlichen Schichtbetrieben auf bis zu 12 Stunden verlängern, wenn dadurch zusätzliche freie Schichten an Sonn- und Feiertagen erreicht werden können. Dadurch wird deutlich, dass es sich bei der in § 9 Abs. 1 ArbZG angeordneten Sonn- und Feiertagsruhe tatsächlich nur um einen Grundsatz handelt, der aufgrund der zahlreichen Ausnahmetatbestände in § 10 ArbZG bereits erheblich aufgeweicht ist und den die Tarifvertragsparteien gemäß § 12 S. 1 ArbZG noch zusätzlich lockern können. Im Verhältnis zu der Bedeutung der vom Gesetzgeber verfolgten Schutzinteressen, die durch Art. 2 Abs. 2, 4 Abs. 1, 5 Abs. 1, 8 GG sowie Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 139 WRV repräsentiert werden, erscheint die Beeinträchtigung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis nicht unangemessen. Daher ist auch der Eingriff durch die in § 9 ArbZG festgelegte Sonn- und Feiertagsruhe verhältnismäßig im engeren Sinne.
3. Ergebnis Das in § 9 ArbZG einseitig zwingend festgelegte grundsätzliche Arbeitsverbot an Sonn- und Feiertagen stellt zwar einen Eingriff in die tarifvertragliche Regelungsbefugnis dar. Dieser ist jedoch zum Schutz der Sonn- und Feiertagsruhe gerechtfertigt. Eine Pflicht des Gesetzgebers zu einer tarifdispositiven Gestaltung des § 9 ArbZG ergibt sich nicht.
IV. Tarifvertragliche Definition der Nachtarbeit und besonders gefährlicher Tätigkeiten Die Arbeitszeitrichtlinie sieht in Art. 2 Nr. 4 b) ein Wahlrecht für die Mitgliedstaaten vor, die Festlegung des Mindestumfangs der jährlichen Arbeitszeit, die während der Nachtzeit verrichtet wird und einen Arbeitnehmer zum Nachtarbeiter macht, den Tarifvertragsparteien zur eigenständigen Bestimmung zu überlassen. Der deutsche Gesetzgeber hat von diesem Wahlrecht ebenso wenig Gebrauch gemacht (vgl. § 2 Abs. 5 ArbZG) wie von der in Art. 8 S. 2 RL 2003 / 88 / EG vorgesehenen Möglichkeit, von den Tarifvertragsparteien festlegen zu lassen, welche Arbeit unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Nachtarbeit und der ihr eigenen Risiken mit besonderen Gefahren oder einer erheblichen körperlichen und geistigen Anspannung verbunden ist. Stattdessen sieht § 8 ArbZG insofern eine Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen vor.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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Dieser gesetzgeberische Eingriff ist nicht besonders intensiv. Er entzieht den Tarifvertragsparteien weniger zentrale Regelungsmöglichkeiten. In Gestalt von § 7 Abs. 1 Nr. 4 und 5 ArbZG und § 7 Abs. 2 und 2a ArbZG verleiben ihnen für die Nachtarbeit erhebliche Gestaltungsspielräume, obwohl ihnen die Definitionskompetenz hinsichtlich des Nachtarbeitnehmers entzogen ist. Demgegenüber hat das Bundesverfassungsgericht deutlich gemacht, dass durch Nachtarbeit erhebliche Gefahren für die Gesundheit der Arbeitnehmer drohen und der Staat zur Bereitstellung gesetzlicher Schutzvorschriften zur Abwendung dieser Gefahren verpflichtet ist.110 Es erscheint daher vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich geschützten tarifvertraglichen Regelungsbefugnis nicht unangemessen, wenn der Gesetzgeber selbst definiert, wer Nachtarbeitnehmer ist und nach welchen Kritierien sich die besondere Gefährlichkeit einer Arbeitstätigkeit richtet. Derartige Festlegungen lassen sich überdies objektiv treffen, ohne dass sich hinsichtlich der Definition die besondere Sachkompetenz der Tarifvertragsparteien realisiert. Ab wann die besonderen Gefahren der Nachtarbeit akut werden, hängt nicht primär von betriebs- oder branchenspezifischen Besonderheiten ab. Vielmehr wäre die dem Tarifvertragssystem eigene Dezentralisierung für die Anwendung arbeitszeitrechtlicher Schutzvorschriften sogar hinderlich, wenn die Definition der Nachtarbeit bzw. Gefährlichkeit bestimmter Tätigkeiten von Region zu Region variieren würde. Angesichts der erheblichen und dringenden Gefahren, die durch Nachtarbeit drohen, und der mit einer tariflichen Definitionskompetenz verbundenen Nachteile ist die zwingende staatliche Regelung in § 2 Abs. 5 ArbZG und § 8 ArbZG vor Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gerechtfertigt.
V. Ergebnis Das Arbeitszeitrecht enthält in zentralen Bereichen bereits tarifdispositive Vorschriften. Die Tarifvertragsparteien sind in beträchtlichem Umfang mit Abweichungsbefugnissen ausgestattet und verfügen über einen erheblichen eigenen Gestaltungsspielraum. Eine Pflicht des Gesetzgebers zu einer verstärkten tarifdispositiven Normierung des Arbeitszeitgesetzes ergibt sich nicht.
C. Urlaubsrecht Das staatliche Urlaubsrecht ist bereits weitgehend tarifdispositiv ausgestaltet. Bis auf die §§ 1, 2 und 3 Abs. 1 BUrlG stehen alle Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes zur Disposition der Tarifvertragsparteien. Die gemäß § 13 Abs. 1 BUrlG in Verbindung mit §§ 1 und 3 Abs. 1 BUrlG der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis entzogene Mindesturlaubsdauer beruht auf den zwingenden gemeinschafts110
26*
BVerfG vom 28. 1. 1992, BVerfGE 85, 191, 212 f.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
rechtlichen Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie (vgl. Art. 7 Abs. 1 RL 2003 / 88 / EG). Sie ist aufgrund der Relativierung des nationalen Grundrechtsschutzes durch das Europarecht111 einer Grundrechtsprüfung anhand Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG entzogen.112 Das Bild eines den Sozialpartnern im Urlaubsrecht umfassend eröffneten Regelungsspielraums relativiert sich jedoch wieder, da das Bundesarbeitsgericht bei der Anwendung und Auslegung der Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes sehr restriktiv vorgeht. Durch das Verbot mittelbarer Eingriffe in unabdingbare Grundprinzpien des Urlaubsrechts113 schränkt das Gericht die Abweichungsbefugnis der Tarifvertragsparteien erheblich ein. Insbesondere für die Festlegung des Urlaubsentgelts bleibt nur in einem sehr engen Rahmen die Möglichkeit für abweichende Tarifvertragsregelungen.114 Da Entgeltfragen den Tarifvertragsparteien naturgemäß sehr wichtig sind, ist von gesteigertem Interesse, ob die vom Bundesarbeitsgericht vorgenommene Auslegung des § 11 Abs. 1 BurlG in Verbindung mit § 13 Abs. 1 und § 1 BUrlG vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Garantie der tariflichen Normsetzungsbefugnis aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG Bestand haben kann. Das Bundesarbeitsgericht hat sich mit dieser Frage zwar befasst, die Verfassungsmäßigkeit seiner Auslegung jedoch ohne vertiefte Auseinandersetzung mit dem Grundrechtstatbestand bejaht.115 Insbesondere Buchner erhebt Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Rechtsprechung des 9. Senats des Bundesarbeitsgerichts.116
I. Prüfungsmaßstab Der Prüfungsmaßstab entspricht dem, der bereits für die Überprüfung der restriktiven Auslegung des § 622 Abs. 4 S. 1 BGB angewendet wurde.117 Ein Verstoß gegen das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG liegt erst dann vor, wenn die richterliche Rechtsfindung auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruht oder diese vollständig unberücksichtigt gelassen hat.118 Wieder geht es nicht Vgl. dazu allgemein oben 2. Teil: § 7 C. I. 3. a). So jetzt zutreffend Löwisch / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 33; anders noch mit der Forderung nach der Tarifdispositivität der vierten Urlaubswoche dies., in: MüHBArbR, § 246 Rn. 62. 113 Vgl. dazu oben 1. Teil: § 3 C. I. 1. 114 Vgl. ausführlich oben 1. Teil: § 3 C. I. 1. 115 Vgl. BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG. 116 Buchner, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, SAE 2001, 86, 90, 91. 117 Vgl. oben 3. Teil: § 8 A. III. 1. 118 St. Rspr. seit BVerfG vom 10. 6. 1964, BVerfGE 18, 85, 93; vom 11. 5. 1976, BVerfGE 42, 143, 149; zuletzt BVerfG vom 7. 2. 1990, BVerfGE 81, 242, 253; vom 6. 2. 2001, BVerfGE 103, 89, 100; vom 16. 11. 1993, BVerfGE 89, 276, 285; vom 19. 10. 1993, BVerfGE 89, 214, 230; ebenso Badura, HBGR, § 20 Rn. 26, S. 801; für eine nur eingeschränkte Bindungswirkung an die Grundrechte bei privatrechtlichen Sachverhalten auch Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1445. 111 112
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um die Optimierung des grundrechtlichen Schutzes für die beteiligten Seiten.119 Die Rechtsanwendung ist nicht auf die Herstellung eines weitgehenden Grundrechtsschutzes gerichtet, sondern auf die Vereinbarkeit der erzielten Ergebnisse mit den äußeren Grenzen der Grundrechtsgarantien.120 Dieser eingeschränkte Maßstab ist zu beachten, wenn der auf dem Entzug von Regelungsbefugnissen beruhende Eingriff in die Tarifautonomie auf seine Rechtfertigung überprüft wird. Die restriktive Auslegung muss daher ein Rechtsgut von Verfassungsrang schützen und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren.
II. Legitimes Regelungsziel Das Bundesurlaubsgesetz dient erklärtermaßen der Wiederherstellung und Erhaltung der Leistungsfähigkeit und der Arbeitskraft der Arbeitnehmer und damit dem Schutz der Gesundheit der betroffenen Personenkreise.121 In den Beratungen des Bundestages zum Bundesurlaubsgesetz ist wiederholt von dem Schutz der Volksgesundheit die Rede gewesen.122 Die Gründe hierfür wurden in den durch eine Verdichtung des Arbeitsprozesses gesteigerten arbeitsphysiologischen Belastungen, der täglichen Arbeitszeit und den mit ihr gebundenen Zeiten der Wegstrecken gesehen.123 Durch die gesetzliche Regelung eines Mindesturlaubs im Allgemeinen und die Sicherstellung angemessener Vergütung im Besonderen soll dem Arbeitnehmer ermöglicht werden, ohne Entgeltverlust im Urlaub seine Erholung zu betreiben.124 Damit stellt sich der Gesundheitsschutz deutlich als gesetzgeberische Motivation für die Regelung des Urlaubsrechts heraus. Im Hinblick auf dieses Regelungsziel findet sich mit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG auch ein verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt125 und damit eine hinreichende Legitimation für das staatliche Regelungsziel bei der Normierung des Urlaubsrechts.
BVerfG vom 16. 11. 1993, BVerfGE 89, 276, 286; Schwarze, ZTR 1996, 1, 4. BVerfG vom 10. 6. 1964, BVerfGE 18, 85, 92 f.; vom 16. 11. 1993, BVerfGE 89, 276, 285; vom 6. 2. 2001, BVerfGE 103, 89, 100. 121 Stenographischer Bericht der Bundestagssitzung vom 23. 2. 1962, S. 603 C; Schriftliche Begründung des Entwurfes der SPD-Fraktion für ein Bundesurlaubsgesetz, Anlagen zum Stenographischen Bericht der 12. Sitzung des 4. Bundestages vom 24. 1. 1962, S. 332 A; Bericht des Ausschusses für Arbeit, BT-Drucks. IV / 785, S. 2. 122 Vgl. Stenographischer Bericht der Bundestagssitzung vom 23. 2. 1962, S. 603 B. 123 Schriftliche Begründung des Entwurfes der SPD-Fraktion für ein Bundesurlaubsgesetz, Anlagen zum Stenographischen Bericht der 12. Sitzung des 4. Bundestages vom 24. 1. 1962, S. 332 A. 124 BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG. 125 BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG. 119 120
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
III. Verhältnismäßigkeit Die vom 9. Senat des Bundesarbeitsgerichts vorgenommene Auslegung wahrt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn sie geeignet und erforderlich ist, um das dem Gesetz zugrundeliegende Schutzziel zu erreichen sowie darüber hinaus die Beeinträchtigung der Tarifautonomie im Verhältnis zur erzielten Schutzwirkung angemessen ist. 1. Geeignetheit und Erforderlichkeit Die restriktive Auslegung des 9. Senats fördert das Ziel, dem Arbeitnehmer die Freistellung von der Arbeit unter Beibehaltung der bisherigen Vergütung zur Verfügung zu stellen. Sie ist daher zur Erreichung des urlaubsrechtlichen Schutzzwecks geeignet. Eine weite Auslegung des § 11 Abs. 1 BUrlG würde zudem in Verbindung mit § 13 Abs. 1 BUrlG den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit eröffnen, zum Nachteil der Arbeitnehmer von den gesetzlich vorgesehenen Entgeltregelungen abzuweichen und die Urlaubsvergütung der Arbeitnehmer zu schmälern. Sie schont dann zwar die tarifvertragliche Regelungsbefugnis erreicht den Schutzzweck zugunsten der Arbeitnehmer jedoch nicht mehr gleichermaßen wie eine enge Auslegung des § 11 Abs. 1 BUrlG dies bewerkstelligen würde. 2. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Der 9. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat die Verhältnismäßigkeit seiner sehr restriktiven Auslegung hinsichtlich der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis bei der Festlegung des Urlaubsentgelts126 damit begründet, dass den Tarifvertragsparteien trotz allem noch ein weiter Regelungsspielraum verbleibe.127 So könnten sie für die Berechnung des Geldfaktors vom Referenz- zum Lohnausfallprinzip wechseln, den Referenzzeitraum verlängern bzw. zur Vereinfachung der Entgeltberechnung Pauschalierungen vornehmen, selbst wenn dadurch im Einzelfall eine Verringerung des Urlaubsentgelts im Vergleich zum Arbeitsentgelt eintrete.128 In dieser Pauschalität kann die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis nicht festgestellt werden. Die den Tarifvertragsparteien auferlegten Restriktionen dringen in den Bereich der Entgeltfestsetzung vor, in dem die Wirkkraft des Grundrechtsschutzes aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG am intensivsten ist. Dem kann die Rechtsprechung allerdings mit dem von Art. 2 126 127 128
Vgl. dazu oben 1. Teil: § 3 C. I. 1. BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG. BAG vom 22. 1. 2002, AP Nr. 55 zu § 11 BUrlG.
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Abs. 2 GG geforderten Gesundheitsschutz auch ein gewichtiges Schutzgut entgegensetzen, für das sogar eine grundrechtliche Schutzpflicht besteht. Die Festlegung des Urlaubsentgelts ist nicht nur ein traditionelles, sondern auch ein zentrales Betätigungsfeld der Tarifvertragsparteien. Die Materie ist aufgrund der Unterschiede innerhalb der einzelnen Betriebe zudem einer ständigen Entwicklung unterworfen. Die Tarifvertragsparteien als kompetente Sachverständige vor Ort haben einen viel besseren Einblick in die Besonderheiten der betrieblichen Entlohnungssysteme als die Richter. Wenn der 9. Senat den Tarifvertragsparteien jedoch aufgrund der exakten Bestimmung der ausgefallenen Arbeitszeit anhand des Lohnausfallprinzips den Zeitfaktor zwingend vorgibt und ihnen auch bei der Festlegung des Geldfaktors verbietet, variable Lohnbestandteile ganz oder zum Teil unberücksichtigt zu lassen, dann verbleibt den Tarifvertragsparteien alles andere als ein „weiter Regelungsspielraum“. Ein Wechsel vom Referenz- zum Lohnausfallprinzip bei der Bestimmung des Geldfaktors würde nur Auswirkungen haben, wenn sich die Vergütung innerhalb eines Arbeitsverhältnisses ständig ändert. Mit dem Übergang vom Referenz- zum Lohnausfallprinzip können die Tarifvertragsparteien daher nicht wirklich etwas gestalten. Den Sozialpartnern sind im Bereich des Urlaubsentgelts also die Hände gebunden. Darüber hinaus vernachlässigt die Beschränkung der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis hinsichtlich des Geldfaktors den Aspekt, dass es häufig die Tarifpartner sind, die über Art und Umfang der Zuschläge entscheiden. Daher sollte ihnen diese Dispositionsbefugnis auch im Rahmen der Festlegung des Urlaubsentgelts nicht entzogen werden.129 Die Beeinträchtigungen der Tarifautonomie durch die restriktive Rechtsprechung des 9. Senats des Bundesarbeitsgerichts wiegen schwer. Demgegenüber erreichen die zwingenden Vorgaben des Senats zur Bestimmung des Urlaubsentgelts das Ziel des Gesundheitsschutzes nur mittelbar. Im Vordergrund für die Bewahrung und Wiederauffrischung der Arbeitskraft des Arbeitnehmers steht, dass dieser einen Anspruch auf Freistellung von der Arbeitspflicht hat. Diese verschafft ihm unmittelbar den Erholungseffekt. Sicherlich ist dieser nur nachhaltig, wenn der Arbeitnehmer während der Freistellung nicht gezwungen ist, seinen Lebensstandard einzuschränken, da sonst das Eintreten des Erholungseffektes gefährdet wird. Die gesetzliche Konzeption des Bundesurlaubsgesetzes war jedoch nicht darauf angelegt, dem Arbeitnehmer während des Urlaubs exakt den hypothetisch erzielten Arbeitsverdienst zu sichern. Vielmehr wollte der Gesetzgeber den Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Urlaubsentgelts aus dem Weg gehen, indem er die Referenzmethode zur Festlegung der Höhe des Urlaubsentgelts heranzog. Gleichzeitig wurden die aus Sicht der verfassungsrechtlichen Garantie der Tarifautonomie bestehenden Bedenken gegen eine gesetzliche Normierung des Urlaubsrechts dadurch ausgeräumt, dass den Tarifvertragsparteien die Festlegung der 129 So für die Festlegung des fortzuzahlenden Entgelts im Krankheitsfall, BAG vom 13. 3. 2002, AP Nr. 58 zu § 4 EntgeltFG.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
Einzelheiten und die Anpassung der gesetzlichen Regelungen an die Erfordernisse des Einzelfalls überlassen blieb.130 Das Ansinnen des 9. Senats, den Arbeitnehmern die exakte hypothetische Entlohnung auf Kosten der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis entgegen der gesetzlichen Konzeption zu sichern, findet keine Legitimation mehr in einem verfassungsrechtlichen Schutzgut. Ein solches ist für die Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG jedoch erste Voraussetzung. Das Sozialstaatsprinzip, auf das sich auch der 9. Senat stützt, eignet sich zur Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nur, wenn ein Minimalschutz im Sinne einer Existenzsicherung bezweckt wird. Damit hat die Rechtsprechung des 9. Senats jedoch nichts mehr gemein. Wenn der 9. Senat zur Ermittlung des Zeitfaktors im Rahmen des § 11 Abs. 1 BUrlG die Anwendung des Lohnausfallprinzips als notwendig erachtet, um den modernen flexiblen Arbeitszeitsystemen gerecht zu werden, die sich mit dem Referenzprinzip nicht erfassen lassen,131 dann muss er wenigstens den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit einräumen, zugunsten eigener sachgerechter Lösungen, von den Rechtsprechungsvorgaben abzuweichen. Die Tarifvertragsparteien sind prädestiniert, angemessene Lösungen für betriebliche und branchenspezifische Besonderheiten zu entwickeln. Dass der Gesetzgeber die Tariföffnungsklausel des § 13 Abs. 1 BUrlG in erster Linie vorgesehen hat, um den Günstigkeitsvergleich zu vermeiden, und gleichzeitig davon ausging, dass die tariflichen Abweichungen nicht erheblich sein werden, führt zu keiner abweichenden Beurteilung. Um sicherzustellen, dass die Tarifvertragsparteien durch abweichende Konzepte Arbeitnehmerinteressen nicht unangemessen benachteiligen, genügt die Anwendung des vom 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts entwickelten Lebensstandardprinzips, das den Arbeitnehmern im wesentlichen den gewohnten Arbeitsverdienst, also die Aufrechterhaltung ihres bisherigen Lebenszuschnitts sichert. Die den Tarifvertragsparteien durch die Rechtsprechung des 9. Senats auferlegten Einschränkungen ihrer tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis sind im Hinblick auf das mit ihnen verfolgte Schutzziel nicht angemessen. Selbst wenn der 9. Senat die Ermittlung des Zeitfaktors anhand des Lohnausfallprinzips entgegen dem Gesetzeswortlaut für notwendig erachtet, so muss er zumindest den Tarifvertragsparteien aufgrund ihrer verfassungsrechtlich garantierten Normsetzungsbefugnis die Abweichung davon gestatten. Anderenfalls verletzt er das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG.
130 131
Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Arbeit, BT-Drucks. IV / 785, S. 2, 4. So vermutet Gutzeit, Anm. zu BAG vom 22. 2. 2000, EzA § 11 BUrlG Nr. 46, S. 20 f.
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IV. Ergebnis Die restriktive Auslegung des § 11 Abs. 1 in Verbindung mit § 13 Abs. 1 S. 1 BUrlG durch den 9. Senat des Bundesarbeitsgerichts ist abzulehnen. Sie stellt eine unverhältnismäßige und daher nicht gerechtfertigte Beeinträchtigung der von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verfassungsrechtlich geschützten tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis dar. Mit dem Wortlaut vereinbar und vor dem Hintergrund der Grundrechtsgarantie allein angemessen ist die Tarifdispositivität sowohl des Geld- als auch Zeitfaktors bei der Festlegung des Urlaubsentgelts. Als äußere Grenze der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis kann das vom 6. Senat des Bundesarbeitsgerichts entwickelte Lebensstandardprinzip herangezogen werden, da es im Hinblick auf die Tarifautonomie einen sachgerechten Maßstab darstellt.
D. Entgeltfortzahlung Im Bereich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall hat der Gesetzgeber den Tarifvertragsparteien Abweichungsbefugnisse zum Nachteil der Arbeitnehmer lediglich für die Festlegung des fortzuzahlenden Entgelts eingeräumt. § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG sieht vor, dass ein Tarifvertrag eine vom Gesetz abweichende Bemessungsgrundlage für das fortzuzahlende Arbeitsentgelt festlegen kann. Anders als der 9. Senat des Bundesarbeitsgerichts legt der 5. Senat die Tariföffnungsklausel so aus, dass sie den Tarifvertragsparteien nicht nur die Anwendung einer anderen Berechnungsmethode, sondern auch die Abweichung von der gesetzlich vorgesehenen Bestimmung des Zeit- und Geldfaktors der Berechnungsgrundlage gestattet.132 In diesem Rahmen stehe es den Tarifvertragsparteien sogar frei, einzelne Vergütungsbestandteile für die Berechnung des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts unberücksichtigt zu lassen, wenn nur die Grundvergütung zu 100% angesetzt wird.133 Die Auslegung des § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG hatte gezeigt, dass sein Wortlaut durchaus Abweichungen in stärkerem Umfang zulässt.134 Löwisch und Tietje fordern dementsprechend, dass man die Tarifvertragsparteien insbesondere vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nicht auf die 100 %-ige Berücksichtigung der Grundvergütung beschränken solle.135 Ob die verfassungsrechtliche Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis durch die einschränkende Auslegung des § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG verletzt wird und die Gerichte daher zu einer verfassungskonformen Auslegung der Tariföffnungsklauseln verpflichtet sind, ist im Folgenden de lege lata zu untersuchen. 132 BAG vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG; vom 13. 3. 2002, AP Nr. 58 zu § 4 EntgeltFG; vom 9. 10. 2002, AP Nr. 63 zu § 4 EntgeltFG. 133 BAG vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG; vom 13. 3. 2002, AP Nr. 58 zu § 4 EntgeltFG; vom 9. 10. 2002, AP Nr. 63 zu § 4 EntgeltFG. 134 Vgl. oben, 1. Teil: § 3 C. II. 3. 135 Löwisch, BB 1999, 102, 106; ähnlich ders. / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 33; Tietje, Anm. zu BAG vom 26. 9. 2001, SAE 2003, 78, 79.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
Aber auch über diese Frage hinaus sind tarifvertragliche Regelungen denkbar, die zu einer flexibleren Handhabung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall führen. Der Gesetzgeber könnte daher de lege ferenda zu einer verstärkten Öffnung der gesetzlichen Vorschriften zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall verpflichtet sein. Denkbar ist beispielsweise die tarifdispositive Gestaltung des § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG, die es den Tarifvertragsparteien ermöglichen würde, Karenztage für das Eingreifen der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bzw. eine Wartezeit einzuführen, nach der etwa der Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall erst entsteht, wenn das Arbeitsverhältnis eine bestimmte Zeit bestanden hat. Eine derartige Pflicht zur tarifdispositiven Regelung durch den Gesetzgeber ergibt sich allerdings nur, wenn die derzeitige zwingende Ausgestaltung des Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall einen ungerechtfertigten Eingriff in die verfassungsrechtliche Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis darstellt und dadurch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verletzt.
I. Unabdingbarkeit des Grundsatzes der 100%igen Fortzahlung der Grundvergütung und Tarifautonomie Der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts hat in seiner Entscheidung vom 26. 9. 2001136 bereits zur Vereinbarkeit seiner Auslegung des § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG Stellung genommen. Nach Ansicht der Richter sei sie durch das Sozialstaatsprinzip als einem Rechtswert von Verfassungsrang getragen, zur Sicherstellung der gesetzgeberischen Ziele geeignet und erforderlich sowie auch verhältnismäßig im engeren Sinne, da die Einschränkung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis nicht unangemessen sei und den Tarifvertragsparteien mit der Möglichkeit zur Festlegung der Berechnungsgrundlagen noch ein beträchtlicher Gestaltungsspielraum zur Verfügung stehe.137 Demgegenüber hält Löwisch die Bindung der Tarifvertragsparteien an die volle Fortzahlung der Grundvergütung im Hinblick auf Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG für bedenklich.138 Die Rechtsprechung ist bei der Anwendung des einfachen Gesetzesrechts an die Grundrechte und damit auch an Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gebunden. Ein Verstoß liegt jedoch erst dann vor, wenn die richterliche Rechtsfindung auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung des Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs, beruht oder dieses vollständig unberücksichtigt gelassen hat.139 Es geht nicht um die Optimierung des grundrechtlichen Schutzes AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG. BAG vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG. 138 Löwisch, BB 1999, 102, 106; ähnlich ders. / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 33. 139 St. Rspr. seit BVerfG vom 10. 6. 1964, BVerfGE 18, 85, 93; vom 11. 5. 1976, BVerfGE 42, 143, 149; zuletzt BVerfG vom 7. 2. 1990, BVerfGE 81, 242, 253; vom 6. 2. 2001, BVerfGE 103, 89, 100; vom 16. 11. 1993, BVerfGE 89, 276, 285; vom 19. 10. 1993, BVerfGE 89, 214, 230; ebenso Badura, HBGR, § 20 Rn. 26, S. 801; für eine nur einge136 137
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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für die beteiligten Seiten.140 Die Rechtsanwendung ist nicht auf die Herstellung eines weitgehenden Grundrechtsschutzes gerichtet, sondern auf die Vereinbarkeit der erzielten Ergebnisse mit den äußeren Grenzen der Grundrechtsgarantien.141 Ob die Rechtsprechung des 5. Senats diesen Anforderungen gerecht wird, soll im Folgenden untersucht werden. Grundsätzlich muss die Einschränkung der Tarifautonomie durch ein Rechtsgut von Verfassungsrang getragen sein und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Dabei ist jedoch der gegenüber der Rechtsprechung gelockerte Prüfungsmaßstab zu berücksichtigen. 1. Legitimes Schutzgut Arbeitsleistung und Entgelt bilden das arbeitsvertragliche Synallagma. Daraus folgt bei Anwendung der allgemeinen vertragsrechtlichen Vorschriften des Zivilrechts, dass bei dem Wegfall einer der beiden im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Hauptleistungen auch die Pflicht zur Erbringung der Gegenleistung entfällt (§ 326 Abs. 1 BGB). Ist der Ausfall der Arbeitsleistung auf Seiten des Arbeitnehmers krankheitsbedingt, dann wird die Rechtsfolge der Grundregel als unbillig empfunden. Diesem grundsätzlichen Ergebnis hilft das Entgeltfortzahlungsgesetz ab. Es verschafft den Arbeitnehmern einen Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts für die Zeiten eines krankheitsbedingten Arbeitsausfalles. Auf diese Weise ermöglicht es ihnen in dieser Zeit – ähnlich wie beim Erhohlungsurlaub – die Aufrechterhaltung des bisherigen Lebenszuschnitts, den sie in Zeiten der Krankheit zur Rekonvaleszenz noch viel stärker benötigen als bei der Erhaltung und Wiederauffrischung der Arbeitskraft während der bezahlten Freizeit im Urlaub. Dadurch sichert der Gesetzgeber den Genesungsprozess der Arbeitnehmer wirtschaftlich ab. Dasselbe gilt für die Entgeltfortzahlung an Feiertagen. Diese ist im Zusammenspiel mit der Festlegung der Arbeitsruhe an gesetzlichen Feiertagen zu sehen. Die in § 2 EFZG geregelte Fortzahlung der Arbeitsvergütung flankiert den direkten Schutz der an den gesetzlichen Feiertagen ermöglichten Erholung sowie religiösen bzw. politisch-gesellschaftlichen Betätigung in wirtschaftlicher Hinsicht. Dadurch dient die Entgeltfortzahlung demselben Ziel.142 Die Einschätzung Steins143 und Kamanabrous,144 dass sich für den Bereich der Entgeltfortzahlung eindeutig kein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut schränkte Bindungswirkung an die Grundrechte bei privatrechtlichen Sachverhalten auch Stern, Staatsrecht III / 1, S. 1445. 140 BVerfG vom 16. 11. 1993, BVerfGE 89, 276, 286; Schwarze, ZTR 1996, 1, 4. 141 BVerfG vom 10. 6. 1964, BVerfGE 18, 85, 92 f.; vom 16. 11. 1993, BVerfGE 89, 276, 285; vom 6. 2. 2001, BVerfGE 103, 89, 100. 142 Insoweit ist auf die Ausführungen zu den arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen zu verweisen, vgl. oben 3. Teil: § 8 B. III. 1. 143 Stein, AuR 1998, 1, 4. 144 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
identifizieren lasse, das der Gesetzgeber mit der Regelung absichern wolle, geht daher fehl. Der Vergleich mit der gesetzlichen Regelung des Urlaubsrechts zeigt, dass in beiden Fällen durch die Aufrechterhaltung des Entlohnungsanspruchs trotz nicht erbrachter Arbeitsleistung die ungestörte gesundheitliche Entwicklung der Arbeitnehmer gefördert werden soll.145 Damit trägt der Gesetzgeber dem Schutzgut des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG Rechnung, für das anerkanntermaßen sogar eine staatliche Schutzpflicht besteht. Im Hinblick auf die Entgeltfortzahlung an Feiertagen fördert der Gesetzgeber die ungestörte Erholung bzw. Betätigung entsprechend dem Feiertagszweck.146 Ein Rückgriff auf das in Art. 20 Abs. 1 GG verankerte Sozialstaatsprinzip, wie ihn das Bundesarbeitsgericht vorgenommen hat,147 erübrigt sich also und wäre im Rahmen der hier verfolgten Konzeption auch nicht ausreichend gewesen.148 Sicherlich ist die Schutzwirkung im Hinblick auf die herangezogenen Grundrechte ein über die wirtschaftliche Absicherung vermittelter. Das führt aber nicht dazu, dass der Schutzzweck nicht mehr in den Grundrechten bzw. Staatsstrukturbestimmungen wurzelt. 2. Verhältnismäßigkeit Die Rechtsprechung des 5. Senats des Bundesarbeitsgerichts, die den Tarifvertragsparteien bei der Festlegung der Berechnungsgrundlage für das fortzuzahlende Arbeitsentgelt die Disposition über die Grundvergütung der Arbeitnehmer entzieht, muss darüber hinaus auch geeignet, erforderlich und angemessen zur Erreichung des gesetzgeberischen Schutzzwecks sein. Den Arbeitnehmern während eines krankheitsbedingten Arbeitsausfalls ihr volles Grundgehalt zu sichern, fördert den gesetzgeberischen Zweck zur Gewährleistung einer wirtschaftlich abgesicherten Genesung. Sie ist daher geeignet, das Schutzziel zu erreichen. Erforderlich ist die Rechtsprechung, wenn eine weitergehende Tarifdispositivität der Berechnungsgrundlage, die sich auch auf die Grundvergütung bezieht und daher naturgemäß die tarifvertragliche Regelungsbefugnis nicht so intensiv beeinträchtigt wie die Unantastbarkeit der Grundvergütung, das gesetzgeberische Ziel gleichermaßen erreicht wie die restriktive Rechtsprechung des 5. Senats des Bundesarbeitsgerichts. Da eine verstärkte Tariföffnung jedoch aus Sicht des primär arbeitnehmerschützenden Charakters der Entgeltfortzahlung die Gefahr in sich birgt, dass die Tarifvertragsparteien zum Nachteil der Arbeitnehmer die Höhe des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts gegenüber dem gesetzlichen 145 Auch Kempen, AuR 1996, 336, 342, erblickt den Gesundheitsschutz als Rechtsgut, das der gesetzlichen Regelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall zugrunde liegt. 146 Daher lassen sich als verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte in diesem Sinne Art. 4 Abs. 1 bzw. Art. 8 GG finden. 147 BAG vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG, ebenso Tietje, Anm. zu BAG vom 26. 9. 2001, SAE 2003, 78, 79. 148 Vgl. oben 2. Teil: § 7 C. I. 3 b) bb).
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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Status quo verringern könnten, ist der Standpunkt der Rechtsprechung, dass das gesetzgeberische Ziel bei einer weniger restriktiven Handhabung des § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG nicht gleichermaßen verwirklicht wird, nicht von einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung der Grundrechte getragen und daher verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Entscheidendes Gewicht kommt somit der Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu. Der vorbehaltlos garantierten Koalitionsfreiheit können die Richter den Gesundheitsschutz entgegensetzen, der dem Staat sogar eine grundrechtliche Schutzpflicht auferlegt. Dem gesetzgeberischen Ziel kommt folglich besonderes Gewicht zu, das allerdings dadurch relativiert wird, dass die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall den Schutzzweck nur mittelbar fördert. Dem Gesundheitsschutz wird durch die wirtschaftliche Absicherung der Arbeitnehmer während des krankheitsbedingten Arbeitsausfalls lediglich indirekt gedient. Der Eingriff in die tarifvertragliche Regelungsbefugnis durch die zwingende Festlegung der Berechnungsgrundlage für das fortzuzahlende Arbeitsentgelt auf 100 % der Grundvergütung bewegt sich demgegenüber im Bereich der Entgeltfestsetzung und damit auf einem Gebiet, für das der Grundrechtsschutz aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG eine besonders hohe Wirkkraft entfaltet. Allerdings beeinträchtigt die Auslegung von § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG durch den 5. Senat die Regelung des Arbeitsentgelts nicht unmittelbar. Betroffen ist nur ein Ausschnitt, nämlich die Höhe des im Krankheitsfall fortzuzahlenden Entgelts. Auch zeitlich ist der Eingriff auf die gesetzlich vorgesehenen sechs Wochen der Entgeltfortzahlung beschränkt. Die Rechtsprechung des 5. Senats lässt den Tarifvertragsparteien zudem beachtliche Spielräume offen. So können die Tarifvertragsparteien für die Berechnung des fortzuzahlenden Entgelts zwischen Referenzmethode und Lohnausfallprinzip wechseln bzw. die Systeme miteinander kombinieren. Darüber hinaus steht es ihnen frei, einzelne Entgeltbestandteile, die nicht zur Grundvergütung gehören, aus der Berechnungsgrundlage auszunehmen. Im Einzelfall können sie damit eine erhebliche Reduzierung des fortzuzahlenden Entgelts erreichen. Entgegen Löwisch / Rieble149 ist den Tarifvertragsparteien demnach das Betätigungsfeld innerhalb der sechswöchigen Entgeltfortzahlungspflicht nicht genommen. Wie das Bundesarbeitsgericht zutreffend feststellt, kommt ihnen ein erheblicher Gestaltungsspielraum zu.150 Von einer übermäßig intensiven Beeinträchtigung der Tarifautonomie kann daher keine Rede sein. Auch wenn als Schutzminimum eine Entgeltfortzahlung in Höhe von 70 bis 80% insbesondere im europäischen Vergleich als ausreichend angesehen wird,151 ist die staatliche Gewalt und als Teil derselben die Löwisch / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 33; Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 938. BAG vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG. 151 Heinze, NZA 1996, 785, 787, 788; so bereits Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 938, der eine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall von 60 bis 70% des ursprünglichen Entgelts fordert. 149 150
414
3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
Rechtsprechung im Bereich des Arbeits- und Sozialschutzes nicht auf die Wahrung der unabweislichen Mindestgrenzen beschränkt.152 Sie kann darüber hinausgehen, solange die Beeinträchtigung der Tarifautonomie im Verhältnis zur Erreichung des Schutzzwecks nicht unangemessen ist. Aus Sicht der Tarifvertragsparteien ist natürlich das Optimum an Flexibilität bei der Festlegung der Höhe des fortzuzahlenden Entgelts noch nicht ausgeschöpft. Wie der der Entscheidung vom 26. 9. 2001 zugrundeliegende Sachverhalt zeigt, können die Tarifvertragsparteien lediglich die Berechnung der Bemessungsgrundlage beeinflussen, nicht aber zum Ausgleich des Arbeitsausfalls nicht vergütete Arbeitsverpflichtungen oder die Minderung von Arbeitszeitkonten vorsehen.153 Auch das Beispiel Löwischs,154 wonach die Tarifvertragsparteien eine dem Arbeitnehmer entgegenkommende Berechnungsgrundlage wählen und Überstundenvergütungen bzw. -zuschläge einbeziehen, dafür aber das Niveau des fortzuzahlenden Entgelts entsprechend auf 90 oder 95% absenken, wäre auf der Basis der Rechtsprechung des 5. Senats nicht durchführbar. Sowohl Löwisch als auch Tietje ist Recht zu geben, dass eine noch weitergehende Flexibilisierung der Rechtsprechung des 5. Senats, die den Spielraum der Tarifvertragsparteien im Rahmen des § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG erweitern würde, durchaus zweckmäßig und wünschenswert wäre, zumal sie die Arbeitnehmer im Ergebnis nicht wesentlich schlechter stellt, als dies momentan der Fall ist.155 Allerdings wird die Schwelle zu einer Grundrechtsverletzung nicht bereits dadurch überschritten, dass die Rechtsprechung keinen optimalen Ausgleich zwischen den widerstreitenden Grundrechtspositionen präsentiert. Die Rechtsprechung verletzt das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG erst, wenn sie dessen Bedeutung und Schutzgehalt grundlegend verkennt. Diese Schwelle überschreitet die aktuelle Rechtsprechung des 5. Senats des Bundesarbeitsgerichts zu § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG noch nicht. 3. Ergebnis Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG gebietet nicht zwingend eine extensivere Auslegung des § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG als sie der 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts derzeit vornimmt. Die Einschränkungen, die das Gericht den Tarifvertragsparteien auferlegt, halten sich in einem vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis angemessenen Rahmen.
Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31. BAG vom 26. 9. 2001, AP Nr. 55 zu § 4 EntgeltFG; kritisch dazu Tietje, Anm. zu BAG vom 26. 9. 2001, SAE 2003, 78, 79. 154 In: BB 1999, 102, 106. 155 Löwisch, BB 1999, 102, 106; Tietje, Anm. zu BAG vom 26. 9. 2001, SAE 2003, 78, 79. 152 153
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
415
II. Pflicht des Gesetzgebers zu verstärkter Tarifdispositivität einzelner Vorschriften zur Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall Das staatliche Recht der Entgeltfortzahlung überlässt den Tarifvertragsparteien derzeit nur die Festlegung der Berechnungsmethode und -grundlage für die Höhe des fortzuzahlenden Entgelts (vgl. § 4 Abs. 4 EFZG). Darüber hinaus ist die Öffnung weiterer derzeit einseitig zwingender gesetzlicher Vorschriften für abweichende tarifvertragliche Regelungen denkbar. Beispielsweise fragt sich vor dem Hintergrund der kontrovers diskutierten Flexibilisierung der Entgeltfortzahlung, ob die Tarifvertragsparteien nicht stärker in die Gestaltung dieses arbeitsrechtlichen Bereichs einzubeziehen sind. Insbesondere könnte die verfassungsrechtliche Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG die Tarifdispositivität des § 3 Abs. 1 S. 1 oder Abs. 3 EFZG gebieten, so dass die Tarifvertragsparteien beispielsweise Karenztage für den Beginn der Entgeltfortzahlung einführen, die Dauer des Entgeltfortzahlungszeitraums verkürzen bzw. die Wartezeit bis zum Eingreifen der Entgeltfortzahlung verlängern könnten. Eine diesbezügliche Pflicht für den Gesetzgeber ergibt sich jedoch nur, wenn die derzeit einseitig zwingenden Regelungen in § 3 Abs. 1 und Abs. 3 EFZG die Grundrechtsgarantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG verletzen. Das ist wiederum der Fall, wenn sie nicht durch ein Rechtsgut von Verfassungsrang getragen werden bzw. den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht wahren. Da sich die zwingenden Festlegungen des § 3 Abs. 1 und 3 EFZG im Bereich der Regelung des Arbeitsentgelts bewegen, die zu den arbeitsvertraglichen Hauptleistungspflichten gehört, ist im Hinblick auf den Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers die strengere Vertretbarkeitsprüfung seiner Annahmen und Entscheidungen durchzuführen. Hinsichtlich der Legitimation der staatlichen Vorschriften durch kollidierendes Verfassungsrecht kann auf die Ausführungen zur Verfassungsmäßigkeit der Auslegung des § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG durch den 5. Senat des Bundesarbeitsgerichts verwiesen werden.156 Auch die zwingende Ausgestaltung von § 3 Abs. 1 und 3 EFZG dient dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer und ist daher durch Art. 2 Abs. 2 GG legitimiert. 1. Verhältnismäßigkeit der zwingenden Regelung des § 3 Abs. 1 EFZG Die einseitig zwingende Gestaltung des § 3 Abs. 1 EFZG sieht die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber ab dem ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit für längstens sechs Wochen vor. Die Tarifvertragsparteien sind daher insbesondere daran gehindert, Karenztage einzuführen bzw. den Fortzahlungsezeitraum von sechs Wochen zu verkürzen. Diese gesetzliche Regelung ist nur mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu vereinbaren, wenn sie diesen nicht unverhältnismäßig beeinträchtigt, d. h. geeignet, erforderlich und angemessen ist. 156
Vgl. oben, 3. Teil: § 8 D. I. 1.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
a) Geeignetheit und Erforderlichkeit Der Ausschluss von § 3 Abs. 1 EFZG abweichender tarifvertraglicher Regelungen verhindert die Festlegung von Arbeitsbedingungen, die unterhalb des gesetzlich vorgesehenen Schutzniveaus liegen und fördert somit das gesetzgeberische Ziel, dem Arbeitnehmer durch wirtschaftliche Absicherung eine ungestörte Genesung zu sichern. Eine tarifdispositive Gestaltung des § 3 Abs. 1 EFZG, die den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit eröffnet, zum Nachteil der Arbeitnehmer vom Gesetz abzuweichen, erreicht das gesetzgeberische Ziel nicht gleichermaßen. Eindeutig ist das für die tarifliche Einführung von einem oder mehreren Karenztagen. Aber auch bei einer tariflichen Verkürzung des gesetzlich vorgesehenen Fortzahlungszeitraums würden den Arbeitnehmern Nachteile entstehen. Nach dem Ende der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber setzt zwar die Krankengeldzahlung durch die Krankenkassen ein (§§ 47 Abs. 1, 49 Abs. 1 SGB V). Das Krankengeld beträgt jedoch gemäß § 47 Abs. 1 S. 1 SGB V nur 70% des regelmäßigen Arbeitsentgelts, so dass die Verkürzung der arbeitgeberseitigen Entgeltfortzahlung mit empfindlichen Einbußen für die Arbeitnehmer verbunden ist. Die zwingende Vorschrift des § 3 Abs. 1 EFZG ist daher geeignet und erforderlich. b) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Die einseitig zwingende Gestaltung des § 3 Abs. 1 EFZG ist darüber hinaus nur verhältnismäßig im engeren Sinne, wenn die Beeinträchtigungen für den Regelungsspielraum der Tarifvertragsparteien im Vergleich zu dem staatlich verfolgten Regelungsziel angemessen sind. Abstrakt stehen sich die vorbehaltlos garantierte Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG und die durch Art. 2 Abs. 2 GG gewährleistete körperliche Unversehrtheit gegenüber, die dem Staat sogar eine Schutzpflicht gegenüber der Gesundheit seiner Bürger auferlegt. Im Rahmen der Tarifautonomie nimmt die Entgeltfortzahlung als Teil der Regelungen zum Arbeitsentgelt eine zentrale Rolle ein.157 Zwischen diesen Positionen muss der Gesetzgeber einen angemessenen Ausgleich erreichen. aa) Der Ausschluss der tariflichen Einführung von Karenztagen Flexibilität hinsichtlich der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, insbesondere ihr Beginn, ist für die Arbeitgeberseite sehr wichtig. Ca. 16 bis 22 % der Krankmel157 Tietje, Anm. zu BAG vom 26. 9. 2001, SAE 2003, 78, 79; Zuleger, AuR 1992, 231, 232, 234; dagegen Heinze, NZA 1996, 785, 787, der traditionell argumentiert und in der Entgeltfortzahlung eine ausschließlich staatliche Domäne sieht, die zwar von den Tarifvertrtagsparteien in ihrer Entwicklung begleitet wurde, aber an keiner Stelle originär durch Tarifverträge angestoßen worden sei.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
417
dungen betreffen Kurzerkrankungen von ein bis drei Tagen,158 so dass Arbeitgeber beispielsweise von der tariflichen Einführung von Karenztagen erheblich profitieren können.159 Als Regelungsgegenstand eignet sie sich daher im Rahmen von Tarifvertragsverhandlungen besonders als Kompromissvereinbarung. Daher besteht auch für die Tarifvertragsparteien ein gesteigertes Interesse an einer Dispositionsbefugnis hinsichtlich des Beginns der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall. Nimmt ihnen eine zwingende gesetzliche Regelung diese Gestaltungsmöglichkeit, so stellt dies einen intensiven Eingriff in die tarifvertragliche Regelungsbefugnis dar. Zudem können die Tarifvertragsparteien die Belastungen, die für die Arbeitnehmer mit einem verzögerten Beginn der Entgeltfortzahlung verbunden sind, aufgrund ihrer Sachnähe viel besser einschätzen als der Gesetzgeber. Die betrieblichen und branchenspezifischen Besonderheiten wirken sich erheblich darauf aus, ob Karenztagesregelungen angemessen sind. Die finanziellen Einbußen der Arbeitnehmer hängen eng mit dem im Betrieb angewendeten Entlohnungssystem zusammen. Dabei sind Detailfragen betroffen, die der Gesetzgeber in einer einheitlichen Regelung nur unzureichend berücksichtigen kann und für die sich der Tarifvertrag besser eignet. Diese Erwägungen unterstreichen die Intensität des Grundrechtseingriffs in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Dem steht auf Seiten des Staates das Bestreben gegenüber, die Arbeitnehmer einheitlich durch eine mit dem ersten Krankheitstag einsetzende Entgeltfortzahlung während des Genesungsprozesses wirtschaftlich abzusichern und somit eine ungestörte Wiederherstellung der Gesundheit zu gewährleisten. Damit erfüllt der Gesetzgeber gleichzeitig seine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG. Mit der zwingenden Anordnung der 100 %-igen Entgeltfortzahlung ab dem ersten Krankheitstag geht er über das vom Untermaßprinzip geforderte Schutzminimum hinaus.160 Die durch eine Einführung tariflicher Karenztage bewirkte Entgelteinbuße belastet die Arbeitnehmer nicht besonders stark. Legen die Tarifvertragsparteien einen Karenztag fest, so beträgt der Entgeltverlust für die betroffenen Arbeitnehmer ca. 3 % des monatlichen und ca. 0,3 % des jährlichen Arbeitsentgelts. Aus Sicht des gesetzgeberischen Schutzziels ergeben sich daher gegen eine diesbezügliche Tarifdispositivität des § 3 Abs. 1 EFZG keine Einwände. Der europäische Vergleich und die ebenfalls auf 70% festgelegte Höhe des Krankengeldes,161 das sich an den sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraum anschließt, bestätigen, dass eine Entgeltfortzahlung in Höhe von 70 bis 80 % ausreicht, um die Sicherung des Lebensstandards des Arbeitnehmers im Krankheitsfall zu gewährleisten.162 Diese Grenze wird auch bei der Möglichkeit, durch Tarifvertrag einen Karenztag für die Entgelt158 159 160 161 162
Zuleger, AuR 1992, 231, 233. Vgl. dazu Zuleger, AuR 1992, 231, 234. Vgl. Heinze, NZA 1996, 785, 791. Vgl. § 47 Abs. 1 S. 1 SGB V. Heinze, NZA 1996, 785, 788.
27 Bock
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
fortzahlung einzuführen, nicht unterschritten. Allerdings ist der Gesetzgeber bei arbeitnehmerschützenden Festlegungen, die die Tarifautonomie einengen, nicht auf Regelungen beschränkt, welche die Mindestanforderungen einer grundrechtlichen Schutzpflicht gerade noch wahren.163 Er kann im Rahmen des Verhältnismäßigen über die vom Untermaßverbot geforderten Mindestregelungen hinausgehen. Bewegt sich die Beschränkung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis durch eine solche Schutzvorschrift im Rahmen des Vertretbaren, dann hat die zwingende gesetzliche Regelung Bestand. Diese belastet die Tarifautonomie nicht unangemessen stark, wenn den Sozialpartnern noch ein ausreichend großer Gestaltungsspielraum verbleibt. Die den Tarifvertragsparteien im Rahmen des § 3 Abs. 1 EFZG noch zur Verfügung stehenden Regelungsmöglichkeiten sind im Zusammenhang mit der bereits zu ihrer Disposition gestellten Festlegung der Bemessungsgrundlage für das fortzuzahlende Arbeitsentgelt zu sehen. Dadurch sind den Koalitionspartnern bereits erhebliche Gestaltungsbefugnisse an die Hand gegeben, die sie insbesondere auch im Rahmen von Tarifvertragsverhandlungen zu Zugeständnissen befähigen. Bereits bei der Bestimmung der Bemessungsgrundlage können die Tarifvertragsparteien bei Nichtansatz aller Zulagen zum Grundlohn eine erhebliche Reduzierung des fortzuzahlenden Entgelts erreichen.164 Der deutsche Gesetzgeber hält es im Falle des § 3 Abs. 1 EFZG für notwendig, dass ab dem ersten Krankheitstag zumindest die volle Grundvergütung weitergezahlt wird. Sicherlich wäre eine tarifdispositive Regelung der Vorschrift aus Gesichtspunkten der Flexibilität wünschenswert und der Gesetzgeber könnte sie insbesondere angesichts der materiellen Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags auch vor dem Hintergrund der ihn bindenden Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG vertreten. Aufgrund des Einschätzungs- und Prognosespielraums auf dem Gebiet des Arbeitsrechts muss der Gesetzgeber jedoch nicht die zweckmäßigste und optimale Lösung wählen. Seine Annahmen und Entscheidungen müssen lediglich vertretbar sein. Da die Tarifdispositivität des § 4 Abs. 4 S. 1 EFZG den Tarifvertragsparteien bereits eine beträchtliche Abweichungsmöglichkeit verschafft, ist die gesetzgeberische Einschätzung, dass der Eingriff den Tarifvertragsparteien noch zumutbar ist, nachvollziehbar und daher vertretbar. Wie weit der Gesetzgeber den aus Sicht der Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 GG zulässigen Spielraum an Flexibilität an die Tarifvertragsparteien weitergibt, ist vorwiegend seine politische Entscheidung. bb) Der Ausschluss einer tariflichen Verkürzung des sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums Das Interesse der Tarifvertragsparteien an einer Verkürzung des sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraums als Kompromissvereinbarung dürfte sogar noch grö163 164
Canaris, Grundrechte und Privatrecht, S. 84 f.; Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31. Tietje, Anm. zu BAG vom 26. 9. 2001, SAE 2003, 78, 79.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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ßer sein als an der Einführung von Karenztagen. Für die Arbeitgeber eröffnen sich in dieser Hinsicht erhebliche Einsparungsmöglichkeiten. Die Beeinträchtigungen für die von den dann denkbaren Tarifvertragsvereinbarungen betroffenen Arbeitnehmer sind erheblich, dürften sich jedoch in einem vertretbaren Rahmen bewegen. Dennoch ist der Gesetzgeber auch in dieser Hinsicht nicht darauf festgelegt, lediglich einen Schutz zur Verfügung zu stellen, der gerade die verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen wahrt. Vielmehr ist es seine politische Entscheidung, inwieweit er eigene Gestaltungsspielräume an die Tarifvertragsparteien weitergibt, solange er das Maß des Verhältnismäßigen nicht überschreitet. Hinsichtlich der Dauer des Entgeltfortzahlungszeitraums ist allerdings noch ein weiterer Gesichtspunkt zu berücksichtigen. Bei einer möglichen Verkürzung der Dauer der arbeitgeberseitigen Entgeltfortzahlung läuft das System der staatlichen Absicherung der Arbeitnehmer im Krankheitsfall als solches Gefahr, finanziell überlastet zu werden. Statt der Arbeitgeberseite wären dann die Krankenkassen in der Pflicht, bereits nach einer kürzeren Periode als den derzeit vorgesehenen sechs Wochen Krankengeld zu zahlen.165 Es steht zu befürchten, dass in diesem Fall das öffentlich-rechtliche Gesundheitssystem überfordert wäre. Zumindest ist diese gesetzgeberische Einschätzung durchaus nachvollziehbar. Wenn der Gesetzgeber daher zwingend die Arbeitgeber in die Pflicht nimmt und dies zwangsläufig zu einer Einschränkung der Tarifautonomie führt, ist diese verhältnismäßig, da der Gesetzgeber dadurch die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems als solchem bewahrt. cc) Ergebnis Die zwingende Regelung des § 3 Abs. 1 EFZG, die ab dem ersten Krankheitstag eine Pflicht für den Arbeitgeber zur Entgeltfortzahlung für sechs Wochen einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit begründet, ohne dass die Tarifvertragsparteien davon abweichen dürfen, beeinträchtigt die Tarifautonomie nicht in unverhältnismäßiger Weise. Aus diesem Grunde besteht auch keine Pflicht des Gesetzgebers zu einer tarifdispositiven Gestaltung dieser Bestimmung. 2. Verhältnismäßigkeit der zwingenden Regelung des § 3 Abs. 3 EFZG Die zwingende Festlegung einer maximalen Wartezeit bis zum Entstehen der Entgeltfortzahlungspflicht im Krankheitsfall sichert den Arbeitnehmern ab einer bestimmten Dauer des Bestehens des Arbeitsverhältnisses die wirtschaftliche Existenzgrundlage für krankheitsbedingte Arbeitsausfälle und fördert damit den gesetzgeberischen Schutzzweck. Eine tarifdispositive Regelung würde dieses Ziel wegen der mit ihr verbundenen Möglichkeit für die Tarifvertragsparteien, auch zum Nach165
27*
Vgl. § 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
teil der Arbeitnehmer vom gesetzlichen Schutzniveau abzuweichen, nicht gleichermaßen erreichen. Daher ist die zwingende Regelung geeignet und erforderlich. Die Erwägungen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gleichen denen zu § 3 Abs. 1 EFZG. Im Unterschied zu dem gesetzlich vorgesehenen sofortigen Entstehen des Entgeltfortzahlungsanspruchs mit dem ersten Krankheitstag birgt die Wartezeit des § 3 Abs. 3 EFZG nicht so viel Einsparungspotential wie denkbare Karenztageregelungen, so dass sie für die tarifliche Regelungsautonomie nicht von so starkem Interesse sein dürfte. Der Eingriff in die Tarifautonomie durch die zwingende Ausgestaltung des § 3 Abs. 3 EFZG ist daher nicht so intensiv wie im Fall der zuvor geprüften Regelung. Umso mehr können daher die gesetzgeberischen Schutzinteressen die Beeinträchtigung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis aufwiegen. Wenn bereits der intensivere Eingriff in die Tarifautonomie durch § 3 Abs. 1 EFZG zu vertretbaren Belastungen für die Normsetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien führte, dann muss dies erst recht für den weniger belastenden Eingriff durch die zwingende Festlegung einer Höchstwartezeit gelten. Auch die zwingende Ausgestaltung des § 3 Abs. 3 EFZG ist daher verhältnismäßig im engeren Sinne. 3. Ergebnis Die zwingenden Regelungen des Entgeltfortzahlungsgesetzes in § 3 Abs. 1 und Abs. 3 belasten die Tarifvertragsparteien nicht unverhältnismäßig. Die gesetzgeberische Einschätzung, dass die mit ihnen verbundene Einschränkung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis vor dem Hintergrund des vom Gesetzgeber verfolgten Gesundheitsschutzes nicht unangemessen ist, ist vertretbar und hat daher vor Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG Bestand. Insbesondere zieht sie nicht die Verpflichtung für den Gesetzgeber nach sich, § 3 Abs. 1 oder Abs. 3 EFZG tarifdispositiv auszugestalten bzw. die bestehenden zwingenden Regelungen im Zuge einer verfassungskonformen Auslegung als verdeckt tarifdispositiv einzuordnen.
E. Tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis und gesetzliche Mindestlöhne Auch auf dem Gebiet der Entgeltfestsetzung sehen sich die Tarifvertragsparteien durch gesetzliche Vorgaben in ihrer Verhandlungsfreiheit beeinträchtigt. So schreibt beispielsweise das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vor, dass für Leiharbeitnehmer die Arbeitsbedingungen, und damit auch die Entlohnungsregelungen, anzuwenden sind, die im Entleiherbetrieb gelten.166 Im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG erscheint überprüfungsbedürf166
Vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 3, § 9 Nr. 2 AÜG.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
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tig, ob die von Teilen des Schrifttums angemahnte einschränkende Auslegung der Tariföffnungsklausel in § 9 Nr. 2 AÜG167 mit der Gewährleistung der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis zu vereinbaren ist. Darüber hinaus existieren Pläne der Gewerkschaften, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen.168 Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklung erhebt sich die weitere Frage, ob der Gesetzgeber eine einseitig zwingende Regelungen zu Mindestentgelten treffen darf oder auf eine tarifdispositive Lösung festgelegt ist.
I. Restriktive Auslegung des § 9 Nr. 2 AÜG und Tarifautonomie Die gesetzliche Kopplung der Arbeitsbedingungen im Leiharbeitsverhältnis an die Arbeitsbedingungen, die beim Entleiher für vergleichbare Arbeitnehmer gelten, würde den Tarifvertragsparteien die unbeeinflusste Vereinbarung von Arbeitsbedingungen des Leiharbeitsverhältnisses unmöglich machen und somit einen Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG konstituieren. Aufgrund seiner tarifdispositiven Gestaltung beeinträchtigt das Gleichstellungsgebot des § 9 Nr. 2 AÜG die Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG jedoch nicht.169 Eine über den Wortlaut des § 9 Nr. 2 AÜG hinausgehende Begrenzung der tarifvertraglichen Gestaltungsmöglichkeiten führt jedoch erst einmal zu einer Einschränkung des grundrechtlichen Schutzbereichs. Wie jede andere Auslegung von Tariföffnungsklauseln würde die restriktive Interpretation des § 9 Nr. 2 AÜG aber erst dann eine Verletzung der verfassungsrechtlichen Garantie der Tarifautonomie zur Folge haben, wenn sie die aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG fließenden grundrechtlichen Wertungen offensichtlich verkennt oder vollkommen außer Acht lässt. Die vorbehaltlose Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG kann zugunsten von Grundrechten Dritter und anderen Rechtswerten von Verfassungsrang im Rahmen des Verhältnismäßigen Beschränkungen erfahren. Die Sicherung des Existenzminimums bzw. der Gesundheit der Leiharbeitnehmer durch angemessene Arbeitsbedingungen ist sicherlich ein legitimes Schutzziel, das auch durch kollidierendes Verfassungsrecht getragen wird (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 GG).170 Wie Schüren, in: ders., AÜG, § 9 Rn. 222 f.; ders. / Behrend, NZA 2003, 521, 525. IG Metall, Pressemitteilung Nr. 90 / 2004, vom 22. 9. 2004; NGG, Pressemitteilung vom 2. 10. 2004; Pressemitteilung vom 25. 9. 2004; FAZ, vom 27. 8. 2004, S. 2 „Schröder: Mindestlohn allenfalls in einzelnen Bereichen“; vgl. auch den Vorschlag von Rieble, Arbeitsmarkt und Wettbewerb, Rn. 938, der statt der üblichen Allgemeinverbindlicherklärung einen gesetzlichen Mindestlohn von 60 bis 70 % des Tariflohns fordert. 169 Vgl. oben, 2. Teil: § 7 B. II. 170 Bieback, RdA 2000, 207, 208; vgl. auch BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154, das den Schutzzweck des § 9 Nr. 2 AÜG in der Verbesserung der Stellung der Leiharbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt, der Steigerung ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz sowie der Qualität der Leiharbeit und damit dem Schutz der Berufsfreiheit der Leiharbeitnehmer 167 168
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
Schüren171 jedoch von den Tarifvertragsparteien zu verlangen, dass ihre Vereinbarungen, insbesondere hinsichtlich des Entgelts, immer annähernd dem Niveau im Betrieb des Entleihers entsprechen müssen, engt die tarifliche Regelungsbefugnis unverhältnismäßig ein. Eine inhaltliche Bindung der durch § 9 Nr. 2 AÜG eröffneten Abweichungsbefugnis bewegt sich unter anderem im Entgeltbereich, der von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG besonders intensiv geschützt wird.172 Auch haben die Tarifpartner durch ihre Sachnähe einen viel besseren Einblick in die betrieblichen Bedingungen der einzelnen Einsatzbereiche für Leiharbeitnehmer, so dass ihnen auch die Beurteilungskompetenz darüber zukommen sollte, welche Arbeitsbedingungen im Einzelnen für die Leiharbeitnehmer angemessen sind. Die Tarifvertragsparteien bei ihren Abweichungen jedoch darauf zu verpflichten, nur sachlich gerechtfertigte Differenzierungen zwischen Leih- und Stammarbeitnehmern bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen vorzunehmen,173 wahrt hingegen auf der einen Seite die Interessen der Leiharbeitnehmer und engt die tarifvertragliche Regelungsbefugnis auf der anderen Seite nicht unangemessen ein. Ein davon zu unterscheidendes Problem ist, ob die derzeit in der Leiharbeitsbranche agierenden Tarifparteien tatsächlich auch die Voraussetzungen für eine Teilnahme am Tarifvertragssystem erfüllen. Aufgrund der sehr arbeitgeberfreundlichen aktuellen Tarifabschlüsse sprechen einige Autoren den tarifschließenden Gewerkschaften, insbesondere den in der GCZP zusammengeschlossenen christlichen Gewerkschaften, die Tariffähigkeit mangels sozialer Mächtigkeit ab.174 Derartige Störungen der Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems müssen auf den dafür vorgesehenen Wegen, d. h. im Rahmen eines Feststellungsverfahrens gemäß §§ 2a Abs. 1 Nr. 4, 97 ArbGG, abgewendet werden. Eine sozusagen vorbeugende inhaltliche Bindung der Gestaltungsbefugnis der Tarifvertragsparteien durch eine restriktive Auslegung des § 9 Nr. 2 AÜG eignet sich dazu nicht. Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG steht einer strengen Bindung der Tarifvertragsparteien an das Gleichstellungsgebot des § 9 Nr. 2 AÜG entgegen. Die Sozialpartner müssen in einem Tarifvertrag für Leiharbeitnehmer insbesondere unter das im Entleiherbetrieb herrschende Entgeltniveau absinken dürfen.175 Die Verpflichtung, annähernd gleiche Arbeitsbedingungen im Tarifabschluss vorzusehen, stellt eine unverhältnismäßige Einengung der Tarifautonomie dar. Von den Tarifvertragsparteien aus Art. 12 Abs. 1 GG erblickt; kritisch dazu Lembke, Anm. zu BVerfG vom 29. 12. 2004, BB 2005, 499. 171 In: Schüren, AÜG, § 9 Rn. 222 f.; ders. / Behrend, NZA 2003, 521, 525. 172 Vgl. auch BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154. 173 So Ulber, AuR 2003, 7, 12. 174 So Klebeck, Gleichstellung der Leiharbeitnehmer, S. 84; Schüren / Riederer Frfr. von Paar, AuR 2004, 241, 243 f. 175 Gerade mit dieser Flexibilität rechtfertigt das Bundesverfassungsgericht die Zulässigkeit von § 9 Nr. 2 AÜG vor dem Hintergrund des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, BVerfG vom 29. 12. 2004, NZA 2005, 153, 154 f.
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jedoch eine sachliche Rechtfertigung der Differenzierungen zwischen Leih- und Stammarbeitnehmern zu fordern, ist vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG angemessen.
II. Vereinbarkeit gesetzlicher Mindestlöhne mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG Mit dem Gleichstellungsgebot in der Leiharbeitsbranche und den Regelungen im Arbeitnehmerentsendegesetz für die Baubranche ist der Gesetzgeber partiell in das Gebiet der Entgeltfestsetzung vorgedrungen, ohne allerdings die vorrangige tarifvertragliche Normsetzungsbefungis in Frage zu stellen. Branchenübergreifende gesetzliche Mindestlöhne würden eine neue Qualität der gesetzlichen Vorgabe von Mindestarbeitsbedingungen erreichen. Das Urteil über die Vereinbarkeit gesetzlicher Mindestlöhne mit der Garantie der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis hängt allerdings entscheidend davon ab, welche Gestaltungsform der Gesetzgeber für eine Mindestentgeltregelung wählt. 1. Modelle des staatlichen Mindestentgelts und ihre Auswirkungen auf die Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG Im Wesentlichen werden drei Modelle für die Schaffung einer gesetzlichen Mindestentgeltregelung diskutiert. Ein Vorschlag sieht nach dem Vorbild des bereits bestehenden Arbeitnehmerentsendegesetzes vom 26. 2. 1996176 vor, die jeweiligen unteren Gruppen der tariflichen Entgeltvereinbarungen für allgemeinverbindlich zu erklären bzw. die Allgemeinverbindlicherklärung in dieser Hinsicht zu erleichtern.177 Nach einem weiteren Vorschlag soll das Gesetz über die Festsetzung von Mindestarbeitsbedingungen vom 11. 1. 1952178 dahingehend geändert werden, dass die in einer Branche jeweils unterste Lohngruppe eines Tarifvertrags als Mindestlohn gesetzlich festgeschrieben werden kann.179 Das dritte Modell schließlich sieht die Einführung eines pauschalen Mindestentgelts in Höhe von 1300 bzw. 1500 Euro vor.180 Die Allgemeinverbindlicherklärung tariflicher Vereinbarungen tangiert die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis nicht.181 Der Gesetzgeber nimmt dadurch BGBl. 1996 I, S. 227. IG Metall, Pressemitteilung Nr. 90 / 2004, vom 22. 9. 2004. 178 BGBl. 1952 I, S. 17. 179 IG Metall, Pressemitteilung Nr. 90 / 2004, vom 22. 9. 2004. 180 NGG, Pressemitteilung vom 2. 10. 2004; Pressemitteilung vom 25. 9. 2004; Pressemitteilung vom 23. 7. 2004; Pressemitteilung vom 24. 4. 2004; Hundt, Gesetzliche Eingriffe ins Lohnsystem, Pressemitteilung der BDA vom 6. 10. 2004, S. 1. 176 177
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
lediglich die jeweilige tarifliche Regelung in seinen Willen auf. Das Verhandlungsergebnis wird den Tarifvertragsparteien nicht vorgegeben. Ihnen werden keine Entscheidungsbefugnisse entzogen. Ein Eingriff in die von Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützte tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis ergibt sich durch diese Gestaltungsform einer Mindestlohnregelung nicht. Anders stellt sich die Rechtslage bei einer pauschalen Mindestentgeltregelung und bei der Festsetzung der jeweiligen unteren Tariflohngruppen als Mindestentgelt dar. In diesen Fällen schreibt der Gesetzgeber ein bestimmtes Verhandlungsergebnis als maßgeblich vor und entzieht den Tarifvertragsparteien im darunter liegenden Bereich die Entscheidungsbefugnis.182 Den in einer Branche tätigen einzelnen Koalitionen wird daher eine fremde Regelungsentscheidung vorgegeben und ihnen die Normsetzungsbefugnis insoweit entzogen.183 Die gesetzliche Implementierung der letzten beiden Modelle stellt sich damit als ein Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG dar, der nur als einseitig zwingende Regelung zulässig ist, wenn er vor der Grundrechtsgarantie der Koalitionsfreiheit gerechtfertigt werden kann. Das setzt voraus, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung von Mindestlöhnen Rechtsgüter von Verfassungsrang schützt und die Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes wahrt. Für den Fall, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt werden, ist der Gesetzgeber zu einer tarifdispositiven Regelung verpflichtet. 2. Legitime staatliche Ziele der Festlegung von Mindestentgelten Ein staatlicher Mindestlohn dient in erster Linie der Sicherung des Existenzminimums der Arbeitnehmer.184 Das gesetzgeberische Vorhaben kann sich daher auf das Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG und die Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG stützen. Dabei geht es nicht um einen Armutsschutz im Sinne der reinen Existenzbewahrung. Maßgeblich für die Interpretation auch des Art. 1 Abs. 1 GG ist vielmer ein relativer Existenzschutz im Sinne der Versorgung der einzelnen mit ausreichenden Mitteln gemessen an dem durchschnittlichen Lebenshaltungsniveau der Gesellschaft.185 Gerade auch gegenüber Tariflöhnen soll die gesetzliche Mindestlohnregelung eine objektive Untergrenze festschreiben.186 181 So Löwisch / Rieble, TVG, Grundl. Rn. 29; bereits BVerfG vom 24. 5. 1977, BVerfGE 44, 322, 349 f. 182 Einen Eingriff durch die gesetzliche Festlegung eines Mindestlohnes in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG bejaht auch Bieback, RdA 2000, 207, 209. 183 Ebenso Hundt, Gesetzliche Eingriffe ins Lohnsystem, Pressemitteilung der BDA vom 6. 10. 2004, S. 3 f., der darin eine Verletzung der durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützten Koalitionsfreiheit erblickt. 184 Bieback, RdA 2000, 207, 208; Peter, AuR 1999, 289, 295 f. 185 Bieback, RdA 2000, 207, 208. 186 Bieback, RdA 2000, 207, 208; Peter, AuR 1999, 289.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
425
Darüber hinaus begrenzen Mindestlöhne die Auswirkungen von Diskriminierungsprozessen gegen Frauen und Ausländer.187 Im Niedriglohnsektor sind vorwiegend Angehörige dieser Gruppen vertreten, so dass sich das Vorhandensein von Mindestlöhnen positiv auf die Angleichung des Lohnniveaus auswirkt.188 Insofern dient die gesetzliche Einführung von Mindestlöhnen zusätzlich der Abwehr von Diskriminierungen im Sinne des Art. 3 Abs. 3 GG. Schließlich entfaltet die Einführung von Mindestlöhnen nicht zuletzt eine Schutzwirkung für die Koalitionen selbst. Sie sichert ein bestimmtes Lohnniveau gesetzlich ab und verhindert auf diese Weise unliebsame Konkurrenz durch nicht tarifunterworfene Arbeitsverhältnisse, die durch Niedriglöhne das Tarifvertragssystem in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigen könnten.189 Auf diese Weise wird Art. 9 Abs. 3 GG selbst zum Schutzgut einer derartigen gesetzlichen Regelung. Dadurch findet sich eine ausreichende verfassungsrechtliche Legitimation für die Einführung gesetzlicher Mindestlöhne, die Grundvoraussetzung für die Rechtfertigung eines Eingriffs in die vorbehaltlos garantierte Koalitionsfreiheit ist. Entgegen Bieback190 ist es allerdings nicht notwendig, dass der Gesetzgeber aufgrund einer sich aktualisierenden Schutzpflicht zur Sicherung des Existenzminimums tätig wird. Der Gesetzgeber darf zur Wahrung legitimer Schutzgüter jederzeit regelnd tätig werden. Aktualisiert sich eine Schutzpflicht, so besagt dies nur, dass den Gesetzgeber eine Pflicht zur Schaffung gesetzlicher Vorkehrungen triftt. Greift die Schutzpflicht hingegen nicht ein, so resultiert daraus kein Verbot für die Durchführung eines Gesetzesvorhabens.191 3. Tarifdispositivität gesetzlicher Mindestlöhne Nur wenn die einseitig zwingende Regelung gesetzlicher Mindestlöhne den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt, lässt sie sich vor Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG rechtfertigen. Anderenfalls ist der Gesetzgeber gezwungen, die staatlichen Mindestentgelte tarifdispositiv auszugestalten. a) Prüfungsmaßstab Die unterschiedlich intensive Wirkkraft des Grundrechtsschutzes aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG für die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis wirkt sich auf den 187 Bieback, RdA 2000, 207, 208; Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 145 ff. sowie ausführlich zu den empirischen Erscheinungen der Lohndifferenzierung für Frauen, ebd., S. 37 ff. 188 Bieback, RdA 2000, 207, 208; Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 145 ff., 174 ff.; im internationalen Kontext: Shannon, Applied Economics 1996, 1567, 1576. 189 Bieback, RdA 2000, 207, 208. 190 RdA 2000, 207, 209. 191 Kamanabrou, RdA 1997, 22, 31.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuwendenden Prüfungsmaßstab für den gesetzgeberischen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum aus.192 Soweit die einseitig zwingende gesetzliche Regelung Gegenstände betrifft, die sich innerhalb des arbeitsvertraglichen Synallagmas bewegen, ist eine Vertretbarkeitsprüfung der gesetzgeberischen Erwägungen im Gegensatz zu einer bloßen Evidenzkontrolle vorzunehmen. Die Festlegung von Mindestlöhnen tangiert mit der Entgeltfestsetzung das traditionelle Vorbehaltsgut der Tarifvetragsparteien. Zudem handelt es sich bei den Vereinbarungen zum Arbeitsentgelt um eine Regelungsmaterie, die sehr detailliert ist und durch branchen- sowie betriebsspezifische Anforderungen geprägt wird. Die gegenüber dem Gesetzgeber sachnäheren und für die Beurteilung der Gegebenheiten kompetenteren Sozialpartner eignen sich für die Regelung dieser Materie viel besser als die staatliche Legislative. Eine einseitig zwingende gesetzliche Festlegung muss daher den gesteigerten Anforderungen der Vertretbarkeitskontrolle genügen. b) Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Ein gesetzlich festgelegter Mindestlohn fördert die Bereitstellung eines Existenzminimums zugunsten der Arbeitnehmer und wirkt sich positiv auf die Überwindung von Diskriminierungen im Entgeltbereich aus.193 Gleichzeitig ist er auch in der Lage, das Tarifvertragssystem vor einer erdrückenden Konkurrenz nicht tarifgebundener Arbeitsvertragsparteien zu schützen.194 Ob der gesetzliche Mindestlohn gleichzeitig die Gefahr eines sprunghaften Ansteigens der Arbeitslosigkeit vormals in Beschäftigungsverhältnissen mit Niedriglöhnen stehender Arbeitnehmer in sich birgt,195 wird nicht einheitlich beurteilt.196 Der Gesetzgeber hält sich jedoch innerhalb seines Prognosespielraums, wenn er Mindestlöhne überhaupt als geeignet ansieht, den Arbeitnehmern ein Existenzminimum zu sichern. Ähnlich fällt die Beurteilung für die Erforderlichkeitsprüfung aus. Da eine tarifdispositive gesetzliche Regelung den Tarifvertragsparteien stets die Möglichkeit bietet, unter das gesetzlich vorgesehene Niveau abzuweichen, ist die Schutzwirkung nicht gleichermaßen intensiv wie bei einer einseitig zwingenden Vorschrift. Vgl. oben 2. Teil: § 7 C. II. 3. b). Bieback, RdA 2000, 207, 208; Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 242; dies., AuR 1999, 289, 295 f.; auf internationaler Ebene: Shannon, Applied Economics 1996, 1567, 1576. 194 Bieback, RdA 2000, 207, 208. 195 So die Warnungen von Hundt, Gesetzliche Eingriffe ins Lohnsystem, Pressemitteilung der BDA vom 6. 10. 2004, S. 1, der bei einer Einführung des Mindestlohnes mit 2 bis 3 Millionen neuen Arbeitslosen rechnet; Shannon, Applied Economics 1997, 1567, 1575 f., der empirische Belege für einen Anstieg der Arbeitslosigkeit liefert, der die positiven Auswirkungen auf die Diskriminierung im Niedriglohnbereich überkompensiert. 196 Keinen Einfluss auf die Beschäftigungszahlen vermutet Peter, AuR 1999, 289, 295 f. 192 193
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
427
Verhältnismäßig im engeren Sinne sind die vorgeschlagenen Mindestentgeltregelungen, wenn sie einen angemessenen Ausgleich zwischen staatlichem Schutzinteresse und den Beeinträchtigungen für die Tarifautonomie repräsentieren. Staatliche Entgeltfestsetzung dient mit Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 2 und 3 GG sowie der Sicherung des Tarifvertragssystems (Art. 9 Abs. 3 GG) gewichtigen Schutzgütern. Allerdings sind auch die beeinträchtigenden Wirkungen für die tarifvertragliche Regelungsbefungis erheblich. Sie treffen die Tarifautonomie in ihrem zentralen Betätigungsfeld. Daher können nur starke und dringende Gefahren für die betroffenen Schutzgüter einen so intensiven Eingriff in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG aufwiegen. Zugleich müssen die von der gesetzlichen Entgeltfestlegung erwarteten positiven Effekte auch tatsächlich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit und deutlicher Wirkung zur Abwendung der identifizierten Gefahren beitragen. Betrachtet man als staatliches Schutzgut die Tarifautonomie selbst, so besteht eine Gefahr der Unterwanderung des tariflichen Lohnfindungssystems durch Niedriglohnanbieter unstreitig nur in der Baubranche.197 Einen branchenübergreifenden Mindestlohn vermögen die Bedenken gegen einen erdrückenden Lohnwettbewerb durch ausländische Anbieter daher nicht zu rechtfertigen.198 Zudem besteht mit dem Arbeitnehmerentsendegesetz bereits ein legislatives Instrument, mit dem einheitliche Mindestarbeitsbedingungen innerhalb der Baubranche hergestellt werden können.199 Die zusätzlichen Belastungen für die Tarifautonomie durch einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn sind daher nicht angemessen. Auch im Hinblick auf das denkbare gesetzgeberische Ziel, mittels eines fixierten Mindestentgelts der Diskriminierung von Frauen und ausländischen Arbeitnehmern bei der Vergütung abzuhelfen, erscheint ein zwingender Mindestlohn nicht verhältnismäßig. Statistisch lässt sich die Existenz von Diskriminierung im Entgeltbereich belegen,200 jedoch kann eine staatliche Mindestlohnregelung diese Prozesse allenfalls begrenzen.201 Gleichzeitig droht durch die Einführung eines Mindestentgelts die Gefahr einer Erhöhung der Arbeitslosenzahlen, die die positven Effekte wieder aufheben könnte.202 Hier ist nicht der Ort um zu entscheiden, ob sich angesichts dieses Hintergrundes überhaupt die Einführung gesetzlicher Min197 Entwurf der Bundesregierung eines Arbeitnehmer-Entsendegesetzes, BT-Drucks. 13 / 2414, S. 6 f.; Bieback, RdA 2000, 207, 208; Hofmann, BArbBl. 1995, Heft 4, S. 14 ff.; Kempen, Festschrift für Gitter, S. 427, 434 f.; Begründung des Richtlinienvorschlags zur RL 96 / 71, BR-Drucks. 547 / 91, S. 7. 198 So auch Bieback, RdA 2000, 207, 208. 199 Vgl. auch die VO über zwingende Arbeitsbedingungen im Baugewerbe, vom 25. 8. 1999 (BGBl. 1999 I, S. 1894). 200 Bieback, RdA 2000, 207, 208; mit ausführlichen Belegen: Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 37 ff. 201 Bieback, RdA 2000, 207, 208. 202 Vgl. Hundt, Gesetzliche Eingriffe ins Lohnsystem, Pressemitteilung der BDA vom 6. 10. 2004, S. 1; Shannon, Applied Economics 1997, 1567, 1575 f.
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
destlöhne rechtfertigen lässt. Die Richtigkeitsgewähr der Tarifverträge gibt jedoch Anlass zu der Vermutung, dass die Tarifvertragsparteien versuchen werden, Diskriminierungen in ihren Regelungen zu vermeiden.203 Der Gedanke, mit einem gesetzlichen Mindestlohn Diskriminierungstendenzen zu verhindern, rechtfertigt demnach eine Einschränkung der tarifvertraglichen Gestaltungsbefugnisse nicht und ist allenfalls als tarifdispositive Regelung verhältnismäßig. Schließlich erscheint es auch problematisch, den Eingriff in die tarifliche Entgeltfestlegung durch die Sicherung des Existenzminimums der Arbeitnehmer zu begründen. Vereinzelt findet sich die Einschätzung, dass einige untere Tariflohngruppen zu einer Aufrechterhaltung des Existenzminimums nicht ausreichen.204 Dieses Ergebnis tritt insbesondere ein, wenn das Existenzminimum nicht absolut, sondern im Sinne des für eine angemessene Existenz notwendigen Maßes205 verstanden wird. Eine zwingende gesetzliche Festlegung des Mindestlohns hätte demnach im Verhältnis zur Tarifautonomie das erklärte Ziel, die Arbeitnehmer gerade auch gegenüber Tarifverträgen vor dem Unterschreiten einer bestimmten Mindestvergütung zu bewahren. Damit wäre gleichzeitig die Feststellung getroffen, dass die Tarifautonomie partiell versagt hat. Insbesondere von dem vorgeschlagenen Modell eines pauschalen Mindestlohns in Höhe von 1300 bis 1500 Euro wären nicht wenige existierende tarifliche Entgeltvereinbarungen betroffen.206 Da die Tarifvertragsparteien einen beträchtlichen Bereich unterhalb des genannten Niveaus abdecken, stellt die zwingende Festlegung eines Mindestlohns in dieser Höhe eine erhebliche Beeinträchtigung der tariflichen Verhandlungsfreiheit dar. Die Intensität des Eingriffs erhöht sich zusätzlich, da alle Branchen betroffen sein würden. Will man der Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags nicht vollständig die Glaubwürdigkeit nehmen,207 dann verbietet sich zumindest eine einseitig zwingende Festlegung. Der Eindruck bestätigt sich bei einem Blick auf die Stellungnahmen im Schrifttum zu staatlicher Lohnregulierung. Noch dem Gedanken eines auf einen Kernbereich koalitionsmäßiger Betätigung beschränkten Schutzes verhaftet, führte Biedenkopf in seinem Gutachten zum 46. Deutschen Juristentag aus, dass der ganze oder teilweise Entzug der tarifvertraglichen Regelung des Arbeitslohnes den Kernbereich per se ohne Rücksicht darauf antaste, ob den Tarifvertragsparteien andere Gegenstände in ausreichendem Umfang zur Regelung offenstehen.208 Auch Kem203 Die tariflichen Entgeltgruppen sind vorwiegend neutral formuliert. Allerdings resultiert aus der betrieblichen Eingruppierungspraxis oftmals die Diskriminierung zwischen den Geschlechtern, vgl. Peter, Gesetzlicher Mindestlohn, S. 44. 204 Peter, AuR 1999, 289. 205 So Bieback, RdA 2000, 207, 208. 206 Peter, AuR 1999, 289. 207 Der DGB-Vorsitzende Sommer warnt davor, das Tarifvertragssystem nicht kaputtzumachen, vgl. FAZ vom 27. 8. 2004, S. 2 „Schröder: Mindestlohn allenfalls in einzelnen Bereichen“. 208 Biedenkopf, Gutachten zum 46. DJT, Band I, Teil 1, S. 97, 164.
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
429
per hält die Bestimmung von Arbeitslohn und Arbeitszeit für „essentialia tarifvertraglicher Vereinbarungsbefugnis“.209 Durch zwingende staatliche Festlegungen in diesem Bereich drohe die Gewährleistung der Tarifautonomie als der Freiheit des gemeinsamen Regelungsverfahrens als solchem mangels eines wirklich relevanten Regelungsgegenstandes leerzulaufen.210 Dem Staat bleibe nur die Möglichkeit, die von ihm verfolgten Ziele im Wege eines Lohndirigismus zu verfolgen, indem er diesen dem Umfang nach individuell, sachlich und zeitlich beschränke, so dass nur in wenigen konkreten Fällen eingreifende Mindestarbeitsbedingungen nach dem Vorbild des Gesetzes zur Festlegung von Mindestarbeitsbedingungen gelten. Der Staat könne auch so großzügige Lohnsteigerungsraten vorgeben, dass diese nur in Einzelfällen die tarifvertraglichen Steigerungsraten verhindern.211 An diesem Maßstab würde der pauschale Mindestlohn bereits scheitern. Die Ergebnisse Kempers können nicht vollkommen auf das hier entwickelte Konzept übertragen werden. Er sieht die Koalitionsfreiheit und mit dieser die Tarifautonomie nur in einem Kernbereich durch Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG geschützt an, so dass staatliche Reglementierungen erst dann rechtfertigungsbedürftig werden, wenn sie den koalitiven Verhandlungsprozess aushöhlen und den Sozialpartnern ein sinnvolles Betätigungsfeld nehmen.212 Folgender Schluss lässt sich aber dennoch ziehen: Wenn bereits bei einem nur eingeschränkten und auf das Maß des Unerlässlichen begrenzten Grundrechtsschutz lediglich in engem Rahmen staatliche Lohnfestsetzungen verfassungsrechtlich zulässig sind, dann muss dies erst recht vor dem Hintergrund des hier zur Anwendung kommenden umfassenden und vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechtsschutzes für die tarifvertragliche Vereinbarungsbefugnis materieller Arbeitsbedingungen gelten. Die Festlegung eines pauscheln Mindestentgelts ist demnach allenfalls in tarifdispositiver Form verfassungsgemäß. Demgegenüber gestaltet sich der Eingriff in die Tarifautonomie durch das Alternativmodell, bei dem eine der unteren tariflichen Entgeltgruppen durch Anwendung des Gesetzes über Mindestarbeitsbedingungen als Mindestentgelt festgeschrieben wird, weniger intensiv als ein pauschaler Mindestlohn. Die Beschränkung des tariflichen Verhandlungsspielraums ist nicht so stark. Allerdings stellt auch dieses Regelungsvorhaben eine über alle Branchen hinausgreifende Beeinträchtigung der tarifvertraglichen Gestaltungsbefugnis dar. Der Gesetzgeber dringt mit zweifelhaften Erfolgsaussichten in ein Regelungsfeld vor, für das die Tarifvertragsparteien die kompetenteren Instanzen sind. Auch wenn durch den Alternativvorschlag weniger Tarifverträge mit dem Gesetz kollidieren würden, bliebe eine zwingende gesetzliche Festlegung unangemessen.
209 210 211 212
Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 123. Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 123. Kemper, Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, S. 124. Vgl. dazu oben 2. Teil: § 6 C. I. 2 b).
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3. Teil: Anwendung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse
Angesichts der eingeschränkten Wirkungen zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels und der damit verbundenen erheblichen Gefahren für die Beschäftigungsentwicklung erscheint der drastische Eingriff durch eine zwingende gesetzliche Festlegung von Mindestentgelten im Verhältnis zur Tarifautonomie nicht angemessen. Dem Gesetzgeber ist daher allenfalls die tarifdispositive Einführung eines Mindestlohnes möglich. Eine einseitig zwingende gesetzliche Regelung würde unverhältnismäßig in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG eingreifen.
III. Gesamtergebnis Bei der Festlegung des Arbeitsentgelts bestehen für den Gesetzgeber weniger weitreichende Möglichkeiten, die tarifvertragliche Regelungsbefugnis durch gesetzliche Mindestvorschriften zu begrenzen. Dies wirkt sich zum einen auf die Auslegung des Gleichstellungsgebots der Leiharbeitnehmer in § 9 Nr. 2 AÜG aus. Den Tarifvertragsparteien kann aufgegeben werden, keine unsachgemäßen Differenzierungen zwischen den Arbeitsbedingungen der Stamm- und Leiharbeitnehmer vorzunehmen. Eine restriktive Auslegung des § 9 Nr. 2 AÜG kann jedoch nicht dazu führen, dass ein Tarifvertrag stets ein annähernd den Bedingungen im Entleiherbetrieb entsprechendes Entgeltniveau bereitstellen muss. Zum anderen steht dem Gesetzgeber für die Einführung eines branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohns allenfalls eine tarifdispositive Gestaltungsform offen.
F. Zusammenfassung Die verfassungsrechtliche Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis in Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG bindet sowohl den Gesetzgeber als auch die Rechtsprechung bei der Bestimmung der Reichweite der Tarifdispositivität durch Auslegung der Tariföffnungsklauseln. Hinsichtlich der einseitig zwingenden Vorschriften des Kündigungsschutzgesetzes ergibt sich aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG keine Pflicht des Gesetzgebers, insbesondere die Wartezeit in § 1 Abs. 1 KSchG, den Schwellenwert des § 23 Abs. 1 KSchG bzw. die Festlegung der Sozialauswahlkriterien in § 1 Abs. 3 KSchG zur Disposition der Tarifvertragsparteien zu stellen. § 622 Abs. 4 BGB ist verfassungskonform so auszulegen, dass in einem Tarifvertrag auch die Vereinbarung einer entfristeten Kündigung möglich ist. Im Hinblick auf die urlaubsrechtlichen Regelungen folgt aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, dass die Festlegung des Urlaubsentgelts (§ 11 BUrlG), vergleichbar der Bestimmung des im Krankheitsfall fortzuzahlenden Entgelts, sowohl hinsichltich des Geld- als auch des Zeitfaktors tarifdispositiv ist und die Tarifvertragsparteien insbesondere Zuschläge zum Arbeitsentgelt bei der Berechnung unberücksichtigt lassen können. Die restriktive Rechtsprechung des 9. Senats des Bundesarbeitsgerichts zu §§ 11 und 13 Abs. 1 BUrlG ist nicht mit der Garantie der Tarifautono-
§ 8 Anwendung der Ergebnisse
431
mie zu vereinbaren. Demgegenüber entspricht die Rechtsprechung des 5. Senats zu § 4 Abs. 4 EFZG den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Eine Pflicht des Gesetzgebers zu einer über § 4 Abs. 4 EFZG hinausgehenden Tarifdispositivität des Entgeltfortzahlungsgesetzes ergibt sich jedoch nicht. Im Arbeitszeitrecht lassen die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben dem Gesetzgeber nur einen eingeschränkten Spielraum, um den Tarifvertragsparteien die Abweichung von den arbeitszeitrechtlichen Vorschriften zu gestatten. Diese Möglichkeiten hat der Gesetzgeber in Gestalt von § 7 und § 12 ArbZG in einer mit Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu vereinbarenden Weise genutzt. Die durch die Tarifidispositivität des Gleichstellungsgebots zwischen Leih- und Stammarbeitnehmern in § 9 Nr. 2 AÜG eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten dürfen den Tarifvertragsparteien nicht durch eine restriktive Auslegung wieder entzogen werden. Die Rechtsprechung kann die Tarifpartner allenfalls verpflichten, nicht unsachgemäß zwischen Leih- und Stammarbeitnehmern zu differenzieren. Eine gesetzliche Mindestentgeltregelung wäre vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nur in tarifdispositiver Form zulässig.
4. Teil
Zusammenfassung I. Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht weist im Individualrechtsverkehr einen grundsätzlich zwingenden Charakter auf und schließt inhaltlich abweichende privatautonome Vereinbarungen zum Nachteil der Arbeitnehmer aus. Allein den Tarifvertragsparteien gestattet es die Abweichung vom Gesetz, die den Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien verwehrt ist. Die Vorschriften des jeweiligen Gesetzes, welche die Tarifdispositivität einzelner Bestimmungen anordnen, sind so genannte Tariföffnungsklauseln. In den meisten Fällen gestattet der Gesetzgeber nicht beiderseits tarifgebundenen Arbeitsvertragsparteien, in ihrem Arbeitsverhältnis auf tarifliche Regelungen Bezug zu nehmen, die von den tarifdispositiven Vorschriften abweichen, sofern ihr Geltungsbereich eröffnet ist. Für derartige gesetzliche Regelungen bietet sich die Bezeichnung als Erstreckungsklauseln an. Allein die gesetzliche Regelung entscheidet über den tarifdispositiven Charakter bestimmter Vorschriften. In den aktuellen arbeitnehmerschützenden Gesetzen ordnet der Gesetzgeber die Tarifdispositivität ausdrücklich an. Ausnahmsweise kann sich jedoch aus dem Zweck eines Gesetzes sein tarifdispositiver Charakter auch ohne ausdrückliche Verankerung im Wortlaut ergeben. In diesem Fall liegt eine verdeckt tarifdispositive Vorschrift vor. Die Entstehungsgeschichte des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts ist noch relativ jung und setzt in den zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Sie offenbart als gesetzgeberische Beweggründe für die Schaffung tarifdispositiver Vorschriften die besondere Sachkenntnis der Tarifvertragsparteien für bestimmte Regelungsmaterien und -situationen sowie die materielle Richtigkeitsgewähr des Tarifvertrags, die insbesondere die Abweichungsbefugnis auch zum Nachteil der Arbeitnehmer rechtfertigt. Hinter den gesetzlichen Erstreckungsklauseln steht das gesetzgeberische Motiv, die Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen in einem Betrieb zu ermöglichen. Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht findet sich in vielen Bereichen des Arbeitsrechts, wie im Urlaubsrecht, bei der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, im Teilzeit- und Befristungsgesetz, bei der Arbeitnehmerüberlassung, für die gesetzlichen Kündigungsfristen, im Rahmen der Regelungen zur betrieblichen Altersversorgung, im Arbeitsprozessrecht und vor allem im staatlichen Arbeitszeitrecht.
4. Teil: Zusammenfassung
433
II. Wo das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht in Beziehung zu dem einfachgesetzlich ausgestalteten Tarifvertragssystem tritt, wirft die Auslegung der Tariföffnungsklauseln, welche die Voraussetzungen für die Abweichungsbefugnis der Tarifvertragsparteien enthalten, verschiedene Rechtsfragen auf. Von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichende Tarifnormen stellen trotz ihrer Sonderrolle unter den autonomen Vereinbarungen tarifliche Rechtsnormen im Sinne des § 1 Abs. 1 TVG dar. Auch hinsichtlich der Feststellung, ob es sich bei abweichenden Tarifregelungen um Betriebsnormen handelt, ergeben sich grundsätzlich keine Besonderheiten gegenüber herkömmlichen Tarifnormen. Die Tariföffnungsklauseln des Arbeitszeitrechts ordnen jedoch bereits gesetzlich die betriebsweite Wirkung der abweichenden Tarifnormen an. Von dieser Anordnung ist jedoch nur die so genannte arbeitsschutzrechtliche Wirkung der abweichenden Tarifnormen betroffen, d. h. die Verschiebung der zulässigen Grenzen der maximalen Arbeitszeit. Soweit der Tarifvertrag konkrete Arbeitspflichten der Arbeitnehmer begründet (materiellrechtliche Wirkung), hat die Tatsache, dass es sich um von tarifdispositivem Recht abweichende Tarifnormen handelt, keinen Einfluss auf den Normcharakter. Grundsätzlich nehmen auch von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichende Tarifnormen an der Nachwirkung des § 4 Abs. 5 TVG teil. Im Geltungsbereich des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts realisiert sich für die Nachwirkung jedoch nur deren Überbrückungsfunktion bis zum Inkrafttreten einer neuen tariflichen Regelung. Daher wirken abweichende Tarifnormen nur so lange nach, wie der Abschluss eines Folgetarifs noch in Aussicht steht. Von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht können auch Tarifnormen abweichen, die bereits vor dem Inkrafttreten der tarifdispositiven Vorschriften geschaffen wurden. Die inhaltliche Identität einer tarifvertraglichen Regelung mit dem Gesetzeswortlaut steht dabei dem konstitutiven Charakter der Tarifnorm nicht entgegen, so dass auch eine solche Tarifvertragsvorschrift gegenüber einer zeitlich nachfolgenden tarifdispositiven gesetzlichen Bestimmung vorrangig sein kann. Die Reichweite der durch die Tarifdispositivität eröffneten tarifvertraglichen Gestaltungsbefugnis ist durch Auslegung zu bestimmen. Die abweichenden Tarifnormen dürfen dabei aber nicht mittelbar in zwingende Arbeitnehmerschutzvorschriften eingreifen. Insofern ergibt sich aus der Teleologie des tarifdispositiven Rechts eine lediglich beschränkte Legitimation zur Abweichung, die den Tarifvertragsparteien die Anpassung der gesetzlichen Regelungen an die betrieblichen und branchenspezifischen Besonderheiten des Einzelfalls gestattet, sie aber nicht zu einer grundlegenden Änderung der gesetzlichen Konzeption ermächtigt. Allerdings ist der Zusammenhang der Tariföffnung mit der verfassungsrechtlichen Garantie der Koalitionsfreiheit zu beachten, der unter Umständen eine verfassungskonforme Auslegung der Tariföffnungsklauseln bedingt. Auch das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 Alt. 2 TVG behält im Anwendungsbereich des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts seine Gültigkeit für 28 Bock
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4. Teil: Zusammenfassung
abweichende Tarifnormen. Die Arbeitsvertragsparteien können insbesondere unter das gesetzliche Schutzniveau abweichen, solange sie günstigere Abmachungen treffen, als sie der abweichende Tarifvertrag vorsieht. Tarifliche Öffnungsklauseln im Sinne von § 4 Abs. 3 Alt. 1 TVG hingegen können die Arbeitsvertragsparteien nicht nutzen, da sie das tarifliche Niveau nicht unterschreiten dürfen. Derartige Öffnungsklauseln erlangen nur für die Betriebspartner Bedeutung, denen die Regelung im Geltungsbereich eines Tarifvertrags anderenfalls gemäß § 77 Abs. 3 BetrVG versagt wäre. III. Auch die Auslegung der Erstreckungsklauseln wirft an den Schnittstellen zwischen dem einfachgesetzlich ausgestalteten Tarifvertragssystem und dem tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht Rechtsfragen auf. Dass Tarifnormen von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht abweichen, beeinflusst die Rechtsnatur und Rechtswirkung der arbeitsvertraglichen Bezugnahme auf derartige Tarifnormen nicht. Es handelt sich auch bei der individualvertraglichen Verweisung auf abweichende Tarifvertragsregelungen um Vertragsabreden mit lediglich schuldrechtlicher Wirkung. Die Bezugnahme ist nur auf abweichende Tarifverträge zulässig, deren Geltungsbereich eröffnet ist. Trifft dies auf mehrere Tarifverträge zu, ist der einschlägige Tarifvertrag im Sinne der Erstreckungsklauseln anhand der Regeln zur Spezialität zu ermitteln. Ein Wahlrecht der Arbeitsvertragsparteien besteht nicht. Auch ein nachwirkender Tarifvertrag ist taugliches Bezugnahmeobjekt im Sinne der Erstreckungsklauseln. Die Bezugnahme muss sich im Mindestmaß auf den tariflichen Regelungskomplex erstrecken, der die Abweichung von dem tarifdispositiven Recht enthält. Einige Erstreckungsklauseln schreiben darüber hinaus die Bezugnahme auf den gesamten Tarifvertrag vor. Die Arbeitsvertragsparteien unterliegen bei der Bezugnahme keinem Formerfordernis. Sie können auf einen abweichenden Tarifvertrag insbesondere auch mittels einer konkludenten Vertragsabrede, durch Gesamtzusage oder betriebliche Übung verweisen. Neu in den Betrieb eintretende Arbeitnehmer sind allerdings auf eine derartige betriebliche Übung hinzuweisen und müssen sich ausdrücklich mit ihr einverstanden erklären. Nach der Bezugnahme auf einen tariflichen Regelungskomplex, der eine Abweichung von tarifdispositivem Arbeitnehmerschutzrecht enthält, besteht für die Arbeitsvertragsparteien die Möglichkeit, von einzelnen der in Bezug genommenen Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers abzuweichen, auch wenn das gesetzliche Schutzniveau dabei unterschritten wird. IV. Der Gesetzgeber hat mit dem tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht zwar grundsätzlich nur den Tarifvertragsparteien die Abweichung von den gesetzlichen
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Vorschriften gestattet, die Betriebspartner aber dennoch als Normsetzungsinstanzen mit einbezogen. Das Gesetz eröffnet den Betriebspartnern dabei sowohl Regelungsbefugnisse als auch Bezugnahmemöglichkeiten. Aufgrund eines Tarifvertrags können die Betriebspartner im Rahmen der tariflichen Vorgaben von den gesetzlichen Arbeitszeitgrenzen abweichen. Insoweit handelt es sich um die Delegation tariflicher Regelungsbefugnisse auf die Betriebsparteien, so dass § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG keine Anwendung findet. Die Tariföffnungklauseln beseitigen dabei die Wirksamkeitsschranke des tarifdispositiven Rechts im Hinblick auf die Betriebspartner. Die Festlegung der materiellrechtlichen Arbeitsverpflichtung regeln die Tariföffnungsklauseln hingegen nicht unmittelbar. Insofern gelten die allgemeinen betriebsverfassungsrechtlichen Vorschriften, so dass die Betriebspartner bei üblicherweise tariflich geregelten Festlegungen zu Dauer und Lage der individuellen Arbeitszeit auf eine tarifliche Öffnungsklausel gemäß § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG angewiesen sind. Von der Abweichungsbefugnis aufgrund eines Tarifvertrags können auch Betriebspartner im Betrieb eines nicht tarifgebundenen Arbeitgebers Gebrauch machen, wenn sie die tarifliche Regelung übernehmen. Dies gilt ebenfalls, wenn die Ersteckungsklauseln eine solche Möglichkeit nicht ausdrücklich vorsehen (vgl. beispielsweise § 21a Abs. 2 JArbSchG). Die Übernahme abweichender Tarifnormen steht den Parteien einer Betriebsvereinbarung sowohl hinsichtlich arbeitsschutzrechtlicher als auch materiellrechtlicher Regelungen eines Tarifvertrags in Betrieben eines tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitgebers offen. Insofern sind die Erstreckungsklauseln des Arbeitszeitrechts weit auszulegen und konstituieren eine Ausnahme von § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG. Die Bezugnahme kann auch mittels einer dynamischen Blankettverweisung erfolgen. Dienstvereinbarungen stehen den Betriebsvereinbarungen gleich. Dasselbe gilt – wo dies das Gesetz ausdrücklich anordnet – für Bordvereinbarungen. V. Als verfassungsrechtlich garantierte Tarifautonomie bildet die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis eine Teilgewährleistung der Koalitionsfreiheit. Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG steht als „Doppelgrundrecht“ sowohl dem einzelnen als auch den Koalitionen als Vereinigungen zu. Es garantiert neben der freien Koalitionsbildung auch die ungehinderte Ausübung der koalitionsspezifischen Betätigung, ohne diese Gewährleistung auf die für den Bestand der Koalitionen unerlässlichen Betätigungsformen zu beschränken. Umfassend ist die Koalitionsbetätigungsfreiheit nur für Handlungsformen, deren Wahrnehmung den Koalitionen bei Abwesenheit des Staates ideal möglich ist. So genannte normative Betätigungsformen, für deren Ausübung die Koalitionen auf eine Mitwirkung des Staates angewiesen sind, unterfallen dem Schutz des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG nur in dem Maße, 28*
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in dem sie für eine sinnvolle Ausfüllung des in der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bestehenden Koalitionszwecks erforderlich sind. Aus der objektivrechtlichen Komponente des Grundrechtsschutzes ergibt sich dabei für den staatlichen Gesetzgeber die Pflicht zur Bereitstellung eines Tarifvertragssystems, das den Koalitionen den Abschluss normativ wirkender Gesamtvereinbarungen ermöglichen muss. Diese tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis erfasst der Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG in sachlich-gegenständlicher Hinsicht für alle Individualarbeitsbedingungen. Tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht steht zu der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie in zweifacher Weise in Beziehung. Auf der einen Seite ist das tarifdispositive Arbeitnehmerschutzrecht selbst an der verfassungsrechtlichen Garantie des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG zu messen, da es zwar formal die tarifvertragliche Regelungsbefugnis nicht zu tangieren scheint, jedoch einen gesetzlichen Status Quo errichtet, der sich auf die Verhandlungspositionen der Tarifpartner auswirken kann. Im Ergebnis überschreitet tarifdispositives Arbeitnehmerschutzrecht in seiner beeinträchtigenden Wirkung jedoch die Schwelle zu einem Grundrechtseingriff nicht. Auf der anderen Seite resultiert aus der verfassungsrechtlichen Garantie der Tarifautonomie unter bestimmten Voraussetzungen eine Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts. Einseitg zwingende Arbeitnehmerschutzgesetze konstituieren Eingriffe in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Diese legislativen Eingriffe vermag der Gesetzgeber zu rechtfertigen, wenn er mit seinen Vorhaben Grundrechtspositionen Dritter bzw. andere Rechtswerte von Verfassungsrang schützt und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. In diesem Rahmen hat er einen weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum. Die Wirkkraft des Grundrechtsschutzes nimmt jedoch in dem Maß zu, in dem die Tarifvertragsparteien im Vergleich zum Gesetzgeber besser zur Regelung einer bestimmten Materie geeignet sind. Am stärksten ist die Schutzintensität und damit auch die Kontrolldichte im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips für Festlegungen im Bereich der arbeitsvertraglichen Hauptpflichten. Fehlt dem Gesetzgeber für sein Gesetzesvorhaben die Rechtfertigungsgrundlage durch kollidierendes Verfassungsrecht oder bewegt sich die gesetzliche Regelung nicht im Rahmen des Verhältnismäßigen, dann ist der Gesetzgeber auf den Weg des tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrechts verwiesen. Eine diesbezügliche Verpflichtung ergibt sich insbesondere, wenn das gesetzliche Regelungsziel gleichermaßen durch tarifdispositive Vorschriften erreicht wird. Für diesen Fall ist eine einseitig zwingende gesetzliche Festlegung nicht erforderlich im Sinne des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Aber auch wenn die konkrete gesetzliche Regelung die Tarifautonomie im Verhältnis zum legislativen Schutzzweck unangemessen beeinträchtigt, d. h. nicht verhältnismäßig im engeren Sinne ist, ergibt sich eine Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung tarifdispositiver Vorschriften.
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VI. Im Einzelnen wirken sich die verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Verhältnis zwischen der grundrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis und dem tarifdispositiven Arbeitnehmerschutzrecht sowohl auf die interpretative Bestimmung des Umfangs der Tarifdispositivität von Arbeitnehmerschutzvorschriften als auch auf die verfassungskonforme Auslegung grundsätzlich einseitig zwingend ausgestalteter Arbeitnehmerschutzvorschriften aus. Für den Bereich des Kündigungsschutzrechts bewirkt die verfassungsrechtliche Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis jedoch keine Pflicht des Gesetzgebers, bestehende Vorschriften, wie etwa die Kleinbetriebsklausel (§ 23 Abs. 1 KSchG), die Wartezeit (§ 1 Abs. 1 KSchG) oder die Kriterien zur Sozialauswahl bei der betriebsbedingten Kündigung (§ 1 Abs. 3 KSchG) für abweichende tarifvertragliche Festlegungen zu öffnen. Allerdings folgt aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben die weite Auslegung des § 622 Abs. 4 S. 1 BGB, so dass in seinem Rahmen auch entfristete ordentliche Kündigungen tarifvertraglich vorgesehen werden können. Im Arbeitszeitrecht ergeben sich aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG ebenfalls keine Verpflichtungen, für den Gesetzgeber die ohnehin bereits großzügigen tarifdispositiven Bereiche noch weiter für die Tarifvertragsparteien zu öffnen. Hier war der Gesetzgeber insbesondere durch europarechtliche Vorgaben gebunden, die ihm nur wenig Spielraum für tarifdispositive Regelungen ließen. Im weitestgehend bereits tarifdispositiv geregelten Urlaubsrecht stößt insbesondere die Rechtsprechung des 9. Senats des Bundesarbeitsgerichts zu § 11 Abs. 1 BUrlG auf verfassungsrechtliche Bedenken. Sie ist vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Garantie der tarifvertraglichen Normsetzungsbefugnis nicht haltbar und daher zu korrigieren. Den Tarifvertragsparteien muss bei der Festlegung der Höhe des Urlaubsentgelts sowohl eine vom Bundesurlaubsgesetz abweichende Bestimmung des Zeit- als auch des Geldfaktors möglich sein, bei der sie einzelne Vergütungsbestandteile aus der Berechnungsgrundlage ausnehmen dürfen. Die untere Grenze der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis bildet das vom 6. Senat entwickelte Lebensstandardprinzip. Im Gegensatz dazu wahrt die großzügigere Rechtsprechung des 5. Senats des Bundesarbeitsgerichts zur Festlegung des im Krankheitsfall fortzuzahlenden Entgelts, die den Tarifvertragsparteien sowohl Abweichungen von der Bestimmung des Geld- als auch des Zeitfaktors sowie die Herausnahme einzelner Entgeltbestandteile aus der Bemessungsgrundlage gestattet, die Vorgaben der Grundrechtsgarantie aus Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG. Die tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis führt jedoch nicht dazu, dass der Gesetzgeber zu einer über § 4 Abs. 4 EFZG hinausgehenden Tarifdispositivität des Entgeltfortzahlungsgesetzes verpflichtet ist. Eine branchenübergreifende staatliche Mindestentgeltregelung wäre demgegenüber in zwingender Form nicht mit der verfassungsrechtlichen Garantie der Tarif-
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autonomie zu vereinbaren. Die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist nur in Gestalt einer tarifdispositiven Regelung möglich. Im Grundsatz existiert mit dem Gleichstellungsgebot des § 9 Nr. 2 AÜG für die Leiharbeitsbranche bereits eine tarifdispositive Mindestentgeltregelung. In ihrem Rahmen steht Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG einer Beschränkung der tarifvertraglichen Abweichungsbefugnis allerdings nicht entgegen. Aufgrund der dem Gleichstellungsgebot zugrundeliegenden gesetzgeberischen Konzeption sind die Tarifvertragsparteien bei der Umsetzung ihrer Gestaltungsbefugnis zur sachlichen Rechtfertigung einer Differenzierung zwischen Leih- und Stammarbeitnehmern verpflichtet.
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Sachregister abgestufter Schutzbereich, 260 f. Abgrenzung Eingriff Ausgestaltung, 261 Abstandsgebot, 368 abstrakte Kompetenzabgrenzung, 255, 290 ff. abwehrrechtlicher Schutz, 269 Abweichen, 111 ff. – auf Grund Tarifvertrags, 213 f., 217 ff. abweichender Tarifvertrag – arbeitsschutzrechtliche Wirkung, 79 ff., 217 ff. – Bestimmtheit, 112 – Demokratieprinzip, 77 – Effektivität, 90 f. – materiellrechtliche Wirkung, 86 ff., 220 ff. – Nachwirkung, 95 ff. – Normcharakter, 78 ff. – Rechtsnatur, 72 ff. – Rechtsstaatsprinzip, 77, 85 f. Abweichungswille, – Arbeitsvertragsparteien, 192 ff. – Betriebspartner, 234 – Tarifvertragsparteien, 114, 115, 116 f., 133 f. ältere Arbeitnehmer, 140, 385 ältere Tarifverträge, 112 ff. – fehlende Übergangsvorschriften, 113 ff. – identische Tarifverträge, 119 ff. – Übergangsvorschriften, 112 f. – Vertrauensschutz, 118 Änderungslast, 100 f., 108 allgemeine Geschäftsbedingungen, 198 f. Allgemeinverbindlicherklärung, 423 f. Anwendungsvorrang, 330 ff. Arbeiterkrankheitsgesetz, 113 Arbeitnehmerentsendegesetz, 423, 427 arbeitnehmerfreundliche Auslegung, 132 Arbeitnehmergrundrecht, 306 Arbeitnehmerschutzrecht, 36, 267 – Pflicht zur Tarifdispositivität, 373 ff.
– Schutzbereich der Koalitionsfreiheit, 305 ff. Arbeitnehmerüberlassung, 43 – Gleichbehandlungsgebot, 44, 61, 154 ff. – historische Entwicklung, 57, 61 – tarifliche Arbeitsbedingungen, 61, 141 f. – und Grundrechtseingriff, 319 ff. – und Tarifautonomie, 420 ff. Arbeitsentgelt, siehe Lohngestaltung Arbeitsgerichtsbarkeit, 296 Arbeitskampf, 248 f. Arbeitsplatzschutz, 257 Arbeitspolitik (ILO), 295 f. Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen, 245, 259, 260, 264 f., 296 – und Schutzumfang der Tarifautonomie, 284 f., 327 Arbeitsverwaltung (ILO), 295 f. Arbeitszeitgestaltung, 257 Arbeitszeitordnung, 51, 88 f. Arbeitszeitrecht, 43 – Abweichung auf Grund Tarifvertrags, 212 ff. – als Grundrechtseingriff, 320 f. – gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, 392 f. – historische Entwicklung, 48 ff., 58 ff., 62 – Pausenzeiten, 394 ff. – Pflicht zur Tarifdispositivität, 394 ff. Arbeitszeitrichtlinie, 392 Arbeitszeitverordnung, 49 f. Ausgestaltung, siehe Grundrechtsausgestaltung Ausgestaltungsbedarf, 269 ff. ausgestaltungsbedürftige Betätigungen, 262, 269 Ausgestaltungsbefugnis, 272 ff. Ausgestaltungspflicht, 272 ff. ausgeübte Tarifautonomie, 350 ff. Aushöhlung, 261, 272 Auslegung einfachen Rechts, 387 Auslegung Tarifvertrag, 124 ff., 177
Sachregister Auslegungskanon, 242 f., 286 authentische Interpretation, 288 Bäckereiwesen, 50, 60 Bananenmarktbeschluss, 331 Beendigungsinteresse, 380 Befristung, 56 Bemessungsgrundlage, 140, 409 Berufsfreiheit – arbeitsrechtlicher Bestandsschutz, 379 – Stufentheorie, 360 f. Beschäftigungsförderungsgesetz, 56 f. beschäftigungspolitische Regelungen, 260, 300 Bestandsinteresse, 380 Bestandsschutz, 365 – Effizienz, 385 – Kündigungsfristen, 388 f. – Rechtsgut von Verfassungsrang, 379 ff. – Schutzminimum, 383 f., 386 – Schutzpflicht, 379 f., 382 betriebliche Altersversorgung, 43 – Entgeltumwandlung, 156 – historische Entwicklung, 53 f. – Unverfallbarkeit, 157 betriebliche Übung, 190, 200 ff. – bestehendes Arbeitsverhältnis, 202 ff. – konkludente Willenserklärung, 203 – Kündigungsfristen, 201 – neu begründetes Arbeitsverhältnis, 201, 205 f. – Tatbestand, 204 – Umfang der Bezugnahme, 204 – vertragliche Begründung, 202 – Vertrauenstatbestand, 203 – Willenserklärung, 202 Betriebsnorm, 79 ff., 88 – Begriff, 82 Betriebspartner, 213 – Allzuständigkeit, 215 – delegierte Regelungsmacht, 214 f. – Kompetenz, 215 – originäre Zuständigkeit, 215 ff. Betriebsrätegesetz, 379 Betriebsrat, 227 Betriebsvereinbarung, 212 – freiwillige, 216 30 Bock
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– Übernahme abweichender Tarifnormen, 224 ff. Betriebsverfassungsrecht, 36 – Öffnungsklauseln, 109 f. Bezugnahme auf Tarifvertrag, 165 ff. – Abweichungsbewusstsein, 192 ff., 201 – Betriebsvereinbarung, 224 ff. – gesamter Tarifvertrag, 184 – Gleichstellungszweck, 204 – isolierte, 184 – Mindestarbeitsbedingungen, 208 ff. – nachwirkender Tarifvertrag, 179 ff. – normative Wirkung, 174 ff. – Rechtsnatur, 165 ff. – Regelungskomplex, 185 ff. – Tarifbindung, 168, 169, 171 ff., 211 – tarifgebundener Arbeitgeber, 229 – teilweise, 207 – verkürzte Vertragsinhaltsbestimmung, 174 Bezugnahmeabrede, 190 ff. – ausdrückliche, 191, 197, 200 – Bestimmtheit, 190 – betriebliche Übung, 200 ff. – Betriebsvereinbarung, 232 f. – Formfreiheit, 195 – Gesamtzusage, 199 f. – konkludent, 190, 195 ff. – neu begründetes Arbeitsverhältnis, 205 ff. Bezugnahmeklausel, 38 f. Bezugnahmeobjekt, 177 ff. – betriebliche Übung, 207 – nachwirkender Tarifvertrag, 179 ff. Blankettverweisung, 232 ff. Bordvereinbarung, 212 Buchdruckerverein, 266 Bundespersonalvertretungsgesetz, 237 Bundesurlaubsgesetz, 42 – ältere Tarifverträge, 114 – historische Entwicklung, 51 f. – unabdingbare Grundprinzipien, 147 ff. deklaratorische Tarifregelung, 120 ff. – Tarifautonomie, 390 – Ursprung der Unterscheidung, 127 Delegation, 214 ff. demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie, 243 f.
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Sachregister
Dienstvereinbarung, 62, 212, 237 ff. Diskriminierung, 425 Doppelgrundrecht, 250, 300 Doppelnorm, 91 f., 228 Dreiecksverhältnis, 277 dynamische Blankettverweisung, 232 ff. echte Rückwirkung, 352 f. effektive Grundrechtsverwirklichung, 279 ff. Ehe und Familie, 384 Eignung zum Interessenausgleich, 354 ff., 371 – Entgeltfortzahlung, 417 – institutionell, 357 – instrumentell, 357 f. – Kündigungsfristen, 389 f. – Mindestlohn, 429 – Nachtarbeit, 403 – Sozialauswahl, 384 f. – Urlaubsentgelt, 407 – Wartezeit KSchG, 383 einfacher Gesetzesvorbehalt, 260 f. einfachgesetzlicher Normenkomplex, 256, 275 Eingriff, siehe Grundrechtseingriff Einheit der Verfassung, 243 einheitliche Arbeitsbedingungen, 107, 183, 209, 210 Einigungsprozess, siehe tariflicher Einigungsprozess Einigungsvertrag, 286 Einrichtungsgarantie, 261, 263, 272 (siehe auch Institutsgarantie) Einschätzungsvorrang und -spielraum, 371 – Arbeitszeitrecht, 395 – Entgeltfortzahlung, 418 – Grundlagen, 343 ff. – Kündigungsschutzrecht, 377 f., 384 – Mindestlöhne, 425 f. Einzelverweis, 184 ff. Enteignung, 309 f. entfristete Kündigung, 139 f., 154, 389 f. Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall – ältere Tarifverträge, 113 – Bemessungsgrundlage, 152 – Grundvergütung, 153 – historische Entwicklung, 53, 58 – inhaltsgleiche Tarifverträge, 121 f. – Karenztage, 415 ff.
– und Tarifautonomie, 409 ff. – verfassungsrechtliche Bedenken, 153 – Wartezeit, 415, 419 f. – Zeitraum, 415, 418 f. Entgeltumwandlung, 156 Entwicklungsoffenheit, 262, 271, 276 Erholungspausen, 393 Erstreckungsklausel, 165 ff. – arbeitszeitrechtliche, 78 – Begriff, 39 – Geltung der abweichenden Tarifnormen, 172 f. – Tarifbindung, 171 ff. Erwirkung, 203 Europäische Union, 330, 378 Evidenzkontrolle, 345 f. – arbeitsvertragliche Hauptpflichten, 364 Existenzminimum, 255, 258, 421 – relatives, 424, 428 Exklusivität, 309 faktische Betätigungsformen, 269, 278 Flexibilisierung, – durch tarifdispositives Recht, 375 f. – Entgeltfortzahlung, 415 Flexibilität, flexibel, 28, 61, 71, 110, 117 – Eignung zum Interessenausgleich, 358 Föderalstaat, 291 f. Folgetarifvertrag, 108 freiheitsergänzend, 276 freiheitskonstituierend, 276 funktionale / funktionelle Garantie, 262, 298 funktioneller Eingriffsbegriff, 314 ff. funktioneller Kernbereich, 257 ff. funktionstypische Betätigung, 257 Geldfaktor – Entgeltfortzahlung, 140, 409 – Urlaubsentgelt, 136, 147 f., 406 Geltungsbereich, 179 – zeitlicher, 110, 181, 182 Gemeinschaftsrechtsakte – Anwendungsvorrang, 330 Gemeinwohl, 261 Gemeinwohlbindung, 244 gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, 337 ff. Gesamtzusage, 199 f. – rechtsdogmatische Einordnung, 199
Sachregister Gesetzgebungskompetenz, 259, 295 – als Abgrenzungsmaßstab, 291 f. – als kollidierendes Verfassungsrecht, 339 f. – und tarifvertragliche Regelungsbefugnis, 317, 323 f. Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, 50 f., 267 gestörte Verhandlungsparität, 295, 299 (siehe auch Verhandlungsungleichgewicht) Gesundheitsschutz, 365 – Arbeitszeitrecht, 394 f. – Entgeltfortzahlung, 411 f., 417 f. – Gleichstellungsgebot, 421 – Schutzminimum, 413, 417 f. – staatliche Schutzpflicht, 395, 417 – und Höchstarbeitszeit, 398 f. – und Pausenzeiten, 396 f. – und Sonn- und Feiertagsruhe, 399 – Urlaubsrecht, 405 Gewerbeordnung – Bundesrepublik, 46 – Norddeutscher Bund, 48, 49 Gleichstellungsgebot Leiharbeitnehmer – als Grundrechtseingriff, 319 ff. – restriktive Auslegung, 154 ff. – und Tarifautonomie, 421 ff. Globalverweis, 184 ff. Grundrechte Dritter, 334 Grundrechtsausgestaltung, 252, 254 f., 260 f., 269 ff. – Anforderungen an Gesetzgeber, 329 – Ausgestaltungsbedarf, 269 ff. – Bestimmung des Schutzbereichs, 308 – einseitig zwingendes Recht, 306 ff. – Funktion, 279 – Koordinationsfunktion, 307 f. – Regelungsziel, 307 – Verhältnismäßigkeitsprinzip, 277, 282 Grundrechtsbindung, 305 Grundrechtseingriff, 259, 260, 261, 262 f., 371 – Arbeitnehmerinteressen, 368 – durch Auslegungsregel, 132 f., 390 f. – durch Rechtsprechung, 387, 404 ff., 409 ff. – durch restriktive Auslegung, 158, 388 ff., 421 ff. – einseitig zwingende Vorschriften, 306 ff. 30*
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– – – – – – –
funktioneller Eingriffsbegriff, 314 ff. Imperativität, 308 f. Intensität, 368, 383 mittelbare Beeinträchtigung, 314 Rechtfertigung, 322 ff. Regelungsziel, 307, 308 f. staatliches Arbeitnehmerschutzrecht, 302 ff. – struktureller Unterschied, 307 – tarifdispositive Vorschriften, 312 ff. – Unterlassen, 282 Grundrechtsinterpretation, 241 ff. Grundrechtskonflikt, 290 ff., 370 Grundrechtstheorien, 243 f. Grundrechtsverwirklichung, 271, 279 Günstigkeit, günstiger, 115 – Bezugnahme auf Tarifvertrag, 208 ff. – und abweichende Tarifverträge, 158 ff. Günstigkeitsbereich, – und Koalitionsfreiheit, 306 – und Tarifabschlüsse, 320, 321 Günstigkeitsprinzip, 281 Günstigkeitsvergleich, 145, 210 Handwerksgesellen, 266 Hochschulbeschluss, 302, 311 Höchstarbeitszeit, 397 ff. Identität Gesetz Tarifvertrag, 119 ff. – Rechtsprechungsgeschichte, 126 f. – Tarifautonomie, 132 f. ILO-Abkommen Nr. 154, 295 f., 376, Imperativität, 308 f. individuelle Arbeitszeit, 220 f. – bezugnehmende Betriebsvereinbarung, 224 ff. Industrialisierung, 266, 295 Inhalts- und Schrankenbestimmung, 309 Inhaltskontrolle, 345 ff. – Tarifverträge, 390 Inhaltsleere, 100, 109 Inhaltsnorm, 87 Institutsgarantie, 254, 256, 274 Instrumentarium, 278 f. Interessenkonflikt, 270 Internationale Arbeitsorganisation, 295 f. Internationales Privatrecht, 175
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Sachregister
Jugendarbeitsschutzgesetz, 42 f., 212, 231, 238 – historische Entwicklung, 55 f. Jugendarbeitsschutzrichtlinie, 392 juristische Personen, 249 Karenztage, 58, 415 ff. Kernbereich, 252, 303 – Arbeitslohn, 428 klassisches Freiheitsrecht, 266 f. Kleinbetriebe, 385 Kleinbetriebsklausel, 385 f. Koalitionsbetätigungsfreiheit, 263 ff., 291, 307 Koalitionsbildungsfreiheit, 266 Koalitionsfreiheit, 150 f. – abgestufter Schutzbereich, 260 f., 325 ff. – abwehrrechtlicher Schutz, 268 – historische Entwicklung, 266 f., 294 f. – juristische Personen, 249 – Kernbereich, 252, 303 – kollektive, 246 ff. – negative, 84 f. – primäre Garantie, 324 – sekundäre Garantie, 324 Koalitionsmittelgarantie, 257, 268 koalitionsspezifische Betätigung, 253, 264 Koalitionszweck, 264 f. – Effektivität, 270 Kollektivgrundrecht, 246 ff. kollektivierte Selbsthilfe, 267 kollidierendes Verfassungsrecht, 259, 261, 333 ff., 371 – Grundrechte Dritter, 334 – Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, 337 ff. – Gesetzgebungskompetenz, 339 f. – Sozialstaatsprinzip, 334 ff. kommunale Selbstverwaltung, 292 Kompetenzkonflikt, 290 Kompetenznorm, 215, 220 komplementäre Normen, 271, 273, 307 Kompromiss, 189, 417 – und Attraktivität für Arbeitnehmer, 319 – und Normsetzungswille, 131 f. konkludent, siehe Bezugnahmeabrede konstitutive Tarifregelung, 119 ff. – Tarifautonomie, 390 – Ursprung der Unterscheidung, 127
Kontinuität, 102, 109, 182 Krankengeld, 416 Kündigungsfristen – ältere Arbeitnehmer, 154 – ältere Tarifverträge, 112 f., 116 – betriebliche Übung, 200 – Grenzen der Tarifdispositivität, 154 – historische Entwicklung, 53, 57 f. – verfassungskonforme Auslegung, 374 f. – Verfassungswidrigkeit, 128 Kündigungsschutz, 296 – Flexibilisierung, 375 – Pflicht zur Tarifdispositivität, 374 ff. – Prüfungsmaßstab, 376 ff. – Relativierung Grundrechtsschutz, 378 – Schwellenwerte, 375 – Verfassungsrechtsgut, 378 ff. – Wartezeit, 375 Kurzerkrankungen, 417 Landesgesetzgebung, 291 f. Lebensstandardprinzip, 136, 150, 408 Legitimation, 324 Leiharbeit, 421 ff. Leiharbeitnehmer, 61 – Gleichstellungsgebot, 135, 141, 155 f. Leistungsstörung, 148 Lohnabstandsklauseln, 316 Lohnausfallprinzip, 136, 148, 406 Lohndirigismus, 429 Lohngestaltung, 253, 257, 261 Lüth-Urteil, 272 Maastricht-Urteil, 331 Machtungleichgewicht, 297, 356 (siehe auch Verhandlungsungleichgewicht) Mächtigkeit, 320, 422 Massenarbeitslosigkeit, 335 Massenentlassungsrichtlinie, 378 materielle Richtigkeitsgewähr, 117, 118, 139, 147, 197 f., 389 – Eignung zum Interessenausgleich, 355 – einzelvertragliche Bezugnahme, 187 ff. – Mindestlohn, 428 Menschenwürde, 379 Mindestarbeitsbedingungen, Gesetz über, 319 – Schutzintensität Tarifautonomie, 362 f. – und Mindestlohn, 423, 429
Sachregister – und Tabuzone für Gesetzgeber, 324 Mindestentgelt, -lohn, 319 – Arbeitslosigkeit, 426 – Diskriminierung, 425 – Gestaltungsformen, 423 – Pflicht zur Tarifdispositivität, 420, 423 ff. Mitbestimmung, 220, 222 mittelbarer Eingriff in zwingendes Recht, 134 ff. – Arbeitnehmerüberlassung, 141 f., 154 ff. – Art. 9 Abs. 3 S. 1 GG, 158, 374 – betriebliche Altersversorgung, 142 f., 156 f. – Entgeltfortzahlung, 140 f., 152 f. – Kündigungsfristen, 139 f., 154 – Teleologie, 144 ff. – Urlaubsrecht, 135 ff., 147 ff., 404 ff. Mitwirkung des Staates, 269, 271 ff. Nachtarbeit, 393, 394 f. – tarifvertragliche Definition, 402 f. Nachweisgesetz, 191 f. Nachwirkung, 95 ff., 179 ff. – betriebsverfassungsrechtliche Normen, 109 f. – dispositive Wirkung, 106 f. – ewige, 98, 110 – Geltungsgrund, 106, 107 f. – Inhaltsschutz, 100, 101, 106, 182 – neues Arbeitsverhältnis, 107, 181, 183 – Ordnungsfunktion, 100, 106 – planwidrige Unvollständigkeit des § 4 Abs. 5 TVG, 102 ff. – Überbrückungsfunktion, 101 f., 108, 110, 182 – zeitliche Beschränkung, 107 f. – Zweck, 100 ff. Nationalhymne, 400 Nationalsozialismus, 50 natürliche Betätigungen, 262, 269 negative Koalitionsfreiheit, 84 f. Nichtigkeit, 66 f. normative Wirkung, – Intensität, 282 – sachlich-gegenständliche Reichweite, 282 f. Normenhierarchie, 40, 72, 115, 117, 292, 310
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– Gemeinschaftsrecht, 330 Normsetzungsmonopol, 317, 323, 340 Normsetzungsprärogative, 71, 146, 258, 323 Normsetzungswille, 121, 391 – Bestimmungsmaßstab, 122 ff. – Regelungszusätze, 126 f. objektive Schutzkomponente, 262, 274 ff., 279 f. Öffentlichkeit, 244 f. Optimierungsgebote, 360 Organisationsbereich, 261 Parlamentarischer Rat, 265, 294, 328 Pausenzeiten, 393 – Pflicht zur Tarifdispositivität, 394 ff. Pflicht zur tarifdispositiven Regelung, 322 ff., 372 – abstrakt, 322, 348 ff., 359 ff. – einzelfallbezogen, 365 ff. – Erforderlichkeitsfrage, 366 f. – Grundlage, 322 – Verfassungsrechtsgut, 365 f. – Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, 367 ff. Prämienwesen, 257 praktische Konkordanz, 243 Prinzipien, Grundrechte als, 359 f. Privatautonomie, 35 f., 90, 160, 176 – kollektive, 244, 294 Rechtfertigung, 322 ff. – kollidierendes Verfassungsrecht, 330 ff. – ungeschriebener Gesetzesvorbehalt, 324 ff. Rechtsfolgenirrtum, 193 Rechtsnatur – abweichender Tarifverträge, 72 ff. – Bezug nehmender Tarifvertrag, 165 ff. – dispositiver Vorschriften, 75 Rechtssicherheit, 116, 117, 194, 218 f. Rechtswahl, 168, 175 Rechtswert von Verfassungsrang, 336 – Kompetenzvorschriften, 339 Referenzprinzip, 147, 406 Referenzzeitraum, 137, 406 Regelungsinteresse, 373 Regelungskomplex, 184, 188 f., 204 f.
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Sachregister
Relativierung des Grundrechtsschutzes, 330 ff., 371 – Arbeitszeitrecht, 392 ff., 399 – Bestimmung des Arbeitsentgelts, 363 – Kündigungsschutzrecht, 378 – Urlaubsrecht, 404 Religionsausübung, 399 f. Richtigkeitsgewähr, siehe materielle Richtlinie über Leiharbeit, 155 Rückbewirkung von Rechtsfolgen, 352 f. Rückwirkungsverbot, 118, 352 ff. Rückzahlungsklauseln, 138 sachentscheidende Normen, 259 sachlich-gegenständlicher Schutzbereich, 259, 261 f. – funktionell, 262, 298 f. Sachnähe, sachnah, 54, 71, 106, 108, 110, 117, 179 – Eignung zum Interessenausgleich, 357 – Entgeltfortzahlung, 417 Schichtbetriebe, 393 – Begriff, 397 Schiedsgerichtsbarkeit, 44 Schriftformgebot Tarifvertrag, 196 Schutzbereich, 253, 283 Schutzpflicht, – als kollidierendes Verfassungsrecht, 334, 425 – arbeitsrechtlicher Bestandsschutz, 379 f., 382 – Gesundheitsschutz, 395, 417 f. – und Ausgestaltung, 259, 273, 278 f. Schwellenwert, – Kündigungsschutz, 375 – Pflicht zur Tarifdispositivität, 385 f. Schwerbehinderung, 384 Schweretheorie, 309 Seemannsgesetz, 43, 212 – historische Entwicklung, 56, 60 sinnvolle Grundrechtsverwirklichung, 262, 279 Sonn- und Feiertagsruhe, 393 – Pflicht zur Tarifdispositivität, 399 ff. – Schutzzweck, 400 Souveränität, 291 Sozialauswahl, Kriterien, 375 – Pflicht zur Tarifdispositivität, 384 f.
soziale Angelegenheiten, 216 Sozialstaatsprinzip, 244 – als kollidierendes Verfassungsrecht, 334 ff. – arbeitsrechtlicher Bestandsschutz, 379 – Entgeltfortzahlung, 411 f. – Urlaubsentgelt, 408 Sprecherausschussgesetz, 217 staatliche Mitwirkung, siehe Mitwirkung des Staates Staatskonstitutionsprinzip, 335, 338 Staatsvertrag, – Schutzintensität Tarifautonomie, 362 f. – Schutzumfang Tarifautonomie, 285 ff. Staatszielbestimmung, 338 Stabilitätsgesetz, 338 stillschweigende Bezugnahme, siehe Bezugnahmeabrede Streikrecht, 265, 294, 328 Struktur der Erstreckungsklauseln, 64 f. Struktur der Tariföffnungsklauseln, 63 f. strukturgestaltende Normen, 259 Stufenmodelle, 325 ff. – staatliche Interessen, 328 f. – Tarifüblichkeit, 328 Stufentheorie (Art. 12 GG), 360 f. Subsidiarität, subsidiär, 41, 259, 303 – und Grundrechtsdogmatik, 369 f. Subsidiaritätsprinzip, 255, 293 – Ursprung, 369 Tabuzone, 262, 324 Tarifautonomie, 71, 150 f. – einfachgesetzlich ausgestaltete, 72 ff. – Funktionsfähigkeit, 256, 269, 308, 315 – Schutzbereich, 283 ff. – Schutzintensität, 349 f., 371 – Staatsvertrag, 285 ff. – Entgeltfortzahlung, 409 ff. – und Urlaubsrecht, 403 ff. – ungeschriebener Gesetzesvorbehalt, 324 ff. – verfassungsrechtlich garantierte, 241 ff. – Verhandlungsspielraum, 315 Tarifbeteiligung, 169 f., 171 Tarifbindung, 171 ff. tarifdispositiv, Tarifdispositivität, 34 ff., 296, 302 – Abgrenzung, 36 ff., 47 f.
Sachregister – Auslegung, 40 ff. – Bundesverfassungsgericht, 313 f. – Definition, 34 ff. – Entstehungsgeschichte, 48 ff. – Erforderlichkeitsprüfung, 302, 366 f. – Grenzen, 134 f. – immanente Einschränkung, 144 f. – milderes Mittel, 366 f. – Pflicht zur, 301 ff. – Richterrecht, 46 – Status quo, 315 – verdeckt tarifdispositiv, 45 ff. – Wettbewerbsverbote, 45 f. – Zweck, 70 f., 144 ff. tarifdispositives Recht – Wirkung, 316 ff. Tarifeinheit, 179 Tariffähigkeit, 251 – Mächtigkeit, 320, 422 Tarifkonkurrenz, 177 f. tariflicher Einigungsprozess, 261, 297 f. Tariföffnungsklausel – arbeitszeitrechtliche, 78 ff. – Begriff, 37 – Beispiele, 42 ff. – betriebsweite Wirkung, 81 ff. – restriktive Auslegung, 146 – zulassende, 87, 88 ff. tarifoffen, 37 Tarifordnung, 51, 88 f. Tarifsperre, 215 tarifüblich, – Betriebsverfassung, 216, 221, 222 – Kriterium für Schutzintensität, 328, 350 ff., 355 f. – Tarifautonomie, 261, 326 Tarifvertrag, – Attraktivitätsverlust, 319 f. – einschlägiger, 177 ff. – im Sinne der Tariföffnungsklauseln, 72 ff. – normative Wirkung, 280 – spezieller, 177 ff. – Verhandlungsprozess, 313 tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis, 281 f. – absolute Schutzzone, 323 f. – als Gesetzgebung, 255 f., 290
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– arbeitsvertragliche Hauptpflichten, 362 ff. – Grundlagen, 250 ff. – sachlich-gegenständlicher Schutz, 282 f., 284 ff. tarifvertragliche Öffnungsklausel, 162 f. – Betriebsvereinbarung, 163 tarifvertragliche Regelungsbefugnis, siehe tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis Tarifvertragsgesetz, 283, 294, 328 Tarifvertragsparteien, – Legitimation, 324 – Regelungsinteresse, 373 tarifvertragsspezifische Regelungen, 127 Tarifvertragssystem, 251, 256, 280 – funktionsfähiges, 262, 269, 280 f., 298, 307 f. – und Niedriglöhne, 425 Tarifvertragsverordnung, 48, 280 – Berufung auf Tarifvertrag, 166, 169 f. – Nachwirkung, 103 f. Tarifvorrang, 38 Tarifzensur, 146 tatbestandliche Rückanknüpfung, 352 f. Teilurlaubsansprüche, 137, 151 teilweise Bezugnahme, 207 Teilzeit- und Befristungsgesetz, 43 – historische Entwicklung, 60 f. teleologische Auslegung, 243 teleologische Reduktion, 99 f. topische Methode, 242 f. Treuhänder der Arbeit, 51, 75 Übereinkommen Nr. 150 der ILO, 295 f. Übereinkommen Nr. 154 der ILO, 295 f. Übergangsvorschrift, 112 ff. Überstunden, 148 f. Umsetzung von Richtlinien, 333 unechte Rückwirkung, 352, 353 Unerlässlichkeit, 252 f. – als Schutzbereichsbegrenzung, 263 ff. ungeschriebener Gesetzesvorbehalt, 324 ff. Unterhaltspflichten, 384 Unterkernbereiche, 257 f. Untermaßverbot, 274, 282 – Entgeltfortzahlung, 417 f. Unterwanderung, 280, 297 Unterwerfung unter Tarifvertrag, 168 f. Unwirksamkeit, 66 f. Urlaubsabgeltung, 138, 151
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Sachregister
Urlaubsanrechnung, 152 Urlaubsanspruch, 137, 138, 151 Urlaubsdauer, – und Gemeinschaftsrecht, 403 f. Urlaubsentgelt, 135 ff., 147 ff. – Rechtsprechung und Tarifautonomie, 404 ff. Urlaubsregelung, 257 venire contra factum proprium, 203 Verbandsauflösung, 111 Verbandsaustritt, 111 Verbandsleben, 268 Vereinbarung, 192, 196 f., 200, 201, 203 Vereinigungsverbot, 48 verfassungskonforme Auslegung, 374, 387 Verhältnismäßigkeitsprinzip, 261, 302 f. – arbeitsvertragliche Hauptpflichten, 364 – Einschätzungsvorrang und -spielraum, 343 ff. – Entgeltfortzahlung, 415 ff. – gesetzliche Pausenzeiten, 395 ff. – Grundlagen, 341 ff. – Kündigungsschutzrecht, 376 ff. – Mindestlöhne, 425 ff. – Prüfungsmaßstäbe, 345 ff., 371 – Sonn- und Feiertagsruhe, 401 f. – Stufenlehre (Art. 12 GG), 360 f. – tarifvertragliche Normsetzungsbefugnis, 347 – und Art. 72 Abs. 2 GG, 292 – und Ausgestaltung, 274 – und Pflicht zur Tarifdispositivität, 349, 365 ff. – und Rechtsprechung Entgeltfortzahlung, 412 ff. – und Rechtsprechung Urlaubsentgelt, 406 ff. – und Verhandlungsspielraum, 298 – Wirkkraft, 349 f., 371 Verhandlungsgleichgewicht, 133, 261 ff., 315 Verhandlungsprozess, 313, 316 – Eignung zum Interessenausgleich, 358 – und Arbeitnehmerüberlassung, 319 ff.
Verhandlungsspielraum, 315 Verhandlungsungleichgewicht, 269, 299 (siehe auch gestörte Vertragsparität, Machtungleichgewicht) vermögenswirksame Anlage, 258 Vertrauenstatbestand, 203 Vertretbarkeitsprüfung, 345 f. – arbeitsvertragliche Hauptpflichten, 364 Verweis auf Gesetz, 120 vorbehaltlose Garantie, 259 Vorrangprinzip, 40 f. Wartezeit, – Entgeltfortzahlung, 415, 419 f. – Kündigungsschutzgesetz, 375, 382 ff. – Urlaubsrecht, 151 Weimarer Reichsverfassung, 247, 265, 267, 272, 295 – Einrichtungsgarantien, 274 f. – Sonn- und Feiertagsruhe, 399 Weimarer Republik, 48 Wesensgehalt, 258, 260, 292 – und europäische Rechtsordnung, 331 wesensmäßiger Schutz, 256, 261, 276 f. Wiedervereinigung, 400 – und Staatsvertrag, 287 Willenserklärung, 193, 197, 199, 202 Willensmängel, 193 Wirkkraft, 349 f., 371 Wirkungsweise, 65 ff. Wirtschafts- und Sozialsystem, 271 wöchentliche Arbeitszeit, 222 – Verlängerung, 320 f. Zeitfaktor – Entgeltfortzahlung, 140, 153, 409 – Urlaubsentgelt, 136, 147 ff., 407 Zigarettenarbeiter, 267 Zulassungsnorm, 37, 82, 89, 303 Zweifelsregel, 120 ff., 126 ff., 390 f. zweiseitig zwingende Gesetze, 306, 310 zwingendes Arbeitnehmerschutzrecht, 305 ff. – Grundrechtseingriff, 305 ff. – Verfassungsmäßigkeit, 304