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German Pages 328 Year 1994
CHRISTIAN HARTMANN
Gleichbehandlung und Tarifautonomie
Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht Band 133
Gleichbehandlung und Tarifautonomie Zur Ermittlung der Rechtsfolgen bei Gleichheitsverstößen in Tarifverträgen
Von Christian Hartmann
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hartmann, Christian: Gleichbehandlung und Tarifautonomie: zur Ermittlung der Rechtsfolgen bei Gleichheitsverstössen in Tarifverträgen / von Christian Hartmann. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum Sozial- und Arbeitsrecht; Bd. 133) Zug!.: Bonn, Univ., Diss., 1992/93 ISBN 3-428-08089-0 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0227 ISBN 3-428-08089-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI·Norrn für Bibliotheken
Meiner Mutter und dem Andenken meines Vaters
Vorwort Diese Arbeit hat im Wintersemester 1992/93 der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation vorgelegen. Die vorliegende Fassung ist hinsichtlich Rechtsprechung und Literatur auf dem Stand von Mai 1993. Mein Dank gilt allen, die mich bei der Erstellung dieser Arbeit begleitet und unterstützt haben, allen voran meinem Doktorvater Prof. Dr. D. W. Belling. Weiterhin danke ich dem Zweitgutachter Prof. Dr. H. Fenn, an dessen Lehrstuhl ich während meiner Arbeiten beschäftigt war. Schließlich bin ich der Studienstiftung des deutschen Volkes zu Dank verpflichtet, die diese Arbeit mit einem Promotionsstipendium gefördert hat, ferner der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn, die mir einen großzügigen Druckkostenzuschuß gewährt hat. Berlin, im September 1993
Christian Hartmann
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Einführung in die Problematik
25
Erster Abschnitt: Das Phänomen ........................ ...................... ..................
25
Zweiter Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte...
27
I. Bindung an den Gleichheitssatz .........................................................
27
1. Bindung an Art. 3 GG .................................................................. 2. Bindung an die Konkretisierungen des Gleichheitssatzes in den Landesverfassungen ........ ......... ......... ...... .... ....... .......... ......... ... .... 3. Bindung an Art. 119 EWGV ........................................................ 11. Bestimmung der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz ...... ...... ............. ............................. ........ ..... ...... ..................... 1. Die abstrakte Folge....................................................................... 2. Konkrete Bestimmung der Rechtsfolgen in den Fällen der verfassungswidrigen Ungleichbehandlung ....... ........... ...... ......... ....... a) Beide Gruppen werden begünstigt, jedoch in unterschiedlichem Maße ....................................................................................... b) Fälle einer Rechtsfolgenregelung für überhaupt nur eine Gruppe von Arbeitnehmern ................................................................. c) Die gleiche Rechtsfolge für beide Gruppen bei unterschiedlichen Anspruchsvoraussetzungen ............................................ 3. Bestimmung der Rechtsfolgen in den Fällen verfassungswidriger Gleichbehandlung...................................................................
27
Dritter Abschnitt: Resümee und Folgerungen für die weitere Untersuchung.
49
29 30 31 31 31 32 40 43 45
10
Inhaltsverzeichnis
Zweiter Teil Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
51
Erster Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Nonnsetzung an Art. 3 GG.
51
Erster Unterabschnitt: Die Frage des "Ob" einer Bindung.......................... I. Grundrechtsbindung als Konkretisierung der immanenten Grenzen der Tarifmacht................ ...... ...... ............................................
51
1. Die vertretenen Ansätze .... ...... ........ ... ........... .......... ......... .......
52
a) Die Lehre von G. Schnorr .................................................
52
b) Die Lehre von R. Scholz...................................................
53
52
2. Stellungnahme..... .... ....... ...... ...... .................. ... .... ... ................
53
3. Ergebnis hinsichtlich des Immanenzansatzes .........................
56
11. Die an die Rechtsnormqualität der Tarifregelungen anknüpfenden Ansätze ..................................................................................
56
1. Die vertretenen Ansätze..........................................................
56
a) Die sog. Delegationstheorie ..............................................
56
b) Die Lehre von der Anwendbarkeit des Art. 1 III GG .......
57
2. Stellungnahme. ........... ....................... .....................................
57
a) Grundsätzliches zur Anknüpfung an die Rechtsnormqualität als formellem Aspekt ............ ...... ....... ........................
57
b) Zum Aspekt eingeschränkter Ausstattung mit Rechtssetzungsmacht durch den Staat - insbesondere zur Delegationstheorie .. ... ....................... ......... ..... ................ ..... .....
59
aa) Das Erfordernis einer staatlichen Autorisation der Normwirkung .......................................................................
59
bb) Die rechtliche Konstruktion des Autorisationsaktes im Wege einer im TVG enthaltenen Rechtsgeltungsanordnung .......................................................................
62
cc) Die Rechtsgeltungsanordnung und die durch sie vermittelte Grundrechtsbindung tarifvertraglicher Norrnsetzung ........................................................................
66
c) Zur Lehre von der Anwendbarkeit des Art. 1 III GG .......
69
3. Ergebnis hinsichtlich der an die Rechtsnormqualität anknüpfenden Ansätze .... ............. ........ .... ..... .................... ............ ......
72
III. Die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkt.'lg der Grundrechte.
73
Inhaltsverzeichnis
11
IV. Ergebnis hinsichtlich der Frage des "Ob" einer Bindung an Art. 3 GG .............................................................................................
74
Zweiter Unterabschnitt: Umfang und Reichweite der Bindung an Art. 3 GG...
74
I. Partielle Totalfreistellung von der unmittelbaren Grundrechtsbindung.........................................................................................
75
1. Ausklammerung einzelner Grundrechte (Zöllner) ...................
75
2. Gespaltene Bindung an Art. 3 GG (BAG) ..............................
76
11. Die Frage der größeren Eingriffstoleranz.....................................
78
Dritter Unterabschnitt: Ergebnis zur Bindung der Tarijvertragsparteien an Art. 3 GG..................................................................................................
80
Zweiter Abschnitt: Vorgaben des Art. 3 GG für die Rechtsfolgenermittlung 81 I. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG ................................
82
1. Allgemeines zur Auslegung des Art. 3 I GG ....... .... ............. ........
82
2. Die spezifisch für die Rechtsfolgenbestimmung relevante Aussage des Art. 3 I GG ..... .... ...... ........ ................ ... ...... ......... ............
83
a) Zur Struktur der "Gleichheit"..................................................
83
b) Isolierte Bewertung der im Gleichheitsverstoß liegenden Benachteiligung? ......................................................................... 84 c) Art. 3 I GG und seine "Gesamtrichtung nach oben" (Dürig)..
88
d) Zwischenergebnis ...................................................................
91
11. Der Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 11 GG .........................
91
1. Allgemeines zur Auslegung und Bedeutung des Art. 3 11 GG .....
9I
2. Die spezifisch für die Rechtsfolgenbestimmung relevante Aussage des Art. 3 11 GG ............. .......... ................. ........ ........... .........
92
a) Zur Struktur des Art. 3 11 GG .................................................
92
b) Art. 3 11 GG als "Frauengrundrecht"? .....................................
93
c) Zwischenergebnis ...................................................................
96
111. Art. 3 111 GG ......... ......... ......... .... .......... .... ............ ......... ........... ..... .....
97
1. Allgemeines zu Auslegung und Bedeutung des Art. 3 III GG .....
97
2. Die spezifisch für die Rechtsfolgenbestimmung relevanten Aussagen des Art. 3 III GG.................................................................
97
a) Zur Struktur des Art. 3 III .......................................................
97
b) Zwischenergebnis ................................................................... 100
12
Inhaltsverzeichnis
IV. Ergebnis der Auslegung des Art. 3 GG .............................................. 100
Dritter Abschnitt: Die Bestimmung der Rechtsfalgen durch das Arbeitsgericht .......................................................................................................... 101 Erster Unterabschnitt: Die Wahl der Regeln fiir die Rechtsfalgenermittlung. 101
I. Zur Notwendigkeit einer Entscheidung ................ ........................ 10 1 11. Grundentscheidung: Anwendbarkeit von Gesetzesregeln ............ 103 Zweiter Unterabschnitt: Die Rechtsfalgenermittlung durch das Arbeitsgericht ...................................................................................................................... 106 A. Ipso-iure-Korrektur der gleichheitswidrigen Regelung durch Art. 3 GG selbst und unmittelbar.. .............. ................ ......................... 108 B. Herstellung der Verfassungskonforrnität durch konstruktiv- erhaltenden Akt des Richters .......... ............................... ...... .... ........ 110
I. Die verfassungskonforrne Auslegung als Harrnonisierungsmethode fiir das Arbeitsgericht - Zugleich: Grundsätzliches zur Kompetenzabgrenzung zwischen Tarifvertragsparteien und Arbeitsgericht............ ...... ...... ...... ................... ..... ....... ...... 111 1. Zum Grundsatz der verfassungskonforrnen Auslegung.... 111 a) Inhalt des Grundsatzes und seine Rechtfertigung ....... 111 b) Geltung des "konservierenden Prinzips" auch im Falle der Tarifnorrn .............................................................. 112 2. Voraussetzungen und Grenzen der verfassungskonforrnen Auslegung bei Gleichheitsverstößen in Tarifverträgen ..... 114 a) Die verfassungskonforme Auslegung als Kompetenzproblem im Verhältnis zwischen Rechtsprechung und Tarifvertragsparteien ............ ............... ........ ......... 114 aa) Grundsätzliches zur Kompetenzverteilung ............ 115 (1) Die Tarifautonomie als Grundrecht und negative Kompetenzregel zu Lasten des Staates ..... 116 (2) Der grundrechtliche Schutzbereich der Tarifautonomie........ ...... ......... ..................... ............. 117 (3) Die Position des Richters ................................. 118 bb)Die Problematik der verfassungskonforrnen Auslegung im Hinblick auf den Schutzbereich der Tarifautonomie .... ...... ........... ............... .......... ....... ...... 119
Inhaltsverzeichnis
13
b) Die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer verfassungskonfonnen Auslegung ................................................. 122 aa) Zur Eingriffsqualität einer verfassungskonfonnen Auslegung .............................................................. 123 (1) Die Eingriffsqualität der verfassungskonfonnen Auslegung einer eindeutigen Tarifnonn (Gestaltung contra legern) ............................................ 123 (2) Zur Eingriffsqualität der verfassungskonfonnen Auslegung einer "offenen" Tarifnonn (Gestaltung praeter legern) .......................................... 126 (a) Zur Feststellung der Eingriffsqualität richterlicher Gestaltung.................................... 126 (aa) Die Kriterienwahl ............................... 127 (bb) Zur Ennittlung des hypothetischen Willens der Tarifvertragsparteien ............. 129 (cc) Die Zweifelsregelung ......................... 130 (dd) Zwischenergebnis ............................... 133 (b) 1. Anwendungsfall: Lediglich eine verfassungkonfonne Auslegungsmöglichkeit als Alternative zur Nicht-Regelung (bloßes "Entschließungsennessen " der Tarifvertragsparteien) ........................................................... 133 (c) 2. Anwendungsfall: Mehrere verfassungskonfonne Auslegungsmöglichkeiten als Alternative zur Nicht-Regelung (zusätzliches "Auswahlennessen" der Tarifvertragsparteien) ........................................................... 133 (3) Ergebnis ............................................................ 135 bb)Zur Möglichkeit einer Eingriffsrechtfertigung ...... 135 (1) Art. 3 GG .......................................................... 135 (2) Das Rechtssicherheitsprinzip .... .................. ..... 139 (3) Das Arbeitnehmerschutzprinzip ....................... 141 (4) Das Rechtsverweigerungsverbot... ........... ........ 144 (5) Ergebnis ............................................................ 146 c) Zusammenfassung der Voraussetzungen einer verfassungskonfonnen Auslegung durch das Arbeitsgericht 146
14
Inhaltsverzeichnis
d) Die Rechtsprechung des BAG zur verfassungskonfonnen Auslegung im Lichte der herausgearbeiteten Grundsätze .................................................................. 147 e) Ausblick auf die praktische Bedeutung der verfassungskonfonnen Auslegung bei Gleichheitsverstößen in Tarifverträgen ............................................. ..................... 153 11. Die ergänzende immanente Tarifvertragsfortbildung als Harmonisierungsmethode ftir das Arbeitsgericht ......................... 153 1. Zur regelungsergänzenden Rechtsfortbildung .................. 154 2. Zur Zulässigkeit einer ergänzenden Tarifvertragsfortbildung ................................................................................... 155 3. Voraussetzungen und Grenzen der ergänzenden Tarifvertragsfortbildung: Fall der analogen Ergänzung einer gleichheitswidrig selektiv regelnden Tarifnonn ......................... 158 a) Analogieschluß und Schutzbereichseingriff ............... 158 aa) Zur Eingriffsqualität des Analogieschlusses bei bewußten Lücken ....................................................... 158 bb)Zur Eingriffsqualität des Analogieschlusses bei unbewußten Lücken................................................... 160 b) Möglichkeit einer Eingriffsrechtfertigung .................. 161 4. Voraussetzungen und Grenzen der ergänze'1den Tarifvertragsfortbildung: Fall des verfassungswidrigen völligen Fehlens einer von Art. 3 GG geforderten Regelung ......... 162 a) Eingriffsqualität einer Lückenftillung ......................... 164 b) Möglichkeit einer Eingriffsrechtfertigung ... ............... 165 5. Zusammenfassung der Voraussetzungen einer ergänzenden Tarifvertragsfortbildung ................... ....... .......... ......... 168 a) Analoge Ergänzung der selektiv regelnden Nonn ...... 169 b) Ergänzung einer völlig fehlenden, von Art. 3 GG jedoch geforderten Regelung ......................................... 169 6. Die Rechtsprechung des BAG zur ergänzenden Tarifvertragsfortbildung im Lichte der herausgearbeiteten Grundsätze ................................................................................... 170 7. Ausblick auf die praktische Bedeutung der ergänzenden Tarifvertragsfortbildung bei Gleichheitsverstößen in Tarifverträgen ........................................................................ 173 C. Die Wirkung des Art. 3 GG als selektives Prinzip ....................... 175
Inhaltsverzeichnis
15
I. Das Wesen der Selektion verfassungswidriger Tarifnonnen . 175 l. Die rechtslogische Grundlage der Problemlösung ............ 176 2. Einwände gegen die rechtslogische Betrachtungsweise und die daraus folgende ipso-iure-NichtigkeiL................ 178 a) Allgemeine Einwände gegen die rechtslogische Betrachtungsweise ................................................................... 180 aa) Mißachtung der sozialen Dimension der verfassungswidrigen Nonn .............................................. 180 bb) Mißachtung der Systemdimension der Verfassung. 181 (l) Rechtssicherheitsprinzip als alternative Rechtsgeltungsbestimmung? .... ... ... ........ ...... ......... ...... 183
(2) "Chaos-Angst" als Grundlage für Nonnativität? 184 (3) Zwischenergebnis ............................................. 186 cc) Ergebnis .... ...... .... ...... ...... ....... ..... ............ ....... ..... ... b) Einwände gegen die ipso-iure-Nichtigkeit aus der Besonderheit des Gleichheitssatzes ................................. aa) Gestaltungsfreiheit des Nonngebers ...................... bb)Nichtigkeit als inadäquate Folge des Gleichheitsverstoßes ................................................................ cc)Ergebnis .................................................................
186 186 188 189 191
11. Die konkrete Gestalt der Nichtigkeit: Die Auswirkungen auf die betroffenen Regelungen und den übrigen Tarifvertrag ..... 191 l. Zum Charakter der Nichtigkeit .......... ..... ................. ...... ... 191 2. Auswirkungen auf die betroffenen Regelungen. .... ........... 192 a) Die Ab- und Ausgrenzung der nichtigen Nonnen als Problem .... .............. ..... ..... ...... ....... ............... ....... ........ 192 b) Der Umfang der Nichtigkeit: Gesamt- oder Teilnichtigkeit? - Zugleich: Grundsätzliches zur Frage der Teilnichtigkeit von Tarifnonnen ..... .......... ................... ..... 197 aa) In Betracht kommende Fallgruppen der Teilnichtigkeitsproblematik................................................. 198 bb) Voraussetzungen einer Teilnichtigkeit .................. 200 (1) Teilbarkeit der Nonn und Isolierbarkeit eines verfassungswidrigen Nonnteils ........................ 200 (2) Die Frage der Restgeltung oder: Die Problematik der Teilnichtigkeit als Legitimationskrise der Restnonn .................................................... 203
16
Inhaltsverzeichnis
(3) Zum Legitimationsgrund der Rest-Tarifnorm .. (a) Der Ausgangspunkt: Legitimation durch Konsens ............ ............................... ..... ....... (b) Die Bedeutung objektiver Faktoren für die Legitimation der Restnorm ......................... (c) Eigene Lösung............................................
205 206 207 212
cc) Ergebnis für die Voraussetzungen einer bloßen Teilnichtigkeit der Tarifnorm ................................. 216 3. Auswirkungen der Nichtigkeit einzelner Tarifuormen bzw. Tarifnormteile auf den übrigen Tarifvertrag ..................... 216 a) Teilbarkeit des Tarifvertrages ................ ..................... 216 b) Restgültigkeit des Tarifvertrages............. ................... 217 c) Ergebnis hinsichtlich der Voraussetzungen einer bloßen Teilnichtigkeit des Gesamttarifvertrages ............. 218 Vierter Abschnitt: Gerichtliche Gestaltungskompetenzen nach Nichtigkeit. 219
Erster Unterabschnitt: Die primäre Gestaltungskompetenz im Fall der Ermessensreduzierung ............... ......................... ......................................... 220 I. Die Reduzierung des tarifautonomen Regelungsermessens auf Null als kompetenzbegründender Faktor ............................................. 221
11. Voraussetzungen einer kompetenzbegründenden Ermessensreduzierung ............................................ .......................................... 223 1. Die Pflicht der Tarifvertragsparteien zur normativen Beseitigung gleichheitswidriger Folgen des Tarifnormvollzugs ....... 223 a) Faktische Schranken des Rückwirkungsgebots ................ 224 b) Normative Schranken des Rückwirkungsgebots ............... 226 2. Die Reduzierung der Möglichkeiten zur Erfüllung der Folgenbeseitigungspflicht - insbesondere durch den Vertrauensgrundsatz .......................................................................................... 228 a) Zulässigkeit der Gleichheitsherstellung auf niedrigerem und mittlerem Niveau ........................................................ 229 aa) Bedenken aus der sachlichen Reichweite der Tarifmacht und Art. 14 GG .......... ..................... .................. 229 bb) Verfassungsrechtliche Bedenken im Hinblick auf den Vertrauensgrundsatz .................................................... 230
Inhaltsverzeichnis
17
b) Zulässigkeit der Gleichheitsherstellung auf dem höheren Niveau ............................................................................... 233 aa) Eingreifen des Vertrauensgrundsatzes auf Arbeitgeberseite ............................................................................. 233 bb)Grenzen des Vertrauensschutzes auf Arbeitgeberseite 234 c) Folgerungen ....................................................................... 235 111. Zwischenergebnis ......................................................................... 236
Zweiter Unterabschnitt: Exkurs: Die Rolle des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes beim Vollzug gleichheitswidriger Tarifnormen ... 236 I. Anwendbarkeit des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes im Falle des Vollzugs einer gleichheitswidrigen Tarifnorm durch den Arbeitgeber? ... ....... ..... .... ...... ...... .............. ........... ..... ... 237
11. Anwendbarkeit des arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes im Falle des Vollzugs eines einzelvertraglich in Bezug genommenen Tarifvertrages? ... ............. .............. ................. ........ 240 III. Anwendbarkeit im Falle des Regelungsvollzugs in Kenntnis der Nichtigkeit .................................................................................... 243 IV. Ergebnis ............................................................................... ......... 244
Dritter Unterabschnitt: Die subsidiäre Gestaltungskompetenz der Arbeitsgerichte.................................................................................................... 244 I. Rechtfertigung der subsidiären Gestaltungskompetenz ........ ....... 244
11. Die Ausgestaltung der Kompetenz....... ...... .... ..... .................. ....... 248 IH. Die Problematik der vor Kompetenzeröffnung entscheidungsreifen Verfahren ............................................................................ 249 1. Das Bedürfnis nach Verfahrensaussetzung ............... ........ 249 2. Die rechtliche Legitimation einer Aussetzung.................. 250
Vierter Unterabschnitt: Ergebnis .................................................................. 253 Dritter Teil Andere Ausprägungen des Gleichheitsprinzips im deutschen Recht 255 Erster Abschnitt: Gleichheitssätze in den Länderverfassungen .................. 255
2 Hartmann
18
Inhaltsverzeichnis
I. Die Bindung tarifvertraglicher Nonnsetzung an die geltenden Grundrechte und Programmsätze in den Landesverfassungen. .. .......... ........ 256
11. Inhalt der Gleichheitssätze in den Landesverfassungen und ihre für die Rechtsfolgenennittlung relevanten Vorgaben .............................. 257 III. Rechtsfolgen eines Verstoßes - Fazit ................................................. 259 Zweiter Abschnitt: Arbeitsrechtlicher Gleichbehandlungsgrundsatz ......... 261 I. Bindung tarifvertraglicher Nonnsetzung an den allgemeinen arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz..................... ...................... 261
11. Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an §§ 611a, 612 III BGB .. 262 111. Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an Art. 1 § 2 I BeschFG 1985 .................................................................................................... 264 Dritter Abschnitt: Ergebnis............... .... .............. ... ........... .... ... ... .......... ...... 268 Vierter Teil Gemeinschaftsrecht und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
269
Erster Abschnitt: Art. 119 EWGV ............................................................. 270 Erster Unterabschnitt: Die Rechtsprechung des EuGH..... ..... .......... ....... .... 270 I. Bindung der nationalen Tarifvertragsparteien an Art. 119 EWGV. 270
11. Die Rechtsfolge einer Art. 119 EWGV widersprechenden Lohndiskriminierung ............................................................................. 271 III. Auswirkungen der EuGH-Rechtsprechung auf die Rechtsfolgenermittlung bei gleichheitswidrigen Lohndifferenzierungen zwischen Männem und Frauen in deutschen Tarifverträgen ....... 274 1. Verhältnis von Art. 3 11 GG zu Art. 119 EWGV .................... 274 2. Reguläre Konsequenzen aus dem Vorrang desArt. 119 EWGV 278 3. Lösungsalternative: Die gemeinschaftskonforme Auslegung des Lohngleichheitssatzes des Art. 3 11 GG ............................ 278 4. Ergebnis auf Grundlage der EuGH-Rechtsprechung .............. 280 Zweiter Unterabschnitt: Kritik der Auslegung des Art. 119 EWGV durch den EuGH ....................................................................................................... 280 I. Die umfassende Wirkung des Art. 119 EWGV in den Mitgliedsstaaten ....... ...... .......... ........ ............. ....... ..... .... ..... ........ ....... ..... ...... 281
Inhaltsverzeichnis
I. Nonnimmanenter Erklärungsversuch ..................................... 2. Rechtsfortbildung.................................................................... a) Materielle Rechtfertigung der unmittelbaren Geltung ...... b) Die nonntechnischen Voraussetzungen der unmittelbaren GeltUng .............................................................................. 11. Die automatische Angleichung nach oben ................................... I. Wortlautauslegung ...... ......... ... .... ...... ........... ..................... ... ... 2. Systematische Auslegung .......................................................
19
281 282 282 285 285 286 286
a) Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedsstaaten im Bereich der Sozialpolitik - Allgemeines 288 b) Kompetenzen auf dem speziellen Gebiet der Lohnpolitik 290 3. Teleologische Auslegung und Effektivitätsgrundsatz ............ 292 a) Zweckbestimmung sozialer Gerechtigkeit ........................ b) Wettbewerbspolitische Zweckbestimmung ...................... c) Effektivitätsgrundsatz ....................................................... III. Ergebnis der rechtsfolgenbezogenen Auslegung - abschließende Folgerungen hinsichtlich der Bedeutung des Art. 119 EWGV für die deutsche Rechtsordnung ...................................................
292 293 295
297
Zweiter Abschnitt: Die Bedeutung der Richtlinien 75/117/EWG und 76/2071EWG ............................................................................................ 299 Dritter Abschnitt: Ergebnis ......................................................................... 302 Fünfter Teil
Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
303
Literaturverzeichnis
309
Abkürzungsverzeichnis a.A.
anderer Ansicht
a.a.O.
am angegebenen Ort
AB!.
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften
ab!.
ablehnend
Abs.
Absatz
AcP
Archiv für civilistische Praxis
a.F.
alter Fassung
AGBG
Gesetz zur Regelung des Rechts der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB-Gesetz) v. 9.12.1976 (BGB!. I S. 3317)
AK-GG
Alternativkommentar zum Grundgesetz
AktG
Gesetz über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien (AktienG) v. 6.9.1965 (BGB!. I S. 1089)
allg.
allgemein
AngKG
Gesetz über die Fristen f\ir die Kündigung von AngstelIten v. 9.7.1926 (RGB!. S. 399)
Anm.
Anmerkung
AöR
Archiv f\ir öffentliches Recht
AP
Arbeitsrechtliche Praxis
ArbG
Arbeitsgericht
ArbGG
Arbeitsgerichtsgesetz i.d.F. v. 2.7.1979 (BGB!. I S. 853)
AR-Blattei
Arbeitsrechts-Blattei
ARS
Arbeitsrechts-Sammlung
Art.
Artikel
AuR
Arbeit und Recht
BAG
Bundesarbeitsgericht
BAGE
Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts, amtliche Sammlung
BAT
Bundes-Angestellten-Tarifvertrag
BayVB!.
Bayrische Verwaltungsblätter
AbkÜfZungsverzeichnis BayVerfGH
Verfassungsgerichtshof des Freistaates Bayern
21
BB
Der Betriebsberater
Bd.
Band
Beil.
Beilage
BeschFG
Gesetz über steuerliche und sonstige Maßnahmen für Arbeitsplätze, Wachstum und Stabilität (BeschäftigungsförderungsG) v. 26.4.1985 (BGBI. I S. 710)
BetrAVG
Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung v. 19.12.1974 (BGBI. I S. 3618)
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch v. 18.8.1896 (RGBI. S. 195)
BGBI.
Bundesgesetzblatt
BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen, amtliche Sammlung
BGHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen, amtliche Sammlung
BI.
Blatt
Bsp.
Beispiel
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, amtliche Sammlung
BVerfGG
Gesetz über das Bundesverfassungsgerichts i.d.F. v. 3.2.1971 (BGBI. I S. 105)
BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
BVerwGE
Entscheidungen des BundesverwaJtungsgerichts, amtliche Sammlung
bzgl.
bezüglich
bzw.
beziehungsweise
DB
Der Betrieb
ders.
derselbe
d.Gr.
der Gründe
d.h.
das heißt
dies.
dieselbe(n)
Diss.
Dissertation
DM
Deutsche Mark
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
Dok.
Dokumente
22
AbkÜlZUngsverzeichnis
DVBI.
Deutsches Verwaltungsblatt
EEA
Einheitliche Europäische Akte von 1987
EG
Europäische Gemeinschaft
Einl.
Einleitung
Entsch.
Entscheidung
Entw.
Entwurf
EP
Europäisches Parlament
EuGH
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften
EuGRZ
Europäische Grundrechtezeitung
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EWGV
Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft v. 25.3.1957 (BGBI. 11 S. 759)
EzA
Entscheidungssammlung zum Arbeitsrecht
EzBAT
Entscheidungssammlung zum BAT
FamRZ
Zeitschrift für das gesamte Familienrecht
f(f).
(fort)folgende
Fn.
Fußnote
GG
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland v. 23.5.1949 (BGBI. I S. I)
ggfs.
gegebenenfalls
GmbHG
Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbH-Gesetz) i.d.F. v. 20.5.1898 (RGBI. S. 846)
GrünhutsZ
Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, begr. v. Grünhut
GS
Großer Senat
HATGNW
Gesetz über Freizeitgewährung für Frauen mit eigenem Hausstand v. 27.7.1948 (SGV NW S. 805)
HessVGH
Verwaltungsgerichtshof des Landes Hessen
h.M.
herrschende Meinung
hrsg.
herausgegeben
HS
Halbsatz
i.d.F.
in der Fassung
LErg.
im Ergebnis
insbes.
insbesondere
LR.
im Rahmen
AbkÜlZungsverzeichnis
23
LS.
im Sinne
JA
Juristische Arbeitsblätter
JherJb.
Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des Bürgerlichen Rechts
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart
JR
Juristische Rundschau
JuS
Juristische Schulung
JZ
Juristenzeitung
LAG
Landesarbeitsgericht
LAGE
Entscheidungen der Landesarbeitsgerichte
LS
Leitsatz
m.a.W.
mit anderen Worten
m.E.
meines Erachtens
m.w.N.
mit weiteren Nachweisen
NJW
Neue Juristische Wochenschrift
Nr.
Nummer
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
NZA
Neue Zeitschrift für Arbeits- und Sozialrecht
o.g.
oben genannt
OVG
Oberverwaltungsgericht
RAG
Reichsarbeitsgericht
RdA
Recht der Arbeit
Rev.Trim.
Revue trimestrielle du droit europeen
RGB!.
Reichsgesetzblatt
Rn.
Randnummer
Rs.
Rechtssache
S.
Seite
SAE
Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen
Sig.
Sammlung
sog.
sogenannt( e)
st.Rspr.
ständige Rechtsprechung
TAO
Tarifordnung für Angestellte
TVG
Tarifvertragsgesetz Ld.F. v. 25.8. 1969 (BGB!. I S. 1323)
u.a.
anter anderem
24
AbkÜlZungsverzeichnis
u.U.
unter Umständen
v.
von, vom
VerwArch.
Verwaltungsarchiv
vg\.
vergleiche
VwVfG
Verwaltungsverfahrensgesetz v. 25.5.1976 (BGB\. I S. 1253)
z.B.
zum Beispiel
ZfA
Zeitschrift für Arbeitsrecht
ZIP
Zeitschrift für Wirtschaftsrecht und Insolvenzpraxis
ZPO
Zivilprozeßordnung v. 30.1.1877 (RGB\. S. 83)
zust.
zustimmend
zutr.
zutreffend
ZTR
Zeitschrift für Tarifrecht
ZZP
Zeitschrift für Zivilprozeßrecht
Erster Teil
Einführung in die Problematik Erster Abschnitt
Das Phänomen Wie ein Blick in die tarifrechtliche Judikatur der letzten Jahrzehnte zeigt, kommt es immer wieder vor, daß ein zwischen den Sozialpartnern ausgehandelter Tarifvertrag ohne rechtfertigenden Grund für vergleichbare Arbeitnehmergruppen unterschiedliche Regelungen enthält. Betroffen sind meist Inhaltsnormen, in denen für die eine Gruppe tarifliche Leistungen angeordnet werden, für die andere dagegen gar nicht oder in geringerem Umfang. Aber es finden sich auch Ungleichbehandlungen im Bereich anderer Tarifnormkomplexe, wie Z.B. bei der Festlegung unterschiedlicher Kündigungsfristen. Bereits vom ersten Jahr seines Bestehens an hatte das Bundesarbeitsgericht so krasse Fälle von offenen Ungleichbehandlungen wie pauschale Abschlagsklauseln für weibliche Arbeitnehmer zu beurteilen). Auch in den folgenden Jahrzehnten spielte die Frauendiskriminierung eine entscheidende Rolle, in jüngster Zeit auch unter dem vom Europäischen Gerichtshof maßgeblich geprägten2 Aspekt der sog. mittelbaren Diskriminierung3• Daneben aber gab es auch immer wieder Diskriminierungen bei anders gelagerten Gruppenbildungen. Nicht zuletzt zeichnet sich im Hinblick auf die zunehmend als problematisch empfundene Differenzierung zwischen Arbeitern
1 Die erste Grundsatzentscheidung des BAG findet sich bereits im ersten Band der amtlichen Sammlung, BAGE I, 258 .
2 Grundlegend zum Lohngleichheitsgrundsatz des Art. 119 EWGV, EuGH, Rs. 96/80 Jenkins/ Kingsgate, Sig. 81,911 Rn. 9ff., l7f.. 3 Vgl. z. B. den Vorlagebeschluß des ArbG Oldenburg, Streit 84, 130, in dem die Frage nach einer mittelbaren Diskriminierung von Frauen durch die Ausgestaltung sog. Leichtlohngruppen aufgeworfen wird.
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1. Teil: Einführung in die Problematik
und Angestellten4 eine thematische Erweiterung der Gleichbehandlungsproblematik für die Zukunft ab. In Ansätzen gilt dies auch für die sicherlich mittelfristig noch zu findende Differenzierung nach Arbeitnehmern im alten Bundesgebiet und jenen, deren Arbeitsverhältnis in den neuen Bundesländern begründet worden ists. In allen Varianten des Grundtatbestandes Ungleichbehandlung stellt sich in einer der materiellen Gerechtigkeit verpflichteten Rechtsordnung die Frage, ob die den Sozialpartnern in Art. 9 III GG eingeräumte Regelungsautonomie auch die Freiheit zu willkürlichen Differenzierungen umfaßt oder ob der eröffnete Freiraum durch den Gleichheitssatz begrenzt wird. Versteht man das Verhältnis von Autonomiegewährleistung und Gleichheitssatz im letzteren Sinne, so ergibt sich das Folgeproblem, welche Sanktion im Falle einer "Grenzüberschreitung" durch die Tarifvertragsparteien eingreift. Weiter stellt sich die Frage, wie die Rolle und Kompetenz der Arbeitsgerichte bei der Feststellung der konkreten Rechtsfolge des Verstoßes ausgestaltet ist und welchen Inhalt die gerichtliche Entscheidung des anhängigen Rechtsstreites hat. Hierbei bedarf es insbesondere der Klärung, ob sich den Gerichten bei der Entscheidung im Rahmen der ihnen von Verfassungs wegen (Art. 92 GG) zugewiesenen Aufgabe der Rechtsanwendung und Rechtskontrolle ein eigener ausfüllungsfähiger und ausfüllungsbedürftiger Gestaltungsfreiraum eröffnet. Gesteht man für die Feststellung der konkreten Rechtsfolge des Verstoßes und die Streitentscheidung einen solchen Freiraum zu, so wird zwingend eine Abgrenzung gegenüber dem Bereich der Regelungs-autonomie der Tarifvertragsparteien erforderlich. Hinter all diesen sehr abstrakt anmutenden Problemen verbirgt sich im praktischen Einzelfall letztlich die schlichte Frage, ob die benachteiligten Arbeitnehmer die Besserbehandlung verlangen können und ob - aus einem anderen Blickwinkel betrachtet - die von den Sozialpartnern ausgehandelte finanzielle Gesamtbelastung der Arbeitgeberseite ausgeweitet wird. Die in diesem Rahmen zutage tretende und soeben grob umrissene Gemengelage dreier Verfassungsprinzipien - Tarifautonomie, Gleichheitssatz, Rechtskontrolle durch die Gerichte - erschließt sich in ihrer vollen Komplexität erst, wenn man sich die bisherige Behandlung des Problems durch die Arbeitsgerichte, insbesondere das BAG, vor Augen führt. • Vgl. dazu die beiden Urteile des BVerfG zu 62211 BGB, BVerfGE 62, 256, und BVerfGE 82, 126, in denen das Gericht die Sachgemäßheit differenzierender Regelungen nicht pauschal verneint, aber im Fall des 622 11 BGB einen die Differenzierung rechtfertigenden Grund nicht zu erkennen vermochte. Das BAG ist unterdessen hinsichtlich der entsprechenden Fristendifferenzierung in Tarifverträgen in eine Fülle von Einzelprüfungen eingetreten, vgl. BAG, NZA 92, 739; 742; 787. AusfUhrlich zur Problematik Loddenkämper, Gleichbehandlung, S. 58ff. j Exemplarisch die Tarifverträge der Deutschen Bundespost "TV Ang" und "TV Ang-Ost". Dazu jetzt BAG, NZA 93, 324.
Zweiter Abschnitt
Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte I. Bindung an den Gleichheitssatz Bei der rechtlichen Beurteilung der festgestellten Ungleichbehandlung zweier Arbeitnehmergruppen stellt sich für das mit dem Phänomen konfrontierte Ar· beitsgericht zunächst die Frage, ob und gegebenenfalls inwieweit die Sozialpartner beim Aushandeln der Tarifverträge an die positivrechtlichen Ausprägungen des Gleichheitssatzes gebunden sind. 1. Bindung an Art. 3 GG
In seiner ersten Frauenlohnentscheidung6 hat das BAG die Bindung der Tarifvertragsparteien an den Gleichheitssatz in Gestalt des Art. 3 GG bejaht. Mit dieser grundsätzlichen KlarsteIlung des Verhältnisses zwischen Regelungs· autonomie einerseits und Gleichheitssatz andererseits entschied das BAG einen zur damaligen Zeit noch keineswegs beigelegten Streie und legte damit die Grundlage für eine gefestigte und bis heute fortgeführte Rechtsprechung 8• Für die Herleitung dieses Ergebnisses stellt der Senat auf die charakteristischen Besonderheiten des geltenden Tarifrechts ab. So nimmt das Gericht die Rechtsnonnqualität der Tarifnonn (§ 1 TVG) und die damit verbundene Qualifizerung der Tätigkeit der Tarifvertragsparteien als Gesetzgebung im materiellen Sinne zum Anknüpfungspunkt: Der Begriff "Gesetzgebung" in Art. 1 III GG umfasse
, BAGE 1,258 =AP Nr. 4 zu Art. 3 GG. 7 Gegen eine Bindung an den Gleichheitssatz hatten sich namentlich ausgesprochen: LAG Berlin, BB 52, 319f. (tur die entsprechende Norm der Berliner Verfassung); Knolle, BB 49, 451; Schmidt-Rimpler/Gieseke/Friesenhahn/Knur, sog. Bonner Gutachten, AöR 76,165, 169ff., 180; A. Hueck, Gutachten, S. 27ff.; Schätzei, RdA 50, 248, 251; W. Je/linek, BB 50, 425, 426. I Zuletzt BAGE 50,137 = AP Nr. 136 zu Art. 3 GO; Urteil des BAO vom 30.7.92 - 6 AZR 11/ 92, Pressemitteilung in DB 92, 1683.
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I. Teil: Einführung in die Problematik
jede Fonn materieller Gesetzgebung9• Über diesen Verfassungsartikel seien daher auch die Tarifvertragsparteien bei ihrer Nonnsetzung unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Materiell ausgefüllt wird dieser rein fonnale Argumentationsansatz mit der Erwägung, in der sozialen Marktwirtschaft, in der der Staat die Regelung der Arbeitsbedingungen im wesentlichen den Tarifvertragsparteien überläßt, sei der Schutz der Nonnunterworfenen als klassische Funktion der Grundrechtsgewährleistung in Richtung auf die soziale Macht der Verbände erforderlich 1o• Schließlich argumentiert das BAG, die Rechtssetzungsbefugnis der Tarifvertagsparteien sei letztlich eine staatlich übertragene. Ist der Staat aber über Art. 1 III GG in seinen Befugnissen gebunden, so müsse sich diese Bindung auch in der staatlich delegierten Befugnis aktualisieren 11. Mit dieser ins Grundsätzliche verlagerten Argumentation geht die Begründung über die Rechtfertigung der Bindung an den konkret in Streit stehenden Lohngleichheitssatz hinaus: Sie umfaßt die Herleitung einer allgemeinen Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien. Für das Verhältnis der Tarifautonomie zu Art. 3 GG ist damit entschieden, daß die verfassungsrechtlich garantierte Regelungsautonomie nur so lange differenzierende Regelungen für vergleichbare Arbeitnehmergruppen rechtfertigt, wie diese nicht willkürlich sind l2, bzw. als Differenzierungsgründe nicht die in Art. 3 11 und III GG genannten Eigenschaften vorliegen 13 • Das Verhältnis der Verfassungsprinzipien Tarifautonomie und Gleichheitssatz zueinander ist in der Rechtsprechung des BAG dennoch nicht so klar und eindeutig bestimmt, wie man nach den grundsätzlichen und einschränkungslosen Ausführungen in der Grundsatzentscheidung meinen könnte. So verstand zwar der 4. Senat die Bindung an Art. 3 GG offenbar zunächst als eine umfassende, als er den in § 3 lit. q BAT a.F. statuierten Ausschluß von Teilzeitbeschäftigten aus dem Geltungsbereich des BAT ohne weiteres an Art. 3 GG maßl4. Neuerdings hingegen will derselbe Senat die Bindung an Art. 3 GG nur auf die positiven Regelungen der materiellen Arbeitsbedingungen beziehen. Die Festlegung dagegen,
9
BAGE 1,258, 262ff.; ausführlich bestätigend BAG, AP Nr. 16 zu Art. 3 GG.
10 BAGE 1,258,264; in diese Richtung schon LAG Düsseldorf, AR Blattci [0], Gleichbehandlung im Arbeitsverhältnis, Entsch. 3. 11
BAGE 1,258,264; ergänzende Ausführungen in BAG, AP Nr. 16 zu Art. 3 GG.
12 Z.B. BAGE 35, 43, 47; BAG, AP Nr. 120 zu § I TVG Auslegung; BAG, AP Nr. 54 zu § 242 Gleichbehandlung; BAG, OB 85, 1239. IJ
Z.B. BAG, AP Nr. 16 zu Art. 3 GG.
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BAGE 35, 43, 47f.
2. Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte
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ob und für welche Berufsgruppen und Tätigkeiten überhaupt tarifliche Regelungen getroffen werden, also die Bestimmung des persönlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrages, unterliege nicht einer Prüfung anhand Art. 3 GG IS • Differenzierungen in dieser Frage seien als Ausfluß der Tarifautonomie durch das GG anerkannt, ohne insoweit dem Willkürverbot zu unterliegen l6 • Damit verläßt der Senat partiell die mit grundsätzlicher und einschränkungsloser Begründung gesetzte Prämisse von der Grundrechtsverpflichtung der Tarifvertragsparteien. Er verschiebt die Gewichte in diesem Teilbereich des Spannungsfeldes zwischen den Art. 9 III und 3 GG zugunsten der Tarifautonomie - überspitzt formuliert: Bei der Festsetzung des Geltungsbereichs des Tarifvertrages fließt danach aus der Regelungsautonomie ein Recht zur Willkür. Wiederum in Gegensatz zu dieser gefestigten Rechtsprechung des 4. Senats setzt sich der 6. Senat, der ohne weiteres die Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs an Art. 3 I GG gemessen hat l7 • Von einer klaren Linie des BAG in der Frage, welchen Umfang die Bindung der Tarifvertragsparteien an Art. 3 GG hat, kann daher nicht die Rede sein. 2. Bindung an die Konkretisierungen des Gleichheitssatzes in den Landesverfassungen In den Verfassungen der deutschen Bundesländer finden sich ebenfalls Positivierungen des Gleichheitssatzes l8 oder auch nur bestimmter Teilaspekte, wie z. B. des Grundsatzes der Lohngleichheit von Mann und Frau l9 • Dabei werden einzelne Normierungen als echte Grundrechte, andere als bloße Programmsätze verstanden20 • Das BAG hat für den Lohngleichheitssatz des Art. 24 11 Verf.NRW entschieden, daß dieser gern. Art. 142 GG neben dem GG weitergelte und " BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT; bestätigt durch BAG, AP Nr. 20 zu § 23a BAT und BAGE 48,307, 310 = AP Nr. 5 zu § 3 BAT. 16
BAG, APNr. 4 zu § 3 BAT.
17
BAG, NZA 93, 324, 326.
1& Art. 118 Bayerische Verfassung v. 1946; Art. 6 Berliner Verfassung v. 1950; Art. 12 I Brandenburgische Verfassung; Art. I Hessische Verfassung v. 1946; Art. 17 I RheinlandPfälzische Verfassung v. 1947; Art. 12 I Saarländische Verfassungv. 1947; Art. 5 I Entwurf Sachsen-Anhaltinische Verfassung.
19 Art. 168 I 2 Bay. Verf; Art. 33 S. 2 Hessische Verfassung; Art. 56 11 Rheinland-Pfälzische Verfassung; Art. 24 11 2, 3 Nordrhein-Westfälische Verfassung. 20 So sind z. B. Art. 118 und 168 I 2 Bayerische Verfassung Programmsätze, vgl. Meder, Bayerische Verfassung, Rn. 1 zu Art. 168. Art. 6 Berliner Verfassung dagegen wird als echtes Grundrecht angesehen, vgl. Schwan in: PfennigtNeumann, Berliner Verfassung, Rn. 5 zu Art. 6. Art. 24 11 Nordrhein-Westfälische Verfassung ist nach h. M. Programmsatz, vgl. Geller/Kleinrahm, Nordrhein-Westfälische Verfassung, Rn. 5a zu Art 24.
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1. Teil: Einführung in die Problematik
verbindliche Direktiven auch an die Tarifvertragsparteien enthalte, unabhängig davon, ob die Bestimmung nun als echte Rechtsnorm oder bloß als Prograrnmsatz anzusehen seFI. Im Gegensatz zu der Grundsatzentscheidung zur Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte des GG fehlt es hier jedoch an einer detaillierten Herleitung des Ergebnisses. Vielmehr verweist das Gericht nur auf Nipperdey, der den betreffenden Normen der Landesverfassungen eine unmittelbare Drittwirkung für das gesamte Arbeitsrecht im jeweiligen Land beimißt22 • 3. Bindung an Art. 119 EWGV Art. 119 EWGV enthält mit dem Gebot des gleichen Lohnes für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit einen Teilaspekt des Gleichheitssatzes. Obgleich sich der Art. 119 EWGV seinem Wortlaut nach nur an die Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft wendet23 , wird ihm vom EuGH seit 1976 in ständiger Rechtsprechung wegen seiner grundlegenden Bedeutung für das Gemeinschaftsrecht und zum Zweck der effektiven Durchsetzung der sozialen Ziele der Gemeinschaft eine unmittelbare Wirkung in den Mitgliedsstaaten zuerkannt24 • Dies impliziere, daß ein Arbeitnehmer vor den innerstaatlichen Gerichten Art. 119 EWGV gegen Diskriminierungen auf einzel- und kollektivvertraglicher Ebene ins Feld führen könne2s • Da diese Rechtsprechung für die nationalen Gerichte verbindlich ist26, gehen die Arbeitsgerichte von einer Bindung der Tarifvertragsparteien an den Grundsatz der Entgeltgleichheit zwischen Mann und Frau auch in Form des Art. 119 EWGV aus 27 •
21
BAG, AP Nr. 1,2 und 3 zu Art. 24 LVerfNRW
22
Nipperdey, RdA 50,121,127.
"Jeder Mitgliedsstaat wird während der ersten Stufe den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anwenden und in der Folge beibehalten." 2)
24 Grundlegend EuGH, Rs. 43/75, Defrenne 11, Sig. 76,455 Rn. 21/24,40; zuletzt EuGH, Rs. 184/ 89,Nimz, EuZW91,217,218Rn. 11,17.
" EuGH, Rs. 43/75, Defrenne 11, Sig. 76,455 Rn. 40; EuGH, Rs. 33/89, Kowalska, Sig. 90, 2591 Rn. 12; EuGH, Rs. 184/89, Nimz, EuZW 91, 217, 218 Rn. 11, 17. 2. BAG, NZA 90, 778, 779; NZA 93, 367,368; Krück in: GroebenlThiesinglEhlermann, EWGV, Art. 177 Rn. 86. 27
BAG, NZA 93,367,368; ArbG Berlin, DB 83, 2181.
2. Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte
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ll. Bestimmung der Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatt 1. Die abstrakte Folge Anknüpfend an die rechtsgeschäftliche Fonn des Abschlusses eines Tarifvertrages28 , qualifiziert das BAG den Tarifvertrag als Rechtsgeschäft i.S. des Allgemeinen Teils des BGB, wenn auch wegen seines besonderen Charakters als Nonnenvertrag29 als ein "Rechtsgeschäft besonderer Art"30. Von dieser Prämisse ausgehend, wendet die Rechtsprechung § 134 BGB an und kommt so, da sie die Positivierungen des Gleichheitssatzes als Verbotsgesetze i.S. dieser Nonn versteht, zur Rechtsfolge der Nichtigkeit3!. Eine ganz andere dogmatische Herleitung derselben Rechtsfolge scheint jedoch einem Urteil des 2. Senats32 zugrunde zu liegen: § 134 BGB wird hier nicht erwähnt, statt dessen zitiert das BAG Wiedemann/Stumpf, die die Anwendbarkeit von § 134 BGB ablehnen und die Nichtigkeitsfolge aus den allgemeinen Vorrangprinzipien in der Nonnenhierarchie herleiten wollen 33 • Diese Entscheidung ist die einzige, in der das BAG stillschweigend mit seiner sonst konsequent verfolgten Prämisse zu brechen scheint, die Tarifnonn lasse sich unter den Begriff des "Rechtsgeschäfts" in § 134 BGB subsumieren. 2. Konkrete Bestimmung der Rechtsfolgen in den Fällen der verfassungswidrigen Ungleichbehandlung So leicht es den Arbeitsgerichten fallt, mit der Nichtigkeit der gegen den Gleichheitssatz verstoßenden Nonn auf abstrakter Ebene die Rechtsfolge zu
21
Dazu Hueck/Nipperdey, Lehrbuch II/I, § 18 I 2, S. 342.
29
Begriff insbesondere bei Sinzheimer, Arbeitsnormenvertrag, Bd. 1.
)0
Grundlegend BAGE 1,258,270; st. Rspr.
)1 BAGE 1,258,269; BAG, AP Nr. 68, 136 zu Art. 3 GG jeweils flir Art. 3 GG; BAG, AP Nr. 3 zu Art. 24 Nordrhein-Westfalische Verfassung flir Art. 24 Nordrhein-Westfälische Verfassung. Zur Einordnung des Art. 119 EWGV als Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB z.B. BAG, AP Nr. 11 zu Art. 119 EWGV; BAG, NZA 90, 779. )2
BAGE 49,21,30 = AP Nr. 21 zu § 622 BGB.
)) Ein!. Rn. 93.
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1. Teil: Einführung in die Problematik
benennen34, so schwierig gestaltet es sich mitunter, bei der Vielzahl von Diskriminierungsformen und Tarifnormgestaltungenjeweils die konkreten Auswirkungen der "Nichtigkeit" auf die betroffene Norm und letztlich den Inhalt der gerichtlichen Streitentscheidung zu bestimmen. Bei einem Überblick über die bislang vorliegende Judikatur erscheint es sinnvoll, die Urteile nach den Gestaltungen der Diskriminierung, die ihren Sachverhalten zugrunde liegen, bestimmten Fallgruppen zuzuweisen. Die Grundgestaltungen, die bei der tariflichen Ungleichbehandlung zweier Gruppen von Arbeitnehmern zu finden sind, lassen sich grob in drei Gruppen unterteilen: a) Alle Gruppen werden von einer Leistungsanordnung oder einer anderen Regelung erfaßt, eine Gruppe wird jedoch in größerem oder geringerem Umfange begünstigt als die andere. b) Die Tarifnorm trifft eine positive Regelung, zumeist eine Leistungsanordnung, für überhaupt nur eine von zwei oder mehreren Arbeitnehmergruppen. c) Die vorgesehene Rechtsfolge ist für allen Gruppen gleich, für eine Gruppe wird jedoch eine zusätzliche Tatbestandsvoraussetzung oder aber eine tatbestandliche Erleichterung vorgesehen. a) Beide Gruppen werden begünstigt, jedoch in unterschiedlichem Maße
Diese Gestaltung von Ungleichbehandlung hat das BAG zuerst in den sog. Frauenlohnurteilen35 beschäftigt. Es ging zumeist darum, daß Tarifverträge allgemeine Tariflöhne festschrieben, in einer gesonderten Regelung aber der Lohn der weiblichen Arbeitnehmer pauschal auf einen bestimmten Prozentsatz der Regellöhne beschränkt wurde36• Da diese sog. Lohnabschlagsklauseln zu unterschiedlich hohen Löhnen für Männer und Frauen führten, sah sie das BAG in allen Fällen als gern. § 134 BGB i.V.m. Art. 3 II GG nichtig an. Dies hatte zur Folge, daß der Tarifvertrag jeweils nur noch die allgemein geltende Regelung der Tariflöhne enthielt. Bereits in der Grundsatzentscheidung im ersten Band der amtlichen Sammlung37 wird jedoch die Frage aufgeworfen, ob nicht die Nichtigkeit der Teilregelung Lohn-
J4 Beispielhaft die lapidare Feststellung in BAGE 50, 137, 141: "Tarifnormen, die gegen das Grundgesetz verstoßen, sind nichtig."
J,
BAG, AP Nr. 4, 6, 7,16,17,18,70 zu Art. 3 GG.
Diese Art der Regel-Ausnahme-Formulierung liegt den Urteilen BAG, AP Nr. 4, 6, 7, 17, 18 zu Art. 3 GG zugrunde. J6
J7
BAGE 1,258, 270f. = AP Nr. 4 zu Art. 3 GG.
2. Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte
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abschlagsklausel zur Gesamtnichtigkeit des Tarifvertrages oder jedenfalls der tariflichen Lohnregelung führt. Das BAG hielt insoweit den hypothetischen Willen der Tarifvertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses für beachtlich. Da das BAG den normativen Teil des Tarifvertrages als Rechtsgeschäft i. S. des Allgemeinen Teils des BGB einordnet, ist es methodisch konsequent, wenn es zur Prüfung dieses Aspektes § 139 BGB heranzieht38 • Danach sei eine Gesamtnichtigkeit des Tarifvertrages oder der Lohnregelung gegeben, wenn anzunehmen sei, daß vernünftige Tarifvertragsparteien von dem Vertrag oder der Lohnregelung zwar nicht völlig Abstand genommen hätten, aber sich doch auf einen wesentlich anderen Inhalt geeinigt hätten39 • Bedeutsam an diesem Ansatz ist, daß das BAG gleich zu Anfang seiner Judikatur klarstellt, daß der - verobjektivierte - Regelungswille der Sozialpartner und damit die Tarifautonomie von den Gerichten bei der Findung der konkreten Rechtsfolge des Verstoßes zu berücksichtigen ist. Zugleich weist es damit den entgegengesetzten Ansatz in der Literatur zurück, Art. 3 GG könne bei einem Verstoß zu einer unmittelbaren und zwingenden Korrektur des Tarifvertrages i.S. einer automatischen Begünstigungsausweitung führen 40 • Mit Rücksicht auf den Freiraum der Tarifvertragsparteien erteilt also das BAG dem Gedanken eines Automatismus "Anpassung nach oben" eine Absage. Allerdings schwächt das BAG diese Position im Hinblick auf die "mißlichen" und "unerwünschten" Folgen ab, die die Rechtsfolge des § 139 BGB habe: Gesamtnichtigkeit der Lohnregelung sei nur in den seltenen Ausnahmefällen anzunehmen, in denen durch die Nichtigkeit der Abschlagsklausel das Lohngefüge "wirklich im ganzen untragbar" werde. Das BAG kehrt sogar die Vermutung des § 139 BGB und die Beweislast um41 • In den nachfolgenden Entscheidungen42 hielt sich das BAG an diese eng gefaßten Vorgaben und gelangte jeweils zu dem Ergebnis, daß die Tarifvertragsparteien den Tarifvertrag auch ohne die Abschlagsklausel in der gleichen Form vereinbart hätten. Damit blieb es bei der Aufrechterhaltung der allgemein geltenden Regellöhne und im Ergebnis bei einer Beseitigung der Ungleichbehandlung "nach oben". Zumindest in einem Fa1l 43 überrascht dies: Die Tarifver38 So auch schon LAG Düsseldorf, AR-Blatte i [D], Gleichbehandlung im Arbeitsverhältnis, Entsch.3.
3. BAGE 1,258,271; bestätigt z.B. von BAG, AP Nr. 6, 7,16,17,18,87 zu Art. 3 GG . .. Anklang bei Bötticher, RdA 53, 161, 164; Nikisch I, § 29 VI 5, S. 309. " BAGE 1,258,272; offenbar auch schon LAG Düsseldorf, AR-Blattei [D], Gleichbehandlung im Arbeitsverhältnis, Entsch. 3. Cl
BAG, AP Nr. 6, 7,17,18 zu Art. 3 GG .
., BAG, AP Nr. 6 zu Art. 3 GG. 3 Hartmann
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1. Teil: Einführung in die Problematik
tragsparteien hatten hier ausdrücklich geregelt, daß im Falle des Fortfalls der Abschlagsklausel "infolge gesetzlicher Regelung oder sonstiger Bestimmung" der Tarifvertrag automatisch enden sollte und die Tarifvertragsparteien eine Neuregelung vornehmen sollten. Diese Klausel läßt darauf schließen, daß die Tarifvertragsparteien eine uneingeschränkte Geltung der Regellöhne eben gerade nicht ohne weiteres wollten44 • Das BAG legte die Klausel jedoch so aus, daß der Tarifvertrag erst mit Rechtskraft des die Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit aussprechenden Urteils beendet sei, mithin für die Vergangenheit die Regellöhne uneingeschränkt gelten. In einer anderen Entscheidung4S meinte das BAG, aus der Tatsache, daß die Abschlagsklauseln in nachfolgenden Tarifverträgen als Reaktion auf die Rechtsprechung gestrichen wurden, Rückschlüsse auf den Willen der Tarifvertragsparteien zur Zeit des Abschlusses des in Streit stehenden Tarifvertrages ziehen zu können. Insgesamt ist die Behandlung der Teilnichtigkeitsfrage durch das BAG zwiespältig. Einerseits wird der Regelungswille der Tarifvertragsparteien aus Gründen der Tarifautonomie als beachtlich anerkannt. Andererseits ist dessen Ermittlung erkennbar von dem Bemühen gekennzeichnet, wenn nur irgendmöglich die Festsetzung der Regellöhne im übrigen aufrechtzuerhalten. Es muß bezweifelt werden, ob das BAG dabei immer der Gefahr widerstanden hat, dasjenige als hypothetischen Willen der Tarifvertragsparteien festzustellen, was das Gericht für vernünftig oder auch bloß wünschenswert hielt. Zuweilen jedenfalls erscheint das Festhalten am Willenskriterium als rein formales Bekenntnis zur Beachtlichkeit des tarifautonomen Willens. Eine andere Form der Frauenlohndiskriminierung lag zwei weiteren Urteilen des BAG46 zugrunde. Hier wurden die weiblichen Arbeitnehmer nicht nach dem Regel-Ausnahme-Prinzip von "Tariflöhnen" ausgeschlossen, sondern es wurden für Männer und Frauen von vornherein unterschiedliche Lohnhöhen vereinbart. Das BAG löste wie selbstverständlich und ohne jede Begründung die Festsetzung des Frauenlohns aus der verfassungswidrigen Gesamtregelung heraus und stellte ihre Nichtigkeit fest. Nun ergab sich das besondere Problem, daß nicht - wie in den Regel-Ausnahme-Konstellationen - die Vereinbarung von "Tariflöhnen" schlechthin, sondern eben ausschließlich von "Männerlöhnen" übrig blieb. Das bedeutet, daß eine Entscheidung über die Teilnichtigkeit, d.h. die Aufrechterhaltung der Restregelung im Rahmen des § 139 BGB, hier nicht aus-
.. So auch Molitor in einer Anmerkung zu dieser Entscheidung, AR-Blattei [D], Gleichbehandlung im Arbeitsverhältnis, Entsch. 7 . ., BAGE 4, 125 46
=
AP Nr. 17 zu Art. 3 GG.
BAG, AP Nr. 16 und 70 zu Art. 3 GG.
2. Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte
35
reichte, um zu einem gleich hohen tariflichen Frauenlohnanspruch zu gelangen. Es sei an dieser Stelle nur angedeutet, daß abgesehen davon überhaupt die Anwendung des § 139 BGB in dieser Konstellation nicht unproblematisch ist: Bei der Frage nämlich, ob die Männerlohnregelung aufrechterhalten bleibt, ist zunächst wiederum der Gleichheitssatz vorrangig zu beachten - eine Lohnregelung nur für Männer allein wäre erst recht verfassungswidrig und nichtig47 • Insoweit könnte es auf einen Willen der Tarifvertragsparteien zur Aufrechterhaltung der Männerlohnregelung, auf den im Rahmen des § 139 BGB abzustellen wäre, gar nicht ankommen. Der einzig denkbare Ansatz, um eine Gesamtnichtigkeit der Lohnregelung zu vermeiden, konnte es für das BAG daher nur sein, mittels ergänzender Tarifvertragsauslegung die eingetretene Lücke bei den Frauenlöhnen durch die den Männerlöhnen entsprechende Regelung zu schließen. Dessen ungeachtet zieht das BAG in seiner ersten Entscheidung48 § 139 heran. Es gelangt dazu, daß die Tarifvertragsparteien den Tarifvertrag auch ohne die nichtige Regelung abgeschlossen hätten, "und zwar dahin, daß sie die weiblichen Angestellten ... ebenso wie die männlichen Angestellten ... besoldet hätten". Damit wählt es im Ergebnis unter der falschen Überschrift des § 139 BGB mit der Frage nach der Möglichkeit einer Lückenfüllung mittels ergänzender Tarifvertragsauslegung den richtigen Ansatzpunkt. Allerdings wertet es dabei den Umstand, daß derselbe Tarifvertrag in anderen Lohngruppen eine Differenzierung zwischen Männern und Frauen bereits nicht mehr vorsah, mit einer wohl zu großen Selbstverständlichkeit als Argument dafür, daß die Tarifvertragsparteien im Falle der Kenntnis der Nichtigkeit auch in der betreffenden Lohngruppe für alle Arbeitnehmer "Männerlöhne" vorgesehen hätten. In einer zweiten Entscheidung nahm das Gericht zunächst die Restgültigkeit der Männerlohnregelung "nach den Grundsätzen des § 139 BGB" an49 • Dann schloss es die Lücke bei den Frauenlöhnen im Sinne der Männerlohnregelungen. Dabei konnte es sich allerdings auf die Abmachung der Tarifvertragsparteien berufen, die Frauenlöhne "entsprechend der bundesarbeitsgerichtlichen Rechtsprechung" anderweitig zu regeln. Daraus gehe hervor, daß sich die Tarifvertragsparteien allen Konsequenzen der einschlägigen Rechtsprechung hätten anschließen wollen und daß sie die Zahlung des Männerlohns an die Frauen "in Kauf genommen" hättenso.
•7
Darauf weist zu Recht G.Hueck in seiner Anmerkung zu BAG, AP Nr. 70 zu Art. 3 GG hin .
•• BAG, AP Nr. 16 zu Art. 3 GG. '9
BAG, AP Nr. 70 zu Art. 3 GG, unter II.I.d.Gr.
so
BAG, AP Nr. 70 zu Art. 3 GG, unter II.2.d.Gr.
36
I. Teil: Einfiihrung in die Problematik
Um eine nach Ansicht des BAG verfassungswidrige Ungleichbehandlung im Lohnbereich ging es auch in zwei weiteren Urteilen: Einmal war die Gruppe der über 65-jährigen Arbeiter mit einer Klausel belastet worden, wonach die halben Bezüge aus der Sozialversicherung auf den Tariflohn anzurechnen warenSI. Das andere Mal war für jugendliche Arbeitnehmer pauschal ein geringerer Akkordrichtsatz festgelegt worden, so daß sich für diese Gruppe auch bei gleicher Leistung im Akkord ein niedrigerer Akkordlohn ergab als bei den gemeinsam mit ihnen beschäftigten erwachsenen ArbeitnehmernS2 • Beide diskriminierenden Bestimmungen sah das BAG als gern. § 134 BGB LV.m. Art. 3 GG nichtig an. Im Ergebnis hatte dies jeweils eine Angleichung "nach oben" zur Folge. Erwägungen zu einer eventuellen Gesamtnichtigkeit im Rahmen der Prüfung des § 139 BGB, die zu erwarten gewesen wären, finden sich lediglich in der zweiten Entscheidung. Allerdings hielt das BAG hier eine Prüfung des § 139 BGB mit der Erwägung für überflüssig, die Beklagte habe im Prozeß eine Gesamtnichtigkeit nicht geltend gemacht. Zu der sich aufdrängenden Frage, weshalb die Prüfung des § 139 BGB durch das Gericht, d. h. die Respektierung des tarifautonomen Gestaltungswillens, nur im Fall der dahin gehenden Einlassung des einzelnen beklagten Arbeitgebers stattfinden soll, finden sich keine Ausführungen. Mit der Beweislastumkehr allein, die ja erst im Rahmen des § 139 BGB Platz greifen kann, ist dies jedenfalls nicht zu rechtfertigen. Ebenfalls der hier behandelten Fallgruppe zuordnen läßt sich die Konstellation, daß der Tarifvertrag generell eine Anrechnung des übertariflichen Lohns auf eine Tariflohnerhöhung im Tarifvertag vorsieht, für eine bestimmte Gruppe von Arbeitnehmern diese Anrechnung jedoch vom Einverständnis des Betriebsrates abhängig gemacht wird s3 . Diese Sonderregelung impliziert für den Fall der Verweigerung dieses Einverständnisses die Festsetzung höherer Tariflöhne für die betroffene Arbeitnehmergruppe. Diese Regelung ist insbesondere unter dem Aspekt der Erweiterung der Mitbestimmungsrechte des Betriebsrates in Vergütungsfragen problematischs4 • Das BAG maß diese Regelung aber zunächst an Art. 3 GG, weil sie eine potentielle tarifliche Ungleichbehandlung bedingte. Es stellte einen Verstoß gegen das Willkürverbot und die Nichtigkeit der Sonderregelung fest. Dies führte zu einer Beseitigung der potentiellen Mehrbegünstigung der betreffenden Gruppe gegenüber den übrigen Arbeitnehmern, also zu einer Angleichung "nach unten". Eine Ausdehnung der Regelung auf die benachtei-
SI
BAG, AP Nr. I zu Art. 24 Verf. NRW.
" BAG, AP Nr. 2 zu Art. 24 Verf. NRW. '3
BAG, AP Nr. 16 zu § 4 TVG übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung.
54 Dazu Kreitner, Anmerkung zu BAG, AP Nr. 16 zu § 4 TVG übertariflicher Lohn und Tariflohnerhöhung.
2. Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte
37
ligte Arbeitnehmergruppe erwog das BAG nicht. Dies wohl auch deswegen nicht, weil es dazu neigt, die Regelung außerdem unter dem O.g. betriebsverfassungsrechtlichen Aspekt für unzulässig zu halten. Aufschlußreiche Ausführungen finden sich schließlich in dem Grundsatzurteil des BAG, in dem es über eine tarifvertragliche Kündigungsfristrenregelung zu befinden hatte, die dem verfassungswidrigen55 § 622 II 2 2.HS BGB entsprach56• Zunächst entschied das BAG die seit der Entscheidung des BVerfG zu § 622 II 2 2.HS BGB umstrittene Frage, ob und gegebenenfalls mit welchem Inhalt diese vom BVerfG für lediglich "verfassungswidrig" und nicht "nichtig" erklärte Nonn bis zur gesetzlichen Neuregelung weiter anzuwenden sei57 • Es lehnte die unmodifizierte Weiteranwendung der verfassungswidrigen Nonn ebenso ab wie die Übernahme der Angestelltenregelung aus § 2 11 3 AngKG. Ersteres, da eine verfassungswidrige Nonn grundsätzlich nicht mehr anwendbar sei, letzteres, weil dem Gesetzgeber zur Herstellung der verfassungsrechtlich gebotenen Gleich-behandlung unterschiedliche Wege zur Wahl stünden. Entschieden sich die Gerichte für eine der denkbaren Möglichkeiten, so wäre dies daher keine zwingende verfassungskonforme Gesetzesauslegung, sondern ein unzulässiger Eingriff in die Regelungskompetenz des Gesetzgebers. Damit übernimmt das BAG die insoweit auch vom BVerfG geübte Zurückhaltung gegenüber einer "Gesetzesauslegung",die den Gestaltungsfreiraum des Gesetzgebers ignoriert hätte58 • § 622 11 2 2. HS BGB sei vielmehr mit der Maßgabe weiter anzuwenden, daß der sich ergebende Tennin als der Zeitpunkt anzusehen sei, an dem das Arbeitsverhältnis frühestens aufgelöst worden ist. Insoweit sei ein Teilurteil zu fällen. Um dem klagenden Arbeiter die Chance auf eine spätere, ihm günstige Gesetzesänderung offenzuhalten, müsse der Rechtsstreit im übrigen analog § 148 ZPO ausgesetzt werden59 • Allerdings weist der Senat daraufhin, daß die geübte Zurückhaltung mit einer verfassungskonformen richterlichen Lückenfüllung dort ihre Grenzen finden könne, wo die Rechtsunsicherheit infolge der Untätigkeit des Gesetzgebers unter rechtstaatlichen Aspekten unerträglich werde60 • Damit deutet das BAG an, daß es sich für befugt hält, gegebenenfalls
" BVerfGE 62, 256, 288f. 50
BAGE 49, 21
=
AP Nr. 21 zu § 622 BGB.
" Nachweise zum damaligen Meinungsstand a.a.O., unter II.2.d.Gr. 5&
Vgl. BVerfGE 62, 256, 288.
,. BAGE 49, 21, 25; bestätigt durch BAG, APNr. 22 zu § 622 BGB undBAG, NZA 87, 808, 809. 60 Fünf Jahre später droht BAG, NZA 87, 808, 809, mit einer verfassungskonformen Lückenschließung, sollte der Gesetzgeber nicht spätestens in der zweiten Hälfte des Jahres 1987 tätig werden, eine Drohung, die das LAG Frankfurt, OB 88, 2519, wahr macht. Ein solches Vorgehen wird von BVerfGE 82, 126, 155, ausdrücklich rur zulässig erklärt.
38
I. Teil: Einführung in die Problematik
gegenüber einem allzu lange säumigen Gesetzgeber die Funktion eines "Reserve gesetzgebers" einzunehmen. Im folgenden wendet das BAG sich der § 622 11 2 2.HS BGB inhaltlich entsprechenden Tarifnorm zu. Es sieht diese trotz der Identität als eigenständige Regelung an und hält sie für mit Art. 3 GG ebenfalls unvereinbar. Als nichtig sieht es dabei - offenbar ganz selbstverständlich - die gegenüber der Angestelltenregelung ungünstigere Berechnungsgrundlage für die Arbeiter an. Dies hat zur Folge, daß der Tarifvertrag insoweit eine Lücke aufweist. Anders als in den in diesem Zusammenhang bisher angesprochenen Urteilen, die sich mit der Lükkenausfüllung im Wege ergänzender Tarifvertragsauslegung befassen6 t, stellt der erkennende 2. Senat hier sehr hohe Anforderungen an die Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise. Für den mutmaßlichen Willen der Tarifvertragsparteien müßten sich ausreichende Anhaltspunkte finden lassen oder eine bestimmte Lükkenfüllung müsse "nach objektiver Betrachtung" so "zwingend geboten" sein, daß anzunehmen ist, die Tarifvertragsparteien hätten sich einer solchen Regelung nicht entzogen62 • Beides sei vorliegend nicht der Fall, da ein Wille, den zeitlichen Bestandsschutz rur die Arbeitsverhältnisse der Arbeiter auszudehnen, dem Tarifvertrag nicht zu entnehmen sei und dieser Weg auch nicht der von Verfassungs wegen einzig mögliche sei. Mit dieser sehr restriktiven Handhabung der ergänzenden Tarifvertragsauslegung als Mittel richterlicher Gestaltung von Tarifverträgen schließt sich der 2. Senat für die Konstellation des Gleichheitsverstoßes einer allgemeinen Tendenz in der BAG-Rechtsprechung zur ergänzenden Tarifvertragsauslegung an: Wenn verschiedene zulässige Möglichkeiten zur Lückenschließung und keine hinreichenden Anhaltspunkte für den Willen der Tarifvertragsparteien bestehen, sei es den Arbeitsgerichten nicht gestattet, durch Korrekturen und Ergänzungen in den von Art. 9 111 GG geschützten Gestaltungsfreiraum der Tarifvertragsparteien einzugreifen63 • Indem der 2. Senat dieser Tendenz folgt, gelangt er für die Frage der Zulässigkeit einer ergänzenden Tarifvertragsauslegung im Falle eines Gleichheitsverstoßes zu einer Harmonisierung einmal mit seinen eigenen Ausführungen zu den Grenzen verfassungskonformer Gesetzesauslegung und zum andern auch mit der Rechtsprechung des BVerfG, das aus Respekt vor der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers sich ebenfalls einer eigenen Gestaltung
61
Vgl. BAG, AP Nr. 16 und 70 zu Art. 3 GG.
62 Hiermit knüpft der 2. Senat an die in BAGE 36, 218, 225 Dozenten vom 4. Senat entwickelten Grundsätze an.
=
AP Nr. 19 zu § 611 BGB Lehrer/
63 So der 4. Senat in BAG, AP Nr. 6 zu § 1 TVG Tarifverträge: Metallindustrie und BAGE 36, 218, 225 = AP Nr. 19 zu § 611 BGB LehrerIDozenten; ihm folgend später der 5. Senat in BAGE 54,30,35.
2. Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte
39
bewußt enthalten hat64 • Daher verfährt der Senat konsequent, wenn er seine Ergebnisse, die er hinsichtlich der nach der Entscheidung des BVerfG bestehenden Rechtslage bei § 62211 BGB gewonnen hat, auf die parallele tarifvertragliche Ebene überträgt: Auch insoweit ergeht ein Teilurteil auf Grundlage der verfassungswidrigen Regelung, im übrigen wird der Rechtsstreit bis zur Neuregelung - sei es des Tarifvertrages oder des § 622 11 2 2.HS BGB - ausgesetzt. Diese Rechtsprechung, die von einer konsequenten Respektierung tarifautonomer Gestaltungsfreiheit gekennzeichnet ist, hat der Senat weitergeflihrt: Auch soweit es um die Konsequenzen aus der verfassungswidrigen Differenzierung zwischen Arbeitern und Angestellten bei tarifvertraglichen Kündigungsgrundfristen geht, enthielt sich das Gericht einer ergänzenden Tarifvertragsauslegung6s • Statt dessen erließ es auf Grundlage der benachteiligenden Fristen ein Teilurteil und setzte das Verfahren im Einklang mit der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung66 im übrigen bis zur gesetzlichen oder tarifvertraglichen Neuregelung -längstens aber bis zum 30.6. 1993 - aus67 • Schließlich ist der ersten Fallgruppe ein Fall zuzuordnen, in dem das BAG zum ersten Male eine Ungleichbehandlung zwischen "Ost-Arbeitnehmern" und "WestArbeitnehmern" zu würdigen hatte68 • Der Tarifvertrag flir die Angestellten der Deutschen Bundespost ("TV Ang") erfaßt von seinem persönlichen Geltungsbereich her zunächst alle Angestellten der Bundespost. § I I des von denselben Tarifvertragsparteien geschlossenen "TV Ang-Ost" schränkt diesen Geltungsbereich insoweit ein, als er bestimmt, daß die Angestellten, deren Arbeitsverhältnisse im Beitrittsgebiet begründet worden sind, unter den "TV Ang-Ost" fallen, der gegenüber dem "TV Ang" schlechtere Bedingungen bietet. Das BAG hatte nun den Fall zweier "Ost-Angestellter" zu beurteilen, die dauerhaft in den Westteil Berlins abgeordnet waren und Behandlung wie ihre "West-Kollegen" nach dem "TV Ang" verlangten. Das BAG sah den die Geltungsbereichsdifferenzierung begründenden § I I TV Ang-Ost insoweit flir gegen Art. 3 I GG verstoßend an, als er auch diejenigen Ost-Angestellten aus dem persönlichen Geltungsbereich des TV Ang ausschließt, die auf nicht absehbare Zeit im räumlichen Geltungsbereich des TV Ang beschäftigt werden. Das Gericht hielt § 1 I TV Ang-Ost gleichwohl nicht flir teilnichtig, sondern erreichte eine den
64 Zu § 622 11 22. HS BGB BVerfGE 62, 256, 288f.; die Tendenz bestätigend BVerfGE 82,126, 155.
6' BAG, NZA 91, 797, 800; 801, 803; 803, 804; NZA 92, 166, 168f. 66
BVerfGE 82, 126, 155.
67
BAG, NZA 91, 797, 801; NZA 92,166,168.
68
BAG, NZA 93, 324.
40
1. Teil: Einflihrung in die Problematik
verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende Restriktion der Nonn durch deren verfassungskonfonne Auslegung. Dies hat zur Folge, daß die betroffenen Arbeitnehmer von § 1 I TV Ang-Ost nicht erfaßt und somit auch nicht aus dem persönlichen Geltungsbereich des TV Ang ausgeschlossen werden. Die verfassungskonfonne Auslegung des § 1 I TV Ang-Ost, die das BAG - freilich ohne Auseinandersetzung mit den Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine solche methodische Vorgehensweise - vornimmt, führt damit zu einer Angleichung nach oben zugunsten der betroffenen Ost-Angestellten. b) Fälle einer Rechtsfolgenregelungfiir überhaupt nur eine Gruppe von Arbeitnehmern
In der ersten Fallgestaltung dieser Art hatte es das BAG mit § 7 I eines Manteltarifvertrages zu tun, der die Vereinbarung eines Hausstandsgeldes für "verheiratete männliche Arbeitnehmer" enthielt69 • Das Wort "männlich" war nachträglich durch Änderung des Tarifvertrages aufgenommen worden. Die Ausführungen des BAG deuten daraufhin, daß das Gericht die Nichtigkeit gern. § 134 BGB i.V.m. Art. 3 11 GG auf die gesamte ausschließliche Leistungsanordnung für verheiratete Männer bezieht, also auf die ganze Regelung. Dies hat zur Folge, daß die Leistungsanordnung für Männer entfällt. An sich bekommt danach keine Gruppe das Hausstandsgeld. Über einen zweiten Schritt gelangt das BAG aber dennoch zu einem Anspruch auf Hausstandsgeld sowohl für Männer als auch für Frauen. Dies rechtfertigt das BAG einerseits mit dem ebenso überraschenden wie interessanten Argument, anstelle der geänderten neuen Regelung gelte nunmehr die Regelung in ihrer alten, einschränkungslosen Fassung fort 70• Zum anderen konstatiert das BAG das Vorliegen einer Lücke und nimmt dies zum Anlaß, eine richterliche Vertragsergänzung vorzunehmen. Diese ennögliche unter Berücksichtigung des hypothetischen Partei willens die Lückenschließung im Sinne einer Anspruchsberechtigung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern 71. In der Entscheidung finden sich jedoch auch andere Fonnulierungen, die darauf schließen lassen, das Gericht sehe doch nicht die ganze Regelung des § 7 I MTV als nichtig an, sondern nur die Beschränkung des Kreises der Berechtigten aufMänner72 • Das hätte zur Folge, daß sich die Nichtigkeit auf die Einfügung des
69
BAG, AP Nr. 68 zu Art. 3 GG.
70
BAG, AP Nr. 68 zu Art. 3 GG, unter 3. (1.Abs.) d.Gr.
71
BAG, AP Nr. 68 zu Art. 3 GG, unter 3. (2.Abs.) d.Gr.
72
Vgl. die Formulierungen unter 3. (2.Abs.) d.Gr.
2. Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte
41
Wortes "männlich" begrenzte und auf diese Weise eine einschränkungslose Regelung entstünde ("verheiratete Arbeitnehmer"). Für diese Interpretation könnte auch die mehrfache Nennung des § 139 BGB sprechen, an dessen Heranziehung man bei der Beantwortung der Frage denken könnte, ob die nun einschränkungslose Regelung als solche aufrechterhalten bleibt. Ist die dogmatische Begründung für das gefundene Ergebnis - die Ausdehnung der Begünstigung auf die benachteiligte Gruppe - dem BAG in dieser Entscheidung also auch nicht widerspruchsfrei gelungen, so wird doch das methodische Vorgehen deutlich: Die Bestimmung der konkreten Rechtsfolge eines Gleichheitsverstoßes hat lediglich ihren Ausgangspunkt in der Feststellung der Nichtigkeit als der Nichtgeltung einer Regelung oder eines Teiles von ihr; in einem zweiten - gestaltenden - Akt wird dann vom Gericht über einen eventuellen neuen Regelungsgehalt der Tarifnorm unter Rückgriffauf den hypothtischen Willen der Tarifvertragsparteien entschieden, mag das BAG auf diesen Maßstab nun im Rahmen der Subsumtion unter § 139 BGB oder aber bei der ergänzenden Tarifvertragsauslegung abstellen. Bei einer anderen Entscheidung73 hat das BAG einen ähnlichen methodischen Ansatz verfolgt und sich ebenfalls mit den beiden Elementen Feststellung der Nichtgeltung von Tarifnormen bzw. deren Teilen einerseits und der Möglichkeit richterlicher Tarifnormgestaltung mittels verfassungskonformer und ergänzender Tarifvertragsauslegung andererseits auseinandergesetzt. Es ging um die offensichtlich gegen Art. 3 11, III GG verstoßende Vereinbarung einer "Ehefrauenzulage ... , die dem verheirateten Angestellten für seine Ehefrau" gewährt werden sollte. Das BAG verneinte die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung der Regelung, die nur in einer Ergänzung um eine Verheiratetenzulage auch für verheiratete weibliche Arbeitnehmer hätte bestehen können. Dies würde - so das BAG - eine gerichtliche Korrektur des deutlich und zweifels frei im Tarifvertrag zutage getretenen Willens der Tarifvertragsparteien bedeuten, was den Rahmen einer zulässigen verfassungskonformen Auslegung sprengen und damit einen Eingriff in die von Art. 9 III GG geschützte Regelungsautonomie bedeuten würde. Das BAG sah folglich die ganze einseitig die Männer begünstigende Regelung als nichtig an. Damit blieb ersichtlich kein Regelungsteil übrig, der eine allgemeine Begünstigung ausgesprochen hätte und über dessen Aufrechterhaltung das BAG im Rahmen des § 139 BGB hätte nachdenken können. Schießlich sah sich das BAG daran gehindert, im Wege ergänzender Tarifvertragsauslegung die nichtige Regelung durch eine allgemeine Verheiratetenzulage zu ersetzen. Zum einen sei durch die Nichtigkeit ein Zustand der Gleichheit - auf dem unteren Niveau - hergestellt. Aus diesem Grund liege schon keine "Lücke" vor, die notwendig geschlossen werden müsse. Zum
73
BAGE 50, 137 = AP Nr. 136 zu Art. 3 GG.
42
l. Teil: Einführung in die Problematik
andern sah sich das BAG zur Respektierung des autonomen Gestaltungsspielraumes der Tarifvertragsparteien verpflichtet, da völlig offen sei, welche von mehreren möglichen verfassungskonformen Regelungen diese vereinbart hätten oder vereinbaren würden. Infolge der Nichtigkeit ergab sich also eine Herstellung der Gleichheit auf dem unteren Niveau. Damit gab es für die im Rechtsstreit klagende Arbeitnehmerin keine tarifliche Anspruchsgrundlage. Überraschend gelangt das BAG für die Vergangenheit aber dennoch zu einem Anspruch auf "Ehemännerzulage" aus Art. 3 11 GG i.V.m. dem Tarifvertrag: Der auch für die Vergangenheit zwingend herzustellende Zustand der Gleichheit sei für den Vergangenheitszeitraum nur durch eine Nachzahlung der Verheiratetenzulage an die betroffenen Arbeitnehmerinnen zu erreichen. In einem solchen Sonderfall der Einschränkung tarifautonomer Gestaltungsfreiheit auf genau eine verfassungsmäßige Regelungsmöglichkeit sieht sich das BAG ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt der Tarifautonomie nicht daran gehindert, den Tarifvertragsparteien gewissermaßen vorzugreifen: Soweit die Ermessensreduzierung der Tarifvertragsparteien reicht, spricht das BAG die begehrte Rechtsfolge ZU74. Die gesamte Argumentation des BAG zur Frage der Rechtsfolge eines Verstoßes gegen Art. 3 11, III GG ist gekennzeichnet von dem Bemühen, sich eines jeglichen verfassungsrechtlich nicht statthaften Übergriffes in den von Art. 9 III GG den Sozialpartnern zugewiesenen Bereich der Tarifnormgestaltung zu enthalten, sei dies nun bei verfassungskonformer oder ergänzender Auslegung oder allgemeiner richterlicher Rechtsfortbildung des Tarifvertrages. Dabei betont das BAG einerseits kategorisch die Grenzen, die bei der Benennung der Folgen von Gleichheitsverstößen der richterlichen Gestaltungsbefugnis gesetzt seien. Andererseits praktiziert es mit der Zuerkennung eines tariflichen (1) Anspruches für die Vergangenheit ganz ausgeprägt richterliche Rechtsschöpfung, die es im konkreten Fall freilich für mit Art. 9 III GG vereinbar hält. Doch nicht nur wegen der Ausführungen zu den richterlichen Gestaltungsbefugnissen bei der Ermittlung der Rechtsfolgen von Gleichheitsverstößen ist das Urteil von grundlegender Bedeutung. Es ist zugleich das erste - und bislang einzige - der höchstrichterlichen tarifrechtlichen Judikatur, das sich mit Art. 119 EWGV beschäftigt, der in einer nicht von vornherein klaren Konkurrenz zu Art. 3 11 GG steht, welcher den Lohngleichheitssatz ebenfalls enthält. Der EuGH hat früh und mit bindender Wirkung75 klargestellt, ein Verstoß gegen Art. 119 EWGV könne nur zur Folge haben, daß auch der bislang benachteiligten Gruppe die gleiche Begünstigung zuteil werde, und zwar auch für die Zukunff6• Auf das 7. BAGE 50, 13 7, I 44ff., unter Verweis aufdie Rechtsprechung des BVerfG zum Parallelproblem im Gesetzesrecht, vgl. BVerfGE 55, 100, 113.
" Vgl. Krück in: GroebenfThiesingiEhlermann, EWGV, Art. 177 Rn. 86.
7. EuGH, Rs. 43/75, Defrenne 11, 81g. 76,455 Rn. 14/15.
2. Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte
43
Begehren der Klägerin bezogen bedeutet dies, daß diesem zwar nicht aufgrund Art. 3 11 GG, wohl aber aufgrund Art. 119 EWGV auch für die Zukunft hätte entsprochen werden müssen. Daher hatte auch das ArbG Berlin71 der Klage in erster Instanz auf Grundlage des Art. 119 EWGV in vollem Umfang stattgegeben. Das Postulat einer "Anpassung nach oben" im Fall eines Verstoßes gegen Art. 119 EWGV nimmt das BAG sehr wohl zur Kenntnis. Es argumentiert jedoch damit, daß der Tatbestand des Art. 119 EWGV - die Ungleichbehandlung - gar nicht (mehr) vorliege, da infolge der gern. § 134 BGB LV.m. Art. 3 11 GG eingetretenen Nichtigkeit die Ungleichheit beseitigt seL Ohne Ersuchen um den obligatorischen Vorabbescheid durch den EuGH nach Art. 177 11 EWGV entscheidet das BAG damit die beim Sachverhalt Entgeltdiskriminierung zwischen Mann und Frau apriori gegebene Anwendungskonkurrenz zwischen Art. 119 EWGV und Art. 3 11 GG im Sinne einer Anwendungspriorität des Art. 3 11 GG. Diese Sichtweise, mit der das BAG dem ArbG Berlin entgegentritt, hat zur Folge, daß Art. 119 EWGV im vorliegenden Fall zugunsten einer Beurteilung anhand nationalen Rechts leerläuft und seine vom EuGH intendierte, für den diskriminierten Arbeitnehmer günstige Rechtsfolge - "Anpassung nach oben" nicht zu entfalten vermag. c) Die gleiche Rechtsfalge for beide Groppen bei unterschiedlichen Ansprochsvaraussetzungen
Bei der ersten Konstellation, die dieser Fallgruppe zuzuordnen ist, sah sich das BAG mit einer tariflichen Hinterbliebenenrente konfrontiert, deren Erwerb für Männer an höhere Voraussetzungen geknüpft war als für Frauen78. Der männliche Hinterbliebene einer Arbeitnehmerin mußte nämlich nachweisen, daß ihm zur Zeit des Todes der Ehefrau gegen diese ein aufGeld gerichteter Unterhai tsanspruch zustand. Für die weiblichen Hinterbliebenen von Arbeitnehmern fehlte eine solche Bestimmung. Das BAG stellt zu Beginn seiner Ausführungen bemerkenswerterweise eine allgemeine Regel für die Rechtsfolgenermittlung bei Gleichheitsverstößen auf. Dabei stützt es sich das erste Mal ausschließlich auf Art. 3 III GG und leitet aus diesem zwei selbständige Verbote her, nämlich ein Bevorzugungsund ein Benachteiligungsverbot. Aus ersterem ergebe sich, daß eine "Benachteiligungsklausel" mit der Folge nichtig sei, daß die benachteiligte Gruppe auf den Stand der übrigen angehoben werde. § 139 BGB findet hierbei, anders als in den meisten anderen Urteilen, die sich mit dieser Problematik befassen, keinerlei Erwähnung. Zum anderen sei aber auch eine "Begünstigungsklausel" nichtig,
77
ArbG Berlin. DB 83, 218l.
7&
BAG, AP Nr. 39 zu Art. 3 GG.
44
I. Teil: Einführung in die Problematik
was dann zur Gleichheit auf dem ungünstigeren Niveau führe. Diese Interpretation des Art. 3 III GG, den das BAG offenbar zur Konkretisierung der Absätze 1 und 2 heranzieht, scheint davon auszugehen, Art. 3 GG mißbillige an einer Ungleichbehandlung nicht die dabei immer vorliegende ungleiche Regelungsrelation, sondern isolierbar die Schlechter- bzw. Besserbehandlung nur einer der beiden Vergleichsgruppen. In Konsequenz dieser Vorgaben ist das Gericht vor die Aufgabe gestellt zu entscheiden, ob bei einer ungleichen Regelungsrelation nun eine Begünstigung oder eine Benachteiligung vorliegt. Bei der alles entscheidenden Frage, anhand welchen Maßstabs zu ermitteln ist, welche der beiden Alternativen konkret vorliegt, kann das BAG notgedrungen nicht einfach auf einen schlichten Vergleich zwischen beiden Regelungen abstellen. Bei dieser Betrachtungsweise hätte notwendig die Benachteiligung der einen die Begünstigung der anderen Gruppe zur Kehrseite. Vielmehr sieht es sich dazu veranlaßt, als Beurteilungsmaßstab die jeweils aus dem Sinn der Gesamtregelung herauszudestillierende "Normalregelung" anzuwenden. Begünstigung bzw. Benachteiligung definiert das BAG folglich als positive bzw. negative Abweichung von diesem "Normalstand". Wozu die Wahl dieses Parameters führt, wird deutlich, wenn das BAG unter seine Regel subsumiert: Vergleicht man zunächst die Leistungsvoraussetzungen für Männer mit denen der Frauen, so liegt in der zusätzlichen Voraussetzung für Männer ohne weiteres eine explizite Benachteiligung. Das BAG kommt nach seinem Ansatz jedoch zu dem Ergebnis, die Männerregelung mit der zusätzlichen Voraussetzung sei sinnvollerweise als die von den Tarifvertragsparteien vorausgesetzte "Normalregelung" anzusehen. Daraus ergibt sich eine ganz andere Konsequenz: Keineswegs ist - wie der Kläger geltend gemacht hatte - die zusätzliche Voraussetzung für Männer benachteiligend und damit nichtig. Vielmehr sei nur das Fehlen dieses Erfordernisses bei der Frauenregelung verfassungsrechtlich zu mißbilligen, weil hierin eine einseitige Begünstigung liege. Nichtig konnte daher nur die (nicht fallrelevante ) Begünstigung für die Frauen sein. Mit diesem Ansatz, dem Abstellen auf die "Normalregelung" , verpflichtet sich das BAG bei der Rechtsfolgenbestimmung in hohem Maße dem objektiven Gesamtsinn der zu beanstandenden Regelung. Das bedeutet letztlich eine maßgebliche Berücksichtigung der Vorstellung und Intention der Tarifvertragsparteien bei der gerichtlichen Ermittlung der Rechtsfolgen eines Gleichheitsverstoßes. Nicht zu dieser Tendenz paßt allerdings, daß das BAG im Fall der Nichtigkeit der "Benachteiligungsklausel" in seiner Regel offenbar von einer automatischen Anpassung auf dem günstigeren Niveau ausgeht, ohne insoweit im Rahmen des § 139 BGB auf den Willen der Tarifvertragsparteien abzustellen. Der Ansatz des BAG, der seinen Ausgangspunkt in einer interessanten Auslegung des Art. 3 GG nimmt, muß jedoch dann auf Schwierigkeiten normtechnisch-Iogischer Art stoßen, wenn - wie hier - die Begünstigung in einem
2. Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte
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schlichten Unterlassen besteht: Wie diese Lücke nichtig sein soll - mit der Konsequenz der Geltung des Unterlassenen? - bleibt unklar79 • In weiteren Entscheidungen bemühte das BAG nicht mehr die "Normalregelung" als Maßstab. Es wurden jeweils ohne weiteres und fast schematisch diejenigen ausdrücklichen Regelungen als nichtig angesehen, die gegenüber der anderen Gruppe eine tatbestandliche Erschwerung oder Erleichterung anordneten. So wurde die einseitige Pflicht der weiblichen Arbeitnehmer, für eine Leistung eine Antrag zu stellen und bestimmte Tatsachen nachzuweisen, als nichtig angesehen 80 • Entsprechend wurde vom BAG die Unwirksamkeit einer Begünstigung der Männer durch die unwiderlegliche Vermutung einer Leistungsvoraussetzung festgestellt 81 • Die Regelungen mit ihren sonstigen Voraussetzungen wurden im übrigen jeweils "nach dem Rechtsgedanken des § 139 BGB" aufrechterhalten. 3. Bestimmung der Rechtsfolgen in den Fällen verfassungswidriger Gleichbehandlung Bislang galt das Augenmerk den entschiedenen Fällen einer gegen den Gleichheitssatz verstoßenden Ungleichbehandlung. Zum Abschluß des Überblikkes über die Judikatur ist nun auf die - seltenen - Fälle einer von Art. 3 GG ebenso verbotenen Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem82 einzugehen. Bemerkenswerterweise stammen alle entschiedenen Beispielsfälle hierzu aus dem Versorgungstarifvertrag rur die Arbeiter und Angestellten des Landes Berlin (VVA). Dessen § 28 sah vor, daß im Falle des Zusammentreffens von Versorgungsbezügen mit Einkommen aus einer eigenen Tätigkeit im öffentlichen Dienst es zu einer gewissen Kürzung der Versorgungsbezüge kommen sollte, soweit ein Höchstbetrag überschritten wurde. Das BAG wandte sich nicht gegen die aus dem
7' Auf die Unmöglichkeit, nicht Angeordnetes für nichtig zu erklären, weisen mit Recht BVerGE 18,288,301 und BVerfGE 22, 349, 360 hin. Um diesem Problem im Fall zu entgehen, tut das BAG so, als wäre das Fehlen des zusätzlichen Erfordernisses bei der Frauenregelung die ausdrückliche, unwiderlegliche Vermutung, die grundsätzlich für alle geltende Voraussetzung sei bei Frauen immer erfüllt. So war die Regelung sinnvollerweise wohl auch gemeint, aber eben nicht formuliert. Anders aber die Formulierung in BAG, AP Nr. 111 zu Art. 3 GG. 10 BAGE 15,229 = APNr. 87 zu Art. 3 GG - Voraussetzung für eine Kinderzulage; BAG, AP Nr. 111 zu Art. 3 GG - Voraussetzung für eine Haushaltszulage. So auch schon ArbG Hannover, DB 74, 1870.
11
BAG, AP Nr. 111 zu Art. 3 GG; ArbG Hannover, DB 74, 1870.
12
Vgl. nur BVerfGE 9, 124, 129f. und BVerfGE 49, 148, 165.
46
l. Teil: Einführung in die Problematik
Beamtenrecht entlehnte Anrechnungsregel an sich, sondern dagegen, daß für alle Fälle des Zusammentreffens von Versorgungs- und Einkommensbezügen die gleiche Höchstgrenze festgelegt warB 3• Nach Ansicht des BAG hätte die Regelung danach differenzieren müssen, ob es bei dem Zusammentreffen um Leistungen geht, die aus der Tätigkeit einer einzelnen Person oder aber aus der zweier Personen gewährt werden. Der Fall, daß mit dem Witwengeldanspruch der vom Ehegatten erdiente Versorgungsanspruch mit dem Einkommen der Frau aus eigener Tätigkeit zusammentrifft, müsse günstiger behandelt werden, als wenn das Einkommen und ein eigener Versorgungsanspruch der Frau in Frage stehen. Im Anschluß an Ausführungen des BVerfG zu einer ähnlichen beamtenrechtlichen Regelung 84 meinte das BAG, diese Kürzungsregelung behandele Ungleiches gleich und sei daher insgesamt nichtig. Das Gericht sprach anschließend die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung an. Da sich aber für eine verfassungskonforme Neuregelung den Tarifvertragsparteien eine Reihe von Gestaltungsmöglichkeiten eröffneten, sah sich das BAG an einer eigenen gestaltenden Tätigkeit gehindert und überließ es ausdrücklich den Tarifvertragsparteien, § 28 VVA neu zu fassen. Bis zu deren Tätigwerden hielt es offenbar eine Aussetzung des Verfahrens für geboten 8s • Weit weniger Zurückhaltung bei der verfassungskonformen Auslegung übte das BAG in einem anderen Fa1l 86 • Derselbe Tarifvertrag sah vor, daß die Beiträge für die Zusatzversorgung auch auf Zusatzvergütungen erhoben werden, bei der Bemessung des Ruhegeldes diese Zusatzvergütungen jedoch nicht mitzuberechnen seien. Hatte ein Arbeitnehmer also Sonderdienste geleistet, so mußte er Beiträge zahlen, die sich nicht rentensteigernd auswirkten. Das BAG machte seine Beanstandung dieses offensichtlich gestörten Äquivalenzverhältnisses zwischen Beiträgen und Renten formal an Art. 3 I GG fest: Es verglich die Arbeitnehmer, die Sonderdienste geleistet und auf die dafür erhaltene Vergütung Beiträge entrichtet hatten mit denen, die dies nicht getan hatten. Daß beide eine gleich bemessene Rente erhielten, war eine ungerechtfertigte Gleichbehandlung 87 • Zu deren Beseitigung hätte man einerseits die Zusatzvergütungen aus der
83
BAG, AP Nr. 178 zu § 242 BGB Ruhegehalt .
•• BVerfG AP Nr. 112 zu Art. 3 GG, insbes. unter B.II.2.a) d.Gr. " Vgl. die Ausführungen zu dieser Entscheidung im späteren Urteil des Senats, BAG, AP Nr. 1 zu § 1 BetrA VG Besitzstand. Darauf, daß eine Aussetzungslösung verfolgt wird, läßt auch die Bezugnahme auf BVerfG AP Nr. 112 zu Art. 3 GG schließen, wo das BVerfG unter B.II.3.d.Gr. ebenfalls eine Aussetzung des Verfahrens befürwortet. •6
BAG, AP Nr. 148 zu § 242 BGB Ruhegehalt.
11 Weshalb das BAG unter 3.c) d.Gr. diese Vergleichsgruppen bildet, dann aber unter 3.d) d.Gr. zu einer ungerechtfertigten Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte gelangt, ist nicht ganz nachvollziehbar.
2. Abschnitt: Behandlung des Phänomens durch die Arbeitsgerichte
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Beitragspflicht herausnehmen oder aber die Zusatzvergütungen bei der Rentenberechnung berücksichtigen können. Hätte das BAG die Rechtsfolge der Nichtigkeit auf diese Konstellation angewandt, so hätte nur das positiv angeordnete Unterfallen der Zusatzversorgung unter die Beitragspflicht nichtig sein können. Die schlichte Unterlassung der Einbeziehung der Zusatzvergütungen in die Rentenberechnung hätte hingegen aus normtechnisch-Iogischen Gründen nicht unwirksam sein können. Diesen Weg, der zum Herausfallen der Zusatzvergütung aus der Beitragspflichtigkeit geführt hätte, schlug das Gericht aber nicht ein. Vielmehr hielt es sich für berechtigt, eine verfassungskonforme Auslegung vorzunehmen, obwohl offensichtlich zwei gleichwertige Wege zur Herstellung eines verfassungskonformen Zustandes bestanden. Dies erkannte es sehr wohl, wählte aber kurzerhand die für die Arbeitnehmer günstigere, mithin für die Arbeitgeber ungünstigere Einbeziehung der Zusatzvergütung in die Leistungsberechnung. Bedenken gegen dieses Vorgehen sucht das BAG mit dem Hinweis zu zerstreuen, die Arbeitnehmerseite der Tarifvertragsparteien würde dieser Lösung ohne weiteres zugestimmt haben. Das Land als Tarifpartei auf Arbeitgeberseite hätte wegen seiner besonderen Pflicht zur Verfassungstreue "eine aus verfassungsrechtlichen Gründen bedenkliche Tarifnorm mit ihrem verfassungsmäßigen Inhalt als gültig ansehen"88 wollen. Letzterer Hinweis streift freilich nicht einmal die Problematik dieses Vorgehens, die Mißachtung des den Tarifvertragsparteien eingeräumten Ermessens. Der gerade geschilderte Sachverhalt beschäftigte später das BAG emeut89 . Die Tarifvertragsparteien hatten zunächst die "verfassungskonforme Auslegung" des BAG hingenommen, später dann aber die verfassungswidrige Gleichbehandlung auf dem anderen Wege beseitigt, nämlich durch die Herausnahme der Zusatzvergütung aus der Beitragspflicht (!). Dies galt jedoch nur für die Zukunft. Obwohl sie dazu verpflichtet waren, hatten die Tarifvertragsparteien eine verfassungskonforme Regelung für die Vergangenheit nicht vorgesehen. Nach der neuen tariflichen Rechtslage bestand also durch die Tatsache der fehlenden Regelung dieser Frage die im ersten Urteil festgestellte verfassungswidrige Gleichbehandlung für die Vergangenheit fort. Es lag also ein Verfassungsverstoß durch Unterlassen einer verfassungsrechtlich geforderten differenzierenden Regelung vor. Naturgemäß scheidet im Fall einer solchen Lücke die "Nichtigkeit" als Sanktion aus. Das BAG betonte ausdrücklich, daß den Tarifvertragsparteien zur Schließung dieser Lücke die Wahl zwischen verschiedenen Art. 3 I GG Rechnung tragenden Regelungsmodellen offenstand und die tarifpolitische Entscheidung, die eine Lückenschließung immer beinhaltet, den Tarifvertragsparteien zustehe. Daher erwog der erkennende Senat, den Tarifver-
11
BAG, AP Nr. 148 zu § 242 BGB Ruhegehalt, unter 3.d) d.Gr. a.E.
&9
BAG, AP Nr. 1 zu § 1 BetrAVG Besitzstand.
48
l. Teil: Einführung in die Problematik
tragsparteien Gelegenheit zur Lückenfüllung zu geben und den Rechtsstreit derweil analog § 148 ZPO auszusetzen90 • Den Weg dieses konsequenten Rückzuges der Gerichte aus dem Regelungsbereich der Tarifnormsetzer hatte der Senat - wie bereits gesehen - in einer ähnlichen Konstellation schon einmal beschritten91 , ebenso wie der 5. Senat in ständiger Rechtsprechung bei dem Problem der Weiteranwendung des § 622 11 2 2.HS BGB92. Wegen der Pflicht der Gerichte zur Streitentscheidung sieht der Senat diesen Weg aber nur als in Ausnahmefällen gangbar an. Vorliegend sah er sich zur Lückenschließung "gezwungen"93, um eine Verzögerung des Rechtsstreites zu verhindern. Zudem sei eine Lückenfüllung unabdingbar, um überhaupt den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen. Tatsächlich bestand in allen anderen Fällen, in denen es um eine mögliche Lückenfüllung ging, auch ohne diese ein - irgendwie gearteter - verfassungskonformer Zustand. Das BAG sucht nun dem erkannten Spannungsverhältnis zwischen seinem Vorgehen und seiner Pflicht zur Respektierung der Tarifautonomie dadurch Rechnung zu tragen, daß es nach derjenigen Lösung sucht, die dem Regelungssystem des vorliegenden Tarifvertrages am nächsten kommt und eine Korrektur der tarifpolitischen Vorgaben der Vertragsparteien vermeidet94 . Als diese sieht das BAG die Berücksichtigung der Zusatzvergütung bei der Rentenberechnung an. Der Senat kommt damit zum gleichen Ergebnis wie in seinem ersten Urteil. Kann er sich dabei der faktischen Präjudizwirkung dieser Entscheidung auch nicht ganz entziehen, so ist doch das Problembewußtsein des BAG - im Gegensatz zum ersten Urteil - beispielhaft: Es zeigt plastisch das Spannungsfeld auf, das bei der Würdigung eines Gleichheitsverstoßes besteht: Einerseits die Aufgabe der Gerichte, Recht anzuwenden und bei einer Überschreitung der Autonomiegrenzen die Sanktion der Rechtsordnung zu formulieren. Andererseits die Begrenzungen der dazu zur Verfügung stehenden Befugnisse der Gerichte durch die Pflicht zur Respektierung der Tarifautonomie.
90
BAG, AP Nr. I zu § I BetrA VG Besitzstand, unter 11.2. d.Gr.
91
BAG, AP Nr. 178 zu § 242 BGB Ruhegehalt.
92
BAGE 49, 21; BAG, AP Nr. 22 zu § 622 BGB.
Die Wahl dieses Wortes läßt durchaus auf ein Unbehagen des BAG bei seiner Vorgehensweise schließen. 93
... Ausdrücklich bekennt sich der erkennende 3. Senat zu der in dieser Frage vom Respekt vor der Tarifautonomie geprägten Rechtsprechung des 2. Senats (BAG, AP Nr. 21 und 22 zu § 622 BGB), des 4. Senats (BAG, AP Nr. 6 zu § I TVG Tarifverträge: Metallindustrie), und des 5. Senats (BAGE 54,30,35).
Dritter Abschnitt
Resümee und Folgerungen für die weitere Untersuchung Bei der Darstellung der Judikatur zu den Gleichheitsverstößen in Tarifverträgen ist neben vielerlei Unklarheiten, wie z. B. bei den dogmatischen Grundlagen für die Herleitung der Nichtigkeitsfolge oder bei der Frage der Auslegung und Anwendung des Art. 3 GG, dreierlei besonders zu Tage getreten: Zum ersten kann die Grundfrage des Verhältnisses von Tarifautonomie und Gleichheitssatz zueinander noch nicht als abschließend beantwortet angesehen werden. Während das BAG einerseits die Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an die Grundrechte begriindet, stellt es andererseits die Tarifvertragsparteien bei der Festlegung des persönlichen Geltungsbereichs des Tarifvertrages von der Bindung an Art. 3 GG frei. Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die Grundsätzlichkeit der Erwägungen, die zur Annahme einer Bindung an den Gleichheitssatz geführt haben, eine solche Einschränkung verträgt, ohne daß damit die Bindung an den Gleichheitssatz im Kern in Frage gestellt und die Tür zu einem grundsätzlich anderen Verständnis des Verhältnisses beider Verfassungsprinzipien zueinander geöffnet ist. Zum zweiten hat sich bei aller Vielfalt der Erscheinungsformen des Phänomens Gleichheitsverstoß gezeigt, das die Gemengelage zwischen der Pflicht der Gerichte zu Rechtskontrolle und Streitentscheidung einerseits und der Begrenzung der gerichtlichen Kompetenzen durch den Regelungsfreiraum der Sozialpartner andererseits sich immer wieder in denselben Problem- und Fragestellungen konkretisiert: So zeichnen sich die verfassungskonforme Auslegung - jedenfalls in der Art und Weise, wie sie durch das BAG gehandhabt wird -, die Teilnichtigkeitsfeststellung mittels eines modifizierten § 139 BGB, die richterliche Lückenfüllung im Wege ergänzender Tarifvertragsauslegung und schließlich die allgemeine Rechtsfortbildung des Tarifvertrages in besonderem Maße durch ein gestalterisches Element aus. Sie sind daher im Hinblick auf Art. 9 III GG in ihrer Zulässigkeit, ihren Voraussetzungen und Grenzen problematisch. Andererseits scheint die Aussetzung des Rechtsstreites, um die tarifautonome Korrektur des Tarifvertrages abzuwarten, dem Gebot zügiger Streitentscheidung und dem Prinzip der Rechtssicherheit nicht zu entsprechen. Erst recht scheint eine 4 Hartmann
so
I. Teil: Einführung in die Problematik
Klageabweisung infolge einer Gesamtnichtigkeit unter dem Aspekt des Gebotes effektiver Rechtsschutzgewährung unbefriedigend. Zum letzten eröffnet sich für die vielschichtige Problematik in ihrem Teilausschnitt "Lohngleichheit zwischen Mann und Frau" eine zusätzliche Dimension durch die unmittelbare Wirkung, die der EuGH Art. 119 EWGV zuschreibt. Alle diese Aspekte werden vom BAG in ihrer Problematik erkannt. Angesichts der teilweise kontroversen Lösungsansätze oder auch der ganz unterschiedlichen Handhabung ein und desselben Ansatzes kann von einer klaren und widerspruchsfreien Linie der Rechtsprechung in diesem verfassungsrechtlich so überaus sensiblen Bereich nicht die Rede sein. Ziel der vorliegenden Abhandlung ist daher, einen Beitrag zu dem schwierigen Unterfangen zu liefern, schärfere Konturen, klarere Abgrenzungen oder auch "praktische Konkordanzen"9s in dem Spannungs feld verfassungsrechtlicher Vorgaben zu entwickeln, in dem sich ein Arbeitsgericht bei der rechtlichen Würdigung von Gleichheitsverstößen in Tarifverträgen bewegt.
9' Zu diesem Begriff und seinem Zusammenhang mit dem Prinzip der Einheit der Verfassung Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 7lf.
Zweiter Teil
Art. 3 GGund die Folgen eines Gleichheitsverstoßes Erster Abschnitt
Die Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an Art. 3 GG Für das Arbeitsgericht, das mit dem Phänomen einer ungleich behandelnden tariflichen Regelung befaßt ist, stellt sich zunächst die Grundfrage, ob die Tarifvertragsparteien bei ihrer Regelungstätigkeit den Gleichheitssatz zu beachten haben. Erster Unterabschnitt
Die Frage des "Ob" einer Bindung Die Frage, ob der tarifautonome Gestaltungsfreiraum durch Art. 3 GG begrenzt wird, ist gleichbedeutend mit derjenigen nach der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien. Die Bejahung dieser Frage scheint - dies zeigt ein erster Blick auf die enorme Fülle an Literatur zu diesem Problem - dem (fast) allgemeinen rechts- und sozialpolitischen Empfinden zu entsprechen. So ist die Zahl derer, die eine unmittelbare Bindung der Tarifvertragsparteien an den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes ablehnen, relativ gering, gemessen an der erdrückenden Übermacht der Befürworter einer solchen BindungI.
1 WennScholzin: Handbuchd. Staatsrechts VI, § 151 Rn. 103, diese Bindung als "unbestritten" bezeichnet, so triffi dies allerdings nicht zu. Gegen eine unmittelbare Grundrechtsbindung sprechen sich insbesondere aus: Dürig in: MaunzIDüriglHerzog/Scholz, GG, Art. 1 Rn. 116; Canaris, AcP 184, S. 201ff.; ders., JuS 89,161,166; Starckin: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. 1', Art. 1 Rn. 161. Kirchhof, Rechtssetzung, S. 517ff.; für eine eingeschränkte Bindung etwa Zöllner! Loritz, Arbeitsrecht, § 7 III, S. 93.
52
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Um das gewünschte Ergebnis der Grundrechtsbindung zu begründen, wird eine Vielzahl von Ansätzen vertreten. Dabei weichen die Anknüpfungspunkte, die im einzelnen für die Argumentation gewählt werden, ganz beträchtlich voneinander ab.
I. Grundrechtsbindung als Konkretisierung der immanenten Grenzen der Tarifmacht Die überwiegende Anzahl der Befürworter einer Grundrechtsbindung geht davon aus, die Tarifvertragsparteien seien in ihrer Regelungsmacht an gewissermaßen externe Grundrechtssätze gebunden, die die Tarifrnacht "von außen her" bändigen. Grundrechtsdogmatisch ist auch ein anderer Weg denkbar: Man kann einen Schritt früher ansetzen und danach fragen, ob die Grundrechte der Koalitionsmitglieder nicht bereits immanente Begrenzungen der Tarifrnacht darstellen. Dabei werden unterschiedliche Modelle vertreten, wie die Grundrechte der Koalitionsmitglieder als Begrenzung bei der Definition der Tarifrnacht zu berücksichtigen sind. 1. Die vertretenen Ansätze
a) Die Lehre von G. Schnorr Schnorr sieht in der verfassungsrechtlich legitimen Kollektivmacht einen "Gemeinschaftsvorbehalt für die Ausübung der individuellen Grundrechte" angelegt2. Dieser mache im Einzelfall die Entscheidung erforderlich, ob ein Individualgrundrecht Vorrang vor der Verfassungs garantie zugunsten der Koalitionen habe oder durch jene begrenzt werde. Diese Suche nach einem Ausgleich zwischen zwei Grundrechtsgewährleistungen ist nichts anderes als die Bestimmung der "systematischen sachlichen Gewährleistungsschranken" i.S. Fr. Kleins3 bezogen aufArt. 9 III GG und die potentiell kollidierenden Individualgrundrechte4• Die Bestimmung dieser immanenten systematischen Schranken der Grundrechtsgewährleistung baut auf der Erkenntnis auf, daß wegen der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit des einzelnen GrundrechtsträgersS
2
Schnorr, FS E.Molitor, S. 229, 246; auch v.Harbou, Tarifautonomie, S. 7f.
) Klein in: v.MangoldtiKlein, GG, Bd. P, S. 125. • Diesen Ansatz Kleins wollen auch Misera, Tarifmacht, S. 81 f., und v.Harbou, Tarifautonomie, S. 5ff., für die Abgrenzung zwischen Kollektivmacht und Individualsphäre fruchtbar machen. S
Dazu BVerfGE 4,7, 15; 6, 389, 422; Starck in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. 1', Art. I Rn. lOS.
1. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Norrnsetzung an Art. 3 GG
53
eine Bestimmung der sachlichen Reichweite der Grundrechts nicht ohne Berücksichtigung des Schutzbereichs kollidierender Grundrechte anderer gleichgeordneter Grundrechtsträger möglich ist6 • Bei der vorzunehmenden Abwägung gebührten - so Schnorr - dem Individualgrundrecht mit personalem und ethischem Bezug uneingeschränkt der Vorrang vor der kollektiven Koalitionsfreiheit7.
b) Die Lehre von R. Scholz Den von Schnorr eingeführten Aspekt der immanenten Bindung greift Scholzs auf. Er tritt jedoch dem methodischen Ansatz entgegen, diese sei im Wege eines Ausgleichs und einer Harmonisierung unterschiedlicher und getrennter Verfassungsentscheidungen herauszuarbeiten. Scholz verneint die Möglichkeit einer Kollision zwischen der Ausübung von Individual- und Kollektivgrundrecht mit dem Hinweis auf einen unselbständigen Charakter der kollektiven Koalitionsfreiheit als individuelle Koalitionsfreiheit in "gebündelter" Form9 • Der Tarifvertrag sei "individuelle Grundrechtsausübung im status collectivus". Daher "stehe" der einzelne dem Tarifvertrag nicht "gegenüber", sondern er sei "in ihm" 10. Da also das Individual- mit dem Kollektivrecht identisch sei, stelle es mithin keine externe Schranke für die kollektive Betätigung dar, vielmehr finde die Koalitionsvereinbarung ihre wesensmäßige Funktionsgrenze in eben diesem Individualrecht!!. Daher könne der Tarifvertrag nicht die Grenzen überschreiten, die ihm die koalitionsmäßig ausgeübten Individualrechte setzten!2. 2. SteUungnahme
Schnorr sucht die Begrenzung der Tarifautonomie durch die Individualgrundrechte der Koalitionsmitglieder über die Heranziehung systematischer verfasSo auch Stern IIIIl, S. 1277f., der die Notwendigkeit eines Abwägungs- und Harrnonisierungsvorganges sieht. Auch Scholz in: MaunzlDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 9 Rn. 357, will die Gewährleistungsschranken mit Rücksicht auf die auftretenden Kollisionen bestimmen. Dazu ebenfalls Lerche, Arbeitskampf, S. 41, und Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 114. 7
Schnorr, FS E.Molitor, S. 229, 247; ähnlich Misera, Tarifmacht, S. 81 ff.
I
Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 369ff.
• Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 150, 369ff; anders offenbar später im Handbuch d. Staatsrechts VI, § 151 Rn. 103, wo er den Weg über eine Kollisionslösung für erforderlich hält. 10
Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 370.
11
Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 372.
12
Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 372.
54
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
sungsimmanenter Schranken des Art. 9 III GG zu bestimmen. Damit beschreitet er den methodisch anerkannten Weg des Konfliktausgleichs zwischen kollidierenden Verfassungsentscheidungen. Ausgangssituation eines solchen Abstimmungs- und Harmonisierungsvorgangs zur Herstellung einer praktischen Konkordanz ist, daß sich eine Antinomie zwischen den Grundrechten verschiedener Grundrechtsträger ergibt. In einem solchen Widerstreit prinzipiell gleichrangiger Grundrechtsberechtigungen muß aus dem Prinzip der Einheit der Verfassung 13 und dem Gebot der Grundrechtseffektivierung folgen, daß nicht die Grundrechtsposition eines der Grundrechtssubjekte völlig zugunsten der des anderen zurücktritt, sondern daß bei den die größtmögliche Geltung verliehen wird. Tatbestandsvoraussetzung einer solchen methodischen Vorgehensweise ist aber, daß tatsächlich eine Kollision zwischen Gewährleistungen besteht, die beide im Hinblick auf die andere prinzipiell gleichrangige Geltung beanspruchen. Daran fehlt es jedoch, wenn der Rechtsordnung die Bestimmung zu entnehmen ist, daß der eine Grundrechtsträger bei seiner Rechtsausübung an die Grundrechte des anderen gebunden ist und diese uneingeschränkt zu respektieren hat. Der Ansatz Schnorrs ist methodisch korrekt, setzt aber voraus, daß die Tarifvertragsparteien bei ihrer Grundrechtsausübung nicht bereits anderweitig an die Grundrechte der Tarifunterworfenen gebunden sind. Der Begründung einer Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien im Wege der Konkordanzherstellung kann somit nur eine subsidiäre Bedeutung zukommen. Dies beachtet Schnorr zu wenig, wenn er die Begrenzung der Tarifrnacht ohne weiteres auf diese Weise herleitet, ohne vorher nachgewiesen zu haben, daß es im übrigen an einer Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien fehlt.
Scholz setzt bei seiner These von der "Rechtsidentität" von individual er und kollektiver Ebene im Ausgangspunkt ganz zu Recht beim besonderen Charakter und der Funktion der kollektiven Koalitionsfreiheit an. So erfolgt die anerkannte 14 Einbeziehung der Koalition in den Grundrechtsschutz des Art. 9 III GG in Konsequenz der Individualrechtsgewährleistung; sie ist teleologisch, d. h. durch das Prinzip der Grundrechtseffektivität motiviert: Das von der Verfassung mit Art. 9 III GG intendierte assoziative Selbsthilferecht wäre "unvollkommen und ein Schattenbild", wenn nicht der Zusammenschluß der Individuen an sich
13
'4
Dazu Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 71; Däubler, Mitbestimmung, S. 210.
Vgl. nur BVerfGE 4, 96, 10If.; 28, 295, 304; 58, 233, 246; 64, 208, 213; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht 11, § 91 III I, S. 38If.; Richardi, AöR 93, S. 243, 262 m. zahlreichen Nachweisen; BiedenkopJ, Tarifautonomie, S. 88; Badura, Arbeitsrecht. d. Ggw. 15, S. 17, 19f.; Dietz in: BeUermannlNipperdey/Scheuner, Grundrechte 111/1, S. 458f.
1. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Nonnsetzung an Art. 3 GG
55
geschützt wäre lS • Praktisch ist überhaupt erst durch die Anerkennung der kollektiven Seite der Koalitionsfreiheit die Realisierbarkeit des Individualgrundrechts gewährleistet. Die kollektive Koalitionsfreiheit ist damit eine - von ihrem Regelungsziel her gewissermaßen unselbständige und akzessorische l6 - Hilfsgewährleistung im Interesse effektiver Entfaltung des Individuums l7 • Daraus folgt nun aber nicht - wie Schalz meint -, daß der Abschluß eines Tarifvertrages nichts anderes sei als individuelle Freiheitsausübung und daß er schon aus diesem Grunde wesensmäßig der Begrenzung durch die Individualgrundrechte der Koalitionsmitglieder unterliege. Die Betätigung der Koalition unmittelbar als Individualrechtsausübung anzusehen, würde bedeuten, die faktische und rechtliche Eigenständigkeit der Koalitionen und damit den Umstand zu verkennen, daß das "Geschöpf' Koalition - wie H. Kroger l8 es ausgedrückt hat - "über seinen Schöpfer hinausgewachsen ist". Daß in der Realität das Koalitionsmitglied nicht handelt und aufgrund der rechtlich verselbständigten Stellung der Koalition deren Betätigung "gegenübersteht", bessernoch: ihr ausgeliefert ist, ist offensichtlich. Der Umstand, daß das Kollektivrecht seine Wurzeln im Individualrecht hat, begründet daher keine "Rechts identität", die eine Kollision der kollektiven Ebene mit der der Individualgrundrechte ausschlösse. Aus dem beschriebenen Verhältnis von kollektiver und individueller Koalitionsfreiheit zueinander folgt zwingend lediglich, daß die erstere als Hilfsgewährleistung inhaltlich nicht weiter zu reichen vermag als die letztere. Insoweit findet tatsächlich die kollektive Koalitionsfreiheit "ihre wesensmäßige Funktionsgrenze im Individualrecht"19. Daraus läßt sich aber eben nur folgern, daß die Reichweite des Individualrechts der Koalitionsfreiheit zugleich die äußerste Grenze des Kollektivrechtes darstellt. Die Bedeutung der anderen Individualgrundrechte für die Definition der kollektiven Koalitionsfreiheit ist durch diese Feststellung aber überhaupt nicht betroffen. Ein "Immanenzansatz", der die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien erklären will, muß jedoch gerade zeigen, daß die Tarifautonomie durch alle Grundrechte der Koalitionsmitglieder immanent beschränkt wird. Dies vermag der Ansatz von Schalz jedoch nicht zu leisten.
" Zu Art. 159 WRV so bereits RGZ 111, 199,202; Scholz in: MaunzIDüriglHerzog/Scholz, GG, Art. 9 Rn. 23; ders., Handbuch d. Staatsrechts VI, § 151 Rn 88 . •6
Vgl. RGZ 111, 199,202; Küchenhoff, FS Nipperdey H, S. 317, 339f.
Die Individualbezogenheit und dienende Funktion der kollektiven Koalitionsfreiheit stellen auch Säcker, Grundprobleme, S. 20,146, Misera, Tarifrnacht, S. 27, und Bengelsdorf, NZA 91, 121, 130, heraus. 17
11
Gutachten 46. DJT H, S. 7, 88 .
•9
Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 372; ausführlich auch Belling, Günstigkeitsprinzip, S. 68ff.
56
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
3. Ergebnis hinsichtlich des Immanenzansatzes Von den vertretenen Immanenzansätzen ist lediglich derjenige von Schnorr potentiell geeignet, die Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien zu erklären. Allerdings setzt seine Erklärung im Wege der Abwägung zwischen konkurrierenden Grundrechtsverbürgungen voraus, daß Tarifautonomie und Individualgrundrechte als gleichrangige tatsächlich miteinander kollidieren. Dies jedoch ist nur dann der Fall, wenn die Tarifvertragsparteien bei ihrer Grundrechtsausübung nicht bereits aus anderen Rechtsgründen zur Respektierung der Individualgrundrechte der Tarifunterworfenen verpflichtet sind. Dieser Erklärungsansatz ist damit subsidiärer Natur.
11. Die an die Rechtsnormqualität der Tarifregelungen anknüpfenden Ansätze 1. Die vertretenen Ansätze Den meisten Begründungsansätzen, die zur Herleitung der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien verfolgt werden, ist gemeinsam, daß sie einen formalen Aspekt als Anknüpfungspunkt für die Argumentation wählen und auf der Einordnung der tarifvertraglichen Regelung der Arbeitsbedingungen als objektives Recht aufbauen.
a) Die sog. Delegationstheorie Die Prämisse von der Rechtsnormqualität des normativen Teils eines Tarifvertrages liegt insbesondere der sog. Delegationstheorie zugrunde. Ihre Vertreter gehen zunächst davon aus, daß die N ormsetzungsmacht der Tarifvertragsparteien nicht originär ist, sondern auf der konstitutiven Übertragung durch das TVG beruhe 20 •
20 In diesem Sinne wohl BVerfGE 4, 96, 108; ferner BAGE 1,258,264; 4, 240, 251; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrechtll, § 94 11 3b), S. 432; Krüger, RdA 57, 201, 203; Reuss, AuR 60,33; Küchenhoff, FS Nipperdey 11, S. 317, 340; Ossenbühl, NJW 65, 1561, 1562 Fn. 11; Petersl Ossenbühl, Übertragung, S. 15; Hinz, Tarifhoheit, S. 137f.; ähnlich Säcker, Grundprobleme, S.74f.; Lieb, Arbeitsrecht, § 6 I I, S. 140.
1. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an Art. 3 GG
57
Aus dem Umstand dieser "Delegation"21 wird die Bindung der auf die Sozialpartner übertragenen Rechtssetzungsmacht an die Grundrechte hergeleitet: Der staatliche Gesetzgeber könne wegen seiner eigenen Bindung durch Art. 1 III GG gar keine Rechtssetzungsmacht verleihen, die dieser Bindung enthoben seil2. Daher hafte der auf dem TVG beruhenden delegierten Rechtssetzungsmacht dieselbe Bindung an die Grundrechte an, wie sie Art. 1 III GG für den staatlichen Gesetzgeber vorsieht. Nach diesem Ansatz folgt also die Grundrechtsbindung bereits aus dem Umstand der inhaltlich beschränkten Verleihung der Rechtssetzungsmacht.
b) Die Lehre von der Anwendbarkeit des Art. 1 IIf GG Die zugrunde gelegte Rechtsnormqualität des normativen Vertragsteils bedeutet zugleich, daß dessen Zustandekommen als "Gesetzgebung im materiellen Sinne" zu qualifizieren ist. Nach verbreiteter Ansicht läßt sich diese tarifautonome Betätigung der Tarifvertragsparteien unter den Begriff"Gesetzgebung" in Art. 1 III GG subsumieren23 • Geht man hiervon aus, so folgt aus dieser Verfassungsnorm unmittelbar die Bindung der Tarifvertragsparteien an den Grundrechtsteil des Grundgesetzes. Diese Sichtweise setzt somit einen Schritt später an als die Delegationstheorie und sieht die Grundrechtsbindung im Wesen des tarifautonomen Rechtssetzungsaktes begründet.
2. Stellungnahme a) Grundsätzliches zur Anknüpfung an die Rechtsnormqualität als formellem Aspekt Der gemeinsame Ausgangspunkt der genannten Begründungsansätze, die Rechtsnormqualität des normativen Teils des Tarifvertrages, kann angesichts der 21 Die Definition geht zurück auf Triepel, Delegation und Mandat im öffentlichen Recht, S. 23: "Delegation i. S. d. öffentlichen Rechts ist der Rechtsakt, durch den der Inhaber einer staatlichen oder gemeindlichen Zuständigkeit seine Kompetenz ganz oder zum Teil auf ein anderes Subjekt überträgt."
22 Besonders klar: BAGE 4, 240, 25 I; ebenso Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 39; Küchenhoff, FS Nipperdey 11, S. 317, 341; Hinz, Tarifhoheit, S. 159. 2l So BAGE I, 158, 262f; 4, 240, 252; Galperin, IZ 56,105; ders., FS E.Molitor, S. 143, 157; Frey, AuR 57, 161, 167; Reuss, AuR 60, 33; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch lI/I, § 18 III 4, S. 350f., § 1911, S. 373; Kiichenhoff, RdA 69, 97, 105; Baumann, RdA 87, 270.
58
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
geltenden Rechtslage in seiner Richtigkeit nicht bestritten werden: Selbst wenn die an sich unmißverständliche Bezeichnung als "Rechtsnorm" in § 1 I TVG noch Zweifel lassen sollte24, die Anordnung "unmittelbarer und zwingender" Wirkung dieser "Rechtsnorm" (§ 4 I TVG), stellt ihren Rechtscharakter unwiderlegbar klars. Versuche, Natur und Wirkung der Tarifnormen anband rein rechtsgeschäftlicher Konstruktionen zu erklären26, müssen daher de lege lata als rechtstheoretische Überlegungen ohne praktische Relevanz angesehen werden27 • Die Prämisse der Qualifikation als Rechtsnorm ist mithin nicht angreifbar8•
2'
In diesem Sinne Ramm, Parteien, S. I.
2' Vgl. BVerfGE 18, 18,26; 44, 322, 341; auch BVerfGE 64, 208, 214; Sieg, AcP 151, S. 246, 247, 251; Mayer-Maly, RdA 55, 464f. Die Rechtsnormqualität wird zumeist als unstreitig bezeichnet: Stern, IW1, S. 1274; Kirchhof, Rechtssetzung, S. 181; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 Rn. 14, alle m. w. N. 26 So zur Zeit der Geltung der TVVO insbes. Jacobi, Grundlehren, S. 249ff., der den Tarifvertrag insgesamt als "kollektiven Schuldvertrag" ansah und die Annahme einer bürgerlich-rechtlichen Repräsentation durch die Koalitionen favorisierte, bes. S. 272ff. Für das TVG: Ramm, Parteien, S. 84ff., und JZ 62, 78ff., der in seinem vertragsrechtlichen Erklärungsversuch an Jacobi anknüpft, während Bötticher, Gestaltungsrecht, S. 18ff. an ein "Dauergestaltungsrecht der Tarifvertragsparteien kraft Unterwerfung" denkt, das er dogmatisch an § 317 BGB festmacht. 27 Das sieht im Gegensatz zu Ramm, Parteien, S. I, ganz deutlich Bötticher, Gestaltungsrecht, S. 19 u. 22, wenn er sagt, daß die Wirkung der Tarifnorm auch über § 317 BGB "hätte erklärt werden können", wenn nicht der Normcharakter durch das positive Recht festgelegt worden wäre. So auch Adomeit, RdA 67, 297, 305, der eine mandatarische Konstruktion des Tarifvertrages für möglich hält, aber die Entscheidung des TVG gegen dieses Modell erkennt. Im übrigen überzeugend gegen Jacobi Sinzheimer, FG RG IV, S. I, 2ff. Gegen das Modell Ramms, das für die Erklärung der zwingenden Wirkung zu der äußerst zweifelhafte Konstruktion einer verdrängenden unwiderruflichen Vollmacht Zuflucht suchen muß, überzeugend Zöllner, RdA 64, 443, 444f., und Bötticher, Gestaltungsrecht, S. 19.
2. Die auf ihr aufbauenden Lehren sehen sich jedoch dem Einwand ausgesetzt, daß sie die Grundrechtsbindung nur für die Handhabung des tarifvertragstypischen Instrumentariums, eben der Setzung tariflicher Rechtsnormen, begründen können (Misera, Tarifmacht, S. 67 Fn. 397; Reuter, ZfA 78, S. I, 12; Gamillscheg, Grundrechte, S. 104; vgl. auch Däubler, Mitbestimmung, S. 235). Mag auch die von Reuter (ZfA 78, S. I, 12) aufgezeigte Gefahr einer Umgehung dieser Bindung durch im Ergebnis wirkungsgleiche schuldrechtliche Vereinbarungen in Tarifverträgen und eine entsprechende Bindung der Arbeitgeber im Verhältnis zu ihrem Verband unrealistisch sein; als Gedankenspiel zeigt dies doch, daß die auf die Normqualität abstellenden Ansätze das Problem der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien eben nicht in all seinen Bereichen erfassen können. Entgegen Reuter (lfA 78, S. I, 12) entwertet dies jedoch diese Ansätze keineswegs apriori. Man muß sich nur im klaren darüber sein, daß sie eben nur eine Teillösung bringen können, dies aber immerhin für den praktisch wichtigsten Teil der Ausübung der Kollektivmacht: den hier allein interessierenden Bereich tarifvertraglicher Normsetzung.
1. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an Art. 3 GG
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b) Zum Aspekt eingeschränkter Ausstattung mit Rechtssetzungsmacht durch den Staat - insbesondere zur Delegationstheorie Die Stringenz nicht nur der Delegationstheorie, sondern jedes Ansatzes, der die Grundrechtsbindung durch eine von vornherein eingeschränkte Ausstattung mit Rechtssetzungsmacht durch den Staat zu erklären sucht, hängt von drei Voraussetzungen ab: (aa) Zum einen darf den Tarifvertragsparteien nicht bereits staatsunabhängig eine eigene, originäre Rechtssetzungsmacht zustehen. Beruhte nämlich diese Macht nicht auf staatlicher Autorisation, so kann man eine Grundrechtsbindung jedenfalls nicht auf die inhaltliche Beschränkung dieser staatlichen Autorisation auf grundrechtlich gebundene Rechtsrnacht zurückführen29 • (bb) Weiter muß ein staatlicher Autorisationsakt tatsächlich gegeben sein. (cc) Schließlich müßte sich die darauf aufbauende These als richtig erweisen, daß die eingeräumte Rechtsrnacht zwingend den Schranken unterliegt, die für sie in den Händen des autorisierenden Staates bestehen. aa) Das Erfordernis einer staatlichen Autorisation der Normwirkung Bei der Beantwortung der Frage nach einem originären Charakter tarifvertraglicher Rechtssetzungsbefugnis muß Ausgangspunkt die Erkenntnis sein, daß Rechtssetzung als verbindliche Formulierung heteronomer3o Normen zu ihrer Geltung und Verbindlichkeit einer Legitimation bedarfH • Bevor man sich der Frage"zuwendet, ob außerstaatliche Umstände wie die kollektive Privatautonomie der Verbände 32 oder die freiwillige verbandsrechtliche Unterwerfung der Koalitionsmitglieder33 die erforderliche Legitimation zu verschaffen vermögen, ist zunächst die vorrangige Frage zu klären, ob nicht im sozialen Rechtsstaat jegliche Rechtssetzung zwingend staatlich legitimiert sein muß. Diese Frage ist identisch mit der nach dem formellen Rechtssetzungs- oder jedenfalls dem Rechtsanerkennungsmonopol des Staates.
29
Darauf weist zutreffend Reuter, ZfA 78, S. I, 12, hin. Vgl. auch Schnorr, JR 66,327,330.
30
Zur Eigenschaft der Heteronomitätjeglicher Rechtsnorm, Kirchhof, Rechtssetzung, S. 84ff.
31 v.Olshausen, JZ 67, 116, 117. Grundlegend dazu Kelsen, Rechtslehre, S. 196ff. und passim, der die Legitimation einer Norm in einer übergeordneten Norm sieht. Dies führt zu einem Regreß, der schließlich in der gedachten, die gesamte Rechtsordnung legitimierenden "Grundnorm" endet. Im Sinne dieser Stufentheorie auch Engisch, Einheit, S. 10 ff.
B. Bogs, RdA 56, 1,5; Zöllner/Loritz, Arbeitsrecht, § 7 III, S. 93.
32
SO
33
Zöllner, RdA 64, 443, 446.; Richardi, Kollektivgewalt, S. 164; Canaris, JuS 89, 161, 166.
Z.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Die Gegenposition zu der seit Jacobi 34 ganz herrschenden Annahme eines solchen staatlichen Monopols wird gebildet durch die letztlich auf die genossenschaftliche Rechtstheorie v. Gierkes3S zurückgehende Vorstellung vom Nebeneinander mehrerer in der Gesellschaft erwachsener Rechtsordnungen36• Gegen die Anerkennung originär staatsunabhängiger Rechtsordnungen im Rahmen eines pluralistischen Rechtssystems spricht zunächst, daß es konstitutives Merkmal einer Rechtsordnung ist, daß die in ihr enthaltenen sozialen Sollensregeln real durchsetzbar und zwangsbewehrt sind37• Dies zu garantieren ist im modemen Staatswesen, nicht zuletzt aufgrund seines Gewaltmonopols, nur dem Staat möglich38 • Entscheidend gegen ein pluralistisches Rechtssystem spricht aber schließlich die sozialstaatliche Ausrichtung des Grundgesetzes: Im sozialen Rechtsstaat kommt dem Staat eine uneingeschränkte Verantwortung auch für die Gerechtigkeit objektivrechtlicher sozialer Regeln ZU39. Korrelat dieser Verantwortung muß die Erforderlichkeit einer "Absegnung" durch den Staat als integraler Bestandteil der Legitimation zur Rechtssetzung sein. Eine originäre, d. h. staatsunabhängige Fähigeit der Tarifvertragsparteien zur Rechtssetzung läßt sich daher unter der Geltung des Grundgesetzes nicht begründen. Damit die in der Handlungsform des Vertrags aufgestellten sozialen Regeln mit Rechtsqualität ausgestattet sind, ist vielmehr staatlicherseits eine "Autorisation" erforderlich40 - wie auch immer diese rechtstechnisch ausgestaltet sei. Eine originäre Rechtssetzungsmacht der Tarifvertragsparteien scheitert jedoch nicht nur am Rechtsanerkennungsmonopol des Staates. Selbst wenn man davon ,. Grundlehren, S. 79 Fn. 11. " Dt. Privatrecht I, § 15 III 7, S. 119f., § 19 III 5, S. 150.
'6
Sinzheimer, Arbeitsrecht I, S. 163; Herschel, Referat 46. DJT 11, D 16.
37
Dazu schon v.Jhering, Zweck I, S. 338.
)8
Kirchhof, Rechtssetzung, S. 45, 133f.
J' Gamillscheg, AcP 164, S. 385, 400; Richardi, Kollektivgewalt, S. 46; Lieb, Rechtsnatur, S. 56; Reuter, ZfA 78, S. I, 19; ders. in: MüKo, § 25 Rn. 8; Krüger, RdA 57,20 I, 204, spricht vom Staat als dem "Hüter der Richtigkeit des Rechts". Auch Rehbinder, JR 68,167, 169, hält eine originäre außerstaatliche Rechtssetzungsmacht im modemen Rechtsstaat für undenkbar. 40 BAGE4, 240,251;Jacobi, Grundlehren, S. 79 Fn. 11;Hueck,JhJb73, S. 33, 85; Sieg,AcP 151, S. 246, 253; Schnorr v. Carolsfeld, Arbeitsrecht, § 2 B I 2a), S. 59; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht 11, § 9411 3b), S. 432; Krüger, RdA 57, 201, 203; Galperin, FS E.Molitor, S. 143, 153 Fn. 38; Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil", § 43 III, S. 279; Hueckl Nipperdey, Lehrbuch 1111, § 18 III 2, S. 347; v.Brunn, Vertragsbedingungen, S. 75; Richardi, Kollektivgewalt, S. 32, 46; Adomeit, Rechtsquellenfragen, S. 156; Hinz, Tarifhoheit, S. 138; Badura, Arbeitsrecht. d. Ggw. 15, S. 17,21; Reuter, ZfA 78, S. I, 12; Scholz in: MaunzlDürigi HerzogiScholz, GG, Art. 9 Rn. 301 u. 357; Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 71; Kirchhof, Rechtssetzung, S 134; Lieb, Arbeitsrecht, § 6 I I, S. 140; ders., Rechtsnatur, S. 58ff.; Hertwig, RdA 85, 282,285.
1. Abschnitt: Oie Bindung tarifvertraglicher Norrnsetzung an Art. 3 GG
61
absehen wollte, ließe sich eine hinreichende Legitimation für die Rechtsqualität der Koalitionsvereinbarung nicht finden. Insbesondere kann die unmittelbare und zwingende Wirkung für Dritte als Charakteristikum objektiven Rechts41 nicht aus der Privatautonomie der Verbände allein erklärt werden42 : Autonomie bedeutet die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Bedenkt man, daß Träger der Autonomie nur der einzelne Verband, nicht aber eine Gemeinschaft aus Arbeitgeberverband und Gewerkschaft ist43, so ergibt sich, daß diese Autonomie der einzelnen Koalition die Fähigkeit zur Selbstorganisation und zur Selbstbindung gegenüber Dritten verleiht. Sie beinhaltet damit zwar die Befugnis zur inhaltlichen Ausgestaltung der Tarifregelungen, aber eben nicht die Zuständigkeit, diesen Regeln normative Wirkung für Dritte - und das sind die Tarifunterworfenen im Verhältnis zu den Vertragschließenden - zukommen zu lassen44 • Die im Tarifvertrag enthaltene "Rechtssetzung zur gesamten Hand"4s bedarf vielmehr der Einräumung einer über die Ausgestaltungsautonomie hinausgehenden zusätzlichen Zuständigkeit. Deren nicht-staatliche Begründung könnte man überhaupt nur in der freiwilligen Unterwerfung der Koalitionsmitglieder unter die Verbandsgewalt als privatrechtlichen Sanktionierungsakt sehen46 • Der gegen diese Argumentation aufder Hand liegende Einwand, die Normativwirkung gegenüber Außenseitern gern. § 3 11 TVG lasse sich so jedenfalls nicht begründen47, reicht allein noch nicht aus, um die These von der Legitimation der Normwirkung durch privatrechtliche Unterwerfung zu widerlegen. Damit ist zunächst nur dargetan, daß jedenfalls insoweit staatliche Legitimation im Spiele sein muß48 . Die Einwände gegen die Unterwerfungsthese sind grundsätzlicherer Natur: Zunächst ist schon die Annahme der willentlichen
.1
V gl. z. B. v. Gierke, Ot. Privatrecht I, § 15 11 2, S. II3f.
., So aber Bogs, RdA 56,1,5. o v.Gierke, Ot. Privatrecht III, § 199 III, S. 605; gegen Bogs, RdA 56,1,5, zutreffend Nikisch 11, § 69 11 3, S.2I5; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch 1111, § 18 III 3, S. 348 Fn. 21; Rehbinder, JR 68, 167, 168 .
.. v.Gierke selbst hat folgerichtig Arbeitgeberverband und Gewerkschaft die Eigenschaft abgesprochen, zusammen eine zur Selbstgesetzgebung fähige Gemeinschaft zu sein, ot. Privatrecht 111, § 199111, S. 605. Weiterhin: Sinzheimer, FG RG IV, SI, llf.; Krüger, RdA 57, 201, 203; ders., Gutachten 46. OJT 11, S. 7, 32 f.; Galperin, FS E.Molitor, S. 143, 145; HueckfNipperdey, Lehrbuch 1111, § 18 III 2, S. 347; Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 13, 37f.; Badura, Arbeitsrecht. d. Ggw. 15, S. 17, 21; Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 71 f.; Lieb, Arbeitsrecht, § 6 I 1, S. 140 . ., Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht 11, § 94 11 3e), S. 433 . .. So Schmidt-RimplerIGiesekeIFriesenhahnIKnur, AöR 76, S. 165, 180; Richardi, Kollektivgewalt, S. I64;ders., ZfA 70, S. 85, 88f.;Zöllner, RdA64,443,446; Canaris,JuS 89,161, 166 . •7
Gamillscheg, Grundrechte, S. 104f.; Hertwig, RdA 85, 282, 285f.
•• Bötticher, Gestaltungsrecht, S. 22f.
62
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Unterwerfung unterjede einzelne Tarifregelung wohl eher Fiktion als realistische Auslegung des Koalitionsbeitritts, der ja den einzigen privatautonomen Akt des Mitglieds darstellt. Selbst wenn man aber einen - summierten - privatautonomen Willen der einzelnen Mitglieder unterstellt, so kann diese willentliche Unterwerfung nicht den Normcharakter begründen: Das Wesen der Norm ist gerade, daß sie zwingend und damit willensunabhängig gilt49 • Diese willensunabhängige Wirkung nun gerade durch summierten Willensakt zu erklären, erscheint widersprüchlich und nicht haltbarSO. Die Bedeutung des Beitritts zum Verband erschöpft sich darin, daß durch ihn einerseits die Verbandsgewalt mitkonstituiert und so die privatautonome inhaltliche Gestaltung des Tarifvertrages abstrakt legitimiert wird. Zur Normqualität der Tarifvereinbarung selbst ist dagegen die staatliche Autorisation zwingend erforderlichs, .
bb) Die rechtliche Konstruktion des Autorisationsaktes im Wege einer im TVG enthaltenen Rechtsgeltungsanordnung Daß der somit für die Normqualität unverzichtbare staatliche Autorisationsakt erfolgt ist, ist unzweifelhaft; Differenzen ergeben sich einerseits bei der Frage, ob dieser Akt im Erlaß des TVG liegt oder bereits in Art. 9 III GG verkörpert istS2 , andererseits bei der Einordnung der für den Autorisationsakt zu unterstellenden dogmatischen Konstruktion. Was die erste Frage betrifft, so ist Art. 9 III GG gewiß so auszulegen, daß er über die bloße Garantie eines Regelungsfreiraumes für die Koalitionen hinaus den Staat dazu verpflichtet, ein Tarifvertragssystem bereitzustellen, das eine effiziente, staats freie Festlegung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ermög-
•• v.Gierke, Dt. Privatrecht I, § 1511 2, S. I 13f.; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch II/I, § 18 III I, S. 346; v.Brunn, Vertragsbedingungen, S. 75. 50 Vgl. EnnecceruslNipperdey, Allgemeiner Teil u , § 32 III 4, S. 210; im Ergebnis auch Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 37 Fn. 80; Hertwig, RdA 85, 282, 285. 51 Hueck/Nipperdey, Lehrbuch II/I, § 18 III 3, S. 349f. Fn. 23; Lieb, Rechtsnatur, S. 63; Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 38f.; Adomeit, Rechtsquellenfragen, S. 136f; Kirchhof, Rechtssetzung, S. 133f. 52 Sog. Lehre von der verfassungsunmittelbaren Autonomie der Koalitionen. Dafür Galperin, FS E.Molitor, S, 143, 157; Martens, Rechtsbegriff, S. 164; Kunze, BB 64, 1311, 1313; Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 104f.; Weber, Koalitionsfreiheit, S. 24; unscharf Hueck/Nipperdey, Lehrbuch II/l, § 1811 2d), S. 346, die die gesetzliche Ermächtigung in Art. 9 III und dem TVG sehen.
1. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an Art. 3 GG
63
lichtS3 • Allerdings garantiert des Grundgesetz nicht genau das Tarifvertragssystem, wie es seine Form im TVG gefunden hatS4 ; dies deshalb nicht, weil dem Verfassungsgeber zwar der kollektive Normenvertrag vor Augen stand, dies aber nicht die einzig effektive und praktikable Konstruktion des Tarifvertrages istss • Das zeigt auch ein Blick nach England oder Belgien, in denen Tarifverträge nicht ohne weiteres Normwirkung entfaltens6• Es spricht daher einiges dafür, die Normwirkung nicht als Teil des von Art. 9 III GG geschützten Kernbereichs der kollektiven Koalitionsfreiheit, sondern nur als eine der Regelungsformen anzusehen, die den Anforderungen des Art. 9 III GG genügenS7 • Selbst wenn man aber die Normativwirkung als von Art. 9 III GG gefordert ansehen wollte S8 , so wäre diese Grundrechtsnorm allein zu unpräzise in ihren Aussagen und Vorgaben, als daß die Einräumung einer Rechtssetzungskompetenz in Art. 9 III GG selbst und unmittelbar gesehen werden könnte s9 • Art. 9 III GG könnte allenfalls einen Regelungsauftrag enthalten, der auf die Bereitstellung eines ausdifferenzierten normenvertraglichen Instrumentariums gerichtet ist. Diesem wäre der einfache Gesetzgeber dann mit dem Erlaß des TVG nachgekommen. Jedenfalls aber ist die "Ermächtigungsgrundlage" für die Normativgeltung des Tarifvertrages im TVG zu sehen60 •
" So in st. Rspr. das BVerfG, z. B. BVerfGE4, 96,106; 20, 312, 317; 50, 290, 371; 58, 233, 248f.; Säcker, Koalitionsfreiheit, S. 72; PeterslOssenbühl, Übertragung, S. 15; Scholz in: MaunzIDürigi HerzogiScholz, GG, Art. 9 Rn. 302; Kirchhof, Rechtssetzung, S. 181 f. SI Dies wird ebenso stetig und deutlich vom BVerfG betont: BVerfGE 20, 312, 317; 50, 290, 371; Scholz, Handbuch d. Staatsrechts VI, § 151 Rn. 16, 102; ders. in: MaunzlDüriglHerzogiScholz, GG, Art. 9 Rn. 299f.; PeterslOssenbühl, Übertragung, S. 14; dagegen, daß mit dem Recht, die Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen zu gestalten, notwendig die Kompetenz verbunden ist, dies in normativer Form zu tun, auch Nikisch 11, § 6011 2, S. 55, und Schnorr, JR 66, 327, 329.
" Hinz, Tarifhoheit, S. 134; Adomeit, Rechtsquellenfragen, S. 136; Scholz, Handbuch d. Staatsrechts VI, § 151 Rn. 102. 56
Hinz, Tarifhoheit, S. 134 m. w. N. So auch Adomeit, Rechtsquellenfragen, S. 136.
57 PeterslOssenbühl, Übertragung, S. 14; Kirchhof, Rechtssetzung, S. 182; Waltermann, RdA 90,138,141, dort auch Fn. 23.
" So Nikisch 11, § 60 11 2, S. 55; Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 102ff.; Säcker, Koalitionsfreiheit, S. 72; Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 67; auch Scholz, FS Müller, S. 509, 529f., im Gegensatz zu seinen sonstigen Äußerungen. 59 Kirchhof, Rechtssetzung, S. 179; ausführlich zur mangelnden Eignung des Art. 9 111 GG als Kompetenznorm Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 75f. A. A. offenbar DäublerlHege, Koalitionsfreiheit, Rn. 259 .
.. BAGE I, 258, 264; 4, 240, 251; Säcker, Koalitionsfreiheit, S. 72; PeterslOssenbühl, Übertragung, S. 15; Scholz in: MaunzIDüriglHerzogiScholz, GG, Art. 9 Rn. 30 I; ders., Handbuch d. Staatsrechts VI, § 151 Rn. 102; Ossenbühl, Handbuch d. Staatsrechts 111, § 61 Rn. 46; Kirchhof, Rechtssetzung, S. 179ff., 182ff.; Waltermann, RdA 90,138,141 Fn. 23.
64
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Was nun den Streit um die rechtstechnische Erklärung dieser Autorisation durch das TVG angeht, so scheint er auf den ersten Blick von rein theoretischem Interesse zu sein. Für die hier im Zentrum stehende Frage der Begründung der Grundrechtsbindung tarifvertraglicher Normsetzung ist jedoch - wie sich zeigen wird - die genaue dogmatisch-konstruktive Erscheinungsform der Autorisation von erheblicher Bedeutung. Die beiden denkbaren Erklärungsmodelle61 sind zum einen die Unterstellung einer "echten Delegation" der Rechtssetzungsbefugnis i. S. Triepels 62 , d.h. eine Kompetenzübertragung vom Staat auf die Tarifvertragsparteien63 - wenn man so will zur gesamten Hand. Zum andern kommt als Erklärung eine auf den Tarifvertrag als Handlungsform bezogene pauschale staatliche Verleihung des Rechtscharakters in Betracht64 • Grundvoraussetzung für die Möglichkeit einer Delegation als Übertragung staatlicher Macht ist das Bestehen eigener Kompetenz beim Übertragenden6s • Der Bund hat gern. Art. 74 Nr. 12 i. V. m. Art. 72 GG die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für das Arbeitsrecht. Diese Feststellung reicht zur Bejahung der erforderlichen Ursprungskompetenz seitens des Staates jedoch noch keineswegs aus66 • Bei der Bestimmung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes ist vielmehr Art. 9 III GG zu beachten. Diese Norm garantiert den Koalitionen mit dem Kernbereich der Tarifautonomie einen im wesentlichen staatsfreien Raum für die selbständige Festlegung der Arbeits- und Wirtschafts-
61
Dazu allgemein Kirchhof, Rechtssetzung, S. 138.
62
Delegation, S. 23.
61 So wohl BVerfGE 4, 96, 108; BAGE 1, 258, 264; 4, 240, 251; Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht 11, § 9411 3b), S. 432; Nikisch 11, § 60 I I, S. 45; Ossenbühl, NJW 65, 1561, 1562; PeterslOssenbühl, Übertragung, S. 15; Hinz, Tarifhoheit, S. 138ff. Ist die verwendete Terminologie auch vielfliltig, so gehen doch die Genannten alle von einer Delegation i. S. Triepels aus .
.. Bei der Einordnung der handlungsformbezogenen "Verleihung" variiert die Terminologie: "Zustimmung" (Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 13), "Normqualifikation" (Scholz in: Maunz! DüriglHerzog/Scholz, GG, Art. 9 Rn. 301; ders., Handbuch d. Staatsrechts VI, § 151 Rn. 102; Pestalozza, IR, 73, 279, 280f.), "Anerkennung" (BVerfGE 34,307,317; 44, 322, 340; Stern 1111 1, S. 1277; Badura, Arbeitsrecht. d. Ggw. 15, S. 17, 20f.; A.Hueck, Gutachten, S. 29) oder "staatlicher Geltungsbefehl" (Kirchhof, Rechtssetzung, S. 134, 182ff.; Ossenbühl, Handbuch d. Staatsrechts 111, § 61 Rn. 46). Sachliche Unterschiede ergeben sich aus dieser Terminologiedifferenz nicht.
6' Triepel, Delegation, S. 23, 83: "Delegation ist stets Abschiebung eigener Zuständigkeit." WolfflBachof, Verwaltungsrecht 11" § 72 IV b) 2., S. 24; Hinz, Tarifhoheit, S. 148; Petersl Ossenbühl, Übertragung, S. 16. 66
Hinz, Tarifhoheit, S. 143, begnügt sich hingegen mit dieser Feststellung.
I. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Norrnsetzung an Art. 3 GG
65
bedingungen67 • Mag damit auch kein Regelungsmonopol der Tarifvertragsparteien im vom Art. 9 III GG umrissenen Bereich verbunden sein68 , so ist im Kernbereich der Tarifautonomie doch zumindest eine Regelungsprärogative zugunsten der Tarifvertragsparteien - und damit zu Lasten des einfachen Gesetzgebers - garantiert69 • Das führt dazu, daß durch Art. 9 III GG im Bereich der Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ein immerhin beträchtlicher Teil der von Art. 74 Nr. 12 GG zugunsten des einfachen Bundesgesetzgebers vorausgesetzten Gesetzgebungskompetenz diesem materiell entzogen wird: Im Bereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen besteht daher mit Rücksicht auf die Regelungsprärogative der Tarifvertragsparteien eine stark eingeschränkte Normsetzungskompetenz des Staates70. Ist aber die ursprüngliche Gesetzgebungskompetenz des einfachen Gesetzgebers 7! solchermaßen durch Art. 9 III GG als negative Kompetenznorm begrenzt, so kann die insoweit wesentlich weitergehende Rechtssetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien nach dem TVG gerade nicht auf Delegation der stark beschränkten staatlichen Ursprungsbefugnis beruhen72 • Mangels der erforderlichen Ursprungskompetenz scheidet die Annahme einer echten Delegation zur konstruktiven Erklärung des im TVG liegenden Autorisationsaktes aus . • 7 BVerfGE 4, 96, 106; 18, 18,26; 20, 312, 317; 50, 290, 367; Dietz in: BetterrnannlNipperdey/ Scheuner, Grundrechte IIIIl, S. 460; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch II1I, § 19 A I, S. 370; Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 117f. Wie dieser Kernbereich im einzelnen abzugrenzen ist, ist höchst unklar und umstritten,jedoch im gegebenen Zusammenhang nicht von entscheidender Bedeutung. Vgl. hierzu insbes. Säcker, Koalitionsfreiheit, S. 45ff.
., Ablehnend insoweit Säcker, Koalitionsfreiheit, S. 50; Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 117 . •• BVerfGE 44,322,341,347; 50, 290, 367, im Anschluß an Säcker, Koalitionsfreiheit, S. 50. Ferner Hertwig, RdA 85, 282, 287. 70 Ausdrücklich BVerfGE 44,322, 340f.; 50, 290, 367; 64, 208, 215; Galperin, FS E.Molitor, S. 143, 158; Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 104; Badura, Arbeitsrecht. d. Ggw. 15, S. 17,20; Kemper, Koalitionsfreiheit, S. 117: "Wo der Grundrechtsschutz eingreift, ist der Staat nicht regelungsbefugt." Scholz, FS Müller, S. 509, 529, spricht von der staatlichen Pflicht aus Art. 9 III GG zur prinzipiellen funktionellen Zurückhaltung. Ähnlich auch PeterslOssenbühl, Übertragung, S.19. 71 PeterslOssenbühl, Übertragung, S. 16, wollen das Argument von der fehlenden übertragbaren Norrnsetzungskompetenz des einfachen Gesetzgebers mit dem zutreffenden Hinweis entkräften, es gebe nur einen Gesetzgeber, der aber in zwei Verfahrensarten - verfassungsändernd oder einfachgesetzlich - handeln kann. Richtig ist, daß der Gesetzgeber auf Verfassungs ebene aufgrund seiner Kompetenz-Kompetenz i. R. des Art. 9 III GG seine insoweit umfassende Norrnsetzungskompetenz hätte delegieren können. Dieser Umstand ändert jedoch nichts an der Richtigkeit der Feststellung, daß dem Gesetzgeber in der einfachgesetzlichen Verfahrensart, die er beim Erlaß des TVG gewählt hat, eine solche delegierbare Norrnsetzungskompetenz - wegen Art. 9 III GG - gerade fehlte.
72
Ähnlich Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 104; Waltermann, RdA 90, 138, 140f. 5 Hartmann
66
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Der ''juristischen Faktizität" (Nipperdey) tarifvertraglicher Normsetzung wird man am ehesten gerecht, wenn man das Zusammenspiel von Tarifvertragsparteien und Staat folgendermaßen begreift: Die Koalitionen legen in Form eines privatrechtlichen Vertrages in privatautonomem Verfahren die Regelung der Arbeitsbedingungen inhaltlich fest; sie formulieren die Norminhalte. Ihnen kommt damit der materielle Teil tariflicher Normsetzung zu. Um diesen Regeln die von Art. 9 III GG verlangte Effektivität zu verleihen, kommt der einfache Gesetzgeber dem an ihn gerichteten verfassungsrechtlichen Regelungsauftrag in der Weise nach, daß er im TVG pauschal und apriori für alle Vereinbarungen, die tatbestandlich Tarifverträge sind, die Normqualität anordnet und sie damit zu Normen qualifiziert73 • Der Staat erhebt damit, indem er das Institut des normativ wirkenden Tarifvertrages zur Verfügung stellt, formell die Inhalte zu Normen. Diese Sichtweise sieht sich auch nicht den kompetenzrechtlichen Einwendungen ausgesetzt, die gegen die Annahme einer Delegation durchgreifen: Der Gesetzgeber übt hier nicht die ihm wegen Art. 9 III GG nur sehr begrenzt zustehende Kompetenz zur materiellen Regelung der Arbeitsbedingungen aus. Die staatliche Beteiligung an der Rechtssetzung erschöpft sich in der Wahrnehmung einer ausschließlichJormellen Verfahrenskompetenz74, nämlich der, einer privat gesetzten Regel Rechtssatzcharakter zu verleihen. Diese Kompetenz ist beim Staat monopolisiert und steht dem einfachen Gesetzgeber ohne Einschränkung ZU7S. Sie wird durch Art. 9 III GG, der die Normqualifikation nicht selbst vornimmt, auch in keiner Weise berührt.
ce) Die Rechtsgeltungsanordnung und die durch sie vermittelte Grundrechtsbindung tarifvertraglicher Normsetzung Die rechtstheoretische Erklärung der Normwirkung über eine im TVG enthaltene Rechtsgeltungsanordnung und die Ablehnung einer Delegation haben entscheidende Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage, ob sich aus der 73 Für dieses Verständnis tarifvertraglicher Normsetzung: Nawiasky, Rechtslehre, S. 80; Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 13f.; Rehbinder, JR 68,167, 169f.; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 59; ders. in : MaunzlDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 9 Rn. 301; ders., FS Müller, S. 509, 529; Pestalozza, JR 73, 279, 280f., der, wie Schalz die Norrnqualifikation im Gewande einer Verweisung sieht; Badura, Arbeitsrecht. d. Ggw. 15, S. 17,21; Kirchhof, Rechtssetzung, S. 133ff., 138ff.,181 ff.; Waltermann, RdA 90,138, 141 Fn. 23.
7.
Pestalozza, JR 73, 279, 280.
AusfUhrlich zu diesem formellen Rechtssetzungmonopol des Staates in Form eines Rechtsanerkennungsmonopols: Kirchhof, Rechtssetzung, S. I 33ff, 158; Richardi, Kollektivgewalt, S. 142; ähnlich Pestalozza, JR 73, 279, 280: Durch das Vorbehalten des "Zustimmungserfordernisses" sei das Rechtssetzungsmonopol gewahrt. 75
1. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an Art. 3 GG
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Tatsache der Beteiligung des grundrechtsgebundenen Staates an der Norrnsetzung eine Grundrechtsbindung ergibt. Als erste Konsequenz zeigt sich die Unhaltbarkeit der Delegationstheorie, die die Grundrechtsbindung aus dem Grundsatz "nemo plus iuris transferre potest, quam se ipse habet"76 herleiten will. Zwar ist es selbstverständlich, daß der Staat, wenn er seine Rechtssetzungsmacht auf ein anderes Subjekt überträgt, nicht ein Mehr an Macht übertragen kann, als er selbst hat. Staatlich übertragene Rechtssetzungsmacht muß daher auch in den Händen des Delegatars i. S. d. Art. 1 III GG grundrechtsgebunden sein 77 • Dajedoch - wie gesehen - im Fall des TVG eine echte Delegation staatlicher Rechtssetzungsmacht mangels übertragbarer Ursprungskompetenz gar nicht vorliegen kann, scheidet dieser Herleitungsansatz aus. Scheitert diese an sich stringente Theorie an der Fehlerhaftigkeit ihrer Prämisse, so fragt sich, wie die Grundrechtsbindung auf Grundlage der Konstruktion der Rechtsgeltungsanordnung herzuleiten ist. Eine Schlüsselfunktion kommt dabei der Frage zu, welche Auswirkungen die von Art. 1 III GG ersichtlich umfassend angeordnete Bindung hoheitlicher Tätigkeit an die Grundrechte konkret auf die Rechtsgeltungsanordnung des TVG hat. Zunächst stellt sich die Frage, ob der Staat bei Erlaß der Rechtsgeltungsanordnung selbst an die Grundrechte gebunden ist. Dies ist dann gern. Art. 1 III GG der Fall, wenn die pauschale Rechtsnorrnqualifikation als "Gesetzgebung" verstanden werden kann. Der Staat ist, da er die Regelungen nicht selbst inhaltlich gestaltet, zwar nicht der "Gesetzgeber" des Tarifvertrages78 . Dennoch wird auch im vorliegenden Fall der bloßen Rechtnorrnqualifikation die für die "Gesetzgebung" typische Gefahrenschwelle erst überschritten, indem der Staat von seinem Monopol Gebrauch macht, dem Regelungsinhalt gerade die allgemeine, unmittelbare und zwingende Wirkung beizumessen. Was den Bereich des Bürgers beeinträchtigt und wovor er folglich geschützt werden muß, das ist gerade die ihn erfassende gesetzestypische Wirkung der Regel. Daher ist, will man allgemein Gesetzgebung strukturell in zwei Schritte unterteilen - inhaltliche Gestaltung und Erhebung zu objektivem
76 Dieser Grundsatz wird von Peters/Ossenbühl, Übertragung, S. 16, zitiert. Umschreibungen finden sich etwa bei BAGE I, 258, 264; 4, 240, 251; Küchenhoff, FS Nipperdey II, S. 317, 340; Hinz, Tarifhoheit, S. 143. 77 Daher leiten die Vertreter der Delegationstheorie (vgl. z.B. die in der vorangegangenen Fußnote Genannten) die Grundrechtsbindung von ihrer Prämisse der erfolgten Delegation aus konsequent und zutreffend her.
7. Rechtssetzer sind die Tarifvertragsparteien, Sieg, AcP 151, S. 246, 252; Kirchhof, Rechtssetzung, S.509.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Recht -, der Grundrechtsschutz vorrangig gegen letztere vonnöten. Daraus folgt die Notwendigkeit, Art. 1 III GG so auszulegen, daß er den Gesetzgeber auch beim Akt der Normqualifikation in vollem Umfang zur Respektierung der Grundrechte der Bürger - hier: der Unterworfenen der privaten Rechtssetzung verpflichtef9 • Das bedeutet, daß der Staat, indem er den normativ wirkenden Tarifvertrag als Handlungsform zur Verfügung stellt, nicht gegen die Grundrechte verstoßen darf. Für die tarifliche Normsetzung sind nun zwei Seiten verantwortlich: die materiell regelnden Tarifvertragsparteien und der rechtsformstiftende Staat. Der staatlichen Pflicht zur Grundrechtsrespektierung ist vor diesem Hintergrund nur dann entsprochen, wenn staatlicherseits dem Tarifvertrag als Institut die KauteIe mit auf den Weg gegeben wäre, daß sich die Normqualifikation nur auf die grundrechtskonformen Regelungen der Tarifvertragsparteien erstreckt80 • Dem TVG ist freilich eine so geartete staatliche Sicherheitsmaßnahme nicht explizit zu entnehmen. Deren Unterlassung aber hätte zur Folge, daß der Staat selbst in jedem Fall einer grundrechtswidrigen Regelung der Tarifvertragsparteien durch die pauschale und uneingeschränkte Rechtsgeltungsanordnung verfassungswidrig in die Grundrechte der Tarifunterworfenen eingriffe. Daraus könnte nur die Konsequenz gezogen werden, daß die Rechtsgeltungsanordnung des TVG, die die verfassungswidrigen Eingriffe erst ermöglicht, selbst verfassungswidrig und nichtig wäre, soweit sie inhaltlich grundrechtswidrige Regelungen zu objektivem Recht qualifiziert. Um eine solche Teilnichtigkeit zu vermeiden, ist der Rechtsgeltungsbefehl des TVG von vornherein verfassungskonform in dem Sinne 7. Auch Sieg, AcP 151, S. 246, 253, sieht die Pflicht zur Grundrechtskonformität darin begründet, daß der Sanktionsakt ja Staatsakt sei. Die Pflicht, durch den Rechtsgeltungsbefehl nicht Grundrechte der Normunterworfenen zu verletzen, ergibt sich somit unmittelbar aus der klassischen Abwehrfunktion der Grundrechte gegen staatliches Handeln. Es ist daher zwar sachlich zutreffend, aber nicht erforderlich, wenn Kirchhof, Rechtssetzung, S. 522ff., und Löwisch in: LöwischlRieble, TVG, § I Rn. 155, die staatliche Pflicht, Grundrechtsverletzungen durch Tarifverträge zu verhindern, erst aus der dem status positivus zuzuordnenden Schutzpflicht des Staates herleitet, Grundrechtsverletzungen durch Private zu verhindern. Dazu, daß die Grundrechte in ihrer objektivrechtlichen Dimension den Staat zum aktiven Schutz der Grundrechtspositionen auch gegen nicht-staatliche Bedrohung verpflichtet, vgl. nur BVerfGE 56, 54, 73; 55, 349, 364; Isensee, Sicherheit, S. 32ff.; Bleckmann, Grundrechte, S. 283f.; Hesse in: Staatsrechtshandbuch, S. 95, 102; ders., Verfassungsrecht, Rn. 350. 10 Richardi, Kollektivgewalt, S. 46, sieht den Staat verpflichtet, Regelungen nur dann als Recht anzuerkennen, wenn sie dem grundrechtlichen Wertesystem entsprechen. So auch Kirchhof, Rechtssetzung, S. 523, 525, der die Erfüllung der von ihm herangezogenen Schutzpflicht des Staates darin sieht, daß der Geltungsbefehl die vom Grundrecht geforderte Sicherung für die Adressaten privat gesetzten Rechts enthält, indem er das inhaltliche Ausmaß der privaten Normsetzungsmacht begrenzt. Obgleich seine sonstigen Ausführungen auf ein Favorisieren der Delegationstheorie hindeuten, spricht auch BAGE 4, 240, 25lf., davon, daß grundrechtswidrige Tarifvertragsregelungen sich außerhalb der Ermächtigung zur Rechtssetzung befänden und daher nicht normativ wirken könnten.
1. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Nonnsetzung an Art. 3 GG
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auszulegen, daß er lediglich die grundrechtskonfonnen Regelungen der Tarifvertragsparteien erfaßt. Injedem Fall ergibt sich also, daß aus der Grundrechtsbindung des Staates bei der Rechtsnonnqualifikation die Beschränkung des Rechtsgeltungsbefehls des TVG auf grundrechtskonfonne Regelungen folgt. Als Konsequenz müssen die Tarifvertragsparteien die Grundrechte der Tarifunterworfenen respektieren, um überhaupt wirksame Tarifnonnen schaffen zu können 81 • In diesem Sinne sind die Tarifvertragsparteien bei ihrer Nonnsetzung an die Grundrechte "gebunden".
c) Zur Lehre von der Anwendbarkeit des Art. 1 11/ GG Um die Frage beantworten zu können, ob sich eine Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien ohne weiteres aus der Anwendbarkeit des Art. 1 III GG ergibt82, muß man sich zunächst nochmals die Struktur tarifvertraglicher Nonnsetzung vergegenwärtigen. Sie ist das von Privaten vorgenommene Aufstellen von Regeln, denen aufgrund des vorweg und generell erteilten staatlichen Rechtsgeltungsbefehls Rechtsnonnqualität zukommt. Diese Struktur indiziert die Rechtsnatur dieser Nonnsetzung: Sie ist als private und damit nicht-staatliche zu qualifizieren. Denn zum einen werden die privaten Verbände nicht dadurch "öffentlich-rechtlich", daß sie eine "öffentliche" Funktion ausüben 83 • Zum andem ist diese Rechtssetzung auch nicht deswegen eine öffenlich-rechtliche, weil eine originär staatliche und damit öffentlich-rechtliche Befugnis übertragen worden wäre84; der lediglich vorliegende Anerkennungsakt des Staates selbst ist freilich öffentlich-rechtlich und unterliegt daher, wie gesehen, den von Art. 1 III GG angeordneten Bindungen. Die Regelsetzung von Privaten in privatrechtlicher Fonn und privatrechtlichem Verfahren wird damit selbst nicht deshalb öffentlich-
81 Ähnlich BAGE 4, 240, 252: Die verfassungswidrige Regel ist von der "Ennächtigung nicht gedeckt und daher nicht geeignet, nonnativ die Arbeitsverhältnisse der Tarifgebundenen zu regeln."
.2 BAGE 1,258, 262f; 4, 240, 250; Reuss, AuR 60, 33; Galperin, FS E.Molitor, S. 143, 157; Küchenhoff, RdA 69, 97,105. 13 So schon überzeugend Ossenbühl, NJW 65, 156Iff.; HueckiNipperdey, Lehrbuch IIII, § 18 I 1, S. 341f.
.. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht 11, § 94 11 Ic), S. 427, § 94 11 3c), S. 432, Nikisch 11, § 69 11 5, S. 218, und Hinz, Taritboheit, S. I 06f., ziehen als einzige Verteter der Delegationstheorie die wohl richtige Konsequenz, nach erfolgter Delegation sei die Ausübung dieser Macht notwendig öffentlich-rechtlicher Natur. Für einen solchen Schluß auch Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 58; Hertwig, RdA 85, 282, 286.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
rechtlich, weil ihr kraft Gesetzes normative Wirkung zukommt8S . Bestätigt wird der nicht-staatliche Charakter der Normsetzung indirekt dadurch, daß all jene staatlichen Kautelen völlig fehlen, die sonst bei jeder Form öffentlich-rechtlicher Rechtssetzung zwingend erforderlich und auch vorhanden sind, wie das Veröffentlichungserfordernis als Geltungsvoraussetzung und insbesondere ein aufsichtsrechtliches Instrumentarium86 . Ist die tarifliche Normsetzung als private und nichtstaatliche eingeordnet, so steht und fällt die unmittelbare Anwendbarkeit des Art. 1 III GG mit der These, der dort genannte Begriff der "Gesetzgebung" umfasse nicht nur diejenigen im materiellen Sinne, sondern zudem auch noch die nicht-staatliche87 . Zunächst wird man Nipperdey als dem Hauptvertreter dieser These darin zustimmen können, daß "Gesetz" im allgemeinen rechtlichen Sprachgebrauch "Gesetz" im umfassenden materiel1en Sinne meint88 , sofern sich nicht aus dem Zusammenhang eine Beschränkung auf jenes im formellen Sinne ergibt. Einem solchermaßen weiten Verständnis des Begriffs "Gesetzgebung"89 steht nichts entgegen. Es fügt sich im Gegenteil ohne Schwierigkeiten in die offensichtliche Konzeption des Art. 1 III GG ein, eine umfassende Grundrechtsbindung anzuordnen90 . Was nun die Frage angeht, ob Art. 1 III GG auch die nicht-staatliche Gesetzgebung erfaßt, so ist sie durch Auslegung dieser Norm zu beantworten. Dabei muß man sich davor hüten, voreilig aus einer erkannten sozialen Schutzbedürftigkeit der Privatnormunterworfenen91 als Ergebnis einer "Auslegung" den Schluß zu 8' Misera, Tarifmacht, S. 65f.; Richardi, AöR 93, S. 243, 254; Pestalozza, JR 73, 279, 281; Wiedemann/Stumpf, TVG, § I Rn. 15; Stern II111, S.1277; Scholz in: MaunzIDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 9 Rn. 301; Dürig in: MaunzIDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 1 Rn. 116; Starck in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, Art. I Rn. 161; Kirchhof, Rechtssetzung, S. 185f.; Waltermann, RdA 90, 138, 139. 86 Dürig in: MaunzlDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 1 Rn. 116; Zöllner, RdA 64, 443, 447; Stern HI/l, S. 1277; Scholz, Koalitionsfreiheit, S. 58; Wiedemanll/Stumpf, TVG, § 1 Rn. 15; Starck in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, Art. I Rn. 161; Kirchhof, Rechtssetzung, S. 174. 87 So insbes. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch II1I, § 18 III 4, S. 351 f., dort auch Fn. 26. Dezidiert a.A. noch Nipperdey, RdA 50,121,123.
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Vgl. nur Art. 2 EGBGB, § I GVG.
Dafür insbes. BAGE 1,258,262; Reuss, AuR 60,33; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch II1I, § 18 II14, S. 351. 19
90 Dazu Stern II111, S. 1268ff. Daß vor diesem Hintergrund ein weites Verständnis im Grunde unproblematisch ist, sieht auch Starck in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, Art. 1 Rn. 141. Für eine funktionale Betrachtungsweise im Rahmen des Art. 1 III GG auch Hesse, Verfassungsrecht, Rn. 502. 91
Krüger, Gutachten 46. DJT I, S. 7, 78; Reuter, ZfA 78, S. 1,36; Blomeyer, ZfA 80, S. 1,22;
I. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Norrnsetzung an Art. 3 GG
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ziehen, infolge der dem Staat-Bürger-Verhältnis stark ähnelnden Situation müsse Art. 1 III GG auch die Grundrechtsbindung privater Rechtssetzung meinen. Ein solcher Ansatz92 ist in der großen Gefahr, die Grenzen zwischen (teleologischer) Auslegung und Analogie zu übergehen93 • Legt man Art. 1 III GG aus, so ist zunächst festzustellen, daß diese Norm systematisch wie inhaltlich unmittelbar an Art. 1 12 GG mit seiner Verpflichtung "aller staatlichen Gewalt" anknüpft94 • Art. 1 III GG vollzieht eine Aufgliederung der umfassend verpflichteten Staatsgewalt nach den Staatsfunktionen und -tätigkeiten, die aus der klassischen Gewaltenteilung folgt9s • Er enthält damit eine Präzisierung, die der Dreigliederung der Staatsgewalt in Art. 20 11 I, 2 GG entspricht. Bezieht man in diese insoweit eindeutig die Staatsbindung ergebende Analyse96 ein, daß den Vätern des Grundgesetzes ganz zweifelsfrei die klassische Staatsabwehrfunktion der Grundrechte vor Augen stand97 , so gibt es keine Rechtfertigung dafür, Art. 1 III GG selbst eine über die Bindung staatlicher Gesetzgebung hinausgehende positive Aussage beizumessen98 • Mit dieser Auslegung des Art. I III GG, die auch von Vertretern der Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte anerkannt wird 99 , ist freilich
DäubleriHege, Tarifvertragsrecht, Rn. 200; Zilius in: HagemeierlKempeniZachertiZilius, TVG, Ein!. Rn. 132; Waltermann, RdA 90, 138, 141. 92 Etwa in diesem Sinne Galperin, FS E.Molitor, S. 143, 157, und Küchenhoff, FS Nipperdey 11, S. 317, 341. 93 So wird zumeist aus der Tatsache der Machtunterworfenheit gefolgert, die Grundrechte müßten Schutz auch gegen die Tarifvertragsparteien entfalten. In der Regel folgt diesem Postulat jedoch keine dogmatische Herleitung des gewünschten Ergebnisses, siehe z.B. Krüger, Gutachten 46. DJT I, S. 7, 78, und Waltermann, RdA 90, 138, 141. Eine Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 73, dar, wenn er von einer Bindung "in analoger Weise" spricht. 94 Dürigin: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. I Rn. 100; Starckin: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, Art. I Rn. 136, 156, 196. 9S
Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 195.
90 v. Münch in: v.Münch, GG, Art. 1 Rn. 47ff; Schmidt-BleibtreulKlein, Art. 1 Rn. 20; SchmidtRimpler/Gieseke/Friesenhahn/Knur, AöR 76, S. 165, 169, 171; Stern III/l, S. 1277; Canaris, AcP 184, S. 201, 203ff.; Waltermann, RdA 90, 138, 141.
91
Vg!. statt aller: v.Mangoldt, AöR 75, S. 273, 275.
91 Für diese ganz herrschende Auslegung z. B. BVerfGE 7, 198, 204; Nipperdey, RdA 50, 121, 123; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rn. 70, 202, 205; Klein in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, S. 61; Starck in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, Art. 1 Rn. 196; Kirchhof, Rechtssetzung, S. 519; Waltermann, RdA 90, 138, 141. 99
Z. B. Gamillscheg, AcP 164, S. 385,407; ders., Grundrechte, S. 31.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
noch nicht abschließend über eine Grundrechtsbindung auch anderer Machtträger, hier konkret: privater Gesetzgeber, entschieden. Das klare Zwischenergebnis ist eben nur, daß sich eine solche nicht auf eine Auslegung des Art. 1 III GG stützen läßt. Die Frage der Grundrechtsbindung nicht-staatlicher Gesetzgeber wie auch die Frage der allgemeinen unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte erweist sich vielmehr als eine der Analogie loo • Ihre Beantwortung hängt davon ab, ob der Anordnung der Staatsbindung in Art. 1 III GG die weitergehende Aussage zukommt, daß damit die grundrechtsgebundenen Subjekte abschließend bestimmt werden, ob m. a. W. Art. 1 III GG eine die Möglichkeit des Analogieschlusses offenhaltende Regelungslücke läßt oder nicht. Diese Frage, die - soweit ersichtlich - heute nicht mehr verneint wird 101, kann hier indes offenbleiben; denn für den Fall der Tarifvertragsparteien scheitert eine Analogie zu Art. 1 III GG daran, daß es an einer Regelungslücke jedenfalls aus einem anderen Grunde mangelt: Eine Grundrechtsbindung tarifvertraglicher Rechtssetzung ergibt sich bereits aus der auf grundrechtskonforme Regelungen beschränkten Rechtsgeltungsanordnung des TVG. Weder eine direkte noch eine analoge Anwendung des Art. 1 III GG kommt also zur Begründung einer Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien in Betracht. 3. Ergebnis hinsichtlich der an die Rechtsnormqualität anknüpfenden Ansätze
Die Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an die Grundrechte folgt aus der beschränkten Ausstattung mit Rechtssetzungsmacht durch den selbst grundrechtsverpflichteten Staat. Allerdings ergibt sich dies nicht aus dem Satz "ne mo plus iuris transferre potest, quam se ipse habet", der den Kern der herrschenden Delegationstheorie darstellt. Die These von der übertragenen Rechtssetzungskompetenz, die in der Hand des Delegatars den gleichen Bindungen (Art. 1 III GG) unterliegen muß wie in der des Übertragenden, scheitert daran, daß der Staat im TVG keine eigene Regelungskompetenz auf die Tarifvertragsparteien übertragen hat und dies auch gar nicht konnte.
100 Gamillscheg, AcP 164,385, 406f.; ders., Grundrechte, S. 31 f., 75 ("Tertium comparationis ist die Machtstellung, die geeignet ist, Grundrechte der Beteiligten zu verletzen."); Däubler, Mitbestimmung, S. 226ff.; Canaris, JuS 89, 161; in der Sache ähnlich Leisner, Grundrechte, S. 258ff., insbes. 289ff. Von einer analogen Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte geht auch Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 73, aus. 101
Vgl. Gamillscheg, Grundrechte, S. 31.
I. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Norrnsetzung an Art. 3 GG
73
Der Staat hat vielmehr im TVG apriori eine auf die Rechtsform Tarifvertrag bezogene Rechtsgeltungsanordnung erteilt. Diese ist jedoch auf solche Regelungen beschränkt, die inhaltlich grundrechtskonform ausgestaltet sind. Die Respektierung der Grundrechte durch die Tarifvertragsparteien ist folglich Voraussetzung für die Erhebung der Regelung zur Tarifnorm. In diesem Sinne sind die Sozialpartner bei der tarifvertraglichen Normsetzung an die Grundrechte der Tarifunterworfenen gebunden. Wie die Delegationstheorie so vermag schließlich auch der letzte Erklärungsversuch, der am Rechtssatzcharakter der Tarifnorm ansetzt, nicht zu überzeugen: Der Anwendung des Art. 1 III GG steht im Wege, daß sich die private Rechtssetzung nicht unter den nur hoheitliche Gesetzgebung meinenden Art. 1 III GG subsumieren läßt. Für eine analoge Anwendung des Art. 1 III GG fehlt es an der erforderlichen Regelungslücke, da sich die Grundrechtsbindung tarifvertraglicher Normsetzung bereits de lege lata anderweitig ergibt.
III. Die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte Eine Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien bei ihrer Normsetzung ergibt sich ohne weiteres für die Vertreter der Ansicht, die Grundrechte gälten im Grundsatz auch im Verhältnis der Privaten zueinander 102 oder doch jedenfalls wegen der besonderen sozialen Machtverhältnisse im gesamten Arbeitsrecht lO3 • Wie bereits oben dargelegt 104 , wäre eine solche unmittelbare Drittwirkung dogmatisch-konstruktiv nur auf dem Wege einer Analogie zu der in Art. 1 III GG angeordneten Grundrechtsbindung des Staates möglich. An deren Voraussetzungen fehlt es jedoch. Für die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung ist - jedenfalls insoweit kein Raum.
102
Nipperdey, FS E.Molitor, S. 17ff.; Leisner, Grundrechte, S. 356ff.
Insbes. Gamillscheg, AcP 164, S. 385, 419ff.; ders., Grundrechte, S. 28ff.; Zilius in: Hagemeierl KempenlZachertlZilius, TVG, Ein\. Rn. 132. 103
104
Siehe oben, S. 7lff.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Iv. Ergebnis hinsichtlich der Frage
des "Ob" einer Bindung an Art. 3 GG Die Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an die Grundrechte des Grundgesetzes ergibt sich daraus, daß deren Respektierung unabdingbare V oraussetzung dafür ist, daß die vereinbarte Regelung überhaupt zur "Tarifnorm" und damit zu verpflichtendem objektivem Recht erhoben wirdlOs. Damit sind die Tarifvertragsparteien unmittelbar auch an Art. 3 GG gebunden lO6 •
Zweiter Unterabschnitt
Umfang und Reichweite der Bindung an Art. 3 GG Die Frage, welchem Prinzip im Spannungsverhältnis zwischen Tarifautonomie und Gleichheitssatz der Vorrang gebührt, ist im Grundsatz zugunsten des Gleichheitssatzes entschieden. Der hohe Rang der Tarifautonomie gibt jedoch Anlaß zu fragen, in welchem Umfang und mit welcher Reichweite der tarifautonome Gestaltungsfreiraum durch Art. 3 GG begrenzt wird. Es stellt sich m. a. W. die Frage, ob eine weitere Präzisierung und Differenzierung bei der Bestimmung von Anwendungsbereich und Wirk stärke des Art. 3 GG vorzunehmen ist. Anlaß zur Auseinandersetzung gibt dabei zum einen die Ansicht, die allgemein von einer geringeren Schrankenintensität der Grundrechte bei der tariflichen Rechtssetzung ausgeht lO7 , zum anderen die neuere, mittlerweile gefestigte Rechtsprechung des 4. Senats des BAG, der in seinen Entscheidungen zu § 3 BAT die Tarifvertragsparteien bei der Frage des "Ob" einer Regelung, d. h. bei der
10' Der zutreffende, allerdings subsidiäre Ansatz über eine Abwägung zwischen Tarifautonomie und den Individualgrundrechten im Einzelfall (siehe oben, S. 52ff.) kommt daher - insoweit - nicht zum Tragen. 106 Freilich ist einzuräumen, daß der hier vertretene Erklärungsansatz die Grundrechtsbindung nur für den Bereich der eigentlichen Tarifnormsetzung selbst zu erklären vermag (siehe schon oben, S. 58 Fn. 28). Die Rechtfertigung dafür, daß die Tarifmacht auch darüber hinaus einer Bindung an die Grundrechte der Koalitionsmitglieder unterliegt, folgt dann in der Tat in Schnorrs Sinne aus einer harmonisierenden Abwägung zwischen Tarifautonomie und den Individualgrundrechten als insoweit kollidierender Verfassungsentscheidungen (siehe oben, S. 52ff.). Mit Schnorr wird manjedenfalls den Grundrechten mit personalem und ethischen Bezug den unbedingten Vorrang vor der Tarifautonomie einräumen müssen. 107 Zöllner, RdA 64, 443, 448; ZöllneriLoritz, Arbeitsrecht, § 7 III, S. 93; Biedenkopf, Gutachten 46. DJT I, S. 97,114; Säcker, Gruppenautonomie, S. 232f.; Richardi, Kollektivgewalt, S. 48,165; Misera, Tarifmacht, S. 83ff.
1. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Norrnsetzung an Art. 3 GG
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Festlegung des Geltungsbereichs eines Tarifvertrages, von der Bindung an Art. 3 GG freistellen will 108 • Bei der Frage, ob die Grundrechtsbindung zugunsten der Tarifautonomie eingeschränkt ist, sind hier zunächst zwei unterschiedliche Ansätze deutlich auseinanderzuhalten. Eine eingeschränkte Bindung wäre zum einen in dem Sinne denkbar, daß eine selektive Bindung nur an bestimmte Grundrechte besteht'09 oder daß von einer "gespaltenen Bindung" auszugehen ist, wie sie das BAG propagiert, wenn es die Tarifvertragsparteien bei der Festlegung des Geltungsbereichs von der Bindung an Art. 3 GG freistellt. Gemeinsam ist beidem, daß dadurch die unmittelbare Grundrechtsbindung zwar nur in einem eng begrenzten Teilbereich, dafür dort aber völlig aufgehoben ist. Von einer so gearteten Einschränkung ist die ganz andere Frage zu unterscheiden, ob die Bindung der Tarifvertragsparteien an die Grundrechte im Vergleich zu der des staatlichen Gesetzgebers in dem Sinne gelockert ist, daß ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts eher als gerechtfertigt anzusehen ist'lO. Dies betrifft ausschließlieh die Frage nach einer höheren Eingriffstoleranz bei grundsätzlich umfassender Bindung an alle Grundrechte.
I. Partielle Totalfreistellung von der unmittelbaren Grundrechtsbindung Der erste Ansatz, die partielle Totalfreistellung von der Grundrechtsbindung, muß angesichts der ganz grundsätzlichen Erwägungen, die zur Bejahung dieser Bindung geführt haben, schon auf den ersten Blick Bedenken hervorrufen. 1. Ausklammerung einzelner Grundrechte (Zöllner)
Die selektive Ausklammerung bestimmter Grundrechte bzw. einzelner ihrer Aspekte will Zöllner u.a. mit einem "praktischen Bedürfnis" nach Regelungen rechtfertigen, die der staatliche Gesetzgeber so nicht vorsehen dürfe"'. Zunächst erscheint es zweifelhaft, ob eine Regelung, die zu erlassen der Gesetzgeber wegen
101
Grundlegend BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT; anders jetzt der 6. Senat, BAG, NZA 93, 324, 326.
So Zöllner, RdA 64, 443, 448, der z. B. eine Freistellung von der Bindung an Art. 3 1II GG als "wünschenswert" bezeichnet. 109
110 Zöllner, RdA 64,443,448; ZöllneriLoritz, Arbeitsrecht, § 71II, S. 93; Biedenkopf, Gutachten 46. DJT I, S. 97, 114; Säcker, Gruppenautonomie, S. 233; Richardi, Kollektivgewalt, S. 48, 165.
111
Zöllner, RdA 64, 443, 448.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
seiner Grundrechtsbindung gehindert ist, bei einem von der grundrechtlichen Werteordnung geprägten Vorverständnis überhaupt je als "wünschenswert" (Zöllner) bezeichnet werden kann 1l2 • Jedenfalls aber läßt sich eine solche Einschränkung der hergeleiteten Grundrechtsbindung dogmatisch-konstruktiv nicht rechtfertigen: Der Gesetzgeber selbst ist uneingeschränkt an alle Grundrechte gebunden. Die Rechtsgeltungsanordnung, die er im TVG erteilt hat, kann daher ebenfalls nur diejenigen Tarifregelungen erfassen, die mit dem gesamten Grundrechtskatalog in Einklang stehen. Überdies wäre eine Freistellung von der Bindung an einzelne Grundrechte mangels methodisch akzeptabler Kriterien, welche Grundrechte in welchen Fällen davon erfaßt werden sollen, unpraktikabel und mit dem Prinzip der Rechtssicherheit schwerlich in Einklang zu bringen I 13. 2. Gespaltene Bindung an Art. 3 GG (BAG) Das bisher Ausgeführte ist auch von entscheidender Bedeutung für die Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des BAG, nach der sich die Bindung an Art. 3 GG nur auf die Regelung der "materiellen Arbeitsbedingungen" bezieht, die Festlegung des Geltungsbereichs des Tarifvertrages als tarifautonome Entscheidung dagegen der Überprüfung anhand Art. 3 GG nicht unterliege ll4 . Wie gezeigt, ist in der beschränkten Rechtsgeltungsanordnung des TVG angelegt, daß die Grundrechtsbindung sachlich umfassend Geltung beansprucht. Daher muß die tarifvertragliche Normsetzung auch insoweit an Art. 3 GG gemessen werden, als sie die F estlegung des Geltungsbereichs eines Tarifvertrages zum Gegenstand hat lls . Doch nicht nur aus diesem prinzipiellen Grunde ist die Rechtsprechung des BAG zu kritisieren. Dem BAG wird man zwar in seinem Ausgangspunkt, daß 112 Sehr kritisch insbesondere zur Freistellung von der Bindung an uneinschränkbare Grundrechte wie Art. 3 I, ur GG auch Däubler, Mitbestimmung, S. 223.
m In diese Richtung auch die Kritik von Däubler, Mitbestimmung, S. 222; Wiedemann/Stumpf, TVG, Ein!. Rn. 57. 1 J4 BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT; bestätigt von BAG, AP Nr. 20 zu § 23 BAT und BAGE 48, 307, 310 = AP Nr. 5 zu § 3 BAT. Dem BAG stimmen zu: Bauschke, Anmerkung I zu BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT, wohl auch Kranzusch, ZTR 92, 288, 289; widersprüchlich Berger-Delhey, Anmerkung zu BAG EzBAT, § 3 q BAT, 1 Vergütungsanspruch, S. 8, und Anmerkung zu BAG, AP Nr. 2 zu § 2 BeschFG, ferner Zilius in: HagemeierlKempeniZachert/Zilius, TVG, Ein!. Rn. 144c f., die dem BAG beipflichten, jedoch trotzdem meinen, die Tarifvertragsparteien dürften wegen Art. 3 I GG keine willkürlichen Geltungsbereichsfestlegungen vornehmen. 115
271.
Wiedemann/Lembke, Anmerkung II zu BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT; Baumann, RdA 87, 270,
1. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Nonnsetzung an Art. 3 GG
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auch die Festlegung des Geltungsbereichs eines Tarifvertrages vom Kernbereich des Art. 9 III GG geschützt sei ll6 , ohne Bedenken beipflichten können. Wenn das Gericht aber daraus die Konsequenz ziehen will, diese tarifliche Regelung entziehe sich deshalb der Bindung an Art. 3 GG und der Rechtskontrolle durch die Gerichte, so liegt darin eine petitio principii 117. Das Gericht gerät dabei zudem in Widerspruch mit seiner eigenen Ausgangsthese von der Bindung der Regelung "materieller Arbeitsbedingungen" an Art. 3 GG: Denn die Bestimmung des Geltungsbereichs eines Tarifvertrages ist im Hinblick auf den Gleichheitssatz die einschneidendste Regelung der "materiellen Arbeits-bedingungen" überhaupt l18 • Eine Gruppe von Arbeitnehmern ist "materiell" weit gravierender betroffen, wenn ihr die Geltung des Tarifvertrages im Ganzen vorenthalten wird, als wenn sie von einer einzelnen Regelung ausgeschlossen ist l19 • Wenn schon letztere nach zutreffender Ansicht des BAG der Überprüfung aufWillkürfreiheit standhalten muß, so gilt dies erst recht für den pauschalen Ausschluß einer Arbeitnehmergruppe aus dem Tarifvertrag. Eine Differenzierung zwischen den einzelnen inhaltlichen Regelungen und der Geltungsbereichsbestimmung leuchtet zudem auch deswegen nicht ein, weil es weitgehend eine bloße Frage von Formulierung und Regelungstechnik ist, ob eine Arbeitnehmergruppe jeweils von den einzelnen "materiellen" Regelungen ausgeschlossen wird oder ob dieser Ausschluß für alle Regelungen gewissermaßen vor die Klammer gezogen wird l20 • Verdeutlichen läßt sich dies an folgendem Beispiel: Eine Bevorzugung von Männern in einer Tarifregelung ist wegen Art. 3 11 GG unzulässig. Denkt man die Rechtsprechung des 4. Senats konsequent fort, so dürften die Tarifvertragsparteien jedoch nicht daran gehindert sein, Frauen ganz aus dem Geltungsbereich eines Tarifvertrages auszugrenzen 121.
116 So auch Bauschke, Anmerkung I zu BAG, APNr. 4 zu § 3 BAT; Zilius in: Hagemeier/Kempenl ZachertiZilius, TVG, Einl. Rn. l44c. 117
Zutr. Baumann, RdA 87, 270, 271.
Ähnlich WiedemanniLembke, Anmerkung II zu BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT. Das BAG betont dagegen a.a.O. zu Unrecht, bei der Festlegung des Geltungsbereichs handele "es sich nicht um eine materielle Regelung, die der Überprüfung nach Art. 3 I GG unterliegt." Kritisch zur Gegensatzbildung "materielle Arbeitsbedingungen" und "rein technische" Frage der Geltungsbereichsbestimmung auch Bauschke, Anmerkung I zu BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT. 111
119
Wiedemann/Lembke, Anmerkung II zu BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT.
120 Vgl. Wiedemann/Lembke, Anmerkung II zu BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT. So nun auch der 3. Senat in BAG, AP Nr. 6 zu § 2 BeschFG (LS 4) mit zust. Anmerkung von Schüren/Kirsten, und in BAG, NZA 93, 215, 217.
121
Auf diese absurde Konsequenz weisen auch Hanau/Preis, ZfA 88, S. 177,203, hin.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Es bleibt daher festzuhalten, daß die vom 4. Senat des BAG praktizierte Differenzierung und die daraus abgeleitete gespaltene Bindung an Art. 3 GG nicht gerechtfertigt ist 122 • Der Standpunkt des BAG ist vor allem deswegen unverständlich, weil das ersichtliche und an sich billigenswerte Anliegen des BAG, Tarifzensur und richterliche Korrektur aus Respekt vor der Tarifautonomie zu vermeiden, auch im Rahmen einer umfassenden Geltung des Art. 3 GG ausreichend berücksichtigt werden kann: Es spricht nichts dagegen, eine Ungleichbehandlung bei der Festlegung des Geltungsbereichs an Art. 3 GG zu messen und in diesem Rahmen bei der Frage, ob der Ausschluß sachlich zu rechtfertigen ist, die Tarifautonomie als Verfassungsentscheidung zu berücksichtigen 123 • Die Geltungsbereichsproblematik als Ausschnitt des Spannungsfeldes zwischen Tarifautonomie und Gleichheitssatz dialektisch innerhalb des Art. 3 GG zu behandeln, trägt sowohl dem - im Grundsatz vorrangigen - Prinzip der Grundrechtsbindung wie auch dem der Tarifautonomie Rechnung. Wenn demgegenüber das BAG das Problem im vortatbestandlichen Bereich des Art. 3 GG abblockt, stellt dies eine undifferenzierte Behandlung des vorhandenen Spannungsverhältnisses dar.
11. Die Frage der größeren EingritTstoleranz Der Prüfungsschritt, ob der Eingriff der Tarifvertragsparteien in den Schutzbereich eines Grundrechtes gerechtfertigt werden kann, ist auch der - einzige - Ort, an dem die Frage einer eingeschränkten Grundrechtsbindung im Sinne einer größeren Eingriffstoleranz Bedeutung erlangt. Eine in diesem Sinne elastische 122 So auch Löwisch in: Löwisch/Rieble, TVG, § I Rn. 187. Bezeichnenderweise ist eine solche Differenzierung in der bisherigen arbeitsgerichtlichen und bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht vorgenommen worden. Vg!. z. B. BAGE 35, 43, 47f., wo das BAG den Ausschluß von Teilzeitbeschäftigten aus dem BAT ohne weiteres materiell an Art. 3 I GG mißt. Das BVerfG hat bei der Privatisierung des VW-Werkes sowohl die Normen an Art. 3 GG gemessen, die eine bestimmten Personenkreis vom Bezug von VW-Aktien ganz ausschlossen, wie auch diejenigen, die VW-Bedienstete gegenüber anderen Bezugsberechtigten bevorzugten, BVerfGE 12,354, 367ff. Ganz deutlich auch BVerfGE 11,64,71. Neuerdings spricht auch das BAG wieder von einer "uneingeschränkten" Bindung der Tarifvertragsparteien an Art. 3 GG: BAG, NZA 91, 797,798; NZA 92,166,167; Urteil vom 30.7.92 - 6 AZR 11/92, Pressemitteilung in DB 92,1683. J2) So auch Zilius in: HagemeierIKempenlZachertlZilius, TVG, Ein!. Rn. 144d, der vorschlägt, den Maßstab rur die WiIlkürprüfung aus der Sicht der Tarifvertragsparteien zu bestimmen. So könne ein geringer Organisations grad einer Arbeitnehmergruppe, der die Durchsetzbarkeit tariflich akzeptabler Regelungen ausschließe, einen sachlichen Grund darstellen. Für die Berücksichtigung der Tarifautonomie im Rahmen der Willkürprüfung auch Wiedemann/Lembke, Anmerkung 11 zu BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT. Allgemein rur gesenkte Anforderungen an eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Mayer-Maly, AR-Blattei [D), Gleichbehandlung im Arbeitsverhältnis I, F 11 4.
1. Abschnitt: Die Bindung tarifvertraglicher Normsetzung an Art. 3 GG
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Grundrechtsbindung wird damit begründet, es bestehe insoweit ein praktisches Bedürfnis 124. Diesem nachzugeben sei dadurch gerechtfertigt, daß wegen der materiellen Richtigkeitsgewähr der kollektivvertraglichen Regelung 12S und dem Umstand der privatautonomen Unterwerfung unter die Normgeltung die Schutzbedürftigkeit der Normunterworfenen reduziert sej126. Die Frage nach der Überzeugungskraft dieser Argumente allgemein zu beantworten, würde im gegebenen Zusammenhang zu weit führen 127 • Für die Bindung an Art. 3 GG ist jedenfalls anerkannt, daß die Differenzierung zwischen Arbeitnehmergruppen in einem Tarifvertrag wie im Fall staatlicher Gesetzgebung dann verfassungswidrig ist, wenn sich ein vernünftiger, sachlich einleuchtender und vertretbarer Grund für die Differenzierung nicht finden läßt, wenn m.a.W. eine willkürliche Regelung vorliegt128 • Für die tarifautonome Betätigung besteht also lediglich ein Verbot von Willkür und Verwendung der in Art. 3 II, III GG genannten Differenzierungskriterien. Eine Zweckmäßigkeits- und allgemeine Gerechtigkeitskontrolle findet nicht statt. Zudem ist bei der Überprüfung auf Willkürfreiheit- gerade bei der eben angesprochenen Festlegung des Geltungsbereichs - die Tarifautonomie zu berücksichtigen. Damit ist die Eingrenzung der Tarifautonomie in Gestalt des Gleichheitssatzes sehr weit zurückgenommen und ihr mithin ein Maximum an Freiraum eingeräumt. Eine weitere Abschwächung der Bindung an Art. 3 GG käme ihrer Beseitigung gleich. Daher stellt sich im Hinblick auf Art. 3 GG die Frage einer elastischeren Bindung praktisch nicht 129 .
12.
Zöllner, RdA 64, 443, 448.
12'
Zöllner, RdA 64, 443, 448; Säcker, Gruppenautonomie, S. 233.
126
Zöllner, RdA 64, 443, 448; Richardi, Kollektivgewalt, S. 165.
121
Dazu z.B. neuerdings Lerche, FS Steindorff, S. 897, 904ff.; Käppler, NZA 91, 745ff.
12. Nach allg. Meinung gelten diese Anforderungen, die das BVerfG, z.B. BVerfGE 33, 367, 384, formuliert hat, auch für die tarifliche Rechtssetzung: BAG, AP Nr. 77 zu Art. 3 GG; BAG, AP Nr. 7 zu § 4 TVG Effektivklausel; BAG, AP Nr. 13 zu § 611 Bergbau; BAG, AP Nr. 16 zu § 4 TVG übertariflicher Lohn u. Lohnerhöhung m.w.N.; HueckINipperdey, Lehrbuch 1111, § 19 II I a), S. 374; WiedemanniStumpf, TVG, Ein\. Rn. 62; Blomeyer, ZfA 80, S. I, 36; DäubleriHege, Tarifvertragsrecht, Rn. 212. 129 So wird selbst von Vertretern der eingeschränkten Bindung die Geltung des Art. 3 GG als uneingeschränkt angesehen, Misera, Tarifmacht, S. 86, Biedenkopf, Tarifautonomie, S. 82. Wiedemann/Stumpf, Ein\. Rn. 62, wollen sogar im Hinblick auf den hohen Rang des gefahrdeten Rechtsgutes an den sachlichen Grund für die Differenzierung besonders hohe Anforderungen stellen.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Dritter Unterabschnitt
Ergebnis zur Bindung der Tarifvertragsparteien an Art. 3 GG Die Tarifvertragsparteien sind bei ihrer Nonnsetzung an den gesamten Grundrechtskatalog des Grundgesetzes gebunden. Dies folgt aus dem Umstand, daß der Gesetzgeber im TVG zwar die ausgehandelten Regelungen apriori zu objektivem Recht qualifiziert, er aber in Konsequenz seiner eigenen Grundrechtsbindung nur für solche Regelungen die Rechtsgeltungsanordnung erteilt, die materiell mit dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes in Einklang stehen. Im übrigen ist die Bindung der Sozialpartner an die Grundrechte ihrer Mitglieder im Wege der Abwägung zwischen den insoweit kollidierenden Verfassungs entscheidungen der Tarifautonomie und der Individualgrundrechte herzuleiten. Die daraus sich ergebende Bindung auch an Art. 3 GG bezieht sich auf jeden Teilaspekt nonnativer Tätigkeit: Der Tarifvertrag muß sowohl was die Festlegung der "materiellen Arbeitsbedingungen" wie auch die des Geltungsbereichs betrifft, mit Art. 3 GG in Einklang stehen. Die Rechtssetzungsmacht der Tarifvertragsparteien ist somit umfassend von Art. 3 GG begrenzt. Der Tarifautonomie ist allerdings dergestalt Rechnung zu tragen, daß sie einerseits im Tatbestand des Art. 3 GG bei der Überprüfung der Willkürfreiheit zu berücksichtigen ist. Andererseits - und dies wird Hauptgegenstand der weiteren Erörterungen sein - sind auf der Rechtsfolgenseite des Art. 3 GG die Korrektunnöglichkeiten des Gerichts im Falle einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung mit allergrößter Vorsicht zu definieren 130 •
130
So auch Wiedemann/Lembke, Anmerkung 11 zu BAG, AP Nr. 4 zu § 3 BAT.
Zweiter Abschnitt
Vorgaben des Art. 3 GG für die Rechtsfolgenermittlung Die Problematik der Rechtsfolgenbestimmung bei einem Gleichheitsverstoß wird zumeist ausschließlich im Spannungsfeld zwischen richterlicher Gestaltungsbefugnis und der Gestaltungsfreiheit des Normgebers angesiedelt. Dies wird deutlich, wenn BVerfG und BAG bei der Ermittlung einer Rechtsfolge allein danach fragen, ob sie als Gerichte mit deren Ausspruch verfassungswidrig in die Gestaltungsfreiheit des Gesetz- bzw. Tarifnormgebers eingreifeni. Diesen Gestaltungsfreiraum zu respektieren, stellt für ein Gericht bei seiner Rechtsfolgenbestimmung tatsächlich das Hauptproblern dar. Bevor man sich aber diesem zuwenden kann, ist es erforderlich, Klarheit über die tatbestandliche Aussage des Art. 3 GG und damit die funktionale Reichweite seiner Vorgaben für die tarifautonome Rechtssetzung zu gewinnen. Die genaue Bestimmung von Inhalt und Funktion dieses Grenzsteins der Tarifautonomie ist unverzichtbar, um bei der richterlichen Rechtsfolgenbestimmung unterscheiden zu können, was noch bloße Feststellung und Aktualisierung der Grenzen ist, die Art. 3 GG unmittelbar tariflicher Normgebung setzt, und was bereits "eigene" richterliche Gestaltung darstellt. Den Aussagen des Art. 3 GG kommt daher eine - weithin unterschätzte - präjudizielle Bedeutung für Methode und Ergebnis der Rechtsfolgenbestimmung zu. Zunächst sind daher seine Vorgaben näher zu bestimmen. Dabei ist nicht Ziel dieser Arbeit, einen Beitrag zur allgemeinen Auslegung des Art. 3 GG zu leisten. Die Klärung der tatbestandlichen Aussage dieser Norm soll nur soweit betrieben werden, wie sie spezifisch für die Rechtsfolgenermittlung Bedeutung hat. Dennoch seien jeweils einleitend die Grundgedanken der einzelnen Absätze des Art. 3 GG zusammengefaßt.
I Vgl. nur BVerfGE 8, 28, 37; 15, 121, 125; 22, 349, 361f.; 52, 369, 379; 55,100,113; BAGE 50, 137, 140ff.
6 Hartmann
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
I. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG 1. Allgemeines zur Auslegung des Art. 3 I GG Es besteht Einigkeit darüber, daß das Gebot der Gleichheit in Art. 3 I GG die sog. Rechtsgleichheit, d.h. die gleichmäßige rechtliche Behandlung der Machtunterworfenen durch die an Art. 3 GG gebundene Macht meint2 • Weiter steht außer Streit, daß das Grundgesetz nicht die radikale, egalitäre Gleichheitjakobinischer Prägung fordert, sondern vielmehr den auf Aristoteles3 und Thomas v. Aquin4 zurückgehenden Gedanken der relativen Gerechtigkeitsgleichheit aufgreifts. Danach ist es ein der Gerechtigkeit immanenter Behandlungsmaßstab, "jedem das Seine zuzuteilen"6. Letztlich bedeutet es nur die Paraphrase dieses Gedankens der differenzierenden Gerechtigkeit, wenn der Gleichheitssatz allgemein als Gebot verstanden wird, dem Sachverhalt nach Gleiches gleich, dem Sachverhalt nach Ungleiches entsprechend seiner Ungleichheit ungleich zu behandeln7• Bei der Beantwortung der entscheidenden Frage, was "gleich" und was "ungleich" ist, kommt dem Normgeber ein weiter Einschätzungsspielraum zu. Dieser findet allerdings dort seine unüberwindbare Grenze, wo eine Differenzierung objektiv willkürlich ist, d.h. nicht auf sachlichen und vernünftigen Erwägungen beruht und insoweit den Boden der Gerechtigkeit verläßt8 • Letztlich reduziert sich damit die Kernaussage des allgemeinen Gleichheitssatzes auf das
2 H.-P.lpsen in: NeumannINipperdey/Scheuner, Grundrechte 11, S. 141; W. Böckenforde, Gleichheitssatz, S. 71; Weber-Dürler, Rechtsgleicheit; S. 25ff. 3
Nikomachische Ethik, V. Buch, 3, Il3lal-1132b22, S. 100ff.
• Summa theologiae, 11 11, q 57 Ico, q 58 2co. S Leibholz, Gleichheit, S. 244; Raiser, ZHR 111, S. 76; E.Molitor, AcP 151, S. 385, 387.
w. Böckenförde, Gleichheitssatz, S. 38;
• Ulp. 0.1.1.10: "iustitia est constans et perpetua voluntas, ius suum cuique tribuendi"; Leibholz, Gleichheit, S. 244; Nipperdey, RdA 50,121,123; W. Böckenförde, Gleichheitssatz, S. 38; Hesse, AöR 77, S. 167, 197; Seißer, Art. 3, S. 60. , Diese Formulierung insbes. der Rechtsprechung, vgl. nur BVerfGE I, 14,52; 4,144, 155; 50, 177,186; 51, 295, 300; 60,16,42, findet sich so schon bei Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. Buch, 3, Il3la, S. 100. Ferner Leibholz, Gleichheit, S. 45, Kelsen, Rechtslehre, S. 392; Klein in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, S. 198. B BVerfGE I, 14,52; 4, 144, 155, sI. Rspr.; grundlegend Leibholz, Gleichheit, S. 4, 72ff., und Triepel, GoldbilanzVO, S. 30; H.-P. Ipsen in: NeumannINipperdey/Scheuner, Grundrechte 11, S. 151f; Rinck, JöR 10, S. 269, 281f.; Küchenhoff, IR 59, 281, 282; Weber-Dürler, Rechtsgleichheit, S. 155; Seißer, Art. 3, S. 45.
2. Abschnitt: Vorgaben des Art. 3 GG für die Rechtsfolgenermittlung
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Verbot einer willkürlichen (Nicht-)Differenzierung bei der Behandlung vergleichbarer Personen oder Gruppen9• 2. Die spezifisch für die Rechtsfolgenbestimmung relevante Aussage des Art. 3 I GG Auf der Grundlage der genannten Kernaussagen des Art. 3 I GG ist zu fragen, welche Vorgaben dem Art. 3 I GG für die Rechtsfolgenbestimmung im Falle eines Gleichheitsverstoßes zu entnehmen sind. Dabei kommt es entscheidend darauf an, was bei einer willkürlich (nicht) differenzierenden Regelung genau gegen Art. 3 I GG verstößt und damit als verfassungswidrig zu mißbilligen ist. Erst die Beantwortung dieser Frage bietet die verfassungsrechtliche Grundlage für das Herausarbeiten der genauen Folgen, die der Verstoß für die inkriminierte Regelung hat.
a) Zur Struktur der "Gleichheit" Für die Beantwortung dieser präjudiziellen Frage ist es notwendig, sich die formale Struktur der geforderten "Gleichheit" zu vergegenwärtigen. "Gleichheit" ist - in Abgrenzung zu "Identität" - ein Verhältnis, in dem Verschiedenes zueinander steht lO • Präzisierend läßt sich Gleichheit also als ausgewogene Relation von Verschiedenem zueinander definieren. Das von Art. 3 I GG ausgesprochene Gebot der Gleichbehandlung ist also als Verpflichtung zu verstehen, bei der Ausgestaltung der Rechtsverhältnisse zu vergleichbaren Personen oder Gruppen gleichmäßig, d.h. anhand desselben Maßstabs zu verfahrenlI. Art. 3 I GG gibt der Normsetzung damit die Gleichheit als einformelles Rechtsprinzip verbindlich vor;formell insoweit, als mit der Pflicht zum Gleichmaß
• BAG, AP Nr. 4 zu § I TVG Tarifverträge: Textilindustrie; BAG, AP Nr. I zu § I TVG Tarifverträge: Süßwarenindustrie; BAG, AP Nr. 54 zu § 242 BGB Gleichbehandlung; BAG, OB 85, 1239; BAG, NZA 93, 324, 326; Leibholz, Gleichheit, S. 245ff.; H.-P.Ipsen in: Neumann! Nipperdey/Scheuner, Grundrechte 11, S. 152, 157; Dürig in: MaunzlDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 I Rn. 305, 337. Einen Überblick über die Aspekte, die den Charakter als Willkürverbot u.U. ergänzen, gibt W. Böckenforde, Gleichheitssatz, S. 43ff. 10 Grundlegend Windelband, Gleichheit und Identität, S. 9; S.67.
w.
Böckenförde, Gleichheitssatz,
11 Leibholz, Gleichheit, S. 45; Küchenhoff, JR 59,281; Dax, Gleichbehandlungsgebot, S. 100; Hesse, AöR 77, S. 167, 197, übernimmt mit seinem Satz "Das Gleiche und damit das Gerechte bestehtin der richtigen Proportion" eine Formulierung des Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. Buch, 3, I \3lb, S. 101.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
nur eine Regel für die formelle Rechtsgestaltung konstituiert wird l2 • Demgegenüber fehlt dem Prinzip der Gleichheit eine eigene materielle Substanz in dem Sinne, daß die Verpflichtung zur Gleichheit ihrem Wesen nach keine Aussage darüber trifft, welchen Inhalt die geforderte gleiche Behandlung haben solll3. Das Gleichheitsprinzip schreibt zwar den gleichen Verteilungsmaßstab vor, ist aber hinsichtlich des Niveaus, auf dem die Gleichheit besteht, neutraP4. Verlangt aber Gleichheit nur einen gleichen Verteilungsmaßstab, so folgt für die Bewertung eines Verstoßes gegen das Gleichheitsgebot daraus ein wichtiges Zwischenergebnis: Von Art. 3 I GG mißbilligt ist nicht etwa einer der beiden Teile der Relation an sich, also nicht etwa die Behandlung einer Gruppe an sichis. Der Verfassungsverstoß liegt vielmehr in der Wahl des Verteilungsmaßstabes durch den Normgeber, dem Mißachten des formellen Rechtsprinzips der Gleichheit l6 - und als dessen Folge in der gesamten unausgewogenen Regelungsrelation l7 •
b) Isolierte Bewertung der im Gleichheitsverstoß liegenden Benachteiligung? Vor dem Hintergrund dieser strukturellen Besonderheit des Gleichheitsverstoßes ist die häufig zu verzeichnende Tendenz zu bewerten, die zu beanstandende Regelungsrelation in zwei gedanklich trennbare Teile - die Bevorzugung und die Benachteiligung - aufzuspalten und beide gesondert zu bewerten l8 • Dieses methodische Vorgehen findet sich insbesondere bei der Behandlung der bekannten .2 H.-P./psen in: NeumannlNipperdey/Scheuner, Grundrechte 11, S. 128; Klein in: v.Mangoldtl Klein, GG, Bd. P, S. 195; Mertens, Selbstbindung, S. 78; vgl. auch Küchenhoff, JR 59, 281. 13 Kelsen, Rechtslehre, S. 391; Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 126, 168; Salzwedel, FS Jahrreiß, S. 339, 342, der deshalb treffend von einer "Akzessorietät" des Gleichheitssatzes spricht.
•• Ne/, Gleichheit, S. 71,74; W. Böckenförde, Gleichheitssatz, S. 71; Skouris, Teilnichtigkeit, S. 55; Mertens, Selbstbindung, S. 79; Seißer, Art. 3, S. 60; Maurer, FS W.Weber, S. 345, 354. " BVerfGE 33, 90,103; 33, 106ff; 33, 115ff; Ne/, Gleichheit, S. 14; Krohn, BB 68, 38; Schefoldl Leske, NJW 73, 1297, 1300; Maurer, FS W.Weber, S. 345, 354; J. /psen, Rechtsfolgen, S. 213; Gusy, Gesetzgeber, S. 195; speziell für den Fall von § 622 11 2 2.HS - § 2 I 3 AngKG Kranz, NZA 84, 348, 349 . • 6 Aristoteles, Nikomachische Ethik, V. Buch, 3, 1131 b, S. 101, sieht das "Ungerechte im Verstoß gegen die Proportion". Ferner Mertens, Selbstbindung, S. 79.
17 Neben den in Fn. 15 Genannten C. Böckenförde, Nichtigkeit, S. 131; Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 61; Sachs, NVwZ 82, 657, 660f.; ders., RdA 89, 25, 28; Konzen, SAE 88,45,47; Koch, NZA 91, 50. 18 So z.B. Lechner, NJW 55, 1817, 1818; Seiwerth, Verfassungsbeschwerde, S. 73,75; Schneider, AöR 89, S. 24, 35ff., 39ff.; Rupp-v.Brünneck, FS Gebh. Müller, S. 355, 367; Stahler, Nachprüfung, S. 39; Rauschning, Sicherung, S. 235ff.; i.Erg. auchJülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 65ff.; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 129f.
2. Abschnitt: Vorgaben des Art. 3 GG für die Rechtsfolgenermittlung
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verfassungsrechtlichen Sonderproblematik des sog. relativen gesetzgeberischen Unterlassens. Gemeint ist damit der Fall, daß der Gesetzgebernur für eine Gruppe eine Regelung trifft, eine entsprechende Regelung für eine vergleichbare Gruppe jedoch unterläßt bzw. diese ausdrücklich von der Regelung ausnimmt l9 • Da es in diesen Fällen stets die Benachteiligten sind, die den Klageweg beschreiten, sieht sich das BVerfG im Falle einer Verfassungsbeschwerde oder im Rahmen eines Verfahrens nach Art. 100 GG vorrangig mit dem Aspekt der Benachteiligung der Betroffenen konfrontiert. Bei dieser - prozessual bedingten - Ausgangssituation überrascht es kaum, daß die Aussage, Art. 3 I GG verbiete sowohl gleichheitswidrige Bevorzugungen wie auch Benachteiligungen20 , aufgespalten wird. Entnimmt man dem Gleichheitssatz zwei getrennte Verbote, so scheint sich die Möglichkeit zu eröffnen, die Benachteiligung isoliert auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Da man dies freilich ebenso für die Bevorzugung tun kann, wird daraus entweder der Schluß gezogen, es lägen zwei Verfassungsverstöße vor - einer in der Begünstigung und einer im benachteiligenden Unterlassen21 - oder aber man meint, der Verfassungsverstoß läge entweder in der Bevorzugung oder in der Benachteiligung22 • Dementsprechend hat das BVerfG gemeint, es könne entweder die Begünstigung für nichtig oder die in dem relativen Unterlassen liegende Benachteiligung für verfassungswidrig erklären 23 • Injedem Fall scheinen die Vertreter einer solchen "gespaltenen" Betrachtungsweise den Zwang zu verspüren, sich im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens zugunsten einer dieser beiden Alternativen zu entscheiden. Dabei wird zumeist aufgrund einer im materiell-rechtlichen liegenden Argumentation die Verfassungswidrigkeit ausschließlich der im Unterlassen liegenden Benachteiligung zugeordnet24 • Andere sehen sich dazu gezwungen, das Dilemma der Entscheidung, worin nun die Verletzung liege, anhand verfassungsprozessualer Aspekte zu entscheiden: Da der Benachteiligte
19 Auch im letzten Fall handelt es sich der Sache nach um ein Unterlassen, vgl. auch Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 56f. 20 Z.B. Dürig in: MaunzlDüriglHerzog/Scholz, GG, Art. 3 I Rn. 345; Salzwedel, FS Jahrreiß, S. 339, 342, 345. 21 Schneider, AöR 89, S. 24, 39f. Diese Sichtweise wird insbes. eröffnet, wenn man wie Seufert, Gesetzgebungsgebote, S. 222, betont, es handele sich bei Bevorzugung und Benachteiligung um zwei rechtlich relevante Akte.
22
Lerche, AöR 90, S. 341, 361 f.; Stahler, Nachprüfung, S. 39f.
23
BVerfGE 8, 28, 37; 14,306, 311f.; zust. Lenz in: HamannlLenz, GG, S. 153.
2' So Stahler, Nachprüfung, S. 41, der die Frage, worin die Verletzung des Art. 3 I GG liege, in einer zirkulären Weise aus der Perspektive dessen bestimmen will, der die Verletzung rügt. Damit sei vorgegeben, daß die Verletzung stets im Unterlassen liege. Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 67, will eine an sich von einem vernünftigen Zweck getragene Teilregelung so lange aufrechterhalten, wie der Gesetzgeber die Gleichheit noch durch Ausdehnung der Begünstigung herstellen kann. Vgl. auch BVerfGE 66,100, 105f.; Pohle, Verfassungswidrigerklärung, S. 129f.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
nur durch das relative Unterlassen beschwert sei, sei er bei der Verfassungsbeschwerde nur insoweit beschwerdebefugt2s. Damit gehe eine Einschränkung der Prüfungskompetenz des BVerfG einher, das bei festgestellter Gleicheitswidrigkeit nur die Verfassungswidrigkeit des Unterlassens, also der Benachteiligung feststellen könne 26 • Das BVerfG hat tatsächlich mehrfach in seinen Entscheidungen die Verfassungs widrigkeit nur der Unterlassung bzw. allgemein nur der Benachteiligung ausgesprochen27 • Es läßt sich festhalten: Das Aufspalten des Gleichheitssatzes in jeweils ein isoliertes Bevorzugungs- und Benachteiligungsverbot führt ganz offensichtlich zu einer beträchtlichen Unsicherheit in der Bewertung eines Gleichheitsverstoßes. Die Möglichkeit, z.B. unter ein gesondertes Benachteiligungsverbot zu subsumieren und gegebenenfalls die Verfassungswidrigkeit allein in dem schlechter behandelnden Relationsteil zu sehen, stellt eine ganz andere Ausgangslage für die Rechtsfolgenbestimmung dar, als wenn man den Gleichheitssatz als einheitliches Verbot versteht, einen unausgewogenen Regelungsmaßstab zu wählen, und infolgedessen als verfassungsrechtlich mißbilligt die gesamte ungleiche Relation ansehen muß. Angesichts der absehbar unterschiedlichen Konsequenzen, die diese Sichtweisen haben können, ist von entscheidender Bedeutung, ob die Teile der verfassungsrechtlich mißbilligten Relation einer isolierten Verfassungswidrigkeitsprüfung überhaupt zugänglich sind, ob also die Relation aufgespalten bewertet werden kann 28 •
25
Schneider, AöR 89, S. 24, 39f.
Lechner, NJW 55, 1817, 1818; Schneider, AöR 89, S. 24, 40; Dax, Gleichbehandlungsgebot, S. 140. 26
27 Z.B. BVerfGE 13,248,260; 22, 349, 361; 82, 126, 154; vgl. auch BVerfGE 66, 100, 105f. Wenn das BVerfG aber z.B. in der Entscheidung zu § 622 II BGB, der die Arbeiter gegenüber der Angestelltenregelung des § 2 I 3 AngKG bei den Kündigungsgrundfristen benachteiligte, nur von der Verfassungswidrigkeit des benachteiligenden § 622 II BGB spricht (BVerfGE 82, 126, 129, 154), so bleibt letztlich unklar, ob dieses Ergebnis auf einer "gespaltenen" Interpretation des Gleichheitssatzes als jeweils gesondertes Bevorzugungs- und Benachteiligungsverbot beruht. Näher scheint es zu liegen, den Grund hierfür in der Beschränkung des Vorlagebeschlusses gern. Art. 100 GG allein auf die Verfassungsmäßigkeitsprüfung des § 622 II BGB zu sehen, somit in einer für den Verfassungsprozeß spezifischen Einengung des Verfahrensgegenstandes. Vgl. aber demgegenüber BVerfGE 62, 256, 289, wo Entscheidungsforrnel und -gründe § 622 II 2 2.HS BGB deutlicher als Teil einer verfassungswidrigen Regelungsrelation herausstellen. Ähnlich die Tendenz des BVerfG in der Entscheidung zum HATG NW, BVerfGE 52, 369, 378. Ganz deutlich BVerfGE 18,288,301.
2. AuchJülicher, Verfassungs beschwerde, S. 63, sieht als entscheidend an, ob die Gesamtregelung eine "untrennbare Einheit" bildet. Ebenso Lechner, NJW 55, 1817, 1818, der die Frage nach dem "notwendigen Zusammenhang" zwischen Begünstigung und relativem Unterlassen stellt. Ein solcher schlösse es aus, im Unterlassen ein selbständiges juristischen Phänomen zu sehen.
2. Abschnitt: Vorgaben des Art. 3 GG für die Rechtsfolgenennittlung
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Der gespaltenen Interpretation des Gleichheitssatzes kann man zunächst nicht entgegenhalten, sie ignoriere den notwendig relativen Charakter jeglicher Gleichheitswidrigkeit. So wird durchaus betont, die Benachteiligung sei gerade und nur im Hinblick auf die Bevorzugung verfassungswidrig 29 • Es besteht jedoch der ganz grundsätzliche Einwand, daß jede isolierte Betrachtung und Bewertung der einzelnen Teile einer Regelungsrelation der Relativität des Gleichheitsverstoßes nicht ausreichend Rechnung trägt. Aus dem Umstand, daß es sich um eine Regelungsrelation handelt, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen wegen des ihr zugrunde gelegten ungleichen Verteilungsmaßstabes nicht genügt, folgt nämlich, daß die Tatsache der "Besserbehandlung" der einen Gruppe mit der Tatsache der "Schlechterbehandlung" der anderen identisch ist30 • Beides ist Kehrseite einer Medaille und logisch nicht von einander trennbarl l . Es ist daher nicht möglich, etwa die Verfassungswidrigkeit der Benachteiligung gesondert zu betrachten32 und daraus isoliert Schlüsse für die Rechtsfolge zu ziehen: Stellt man fest, daß eine Benachteiligung nicht von sachlichen Gründen getragen ist, so ist damit vielmehr immer zweierlei entschieden: einmal, daß die Benachteiligung im Hinblick auf die Bevorzugung! - verfassungswidrig ist und daß die Bevorzugung - im Hinblick auf die Benachteiligung! - verfassungswidrig ist. Darin schlägt sich konsequent nieder, daß von Art. 3 I GG die ungleiche Maßstabswahl mißbilligt ist, damit zwangsläufig die Folge dieser Wahl: heide Regelungen in ihrem Verhältnis zueinander. Vor diesem Hintergrund erscheint es bereits unsauber und irreführend, überhaupt isoliert von einer "verfassungswidrigen Benachteiligung" zu sprechen. Subjektiv-rechtlich gewendet, folgt aus dem Gesagten, daß die weitverbreitete Ansicht, der Benachteiligte sei nur durch den ihn benachteiligenden Relationsteil beschwert33 , so nicht zutreffend ist. Vielmehr liegt ihr ein Fehlverständnis des
29
Z.B. Schneider, AöR 89, S. 24, 39.
3. So auch BAG, DB 82, 1014. II Dürig in: MaunzlDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 I Rn. 345, 364; Maurer, FS W.Weber, S. 345, 352f.; Wessei, DVBI. 52, 161, 164; vgl. auch Dax, Gleichbehandlungsgebot, S. 125, der die gedankliche Aufspaltung des einheitlichen Verletzungstatbestandes für "fragwürdig" hält. BAG, DB 82,1014, spricht von einer "Verknüpfung aus der Natur der Sache". Dies erfaßt BVerfGE 18, 38,46, nicht ganz so exakt, wenn es - i.Erg. richtig - fonnuliert: "Für die Prüfung des Art. 3 I GG kommt es [ ... ] nicht darauf an, daß eine Benachteiligung festgestellt wird; es genügt eine Ungleichheit der Behandlung."
12 Dax, Gleichbehandlungsgebot, S. 124f.; Seufert, Gesetzgebungsgebote, S. 172, 174. Verfehlt daher LAG Niedersachsen, ZIP 84, 1130, und LAGE Entsch. 17 zu § 622 BGB, S. 13.
33 Schneider, AöR 89, S. 24, 39; Seiwerth, Verfassungsbeschwerde, S. 73; Stein in: AK-GG, Art. 3 Rn. 57.
88
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
materiellen subjektiv-rechtlichen Gehalts des Art. 3 I GG zugrunde. Diese subjektiv-rechtliche Seite des Art. 3 I GG muß inhaltlich dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Grundrechts entsprechen34 • Diese kann daher keine andere Struktur aufweisen als jene. Daraus folgt, daß der einzelne keinen gesonderten Anspruch daraufhat, nicht benachteiligt zu werden3S • Ebensowenig hat er freilich einen isolierbaren Anspruch darauf, daß ein anderer ihm gegenüber nicht bevorzugt wird36 • Sein Anspruch besteht allein darin, daß bei der Güter- und Lastenzuteilung der gleiche Maßstab angelegt wird und so eine gleiche Behandlung erfolgt37 • Er hat damit einen - und zwar gewissermaßen untrennbar kombinierten38 - Anspruch darauf, daß weder benachteiligt noch bevorzugt wird. In diesem subjektiven Recht ist der Benachteiligte durch die ungleiche Relation betroffen39 • In der gesamten Relation liegt daher auch seine Beschwer. c) Art. 3 I GG und seine "Gesamtrichtung noch oben" (Dürig)
Nach den bisherigen Überlegungen ist davon auszugehen, daß Art. 3 I GG bei einem Gleichheitsverstoß die gesamte Regelungsrelation mißbilligt. Damit aber ist er wegen seines Charakters als lediglich formeller Rechtsgestaltungsregel gegenüber der inhaltlichen Ausgestaltung der Regelungen neutral. Daraus folgt konsequenterweise, daß Art. 3 I GG keine Ausage darüber zu entnehmen ist, auf welchem Niveau die Gleichheit herzustellen ist. Letzteres nun wird von Dürig bestritten: Er behauptet, dem Gleichheitssatz des Art. 3 I GG sei eine
34 Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 66f.; Lenz in: HamanniLenz, GG, S. 149; Sachs, OÖV 84,411,417. lS Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 66f.; Sacksofsky, Gleichberechtigung, S. 373; i.Erg. auch Schubach, Gleichheitssatz, S. 67f. A.A. Dax, Gleichbehandlungsgebot, S. 125f., der meint, der Gleichbehandlungsanspruch werde durch einen Gleichheitsverstoß zu einem Anspruch auf Besserbehandlung konkretisiert. Ähnlich schon Frey, AuR 57,161, 167.
36 HessVGH, OÖV 68, 504 LS 2; insoweit richtig Dürig in: MaunzIDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 I Rn. 172; Dax, Gleichbehandlungsgebot, S. 124. A.A. Schubach, Gleichheitssatz, S. 67f.; wohl auch Seufert, Gesetzgebungsgebote, S. 332f.
37 H.-P.lpsen in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte 11, S. 128f.; Klein in: v.Mangoldt/ Klein, GG, Bd. F, S. 195; Fuß, JZ 59, 329, 339; Jülicher, Verfassungsbeschwerde, S. 67; Dax, Gleichbehandlungsgebot, S. 125; Mertens, Selbstbindung, S. 79, spricht von einem "formellen Recht auf Befolgung des allgemeinen Rechtsprinzips der Gleichheit". Sachs, OÖV 84, 411, 414, spricht von einem "modalen Abwehrrecht", das gegen eine bestimmte Art des Staatshandeins, nämlich das ungleiche, besteht. Siehe auch Sacksofsky, Gleichberechtigung, S. 373. 38
Vgl. Sachs, OÖV 84, 411, 417.
39
BVerfGE 18,288,301; Dax, Gleichbehandlungsgebot, S. 125.
2. Abschnitt: Vorgaben des Art. 3 GG für die Rechtsfolgenermittlung
89
"Gesamtrichtung nach oben"40 immanent, eine "zum Besseren hin dynamisierte Zielrichtung"41. Zur Begründung führt Dürig an, es könne nicht darum gehen, das zu zerstören, was hervorragt, sondern das Ziel müsse vielmehr sein, den durchschnittlichen Standard zu heben. Dabei habe das Hervorragende als Maßstab für das Durchschnittliche zu dienen. Andernfalls wäre "die wirkliche Dynamik [des Gleichheitssatzes] nichts als ein Grundrecht auf 'Neid' und vor allem auf Stagnation und fortschrittsfeindliche Reaktion". Einer solchen Interpretation käme eine vorentscheidende Bedeutung für die Rechtsfolgenbestimmung zu: Bei der Suche nach der Konsequenz der Verfassungswidrigkeit der gesamten Regelungsrelation wäre verbindlich der Weg zu einer Anpassung der Gesamtregelung auf dem oberen Gleichheitsniveau gewiesen42 . Die Gleichheit auf dem bestmöglichen Niveau ist im Rahmen des Möglichen und gesamtwirtschaftlich Vertretbaren, insbesondere des Finanzierbaren, sicherlich anzustreben. Wenn Dürig diese aber als von Art. 3 I GG selbst gefordert ansieht, so überfrachtet er den Gleichheitsgedanken mit einer zusätzlichen materiellen Vorgabe, die diesem als Gerechtigkeitsprinzip von seiner formellen Struktur her fremd ist41, Die verbindliche Vorgabe des Verteilungsmaßstabs verpflichtet eben nur zum Gleichmaß. Die Frage, ob überhaupt und gegebenenfalls auf welchem Gleichheitsniveau etwas geregelt wird, steht dagegen - grundsätzlich - im naturgemäßen Regelungsermessen, das dem staatlichen Gesetzgeber aufgrund seines verfassungsrechtlichen Gestaltungsfreiraumes 44 , den Tarifvertragsparteien aufgrund der Verfassungsgarantie der Tarifautonomie45 zusteht. Bei der Ausübung dieses Ermessens handelt es sich um eine politische Entscheidung, die die Verfassung nicht apriori und starr für jeden Einzelfall determinieren kann und will. Freilich erfährt dieses Ermessen Einschränkungen. Dabei aber ist von vornherein streng zwischen denen faktischer und denen rechtlicher Natur zu unter-
.. Dürig in: MaunzlDüriglHerzog/Scholz, GG, Art. 3 I Rn. 20, 36, 107, 110, 171ff. 353, 365; ähnlich wohl schon Nikisch I, § 29 VI 5, S. 309. .. Dürig in: MaunzlDüriglHerzogiScholz, GG, Art. 3 I Rn. 353. 42 So Dürig in: MaunzlDüriglHerzog/Scholz, GG, Art. 3 I Rn. 365: Die Rechtsfolge könne infolge dieser Gesamtrichtung nicht in einem "Herunterpegeln" einer bereits teilweise gewährten Begünstigung bestehen.
43
Vgl. Mertens, Selbstbindung, S. 79 .
.. Vgl. nur BVerfGE 11,50,60; 12, 151, 166; 22, 349, 361; 59, 231, 263; W. Böckenförde, Gleichheitssatz, S. 82f.; Weber-Dürler, Rechtsgleichheit, S. 176ff. 4$
Zum weiten Gestaltungsfreiraum der Tarifvertragsparteien nur BAG, NZA 87, 667, 668.
90
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
scheiden. Faktisch schränkt politisch-gesellschaftlicher Druck bzw. der tarifpolitische Druck der Gewerkschaften dieses Ennessen erheblich in Richtung einer Dynamisierung des Gleichheitsniveaus nach oben ein46 • In rechtlicher Hinsicht liegt die Einschränkung des Ennessens in der Verpflichtung zur Beachtung anderer Verfassungsaufträge und -prinzipien begründet - die jedoch von Aussage und Gehalt des Art. 3 I GG strikt zu trennen47 sind. Der staatliche Gesetzgeber hat bei der Ausübung seines Ennessens, hier konkret: der Wahl des Gleichheitsniveaus, Z.B. seine Verpflichtung zum Schutz der Menschenwürde, zur Unterstützung der freien Entfaltung der Persönlichkeit, die Vorgaben des Sozialstaatsprinzips, den Auftrag zum Schutz der Familie, sowie den Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates zu beachten. All diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben mag eine Tendenz zur Hebung des Niveaus innewohnen; diese Tendenz ist jedoch in allen Fällen so unbestimmt, die Vorgabe so unscharf, daß durch sie kaum jemals im konkreten Fall ein ganz bestimmtes Gleichheitsniveau vorgeschrieben sein könnte48 • Auf die Bedeutung des von jedem Nonngeber zu beachtenden rechtsstaatlichen Vertrauensschutzprinzips als Ermessensbegrenzung49 wird noch ausfUhrlich einzugehen sein50 • Jedenfalls aber wäre es viel zu undifferenziert, in diesem Prinzip eine allgemeine Festlegung des N onngebers sehen zu wollen, einen bestehenden Gleichheitsverstoß durch Herstellung der Gleichheit auf dem höheren Niveau beseitigen zu müssen51 • Das Vertrauen einer
.. Für den Fall des Lohnniveaus vgl. dazu A. Hueck, Gutachten, S. 23 . ., Vgl. BVerfGE 6, 55, 71; BAGE I, 51, 56: Das Sozialstaatsprinzip tritt "neben den Gleichberechtigungsgrundsatz". Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 127, dort auch Fn. I, spricht davon, daß der Gleichheitsgrundsatz wegen seines nur-formellen Charakters der Ergänzung durch andere Grundsätze (mit materiellem Gehalt) bedürfe. Vgl. auch Mertens, Selbstbindung, S. 79f. Diese Trennung wird auch in der Rechtsprechung des BVerID nicht immer deutlich genug gemacht: BVerfGE 6, 246, 256, gelangt z.B. im Falle einer Ungleichbehandlung zu einer die Begünstigung ausweitenden Teilnichtigkeitsfeststellung. Dabei macht das Gericht nicht hinreichend klar, daß dieses Ergebnis weniger durch den materiellen Gehalt des Art. 3 I GG, als durch einen ganz konkreten Verfassungsauftrag gefordert war, den der Gesetzgeber nur teilweise und damit schlechterfüHt hatte. Klarer zum selben Problem BVerfGE 15,46,76: "Die Ergänzung der Anlage A [... ] ist nach Art. 131 GG und Art. 3 GG zwingend geboten." Salzwedel, FS Jahrreiß, S. 339,343, hält im Falle eines schlechterfüllten konkreten Verfassungsauftrages Art. 3 I GG sogar für unanwendbar . •• Moench, Verfassungswidriges Gesetz, S. 168, hält eine Ermessensreduzierung auf Null für den Gesetzgeber bei Art. 3 GG für kaum jemals denkbar. Zum fehlenden Charakter insbes. des Sozialstaatsprinzips als konkrete Handlungsanweisung vgl. nur BVerIDE 59, 23 I, 263; Schnapp in: v.Münch, GG, Art. 20 Rn. 19 .
•• Zur Geltung diese Prinzips auch für die tarifliche Normsetzung vgl. nur BAGE 50, 137, 145f. $0
Siehe unten, S. 226ff.
$1
In diese Richtung wohl aber Dürig in: MaunzlDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 I Rn. 365.
2. Abschnitt: Vorgaben des Art. 3 GG für die Rechtsfolgenerrnittlung
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bevorzugten Gruppe auf Beibehaltung eines bestimmten Regelungsniveaus istjedenfalls für die Zukunft - verfassungsrechtlich nur äußerst selten unbedingt schützenswertS2 . Damit ergibt sich, daß dem in Art. 3 I GG Ausdruck verliehenen Gleichheitsgedanken weder bei isolierter Betrachtung eine "Gesamtrichtung nach oben" in Dürigs Sinne innewohnt, noch dieses formelle Gleichheitsprinzip in allgemeiner Form durch andere Rechts- und Verfassungsprinzipien materiell in diesem Sinne ergänzt wird.
d) Zwischenergebnis Es bleibt festzuhalten, daß sich der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 I GG darauf beschränkt, verbindlich einen im aristotelischen Sinne gleichen Verteilungsmaßstab vorzuschreiben, der die gleiche Behandlung von Vergleichbarem bedingt. Demzufolge betrifft im Falle eines Gleichheitsverstoßes das Verdikt der Verfassungswidrigkeit die ungleiche Anwendung des Verteilungsmaßstabs und damit die gesamte die Ungleichbehandlung ausdrückende Regelung. Eine getrennte Bewertung der einzelnen Relationsteile ist ausgeschlossen. Daraus folgt ferner, daß Art. 3 I GG im Falle eines Gleichheitsverstoßes keinerlei Aussage darüber trifft, auf welchem Niveau die Gleichheit herzustellen ist.
11. Der Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 11 GG 1. Allgemeines zu Auslegung und Bedeutung des Art. 3 11 GG
Art. 3 11 GG wird ganz überwiegend die Forderung nach einer Gleichheit entnommen, die gegenüber der von Art. 3 I GG gemeinten relativen Gleichheit des "suum cuique" anders geartetet und egalitärer ist: Aus dem rechtlichen Anliegen der Gleichberechtigung von Mann und Frau - also von Ungleichen muß folgen, daß hier eben gerade nicht Ungleiches seiner Ungleichheit gemäß ungleich behandelt werden sollS). Art. 3 11 GG will vielmehr klarstellen, daß das Geschlecht als Rechtfertigungsgrund für eine rechtliche Differenzierung - von " Dax, Gleichbehandlungsgebot, S. 114; vgl. auch Lenz in: HamannlLenz, GG, S. 157. " In dieser KlarsteIlung gegenüber Absatz 1 sahen schon im Parlamentarischen Rat die Abg. Frau Dr. Nadig und Dr. v.Mangoldt die Funktion des Absatz 2, Nachweise bei Knöpfet, NJW 60, 553,555. Seißer, Art. 3, S. 68, sieht zu Recht in Absatz 2 eine Durchbrechung des Grundsatzes der
92
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
ganz eng umgrenzten Ausnahmen abgesehens4 - ausscheidetSs • In dieser Auslegung wird der Charakter des Absatzes 2 als Konkretisierung, besser noch: Spezialisierung des Absatz 1 deutlich: Während Art. 3 I GG je nach Konstellation ein Differenzierungsge- oder -verbot aufstellt und dabei die Ermessensgrenze für den Gesetzgeber erst bei der Willkür festlegt, spricht Absatz 2 für die Vergleichskonstellation zwischen Mann und Frau ein Differenzierungsverbot aus und setzt zugleich dem gesetzgeberischen Ermessen feste GrenzenS6 • Der Charakter des Art. 3 II GG als bloßes Differenzierungsverbot wird neuerdings in Frage gestellt. So sieht man teilweise diesen Aspekt ergänzt um einen Auftrag an den Gesetzgeber, das Erreichen tatsächlicher Gleichberechtigung von Männem und Frauen in der Gesellschaft aktiv zu fördem s7 •
2. Die spezifisch für die Rechtsfolgenbestimmung relevante Aussage des Art. 3 11 GG a) Zur Struktur des Art. 3 /I GG
Der Gleichberechtigungsgrundsatz gebietet wie der allgemeine Gleichheitssatz die Rechtsgleichheits8 , lediglich das inhaltliche Verständnis dieser Gleichheit ist Ungleichbehandlung von Ungleichen aus Absatz 1. A.A. und für eine Interpretation des Absatzes 2 i.S. des Absatz 1 z.B. Beitzke in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte I1, S. 199ff., 208ff.; Rüpke, Ermessen, S. 57f. Die Schwäche dieses Verständnisses des Abs.2liegt insbesondere darin, daß sie ihn gegenüber Abs.1 jeder eigenständigen Bedeutung beraubt. S4 Die Zulässigkeit einer auf biologischen Unterschieden beruhenden Differenzierung ist anerkannt. Darüber hinaus ist die Reichweite dieser Ausnahmen freilich strittig. Dürig, FamRZ 54, 2, 3, und in: MaunzlDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 II Rn. 2, und ihm folgend BAGE 1, 51, 53f., wollen z.B. eine Differenzierung zulassen, wo eine Gleichbehandlung ihrerseits willkürlich wäre. Noch weitergehend Knöpfei, NJW 60, 553, 555ff. Zum ganzen Gubelt in: v.Münch, GG, Art. 3 Rn. 79.
" BVerfGE 3, 225, 240f.; 9,124, 128f.; 59,128,157,159; 64,135,156; BA GE 1,51,53; (GS) 13, 1,7, st. Rspr.; Dürig, FamRZ 54, 2, 3; Fuß, JZ 59, 332, 335; PierothlSehlink, Grundrechte, Rn. 513. ,. BVerfGE 74,163,179; BAGE 13, 1,7; BAG, NZA 91, 635, 637; Starekin: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, Art. 3 Rn 206,; Gubelt in: v.Münch, GG, Art. 3 Rn. 79. " Nachweise bei Raaseh, Frauenquote, S. 140ff., 164ff: Saeksofsky, Gleichberechtigung, S. 342, kritisch S. 343ff. Saeksofsky selbst bricht völlig mit dem Verständnis des Art. 3 11 GG als Differenzierungsverbot und mißt der Norm statt dessen den Charakter eines "gruppenbezogenen Dominierungsverbotes" bei, S. 337ff., 349ff. $0 Vgl. nur Seißer, Art. 3, S. 65ff.; Starek in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, Art. 3 Rn 206, 209; Benda, Notwendigkeit, S. 110; auch Raaseh, Frauenquoten, S. 128f. Ein eventuell in Art. 3 II GG
2. Abschnitt: Vorgaben des Art. 3 GG für die Rechtsfolgenerrnittlung
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gegenüber Art. 3 I GG modifiziert. Ungeachtet dessen sind die Vorgaben, die vom Gebot der Gleichheit als dem ausgewogenen Verhältnis zwischen Verschiedenem ausgehen, von ihrer Struktur her stets dieselben: Auch in Absatz 2 wird dem Normgeber zunächst lediglich ein gleicher Verteilungsmaßstab abverlangtS9 • Daraus folgt, daß im Falle eines Verstoßes gegen Art. 3 11 GG auch hier wieder die Wahl des Verteilungsmaßstabs und damit die gesamte ungleich behandelnde Regelungsrelation verfassungswidrig ist. Wie festgestellt, schließt die Relativität eines Gleichheitsverstoßes aus, das Verdikt der Verfassungswidrigkeit auf den einen oder anderen Teil der zu beanstandenden Relation zu konkretisieren60 • Dazu bedürfte es vielmehr einer materiellen Vorgabe, die über die der Gleichheit hinausgeht. Wie im Fall des allgemeinen Gleichheitssatzes gesehen, hält die Verfassung im übrigen eine solche ergänzende Vorgabe allgemeiner Art nicht bereit. b) Art. 3 II GG als "Frauengrundrecht"? Vor diesem Hintergrund wäre eine Konkretisierung der Verfassungswidrigkeit auf einen Relationsteil nur dann möglich, wenn Art. 3 11 GG selbst neben der Vorgabe der Gleichheit zusätzlich eine materielle Aussage über das Niveau dieser Gleichheit entnommen werden könnte. Dies wäre in der Tat dann der Fall, wenn dem Satz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" die Stoßrichtung eines "Frauengrundrechts" zukäme und er infolge dessen wie "Frauen sind den Männern gleichberechtigt" zu verstehen wäre 61 • Zwar würden dieser Lesart keinerlei Anhaltspunkte für das absolute Niveau einer "Erst-Regelung" durch den Normgeberzu entnehmen sein. Bei einer Interpretation als "Frauengrundrecht" käme aber dem Art. 3 11 GG auf seiner Rechtsfolgenseite die Aussage zu, daß entstandene Benachteiligungen der Frauen aufzuheben und diese auf das
daneben enthaltener Auftrag an den Staat zur Schaffung tatsächlicher Gleichberechtigung in der Gesellschaft ist im gegebenen Zusammenhang nicht von Belang. >9 Beitzke in: NeumannlNipperdey/Scheuner, Grundrechte II, S. 209 unter Verweis auf die einheitliche Definition der Gleichheit als der "Gleichheit des bei der Verteilung von Rechten und Pflichten anzuwendenden Maßstabs" bei Leibholz, Gleichheit, S. 45.; Starekin: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, Art. 3 Rn. 206. 60
Siehe oben, S. 84ff.
6. So Dürig, FamRZ 54, 2, 3; ihm folgend BAGE 1,51,53 (allerdings korrigiert von BAGE 9, 124,125); v.Caemmerer, AöR 76, S. 144, 156; Nipperdey, RdA 50,121,126; Ramm, JZ68, 40, 42; Slupik, Parität, S. 75ff.; Sacksofsky, Gleichberechtigung, S. 315ff., 337, 352ff.; Raaseh, Frauenquoten, S. 189; kritisch, aber nicht ganz klar Klein in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. 1', S. 205.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
"Männerniveau" anzuheben seien62 . Daraus folgte notwendig zweierlei: Zum einen wäre bei einer den Frauen ungünstigen Relation ausschließlich die benachteiligende Frauenregelung verfassungswidrig 63 , zum anderen wäre eine einseitig Frauen begünstigende Regel unter dem Aspekt des Gleichberechtigungsgrundsatzes des Art. 3 11 GG nicht zu beanstanden64 • Die Interpretation des Gleichberechtigungsgrundsatzes in dem Sinne, daß die Frauen den Männem gleichberechtigt sind, wird auf den Kontext der historischen Aufgabe und Bestrebungen gestützt, die "Gleichberechtigung der Frau" zu erreichen65 : Der "Forderung der Frau [nach] Angleichung an die Mannesstellung"66 sei durch das Grundgesetz Rechnung getragen worden. Dies entspreche einer allgemeinen für das heutige Rechtsdenken charakteristischen Tendenz, wobei auf die Präambel der französischen Verfassung von 1946 verwiesen wird61, in der es tatsächlich heißt: "La loi garantit cl lafemme, dans tous les domaines, des droits egaux cl ceux de /'homme." Der Hinweis auf die französische Verfassung, der zur Stützung dieser "historischen Interpretation" des Art. 3 11 GG als Frauengrundrecht gedacht ist, verschafft jedoch bei näherem Hinsehen dem ersten Argument zur Widerlegung eben dieser Interpretation zusätzliche Durchschlagskraft: Im Gegensatz zur französischen Verfassung spricht Art. 3 11 GG von der Gleichberechtigung von Mann und Frau, was klarstellt, daß er dem Schutz von Frauen und Männem dienen so1l68. Hätte Art. 3 11 GG ausschließlich die Gleichberechtigung der Frau
02 BAG, AP Nr. 16 zu Art. 3 GG für die Fälle des sog. Frauenlohnes; Nipperdey, RdA 50, 121, 126; Dürig, FamRZ 54, 2, 3 und in: MaunzIDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 II Rn. 11,43; Ramm, JZ 68, 40, 42; Slupik, Parität, S. 76, 102; Sacksofsky, Gleichberechtigung, S. 337.
Ol Diese Konsequenz ziehen - folgerichtig - Nipperdey, RdA 50,121, 126; ihm folgend BAGE 1,258,269; 1,348,358; 4, 125, 131; 4, 133, 142; BAG, AP Nr. 16, 17, 18 zu Art. 3 GG; ferner LAG Hamm, RdA 51, 39; LAG Düsseldorf, BB 50, 60; Ramm, JZ 68, 40, 42.
.. BAGE 1,51,53 (zum HATG NW), im Anschluß an Dürig, FamRZ 54, 2, 3; so wohl auch BAG, AP Nr. 39 zu Art. 3 GG, wo das BAG eine Frauenbevorzugung ausschließlich an Art. 3 III GG maß. 0$ BAGE 1,51,53; Dürig, FamRZ 54,2,3, und in: MaunzlDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 II Rn. 11; Ramm, JZ, 68, 40, 42; Slupik, Parität, S. 76; Sacksofsky, Gleichberechtigung, S. 331 ff.
.. Kritisch von soziologischer Seite zur Wahl des Mannes als Maßstab Gerhard, Gleichberechtigung, S. 15f., 73ff. Sie weist daraufhin, daß es niemals Ausgangspunkt der Frauenbestrebung um Gleichberechtigung gewesen sei, diese durch pauschale Angleichung an die "Mannes stellung" zu erreichen. So auch Raaseh, Frauenquoten, S. 152f., 160, die eine pauschale Anpassung nach oben flir weder praktikabel noch angezeigt hält. 07
Ramm, JZ 68, 40, 42.
os In diesem Sinn auch BVerfGE 31, I, 4 (in seiner Entscheidung zum HA TG NW schien dem Gericht offenbar diese Einsicht keiner näheren Erläuterung mehr wert, BVerfGE 52, 369, 374); vgl. auch BVerfGE 74, 163, 179; BVerwGE 40, 17,24; OVG Münster, FamRZ 57, 271, 275;
2. Abschnitt: Vorgaben des Art. 3 GG für die Rechtsfolgenermittlung
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im Sinne eines Frauengrundrechts zum Inhalt, wäre eine der französischen entsprechende Formulierung wohl eher zu erwarten gewesen als die sprachliche Anknüpfung gerade an Art. 109 11 WRV69, dem die Interpretation als Frauengrundrecht gewiß nicht gerecht wird. Gegen diese Auslegung spricht neben dem Wortlautargument aber auch die Systematik des Art. 3 GG, insbesondere der Kontext zu dem unbestreitbar neutral formulierten 70 Absatz 3. Werden dort zudem Bevorzugung und Benachteiligung wegen des Geschlechts verboten, so bedeutet dies im Falle einer Regelung, die die Männer gegenüber den Frauen bevorzugt, zweierlei: Verboten ist nicht nur die Benachteiligung der Frauen, sondern eben auch die Bevorzugung der Männer71 • Eine Angleichung an die - damit ebenfalls verfassungswidrige! - Mannesstellung als Postulat des Absatzes 2 läßt sich mit diesem ambivalenten Verbot des Absatzes 3 schwerlich in Einklang bringen 72 • Ebenso deutlich wird die Ungereimtheit im umgekehrten Fall, der Frauenbevorzugung. Als Musterbeispiel diene der Hausarbeitstag: Würde Absatz 2 als Frauengrundrecht diesen Fall gar nicht erfassen und diese Ungleichbehandlung unangetastet lassen, so würde aber jedenfalls das Bevorzugungsverbot des Absatzes 3 zum Zuge kommen, womit im Ergebnis mit der Interpretation als Frauengrundrecht überhaupt nichts "gewonnen" wäre 73 • Ramm meint nun, diese systematischen Unstimmigkeiten auflösen zu können, indem er Art. 3 11 GG die Aufgabe zuweist, lediglich bisherige Benachteiligungen der Frau aufzuheben und deren Wiederherstellung vorzubeugen; Art. 3 III GG habe demgegenüber das Ziel, "neue Benachteiligungen" zu verhindern74 • Eine solche Überlegung muß jedoch an der Binnensystematik des Art. 3 III GG scheitern: Sollen bezüglich Rasse, Sprache und den anderen dort aufgefUhrten Merkmalen gewiß nicht nur "neue" Bevorzugungen und Benachteiligungen verboten sein, so läßt sich eine solche abweichende
Jellinek, AöR 76, S. 137, 141; E.Molitor, AcP 151, S. 385, 386; Lenz in: HamannlLenz, GG, S. 170; Gubelt in: v.Münch, GG, Art. 3 Rn. 76; Starck in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. 1', Art. 3 Rn. 208; Seißer, Art. 3, S. 74. A.A. Raaseh, Frauenquoten, S. 189. .. Vgl. dazu Seißer, Art. 3, S. 73f. 70
Starck in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. 1', Art. 3 Rn. 206; vgl. auch BVerwGE 40, 17,24.
71 Darauf weisen BAG, AP Nr. 39 zu Art. 3 GG und Schmidt-RimplerlGiesekeiFriesenhahnl Knur, AöR 76, S. 165, 178, hin. Dies wird bezeichnenderweise gern übersehen, etwa Sacksofsky, Gleichberechtigung, S. 373f. Anders aber Raaseh, Frauenquoten, S. 152. 72 Dieser Widerspruch wird zumeist nicht erkannt, vgl. z.B. Sacksofsky, Gleichberechtigung, S. 374.
73 Auf den damit zu Tage tretenden Widerspruch zwischen Art. 3 11 und III GG weisen besonders Knöpfei, NJW 60, 553, 556, und Klein in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. F, S. 209f. hin.
7'
Ramm, JZ 68, 40, 43.
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2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Differenzierung fiir das Merkmal "Geschlecht" allein nicht rechtfertigen7s . Der systematische Widerspruch, in den die Auslegung als Frauengrundrecht gelangt, läßt sich also kaum auflösen. Die Systematik fordert vielmehr, um Widersprüche in einer Verfassungsnorm zu verhindern, eine strukturell gleiche Auslegung von Art. 3 11 und III GG76. Richtig ist freilich, daß fiir den Verfassungsgeber angesichts der historischen Ausgangslage, der Vorrangstellung des Mannes, zweifellos die Gleichberechtigung der Frau Anlaß fiir die Aufnahme des speziellen Gleichberechtigungsgrundsatzes ins Grundgesetz war77 • Vor dem Hintergrund der eindeutigen Wortlaut- und systematischen Auslegung des Art. 3 11 GG läßt sich jedoch nur der Schluß ziehen, daß diese subjektive Zielvorstellung den Inhalt der geschaffenen Norm nicht einseitig in diesem Sinne bestimmt hat, sondern die Verfassung über den historischen Anlaß hinaus ein allgemeines Grundrecht fiir Mann und Frau auf rechtliche Gleichheit enthält. Art. 3 11 GG nur ein Frauengrundrecht auf Gleichberechtigung zu entnehmen, bedeutet daher, gesetzgeberischen Anlaß und gesellschaftspolitischen Hintergrund einer Verfassungsnorm mit ihrem sich in objektiver Auslegung erschließenden Inhalt zu verwechseln 78 . Art. 3 11 GG ist also nicht ausschließlich zum Schutz der Frau vor Benachteiligung bestimmt. Damit enWillt die einzig mögliche Rechtfertigung, der Rechtsfolgenseite des Art. 3 II GG die Vorgabe zu entnehmen, die entstandene Ungleichheit sei zwingend durch Angleichung der Frauen an das Männerniveau zu beseitigen79 . c) Zwischenergebnis
Wie bei Art. 3 I GG wird also der Gedanke der Gleichheit als formelle Rechtsgestaltungsregel nicht durch eine zusätzliche materielle Aussage ergänzt, " So auch Seißer, Art. 3, S. 73; Raaseh, Frauenquoten, S. 147f.; vgl. auch Knöpfet, NJW 60, 553, 556; Sacksoftky, Gleichberechtigung, S. 343. 7. Ganz überwiegend werden daher Art. 3 11 und 111 GG aus systematischen und nonngeschichtlichen Gründen für inhaltlich deckungsgleich gehalten, vgl. nur BVerwGE 40, 17, 24; Dürig in: MaunzlDüriglHerzog/Scholz, GG, Art. 3 III Rn. 4; Stein in: AK-GG, Art. 3 Rn. 74; Seißer, Art. 3, S. 71 m.w.N. 77 Vgl. v.Doemming/Füsstein/Matz, JöR I, S. 70ff.; richtig daher insoweit Dürig, FamRZ 54, 2, 3; v.Caemmerer, AöR 76, S. 144, 156; Sacksoftky, Gleichberechtigung, S. 332, 360; vgl. auch BVerfG, JZ 87, 407, 409. 71
Knöpfet, NJW 60, 553, 556; Seißer, Art. 3, S. 74.
79 So i.Erg. BAG, DB 82, 1014; A. Hueck, Gutachten, S. 23; Lenz, in: HamannlLenz, GG, S. 170; Fenn, SAE 82, 290f.; Starck in: v.Mangoldt/Klein, GG, Bd. P, Art. 3 Rn. 208; Liedmeier, Auslegung, S. 131; vgl. auch Jarass in: JarasslPieroth, GG, Art. 3 GG Rn. 39 i.V.m. 26.
2. Abschnitt: Vorgaben des Art. 3 GG für die Rechtsfolgenerrnittlung
97
die das Niveau der herzustellenden Gleichheit vorschriebe: Auch der Gleichberechtigungsgrundsatz des Art. 3 11 GG verlangt damit nur die Wahl des gleichen Verteilungsmaßstabes, d.h. eine gleiche Regelungsrelation 80 • Bei einer Ungleichbehandlung liegt die Verfassungswidrigkeit also auch hier in der Wahl des Maßstabs, damit in der gesamten ungleichen Regelungsrelation. Der Vorwurf läßt sich nicht auf den einen oder anderen Relationsteil konkretisieren, also auch nicht auf die benachteiligende Regelung allein.
III. Art. 3 III GG 1. Allgemeines zu Auslegung und Bedeutung des Art. 3 III GG
Nach allgemeiner Ansicht wird durch Art. 3 III GG von Verfassungs wegen klargestellt, daß die dort aufgeführten Merkmale als Anknüpfungs- und Rechtfertigungsgrund für eine Differenzierung ausscheidensI. Art. 3 III GG "zwingt den Gesetzgeber, über [die genannten Merkmale] hinwegzusehen, als gleich zu behandeln, was realiter unterschiedlich ist"s2. Auch bei Art. 3 III GG handelt es sich also um ein DifferenzierungsverbotS3 •
2. Die spezifisch für die Rechtsfolgenbestimmung relevanten Aussagen des Art. 3 III GG a) Zur Struktur des Art. 3 III
Wie der Absatz 2 des Art. 3 GG so verpflichtet auch sein Absatz 3 zur Gleichbehandlung durch Anwendung eines - gegenüber Absatz 1 ebenfalls im
I. Schmidt-Rimpler/Gieseke/Friesenhahn/Knur, AöR 76, S. 165, 178; Bötticher, RdA 53,161, 164; Dax, Gleichbehandlungsgebot, S. 100.
8' BVerfGE 75, 40, 69, st. Rspr.; H.-P. Ipsen in: NeumannlNipperdey/Scheuner, Grundrechte 11, S. 159, 178, 180f.; Klein in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. F, S. 208; Dürig in: Maunz/Dürig/Herzog/ Scholz, GG, Art. 3 III Rn. 1,3; Seißer, Art. 3, S. 99,109,111. 12
H.-P.lpsen in: NeumannlNipperdey/Scheuner, Grundrechte 11, S. 181.
83 Siehe nur Lenz in: HamannlLenz, GG, S. 171; Starck in: v.Mangoldt/Klein, GG, Bd. P, Art. 3 Rn. 253. Dabei ist wie bei Art. 3 11 GG (siehe S. 67 Fn. 54) umstritten, ob das Differenzierungsverbot seine Grenze wiederum im Willkürverbot des Art. 3 I GG findet, so z.B. Dürig in: MaunzIDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 III Rn. 3.
7 Hartmann
98
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
egalitäreren Sinne - gleichen Maßstabs84.Im Vergleich zu Absatz 1 und 2 ist dieses Gleichbehandlungsgebot jedoch anders gefaßt: Auf den ersten Blick stellt Art. 3 III GG das doppelte Verbot auf, wegen der genannten Merkmale nicht zu bevorzugen oder zu benachteiligen. Diese differenzierende Formulierung wirft die Frage auf, ob bei der Prüfung eines Gleichheitsverstoßes anhand des Absatz 3 ein gesonderter Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot konstatiert und die Verfassungswidrigkeit auf diese Benachteiligung beschränkt werden kann. Schon auf den zweiten Blick erweckt dieses Vorgehen Bedenken, da bereits für den Fall der Prüfung anhand des allgemeinen Gleichheitssatzes festgestellt worden war, daß dem die Untrennbarkeit beider Seiten einer Ungleichbehandlung, damit ein zwingender logischer Grund entgegensteht8s • Als Beflirworter einer solchen "gespaltenen Sichtweise" flir den Fall des Art. 3 III GG hat sich freilich das BAG in einer schon erwähnten Entscheidung86 hervorgetan. Eine tarifliche Ruhegeldregelung stellte flir Witwen und Witwer im Grundsatz identische Voraussetzungen für den Bezug einer Hinterbliebenenrente auf. Lediglich der Witwer mußte zusätzlich nachweisen, daß ihm im Zeitpunkt des Todes seiner Frau ein auf Geld gerichteter Unterhaltsanspruch gegen diese zustand. Als Prüfungsmaßstab für diese Ungleichbehandlung wählte das BAG nur Art. 3 III GG. Um das scheinbare Nebeneinander von Bevorzugungs- und Benachteiligungsverbot in den Griff zu bekommen, stellte das BAG zwei Regeln auf: Werden "2 Gruppen verschieden behandelt und handelt es sich dabei um die Benachteiligung einer Gruppe, so ist die Benachteiligungsklausel nichtig und die benachteiligte Gruppe wird auf den Stand der übrigen angehoben (so bei den Frauenlohnurteilen des Senats in AP Nr. 4, 6, 7 und 16 zu Art. 3 GG). Handelt es sich dagegen um eine Bevorzugung, so ist die Bevorzugungsklausel nichtig, und die zu Unrecht bevorzugte Gruppe verliert ihr Vorrecht." Um festzustellen, welche der beiden vom BAG als alternativ aufgestellten Regeln eingreift, mußte das Gericht eine dritte Regel aufstellen: Als maßgeblicher Vergleichsmaßstab habe man "auf die Normalregelung und ihren Sinn" abzustellen. Weicht ein Relationsteil von dieser begünstigend ab, so liege demnach eine Bevorzugung vor. Wird negativ abgewichen, sei eine Benachteiligung gegeben. Dieses Regelwerk scheint auf den ersten Blick so einfach wie einleuchtend, begegnet jedoch bei näherem Hinsehen im Ansatz bereits methodischen Beden-
... Dürig in: MaunzIDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 III Rn. I, 2; Starck in: v.MangoldtIKlein, GG, Bd. P, Art. 3 Rn. 253, 257 . •s Siehe oben S. 84ff.
•• BAG, AP Nr. 39 zu Art. 3 GG. Siehe dazu oben S. 43ff.
2. Abschnitt: Vorgaben des Art. 3 GG ftir die Rechtsfolgenermittlung
99
ken. So ist anerkannt, daß die Frage, ob eine Bevorzugung bzw. Benachteiligung vorliegt, unter Vergleich der betroffenen Gruppen zu beantworten ist87 • Dabei liegt es in der Natur der Sache, daß die Behandlung der Gruppen wechselseitig miteinander zu vergleichen ist88 • Diese wechselseitige Maßstabswahl unterbindet das BAG, indem es die Behandlung einer Gruppe als "Normalregelung" absolut setzt und damit diese aus der Wechselseitigkeit, die notwendig aus der Relativität der Ungleichbehandlung folgt, herauslöst und zum einzigen Vergleichsmaßstab erhebt. Sieht man Z.B. die günstigere Behandlung als "Normalregelung" an, so ist sicherlich die andere Gruppe im Vergleich dazu "benachteiligt". Es ist aber ebenso offensichtlich, daß die begünstigendere Regelung gegenüber der ungünstigeren eine "Bevorzugung" im Sinne des Art. 3 III GG darstellt, mag man diese Regelung nun "Normalregelung" nennen oder nicht. Das Küren einer "Normalregelung" vermag die wesensmäßige Relativität jeder Ungleichbehandlung - mit ihren logisch untrennbar verknüpften Seiten BevorzugungIBenachteiligung89 nicht abzuändern. Vielmehr fUhrt die Proklamation einer "Normal regelung" dazu, daß das Gericht wertend ermittelt, wo das Niveau festgelegt wird, auf dem die Gleichheit herzustellen ist. In dem formalen, "niveauneutralen" Rechtsgestaltungsprinzip der Gleichheit findet ein solches gerichtliches Vorgehen jedenfalls keine Grundlage. Anhand der "gespaltenen Interpretation" des Art. 3 III GG durch das BAG und seiner auf dieser Prämisse notwendig werdenden Folge-Regeln wird klar: An der logischen Verknüpfung von Bevorzugung und Benachteiligung fUhrt - auch im Fall des Art. 3 III GG - kein Weg vorbei: Eine ungleiche Regelungsrelation ist immer zugleich beides90 • Die aufgespaltene Formulierung des Art. 3 III GG paraphrasiert lediglich das Wort "Ungleichbehandlung". Dieser Absatz enthält damit ebenfalls nur ein Verbot, schlüsselt freilich dessen unselbständige Aspekte auf, ohne sie verselbständigen zu wollen und zu können. Diese Erkenntnis legt
.7 H.-P.lpsen in: NeumannlNipperdey/Scheuner, Grundrechte 11, S. 159, 178f.; Klein in: v.MangoldtIKlein,GG, Bd. 1', S. 211;Lenzin: HamannlLenz, GG, S. 173; Gubeltin: v.Münch, GG, Art. 3 Rn. 96. 11
Vgl. H.-P.lpsen in: NeumannlNipperdey/Scheuner, Grundrechte 11, S. 179.
So auch deutlich BAG, DB 82,1014; Starck in: v.MangoldtiKlein, GG, Bd. P, Art. 3 Rn. 265, und Dürig in: MaunzIDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 III Rn. 169: "Wechselverhältnis von Benachteiligung und Bevorzugung." 19
90 BAGE 37, 352, 355; Dürig in: MaunzlDürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 3 I Rn. 345, 364; Maurer, FS W.Weber, S. 345, 352f. Mißverständlich daher H.-P.lpsen in: NeumannlNipperdey/ Scheuner, Grundrechte 11, S. 159: "Eine unzulässige Ungleichheit sieht Art. 3 III in einer aufseinen Merkmalen beruhenden Benachteiligung oder Bevorzugung."
100
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
auch die ganz h.M. zugrunde, wenn sie dem Art. 3 III GG (Merkmal "Geschlecht") keinen vom Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 11 GG abweichenden Gehalt entnimmt91 • Auch das BAG hat in späteren Urteilen die von ihm aufgestellten Regeln stillschweigend nicht mehr angewandt92 •
b) Zwischenergebnis Auch Art. 3 III GG verlangt also - eingekleidet in ein Verbot - nur die Verwendung desselben Maßstabs und damit die Gleichbehandlung93 • Dem entspricht auf der subjektiv-rechtlichen Seite: Der Anspruch darauf, nicht aus den genannten Gründen benachteiligt zu werden, existiert nur als unselbständiger Bestandteil des Anspruchs, nicht "ungleich" behandelt zu werden94 • Somit ist er keineswegs, wie der Wortlaut nahe legen könnte, auf "gleiche Bevorzugung" gerichtet.
IV. Ergebnis der Auslegung des Art. 3 GG In all seinen drei Absätzen verlangt Art. 3 GG nur die Wahl eines gleichen Verteilungsmaßstabes und damit die G/eichbehandlung - wobei freilich die Art der geforderten Gleichheit in den einzelnen Absätzen variiert. Die damit aus Art. 3 GG selbst folgenden Vorgaben für die Rechtsfolgenermittlung im Falle eines Gleichheitsverstoßes sind in Inhalt und Reichweite klar abgesteckt: Verfassungswidrig ist die Wahl des ungleichen Maßstabes und damit die gesamte in den Vergleich einbezogene Regelungsrelation. Die Konkretisierung des Verdikts auf einen Teil dieser Relation ist logisch ausgeschlossen. Art. 3 GG ist keinerlei Aussage darüber zu entnehmen, auf welchem Niveau die Gleichheit herzustellen ist. 91 BVerfG, JZ 87,407,409; Dürig in: MaunzIDüriglHerzog/Scholz, GG, Art. 3 III Rn. 4; Starck in: v.Mangoldt/Klein, GG, Bd., GG, Bd. P, Art. 3, Rn. 207; Jarass in: JarasslPieroth, GG, Art. 3 Rn. 53. Diese Sichtweise äußert sich auch darin, daß Art. 3 II und III GG häufig zusammen zitiert werden, vgl. z.B. BVerfGE 6, 389, 420; 17, 1,27; BAG, NJW 64, 1092. 92
Siehe oben S. 45ff.
93 Vgl. nur Dürig in: MaunzlDüriglHerzog/Scholz, GG, Art. 3 III Rn. 9; Sacksofsky, Gleichberechtigung, S. 373 .
.. So auch H.-P.lpsen in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte II, S. 181; Sacksofsky, Gleichberechtigung, S. 373.
Dritter Abschnitt
Die Bestimmung der Rechtsfolgen durch das Arbeitsgericht Erster Unterabschnitt
Die Wahl der Regeln für die Rechtsfolgenermittlung Nachdem für die Normsetzung die uneingeschränkte Bindung der Tarifvertragsparteien an Art. 3 GG hergeleitet und dessen Vorgaben für die tarifliche Rechtssetzung und die Rechtsfolgenbestimmung ermittelt worden sind, bleibt noch eine letzte Vorfrage zu beantworten. Die rechtliche Eigentümlichkeit des normativen Vertragsteils liegt darin, daß sich in ihm Vertragliches mit Gesetzlichem vermengt. Es fragt sich daher, ob die Konsequenzen der Verfassungswidrigkeit einer Vertragsnorm anhand der für Rechtsgeschäfte bestehenden Regeln des BGB - insbesondere der §§ 134, 139 - zu bestimmen sind oder ob auf diejenigen zurückzugreifen ist, die für verfassungwidrige Gesetze entwickelt worden sind.
J. Zur Notwendigkeit einer Entscheidung Wendet man sich beispielsweise der Frage der Teilnichtigkeit von Tarifnormen zu, so scheint im wesentlichen Einigkeit über die dafür geltenden Grundsätze zu bestehen I. Allerdings ist festzustellen, daß manche diese durch eine Übertragung der für Gesetze entwickelten Grundsätze2 , andere durch eine - modifizierte -
I Nikisch, Arbeitsrecht 11, § 69 IV I, S. 228; HueckINipperdey, Lehrbuch II11, § 18 IV 2, S. 355 Fn. 33d; WiedemannIWil/emsen, Anmerkung zu BAG, AP Nr. 111 zu Art. 3 GG; DäublerlHege, Tarifvertragsrecht, Rn. 102.
2 Nikisch, Arbeitsrecht 11, § 69 IV I, S. 228; HueckINipperdey, Lehrbuch II11, § 18 IV 2, S. 355; Herschel, BB 65, 791, 792; Wiedemann/Stumpf, TVG, § 1 Rn. 111; ReichellKoberskylAnsey, TVG, § 1 Rn. 103; Schaub, Handbuch, § 198 III 2, S. 1488f.
102
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Anwendung des § 139 BGB3 gewinnen. Bei der allgemein betonten weitgehenden Einigkeit über das Ergebnis4 scheint die Frage, ob man die Tarifnorm nun nach Rechtsgeschäfts- oder nach Gesetzesregeln behandelt, nur "die Frage nach der Begründung"S und letztlich von untergeordneter Bedeutung zu sein6• Eine grundsätzliche Klärung dieser Frage hält daher offenbar auch das BAG nicht für erforderlich. Anders läßt sich nicht erklären, daß das BAG zwar bei der Auslegung der Tarifnormen die Konsequenz aus deren von ihm stets betonten Gesetzesqualität zieht und ausdrücklich die Auslegungsregeln für Gesetze anwendet1, inkonsequenterweise bei der Frage der (Teil-)Nichtigkeit jedoch §§ 134, 139 BGB bemüht8 • Selbst angesichts dieser in ihren Prämissen widersprüchlichen Rechtsprechung könnte man meinen, daß ein Bemühen um eine eindeutige juristische Kategorisierung verzichtbar sei. Schließlich ist man sich offenbar über die materiellen Inhalte der anwendbaren Regeln im wesentlichen einig. Überdies kann eine solche dogmatisch orientierte Einordnung ohnehin nur einen Ausgangspunkt darstellen, da der hybride Charakter der Tarifnorm verlangt, die "reinen Regeln" in der einen oder anderen Richtung zu modifizieren 9 • Dies gilt unabhängig davon, ob man von den Rechtsgeschäfts- oder den Gesetzesregeln ausgeht. Gleichwohl ist eine Grundentscheidung notwendig; denn je nach Wahl des Ausgangspunktes kommt es entgegen verbreiteter Ansicht nicht lediglich zu geringfügigen Akzentverschiebungen, sondern es sind durchaus materiell unterschiedliche Ergebnisse denkbar. So ist Z.B. das Verdikt des § 134 BGB im Falle eines verbotsgesetzwidrigen Rechtsgeschäfts unmißverständlich, die Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit eines staatlichen Gesetzes hingegen durchaus streitig: Gegenstand der Auseinandersetzung ist, ob ein solches Gesetz ipso iure nichtig oder nur vernichtbar und eventuell für das BVerfG sogar zu einer
) So vor allem die Rechtsprechung: BAGE 1,258,270; 4, 133, 157; BAG, AP Nr. 70, 87, 111 zu Art. 3 GG; Bötticher, RdA 53, 161, 164; Frey, AuR 57161,167; wohl auch Beitzke, Anmerkung zu BAG, AP Nr. 4 zu Art. 3 GG. • Z.B. Nikisch, Arbeitsrecht 11, § 69 IV I, S. 228f.
, Hueck/NipperdeylTophoveniStahlhacke, TVG, § 1 Rn. 25. • Siehe etwa Blomeyer, SAE 77, 290, 291. 7
Vgl. nur BAGE 46, 308, 313; BAG, NZA 89, 604, 605.
• Die Nichtigkeit einer verfassungswidrigen Norm leitet das BAG seit BAGE 1,258,269, zuletzt BAG, NZA 91, 797, 798, 800, aus § 134 BGB her. So auch KaskellDersch, Arbeitsrecht, § 16 I Ib, S. 62; Mendigo, AuR 55, 253, 255; Maus, TVG, § 4 Rn. 21; Zuleeg, Anmerkung zu BAG, AP Nr. 136 zu Art. 3 GG; Mayer-Maly in: MK, § 134 Rn. 27. Anders aber offenbar BAGE 49, 21, 30, vgl. oben Seite 7f. 9
Zöllner, RdA 64, 443, 447.
3. Abschnitt: Die Bestimmung der Rechtsfolgen durch das Arbeitsgericht
103
Übergangsregelung umformbar ist lO • Diese allgemeine Problematik wird vom BVerfG gerade für den hier interessierenden Fall des Gleichheitsverstoßes um die heftig umstrittene Entscheidungsvariante der "bloßen Unvereinbarerklärung" sogar noch bereichert 11. Während das BAG über § 134 BGB zu der Feststellung gelangt, die gleichheitswidrige Tarifnorm sei nichtig, begnügt sich das BVerfG mit der bloßen Unvereinbarerklärung. Diese Divergenz bei der Beurteilung paralleler Problematiken und der Umstand, daß das BAG anders als die Literatur l2 niemals die Übernahme der Unvereinbarkeitsrechtsprechung des BVerfG auch nur erwogen hat, erklären sich entscheidend durch die Wahl der Rechtsgeschäftsregeln. § 134 BGB bietet eben weder Anlaß noch Raum für ein Nachdenken über eine von der Nichtigkeit abweichende Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit\3 . Wegen ihrer durchaus auch praktischen Relevanz ist daher eine Entscheidung darüber angezeigt, von welcher dogmatischen Ausgangssituation her man die Regeln für die Rechtsfolgenbestimmung bei Gleichheitsverstößen in Tarifverträgen entwickelt.
11. Grundentscheidung: Anwendbarkeit von Gesetzesregeln Die Beantwortung der Frage, welche Art Regeln auf die verfassungswidrige Tarifnorm anzuwenden ist, scheint man von zwei Seiten angehen zu können. Stellt man, wie das BAG, entscheidend darauf ab, daß es sich bei dem Tarifvertrag als ganzes um einen einheitlichen bürgerlich-rechtlichen Vertrag handele l 4, erscheint die Heranziehung der Rechtsgeschäftsregeln auch für die Tarifnorm konsequent. Sieht man dagegen weniger auf den typisch erweise rechtsgeschäftlichen Akt des Vertragsschlusses als auf die durch das TVG antizipiert vorgenommene Rechtsnormqualifikation, so erscheint es angebracht, das Ergebnis des Vertragsschlusses, die Tarifnorm, anhand der für Normen geltenden Regeln zu beurteilen.
10
Dazu C.Böckenforde, Nichtigkeit. Zum Aspekt der Übergangsregelung S. 109ff.
11 Z.B. BVerfGE 52, 369 (HATG NW); 62, 286 (§ 622 11 2 2. HS.BGB); 82,126 (§ 622 11 BGB). Zur Kritik Sachs, NVwZ 82, 657ff. m.w.N.
12 Im arbeitsrechtlichen Schrifttum findet sich der Gedanke einer Übertragung dieser Rechtsprechung der bloßen Unvereinbarkeit zuerst bei Däub/er, AuR 81,193, 197, dann bei Sachs, RdA 89, 25, 34. 13
So auch Sachs, RdA 89, 25, 34.
14
Vgl. BAGE 1,258,270; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch IVI, § 18 IV, S. 352f.
104
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Die Divergenzen zwischen den unterschiedlichen Regeln sind dadurch begründet, daß jeweils den spezifischen Besonderheiten von Rechtsgeschäft bzw. Gesetz Rechnung getragen werden mußIS. Daraus folgt, daß sinnvollerweise grundsätzlich die Rechtsgeschäftsregeln als Ausgangspunkt zu nehmen sind, wenn die Tarifnorm ein Rechtsgeschäft ist, dagegen die Gesetzesregeln, wenn sie Gesetz ist l6 • Daß es sich bei der "unmittelbar und zwingend" wirkenden Tarif'norm" um eine echte Rechtsnorm, also um ein Gesetz im materiellen Sinne handelt, ist bereits gezeigt worden l1 . Mit dieser Feststellung ist die Wahl der Regeln eigentlich schon zugunsten der grundsätzlichen Anwendung der Gesetzesregeln entschieden l8 • In Frage gestellt wäre dieser an sich folgerichtige Schluß ausschließlich dann, wenn die Tarifnorm auch Rechtsgeschäft wäre - dann wäre nämlich die Frage nach den anwendbaren Regeln wieder offen. Vor dem Hintergrund der gängigen Rechtsquellenlehre, die Vertrag und Norm gerade als Gegensätze begreift l9 , überrascht die Erwägung, ein Rechtsakt könne Rechtsgeschäft und Norm zugleich sein. Immerhin aber ist es das BAG, das in der Tarifnorm "ein Rechtsgeschäft, wenn auch ein Rechtsgeschäft besonderer Art" sieht20. Geht man von der gängigen Definition des Rechtsgeschäfts aus als einer "Privatwillenserklärung, gerichtet auf Hervorbringung eines rechtlichen Erfolges, der nach der Rechtsordnung deshalb eintritt, weil er gewollt ist"21, so läßt sich bei vordergründiger Betrachtung die Tarifnorm darunter subsumieren: Sie beruht auf einer Willensübereinkunft in vertraglicher Form. Diese Subsumtion wird dagegen zweifelhaft, wenn man bei der Definition des Rechtsgeschäfts dessen geistigen Kontext, die wesens mäßige Verknüpfung mit der Privatautonomie, berücksichtigt: Das Rechtsgeschäft ist von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellt, um dem einzelnen die Regelung seiner Rechtsbeziehungen in individueller Selbstbestimmung zu ermöglichen22 . Daher liegt in der privatautonomen
" Hersehel, JZ 67, 727, 735; Mayer-Maly, GS Gschnitzer, S. 265, 279. 16
Hersehel, FS E.Molitor, S. 161, 180.
17
Siehe oben, S. 57fT.
.. So Nikiseh, Arbeitsrecht Il, § 69 IV I, S. 227f.; HueekINipperdeylTophoveniStahlhaeke, TVG, § I
Rn. 22; Hersehe!, FS E.Molitor, S. 161, 180; Galperin, FS E.Molitor, S. 143, 157f.; WiedemanniStumpf,
TVG, Ein!. Rn. § 198 III 2, S. 1488f.
93;
Sehotz,
19
Vgl. Adomeit, RdA 67, 297f.
2.
BAGE 1,258,272.
SAE
86,
164;
i.Erg.
auch
Schaub,
Handbuch
21
Mot. I, S. 126.
22
Flume, § 2,1 , S. 23; Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 23; Larenz, Allgemeiner Teil, § 2 Ile,
3. Abschnitt: Die Bestimmung der Rechtsfolgen durch das Arbeitsgericht
lOS
Gestaltung, der Selbstbestimmung - und der damit verbundenen Beschränkung der Regelungsfunktion23 -, das Wesen des Rechtsgeschäfts 24 . Ganz anders als bei den schuldrechtlichen Bestimmungen des Tarifvertrages wird nun aber durch die Tarifnorm gerade nicht das Verhältnis zwischen den Vertragschließenden "in freier Selbstbestimmung" ausgestaltet. Vielmehr betreffen sowohl Inhalt wie auch Gesetzeswirkung der Tarifnorm - im Regelfall ausschließlich25 - nicht am Vertragsschluß Beteiligte, also Dritte. Die Tarifnorm als "rechtssetzende Vereinbarung"26 ist damit nicht Ausdruck privatautonomer, sondern heteronomer Gestaltung27 . Trotz des vertraglichen und willensbestimmten Erzeugungsverfahrens fehlt der Tarifnorm damit als Norm wesensmäßig die für Rechtsgeschäfte i.S.d. BGB charakteristische autonome Regelungsfunktion und Wirkungsbegrenzung. Sie kann daher nicht als Rechtsgeschäft i.S.d. BGB eingeordnet werden, auch nicht - wie jedoch das BAG meint - als eines "besonderer Art". Für die Behandlung der verfassungswidrigen Tarifnorm als Rechtsnorm sind also im Ausgangspunkt die für Gesetze geltenden Regeln und nicht die des BGB zugrunde zu legen. Anwendbar sind daher - und dies ist das eigentlich entscheidende Zwischenergebnis - insbesondere nicht die §§ 134, 139 BGB 28 . Da die Tarifnorm wegen ihres Erzeugungsverfahrens, das üblicherweise nur Erscheinungsform privatautonomen, rechtsgeschäftlichen HandeIns ist, ein Gesetz "besonderer Art" ist, kann diese Folgerung aus der Gesetzesqualität freilich nur eine Grundentscheidung darstellen: Daß diese Norm - atypisch - eine Vereinbarung zweier Parteien in Vertragsform und ein Ergebnis der Ausübung grundrechtlich geschützter
S.40, § 18 I, S. 314; Hefermehl in: Soergel, vor § 116 Rn. 4,14, 79; Krüger-NielandlZöller in: RGRK, vor § 104 Rn. 2. 23
Dazu Mertens, AcP 177, S. 113, 139.
v.Hippel, Privatautonomie, S. 6Iff.; Flume, § 3,6 a), b), S. 41; Wolf, Entscheidungsfreiheit, S. 27; Hefermehl in: Soergel, vor § 116 Rn. 9. Vgl. auch v.Gierke, Dt. Privatrecht I, § 33 I, 11 I, S. 282, 284. In der bekannten Defmition des Rechtsgeschafts schlägt sich dies in dem Wortteil "Privatwillenserklänmg" nieder. 2.
" Im Sonderfall des Firmentarifvertrages, bei dem der gebundene Arbeitgeber Vertragspartei ist, werden mit den tarifgebundenen Arbeitnehmem aber immer auch Dritte betroffen.
2. Herschel, RdA 85, 65, 66. 27 Kirchhof, Rechtssetzung, S. 84ff., 186; vgl. auch Käppler, NZA 91, 745, 749. Dies ist auch der Grund, weshalb 0. v. Gierke, Dt. Privatrecht 111, § 199 111, S. 605, dem normativ wirkenden Tarifvertrag nicht die Kraft einer "autonomischen Satzung" zubilligt.
2. So auch Hueck/NipperdeyfJophoveniStahihacke, TVG, § 1 Rn. 22; Nikisch, Arbeitsrecht 11, § 69 IV 1, S. 227; Wiedemann/Stumpf, TVG, Einl. Rn. 93; Scholz, SAE 86, 164; Löwisch in: LöwischlRieble, TVG, § I Rn. 251.
106
2. Teil: Art. 3 GG und die Folgen eines Gleichheitsverstoßes
Regelungsbefugnis ist, muß bei der Anwendung der auf staatliche Gesetze zugeschnittenen Regeln stets berücksichtigt werden29 • Zweiter Unterabschnitt
Die Rechtsfolgenermittlung durch das Arbeitsgericht Eine Tarifnorm, die den Vorgaben des Art. 3 GG nicht genügt, bedeutet einen "Normwiderspruch", eine Unstimmigkeit in der einen Rechtsordnung, zu der beide, Verfassungs- wie Tarifnorm, gehören. Stellt die Rechtsordnung nun aber ein einheitliches System von Sollenssätzen dar, in dem es sich widersprechende Normen nicht geben darf"3O, so ist zunächst einmal selbstverständlich, daß eine solche Systemstörung nicht Bestand haben kann, soll dieses geschlossene System nicht gesprengt werden 31 . Die Regeln, anhand derer Normwidersprüche aufgelöst werden, gehören zu den ältesten, die in der juristischen Hermeneutik entwickelt worden sind. Für den vorliegenden Fall der niedrigerrangigen Norm, die der höchstrangigen Verfassungsnorm widerspricht, ist der Grundsatz "lex superior derogat legi inferiori" anerkannt32, eine Regel, deren Positivierung sich etwa in Art. 31 GG findet. Stellt man darauf ab, daß das höherrangige den Geltungsgrund für das gesamte niedrigerrangige Recht darstellt33 , so ist die Übereinstimmung mit der Verfassung gar Rechtsgeltungsvoraussetzung der Norm: Ein Verstoß gegen die von der Verfassung aufgestellten Bedingungen führt dann schlicht zur anfänglichen Nichtgeltung. Die erforderliche Harmonisierung der Rechtsordnung läßt sich jedoch nicht nur im Wege der Derogation der schwächeren Norm erreichen. Vielmehr ist die "Deutung zu einem widerspruchslosen System"34 im Wege eines konstruktiven 2. Zöllner, RdA 64, 443, 447; vgl. auch Liedmeier, Auslegung, S. 55. 30 Somlo, Grundle:1re, S. 382,401; Hensel in: AnschützlThoma 11, S. 313; Kelsen, Rechtslehre, S. 209; Engisch, Einheit, S. 53; Nawiasky, Rechtslehre, S. 91, 93; Rehbinder, Einführung, S. 70.
31 v.Savigny, System I, S. 263f.; Somlo, Grundlehre, S. 382ff.; Kelsen, Rechtslehre, S. 271; Engisch, Einheit, S. 53; ders., Einführung, S. 160; Eckard, Gesetzesauslegung, S. 53; Huh, Normenkontrolle, S. S. 23; Brinckmann, Gesetz, S. 30.
32 Siehe nur Hensel in: AnschützlThoma, Handbuch 11, § 84 I C, S. 314; Engisch, Einführung, S. 163; Sachs, RdA 89, 25, 27. J./psen, Rechtsfolgen, S. 164, billigt dem lex-superior-Satz sogar den höchsten Rang im Rahmen der Kollisionsregeln zu. 33 GrundlegendMerkl, FS Kelsen, S. 252, 272ff.; Kelsen, Staatslehre, S. 250, und Rechtslehre, S. 228; Engisch, Einheit, S. 11; v.Olshausen, JZ 67,116,117; Brinckmann, Gesetz, S. 18f. l