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German Pages 288 Year 2021
Alexandra Janetzko Talent (be)werten
Praktiken der Subjektivierung | Band 18
Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen. Post-structuralism and practice theories have shaken the Cartesian universal notion of the self-reflecting subject to its core. No longer is the subject viewed as the autonomous point of origin for initiative, but rather is analysed in the context of its respective social identity constructed by discourse and produced by social practices. This perspective has proven itself to be of exceptional utility for cultural and social analysis. The analytical value of the ensuing concept of subjectivation is the potential of supplementing related terms such as individualisation, disciplinary power, or habitualization by bringing new aspects of self-making to the fore. In this context, the analyses of the DFG Research Training Group »Self-Making. Practices of Subjectivation in Historical and Interdisciplinary Perspective« aim to contribute to the development of a revised understanding of the subject. They still take the fundamental dimensions of subjectivity such as agency and reflexivity into account, but do not overlook or lose sight of the historicity and sociality of the subject. Thus, the ultimate aim is to reach a deeper understanding of the interplay of doing subject and doing culture in various spaces of (and in) time. Die Reihe wird herausgegeben von Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Thomas Etzemüller, Dagmar Freist, Rudolf Holbach, Johann Kreuzer, Sabine Kyora, Gesa Lindemann, Ulrike Link-Wieczorek, Norbert Ricken, Reinhard Schulz und Silke Wenk.
Alexandra Janetzko (Dr. phil.), geb. 1984, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sportwissenschaft an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen (Be)Wertungsprozesse und ihre Subjektivierungseffekte im (Spitzen-)Sport, Sport und Migration sowie qualitative Forschungsmethoden.
Alexandra Janetzko
Talent (be)werten Eine praxeographische Untersuchung von Talentsichtungen im Leistungssport
Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät IV – Human- und Gesellschaftswissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg als Dissertation zur Erlangung des Grades einer Doktorin der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung | 9
1.2
Stand der Forschung zu Talent (im Sport ) | 17 Von angeborener Begabung zu diagnostizierten Talenten im Werden | 18 (Be)Wertung von Talent im Sport | 26
2.
Analyseoptik: Praktiken des Sichtens | 45
2.1 2.2 2.3 2.4
Praxistheoretische Bausteine | 46 Subjektivierungstheoretische Bausteine | 50 Forschungsfragen abgeleitet aus den Bausteinen | 57 Methodisches Vorgehen | 59
3.
Eine Praxeographie der Talentsichtung in den Lateinamerikanischen Tänzen | 71
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 3.9 3.10
Arrangement ‚Aufwärmen‘ | 74 Arrangement ‚Paarvorstellung‘ | 81 Arrangement ‚Bewertungen im direkten Vergleich‘ | 88 Arrangement ‚Feedback vom Bundestrainer‘ | 98 Arrangement ‚Training mit dem Bundestrainer‘ | 106 Arrangement ‚Kreativaufgabe‘ | 140 Arrangement ‚Soloperformance‘ | 150 Arrangements außerhalb des Tanzsaals | 157 Entscheidungsfindung mit Hilfe des Bewertungsbogens | 163 Zwischenfazit: Sichtungspraktiken in den Lateinamerikanischen Tänzen | 170
1.
1.1
4.
Eine Praxeographie der Talentsichtung im 400m Sprint | 183
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
Arrangement ‚Wettkampfbeobachtung‘ | 186 Arrangement ‚Begrüßung‘ | 195 Arrangement ‚Disziplinspezifische Einheit‘ | 202 Arrangement ‚Disziplinübergreifende Einheit‘ | 210 Arrangement ‚Einzelgespräche‘ | 222 Entscheidungsfindung | 235 Zwischenfazit: Sichtungspraktiken im 400m Sprint | 236
Fazit | 247 Literatur | 265
Vorwort
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Rahmen des DFG Graduiertenkollegs 1608 „Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive“ an der Carl von Ossietzky Universität entstanden ist. Der Perspektivierung des Graduiertenkollegs folgend begreife ich auch die Praxis des Promovierens nicht als individuelle Leistung, sondern als ein Zusammenspiel von vielen Teilnehmenden, bei denen ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken möchte. Besonderer Dank gilt den Trainer*innen und Bundeskaderanwärter*innen der untersuchten Sichtungspraktiken für das mir entgegengebrachte Vertrauen, die tiefgehenden Einblicke, die große Aufgeschlossenheit und den konstruktiven Austausch. Die über mehrere Jahre andauernden Feldaufenthalte waren nicht nur zentral für die Entstehung dieser Arbeit, sondern auch für meine Selbst-Bildung zur Praxeographin. Nicht weniger bedeutsam war der Austausch mit meinen Kolleg*innen des Graduiertenkollegs (hier möchte ich ganz besonders Annika Raapke nicht nur für‘s Korrekturlesen, sondern auch für ihren wunderbaren Humor und die damit einhergehende Leichtigkeit danken) und des Arbeitsbereichs „Soziologie und Sportsoziologie“, die mir halfen das Dissertationsprojekt zu formen und mich zielgerichtet nach vorne zu orientieren (hierfür auch ein großes Dankeschön an Katharina Ludewig). Der sozio-materiellen Anordnungslogik folgend möchte ich mich bei Micòl Feuchter, meiner liebsten Büromitbewohnerin, bedanken, die jederzeit ein offenes Ohr für mich hat und mit ihrer erfrischenden und positiven Art eine wichtige Stütze auch über die Arbeit hinaus ist. Des Weiteren bedanke ich mich bei Matthias Michaeler, Yen Sulmowski, Nikolaus Buschmann (für die konstruktiven Rückmeldungen und [Fach-]Gespräche, ob im Büro oder bei Wein), Rea Kodalle, die mir Mentorin und Freundin ist, Robert Mitschke (für den technischen Support), Timm Wöltjen (für die vielen Flurgespräche) und Kristina Brümmer, die mit ihrer beeindruckenden Auffassungsgabe, Besonnen-
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heit und Empathie zu meinen wichtigsten Ansprechpersonen in jeder Lebenslage zählt und einen schwer messbaren Beitrag zu meiner Promotion geleistet hat. Ein großer Dank gilt auch Thomas Alkemeyer, dem Betreuer dieser Arbeit, für die analytische Genauigkeit, das Aufzeigen interdisziplinärer Pfade und die mir gewährten Freiheiten, wie bspw. die Arbeit an den verschiedensten Orten schreiben zu können. So ist ein Großteil dieser Arbeit bei Gastaufenthalten an der University of Texas at Austin bei meinem Zweitbetreuer, Jürgen Streeck, entstanden (an dieser Stelle ein großes Dankeschön an die Sprecher*innen des Graduiertenkollegs und die DFG für die Genehmigung und Finanzierung dieser Reisen). Ihm danke ich für die Liebe zum Detail, das Einlassen auf andere theoretische Zugänge, seine ansteckende Begeisterung für das empirische Material und die stets positiven und konstruktiven Gespräche auf Augenhöhe. Furthermore, I want to thank Nancy Gore, my lovely host and friend, and Julia Katila for the perfect work life balance in Austin, and for our ongoing friendship. Im Wissenschaftskontext danke ich zudem Katrin Freese und Matthias Schierz für ihre Unterstützung und die mir entgegengebrachte Wertschätzung. Dass die Praxis des Promovierens ihre Teilnehmenden auch abseits der Wissenschaftsräume in Beschlag nehmen kann, haben vor allem folgende Personen bei mir miterlebt, denen ich für ihr Verständnis, ihre Ablenkungsmanöver und die zahlreichen Cheerleading-Momente danken möchte: Meine ehemaligen Mitbewohner*innen: Maren, Milena, Sebi, Roman und Kasia; und meine Gefährtinnen von klein auf, die völlig unabhängig von den eingeschlagenen (Irr-)Wegen immer für mich da sind: Leo, Lisa und Leonie. Großer Dank gilt zudem Felix, meinem personifizierten Zuhause, der meine Höhen und Tiefen mit seiner stoischen und beruhigenden Nordlichtmanier treu begleitet und meinen Blick immer wieder auf die wunderbaren Dinge abseits des wissenschaftlichen Mikrokosmos lenkt. Zu guter Letzt gilt mein besonderer Dank meiner Familie. Neben meinen beiden Großmüttern und meinem Bruder Christoph möchte ich mich vor allem bei meinen Eltern bedanken für ihren unerschütterlichen Glauben an mich und meine ‚Talente‘, ihre bedingungslose Unterstützung und ihren Vorbildcharakter, was die Formung des eigenen Weges nach den persönlichen Vorstellungen angeht – unabhängig von den (Be)Wertungen anderer. Oldenburg im Dezember 2020 Alexandra Janetzko
Einleitung
Der Begriff des Talents ist im Sport allgegenwärtig. So liest man von „unübersehbaren Talenten“ (SZ Online/o.A. 2018) bei der Leichtathletik WM 2018 und „geborene[n] Sieger[n]“ (ZEIT Online/Binning 2016), erhält Einblicke in das Leben eines „Weltmeister[s] ohne Talent“ (Mertesacker 2018), erfährt wie „das außergewöhnliche Auge“ des „Freiburger Talentspäher[s]“ Talente nicht nur „entdeckt“, sondern auch „macht“ (Sport Bild Online/Gressmann 2017), oder kann sich über „Talent-AG[s]“ (SZ Online/Schmieder 2017) informieren. Doch lässt sich der Talentbegriff nicht nur im Hinblick auf sportliche Leistung finden, sondern es werden bspw. beim niedersächsischen Landessportbund (2018) „Soziale Talente im Sport“ nominiert. Auch über den Sportkontext hinaus hat der Talentbegriff Konjunktur. So werden zum Beispiel in universitären Workshops „Talentlandkarten“ (Universität Oldenburg 2018) erstellt, die Geisteswissenschaftler*innen helfen sollen, sich als „Gründungstalente“ (ebd.) zu verstehen. Auch in der Wirtschaft ist der Talentbegriff angekommen: Klaus Schwab, Gründer und Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums, diagnostiziert einen „Übergang vom Kapitalismus zum Talentismus“ (SZ Online/Rexer 2017) in dem für die Erhaltung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der „Mensch mit seinen Talenten […ins] Zentrum der Aufmerksamkeit“ gestellt werden müsse (ebd.). Wie der Soziologe Peter (2018: 71) herausstellt, erstaunt die Allgegenwart des Begriffs, „angesichts des landläufigen Verständnisses von Talent als seltener Gabe“. Dabei scheint der Begriff Talent nicht nur omnipräsent, sondern auch wenig erklärungsbedürftig, obwohl allein die zitierten Beispiele eine große Heterogenität an impliziten Talentkonstrukten aufweisen, unabhängig vom Feld, in dem der Begriff Verwendung findet. Bspw. wird Talent im Sport in den oben zitierten Beispielen zum einen als angeboren, zum anderen als formbar durch Trainer*innen oder gar spezifische AGs angesehen. Mal ist sportliches Talent „unübersehbar“, während es in anderen Fällen des „außergewöhnlichen Auges“ von „Talentspähern“ bedarf. Auch variiert ob Talent als Eigenschaft angesehen wird – jemand
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hat Talent – oder die gesamte Person umfasst – jemand ist ein Talent. Diese heterogene Begriffsverwendung steht im Widerspruch zu (sport-)wissenschaftlichen Definitionsansprüchen, auf deren Basis Bewertungsinstrumente konzipiert werden sollen (vgl. Janetzko 2018: 139). Denn die Talentthematik scheint untrennbar verknüpft mit der Talentdiagnostik, die mit Hilfe ähnlich heterogener Prüfverfahren und Talentkonstrukten Talent bewertbar machen soll (vgl. 1). Die Schwierigkeit und Bedeutsamkeit von Talentdiagnosen kommt im folgenden vielzitierten Spruch zum Ausdruck:1 „Das wichtigste Talent der Zukunft wird sein: das Talent, Talente zu entdecken.“ Unter dem Titelthema „Wie findet man die Richtigen?“ stellte DIE ZEIT im August 2018 Bewertungsverfahren u.a. in den Feldern Politik, Literatur, Wirtschaft, Wissenschaft und Sport vor, in denen der Talentbegriff wie selbstverständlich Verwendung findet. So lernten „auch Naturtalente [in der Politik] nie aus“ (ZEIT/Dausend 2018: 2) und bedürften neben „Chancen, die sich aus dem Zufall ergeben“ Techniken, die sie in Seminaren erlernen, um „Menschen [zu] überzeugen und [zu] begeistern“. Auch in der Wissenschaft brauche es „Talent […] natürlich. Und auch ein, zwei Quäntchen Glück“ (ZEIT/Scholz 2018: 57). Die ‚Richtigen‘ werden zumeist mit den ‚Talentierten‘ gleichgesetzt, wobei die Beispiele zeigen, dass zum Erfolg noch weitere Faktoren hinzugehörten, wie Zufall, Glück und das Erlenen von spezifischen Techniken. Doch wie findet man nun Talente? Trotz ihrer Heterogenität weisen die angesprochenen Felder eine Gemeinsamkeit hinsichtlich der Talentthematik auf. In allen Feldern geht es darum, mit Hilfe von recht komplexen Bewertungsverfahren anhand von aktueller Performance2 – ob nun sportlicher oder bspw. wissenschaftlicher – Diagnosen über die zukünftige Leistungsfähigkeit zu stellen, um diese optimal zu verwerten. Gerade im Zeitalter der ‚Diagnose- bzw. ‚Optimierungsgesellschaft‘ (vgl. bspw. Alkemeyer/Buschmann/Etzemüller 2019; Osrecki 2011; Spreen/Flessner/Rüster/Hurka 2018; Straub 2019), scheint die Frage, wie Talente im Sinne von zukünftig verwertbaren Dispositionen konkret 1 2
Das Zitat wird dem österreichischen Unternehmer Karl Pilsl zugeschrieben. In der Arbeit wurde der Begriff Performance aus den untersuchten Feldern Tanzen und Leichtathletik übernommen. Damit handelt es sich nicht um einen theoretisch hergeleiteten (vgl. bspw. Hempfer 2011; Klein/Göbel 2017), sondern in erster Linie um einen feldimmanenten Begriff, bei dem die darstellerische Komponente von Leistung betont wird. Zudem spiegelt er gesamtgesellschaftliche Entwicklungen wider, da in Anlehnung an Legnaro (2004: 207) Leistung ‚an sich‘ nicht mehr genügt, sondern diese „auch darstellbar gemacht und dargestellt werden“ müsse. Dies wird gerade im Kontext von Bewertungen postuliert, bei denen inzwischen weniger das Ergebnis als bereits die Performance während der Prüfung relevant würde, worauf ich im ersten Kapitel näher eingehe.
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identifiziert werden können, von zunehmender Bedeutung. Gleichzeitig werden die genauen Bewertungsverfahren geradezu mystifiziert. Talentscouts im Sport werden als „Schatzsucher“ (ZEIT/Trotier 2018: 51) bezeichnet; in der Wissenschaft fehle es an Verfahren um den bisherigen „blinde[n] Fleck der Exzellenz“ (ZEIT/Scholz 2018: 57) auszuleuchten; und in der Politik gebe es „viele Wege […] die Besten zu finden. Bloß keinen vorgezeichneten“ (ZEIT/Dausend 2018: 2). In Anlehnung an den Komiker Karl Valentin seien Prognosen, die letztendlich das Ziel von Talentdiagnosen sind, „eine schwierige Sache, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen“ (Valentin, o.A. zitiert nach ZEIT/Radisch 2018: 35). Wie die Soziologin Heintz (2007: 69) herausstellt, müssen Bewertungsverfahren und die dabei eingesetzten Diagnoseinstrumente als historisch und wandelbar begriffen werden. In ihnen spiegeln sich gesamtgesellschaftliche Tendenzen wider. So lassen sich im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung in den letzten Jahren Trends bei der Konzipierung von Bewertungsverfahren erkennen, mit Hilfe derer die ‚Richtigen‘ zu finden seien: Durch quantifizierende Verfahren und/oder den Einsatz von Technik soll Vergleichbarkeit und Objektivität hergestellt und das Talent bzw. die spezifische Eignung von den jeweiligen Prüflingen getestet werden. Die Loslösung von ‚objektiv‘ und ‚beruhend auf persönlichen Einschätzungen‘ sei jedoch eine Entwicklung, die sich erst seit dem 19. Jahrhundert mehr und mehr durchsetze (vgl. ebd.: 67). Da „sich kein Mensch davon frei machen [könne], einem anderen unbewusst mit Vorurteilen, Sympathie oder Antipathie zu begegnen“ (ZEIT/Rudzio 2018: 22) greifen bspw. einige Firmen inzwischen bei Personalentscheidungen zum sogenannten RoboRecruiting. Mit Hilfe von Algorithmen führen Computer Vorstellungsgespräche und werten Sprache, Wortwahl, Stimme, Betonung und Mimik aus. Als „kombinierter Talent- und Lügendetektor“ (ebd.) fällen sie Aussagen über die Persönlichkeit, Motivation und Ehrlichkeit der Bewerber*innen und würden damit vorurteilslos und objektiv die Besten auswählen (vgl. ebd.). Allen Bewertungsverfahren gemein ist die praktische Erzeugung von Differenz, die im Falle von Bewerbungs- oder Sichtungsverfahren das Ziel der Selektion durch einen unmittelbaren Vergleich verfolgt. Der Leistungssport gilt hierbei als ein Feld allgemeiner Chancengleichheit, in dem allein über die körperliche Leistung Unterschiede zwischen den Athlet*innen produziert würden. Denn die Verteilung von „Positionen, Ressourcen und Ansehen“ erfolge „nicht nach Maßgabe von Herkunft oder autoritativer Zuschreibung“, sondern beruhe „auf dem Prinzip oder wenigstens der Illusion von Leistungsgerechtigkeit“ (Bröckling 2014: 97). Wie der Philosoph und Sportwissenschaftler Gebauer bereits 1972(: 186) herausarbeitet, beziehen sich Aussagen über Leistungen jedoch immer auf soziale Standards, also gesellschaftlich festgelegte Normen, und „ge-
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messen wird nicht die ‚Leistung‘ selbst, sondern die Kriterien für ‚Leistung‘“, die letztendlich nicht objektiv, sondern objektiviert sind und ein System von sozialen Bewertungsstandards bilden (vgl. ebd.). Im Zuge der in den letzten Jahren aufgekommenen Soziologie des Bewertens (vgl. bspw. Lamont 2012; Nicolae/ Endreß/Berli/Bischur 2019) werden Bewertungsverfahren und die ihnen zugrundeliegenden Kategorien in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern zunehmend kritisch beleuchtet. In Anlehnung an die Soziolog*innen Krüger und Reinhart (2016) müsse zudem zwischen werten – einer Inwertsetzung von bspw. Objekten, Personen oder Praktiken – und einem darauf aufbauenden bewerten – einer Wertabwägung im unmittelbaren Vergleich – differenziert werden. Über die Inwertsetzung würden Vergleichskategorien etabliert, durch die bspw. Athlet*innen bei Talentsichtungen verglichen und hierarchisiert werden könnten. Wobei gerade die in Mode gekommenen quantifizierenden Verfahren einer ‚Blackbox‘ glichen, durch die (Be)Wertungsprozesse objektiviert und damit legitimiert würden (vgl. bspw. Mau 2017). Aktuell ist zu beobachten, dass auch im Sport quantifizierende Verfahren und computergestützte Datenanalysen im Kontext von Talentsichtungen und Leistungsbewertungen eine immer größere Bedeutung gewinnen. In Kombination der Verfahren mit Video-Scouting könne man sich „schneller und umfassender ein Bild machen“ (ZEIT/Trotier 2018: 51). Gleichzeitig wird dem subjektiven Eindruck der sichtenden Trainer*innen immer noch große Bedeutung beigemessen (vgl. Brümmer 2019). So betont Idriss Gonschinska, der Cheftrainer des Deutschen Leichtathletikverbandes, hinsichtlich Talentsichtungen: „Unsere Trainer sind keine Laptop-Coaches. Wir haben gelernt, dass Bauchgefühl und Auge dabei genauso relevant sind wie alle Diagnostikmodelle – und genauso fehlerhaft.“ (FAZ/Reinsch 2018: 32) Welche (Be)Wertungsverfahren und Diagnoseinstrumente basierend auf welchen Talentkonstruktionen in der Praxis von Talentsichtungen im Sport konkret zum Einsatz kommen, stellt jedoch ein Forschungsdesiderat dar, welches ich im ersten Kapitel herausarbeite, und an dem ich mit der vorliegenden Untersuchung ansetze. Hierfür zeichne ich zu Beginn (1.1) die Entwicklung des allgemeinen Talentbegriffs, wie auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem nach. Dabei zeige ich zum einen die enge Verknüpfung von TalentForschung, -Diagnostik und -Förderung auf. Zum anderen gehe ich auf drei Debatten ein, durch die der allgemeine Talentdiskurs geprägt ist: Neben der Frage nach der ‚Weite‘ des Talentverständnisses, lässt sich eine anhaltende Diskussion über die Anlagendeterminiertheit bzw. Formbarkeit von Talent verzeichnen, die u.a. Auswirkungen auf die dritte Debatte hat, die Ausrichtung der Förderung auf Exzellenz oder Egalität. Auf der Folie dieser Erkenntnisse widme ich mich im
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Kapitel 1.2 der historischen Entwicklung von Talentsichtungen und der Ausdifferenzierung der Talentforschung im Sport. Wie ich herausarbeite, tritt Talent immer nur in Relation zu der Leistung von anderen in Erscheinung, da erst durch den Vergleich eine Leistung als herausragend gesehen werden kann. Vor dem Hintergrund greife ich Überlegungen aus der Soziologie des Vergleichens und (Be)Wertens auf, die neue Perspektiven auf Talentsichtungen ermöglichen. So rücken u.a. Fragen nach den Subjektivierungseffekten von (Be)Wertungsverfahren in den Fokus, die im bisherigen (sport-)wissenschaftlichen Talentdiskurs wenig Beachtung finden. Zudem zeige ich, dass der bisherige Talentdiskurs – nicht nur in den Medien (s.o.) – eine große Heterogenität an impliziten Talentkonstrukten aufweist. So zeichnet sich bspw. der Talentdiskurs durch eine wiederkehrehrende Unterscheidung zwischen ‚wissenschaftlichen‘ und ‚praktischen‘ Herangehensweisen aus, die teils schwer miteinander zu vereinbar scheinen: „Die wissenschaftlichen Studien bilden die Praxissituation nicht angemessen ab; es wird also – aus welchen Gründen auch immer – an der sportlichen Praxis vorbei geforscht“ (Joch 2011: 11). Ziel meiner Untersuchung ist es, sich dieser sportlichen Praxis zu widmen und Innenperspektiven bei Talentsichtungen im Sport auszuleuchten. Hierfür wähle ich eine praxistheoretische Analyseoptik bestehend aus verschiedenen Theoriebausteinen, die ich im zweiten Kapitel ausführlich darstelle. Die Wahl der Bausteine erfolgt im Sinne einer „theoretischen Empirie“ (Kalthoff/ Hirschauer/Lindemann 2008) sukzessive und in Abhängigkeit von den Feldaufenthalten. Erst durch die Analyseoptik ist es mir möglich, nachzuzeichnen, wie Talent in den jeweiligen Sichtungspraktiken konstruiert und performativ zum Vorschein gebracht wird. Damit fasse ich Talent nicht als etwas im Vorfeld Gegebenes, sondern als im Prozess der Sichtung von den Teilnehmenden Konstruiertes auf. Somit geht es mir ausdrücklich nicht um die Frage, ob es den sichtenden Trainer*innen gelingt, ein vorausgesetztes, gegebenes Talent zu erkennen. Stattdessen möchte ich analysieren, wie im Zusammenspiel von Trainer*innen und Bundeskaderanwäter*innen Talent hervorgebracht und damit sicht- und (be)wertbar wird. Hierfür ergänze ich die praxistheoretischen Bausteine um Annahmen zum praxisspezifischen Sehen, in denen zum einen die Bedeutung von sozio-materiellen Arrangements hervorgehoben wird. Zum anderen gehe ich auf die Befähigung zum Sehen durch Erfahrungen in (Denk-)Kollektiven ein, wie sie bspw. sichtende Trainer*innen bilden (2.1). Basierend auf soziologischen Annahmen zu (Be)Wertungen in anderen gesellschaftlichen Feldern gehe ich davon aus, dass die Sichtungen Subjektivierungseffekte auf die Bundeskaderanwärter*innen haben, die im Vollzug der Sichtung als (Nicht-)Talente adressiert werden bzw. sich selbst als diese sichtbar machen. Daher ergänze ich die
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Analyseoptik um Subjektvierungsansätze (2.2) und übersetze abschließend das Forschungsinteresse in theoriegeleitete Forschungsfragen (2.3). Um die Frage zu beantworten, wie Talent in Sichtungspraktiken konstruiert, ge-/bewertet und zugeschrieben wird, habe ich Talentsichtungen im Nachwuchsbereich für die Bundeskader in den Lateinamerikanischen Tänzen und im 400m Sprint mehrere Jahre in Folge praxeographisch begleitet. Die Auswahl der Sportarten erfolgte nach dem Prinzip größtmöglicher Unterscheidung (2.4.1), um zu untersuchen, ob sich trotz des großen Kontrasts sportartenübergreifende Gemeinsamkeiten in den Talentkonstruktionen und (Be)Wertungsverfahren finden lassen. Wie Amann und Hirschauer (1997: 20) in Anlehnung an Geertz (1987) herausstellen, beginnen teilnehmende Beobachtungen mit der „scheinbar trivialen und ‚unmethodischen‘ Ausgangsfrage: ‚What the hell is going on here?‘“. Wie ich selbst erfahren konnte, muss man für die Beantwortung dieser Frage die Logik der Praxis begreifen. In Anlehnung an Alkemeyer, Buschmann und Michaeler (2015: 29) gehe ich davon aus, dass soziale Geschehnisse erst durch das Einrichten einer theoriegeleiteten Analyseoptik methodisch beobachtbar werden. Mit der Konzeption von Talentsichtungen als Bündel von ort- und zeitspezifischen Praktiken, die ich dementsprechend beobachte, stellen somit bereits die theoriegeleiteten Videoaufnahmen Resultate von Untersuchungsprozessen dar. In Kapitel 2.4.2 gehe ich ausführlich auf meine praxeographischen Suchbewegungen und Sehversuche im Feld ein, bei denen ich aufzeige, dass vorgefertigte Annahmen zu Kamerapositionierungen und das ‚reine‘ Beobachten der Praxis nicht zwingend für die Beantwortung der aufgeworfenen Forschungsfragen hilfreich bzw. ausreichend sind. In beiden Sportarten hatte ich jedoch das große Glück, auf Trainer*innen (und Bundeskaderanwärter*innen) zu treffen, die mich als forschende Teilnehmerin in den Sichtungspraktiken akzeptierten, und mir über die teilnehmenden Beobachtungen hinaus in videogestützten Interviews und informellen Gesprächen mit Geduld über mehrere Jahre immer wieder Einblicke in ihre Sehstile und (Be)Wertungslogiken gewährten, bis ich diese nachvollziehen konnte und allmählich ein Gespür für die ‚richtigen‘ Kamerapositionen, Nahaufnahmen und ‚relevanten‘ Momente entwickelte. Kapitel 3 widmet sich der Talentsichtung in den Lateinamerikanischen Tänzen, die ich als erstes analysierte, während ich in Kapitel 4 die Talentsichtung im 400m Sprint untersuche. Die Reihenfolge der Kapitel spiegelt somit den chronologischen Ablauf meiner Untersuchungen wider. Da sich in beiden Feldern die konkreten Anordnungen der (nicht-)menschlichen Teilnehmenden als besonders relevant für das Sehen und (Be)Werten von Talent erwiesen, ziehe ich für das Ordnen, Auswerten und Verschriftlichen der Daten das Konzept der sozio-
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materiellen Arrangements heran. Wie Schatzki (2002: 38ff.) betont, können sozio-materielle Arrangements flüchtig oder stabil sein;3 sie wirken ermöglichend oder verhindernd, indem sie Handlungsräume mitbestimmen und sie präfigurieren die hierarchischen Positionen der menschlichen Teilnehmenden. Um jedoch nicht nur die Mikrologiken der verschiedenen Sichtungsarrangements aufzuzeigen, sondern darüber hinaus Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Anordnungen4 herauszuarbeiten, werden die Sichtungspraktiken in einem Wechsel von Brennweiten analysiert (vgl. Nicolini 2012: 219ff.). In beiden Empiriekapiteln wird zunächst ‚mikroethnographisch‘ (vgl. Streeck/Mehus 2004) in die verschiedenen Arrangements ‚hineingezoomt‘ und jedes in einem eigenen Unterkapitel behandelt, um sie möglichst detailliert beschreiben und analysieren zu können. Anschließend werden durch das ‚Herauszoomen‘ in den Fazits der einzelnen Arrangements und vor allem in den Zwischenfazits (3.10; 4.7) transsituative Zusammenhänge herausgearbeitet und die Forschungsfragen aufgegriffen. Im abschließenden Fazit erfolgt ein Rückbezug der Ergebnisse auf die im ersten Kapitel herausgestellten Debatten des ([sport-]wissenschaftlichen) Talentdiskurses. Hiermit sind dreierlei Hoffnungen verbunden. Erstens soll die Arbeit durch ihre Erkenntnisse dazu beitragen, die bisher wenig erforschte Sportpraxis des Talentsichtens zu reflektieren und damit bisherige ‚blinde Flecken‘ in der Sichtungspraxis und sportwissenschaftlichen Talentforschung auszuleuchten. Zweitens wird durch die Analyseoptik nicht nur der Konstruktionsprozess von Talent nachgezeichnet, sondern auch auf die politisch-normative Dimension von Talentsichtungen hingewiesen, in der Bundeskaderanwärter*innen zu Talenten (gemacht) werden. Auch wenn gerade aus praxistheoretischer Perspektive von Grenzen der Übertragbarkeit ausgegangen wird, kann die Studie zumindest Fragen nach Subjektivierungseffekten von Talentsichtungen und Auswahlverfahren in anderen gesellschaftlichen Feldern aufwerfen und Möglichkeiten zeigen, wie diese untersucht werden können. Drittens hoffe ich mit der Arbeit einen Beitrag zu einer Soziologie des (Be)Wertens zu leisten. Im Zuge der Ausbreitung von (objektivierenden) Prüfungsverfahren scheinen Einblicke in die ‚Blackbox‘ dieser (Be)Wertungsverfahren bedeutsam, um zu verstehen, wie genau Merkmale von Personen in Wert und zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, und damit schließlich Differenzen zu Selektionszwecken erzeugt werden.
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Mit dem Begriff grenze ich mich vom Raumbegriff im absolutistischen Kontext ab, da dieser oftmals als Konstante, und damit als „Prototyp des Starren“ (Löw 2001: 65) verstanden wird.
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Die Begriffe Anordnung und Arrangement werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet.
1. Stand der Forschung zu Talent (im Sport)
Im Folgenden gehe ich zunächst kurz auf die Entwicklung des allgemeinen Talentbegriffs und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem ein (1.1). Der Diskurs zum Thema Talent/(Hoch-)Begabung1 zeichnet sich durch eine enge Verzahnung von Forschung, Diagnostik und Förderung aus und ist von drei Debatten geprägt – in denen sich gegenläufige Positionen ausbilden – die jedoch systematische Bezugspunkte aufweisen: Der Frage nach der ‚Weite‘ des Talentverständnisses und den daraus resultierenden Diagnostikinstrumenten; einer anhaltenden Anlage-/Umweltdebatte, die sich u.a. mit der Formbarkeit von Talent auseinandersetzt; wie auch die Ausrichtung der Förderung auf Exzellenz vs. Egalität. Diese Debatten aufgreifend, zeichne ich im zweiten Abschnitt (1.2) die Entwicklung von Talentsichtungen und der Talentforschung im Sport nach. Hierbei gehe ich u.a. auf die verschiedenen Positionen der sportwissenschaftlichen Teildisziplinen ein und beleuchte bisherige Diagnoseverfahren auf der Folie von Überlegungen aus der Soziologie des (Be)Wertens. Abschließend gehe ich auf die Forschungsdesiderate ein, die ich in meiner Untersuchung bearbeite.
1
International ist der Begriff der Begabung geläufig, während sich im deutschsprachigen Raum der Begriff der Hochbegabung gegenüber dem Begriff des Talents durchgesetzt hat (vgl. Ziegler 2008: 15). Zur sprachlichen Vereinfachung schreibe ich im Folgenden zumeist vom Talentdiskurs bzw. verwende die Begriffe synonym.
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1.1 VON ANGEBORENER BEGABUNG ZU DIAGNOSTIZIERTEN 2 TALENTEN IM WERDEN Vorläufer des gegenwärtigen Talentdiskurses reichen bis in die Antike zurück, in der Personen, die Leistungsspitzen erbringen, als „göttliche Kinder“ bezeichnet werden (Ziegler 2008: 9). Der Begriff des Talents wird für die „göttlichen Kinder“ nicht verwendet, sondern steht ursprünglich für eine Maßeinheit (die Tragkraft eines Mannes) und dient – seinem griechischen Wortverständnis folgend (talanton = Waage, Gewicht) – als Währung durch das Aufwiegen von Silber (vgl. Peter 2018: 73). Der Soziologe Peter (ebd.) macht darauf aufmerksam, dass bereits im neutestamentlichen ‚Gleichnis von den anvertrauten Talenten‘ (Matthäus 25, 14-30) ein Aspekt des heutigen Talentverständnisses angelegt sei: Ein Herr vertraut vor einer Reise seinen Knechten sein Vermögen – seine Talente – an. Nach seiner Rückkehr haben die meisten das Vermögen verdoppelt. Nur ein Knecht hat sein Talent vergraben, statt es zu vermehren. Der Herr urteilt: „nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talente hat! Denn wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat.“ (ebd.) Auf Talent solle man sich demnach nicht ausruhen, „vielmehr gilt es als entscheidend, mit Geduld über einen längeren Zeitraum an sich zu arbeiten, um sein Talent zu nutzen“ (Peter 2018: 74). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Talent beginnt Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts in der Psychologie, Eugenik und Pädagogik. Galton – einer der Urväter der Eugenik und psychologischer Testung – ist der erste Wissenschaftler, der den Begriff des Talents 3 verwendet, um Unterschiede von Intelligenz zu klassifizieren (vgl. Ziegler 2008: 21). Die Ursprünge der wissenschaftlichen Betrachtung in der Psychologie und Eugenik zeichnen sich durch ein enges und anlagedeterministisches Begriffsverständnis aus: Begabung wird allein anhand der Ausprägung von Intelligenz bewertet und als genetisch bedingt angesehen (vgl. Böker/Horvath 2018: 14f.). Davon abgrenzend positionieren sich pädagogische Arbeiten, die sich Rousseau folgend (1958; Ersterscheinung
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Im Kontext von Talentidentifikation hat sich sowohl im allgemeinen wie im sportspezifischen Talentdiskurs der Begriff der Diagnostik durchgesetzt (vgl. bspw. Amelang/Zielinski 1997; Holling/Preckel/Vock 2004; Jäger/Petermann 1992; Neumann 2009).
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Im Original verwendet Galton (1865) den Begriff Talent, während in Übersetzungen der Begriff Begabung benutzt wird (vgl. Ziegler 2008: 21).
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1762) den unterschiedlichen Talenten4 zuwenden, „die meistenteils als angeboren gelten, in Wahrheit [jedoch] einem Geflecht aus Umweltkonstellation, Lebensweise und Erziehung geschuldet seien“ (Hoyer/Weigand/Müller-Oppliger 2013: 40). Nach 1945 verliert die Eugenik an Legimitationskraft und Egalitätsbestrebungen rücken ins Zentrum der Bildungspolitik (vgl. Böker/Horvath 2018: 15). Die wissenschaftliche Brauchbarkeit eines genetisch bedingten Begabungsverständnisses wird aus pädagogischer Perspektive offen in Frage gestellt und ihm ein Konzept des multidimensionalen Begabens durch Erziehung entgegengesetzt (vgl. Hoyer/Weigand/Müller-Oppliger 2013: 8; 40). Größter Kritikpunkt am anlagedeterministischen Begriffsverständnis ist die daraus folgende Ungleichbehandlung: „Wer Begabung sagt und genetische Veranlagung meint, nimmt eine Klassifikation vor, die vielfach […] zur sozialen Differenzierung und pädagogischen Selektierung herangezogen wurde“ (ebd.: 9), da sich aus dem jeweiligen Verständnis zumeist ein spezifisches Förderprogramm ableite, welches Personen „aufgrund hypothetischer Diagnosen über etwaige Lern- und Leistungsmöglichkeiten privilegiert oder benachteiligt“ (ebd.). Psychologische Ansätze verabschieden sich zwar nicht gänzlich von der Annahme genetischer Bedingtheit von Begabung, wenden sich jedoch mehr der Frage zu, wie Anlagen und Umwelteinflüsse bei der Ausbildung von Begabung zusammenwirken (vgl. Rost 2002: 624). Ab den 1950er Jahren lässt sich zudem eine zunehmende Weitung des Begabungsbegriffs im gesamten wissenschaftlichen Diskurs verzeichnen. Die neu entstehenden mehrdimensionalen Begabungskonstrukte integrieren „nichtintellektuelle Faktoren“ wie bspw. künstlerische Fertigkeiten, psychomotorische Fähigkeiten und Kreativität (Rost 2002: 627f.).5 Vor allem das Talentmerkmal Kreativität hält Einzug in den (inter-)nationalen Diskurs und wird von dem amerikanischen Psychologen Guilford (1950) als ökonomisch bedeutsam thematisiert. Während Guilford Kreativität losgelöst von kognitiver Intelligenz als Begabung betrachtet, entstehen Modelle, die beides – Intelligenz und Kreativität – als Bestandteile von Begabung ansehen (vgl. Renzulli 1978), wobei ihre Wechselwirkung widersprüchlich diskutiert wird (vgl. Rost 2002: 628). Laut Peter 4
Wie Hoyer/Weigand/Müller-Oppliger (2013: 42) hervorheben, verwendet Rousseau den Begriff im Original in seinem Werk Émile ou de le l´éducation, während in der Übersetzung von ‚natürlichen Veranlagungen‘ die Rede ist (vgl. Rousseau 1958: 197).
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Ein Beispiel sind die vom amerikanischen Erziehungswissenschaftler Gardner (1991) postulierten „multiplen Intelligenzen“. Gardner unterscheidet folgende, voneinander unabhängige Intelligenzen: sprachlich-linguistisch, logisch-mathematisch, bildlichräumlich, musikalisch-rhythmisch, körperlich-kinästhetisch, interpersonal, intrapersonal und spirituell.
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(2018: 78) korrespondiert der Aufstieg des (kreativen) Talents mit der Umstellung des Subjektideals in der Moderne: „Kern des in die Talentsemantik einziehenden Kreativitätsparadigmas ist die unablässige schöpferische Hervorbringung des Neuen, Abweichenden und Anderen.“ Durch die Verschiebung von der genetisch bedingten Begabung, die sich auf Intelligenz beschränkt, zum breitgefächerten Talent bzw. Begaben werde zwar jede*r miteingeschlossen, jedoch entstehe gleichzeitig eine „Potenzialrhetorik“, die wie bereits im biblischen Gleichnis jede*n dazu aufruft, durch die Arbeit am Selbst ihre*seine individuellen Talente (ökonomisch) zu nutzen: „Talente, für sich genommen, sind wertlos; man muss aus ihnen etwas machen“ (ebd.: 80f.). Darüberhinausgehend werden ab den 1990er Stimmen laut, die die Existenz von (angeborenem) Talent stark hinterfragen, indem sie Exzellenz bspw. im Musik- oder Sportbereich auf „deliberate practice“ – reflektiertes Üben zurückführen (vgl. Ericsson/Krampe/Tesch-Römer 1993). Herausragende Leistung wird in diesen Ansätzen als das Ergebnis von 10.000 Stunden (vgl. ebd.) bzw. 10 Jahren (vgl. Simon/Chase 1973) Üben verhandelt. Talent sei demnach „überbewertet“ (Colvin 2010), ein Ansatz, der u.a. in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen (vgl. ebd.; Gladwell 2009) aufgegriffen und medial viel Aufmerksamkeit erhält, wissenschaftlich jedoch bspw. von Macnamara, Hambrick und Oswald (2014) relativiert wird, da üben alleine für die Ausbildung von Exzellenz nicht ausreiche. Bis heute zeichnet sich im Talentdiskurs eine große Heterogenität an Positionen, Begrifflichkeiten und ihnen impliziten Begriffsverständnissen ab, die im Wissenschaftsfeld als problematisch angesehen wird: „Formulierungen wie ‚Begabung‘, ‚überdurchschnittliche Begabung‘, ‚Talent‘ oder ‚Leistungsstärke‘ werden gewählt, allerdings ohne genaue Explizierungen dessen, wofür der Begriff steht. Deshalb bleiben viele Unklarheiten. Handelt es sich beim gewählten Begriff eher um statisch erfassbare, sich kaum verändernde Fähigkeiten, die kontinuierlich weiterentwickelt werden oder auch stagnieren? Umfasst der gewählte Begriff intellektuelle und/oder nicht-intellektuelle Fähigkeiten? Wird das, was unter dem gewählten Begriff verstanden werden soll, als Produkt oder als Entwicklungsmöglichkeit mit Prozesscharakter verstanden? Ob Potenzial oder Produkt, Kompetenz oder Performanz bleibt somit […] ungeklärt.“ (Stamm 2009: 53)
In einem kurzen Abriss zeichnet der Psychologe Ziegler (2008: 15f.) das „babylonische Sprachgewirr“ nach: Während im Deutschen der Begriff der Hochbegabung dominiert, hat sich im internationalen Bereich der Begriff der Begabung durchgesetzt. Anders als die meisten Wissenschaftler*innen (vgl. bspw. Tannenbaum 1986) verwenden die Psychologen Csíkszentmihályi und Robinson (1986)
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die Begriffe Talent und Begabung synonym. Wird zwischen den Begriffen differenziert, variiert, welcher Begriff mit Potenzial und welcher mit Hochleistungen gleichgesetzt wird. Ziegler (2008: 17) wiederum beschreibt in seinen Definitionen Talente als Personen, die möglicherweise einmal Leistungsexzellenz erreichen werden, während Hochbegabte wahrscheinlich Leistungsexzellenz erreichen. Darüber hinaus systematisiert Ziegler (2008: 15) bisherige Definitionen von Talent und unterscheidet hierbei zwischen psychometrischen Definitionen (beruhend auf Testergebnissen – zumeist Intelligenz- oder Kreativitätstests – wird Begabung diagnostiziert), Perfomanzdefinitionen (Begabung zeigt sich in hohen Leistungen), Etikettierungsdefinitionen (Begabung als Zuschreibung), spezifischen Talentdefinitionen (hohe Leistung in einem spezifischen Bereich wie bspw. Sport oder Musik) und delphischen Definitionen (anhand von Expert*innenurteilen über den weiteren Leistungsverlauf wird eine Person als begabt eingestuft). Wie Ziegler (ebd.: 15) betont, können diese Definitionen zu völlig unterschiedlichen Einschätzungen über das Vorliegen von Talent führen.6 Im Zuge der Ausweitung des Begabungsverständnisses entstehen immer komplexere Modelle, die nicht nur die verschiedenen Begabungsmerkmale und ihr Zusammenspiel, sondern auch die Einflussfaktoren auf Begabung zu erfassen versuchen. So entwickelt bspw. der Psychologe Mönks (1990) das Hochbegabungsmodell des Psychologen Renzulli (1978) weiter, in dem er neben den von Renzulli deklarierten Bestandteilen von Hochbegabung – Intelligenz, Kreativität und Motivation – die Umweltfaktoren Familie, Schule und Peergroups in die Konzeption von Hochbegabung miteinbezieht. Noch umfassender ist das Münchner Hochbegabungsmodell des Psychologen Heller (1992), das versucht nicht nur Intelligenz zu messen, sondern das Zusammenwirken von ‚Begabungsfaktoren‘,7 ‚Umweltmerkmalen‘,8 ‚nicht-kognitiven Persönlichkeitsmerkmalen‘9 6
Dies zeigt sich bspw. in der Diskrepanz von schulischer Leistung und dem Abschneiden in Intelligenztests: Nur 50% der als hoch intelligent diagnostizierten Schüler*innen erbringen entsprechende Schulleistungen, während nur etwa 15% der Hochleistenden entsprechende Werte in psychometrischen Tests erzielen (vgl. Ziegler 2008: 15).
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Heller fasst hierunter intellektuelle, kreative, praktische und künstlerische Fähigkeiten
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Laut Heller lassen sich diese in familiäre Lernumwelt, Familienklima, Instruktions-
sowie soziale Kompetenzen, Musikalität und Psychomotorik. qualität, Klassenklima und kritische Lebensereignisse untergliedern und fungieren als Moderatoren. 9
Hierbei differenziert Heller zwischen: Stressbewältigung, Leistungsmotivation, Arbeits-/Lernstrategien, (Prüfungs-)Angst und Kontrollüberzeugung.
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und ‚Leistungsbereichen‘10 abzubilden, um Ansatzpunkte für die Förderung von Begabten aufzuzeigen. Hochbegabung wird demnach nicht (mehr) als statische Gegebenheit, sondern als dynamischer Prozess aufgefasst, der durch miteinander verflochtene interne und externe Faktoren bedingt ist und von ihnen gesteuert wird. Über den Einbezug externer Faktoren wie ‚Umweltmerkmale‘ weitet sich die Potenzialrhetorik weiter aus, da nun nicht mehr nur jedes Talent Arbeit am Selbst verrichten soll, sondern auch an immer mehr Einflussfaktoren über die Person hinaus angesetzt wird. Kritik an den multidimensionalen Begabungskonstrukten erfolgt auch aus den eigenen Reihen: So sei bspw. beim Münchner Hochbegabungsmodell unklar, wie die einzelnen Faktoren zusammenwirken (vgl. Süß 2001: 149). Bei Renzullis/Mönks‘ Modellen würde zudem auf „unscharfe und bislang kaum valide zu erfassende Variablen als begriffskonstituierende Definitionsmerkmale von Hochbegabung“ (Rost 2002: 628) zurückgegriffen. Insgesamt sei durch die „fast beliebige Öffnung des Hochbegabungsbegriffs […] das Hochbegabungskonzept […] zur allumfassenden Leerformel entartet“ (ebd.: 629), wodurch es weder für Theorie noch Praxis brauchbar sei. Aus den Kritiken wird der Anspruch deutlich, dass die Modelle nicht nur Begabungsmerkmale aufzeigen, sondern konkrete Hinweise für die Praxis der Talentdiagnostik liefern sollen. Die Wertung der Modelle erfolgt somit auf der Folie ihrer Umsetzbarkeit, was die enge Verzahnung im Talentdiskurs von Wissenschaft und Diagnostik erkennen lässt, die oftmals in Förderprogrammen mündet. Mit Hilfe von verschiedenen Testverfahren (vgl. bspw. Egbert 2018) wird Talent diagnostiziert und resultiert in Selektionen für bestimmte Förderprogramme. Die Schwierigkeit der Selektion in Förderprogrammen wird bereits bei unidimensionalen Begabungskonstrukten kontrovers diskutiert. Für den deutschen Psychologen Rost (2002: 627) ist intellektuell hochbegabt, „wer in der Lage ist, sich schnell und effektiv deklaratives und prozedurales Wissen anzueignen, dieses in variierenden Situationen zur Lösung individuell neuer Probleme adäquat einzusetzen, rasch aus den dabei gemachten Erfahrungen zu lernen und zu erkennen, auf welche neue Situationen bzw. Problemstellungen die gewonnenen Erkenntnisse transferierbar sind (Generalisierung) und auf welche nicht (Differenzierung)“.
Dieses Begriffsverständnis habe sich auch „in der Praxis der Hochbegabungsidentifikation hervorragend bewährt“ (ebd.) und gestatte eine sehr gute Prognose, die zumeist von Hochbegabungsförderprogrammen herangezogen wird. Zur Di10 Aufgegliedert in: Sport, Naturwissenschaften, Technik, Informatik, Schach, Kunst, Sprachen, Mathematik und soziale Beziehungen.
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agnostik werden zumeist standardisierte Testverfahren verwendet. Die mit Beginn des 20. Jahrhunderts aufgekommenen (Eignungs-)Tests (vgl. Horn 2002: 110) fungieren letztendlich als Gatekeeper zu bspw. Förder- und Stipendienprogrammen. Im Zuge eines vertieften Interesses der Soziologie für Prozesse des (Be)Wertens (vgl. bspw. Lamont 2012; Nicolae/Endreß/Berli/Bischur 2019) werden Testverfahren im allgemein im Hinblick auf ihre Objektivität und Validität aber auch ihre Wirkmächtigkeit auf die zu Prüfenden hinterfragt. Laut Egbert (2018: 117ff.) müssen Tests als mittelbar verstanden werden, da sie in künstlich geschaffenen Prüfsituationen höchstens Fähigkeiten, die als „symptomatisch für Begabung […] definiert werden“, jedoch nicht Begabung an sich prüfen. Horvath (2018: 245f.) merkt an, dass „Begabung als soziales Konstrukt zu verstehen [sei…], das letztlich der Prognose von Leistungsfähigkeit dient. Wenn wir Begabung in diesem Sinn als Potenzial verstehen, stellt sich das Problem, dass sich ein Potenzial zum Zeitpunkt der Betrachtung per definitionem nicht entfaltet oder auch nur angedeutet haben muss. Das gilt umso mehr, als jede Leistungsprognose sich an einem Leistungsverständnis orientiert, das je nach gesellschaftlichen Kontexten variieren und sich auch verändern kann.“
Wie der kurze historische Abriss zeigt, würden je nach Talentverständnis unterschiedliche Merkmale in Testverfahren geprüft werden und somit zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Laut Lemke (2004: 267) beziehen sich Tests nicht auf vorgängige Merkmale, die es objektiv und neutral zu enthüllen und zu prüfen gilt, sondern sie tragen zur Konstruktion dieser Talentmerkmale bei und suggerieren, „dass es diese Persönlichkeitseigenschaft [Begabung] in einem ontologischen Sinne gäbe“ (Egbert 2018: 122). Über Testverfahren würden Konzepte wie Talent nicht nur einen ontologischen Status erhalten, sondern auch operationalisierbar werden, „indem sie diese in Faktoren zerlegen, Parameter bestimmen und Kategorien gewichten“ (Lemke 2004: 267). Dem Prozess der Diagnostik von Talent sei somit ein Prozess der Valuation/Wertung von Merkmalen inhärent. In Anlehnung an Mau (2017: 15) umfasst Valuation soziokulturelle Praktiken der ‚Inwertsetzung‘, „bei der Wert oder Werte von etwas etabliert, eingeordnet, verhandelt […oder] konstruiert“ werden (Doganova/Giraudeau/ Helgessoni/Kiellbcrg/Lee/Mallard/Mennicken/Muniesa/Sjögren/Zuiderent-Jerak 2014: 87). Wenn Wert nicht als gegeben, sondern als sozial konstruiert und zugeschrieben angesehen wird, „lautet die Grundprämisse der Analyse solcher gesellschaftlichen Vorgänge immer: es hätte auch anders sein können“ (Mau 2017: 16). Diese Kontingenz werde jedoch im Prozess des „Blackboxing“ (Egbert
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2018: 131) – durch die als objektiv wahrgenommenen Testverfahren unsichtbar gemacht (vgl. auch Foucault 1994a: 238ff.; Heintz 2007: 81; Kalthoff 1996: 121). In der Gesamtbetrachtung haben sich die Techniken des Testens vervielfältigt und auf immer mehr Gesellschaftsbereiche ausgedehnt, so dass „es immer häufiger Tests [sind], die uns sagen, wer wir wirklich sind“ (Lemke 2004: 263f.). Neben standardisierten Prüfungskatalogen über die bspw. Persönlichkeitsmerkmale getestet werden, rücke immer öfter eine offene Performance der Geprüften – bspw. in Assessment Centern – in den Fokus, so dass weniger das Testergebnis, als die Fähigkeit der Geprüften, sich selbst zu inszenieren, entscheidend sei (vgl. Horn 2002). Damit würden die Prüflinge nicht mehr jede*r für sich isoliert Prüfungen ablegen, sondern ihre Interaktion werde zum wesentlichen Bestandteil dieser (vgl. ebd.: 118). Wie Kaminski (2013: 186) aus einer subjektivierungstheoretischen Perspektive herausstellt, ist die Prüfform jedoch nicht bloß ein äußerlich angelegter Maßstab, sondern sie werde als Maßstab an sich selbst übernommen und verändere die „Formen des Denkens, Handelns […und] des Selbstbezugs.“ Im Schulkontext weisen einige Untersuchungen auf Subjektivierungsprozesse durch Prüfungen hin, da bereits beim Bearbeiten der Prüfungsaufgaben Reflexionsprozesse über die Erwartungsnormen eingeleitet und Geprüfte sich zu diesen ins Verhältnis setzen würden (vgl. Wrana 2017: 91). Dabei würden die im Test erbrachten Leistungen als konstant und repräsentativ für das Leistungsvermögen der*des Geprüften angesehen (vgl. Kaminski 2013: 179). Faktoren wie Tagesform, Lerneffekte oder situativer Stress würden in Tests nicht berücksichtigt (vgl. Horn 2002: 115). Nicht nur durch die Bezugnahme der Prüflinge zur Prüfung, sondern auch über spezifische Adressierungen (vgl. Pille/Alkemeyer 2016) und die Bewertungen durch die Prüfenden erhalten die Geprüften schließlich Gewissheit über ihr „(schulisches) Selbst- und Fremdbild“ (Kalthoff 1996: 122). Durch die Kopplung von Diagnostik und Auswahl für die Förderung stehen die Testergebnisse zudem nicht für sich, sondern sie dienen neben der Identifikation auch der Selektion von Begabten. Aus subjektivierungstheoretischer Perspektive ist zudem nicht nur durch die an die Prüfungen anschließende Selektion und Förderung, sondern bereits die Prüfung selbst ein wichtiger Bestandteil der Selbst-Bildung zu (Nicht-)Begabten. Damit stellten Prüfungen eine spezifische Form der Machtausübung dar, in der Personen unter je spezifischen Kriterien verglichen und damit klassifizier- und hierarchisierbar werden (vgl. Foucault 1994a: 243ff.). Zahlreiche Untersuchungen zu Begabtenförderungsprogrammen zeigen, dass die Aufschlüsselung nach sozialer Herkunft ein homogenes Bild der Geförderten
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ergibt, weswegen die Validität der bisher eingesetzten Tests hinterfragt wird. Die Geförderten setzen sich zum Großteil aus Personen aus der Mittel- und Oberschicht zusammen, während Personen aus bildungsfernen Milieus und/oder mit sogenanntem Migrationshintergrund11 unterrepräsentiert sind (vgl. Stamm 2009: 420). Die Erziehungswissenschaftlerin Stamm (ebd.: 426) führt die Unterrepräsentanz von Personen mit Migrationshintergrund in Begabtenförderprogrammen auf einen ‚cultural bias‘ zurück, der in den Identifikationsinstrumenten zum Tragen komme, da diese „vor dem Hintergrund des abendländischen Kulturkreises entwickelt worden“ seien und daher bei „kulturellen Minoritäten angewendet, zu Verfälschungen in Testsituationen führen“ (ebd.). Bereits seit Beginn der Begabtenförderung – beruhend auf Begabungsdiagnostik zumeist durch spezifische Testverfahren wie Intelligenztests – gehe mit ihnen die Reproduktion sozialer Ungleichheiten einher (vgl. bspw. Böker 2018; Horvath 2014; Margolin 1994; Terman 1916; 1926), weswegen die Testverfahren und die zumeist auf Exzellenz ausgelegten Förderprogramme kritisch diskutiert werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Talentdiskurs historisch von verschiedenen Debatten, in denen sich gegenläufige Positionen ausbilden, geprägt ist, die jedoch miteinander zusammenhängen: Durch die enge Verknüpfung von Forschung, Diagnostik – in Form von verschiedenen Prüfungen oder Tests – und Förderung bleibt neben der bis heute anhaltenden Anlage-/ Umweltdebatte auch der Widerstreit zwischen „Exzellenz und Equity“ (Stamm/ Viehhauser 2009; vgl. auch Böker/Horvath 2018: 15) bestehen. Dieser wendet sich der Frage hin, ob Förderung sich auf wenige Begabte – zumeist Leistungsstarke – beschränken, oder den Fokus auf Chancengleichheit und die Förderung aller – und auch verschiedener Begabungen – richten soll. Damit eingeschlossen ist somit auch die Frage nach der ‚Weite‘ des Talentverständnisses. Unter wiederkehrendem Rückbezug auf diese Debatten gehe ich im Folgenden auf den Talentdiskurs im Sport ein. Hierfür zeichne ich zunächst die Ent-
11 Die Verwendung der Differenzkategorie ‚Migrationshintergrund‘ wird in aktuellen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen kritisch diskutiert, da sie weder objektiv noch deskriptiv sei und Personen in zwei in sich homogenen aber sich voneinander unterscheidenden Gruppen der ‚Einheimischen‘ und der ‚Anderen’ einteile (vgl. Mecheril 2011). Die Kategorie müsse als historisch situierte und ethnisierende (Fremd-) Zuschreibung verstanden werden, die dazu beitrage, „Grenzen zu ziehen, Zugehörigkeiten auszudrücken und soziale Ordnungen zu deuten und zu strukturieren“ (Horvath 2017: 199). Durch Studien, die auf diese Kategorie zurückgreifen, verschwimme „die Unterscheidung als Unterscheidung“ (Stošić 2017: 96) und werde zur „sozialen Realität“ (ebd.).
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wicklung von Talentsichtungen in Deutschland seit dem 20. Jahrhundert nach und thematisiere die verschiedenen Perspektivierungen von Talent in den sich ausformenden Teildisziplinen der Sportwissenschaft. Aufgrund eines sich abzeichnenden Neubeschreibungspotenzials greife ich bei der Thematisierung von Talentdiagnostik Überlegungen aus der Soziologie des (Be)Wertens auf und gehe auf die Forschungsdesiderate ein, zu denen meine Untersuchung einen Beitrag leistet.
1.2 (BE)WERTUNG VON TALENT IM SPORT Während für die militärische Rekrutierung bereits in den 1920er Jahren international erste Tests zur Erfassung der generellen motorischen Fähigkeiten entwickelt werden (vgl. Yerkes 1921), beginnt die Systematisierung und wissenschaftliche Begleitung der Talentsuche im Sport in Deutschland nicht mit den Anfängen des organisierten Sports (ca. 1900), sondern erst in den 1950er (DDR)/ 1960er (BRD) Jahren (vgl. Joch 2012: 23f.). Ausschlaggebend ist die Initiierung und Etablierung der Sportwissenschaft als eigenständige Fachdisziplin (vgl. Grupe 1996: 364), was im Nachgang als Reaktion auf die verschärfte internationale Konkurrenzsituation gedeutet wird (vgl. Güllich 2013: 625). Zu Zeiten des Dritten Reichs wird vor allem unter Erwachsenen nach Leistungsauffälligen gesucht. Erst ab den 1950er Jahren beginnt in der DDR die Fokussierung bei Talentsichtungen auf Kinder und Jugendliche (vgl. Joch 2012: 24ff.). Die systematische Talentsuche scheint politisch motiviert: Zum einen solle durch internationale Erfolge im Leistungssport die Überlegenheit des Sozialismus demonstriert werden. Zum anderen werde aufgrund des ‚sozialistischen Menschenbildes‘ der Sport als Mittel zur Erhaltung der Gesundheit und Produktivitätskraft angesehen, über den auch Identifikationsmechanismen ausgelöst werden sollen (vgl. Wick 2012: 35). Wie der Sportwissenschaftler Wick (vgl. ebd.: 48) betont, müsse die Talentsichtung und -förderung in der DDR dementsprechend als Staatsprojekt verstanden werden. Vor diesem Hintergrund entstehen bereits 1951 die ersten Kinder- und Jugendsportschulen und Übungsleiter*innen und Trainer*innen führen in Kooperation mit Sportlehrer*innen erste Sichtungsmaßnahmen durch (vgl. ebd.: 40ff.). Aufgrund des relativ schlechten Abschneidens der gesamtdeutschen Olympiamannschaft bei den Olympischen Spielen von 1960 und 1964 erfolgt ein flächendeckender Ausbau von Trainingszentren, und die wissenschaftliche Begleitung von Talentsichtung und -förderung wird von Staatsseite bspw. durch die Gründung des ‚Leipziger Forschungsinstituts für Körperkultur und Sport‘ initiiert. Forschung und Praxis ar-
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beiten eng zusammen. Ab 1973 werden einheitliche Sichtungen und Auswahlen (ESA) an allen allgemeinbildenden Schulen der DDR durchgeführt, bei denen das Abschneiden bei sportmotorischen Tests, aber auch Gewicht, kalendarisches und biologisches Alter, Größe, Geschlecht und Name der Schüler*innen erfasst und ausgewertet werden (vgl. ebd.: 44). Herausragende Sportler*innen werden an Trainingszentren verwiesen und systematisch gefördert, wobei die Entscheidung für oder gegen den Leistungssport nicht den Sportler*innen überlassen, sondern ihre Autonomie dem Staat untergeordnet wird (vgl. Güllich/Cobley 2017: 93). Die Anzahl an wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit dem Thema Sportförderung im Kindes- und Jugendalter beschäftigt, nimmt ab den 1970er Jahren stetig zu, wobei diese damals nicht öffentlich zugänglich sind, sondern von politischer Führung unter die Kategorie ‚streng vertraulich‘ gestellt werden (vgl. Wick 2012: 47). Der Erfolg des Systems, welcher sich in über 4000 Siegen während internationaler Wettkämpfe in der Laufzeit der DDR ausdrückt, wird mit der flächendeckenden Sichtungs- und Fördermaßnahmen, aber auch mit dem staatlich verordneten Doping erklärt (vgl. Spitzer 2008), wodurch die Wirksamkeit der Sichtungsverfahren, die sich vor allem auf anthropometrische Werte und Leistungsauffälligkeit fokussieren, in Frage gestellt werden kann. Bereits vor der Wiedervereinigung Deutschlands versuchen die BRD und auch andere Länder sich an dem Sichtungs- und Fördersystem der DDR bzw. der gesamten sogenannten Ostblockstaaten zu orientieren (vgl. Güllich/Cobley 2017: 93), was sich in der BRD bspw. in Vorschlägen des damaligen Generalsekretärs des Deutschen Sportbundes äußert, sich vom föderalistischen Sportsystem zu verabschieden: „Traditionen halten uns gefangen und die Sportler müssen ausbaden, was mit etwas mehr Mut und Entschlossenheit geändert werden könnte, aber unter Berufung auf die unantastbaren Freiheiten der Sportler, das föderalistische System, die demokratische Gesellschaft u. a. m. nicht oder nur zögernd angegangen wird.“ (ZEIT/Gieseler 1975: 45)
Zwar lassen sich auch in Westdeutschland ab den 1960er Jahren Systematisierungsprozesse des Leistungssports erkennen: Es entstehen erste Institutionen, die sich der Förderung des Leistungssports verpflichten, wie bspw. der 1961 gegründete ‚Bundesausschuss Leistungssport‘ zur wissenschaftlichen und methodischen Förderung des Leistungssports, der ab 1969 – im Anschluss ans schlechte Abschneiden bei den Olympischen Spielen 1968 im Vergleich zur DDR – in den Deutschen Sportbund integriert wird. In den 1970er Jahren werden großflächige Maßnahmen zur Talentfindung und Kader zur Leistungsförderung eingeführt, so dass bereits in frühen Jahren eine Selektion der zu fördernden Athlet*innen statt-
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findet. Zudem werden Kooperationen mit Schulen geschlossen, die die Anfänge der ‚Sportbetonten Schulen‘ darstellen (vgl. Brettschneider/Drenkow/Heim/ Hummel 1993: 378f.) als Vorstufe der ‚Eliteschulen des Sports‘12 (vgl. Radtke/ Coalter 2007: 37f). Jedoch kann weder vor noch nach der Wende13 an die Erfolge der DDR angeknüpft werden, was zumeist auf die unterschiedlichen Strukturen der (Sport-)Systeme zurückgeführt wird (vgl. bspw. Wick 2012: 56). Differente Perspektivierungen von (angeborenem) Talent in den Teildisziplinen der Sportwissenschaft Die Verzahnung von Wissenschaft und Praxis streben beide Seiten von Beginn an der Talentsichtungen und der Etablierung der Sportwissenschaft an, jedoch werten sie die Umsetzung der Zusammenarbeit von Anfang an zumeist als unbefriedigend: „Die beiden Partner, Praxis und Wissenschaft, können offenbar ihre Vorannahmen, Erwartungen und Handlungsweisen nicht aufeinander abstimmen. Der eine erwartet konkrete Hilfe im alltäglichen Heute und handelt oft spontan und intuitionsgeleitet. Der andere sucht, angeleitet von einer ‚Theorie‘ planmäßig und systematisch nach Daten für Regeln, die er vielleicht morgen, natürlich ohne Gewähr, kundtut.“ (Hagedorn/Joch/Starischka 1989: 7 zitiert nach Joch 2012: 28)
12 Hierunter fallen Verbundsysteme aus Schule, Sport (und Wohnen), die die duale Karriere (Spitzensport und Schule) der potenziellen Spitzensportler*innen optimal koordinieren sollen, so dass weder die schulische Bildung noch die sportliche Förderung zu kurz kämen. Dies soll damit gewährleistet werden, dass Schule und Training eng aufeinander abgestimmt und die Athlet*innen in speziellen Sportklassen unterrichtet werden. Zielsetzung ist es, über die Förderung in den Eliteschulen in die Landeskader und langfristig in die Bundeskader zu gelangen und im Idealfall internationale Erfolge zu erreichen. Laut Angaben des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) müssen zur Zulassung sportliche, schulische und sportmedizinische Voraussetzungen erfüllt werden, wobei auf diese von Seiten des DOSB nicht näher eingegangen wird (vgl. DOSB 2014). 13 Nach der Wende werden in den neuen Bundesländern die Sportstrukturen an die alten Bundesländer angepasst. U.a. wurden die bisherigen hauptamtlichen Trainer*innen entlassen, reine Sportklassen aufgelöst, Internatskapazitäten reduziert und generell die Verflechtung von Schule und Sportverein gelockert (vgl. Wick 2012: 49).
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Erschwerend kommt die Heterogenität an Ansätzen innerhalb der Sportwissenschaft hinzu, die sich im zeitlichen Verlauf in verschiedene Teildisziplinen ausdifferenziert. In den 1970er Jahren zeichnen sich vor allem zwei Forschungsrichtungen ab, die die Anlage-Umwelt-Debatte der allgemeinen Talentforschung widerspiegeln: Aus sportmedizinischer Sicht liegt das Interesse zumeist auf der Heredität von genetisch bedingten Merkmalen, auf die Leistungsunterschiede zurückgeführt werden, während trainingswissenschaftliche Ansätze sich für die Leistungsentwicklung und Steigerungsfähigkeit durch Training interessieren (vgl. Hohmann 2001: 15), wobei eine klare Zuordnung der Disziplinen zu Positionen der Anlage-/Umwelt-Debatte nicht immer möglich ist. So beziehen auch trainingswissenschaftliche Ansätze Überlegungen zu genetisch bedingten Leistungsentwicklungen mit ein und sportmedizinische Ansätze verschließen sich nicht vor umweltbedingter Leistungsentwicklung. ‚Naturbedingte‘ Faktoren, die in der Sportwissenschaft und -praxis für verschiedene Sportarten als leistungsbestimmend bzw. -beeinflussend diskutiert werden, sind bspw. anthropometrische Messgrößen wie Körperhöhe, Körpermasse, Sitzhöhe, aber auch aus einzelnen Maßen berechnete Werte wie Armspanne (im Vergleich zur Körperhöhe), Quetelet-Index (Körpermasse : Körperhöhe), Plastik-Index (Index aus Schulterbreite, Unterarmumfang, Handumfang zur Beurteilung der plastischen, athletischen Wuchstendenz des Körpers) und Metrik-Index (unter Einbezug der Körperhöhe, der Brustkorbtiefe und -breite wird der Grad der Schlankwüchsigkeit beurteilt) (vgl. Fröhner/Wagner 2011: 32). Während diese Werte sich im Verlauf der Entwicklung verändern (können) und somit ihr Einbezug in die Talentauswahl Kenntnisse zur Entwicklungsdynamik voraussetze (vgl. ebd.: 35), lassen sich auch sportwissenschaftliche Bemühungen feststellen, stabile (äußere) Merkmale zu finden, anhand derer Talent prognostiziert werden könne. So wird bspw. in einigen Studien ein Zusammenhang zwischen dem Verhältnis von Zeigefinger (D2) zu Ringfinger (D4) und der sportlichen Leistungsfähigkeit herzustellen versucht (vgl. bspw. Manning/Taylor 2001; Paul/Kato/Hunkin/Vivekanandan/Spector 2006; Moffit/Swanik 2011). Das Längenverhältnis werde bereits im Uterus durch die Zusammensetzung von Östrogen und Testosteron bestimmt. Je mehr Testosteron synthetisiert werde, desto kleiner sei das D2:D4 Verhältnis und umso größer sei die sportliche Leistungsfähigkeit (vgl. ebd.). So zeigen bspw. Manning und Taylor (2001), dass Fußballspieler der ersten Liga in England ein geringeres D2:D4 Verhältnis aufweisen als Ersatzspieler und Spieler unterer Ligen. Ein Zusammenhang zwischen sportlichem Erfolg und dem Fingerlängenverhältnis konnte jedoch bspw. im Handball nicht nachgewiesen werden (vgl. Baker/Kungl/Pabst/Strauß/Büsch/Schorer
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2013). In einer sportartenübergreifenden Studie versuchten Moffit und Swanik (2011) zu untersuchen, in welchen Sportarten das D2:D4 Verhältnis die größten Auswirkungen habe. Während eine Zusammenfassung aller Sportler im Vergleich zu der Kontrollgruppe keine signifikanten Unterschiede aufzeigt, weisen Athleten im Football und Turnen die niedrigsten Werte (gedeutet als höchstes Anzeichen für Testosteron) auf (vgl. ebd.). Anhand von quantitativen Untersuchungen zur Korrelation von Fingerlängenverhältnis und Leistungsauffälligkeit wird demnach versucht, Anzeichen für sportliches Talent zu finden, wobei die Ergebnisse dieser Untersuchungen sehr unterschiedlich ausfallen und weiterhin unklar ist, auf welche konkreten Eigenschaften anhand des Fingerlängenverhältnisses geschlossen werden könne (vgl. Krüger 2011: 39). Die Hypothesen reichen von körperlicher Einsatzfreude und Aggressivität (vgl. ebd.) über räumliches Sehvermögen, Griffstärke und kognitiven Fähigkeiten zu mentaler Stärke, Optimismus und Selbstsicherheit (vgl. Tomkinson/Dyer 2017). Im Zuge der (sport-)medizinischen Entwicklung werden inzwischen nicht nur äußere ‚naturgegebene‘ Merkmale für die Talentbestimmung in den Blick genommen. Einige sportmedizinische Ansätze versuchen Gene zu bestimmen, „die direkt oder indirekt mit der Veranlagung für besondere sportrelevante Fähigkeiten assoziiert sind“ (Breitbach 2011: 15). Über 200 solcher Gene seien bereits erkannt und in einer Liste aufgeführt, die Auswirkungen auf bspw. die maximale Sauerstoffaufnahme, die anaerobe14 Leistungsfähigkeit, die maximale Sprintschnelligkeit, die Muskel-Faserverteilung, wie auch die Trainierbarkeit dieser Faktoren haben sollen (vgl. ebd.; Rees/Hardy/Güllich/Abernethy/Cote/ Woodman/Montgomery/Laing/Warr 2016: 1043). Bei diesen Identifikationsbemühungen ist die Annahme zentral, dass sportliches Talent sich vornehmlich über den Genpool bestimmen lasse, so dass Testungen unabhängig von Alter, Trainingszyklus, Tagesform etc. möglich seien. Kritik an den Verfahren wird zum einen aufgrund der unzureichenden Aussagekraft geäußert. Wie die deutsche Sportmedizinerin Breitbach (2011: 14) problematisiert, reicht es für die Aufnahme eines Gens in die Liste, „dass in einer beliebigen Studie auf die positive Assoziation des Gens mit einer sportlichen Fähigkeit hingewiesen wird. Eine Widerlegung dieses Zusammenhangs durch nachfolgende Studien bewirkt weiterhin keine Korrektur.“ Zudem seien sportliche Leistungsfähigkeit und ihre Determinanten „polygen codiert, wohingegen genetische Tests lediglich isolierte Determinanten bestimmen können“ (ebd.). Zum anderen werden vor allem aus ethischen Gesichtspunkten Bedenken formuliert, da als Konsequenz die Talent14 Im Gegensatz zu aeroben Stoffwechselvorgängen läuft die anaerobe Energiebereitstellung ohne die Beteiligung von Sauerstoff in den Zellen ab. Bei diesem Prozess entsteht Laktat, durch welches die Muskeln ‚übersäuern‘ (vgl. Markworth 2004: 236ff.).
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auswahl und -förderung genabhängig wäre, worin sich „eine empfindliche Beeinträchtigung der Autonomie des Menschen“ zeige (Breitbach 2011: 17; vgl. auch Müller 2009).15 Insgesamt scheint jedoch im Vergleich zum allgemeinen Talentdiskurs die Annahme einer genetischen Disposition im Sport „einen höheren Grad an Plausibilität [zu besitzen, da] die physisch-somatischen Voraussetzungen […] eine herausragende Rolle spielen“ (Joch 2012: 59). Bis heute wird der Einfluss von Genen auf sportlichen Erfolg kontrovers diskutiert, wobei man sich inzwischen im sportwissenschaftlichen Diskurs einig zu sein scheint, dass sportliches Talent nicht auf ein einzelnes Gen zurückgeführt (vgl. Sominton 2017: 13) oder als biogenetische unveränderliche Merkmalsausstattung angesehen werden kann (vgl. Hohmann 2001: 17). Vielmehr müsse sich dem komplexen Zusammenspiel von ‚naturgegebenen‘ Faktoren und Umwelteinflüssen gewidmet werden (vgl. Abbott/Collins 2004: 300). Parallel zu den Anfängen sportmedizinischer und trainingswissenschaftlicher Forschung werden in den 1970er Jahren erste (sport-)pädagogische Stimmen laut, die Kritik an früher Talentselektion und -förderung äußern und Forderungen nach pädagogischen Interventionen und gesetzlicher Begrenzung der wöchentlichen Trainingszeiten stellen (vgl. Joch 2012: 32f.). Kinderhochleistungssport wird als Gradwanderung zwischen Fremdbestimmung und Selbstverwirklichung verhandelt (vgl. Meinberg 1984), bei dem keine Degradierung des Körpers zu einem „quantifizierbaren, in biomechanischen Gesetzmäßigkeiten aufgehenden, ansonsten eher emotionslosen und sterilen Stoff, aus dem künftige Weltmeister und Olympiasieger geschnitzt werden“ (ebd.: 113) stattfinden dürfe. Sportliches Talent, welches sich in der deutschen Sportpraxis und -wissenschaft vornehmlich auf das Kindes- und Jugendalter bezieht (vgl. Güllich 2013: 625), müsse vielmehr „selbst als eine Entwicklungsaufgabe [verstanden werden], deren Eingebundenheit in institutionelle, milieuspezifische und interaktive Erfahrungsräume“ (Pallesen 2013: 334) es weiter zu erforschen gelte. So widmen sich ab den 2000er Jahren neben sportpädagogischen (vgl. bspw. Borchert 2013; Schierz/Pallesen 2013) vor allem sportsoziologische Untersuchungen den Strukturen des Spitzensports und seines Fördersystems, wobei systemtheoretische Ansätze dominieren (vgl. bspw. Borggrefe/Cachay/Riedl 2009; Riedl/Cachay 2002; Thiel/Teubert/Cachay 2004; Thiel/Mayer/Digel 2010). Diese Ansätze machen hauptsächlich auf die Determinierung und Formierung der Athlet*innen durch die sportspezifischen Strukturen aufmerksam, wobei die Untersuchungen erst nach der Talentauswahl ansetzen. Selektionskriterien würden sich aus einer sys15 Interessanterweise werden diese ethischen Bedenken bei den oben genannten potenziellen äußeren Talentmerkmalen wie anthropometrische Messwerte und Fingerlängenverhältnisse nicht aufgeführt.
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temtheoretischen Perspektive aus den übergeordneten Strukturen des Spitzensportsystems, d. h., letztlich aus dem binären Code: Sieg/Niederlage ableiten lassen, der Leistungsunterschiede in Form von besser/schlechter produziere (vgl. Körner 2012: 80; Bette 2010: 136). Wie genau die Leitorientierung auf der Organisations- und Interaktionsebene operationalisiert wird, auf der sich die Talentauswahlen vollziehen, bleibt jedoch unklar. Einige der Ergebnisse stellen die Eliteschulen des Sports als tragende Pfeiler des deutschen Fördersystems in Frage. So konnte bspw. in Studien gezeigt werden, dass lediglich 29% der Spitzenathlet*innen der Sommersportarten eine Eliteschule des Sports besuchten, und unter den Medailliengewinner*innen gab es ebenso viele Absolvent*innen einer Eliteschule des Sports wie anderer Schulen (vgl. Emrich/Pitsch/Güllich/Klein/Fröhlich/Flatau/Sandig/Anthes 2008: 14), wobei die sich aus der Studie ableitende Kritik an den Eliteschulen des Sports u.a. aufgrund der Komplexität des Systems wie auch der Stichprobe kritisch diskutiert wird (vgl. Hummel/Brand 2010). Weitere soziologische Analysen untersuchen die Milieugebundenheit des Spitzensports: Ähnlich wie im allgemeinen Talentdiskurs zeichnet sich in Deutschland eine Homogenität der ausgewählten Athlet*innen hinsichtlich der sozialen Herkunft ab. Der deutsche Hochleistungssport würde vor allem solche Athlet*innen aufweisen, „die über Habitusformen verfügen, wie sie insbesondere in der sozialen Praxis mittlerer und höhere Klassen ‚einverleibt‘ werden“ (Alkemeyer/Braun/Gebauer 1998: 201). Diese soziale Selektivität lässt sich laut Gebauer (2003: 205) darauf zurückführen, dass Leistungssportler*innen die Funktion von Repräsentant*innen der Nation übernehmen, und damit „über eine Reihe von Eigenschaften verfügen [müssen], zu denen neben der sportlichen Leistungsfähigkeit auch andere Qualitäten gehören, insbesondere solche der öffentlichen Darstellung, spezifische Dispositionen, Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die von den Institutionen des Spitzensports einer Nation systematisch gefördert werden.“ Hieraus ergebe sich die Frage: „Erfassen wir mit unseren Maßnahmen zur Talentförderung eigentlich die Richtigen, die wirklich Talentierten und Leistungsfähigsten, […] oder nur diejenigen, die sich in unser System […] besser einfügen und einfügen lassen?“ (Joch 2012: 20). Des Weiteren entstehen (sport-)psychologische Arbeiten, die versuchen weitere potenzielle Indikatoren für und Einflussfaktoren auf Talent wie Persönlichkeitsaspekte in den Blick zu nehmen. So thematisiert bspw. die Psychologin Dweck (2009) die Auswirkungen eines statischen oder dynamischen Selbstbildes auf Erfolg. Während laut Dweck (ebd.: 100) Personen mit einem eher statischen Selbstbild davon ausgehen, dass ihre Fähigkeiten vorgegeben und unveränderbar – und damit auch nicht optimierbar – seien, gehen Personen mit einem dynami-
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schen Selbstbild von der Möglichkeit einer Veränderung und Optimierung ihrer Fähigkeiten aus. Sie begriffen auch Leistungsdefizite nicht als Leistungsgrenzen, sondern als Herausforderungen und Lerngelegenheiten, was für Spitzensport notwendige Einstellungen seien. Demnach sei ein dynamisches Selbstbild ein wichtiges Talentmerkmal,16 wobei kontrovers diskutiert wird, ob Persönlichkeitsstrukturen im Allgemeinen stabil oder veränderbar seien (vgl. Güllich 2013: 636; Harttgen/Milles/Struck 2010: 23ff.). Der Sportwissenschaftler Joch hingegen hält die Frage, ob sich Sporttalente von Nichttalenten durch ihre Persönlichkeitsstruktur unterscheiden, für wenig bedeutungsvoll, da „zur Förderung von Sporttalenten die Einflüsse aller Persönlichkeitsbereiche und die Interdependenzen zwischen den einzelnen Bereichen der Persönlichkeit mit bedacht und in die Konzeption der Talentförderung mit einbezogen werden müssen“ (Joch 1992: 109). Parallel entstehen sportpsychologische Studien in denen weniger nach Indikatoren für Talent gesucht, sondern die Bedeutung von „deliberate practice“ (vgl. Ericsson/Krampe/Tesch-Römer 1993; vgl. 1.1) für die Ausbildung von Exzellenz erforscht wird. Ähnlich wie in anderen Exzellenzbereichen wie bspw. Musik kommen die Forscher*innen zu dem Schluss, dass die Theorie der ‚deliberate practice‘ nicht ausreichend sei, um die Ausbildung von Exzellenz zu erklären (vgl. Baker/Côté/Deakin 2005: 78) und dass eine dezidiertere Betrachtung von Exzellenzausbildung notwendig sei (vgl. auch Baker/Young 2014; Macnamara/Hambrick/Oswald 2014). Von einem engen und statischen zu einem weiten und dynamischen Talentverständnis Talent wird im sportwissenschaftlichen Diskurs zunehmend als „mehrdimensionales Geschehen“ begriffen, „bei dem u.a. physisch-motorische Voraussetzungen und Lerngelegenheiten in der sozialen Umwelt, familiäre Unterstützung und Eigeninitiative zusammen und ggf. in wechselseitiger Abhängigkeit wirken“ (Joch 2012: 60). Mit der zunehmenden Professionalisierung der Talentförderung seien zudem „technisch und körperlich […] heutzutage praktisch alle Athleten mehr oder weniger austrainiert“ (Zerlauth 1996: 19) und Belastungsgrenzen nahezu erreicht (vgl. Hohmann 2001: 15), so dass weitere Entwicklungsmöglichkeiten (vgl. bspw. Zerlauth 1996: 19) aber auch Schutzmechanismen (vgl. Hoh-
16 Wobei es wichtig sei, Athlet*innen nicht als solche zu adressieren, da mit dem Label ‚Talent‘ auch – teils zu hohe – Erwartungen verbunden seien, die wiederum zu Frustration bei den Erwartungen widersprechenden Leistungen führen könnten (vgl. Wattie/Baker 2017: 73).
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mann 2001: 15) auf psychologischer, aber auch struktureller und sozialer Ebene entwickelt werden müssten. Im Zuge der Ausdifferenzierung der verschiedenen sportwissenschaftlichen Zugänge entstehen immer mehr Talentdefinitionen. Obwohl man sich im sportwissenschaftlichen Diskurs einig darüber zu sein scheint, dass „sowohl im Hinblick auf ein wirkungsvolles Praxishandeln als auch im Hinblick auf praxisrelevante Forschung […] die Verständigung auf einen problemangemessenen Talentbegriff“ (Carl/Hohmann/Wick 2002: XI) wichtig sei, liegt bis heute keine allgemeingültige Definition vor. Jedoch lässt sich in den letzten drei Jahrzehnten ähnlich wie im allgemeinen Talentdiskurs eine Verschiebung von einem engen und statischen hin zu einem weiten und dynamischen Talentverständnis erkennen. Dementsprechend sei nicht mehr nur eine punktuelle körperliche Leistung bedeutsam (enger statischer Talentbegriff), sondern es werden „neben sportmotorischen Leistungen auch Merkmale des Trainings, der Persönlichkeit sowie des materiellen und sozialen Umfelds einbezogen, denen begünstigende Effekte auf das Training und seine Wirkung auf die Leistungsentwicklung zugeschrieben werden“ (Güllich 2013: 628; vgl. auch Hohmann 2009; Joch 1992). Im Versuch die verschiedenen Einflussfaktoren zu umfassen, werden Talentdefinitionen zunehmend komplexer: „Talent besitzt, oder: ein Talent ist, wer auf der Grundlage von Dispositionen, Leistungsbereitschaft und den Möglichkeiten der realen Lebensumwelt über dem Altersdurchschnitt liegende, möglichst im Wettkampf nachgewiesene entwicklungsfähige Leistungsresultate erzielt, die das Ergebnis eines aktiven, pädagogisch begleiteten und intentional durch Training gesteuerten multidimensionalen Veränderungsprozesses darstellen, der auf ein später zu erreichendes hohes (sportliches) Leistungsniveau zielstrebig ausgerichtet ist.“ (Joch 2012: 70)
Über die verschiedenen Einflussfaktoren hinaus müsse Talent(-entwicklung) als dynamischer Prozess begriffen werden, der zwar auf langfristige sportliche Hochleistungen ausgerichtet sei, sich jedoch durch Veränderung und Inkonsistenz sowohl im Hinblick auf „Eigenschaften, Fähigkeiten, Einstellungen, Interessen“ (ebd.) als auch Umweltbedingungen auszeichne. Diagnostik von Talent Wie im allgemeinen Talentdiskurs wird an einem dynamischen Talentverständnis die schwer zu realisierende Diagnostik thematisiert. Der Trainingswissenschaftler Weineck (1986: 329) kommt bereits 1986 zu dem Schluss „auch die Existenz eines perfekten Merkmalkatalogs würde nicht automatisch das Problem
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der objektiven Erfassung dieser Merkmale bzw. Merkmalkomplexe lösen“. Letztendlich entzöge sich Talent dem direkten empirischen Zugang, und nur die Leistung sei messbar (vgl. Joch 2012: 59), wobei der Zusammenhang zwischen Leistung und Talent kontrovers diskutiert wird: Ab den 1990er Jahren widmet sich die Sportwissenschaft nicht nur der Frage der Talentdiagnostik, sondern auch vermehrt der Frage der Talententwicklung (vgl. Seidel 2011: 20), wodurch zahlreiche Studien entstehen, die sich den Förderstrukturen bzw. den Geförderten widmen, die die Validität bisheriger Sichtungsverfahren in Frage stellen. So weisen Emrich und Güllich (2005) in einer Untersuchung über die leistungssportliche Entwicklung deutscher Kaderathlet*innen verschiedener Sportarten nach, dass anhand von körperlicher Leistung im Kindes- und Jugendalter nicht auf die Leistung im Erwachsenenalter geschlossen werden könne. Ihre Langzeitstudie zeigt: Je früher die Aufnahme der Athlet*innen in das Fördersystem erfolgt, desto früher scheiden sie aus dem System aus. Und je erfolgreicher die Athlet*innen im Spitzensport sind, desto später wurden sie erstmals ins Fördersystem aufgenommen (vgl. Güllich 2013: 647). Verschiedene internationale Studien bestätigen die geringe Erfolgsquote von frühen Talentsichtungen basierend auf Wettkampfleistungen: „Only up to two percent of young athletes involved in Talent development eventually attain international senior success“ (Güllich/Cobley 2017: 80). Demnach sind frühe Leistungen und Erfolge statistisch gesehen kein Indikator für spätere Leistungen. Nichtsdestotrotz zeichnet sich nicht nur das deutsche, sondern auch ein Großteil europäischer Förder- und Sichtungssysteme (vgl. Rees et. al. 2016: 1047) durch die Annahmen aus, dass Talente a priori anhand von frühzeitigen Leistungen erkennbar und Spitzensporterfolge das Ergebnis linearer Erfolge seien (vgl. ebd.: 646). Dementsprechend werden Athlet*innen bereits in jungen Jahren aufgrund ihrer Wettkampfleistungen gesichtet und in Leistungskader berufen. Der Rückgriff auf Wettkampfleistungen zur Talentsichtung sei den Umständen geschuldet, dass die Sportpraxis „Tag für Tag funktionieren“ (Moll 2016: 266) müsse und Wettkampfleistungen „einfach festzustellen, objektiv und transparent“ seien (Hohmann/Carl 2002: 9). Zudem mangele es in vielen Sportarten an alternativen abgesicherten Strategien der Talentauswahl (vgl. ebd.). Gleichzeitig weisen weitere Studien nach, dass bei Kindern und Jugendlichen der sogenannte relative age effect zu Verzerrungen der Einschätzungen von (Wettkampf-)Leistungen führe. Talentauswahlen – wie auch Wettkampfgruppierungen – sind zumeist jahrgangsgebunden, wodurch der Vorsprung, den Athlet*innen, die früh im Jahr geboren sind, in der körperlichen Entwicklung gegenüber Spätgeborenen haben, nicht berücksichtigt wird. So ist auffällig, dass in Jugendkadern Athlet*innen, die im ersten Quartal Geburtstag haben, überrepräsentiert sind (vgl. bspw. Cobley/Baker/Wattie/McKenna 2009;
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Mujika/Vaeyens/Matthys/Santisteban/Goiriena/Philippaerts 2009; Rees et. al. 2016: 1043). Demnach müsse das biologische Alter erfasst bzw. dürften Jahrgänge nicht als homogene Gruppen bewertet werden. Je nach Sportart werden inzwischen nicht nur Wettkampferfolge zur Talentauswahl berücksichtigt, sondern es kommen auch spezifische Testbatterien zum Einsatz, die teils aus der Sportwissenschaft, teils aus der Sportpraxis stammen. Diese sollen anthropometrische, sportmotorische und/oder psychologische und soziale Faktoren in Form von standardisierten Tests objektiv abprüfbar machen (vgl. bspw. Elbe/Seidel 2003; Harttgen/Milles/Struck 2010; Sands 2012; Schorer/Büsch/Fischer/Pabst/Rienhoff/Sichelschmidt/Strauß 2012), wobei „psychologische, soziale und kognitive Merkmale in den Testbatterien zur Diagnose und Prognose von sportlichem Talent in der Regel unterrepräsentiert“ sind (Joch 2012: 77; vgl. auch Elbe/Beckmann 2005). Wie Heintz (2007: 67) herausstellt, ist die „Gleichsetzung von ‚objektiv‘ mit ‚unabhängig von persönlichen Einschätzungen‘“ eine Entwicklung, die sich erst im 19. Jahrhundert endgültig durchgesetzt hat. D.h., (Be)Wertungspraktiken und Diagnoseinstrumente müssen als historisch und gesellschaftlich wandelbar begriffen werden. Mit der Vereinheitlichung von Maßen im 19. Jahrhundert (vgl. ebd.: 69f.) sei der Grundstein für die Quantifizierung gelegt, die im Sport neue Vergleiche ermögliche und sich in Form von Statistiken niederschlage und so „den Wettkampfbetrieb mit einer historisch, sozial und räumlich unbegrenzt ausgreifenden Leistungsevaluation“ begleite (Werron 2007: 247). Im Sinne des Postulats „What is counted counts“ (Miller 2001: 386) findet laut Mau (2017: 85) inzwischen häufig nur Quantifizierbares Eingang in Bewertungssysteme, so dass bereits mit der Entscheidung für eine bestimmtes Testverfahren die jeweiligen ‚Indikatoren‘ für bspw. Talent/(Hoch-)Begabung aufgrund der Möglichkeiten ihrer Quantifizierung unterschiedlich gewichtet würden. Basierend auf den Testergebnissen wird das jeweilige Talent bewertet und Prognosen über zukünftige Leistungen erstellt. Der auf den medizinischen Bereich verweisende Begriff der Diagnose (vgl. Krähnke 2016: 9) wird damit im Kontext von (sportlichem) Talent anders konnotiert. Anhand der Anamnese wird nicht versucht Krankheiten zu erfassen und Therapiemöglichkeiten zu finden, sondern Potenzial zu heben. Die Bewertungen erfolgen mit Blick auf die Zukunft. D.h., letztendlich werden die Testergebnisse in Entscheidungen übersetzt (vgl. Egbert 2018: 124), die über die sportliche Zukunft der Athlet*innen bestimmen. Die praktische Umsetzbarkeit und die Aussagekraft dieser Tests werden jedoch in der Fachliteratur selbst kritisch diskutiert. Bspw. analysiert die Sportwissenschaftlerin Moll (2016) 40 sportmotorische Testverfahren, die in der Deutschen Leichtathletik zur Leistungsdiagnose in der Altersklasse 12 bis 14
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eingesetzt werden. Moll (ebd.: 147) zeigt, dass die meisten der Tests keine ausreichende Standardisierung aufweisen, womit die Objektivität fraglich sei. Insgesamt sei vor allem aufgrund methodologischer Herausforderungen die Frage, anhand welcher personenbezogenen Merkmale ein sportliches Talent möglichst frühzeitig und fehlerfrei erkannt und ausgewählt werden kann, bislang nicht zufriedenstellend und zuverlässig zu beantworten (vgl. Seidel 2011: 19). Auch Güllich (2013: 633) schlussfolgert in seiner Übersicht zur bisherigen Talentforschung, dass „selbst mit den besten Verfahren, die die Praxis und die Wissenschaft bis heute hervorgebracht haben, […] eine frühzeitige Talenterkennung einschließlich -prognose im Einzelfall mit beträchtlichen Fehlern verbunden ist und zu etlichen Fehleinschätzungen“ führe. Kostspielige Diagnoseverfahren, wie sie sich aus den gelisteten Punkten ergeben, seien nur dann berechtigt, wenn sie in ihrer Aussagekraft dem ‚Trainerauge‘ überlegen seien (vgl. ebd.). Für dieses interessieren sich bisher nur wenige Studien, die versuchen anhand von leitfadengestützten Interviews die subjektiven Sichtweisen und Deutungsmuster von erfolgreichen Nachwuchstrainer*innen im Hinblick auf erfolgreiche Trainingskonzeption zu rekonstruieren (vgl. Hohmann/Voigt/Singh 2015). Hier steht dann weniger die Talentauswahl als die Talententwicklung im Vordergrund, die sich durch Langfristigkeit, Ganzheitlichkeit und Nachhaltigkeit auszeichne. Trainer*innen müssten demnach nicht nur sportmotorische und taktische, sondern auch sozialisatorische und sozialpsychologische Elemente wie bspw. die Analyse der sozialen Kontexte beachten (vgl. ebd.). Ob und wie genau Trainer*innen diese Aspekte bereits in Sichtungspraktiken in den Blick nehmen, stellt bisher ein Forschungsdesiderat dar. Exzellenzförderung basierend auf frühzeitigen (Be)Wertungs- und Selektionsprozessen Wenngleich sich Wissenschaft und Praxis für längerfristige Talentförderung statt für einmalige Sichtungen aussprechen (vgl. bspw. Joch 1992; Nordmann 2009), müssen zahlreiche Sportarten aufgrund begrenzter finanzieller und personaler Ressourcen sowie der Ermangelung an alternativen Auswahlverfahren weiterhin auf punktuelle (Wettkampf-)Sichtungen zurückgreifen (vgl. bspw. Guhs 2006; Hohmann/Carl 2002). Basierend auf diesen werden die ausgewählten Athlet*innen in das Fördersystem aufgenommen, wobei zumeist jährlich die Eignung für den Kader in Form von Wettkampferfolgen, der Erfüllung von Richtwerten oder dem entsprechenden Abschneiden bei (sportmotorischen) Tests neu überprüft wird. Das deutsche Fördersystem ist in Kaderstufen gegliedert – sortiert nach Alter und Leistung. Alter stellt im Sporttalentdiskurs eine bedeutsame
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Komponente dar. Nicht nur ist die Bewertung von Leistung altersspezifisch, auch das Hochleistungsalter gilt als eng begrenzt (vgl. Joch 2012: 17). Daher wird der frühen Förderung eine bedeutsame Rolle zugesprochen. Im Unterschied zum allgemeinen Talentdiskurs wird das auf Exzellenz statt auf Egalität setzende Fördersystem selten in Frage gestellt:17 „Eigenartigerweise wird eine besondere Talentförderung (wie im Sport und in der Musik) von der Öffentlichkeit und vom Staat nicht nur akzeptiert und befürwortet, sondern auch kräftig ideell und finanziell unterstützt. […] Für kognitiv Hochbegabte, also für intellektuelle ‚Athleten‘, scheint dies nicht oder nur in bescheidenem Ausmaß zu gelten. Es scheint so, als wäre es irgendwie unanständig, sich für die besondere Förderung dieser Kinder und Jugendlichen einzusetzen.“ (Rost 2002: 634)
Eher wird thematisiert, ob die ‚Richtigen‘ – die tatsächlich Talentiertesten – gefördert werden (vgl. Joch 1992: 167). Dies hängt wiederum mit der grundsätzlichen Annahme der Anlagedeterminiertheit in der Sportwissenschaft und damit von ‚Natur‘ aus gegebenen Ungleichverteilung von sportlichem Talent zusammen: „Viewing talent as entirely malleable (i.e., entirely due to nurture) can likewise be problematic. […] While extensive practice is clearly necessary, it may not be sufficient […] genes, resources and luck are also important. […] High-performance sport is not a meritocracy and the evidence is clear that not all people have the same potential to develop into high-performance athletes.” (Wattie/Baker 2017: 73)
Mit der Annahme der Anlagedeterminiertheit lässt sich im Kontext der heutigen Wettbewerbsgesellschaft (vgl. Stoff 2014: 278) die auf Exzellenz ausgerichtete Förderung im Sport legitimieren, die – wie der historische Abriss gezeigt hat – zumeist durch ein schlechtes Abschneiden im internationalen Vergleich vorangetrieben und damit auf die Leistungsüberlegenheit im internationalen Vergleich ausgerichtet ist. Hierin kommt ein tragendes Element des Talentdiskurses zum Vorschein, welches sich implizit durch die gesamte Thematik zieht, jedoch bisher kaum wissenschaftliche Beachtung gefunden hat: Talent tritt immer nur im Vergleich in Erscheinung: erst indem die Ausprägung der jeweils als bedeutsam gewerteten Merkmale in Relation zu anderen gesetzt wird, kann die Merkmals17 Hier lässt sich die These aufstellen, dass – anders als bei bspw. schulischen Leistungen durch die PISA Studie – im Sport im internationalen Vergleich nur die Leistungsstärksten in Erscheinung treten und daher eine Exzellenzförderung für die internationale Sichtbarkeit ausreicht.
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ausprägung als herausragend diagnostiziert werden.18 Vor diesem Hintergrund greife ich im Folgenden Überlegungen aus der Soziologie des Vergleichens und (Be)Wertens auf, bevor ich abschließend auf die sich abzeichnenden Forschungsdesiderate im sportwissenschaftlichen Talentdiskurs eingehe, die ich mit meiner Untersuchung bearbeite. Im heutigen „Zeitalter der Vergleichung“, in dem „praktisch alles einem Vergleich unterzogen“ werde (Heintz 2016: 305), sei der Vergleich „eine vermeintlich selbstverständliche elementare kognitive Operation [, die] kaum einer näheren Erklärung zu bedürfen“ scheint (Epple/Erhart 2015: 17). In Anlehnung an Epple und Erhart (ebd.), ist die Praxis des Vergleichens jedoch ein nicht nur „durchaus komplexer und voraussetzungsreicher Vorgang […], sondern zugleich eine vielgestaltige, historisch und sozial wandelbare Praxis“, die eine tragende Funktion in der Gesellschaft aufweise (vgl. auch Heintz 2016).19 Zwar können sich Vergleiche unterschiedlicher Kommunikationsmedien bedienen – so können sie non-verbal, sprachlich, numerisch oder visuell ausgedrückt werden (vgl. Heintz 2010: 163) – jedoch dominieren in Zahlen ausgedrückte Vergleiche, da sie Objektivität suggerieren (vgl. Heintz 2007: 80) und „eineindeutige Ordnungsverhältnisse von größer oder kleiner“ (Mau 2017: 27) erzeugen. Laut Heintz (2016: 315) beruht jede Bewertung auf Vergleichspraktiken. Bezogen auf Talentsichtungen (im Sport) werde über den Vergleich verschiedener Personen im Hinblick auf spezifische Merkmale erst die Bewertung von Talent ermöglicht. Vergleiche stellen zunächst eine Verbindung her, in dem sie die zu vergleichenden Personen oder Objekte im Hinblick auf bestimmte Kategorien als ähnlich und damit vergleichbar einstufen, um basierend darauf eine Differenz zwischen den Personen/Objekten bezüglich der Vergleichskategorien zu ermitteln. D.h., über Vergleichskriterien werde nicht „die ‚Selbigkeit‘ des verschiedenen, sondern gerade umgekehrt die Verschiedenheit des Gleichen“ (ebd.: 307) erzeugt. Damit werde die Wahl der Vergleichskategorien bedeutsam, bei der eine ‚Inwertsetzung‘ stattfindet, in dem aus verschiedenen möglichen Kategorien einzelne als wertvoll(er) erachtet werden. Unter Rückgriff auf Überlegungen von Durkheim, Simmel und Dewey führen die Soziolog*innen Krüger und Reinhart (2016) eine Begriffsunterscheidung zwischen werten und bewerten ein, mit denen sich Maus Überlegungen zur ‚In18 Der Erziehungswissenschaftler Wrana (2017: 89) stellt im Hinblick auf die Vermessung von Leistung im Kontext von PISA heraus, dass das Leistungsprinzip Praktiken erfordere, die die*den Einzelne*n „immer in einer Normalität positionieren“ und nur durch die Relativierung zu anderen eine herausragende Leistung sichtbar wird. 19 Die wissenschaftliche Hinwendung zu Praktiken des Vergleichens wird bspw. in dem gleichnamigen seit 2017 existierenden Sonderforschungsbereich in Bielefeld sichtbar.
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wertsetzung‘ (vgl. 1.1) konkretisieren und mit den vorausgehenden Überlegungen zu Praktiken des Vergleichens zusammenführen lassen: In Prozessen des Wertens würden zunächst Objekten, Praktiken, Personen etc. Werte – teils basierend bspw. auf subjektiven Emotionen und Wahrnehmungen – zugeschrieben, die sie unterscheidbar in wertvoll bzw. wertlos machen. Diese Wertzuschreibung sehen Krüger und Reinhart als Voraussetzung für Prozesse des Bewertens an, die eine Wertabwägung im unmittelbaren Vergleich darstellen. D.h., „durch das Werten nämlich werden zunächst Kategorien etabliert, mithilfe derer dann die Güte von Objekten, Praktiken und Personen abgewogen und mittels unterschiedlichster Skalen als im weitesten Sinne gut oder schlecht bzw. besser oder schlechter bewertet, klassifiziert und beurteilt werden können“ (ebd. S. 493). Dementsprechend sei die Wertzuschreibung Voraussetzung für die Bewertung, die immer im Vergleich stattfindet, so dass Werten und Bewerten prozessual ineinander verschränkt seien (vgl. ebd.: 494). Welche Differenzkategorien als bedeutsam zu werten sind, wird von Beginn an im Talentdiskurs kontrovers diskutiert. Abhängig von dem jeweiligen Talentkonstrukt – der Annahmen über Enge und Weite wie auch der Anlagedeterminiertheit und Formbarkeit – wird das Prüfverfahren mitbestimmt, durch das Talent sichtbar und damit vergleich- und bewertbar gemacht werden soll. Je nach Talentkonstrukt und Prüfverfahren kann dies dementsprechend zu unterschiedlichen Diagnosen hinsichtlich des Vorliegens von Talent führen. Die genauen (Be)Wertungspraktiken bleiben jedoch bisher wie in einer ‚Blackbox‘ verborgen (vgl. Egbert 2018: 131; Heintz 2007: 81) Zusammenfassend widmet sich der sportwissenschaftliche Talentdiskurs zum einen der Frage, aus welchen Merkmalen (anthropometrischen, sportmotorischen, psychologischen, sozialen etc.) sich Talent zusammensetzt, wobei Uneinigkeit bezüglich der genetischen Bedingtheit und der Stabilität dieser Merkmale besteht. D.h., anders als im allgemeinen Talentdiskurs wird – mit Verweis auf die Bedeutsamkeit der physischen Komponente im Sport – die grundsätzliche Anlagedeterminiertheit von sportlichem Talent zumeist nicht in Frage gestellt, jedoch wird teils kontrovers diskutiert, welche potenziellen Talentmerkmale angeboren und stabil und welche labil und (von außen) formbar seien. Zum anderen wird versucht Messverfahren zu entwickeln, mit Hilfe derer die als wertvoll angesehenen Merkmalsausprägungen überprüft werden können. Die Diagnoseverfahren sind hierbei nicht nur vom historischen und gesellschaftlichen Kontext, sondern auch von der jeweiligen Perspektivierung abhängig: Je nach Disziplin innerhalb der Sportwissenschaft rücken verschiedene Merkmale des dynamischen Talentverständnisses in den Fokus, die mit unterschiedlichen Methoden abgeprüft werden sollen. Während in der Bewegungswissenschaft vor allem
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Messungen und standardisierte Tests zum Einsatz kommen, um bspw. anatomische Gegebenheiten zu erfassen, konzentrieren sich sportmedizinische Untersuchungen auf medizinische Tests zur Überprüfung von physiologischen Aspekten. In sportsoziologischen Untersuchungen werden mit Beobachtungen und Befragungen die jeweiligen sozialen Rahmenbedingungen von Athlet*innen analysiert, und in psychologischen Prüfverfahren wird mit Hilfe von standardisierten Fragebögen oder unter Laborbedingungen bspw. die taktische Kompetenz oder das Entscheidungs- und Antizipationsvermögen bewertet (vgl. bspw. Breitbach 2011; Güllich 2013; Hohmann/Carl 2002: 6; Moll 2016: 45). Empirische Forschung „zum ‚modus operandi‘ der Begabungskonstruktion“ (Schierz/Pallesen 2013: 20) und der Prüfverfahren liegen bisher kaum vor. Somit stellt auch die Frage nach der Subjektivierung durch die jeweiligen Diagnoseverfahren bisher ein Forschungsdesiderat dar, welches jedoch vor dem Hintergrund soziologischer Erkenntnisse in anderen Kontexten erkenntnisreich erscheint (vgl. 1.1). Zudem entstehe durch jeweilige Fokussierung in den Disziplinen das Problem einer monodisziplinären Perspektivierung von Talent (vgl. Hohmann, Fehr/Voigt 2015: 8). Die Forderung an Testverfahren müsse jedoch lauten, alle Bereiche des weiten und dynamischen Talentbegriffs abzudecken (vgl. Moll 2016: 311). Hierbei stellen sich Probleme, die bereits im allgemeinen Talent-/ (Hoch-)Begabungsdiskurs im Zuge der Entwicklung von dynamischen Modellen thematisiert wurden: Je komplexer diese würden, desto geringer sei ihre Aussagekraft und schwieriger ihre Umsetzbarkeit. So kommen verschiedene Sportwissenschaftler*innen (vgl. bspw. Breitbach 2011: 15; Joch 2012: 70) zu dem Schluss, die bisherigen Verfahren konzentrierten sich zumeist auf wenige Talentmerkmale, bei denen zudem die Wechselwirkungen mit anderen Merkmalen wie auch die jeweilige Wertigkeit unklar seien. Durch die Tendenz zu quantifizierenden Testbatterien wird zudem der ‚Blackbox‘-Charakter der Diagnoseverfahren verstärkt. Des Weiteren sei fraglich, ob bei der Betrachtung unterschiedlicher Merkmale nicht bloß ein „additives Zusammentragen“ (Moll 2016: 45; vgl. auch Joch 2012: 62) verschiedener Teilaspekte des vermeintlich gemeinsamen Gegenstandes Talent stattfinde, diesen jedoch differente Talentkonstruktionen zugrunde liegen, die sich durch die unterschiedlichen Theorien, Methodologien und Methoden zeigen (vgl. Schürmann/Hossner 2012: 3). Interdisziplinarität setze voraus, „sich aktiv über die Gemeinsamkeit des Gegenstandes zu verständigen, um kontrollieren zu können, ob eine Sache verschieden betrachtet wird oder ob zwei verschiedene Sachen betrachtet werden“ (ebd.). Gleiches gelte auch für die Zusammenarbeit von (Sport-)Wissenschaft und (Sport-)Praxis. Zwar sei eine Verzahnung von Sportwissenschaft und -praxis zu
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wünschen, sie sei jedoch in vielen Fällen „weiterhin utopisch“ (Moll 2016: 266), da oftmals an der Praxis vorbei geforscht würde: „Das Dilemma der bundesdeutschen Talentforschung besteht nicht in einem Mangel an Analysen und theoriegeleiteten Berechnungsaufwänden, sondern darin, dass die behaupteten Fakten mit der sportbezogenen Realität – da nämlich, wo der Sport stattfindet und bezogen auf die Menschen, die ihn betreiben – nicht konfrontiert und an ihr evaluiert werden, und dass sich die implizit und explizit empfohlenen und wissenschaftsgeleiteten Strategien einer Überprüfung durch die Realität weitgehend entziehen.“ (Joch 2011: 18)
Während Wissenschaftler*innen eine Außenperspektive einnähmen, beruhe die Wissensproduktion von Trainer*innen auf praktischen Erfahrungen „from the inside“, so die kanadischen Sportwissenschaftler Farrow, Baker und Macmahon (2013: 2). Dies bestätigen auch Praktiker*innen. Diese kritisieren die anhaltenden Definitionsversuche von Talent in der Sportwissenschaft: „My first reaction reading this chapter was one of frustration: another academic piece that spends numerous pages discussing the definition of talent“ (Keogh 2013: 41); wie auch teils die Empfehlungen für die Praxis, die häufig an den Wissensbeständen der Trainer*innen vorbei ‚designed’ wären: So kommentiert ein für die vorliegende Untersuchung interviewter Bundestrainer einen aus der Bewegungswissenschaft stammenden Test folgendermaßen: „Bei dem Test sollten wir die Athleten Tappings auf einem kleinen Kasten ausführen lassen, um daran die Schnelligkeit der Füße zu überprüfen. Das hat meiner Ansicht nach mit der realen Laufsituation und den dann benötigten Fertigkeiten rein gar nichts zu tun.“ (Interviewauszug Trainer 1 Langsprint)
Auch Berechnungsaufwände, wie sie bei einigen Verfahren vorgeschlagen werden, stoßen teils auf Kritik: „Da helfen auch weitere mathematische Verfahren, […] nur begrenzt. Letztlich werden nur noch Zahlen ‚vergewaltigt‘ um Zusammenhänge aufzuspüren, die mehr den Vorstellungen des Untersuchers als der Realität entsprechen“ (Rudolph 2011: 45).
Derartige Kritiken von Praktiker*innen an ‚der Wissenschaft’ laufen darauf hinaus, letztere verfehle die realen Gegebenheiten und die „Logik der Praxis“ (Bourdieu 1976: 248). Die genaue Untersuchung dieser Innenperspektive auf Talent(-sichtungen), der konkreten Sichtungspraktiken, der sich darin entfaltenden Talentkonstruktionen, den ihnen zugrundeliegenden (Be)Wertungslogiken wie
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auch der damit einhergehenden Subjektivierungsprozesse stellen bisher Forschungsdesiderate dar, an denen ich mit der vorliegenden Untersuchung aus einer praxistheoretischen Perspektive ansetze. Mit einer praxistheoretischen Analyseoptik, auf die ich im folgenden Kapitel eingehe, untersuche ich Sichtungspraktiken im Leistungssport, basierend auf der Annahme, dass jede Empirie ausschließlich mittels eines theoretisch fundierten und justierten Blicks erkenntnisreich sei (vgl. Alkemeyer/Brümmer/Pille 2010: 233). Durch einen praxistheoretischen Zugang wird eine Annäherung an den Vollzugscharakter des Sozialen ermöglicht – in der vorliegenden Untersuchung die Sichtungspraktiken im Leistungssport innerhalb derer Talentdiagnosen stattfinden, bei denen Athlet*innen bewertet und zu (Nicht-)Talenten subjektiviert werden. Der Gewinn einer solchen Analyse besteht darin, Aufschluss über die (Be)Wertungs- und Subjektivierungsprozesse in Sichtungspraktiken zu erlangen, die bisher „gleichsam in einer Blackbox verborgen geblieben sind“ (Grave 2015: 142). Damit kann auch untersucht werden, welche (wissenschaftlichen) Wissensbestände in die jeweiligen Denk- und Sehstile20 in Talentsichtungen einfließen, so dass „ein Gefühl für die Färbungen und Stimmungen der Begriffe, Beobachtungen und Praktiken“ (Werner/Zittel 2011: 25) entwickelt werden kann.
20 Auf die Begriffe gehe ich in Abschnitt 2.2 ausführlich ein.
2. Analyseoptik: Praktiken des Sichtens
Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind Talentsichtungen im Sport als soziale Praktiken des (Be)Wertens von Talent mit Hilfe spezifischer Diagnoseverfahren. Aus einer praxistheoretischen Perspektive, die die Grundlage meiner Analyseoptik bildet, untersuche ich, wie Talent in den jeweiligen Sichtungspraktiken konstruiert und performativ zum Vorschein gebracht wird (2.1). Davon ausgehend, dass sich die (Be)Wertungen auf die Subjektivierungsprozesse der Bundeskaderanwärter*innen zu (Nicht-)Talenten auswirken, sie bei diesen Prozessen jedoch nicht passiv sind, sondern aktiv an ihnen mitwirken, wird die Analyseoptik um Subjektivierungsansätze ergänzt. Damit rücken die Selbst-Bildungs- und Subjektivierungsprozesse innerhalb der Sichtungspraktiken in den Fokus der Untersuchung (2.2). Im Folgenden gehe ich auf die skizzierten Bausteine der Analyseoptik ein und beziehe sie bereits in den Ausführungen auf meinen Untersuchungsgegenstand, da sie sukzessive im Forschungsprozess im Sinne einer „theoretischen Empirie“ (Kalthoff/Hirschauer/Lindemann 2008) ergänzt wurden. Im Anschluss wird das Forschungsinteresse basierend auf den thematisierten „theoretischen Sehhilfen“ (Pille 2013: 85) in konkrete Forschungsfragen überführt (2.3). Abschließend gehe ich auf mein methodisches Vorgehen ein, welches sich zum einen aus den Prämissen praxeologischer Ansätze ableitet und zum anderen im Verlauf der Forschung – ähnlich wie die theoretischen Bausteine – aufgrund der gemachten Erfahrungen im Feld sukzessive angepasst wurde (vgl. Hirschauer 2002: 37). Demnach begreife ich Theorie und Empirie nicht als „zwei weitgehend separierte soziologische Wissenspraktiken“ (Kalthoff 2008: 9), sondern als ein „Ineinanderverwobensein“ (ebd.: 10) dieser. D.h., meine Beobachtungen waren geleitet von praxeologischen und subjekvtivierungstheoretischen Grundannahmen, die wiederum durch empirische Beobachtungen angepasst wurden.
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2.1 PRAXISTHEORETISCHE BAUSTEINE Grundlage meiner Analyseoptik bilden praxistheoretische Annahmen, die sich im Zuge des ‚practice turn‘ herausgebildet haben (vgl. bspw. Reckwitz 2003; Schatzki 2002; Schmidt 2012). Die hierunter aufgezählten Theorien wie etwa Pierre Boudieus Praxeologie, Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, Norbert Elias‘ Figurationsansatz oder Anthony Giddens‘ Strukturierungstheorie bilden dabei keineswegs einen einheitlichen Ansatz, sondern lassen sich eher als ein Bündel von ‚familienähnlichen‘ Theorien begreifen1 (vgl. Reckwitz 2003: 284). Je nach Perspektivierung innerhalb der Praxistheorien steht die Routinisierung von Praktiken im Vordergrund, durch die eine „relative Strukturiertheit […] der Sozialwelt“ (ebd.: 294) erklärt wird (vgl. bspw. Bourdieu 1987) oder die relative Offenheit im Vollzug von Praktiken, welche durch die genauen Analysen der gegenseitigen Bezugnahmen der Teilnehmenden in Praktiken und damit ihre Abstimmungsprozesse und Bewältigungsanstrengungen in den Fokus rückt (vgl. ethnomethodologische Ansätze und soziologische Interaktionstheorien wie bspw. Garfinkel 1967). Um beide Aspekte – die relative Geschlossenheit der Wiederholung von Praktiken wie auch die relative Offenheit des Vollzugs und damit die Bewältigungsanstrengungen der Teilnehmenden – in den Blick zu bekommen, schlagen Alkemeyer, Buschmann und Michaeler (2015: 27ff.) einen systematischen Perspektivwechsel vor, in dem angelehnt an Kameraperspektiven zum einen aus einer „total view“ (Alkemeyer 2017: 145) Perspektive Praktiken als routinierte, beständige und gleichförmige Einheiten betrachtet werden. Die Perspektive aus der Totalen begreift die einzelnen Aktionen als ineinandergreifend und auf ein Gesamtgeschehen ausgerichtet (vgl. Etzemüller 2015). Zum anderen soll durch „point-of-view-Shots“ (Alkemeyer 2017: 145) die Einnahme bzw. (Re)Konstruktion der Teilnehmendenperspektive ermöglichen und damit die Kontingenz von Praxis und die damit einhergehenden Koordinationsleistungen der Teilnehmenden in den Blick geraten. Beiden Perspektiven gemeinsam ist die Abwendung von Annahmen, die das Soziale mit Hilfe von übergeordneten Strukturen oder Systemen erläutern als auch von Ansätzen, die das Soziale aus dem Zusammenwirken einzelner Handlungen erklären (vgl. Schmidt 2012: 11). Aus einer praxistheoretischen Perspektive lässt sich die soziale Welt als bestehend aus „sehr konkret benennbaren, einzelnen, dabei miteinander verflochtenen Praktiken“ (Reckwitz 2003: 289; Herv. i. O.; vgl. auch Schatzki 1996) verstehen,
1
Für eine systematische Übersicht verschiedener praxistheoretischer Ansätze s. Nicolini 2012.
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die je nach Verflechtungsgrad zu sogenannten „nexus of practices“ (Schatzki 2002: XVI) – Praktikenbündel zusammengefasst werden können. In der vorliegenden Arbeit begreife ich Talentsichtungen im Sport als soziale Praktiken. Aus einer praxistheoretischen Perspektive untersuche ich, wie Talent in den jeweiligen Sichtungspraktiken im Vollzug konstruiert, sichtbar gemacht und (be)wertet wird. Die Feststellung und Bearbeitung von Talent fasse ich in Anlehnung an das Konzept der Wissensherstellung von Knorr-Cetina (2002) nicht als einen deskriptiven, sondern als einen konstruktiven Prozess auf. Bezugnehmend auf den Philosophen Hacking wird mit dem Konstruktionsbegriff die Annahme ausgedrückt, dass die jeweilige Ausprägung des konstruierten ‚Gegenstandes‘ – im vorliegenden Fall sportliches Talent – Ergebnis eines sozialen Prozesses ist, der „durchaus hätte anders ablaufen“ (Hacking 2002: 20) und zu anderen Ausprägungen hätte führen können. Die Konstruktion sehe ich damit zwar als kontingent, jedoch nicht als beliebig an, da sie sich in institutionalisierten, historisch gewordenen Sichtungspraktiken vollzieht, die die Handlungsspielräume der Teilnehmenden präfigurieren, jedoch nicht determinieren. In meiner Analyse interessiere ich mich für die Ausformung dieser Spielräume durch die an den Sichtungspraktiken Beteiligten und die sich dabei vollziehenden Konstruktionsprozesse von Talent. Damit liegt der Fokus meiner Untersuchung auf der konkreten Sichtungspraxis, also dem kontingenten Vollzugsgeschehen und den gegenseitigen Adressierungen und Bezugnahmen der Teilnehmenden, über die Zug um Zug Talent konstruiert, sicht- und bewertbar gemacht und den jeweiligen Bundeskaderanwärter*innen zugeschrieben wird. Trotz der relativen Offenheit des Vollzuggeschehens, fasse ich in Anlehnung an den Philosophen Schatzki die Handlungsspielräume der Teilnehmenden in der (Sichtungs-)Praxis als gerahmt durch eine sogenannte teleoaffektive Struktur auf: „By a ‘teleoaffective structure‘, moreover, I primarily mean a set of teleological hierarchies (end-project-activity combinations) that are enjoined or acceptable in a given practice. To say that a hierarchy is enjoined is to say that, when carrying on a practice, participants […] should realize them, i.e., perform particular actions and projects2 for the sake of particular ends.” (Schatzki 2012: 3)
2
Unter actions versteht Schatzki (2002: 73) Aktivitäten (doings and sayings) von menschlichen Teilnehmenden. Um die Aktivtäten hierarchisch zu ordnen, führt er weitere Begriffe wie bspw. projects ein. Hierunter fallen Aktivitäten höherer Ordnung, die Verbindungen von sogenannten tasks bezeichnen, die sich wiederum aus verschiedenen doings and sayings zusammensetzen.
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D.h., durch die teleoaffektive Struktur werden die Ziele der Praxis definiert und damit die Aktivitäten der an der Praxis Beteiligten koordiniert, was die Gerichtetheit von Praktiken erklärt. Dabei wird die teleoaffektive Struktur nicht als Eigenschaft der Teilnehmenden, sondern der Praktiken angesehen (vgl. Schatzki 2002: 80). Des Weiteren wird jede Praxis laut Schatzki (ebd.: 38ff.) durch soziomaterielle Arrangements präfiguriert, die zugleich erst in den Praktiken hervorgebracht werden. Das Verhältnis zwischen Praktiken und sozio-materiellen Arrangements beschreibt Schatzki (2012: 4) folgendermaßen: „To say that practices and arrangements bundle is to say (1) that practices effect, use, give meaning to, and are inseparable from arrangements while (2) arrangements channel, prefigure, facilitate, and are essential to practices.” D.h., Praktiken und soziomaterielle Arrangements hängen untrennbar miteinander zusammen, da bspw. die räumliche Anordnung der (nicht-)menschlichen Teilnehmenden Aktivitäten ermöglicht, begünstigt oder auch verhindert.3 Diese Arrangements bzw. Anordnungen aus menschlichen und nicht-menschlichen Teilnehmenden4 können laut Schatzki (2002: 38ff.) flüchtig oder stabil sein. U.a. präfigurieren sie die hierarchische Positionalität der menschlichen Teilnehmenden, da bspw. institutionell auf Dauer gestellte Praktiken, wie etwa Talentsichtungen, bestimmte, mit unterschiedlich viel Macht ausgestattete Positionen vorsehen – wie bspw. Bundeskaderanwärter*innen und (be)wertende Trainer*innen. Aus praxistheoretischer Perspektive stehen bei menschlichen Teilnehmenden vor allem die Körper im Fokus, die nicht als ausführende Instrumente eines ‚dahinter liegenden Steuerungszentrums‘ aufgefasst werden, sondern als praktikenadäquat geformte ‚skilled bodies‘ mit einem praktikenspezifischen ‚know how‘, die sich in Praktiken mit den anderen (nicht-)menschlichen Teilnehmenden ver-
3
Am Beispiel verschiedener sozio-materieller Arrangements im Klassenzimmer zeigen bspw. Pille und Alkemeyer (2016) eindrücklich, inwiefern die Anordnungen die Aktivitäten der menschlichen Teilnehmenden zwar präfigurieren, jedoch nicht determinieren, da die gegebenen Spielräume sehr unterschiedlich genutzt werden.
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Innerhalb der verschiedenen praxistheoretischen Strömungen herrscht Uneinigkeit über die Handlungsträgerschaft der menschlichen und nicht-menschlichen Teilnehmenden. Während Vertreter*innen der Actor-Network Theorie (bspw. Latour 2007) ihre Symmetrie postulieren, gehen post-wittgensteinianisch konnotierte Versionen der Praxistheorie wie sie bspw. Schatzki (2002: 105) vertritt, von einer Asymmetrie aus, da Menschen durch ihr Reflexionsvermögen einen größeren Einfluss auf den Fortgang einer Praktik nähmen als nicht-menschliche Teilnehmende (vgl. bspw. Nicolini 2012: 168ff.; Reckwitz 2003: 298).
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wickeln und bspw. durch Äußerungen und Gesten5 (vgl. Streeck 2009) intelligibel werden (vgl. Reckwitz 2003: 290). In Anlehnung an Goffman (1979) werden Körper als „Displays“ konstituiert, auf denen praxisrelevante Unterschiede sichtbar und hinsichtlich ihrer Anschlussfähigkeit gedeutet werden – unabhängig davon, ob diese ‚Zeichen‘ als Adressierung gemeint sind (vgl. Hirschauer 2008: 89). Damit werden an den Körpern das benötigte Wissen und die (Nicht-) Passung erkennbar. So (be)werten in den Sichtungspraktiken die sichtenden Trainer*innen u.a. die Körper der Bundeskaderanwärter*innen hinsichtlich ihrer leistungssportlichen Eignung. Dem Konzept der ‚skilled bodies‘ liegt die Annahme zugrunde, dass Körper auf spezifische Weise disponiert sein müssen, um sich adäquat in Praktiken einzufinden und als Mitspielende anerkannt zu werden. Beim Dispositionsbegriff lehne ich mich an Bourdieus (2001: 177) Lesart an: Laut Bourdieu vollziehen Körper basierend auf Erfahrungen „praktische Erkenntnisakte“ […], die auf dem Ermitteln und Wiedererkennen bedingter und üblicher Reize beruhen, auf die zu reagieren sie disponiert sind.“ Demnach setzen Praxistheorien bestimmte Dispositionen bei menschlichen Teilnehmenden von Praktiken voraus, jedoch werden sie erst in den Praktiken ausgeformt und damit erkenn- und zurechenbar. Somit gehören sie nicht den Teilnehmenden allein, „sondern sind zugleich Eigenschaften der Praktik“ (Alkemeyer/Budde/ Freist 2013: 52). Wie oben bereits geschrieben, interessieren sich Praxistheorien jedoch nicht nur für reibungslose Vollzüge, sondern auch für das Irritationspotenzial im Vollzug von Praxis, welches bspw. durch die Nichtpassung von Dispositionen und Praktikenanforderungen entsteht. So können auch Dispositionen in der Praxis in Erscheinung treten, die Widerständigkeit auslösen und damit den Verlauf der Praxis ‚stören‘, wodurch sie bei den Teilnehmenden Reflexionsprozesse anstoßen, und ihnen Bewältigungsstrategien abverlangen, um die Praxis weiter am Laufen zu halten bzw. zu einer Veränderung der routinierten Praktiken führen können. Ähnliches Irritationspotenzial schreiben Alkemeyer, Buschmann und Michaeler (2015: 38) nicht-menschlichen Teilnehmenden6 von Praktiken wie bspw. Dingen und Artefakten zu, die aus praxistheoretischer Perspektive ihre Bedeu5
Wie der Linguist und Kulturanthropologe Streeck (2009) passend an praxistheoretische Annahmen betont, können Gesten nicht losgelöst vom Setting, in dem sie getätigt werden, verstanden werden.
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Schatzki spezifiziert die Auflistung nicht-menschlicher Teilnehmender und fasst hierunter: Artefakte (Produkte menschlichen Handelns); Dinge (leblose Entitäten, die nicht das Produkt menschlichen Handelns sind) und lebende Organismen, die sich von Menschen unterscheiden (vgl. Schatzki 2002: 22).
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tung immer erst im Vollzug der Praxis erhalten.7 Zwar würden sie ein historisch akkumuliertes Wissen objektivieren, wodurch sie bestimmte Handlungsweisen und Funktionen aufgrund eines entsprechenden ‚know hows‘ der menschlichen Teilnehmenden präfigurieren, jedoch könne ihre „Affordanz“ 8 (Gibson 1973) auch Assoziationen und Affekte aufrufen, die ‚unpassend‘ zur Praktik erscheinen und den routinierten Vollzug dieser dadurch stören. Im empirischen Teil werden die beobachteten Sichtungspraktiken nach den verschiedenen wiederkehrenden sozio-materiellen Arrangements sortiert. Innerhalb dieser interessiere ich mich für den Konstruktionsprozess von Talent, den ich als kontingentes Vollzugsgeschehen begreife, in dem bspw. Irritationen, Bewältigungsanstrengungen und Abstimmungsprozesse auftreten (können). Durch die Fokussierung auf die Sichtungspraxis stehen die konkreten gegenseitigen Bezugnahmen der Teilnehmenden im Vordergrund. Laut dem Philosophen Rouse (2007: 7) lässt sich über die Beobachtung der Bezugnahmen die Normativität der Praxis analysieren, indem untersucht wird, welche Anschlusshandlungen als angemessen angesehen bzw. welche korrigiert, sanktioniert und damit als unpassend bewertet werden.9
2.2 SUBJEKTIVIERUNGSTHEORETISCHE BAUSTEINE Da aus der hier gewählten Perspektive (Sichtungs-)Praktiken nicht als beständige und gleichförmige Einheiten begriffen werden, die ihre Teilnehmenden ‚rekru-
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So verdeutlicht bspw. Schürmann (2014: 219) am Beispiel der Hürde, dass diese je nach Praktik Hürdenlauf oder Sprint unterschiedliche Bedeutung erlangt. Während sie beim Sprint ein Hindernis darstellt, welches überwunden werden muss, um das eigentliche Ziel: zu sprinten zu erreichen, ist sie beim Hürdenlauf ein wesentliches Charakteristikum der Praktik.
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Laut Gibson (1973: 137) soll „unter den Angeboten (affordances) der Umwelt das verstanden werden, was sie dem Lebewesen anbietet (offers), was sie zur Verfügung stellt (provides) oder gewährt (furnishes)“. So bieten bspw. Objekte eine bestimmte Handlung mit ihnen an: wie bspw. das Schneiden mit einem Messer. Gibson betont dabei, dass Angebote Eigenschaften in Bezug auf eine*n Beobachter*in sind und damit weder etwas rein Objektives noch etwas rein Subjektives sind, da sie zwar einen direkten, aber auch immer sozial vermittelten Umgang hervorrufen (vgl. ebd.: 139).
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Laut Rouse (2007: 7) ist die Normativität „expressed not by a determinate norm to which they are accountable but instead in the mutual accountability of their constitutive performances”.
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tieren‘, sondern als offenes und prinzipiell ‚störanfälliges‘ Vollzugsgeschehen, wird die Analyseoptik um Bausteine einer praxeologisch ausgerichteten Subjektivierungstheorie ergänzt. Damit wird zum einen die aktive und absichtsvolle Mitgestaltung der menschlichen Teilnehmenden der Sichtungspraxis an ihrer eigenen Formierung zu kompetenten10 Mitspieler*innen11 in den Blick genommen (vgl. Brümmer 2015: 72; Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 39). Zum anderen sollen damit die verschiedenen Subjektivierungsweisen durch Prüf- und Testverfahren in der Untersuchung Berücksichtigung finden. Aus einer subjektivierungstheoretischen Perspektive gehe ich davon aus, dass die Teilnehmenden sich im Vollzug der Praxis als mitspielfähig erweisen müssen, in dem sie die verschiedenen Positionen innerhalb von Praktiken auf praktikenspezifische Weise ausfüllen und sich damit füreinander intelligibel machen. Hierbei weist die Ausformung von Mitspielfähigkeit nicht nur eine funktionale, sondern auch eine politisch-normative Dimension auf, da die menschlichen Teilnehmenden ein Gespür für soziale Abstände und Grenzen in dem jeweiligen Gefüge relationaler Positionen zeigen müssen (vgl. Alkemeyer/Brümmer/Pille 2010: 236). So sind bspw. in den institutionell auf Dauer gestellten Sichtungspraktiken von Beginn an unterschiedlich machtvolle Positionen der Teilnehmenden – Bundeskaderanwärter*innen und (be)wertende Trainer*innen – vorgesehen, die auch entsprechend auszufüllen sind. Was eine angemessene Vollzugsform ist, zeigen sich die Beteiligten gegenseitig. Durch (Re)Adressierungen12 in Form von Kommentaren, Kritiken, Blicken und Gesten wird ein geteiltes, praktisches Verständnis hergestellt, welche Vollzugsformen in den jeweiligen Praktiken und Positionen adäquat sind (vgl. Reh/Ricken 2012: 43). So lernen die Teilnehmenden nach und nach, welche Anschlusshandlungen von ihnen erwartet werden und etablieren gleichzeitig Machtrelationen, aus denen sich unterschiedliche Spielräume innerhalb der verschiedenen Positionen ergeben (vgl. Alkemeyer/Buschmann/ 10 Alkemeyer und Buschmann (2017: 21) setzen den Begriff der Kompetenz in Zusammenhang zu Anerkennungs- und Befähigungsakten. Kompetenz ist damit eine stets durch anderes und andere (menschliche und nicht-menschliche) Teilnehmende vermittelte und somit konstitutiv bedingte ‚Handlungsmacht‘. 11 In Anlehnung an Brümmer (2015: 11 Fn. 5) ziehe ich den Begriff der Mitspielfähigkeit dem Wissensbegriff vor, da neben einem praktischen, inkorporierten Wissen auch Aspekte wie bspw. Engagement, Disziplin etc. als wichtige Ressourcen angesehen werden, um an einer Praktik teilnehmen zu können. 12 Reh und Ricken (2012: 43ff.) folgend, werden Adressierungen nicht nur sprachlich, sondern in verschiedenen Modi wie bspw. körperlichen Aktionen erzeugt. Die Analyse von (Re)Adressierungen ermögliche es aufzuschlüsseln, wie sich die Agierenden zueinander ins Verhältnis setzen.
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Michaeler 2015: 34). Mitspielfähigkeit bedarf demnach der Anerkennung durch andere Teilnehmende. Über (Re)Adressierungen subjektivieren sich die Teilnehmenden damit gegenseitig und erzeugen gleichzeitig Differenzen und Relationen zwischen den unterschiedlichen Subjektpositionen. Bezugnehmend auf Foucault (1994b: 246f.) weist der Begriff des Subjekts zwei Bedeutungen auf: „vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein“. Eingebettet in Machtverhältnisse konstituiert sich das Subjekt, welches von anderen geführt wird und sich zugleich selbst führt mittels Technologien des Selbst (vgl. Foucault 2000). Hierunter fasst Foucault (1984: 35) Techniken, „die es den Individuen ermöglichen, mit eigenen Mitteln, bestimmte Operationen mit ihren eigenen Körpern, mit ihren eigenen Seelen, mit ihrer eigenen Lebensführung zu vollziehen, und zwar so, dass sie sich selber transformieren“. 13 Daran anschließend fasse ich in Bezugnahme auf Alkemeyer, Budde und Freist (2013: 21) Subjektivierung immer auch als lernende Selbst-Bildung auf, die sich nicht nur in speziellen Techniken des Selbst, sondern in jeder Praxis vollzieht. Der Terminus betont den Eigenanteil der Individuen an der Subjektwerdung, jedoch ohne diese als souverän-autonome Subjekte aufzufassen, die als a priori Instanz als Ausgangspunkt sozialen Handelns fungieren. Das als analytisches Konzept verstandene Begriffspaar Subjektivierung – Selbst-Bildung ermöglicht es, in Ergänzung zu den vorgestellten praxistheoretischen Prämissen Talentsichtung als soziale Praxis zu beobachten, die sich in sozio-materiellen Arrangements vollzieht, und innerhalb derer die Bundeskaderanwärter*innen zu (Nicht-)Talenten subjektiviert werden bzw. sich mit Hilfe verschiedener Techniken selbst bilden. Damit wird die Eigentätigkeit und reflexive Involviertheit der Teilnehmenden an ihrer eigenen Qualifizierung zu kompetenten Mitspielenden betont. Unter Techniken verstehe ich im Folgenden eingeübte – den Teilnehmenden nicht zwingend bewusste – Verfahren bzw. eingeschliffene Arten und Weisen Dinge zu tun – im untersuchten Fall, um Talent zu sichten bzw. sich als Talent sichtbar zu machen und sich damit in den Sichtungspraktiken als mitspielfähig zu erweisen. Auf Trainer*innenseite stehen für mich die angewandten Techniken des Sehens im Fokus, mit Hilfe derer sie Talente sicht- und bewertbar machen und sich damit als kompetente Sichtungstrainer*innen präsentieren. Aus der gewählten 13 Die hierfür angewandten Techniken entstammen nicht dem Individuum selbst, sondern der jeweiligen Kultur bzw. sozialen Gruppe in der es sich bewegt. Sie können sich im Laufe der Zeit auch wandeln. So führt Foucault (1993) verschiedene Beispiele der Selbsterforschung auf wie die für die antike Selbstsorge charakteristische Meditation, Praktiken des Briefeschreibens, Beichtens etc. über die Selbstprüfungen erfolgen, die dem Subjekt eine gewisse Souveränität über sich selbst ermöglichen sollen.
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Analyseoptik sind die an den Sichtungen beteiligten Trainer*innen zwar aufgrund ihrer Position als Sichtungstrainer*innen mit mehr Macht ausgestattet, müssen ihre Mitspielfähigkeit jedoch ebenfalls im Sichtungsprozess performativ beglaubigen (lassen) und sich als spezifische Beobachter*innen- bzw. „Sehsubjekte“ (Prinz/Reckwitz 2012: 193) bilden. Bei meinen Analysen der Techniken des Sehens fasse ich Sehen nicht als einen neutralen, optisch-physiologischen Prozess auf, der ein voraussetzungsloses Beobachten gestattet, sondern als einen soziokulturell geprägten Akt des Wahrnehmens, der „sich im Spannungsfeld verschiedener historischer und gesellschaftlicher Faktoren herausbildet“ (Prinz 2014: 8; vgl. auch Soeffner/Raab 2004; Schindler/Liegl 2013), und die (Be)Wertung von Talent erst ermöglicht. So haben mir meine ersten Feldaufenthalte deutlich gezeigt, dass ich trotz meiner Anwesenheit in den Sichtungspraktiken mich zunächst wie blind in diesen bewegte, während die Trainer*innen Talentmerkmale für sich sicht- und bewertbar machten. Gleichzeitig zeichnete sich für mich schnell ab, dass die „Vis-ability“ (Schindler 2009) – das ‚Sehvermögen‘ – der Trainer*innen nicht unabhängig von den Positionierungen zu den Bundeskaderanwärter*innen bestand, sondern sich erst in spezifischen sozio-materiellen Arrangements entfaltete. Basierend auf diesen ersten Beobachtungen wurden die folgenden theoretischen Bausteine, die sich mit der Fertigkeit des Sehens befassen, sukzessive ergänzt, bis die jeweiligen blinden Flecken der Ansätze adäquat ausgeleuchtet waren: Der Mediziner Fleck (1983), einer der Wegbereiter der Wissenschaftssoziologie, hat bereits in den 1930er Jahren die Unterscheidung zwischen einem anfänglichen, ungeordneten ‚Schauen‘ und einem erkennenden ‚Sehen‘ eingeführt.14 Die Fertigkeit des Sehens bildet sich laut Fleck im Horizont dieser Unterscheidung erst aus, wenn man Wissen darüber besitzt, was beim Schauen wesentlich und was unwesentlich ist. Blicke können dann als Handlungen bezeichnet werden, bei denen „bloßes Schauen in mögliches Sehen“ (Mohn 2007: 183) überführt wird. Beim Akt des Sehens werden die ungeordneten Einzelheiten zu einer Gesamtheit – gestaltpsychologisch: zu einer ‚Gestalt‘ 15 – zusammengefasst. Hierzu zählt Fleck zahlreiche Beispiele auf: vom Erkennen von Buchstaben und Wörtern aus einzelnen Strichfolgen, über den Arzt, der einen Kranken auf spezifische Weise beobachtet, um seine Krankheit zu ‚sehen‘, bis zum Sozio14 Zur erfahrungsbedingten Unterscheidung von ‚schauen‘ und ‚sehen‘ s. auch Heimerl 2013: 120ff. 15 Fleck konzentriert sich in seinen Ausführungen zwar auf visuelle Gestalten, führt jedoch an, dass es unterschiedliche Gestalten gibt: So nennt er Melodien als Beispiel für auditive Gestalten oder Geruchsgestalten wie z.B. den Geruch von Gewürzläden (vgl. Fleck 1983: 149f.).
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logen, der „den Erscheinungen des sozialen Lebens nachspürt“ (Fleck 1983: 149). Entscheidend ist hierbei das Wissen darüber, welche Einzelheiten relevant sind. Liegt das Wissen hierüber einmal vor, würden wir die Einzelheiten unwillkürlich zusammenfügen bzw. sogar vervollständigen, da sich das Sehen der Gestalt automatisch aufdrängt: „Die Kenntnis einer Gestalt schafft die Disposition, sie wahrzunehmen“ (ebd.: 152). Ohne das entsprechende Wissen hingegen „schauen wir, aber wir sehen nicht“ (Fleck 1983: 148). Das Wissen entsteht laut Fleck (1980: 53ff.; 121) in einem Kollektiv bzw. einer Praktiker*innengemeinschaft16 (vgl. Lave/Wenger 1997: 89ff.), indem diese(s) einen gemeinsamen Denk- und Wahrnehmungsstil entwickelt. Basierend auf praktischen Erfahrungen im Denkkollektiv wird demnach Sehen zur gerichteten Tätigkeit, die dem jeweiligen Denk- und Wahrnehmungszwang des Kollektivs unterliegt. „Nur derjenige, der sich den Denkstil eines Kollektivs nicht nur theoretisch-kognitiv, sondern auch in praktischer Erfahrenheit zu eigen macht, ist in der Lage, im Erkenntnisvorgang zu ‚sehen‘“ (Schnelle 1982: 21). Dabei geht ein im Sinne des Denkkollektivs zunehmend sich einstellendes Sehvermögen stets mit einem Verlust einher: Durch die Kontingenzbewältigung in Form von filtern und selektieren der (ir)relevanten Details rückt gleichzeitig dem ‚Denkstil‘ Widersprechendes in den toten Winkel der Wahrnehmung (vgl. Fleck 1983: 153f.). Damit impliziert jeder Denkstil bestimmte Normativitäten wie bspw. Maßstäbe der (Be)Wertung, die den Mitgliedern des Denkkollektivs nicht reflexiv zugänglich sind (vgl. Werner/Zittel 2011: 19), da mit dem Erlernen eines spezifischen Sehens auch ein Teil des dafür notwendigen Wissens vergessen wird (vgl. Fleck 1983: 154). Mit Flecks Ansatz lassen sich Trainer*innen als Denkkollektiv bzw. Praktiker*innengemeinschaft begreifen, die basierend auf einem gemeinsamen Denkstil einen bestimmten Sehstil ausbilden, der die (Be)Wertung von Talent beeinflusst, jedoch nicht zwingend reflexiv erschließbar ist. In Anlehnung an Rouse (2007) werden implizite Normativitäten – wie etwa die Techniken des Sehens und Maßstäbe des (Be)Wertens – jedoch in der Praxis performiert und damit beobachtbar. Aus praxeologischer Perspektive ist zudem von Interesse, welche Bedeutung den jeweiligen sozio-materiellen Arrangements für die Techniken des Sehens zukommt. Hierfür bieten Foucaults wissenschaftshistorische Studie zur ‚Geburt der Klinik‘, wie auch seine machttheoretischen Dispositivanalysen wichtige 16 Mit dem Begriff der „Community of Practice“ bezeichnen Lave und Wenger (1997) Praktiker*innengemeinschaften, die nicht durch klar strukturierte Lehr-Lern-Kontexte Wissen erwerben, sondern sich in gemeinsamer Praxis ihr jeweiliges Wissen gegenseitig zur Verfügung stellen und damit informell Wissen ausbilden und vermitteln.
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Hinweise: Am Beispiel des ‚ärztlichen Blickes‘ arbeitet Foucault (1973) heraus, dass die Sehfertigkeit in räumliche Anordnungen und spezifische Diskurse eingelassen und als „historisch wandelbare wissensgenerierende Praktik“ (Prinz 2014: 139) zu verstehen ist. Im Laufe des 18. Jahrhunderts führten Ärzte eine räumliche Aufteilung der Kranken nach Krankheiten ein (vgl. Foucault 1973: 58), die als „räumliche Strukturierung der sichtbaren Dinge“ (Prinz 2014: 68) diente. Es kam zu einer Verschiebung der Grenze zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem: „was grundsätzlich unsichtbar war, öffnet sich plötzlich der Klarheit des Blicks“ (Foucault 1973: 206). Körper wurden zu Objekten, die eingelassen in eine räumliche Anordnung anhand eines Rasters beobachtet und klassifiziert wurden. Die Bedeutsamkeit der sozio-materiellen Arrangements rückt in Foucaults Schriften zur machttheoretischen Dispositivanalyse noch weiter in den Fokus. Das Dispositiv17 begreift Foucault als eine Verschränkung von diskursivem Wissen und institutionalisierten Praktiken (vgl. Truschkat 2010: 75). Neben den Diskursen werden somit auch nicht-diskursive Materialitäten, Körper und Architekturen stärker thematisiert, die eng an Diskurse gekoppelt sind (vgl. Reckwitz 2010: 29) und „die konkreten Praktiken und Blicke der Subjekte“ (Prinz 2014: 159) ermöglichen und lenken. Am Beispiel des ‚Panopticons‘ – einem Gefängnisentwurf von Jeremy Bentham – zeigt Foucault, dass durch bestimmte Anordnungen von Körpern und Artefakten in spezifischen Architekturen ein permanenter Sichtbarkeitszustand geschaffen wird, der es ermöglicht „ohne Unterlaß zu sehen und zugleich zu erkennen“ (Foucault 1994a: 257). Auf den Sport übertragen, spricht Alkemeyer (2011: 58f.) von „Beobachtungsdispositiven“, die „die Körper der Übenden so [exponieren], dass sie für den Lehrenden unter einem bestimmten Blickwinkel sichtbar werden und er ihnen die für seine Hinweise und Korrekturen nötigen Informationen entnehmen kann“. Damit bedarf es zur Herstellung von Sichtbarkeit sozio-materieller Arrangements. Wie Prinz (2014: 139) herausarbeitet, konzentriert sich Foucault in seinen machtanalytischen Schriften vor allem auf das Angesehenwerden. Der aktive Sehprozess rücke jedoch in den Hintergrund. Diese ‚Lücke‘ schließen Erkenntnisse aus den ‚Studies of Work‘.18 So hat der amerikanische Interaktionsforscher 17 Mit dem Begriff des Dispositivs bezeichnet Foucault selbst ein „heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt“ (Foucault 1978: 119f.). 18 In diesen werden reale Arbeitsabläufe und damit die spezifischen Praktiken einer Arbeit untersucht (vgl. Bergmann 2005).
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Charles Goodwin (1994) im Zuge seiner Analysen von professionsspezifischen Sehfertigkeiten den Begriff der „professional vision“ geprägt. Anhand empirischer Beispiele zeigt er, wie durch spezifische Techniken des Sehens vermeintlich „Vorliegendes erst interaktiv bedeutsam gemacht werden muss“ (Schindler/Liegl 2013: 57). Anhand des Gerichtsprozesses zum Fall Rodney King 19 zeigt Goodwin (1994; 2000) besonders deutlich, wie verschiedene Professionen dieselbe Interaktion basierend auf ihrer jeweiligen professionellen Sicht unterschiedlich wahrnehmen und bewerten. Goodwin hebt hervor, dass professionelles Sehen diskursiver Praktiken bedarf „to transform the world into the categories and events that are relevant to the work of the profession“ (Goodwin 1994: 608). Als praxistheoretische Erweiterung der ‚Studies of Work‘ schlagen Schindler und Liegl (2013: 58) vor, nicht nur von professionsspezifischer, sondern allgemeiner von praxisgeschulter Sehfertigkeit auszugehen, da „jede Praktik spezifisches Wissen und spezifisch geprägte Formen und allgemeiner des Wahrnehmens mit sich bringt“ (ebd.; vgl. auch Reckwitz 2015: 448). Wie meine eigene Analyse bestätigt (vgl. 2.4.2), ist ein soziologischer Nachvollzug von Praktiken – wie Talentsichtungen im vorliegenden Fall – demnach nur möglich, wenn sich der*die Forschende das praktische Wissen der Teilnehmenden einer Praxis aneignet.20 Prinz (2014: 330) schlägt daher für eine Praxeologie des Sehens vor, die Aufmerksamkeit auch „auf die formale Anordnung der Dingwelten und Raumstrukturen“ zu richten. Aus diesen Ansätzen ergeben sich folgende Fragen für die Analyse der von den sichtenden Trainer*innen eingesetzten Techniken des Sehens: Wie, in welchen sozio-materiellen Arrangements und welchen Aufgabenstellungen, wird Talent gesichtet? Welche ‚Zeichen‘ der Bundeskaderanwärter*innen werten die sichtenden Trainer*innen als Indikatoren für Talent und wie genau werden diese sichtbar (gemacht) und bewertet? Weisen die beteiligten Trainer*innen hierbei Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Positionierung, des Sehstils und der als wertvoll erachteten Merkmale auf, oder lassen sich Unterschiede beobachten, sowohl sportartenspezifisch wie auch -übergreifend?
19 In dem Fall lagen Amateurvideoaufnahmen vor, die zeigen wie Polizisten auf einen Zivilisten einschlagen. Die Expertenaussagen von einem Arzt und einem Polizisten lieferten zwei sehr unterschiedliche Lesarten der körperlichen Reaktionen des Geschlagenen, die auch zu voneinander abweichenden Urteilen führten. 20 Als anschauliche Beispiele für den – nicht einfachen – Prozess der Wissensaneignung und praxisgeschulten Sehfertigkeit lassen sich unter anderem die Arbeit von Schindler (2011a) zum Kampfsport und Heimerls (2013) Arbeit zu Sonographien nennen.
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Auf Seiten der Bundeskaderanwärter*innen interessiere ich mich für die eingesetzten Techniken des Sich-Sichtbarmachens. Obwohl ich in der vorliegenden Arbeit die Körper der Teilnehmenden – also auch der Bundeskaderanwärter*innen – als ‚Displays‘ konstituiere, anhand derer sich praxisrelevante Unterschiede zeigen, begreife ich sie nicht als passive Objekte. Basierend auf den skizzierten Bausteinen der praxeologisch ausgerichteten Subjektivierungstheorie gehe ich vielmehr davon aus, dass auch sie aktiv an der Sichtungspraxis und dem Konstruktionsprozess von Talent(en) beteiligt sind, obwohl von einem Machtgefälle zwischen Trainer*innen und Bundeskaderanwärter*innen auszugehen ist, da die Positionen innerhalb der institutionalisierten Sichtungspraktiken von Anfang an mit unterschiedlich viel Macht ausgestattet sind. Hier stellen sich folgende Fragen: Welche Handlungsspielräume ergeben sich in den jeweiligen sozio-materiellen Arrangements für die Bundeskaderanwärter*innen? Lassen sich diese generalisieren oder gibt es individuelle Unterschiede? Wie werden diese Spielräume (individuell) genutzt, um sich als Talente hervorzuheben?
2.3 FORSCHUNGSFRAGEN ABGELEITET AUS DEN BAUSTEINEN Die verschiedenen Bausteine der Analyseoptik zusammentragend, begreife ich in der vorliegenden Arbeit Talentsichtungen als Bündel von ort- und zeitspezifischen Praktiken, die sich in sozio-materiellen Arrangements vollziehen. Diese zeichnen sich u.a. durch präfigurierende Beziehungen aus, die die Positionalität der Teilnehmenden zueinander – räumlich wie auch politisch-normativ – mitbestimmen. Trotz der von Beginn an mit unterschiedlich viel Macht ausgestatteten Positionen der menschlichen Teilnehmenden – Trainer*innen und Bundeskaderanwärter*innen – gehe ich aus einer praxeologischen Perspektive nicht davon aus, dass der Verlauf der Sichtungspraktiken den Trainer*innen allein zuzuschreiben ist. Stattdessen fasse ich den Sichtungsverlauf als eine relationale Erscheinung auf, in der sich die soziale Ordnung wie auch die Talentkonstruktion erst in den Praktiken durch die jeweiligen (Re)Adressierungen der Teilnehmenden konstituieren. Die menschlichen Teilnehmenden müssen ihre Mitspielfähigkeit nicht nur funktional im Sinne der teleoaffektiven Struktur der Praktik(en) performieren, sondern auch hinsichtlich der politisch-normativen Dimension, indem sie ein Gespür für die jeweiligen Spielräume und Machtverhältnisse aufweisen. Aus der gewählten Perspektive begreife ich Talent nicht als etwas im Vorfeld Gegebenes und objektiv Messbares, sondern analysiere, wie Bundeskaderanwärter*innen sich im Vollzug von Sichtungspraktiken zu (Nicht-)Talenten
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selbst bilden und subjektiviert werden, indem die sichtenden Trainer*innen sie als solche adressieren und bewerten. Aus der gewählten Perspektive werden auch die Trainer*innen im Sichtungsverlauf subjektiviert und bilden sich als spezifische Beobachter*innensubjekte, jedoch wird der Fokus in der vorliegenden Arbeit auf die Subjektivierung zu (Nicht-)Talenten gelegt. Dabei gehe ich davon aus, dass erst durch die Untersuchung der Sichtungspraktiken – also das Wie der Sichtung – herausgefunden werden kann, was genau als Talent konstruiert wird. Der praxeologische Blick richtet sich hierfür zunächst auf verschiedene Aspekte: Zum einen werden die sozio-materiellen Arrangements in den Fokus genommen. So lassen sich bspw. allein anhand des Sichtungsaufbaus, der zusammengestellten Übungen und der jeweiligen räumlichen Positionierungen erste Rückschlüsse auf Talentkonstruktionen ziehen, da hieran sichtbar wird, welche impliziten (Be)Wertungslogiken die sichtenden Trainer*innen im Hinblick auf Talent in die Sichtungspraxis einspielen. Davon ausgehend, dass die Sehfertigkeit von Talent, die eine Bewertung erst ermöglicht, nicht kontextlos existiert, sondern Trainer*innen in den Sichtungspraktiken zum professionellen Sichten erst durch bspw. spezifische sozio-materielle Arrangements und einen bestimmten Sehstil befähigt21 werden, ist für mich von Interesse, welche Anordnungen, Aufgaben und Techniken des Sehens gewählt werden, um welche (körperlichen) Zeichen als Indikatoren für welche Talentmerkmale zu (be)werten. Im Hinblick auf die Trainer*innen soll geklärt werden, ob es Unterschiede in den Techniken des Sehens und der (Be)Wertungen der Merkmale gibt oder ob sich durch die gemeinsamen Sichtungspraktiken ein einheitlicher professionsspezifischer Sehstil entwickelt (hat). Zudem ist von Interesse, welcher Merkmale bzw. Merkmalskombinationen es bedarf, um jemanden als Talent zu bewerten. Hierbei geht es mir ausdrücklich nicht um die Frage, ob Trainer*innen mit ihrem Vorgehen in der Lage sind ein vorausgesetztes Talent zu erfassen. Vielmehr soll herausgearbeitet werden, wie sie in ihren Techniken des Sehens Talent für sich sicht- und bewertbar machen und welche Annahmen bzw. Maßstäbe ihr Sehen impliziert. Da ich die Bundeskaderanwärter*innen nicht als passive Objekte, sondern als aktiv in ihrer Subjektivierung zu (Nicht-)Talenten auffasse, interessiere ich mich für die angewandten Techniken des Sich-Sichtbarmachens, die sich in der Nutzung der jeweiligen Spielräume in den Anordnungen widerspiegeln, um sich als Talente hervorzuheben. Zusammenfassend ergeben sich aus der gewählten Analyseoptik folgende Forschungsfragen: 21 In Anlehnung an Alkemeyer, Buschmann und Michaeler (2015: 34) werden Teilnehmer*innen von Praktiken erst im Vollzug als Träger*innen von Fähigkeiten anerkennbar. Befähigung bedeutet hierbei sowohl „in die Lage versetzt zu werden als auch in der Lage zu sein, den Anforderungen der Praxis zu entsprechen“.
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Wie wird Talent in Sichtungspraktiken konstruiert, ge-/bewertet und zugeschrieben? - Wie – in welchen sozio-materiellen Arrangements und durch welche Techniken des Sehens und Techniken des Sich-Sichtbarmachens – werden welche Talentmerkmale im Sichtungsprozess sichtbar gemacht und ge-/bewertet? - Wie (re)adressieren sich die Teilnehmer*innen(-gruppen) gegenseitig im Sichtungsprozess und mit Hilfe welcher Prüfverfahren subjektivieren sie sich zu (Nicht-)Talenten? - Weisen die beteiligten Trainer*innen hierbei Gemeinsamkeiten hinsichtlich des Sehstils und der (Be)Wertungen auf oder lassen sich Unterschiede beobachten? - Wie werden die Spielräume auf Seiten der Bundeskaderanwärter*innen (individuell) genutzt, um sich als Talente hervorzuheben? - Welche Merkmale/Merkmalskombinationen werten die sichtenden Trainer*innen als bedeutsam für Talent und wie bewerten sie diese(s)?
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Welche Gemeinsamkeiten/Unterschiede lassen sich hinsichtlich der aufgeworfenen Fragen bei den beiden Sportarten im Vergleich feststellen?
2.4 METHODISCHES VORGEHEN Aus der Konzeption von Talentsichtungen als soziale Praktiken und den aufgeworfenen Forschungsfragen ergeben sich Konsequenzen für das methodische Vorgehen. Laut Schmidt (2012: 28) schließt der practice turn einen ethnographic bzw. praxeographic turn mit ein, da sich der praxeologische Blick den Vollzügen von Praktiken zuwendet. In Abgrenzung zur Methode der Ethnographie, die den Fokus auf ‚überdauernde‘ Eigenschaften von bspw. kulturellen oder eigenethnischen Gruppen richtet, schlägt Mol (2002: 83) den Begriff der Praxeographie vor, die sich für die immer wieder aufs Neue hervorgebrachten Praktiken und ihre menschlichen und nicht-menschlichen Teilnehmenden interessiert (vgl. auch Schmidt 2012: 49). Beiden Ansätzen gemein ist eine Gleichordnung von und ein Wechselspiel zwischen Theorie und Empirie, bei dem Theorien stets empirische und Methoden theoretische Implikationen aufweisen (vgl. Scheffer 2002: 366; Kalthoff/Hirschauer/Lindemann 2008). Entgegen der Vorstellung, Daten könnten theoriefrei generiert und im Anschluss mit Hilfe von Theorien gedeutet werden, setzen ethno- und praxeographische Verfahren Theorien bewusst als „Sehhilfen“ (Scheffer 2002: 370) ein, die den Blick im Feld lenken und forschungsre-
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levante Details erst beobachtbar machen (vgl. ebd.: 366; Alkemeyer/Buschmann/ Michaeler 2015: 29). Hierbei werden Theorien nicht als fertige Konzepte, sondern als „Modelliermasse“ (Scheffer 2002: 371) angesehen, die eine Offenheit für Irritationen durch und Anpassung an empirische Erkenntnisse impliziert. Trotz der Präferenz von teilnehmenden Beobachtungen in praxeographischen Untersuchungen (vgl. bspw. Schmidt 2012: 49), werden auch die genauen Erhebungsverfahren bzw. ihre Kombination wie auch ihre konkrete Umsetzung nicht im Vorfeld festgelegt, sondern erfolgen in Abhängigkeit von den Gegebenheiten im Feld. Damit geht der Methodenzwang primär vom Gegenstand aus und folgt der Prämisse über den „unmittelbaren, persönlichen Kontakt“ (Amann/ Hirschauer 1997: 17) in einer „anhaltende[n] Kopräsenz“ (Hirschauer 2002: 37) die Teilnehmendenperspektive(n) nachzuvollziehen und darüber „die Logik der Praxis“ (Bourdieu 1976: 248) zu rekonstruieren. Die Auswahl und die Gegebenheiten der beforschten Praxisfelder In der vorliegenden Arbeit interessiere ich mich für die Sichtungspraktiken im Nachwuchsleistungssport in zwei verschiedenen Sportarten – Lateinamerikanische Tänze und 400m Sprint. Die Auswahl der Sportarten erfolgte zum einen nach dem Prinzip der größtmöglichen Kontrastierung, um herauszufinden, inwieweit sich die Talentkonstruktionen und (Be)Wertungsverfahren durch die jeweiligen sportartspezifischen Sichtungspraktiken und ihre Rahmungen unterscheiden. Während die 400m den Individualsportarten zugeteilt werden, performen die Teilnehmenden in den Lateinamerikanischen Tänzen als Paar. Hier wird – laut Angaben des Deutschen Tanzsportverbands (2013) – auch das Paar gemeinsam und nicht die Tanzenden separat bewertet. Zum anderen wird der Paartanz den ästhetischen Sportarten zugeordnet, bei dem – laut dem Deutschen Tanzsportverband (ebd.) – folgende Bewertungskriterien herangezogen werden: Musikalität, Balancen, Bewegungsablauf und Charakteristik. 400m Sprint als Disziplin der Leichtathletik gilt hingegen als ‚klassische‘ Sportart, bei der allein die objektiv messbare körperliche Leistung in Form der erlaufenen Zeit und nicht die Ästhetik von Bedeutung sei. Zum anderen ist die Auswahl der Sportarten pragmatisch mit dem Feldzugang begründet. Annahmen aus der ethnographischen Fachliteratur (vgl. bspw. Hammersley/Atkinson 1995: 54ff.) stützend, stellte sich dieser als Herausforderung dar, da ich Bundestrainer*innen finden musste, die sich bereit erklärten, mir tiefgehende Einblicke in die Sichtungspraktiken zu gewähren. Bei beiden Sportarten erfolgte der Feldzugang über Landestrainer*innen, die ich auf Trainer*innenfortbildungen kennenlernte und über die
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ich Kontakt zu den Bundestrainer*innen aufnahm. In beiden Fällen erläuterte ich bei einem ersten persönlichen Treffen mein Vorhaben, nach dem die Trainer*innen den videogestützten Beobachtungen der Sichtungen zustimmten. Sie ermöglichten mir auch zu Beginn der Sichtungen eine Skizzierung des Vorhabens gegenüber den Bundeskaderanwärter*innen, die dem Vorhaben ebenfalls zustimmten – vermutlich u.a. da Videoaufnahmen in beiden Sportarten bei Wettkämpfen und im Training durchaus üblich sind, wodurch ich auch von einer geringen Einflussnahme meinerseits auf den Praxisverlauf ausging. Für ethno-/praxeographische Forschungen gelten längere Feldaufenthalte als Prämisse, um das Forschungsfeld nicht nur punktuell, sondern über eine „Erhebungsstrecke“ zu untersuchen (Amann/Hirschauer 1997: 16). Bei Talentsichtungen im Sport ergibt sich für viele Sportarten – auch die von mir begleiteten – die Besonderheit, dass die Sichtungen nur punktuell stattfinden. So sichten die Trainer*innen für die Lateinamerikanischen Tänze nur einmal jährlich. Hierfür laden sie ca. 25 Paare für eine dreitägige Sichtung ein und entscheiden zum Ende, welche Paare sie in den Bundeskader berufen. Im Langsprint finden die Sichtungen sowohl bei Wettbewerben wie bspw. den Deutschen Meisterschaften wie auch an zusätzlichen Sichtungswochenenden statt, zu denen die sichtenden Trainer die schnellsten Athleten Deutschlands gemeinsam mit ihren Heimtrainer*innen einladen. Die Entscheidung, wer in den Kader berufen wird, beruht somit auf punktuellen Beobachtungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Um trotz dieser punktuellen Konstitution der zu erforschenden Praktiken einen profunden Einblick in die Forschungsfelder zu erlangen, wurden die Sichtungen über mehrere Jahre in Folge praxeographisch begleitet und um Eindrücke aus zusätzlichen feldrelevanten Praktiken ergänzt. So war ich auch bei Meisterschaften verschiedener Altersklassen bei den Lateinamerikanischen Tänzen anwesend und begleitete den Bundestrainer im Langsprint zu Tagungen und Fortbildungen, die sich dem Thema Talent widmeten. Ein Vorteil, der sich aus dem Sichtungsturnus ergab, war die geregelte Sicherstellung von Rückzugsphasen aus dem Feld, in denen ich Abstand gewinnen, die Beobachtungen reflektieren und methodische Konsequenzen für den nächsten Feldaufenthalt ziehen konnte. So wurden dem Risiko eines ‚going native‘ – bei dem aufgrund einer großen Vertrautheit mit dem Feld und einer fehlenden Distanzierung die Perspektiven der Teilnehmenden unkritisch übernommen werden – bereits durch die zeitliche Taktung ‚coming home‘ Phasen entgegengesetzt (vgl. Hirschauer 2002: 38; Przyborski/Wohrlab-Sahr 2010: 45). Gleichzeitig barg der zeitliche Turnus auch Nachteile, da zum einen wenig Zeit für Orientierung im und Annäherung ans Feld und seine Teilnehmenden blieb, bzw. dies ‚gestückelt‘ über die Jahre stattfinden musste. So bauten
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auch die sichtenden Trainer*innen erst über die Zeit Vertrauen22 zu mir auf und verließen bspw. bei den ersten Sichtungen für interne Besprechungen noch den Raum. Über die wiederkehrenden Feldaufenthalte ‚normalisierte‘ sich meine Rolle als Forscherin und ich begleitete die Trainer*innen in den Pausen und war auch bei allen Besprechungen anwesend, in denen die Trainer*innen offen vor und mit mir über die Bundeskaderanwärter*innen aber auch über geplante Sichtungsveränderungen etc. sprachen. Die Bundeskaderanwärter*innen schenkten mir und den Kameras wenig Beachtung und adressierten mich nur wenige Male als Expertin bezüglich eines potenziellen Sportstudiums, welches einige von ihnen in Erwägung zogen. Zum anderen löste der zeitliche Turnus gerade bei den jeweils ersten Aufenthalten einen großen Druck bei mir aus, die für meine Forschung wesentlichen Sichtungspraktiken ‚einzufangen‘, da die nächste Gelegenheit bis zu 12 Monate entfernt lag. Praxeographische ‚Sehversuche‘ Das ‚Einfangen‘ der Sichtung versuchte ich durch zwei Kameras sicherzustellen,23 bei deren Ausrichtung ich mich an den oben skizzierten theoretischen Überlegungen zu den ‚total view‘ und ‚point-of-view-Shots‘ orientierte, um die Sichtung sowohl als kontingentes Praxisgeschehen wie auch als sich vollziehende Sichtungspraktik untersuchen zu können (vgl. 2.1). Somit versuchte ich, durch die praktische Umsetzung der in der Theorie metaphorischen Perspektivierungen sowohl die (Re)Adressierungen und die sich darin zeigenden Bewältigungsanstrengungen und Abstimmungsprozesse der Teilnehmenden, als auch das Ineinandergreifen der Aktionen der Teilnehmenden und ihre Ausrichtung auf die Konstruktion und (Be)Wertung von Talenten zu analysieren. Bei der praktischen Umsetzung dieser theoretischen Überlegungen stieß ich zu Beginn meiner Feldforschung auf unterschiedliche Probleme, die teils pragmatischer Natur waren. Es erwies sich als Herausforderung, eine Position für die ‚total view‘24 Kamera zu finden, die die Sichtungspraktiken nicht behinderte, jedoch nah genug am Geschehen war, um dieses nicht nur optisch, sondern auch 22 Zur Bedeutsamkeit des Vertrauensverhältnisses zwischen Beforschten und Forschenden s. Kalthoff 2003: 77. 23 Auf die Bedeutung und Tradition von wissenschaftlichen Videoaufnahmen gehe ich in 2.4.3 kurz ein. 24 Aus der ‚total view‘ bzw. Totalen wird die Gesamtheit des ‚Handlungsraums‘ aufgezeichnet. D.h., „sie orientiert über den Ort der Handlung, soweit er im Augenblick für das sich entwickelnde Geschehen von Bedeutung ist, und damit auch über die Dinge und Personen, die in die Handlung hineinspielen“ (Wulff 2012a).
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akustisch einzufangen. So kam es zu Beginn mehrfach vor, dass die Kamera den Teilnehmenden, die teils ständig in Bewegung waren, im Weg war und umgerannt bzw. ‚umgetanzt‘ wurde. Bei größeren Entfernungen hingegen war das Gesprochene nicht hörbar. Wie die Empiriekapitel zeigen, vollziehen sich Sichtungspraktiken nicht schweigsam und das Gesagte ist durchaus bedeutsam für ihren Nachvollzug (vgl. Brümmer 2015: 94). Während mir gerade die durchgehenden Aufnahmen aus der Totalen zunächst die (falsche) Sicherheit gaben, trotz Unvertrautheit mit dem Feld in den intensiven und kompakten Feldaufenthalten die Sichtungspraktiken ‚konservieren‘ zu können (vgl. Bergmann 2005: 644),25 zeigten bereits die ersten Auswertungsversuche, dass ein Großteil dieser Aufnahmen im Langsprint unbrauchbar für die Bearbeitung einiger meiner Forschungsfragen war, da die sichtenden Trainer in den Sichtungspraktiken vor allem Details der Athletenkörper relevant machen, die aus der Perspektive zumeist nicht sichtbar werden. Diese Aufnahmen aus der starren Totalen kamen dem Versuch gleich „‘Autobahn fahrend‘ die Beschaffenheit von Feldwegen beschreiben zu wollen.“ (Mohn 2007: 180).26 Besonders bei den Lateinamerikanischen Tänzen ergab sich zudem das Problem, dass bei bis zu 54 menschlichen Teilnehmenden eine ‚Normalsicht‘ in der Totalen – also auf gleicher Höhe der Teilnehmenden (vgl. Wulff 2012b) – der Kameralinse der Blick oftmals auf das Wesentliche durch andere Teilnehmende versperrt war. Hier kam mir ein Ortswechsel ab dem zweiten von mir begleiteten Sichtungsjahr zu Gute, nach dem die Sichtungspraktiken hauptsächlich in einem Raum mit Tribüne stattfanden, von der aus durch die Kamera eine ‚Vogelperspektive‘27 eingenommen wurde. Die Aufnahmen musste ich zwar durch Audioaufnahmen der anderen Kamera ergänzen – durch die Entfernung reichte das Richtmikrofon der oben positionierten Kamera nicht aus – sie erwiesen sich jedoch als aufschlussreich für meine Analysen der räumlichen Positionierungen der Teilnehmenden, die durch die Kameraeinstellung gut sichtbar werden. Da dies bei den Sichtungen im Lang25 Schnettler und Koblauch (2009: 276) weisen zudem darauf hin, dass Videodaten eine Transformation lebensweltlicher Situationen darstellen, da sie den dreidimensionalen Raum auf die zweidimensionale Fläche des Bildschirms reduzieren, den Sehwinkel einschränken und auch Erfahrungsqualitäten abseits vom Visuellen und Akustischen nicht einfangen können. 26 Wie Mohn (2007: 180) anmerkt, wurde bisher zu wenig darauf reflektiert, dass solche starren Aufnahmen aus der Totalen auch durch ihre „visuelle Unattraktivität die daran anknüpfenden Wissensprozesse“ beeinträchtigen statt zu befördern. 27 Alle Kamerapositionen, die oberhalb der Augenhöhe der Teilnehmenden lokalisiert sind, werden Aufsichten genannt, wobei je nach Höhe differenziert wird zwischen leichter und starker Aufsicht bis zur Vogelperspektive (vgl. Wulff 2012c).
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sprint nicht möglich war, sich aber trotz geringerer Teilnehmendenzahl ähnliche Probleme ergaben, verzichtete ich bei weiteren Feldaufenthalten auf eine zweite Kamera und wechselte mit der Kamera die Perspektive je nach Situation und Relevanzsetzung der Teilnehmenden. Diese Wechsel, wie auch die genaue Positionierung der Kamera und Fokussierung setzen jedoch eine „wissende Kamera“ (Mohn 2007: 173) bzw. eine wissende Praxeographin dahinter voraus, deren Aufnahmen „ihre Qualität aus der fortlaufenden Justierung als Ko-Teilnehmer“ gewinnen (Hirschauer 2002: 37). Hierbei zeigte sich, dass meine ersten „Sehversuche“ (Heimerl 2013: 142ff.) nicht nur bei den Aufnahmen aus der ‚Totalen‘, sondern auch bei den ‚point-of-view-Shots‘28 für die Beantwortung der Forschungsfragen teilweise nicht geeignet waren bzw. nicht ausreichten. Während die Aufnahmen aus der ‚Totalen‘ mich in den Sichtungspraktiken als Teilnehmende kaum sichtbar machten, traten bei den ersten Versuchen, die Trainer*inneperspektive(n) einzunehmen, mehrere Probleme auf. Das in der Ethno-/ Praxeographie bekannte Problem des sich zunächst nicht ‚Rantrauens‘ an die Teilnehmenden, um diesen wie ein ‚Schatten‘ zu folgen (vgl. Czarniawska 2008), verstärkte sich bei mir besonders in den Arrangements, in denen die sichtenden Trainer*innen nicht als stille Beobachter*innen ‚abseits‘ der Bundeskaderanwärter*innen agierten, sondern ihre räumliche Distanz zu diesen aufgaben, um bspw. ihre Körper in bestimmte Bewegungen zu führen. Erst mit wiederkehrenden Forschungsphasen und der Vertrautheit mit den Trainer*innen folgte ich ihnen auch in diesen Situationen „um den Preis, […] sich plötzlich mittendrin zu befinden in den Situationen, die man beforscht“ (Mohn 2007: 179). Zudem fühlte sich mein ‚shadowing‘ der Trainer*innen in zeitlich eng getakteten Prüfungssituationen schwierig an, wenn diese bspw. nur 90 Sekunden für die Bewertung von vier gleichzeitig tanzenden Paaren hatten, sichtbar konzentriert waren und teils auch Abstand zu mir einnahmen. Selbst wenn eine direkte Positionierung neben den Trainer*innen möglich war, war damit noch nicht sichergestellt, dass ich ihre Perspektive mit der Kamera einnahm. So zeigten mir bspw. kurze Kommentare der Trainer*innen, aus denen für sie relevante Details hervorgingen, dass sie ander(e)s sahen als ich. Während für die sichtenden Trainer*innen teils in wenigen Sekunden bei den Bundeskaderanwärter*innen Talentmerkmale in Erscheinung traten, die sie bewerteten, tappte ich zunächst im Dunkeln. Wie die auf Kamera-Ethnographie spezialisierte Anthropologin Bina Mohn (2008: 220) herausstellt, setzen dichte Beschreibungen (von Praktiken) das Begreifen der eingeübten Sehstile voraus. Hierfür waren die (be)wertenden Kommentare der Trainer*innen in den Sichtungen essenziell. Neben den Rückmeldungen an 28 ‚Point-of-view-Shots‘ nehmen die Perspektive von einzelnen Teilnehmenden ein. Sie werden daher auch als ‚subjektive Kamera‘ bezeichnet (vgl. Lahde 2011).
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die Bundeskaderanwärter*innen zog ich zudem Rückschlüsse auf die Sehgewohnheiten anhand von Gesprächen der Trainer*innen untereinander und bat sie in weniger hektischen Situationen mir das Beobachtete direkt zu kommentieren. Da dies nicht in jedem Arrangement möglich war, ich jedoch bereits bei den Beobachtungen erahnte, dass es arrangementspezifische Unterschiede des Sehens gab, entschied ich, trotz einer gewissen Skepsis in praxeologischen Ansätzen gegenüber qualitativen Interviews 29 (vgl. Schmidt 2012: 48f.), meine Beobachtungen um videogestützte Interviews zu ergänzen. Diese werden als Ergänzung zu teilnehmenden Beobachtungen in verschiedenen praxistheoretischen Zugängen empfohlen, um die impliziten „Wissensschemata zu erschließen, welche Praktiken konstituieren“ (Reckwitz 2008: 197; vgl. auch Hirschauer 2002; Schatzki 2012; Scheffer 2002). In den Interviews zeigte ich den Trainer*innen einzelne Sequenzen aus den verschiedenen Arrangements der Sichtungen und bat sie, diese offen zu kommentieren. Ziel der Interviews war somit eine Beschreibung des Aufgezeichneten durch die Trainer*innen, so dass sie zu Beobachter*innen ihrer selbst wurden (vgl. Mol 2002: 15) und mir halfen, ihr Sehen und Bewerten besser zu verstehen (vgl. Hirschauer 2002: 39). Damit konnte auch die Bedeutsamkeit der beobachteten Ereignisse „für und durch“ (KnorrCetina 2002: 50) die Trainer*innen eingefangen werden. Die Wichtigkeit der videogestützten Interviews für das Verstehen des jeweiligen Sehstils und der daraus mitbedingten Talentkonstruktionen spiegelt sich in der Dominanz von Interviewauszügen in den Empiriekapiteln der Arbeit wider. Um der Gefahr zu entgehen, die in den Interviews gefällten Aussagen fraglos zu übernehmen, unterzog ich sie einem „Lackmustest“, in dem ich sie mit dem „materialen, beobachteten Anteil der Praktiken“ (Reckwitz 2008: 197) abglich und durch die Analyseoptik betrachtete. Zusätzlich stellte ich die Analysen und Schlussfolgerungen im Rahmen von Workshops mit Fachkolleg*innen zur Diskussion, um meine eigenen Wahrnehmungen und Auslegungen immer wieder kritisch zu hinterfragen und meinen Blick zu befremden (vgl. Brümmer 2015: 105). Durch die videogestützten Interviews, die wiederkehrende Teilnahme an den Sichtungspraktiken und die stetige Lenkung meines (Kamera-)Blickes durch die Relevanzsetzungen der Teilnehmenden (vgl. Hirschauer 2002: 37) konnte ich schließlich an mir selbst beobachten, wie sich aus den anfänglichen „Suchbewegungen“ (Mohn 2007: 174) zumindest ein Zugang zu dem jeweiligen Sehstil 29 Der Hauptvorwurf ist die Nicht-Passung der Logik der Theorie und der Logik der Praxis (vgl. bspw. Bourdieu 1987: 157ff.; Reckwitz 2008: 196). D.h., das Sprechen über einen praktischen Vollzug wird oftmals als eine „post hoc Rationalisierung“ (Brümmer 2015: 104) angesehen, die Sinnstrukturen konstruiert, die von denen der Praxis abweichen.
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entwickelte, was eine mögliche Schulung der „Vis-ability“ (Schindler 2009) – der Sehfertigkeit – belegt. Auch die Trainer*innen bestätigten mir beim gemeinsamen Betrachten der Videosequenzen einen Wissenszuwachs hinsichtlich der Kameraführung und Fokussierung auf die ‚richtigen‘ Details im Sinne der Sehgewohnheiten des Trainer*innenkollektivs. Gleichzeitig offenbarten die videogestützten Interviews jedoch auch weitere, in diesem Sinne ‚misslungene‘ Sehversuche. So meldeten mir bspw. Trainer*innen zurück, dass einige Aufnahmen aufgrund einer ‚falschen‘ Kameraperspektive, des Ranzoomens an ‚falsche‘ Details oder des zu nahen oder weiten Abstandes zum jeweiligen Teilnehmenden die Bewertung der unterschiedlichen Talentmerkmale anhand der Videoaufnahmen erschwerten oder gar unmöglich machten. Teilweise kommentierten die Trainer*innen dann Gesamteindrücke von den abgebildeten Bundeskaderanwärter*innen anstatt die Sequenz für sich zu betrachten. Spätere ‚point-of-viewShots‘ hingegen wurden mit Aussagen wie „das ist genau der richtige Abstand“, „sehr gut, genau von hier aus habe ich ja auch immer gewertet“ oder „hier sieht man richtig deine Entwicklung“ kommentiert. Auch wenn die von mir eingenommene Perspektive bis zum Ende der Feldaufenthalte eher die einer Beobachterin und weniger eines Mitglieds der Trainer*innenkollektive blieb (vgl. Brümmer/Mitchell 2014: 177), gewann ich über die Zeit Einblicke in ihre Sehstile in den Sichtungspraktiken. Gleichzeitig verdeutlichen die Kommentare zu den ‚misslungenen‘ Videoaufnahmen, bei denen ich die Trainer*innenperspektive nicht getroffen habe, wie auch Aufnahmen aus der Totalen, dass die Sehfertigkeiten der Trainer*innen nicht unabhängig von den spezifischen soziomateriellen Anordnungen bestehen, sondern diese konstitutiv für das praktikenspezifische Sehen sind.30 Damit war mein praktisches Verständnis des Sehstils der Trainer*innen Voraussetzung für adäquate ‚point-of-view-Shots‘, die wiederum Voraussetzung für tiefergehende Einblicke in den Sehstil durch die videogestützten Interviews waren. Die Aufnahmen aus der ‚Totalen‘ aus der ‚Vogelperspektive‘ erwiesen sich zwar für die videogestützten Interviews als weniger nützlich, waren jedoch für ein Verständnis für die Positionierungen und die Bedeutsamkeit dieser in den Sichtungspraktiken aufschlussreich.
30 Wie Brümmer (2018) anhand ihrer praxeographischen Arbeit zu Videoanalysen im Profifußball herausarbeitet, können anhand von für die Trainer*innen ungewohnten Aufnahmen, wie bspw. aus der Vogelperspektive, neue Wissensbestände generiert werden, die gerade in Mannschaftssportarten, mit wechselnden Positionierungen neue Gestaltungsmöglichkeiten im Training/Spiel eröffnen. Gleichzeitig werden damit neue Anforderungen an die Trainer*innen gestellt, einen souveränen Umgang mit den erweiterten technischen Möglichkeiten auszubilden.
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Sozio-materielle Arrangements und verschiedene ‚Zoom‘-Stufen zur ‚Ordnung‘ und Analyse der Sichtungspraktiken Basierend auf den ersten Feldaufenthalten und den skizzierten Erkenntnissen integrierte ich Flecks Konzept zu Denkstilen (vgl. 2.2) und Schatzkis Ausführungen zu sozio-materiellen Arrangements (vgl. 2.1) als Bausteine in die Analyseoptik und nutzte sie als Orientierungsrahmen für die weiteren Erhebungen. Das Konzept der sozio-materiellen Arrangements diente mir zudem als ‚Ordnungsprinzip‘ für die weitere Arbeit mit den Aufnahmen, wie auch ihre Verschriftlichung im Empirieteil. Insgesamt zeigte sich im Verlauf der Forschung, dass eine Festlegung der (Kamera-)Perspektiven im Vorfeld schwierig sein kann und es ratsamer ist, sich stattdessen an den Logiken der (Sichtungs-)Praktiken und den Forschungsfragen zu orientieren. Insgesamt verstehe ich meine Aufnahmen nicht als Versuche „authentischer Aufzeichnungen“ der Sichtungen, sondern als bereits „interpretierendes Artefakt des Beobachtungsprozesses […] zu Mitteln des soziologischen Wissensprozesses“ (Mohn/Amann 1998: 7). Damit grenze ich mich von dem „Glauben an die wissenschaftliche Objektivität und den neutralen Charakter wissenschaftlicher Prosa“ (Fabian 1993: 356) ab. Stattdessen gehe ich davon aus, dass soziale Geschehnisse erst durch das Einrichten einer theoriegeleiteten, analytischen Optik methodisch beobachtbar gemacht werden müssen (vgl. Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 29). Dementsprechend stellen nicht nur die Verschriftlichungen, sondern bereits die Aufnahmen Resultate von Prozessen dar, die ihren Ursprung in den untersuchten Feldern hatten, ohne diese ‚objektiv‘ abzubilden. Vielmehr sind sie Versuche, Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zu finden (vgl. Fabian 1993: 359), wobei die verschiedenen Kameraperspektiven Antworten auf unterschiedliche Forschungsfragen geben. Für die weitere Analyse und ihre Verschriftlichung habe ich – einem Vorschlag des Soziologen Nicolini (2012: 219ff.) folgend – die Sichtungspraktiken in einem Wechsel von ‚Brennweiten‘ untersucht. In den folgenden Empiriekapiteln ‚zoome‘ ich nach einer kurzen Beschreibung der jeweiligen Sichtungsrahmung mikrologisch in die verschiedenen sozio-materiellen Arrangements ‚hinein‘. Entgegen der Metapher zeichnet sich das Hineinzoomen durch ein „moving around and amit practices, not hovering above them“ (Nicolini 2012: 239) aus, bei dem einzelne Teilnehmendenperspektiven zugänglich gemacht werden (vgl. ebd.: 227).31 Ziel ist es, die sozio-materiellen Arrangements möglichst detailliert
31 Des Weiteren kritisiert Nicolini (2012: 239f.) an der selbst gewählten Metapher des Zoomens, dass dieses die Aufmerksamkeit auf eine Kamera lenke, was zudem nicht dem ‚natürlichen Sehen‘ entspreche, welches kein Zoomen beinhaltet.
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zu beschreiben und die Praxis „in the making“ (ebd. S. 229) mit ihren situativen „accomplishments“ (ebd.: 219) zu analysieren. Hierbei orientiere ich mich an ‚mikroethnographischen‘ Arbeiten (vgl. Streeck/Mehus 2004), die bereits seit den 1980er Jahren (vgl. bspw. Heath 1986) mit Hilfe von Videoaufzeichnungen untersuchen, wie „activities are conducted, and sense is made, by inspecting video recordings of actual events frame by frame” (Streeck/Mehus 2004: 382). Gerade durch die kleinschrittige und minutiöse „frame by frame“ Analyse kann der genaue Vollzug von Praktiken in den sozio-materiellen Arrangements kleinschrittig untersucht werden: „The video record allows the analyst to consider the resources that participants bring to bear in making sense of, and participating in, the conduct of others, to take a particular interest in the real-time production of social order. Video can also enable the analyst to consider the ways in which different aspects of the setting feature in the unfolding organization of conduct. These aspects include not only the talk of participants, but their visible conduct, whether in terms of gaze, gesture, facial expression, or bodily comportment. Furthermore, video data enable the analyst to consider how the local ecology of objects, artefacts, texts, tools and technologies feature in and impact on the action and activity under scrutiny.” (Heath/Hindmarsh/Luff 2010: 8)
Goodwin (2000: 33) betont, dass das ‚bloße‘ Anschauen der Aufnahmen für die Analyse nicht ausreiche, sondern es „new visual representations such as transcripts of many different types” bedarf. Wie Schnettler und Knoblauch (2009) herausstellen, gibt es vielfältige Transkriptions- und Darstellungsarten von Videoanalysen. Vor allem in der Tradition der Konversationsanalyse sind neuartige Analyse- und Darstellungsformen entstanden, wie bspw. komplexe Text-Bild-Transkriptionspartituren (vgl. bspw. die zahlreichen Arbeiten der Pioniere auf dem Gebiet Charles und Marjorie Harness Goodwin; Jürgen Streeck oder Lorenza Mondada). Daran angelehnt, werden einzelne Sequenzen aus den Talentsichtungen dichter beschrieben und mit Hilfe von Standbildern visualisiert. Somit wird „ein multimodaler Rückbezug zu den Situationen ihrer Erhebung“ (Schnettler/Knoblauch 2009: 283) ermöglicht. Je nach Relevanz der kleinschrittigen Analyse und auch der Möglichkeit zu filmen, die nicht immer gegeben war, variiert die ‚Zoomstufe‘ und damit auch die Beschreibungs- und Transkriptionsart. Auf die Sprache bezogen, wird sich von konversationsanalytischen Verfahren abgegrenzt und aufgrund der einfacheren Lesart die Form der Standardorthographie gewählt. Sie orientiert sich an den Normen der geschriebenen Sprache und berücksichtigt demzufolge Dialekte und umgangssprachliche Ausdrucksweisen weitestgehend nicht (vgl. Kowal/O´Conell 2007: 441). Beto-
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nungen werden durch Großbuchstaben markiert. Gesten und Zusatzinformationen zum Geschehen werden kursiv notiert, soweit sie für die Nachvollziehbarkeit des Geschehens und die aufgeworfenen Fragestellungen von Bedeutung sind. Basierend auf der gewählten Analyseoptik und dem hier skizzierten Instrumentarium beschreibe ich im Folgenden bei jedem sozio-materiellen Arrangement zunächst die räumliche Anordnung. Im Anschluss gehe ich zum einen auf die jeweiligen Techniken des Sehens der Trainer*innen und die damit für sie zum Vorschein gebrachten und von ihnen bewerteten Talentmerkmale ein. Zum anderen beschreibe ich, welche Spielräume sich für die Bundeskaderanwärter*innen in den jeweiligen Anordnungen ergeben, sich als Talente hervorzutun und welche Techniken des Sich-Sichtbarmachens sie anwenden. Die Reihenfolge der sozio-materiellen Arrangements orientiert sich an der chronologischen Abfolge in den Sichtungen, spiegelt diese jedoch nicht gänzlich wider, da einige Arrangements – bspw. das Feedback der Tanztrainer*innen (3.4) oder die disziplinspezifischen Einheiten im Langsprint (4.3) – in den Sichtungen wiederholt auftraten. Die Auswahl der empirischen Beispiele erfolgte in einem fortgeschrittenen Stadium des Forschungsprozesses nach den Kriterien der Relevanz für die Beantwortung der aufgeworfenen Forschungsfragen, wie auch der Repräsentativität der Sichtungspraktiken innerhalb der Anordnungen. Da die jeweiligen ‚accomplishments‘ in einem „nexus of connection“ (Nicolini 2012: 229) zu sehen sind und erst durch die Analyse dieser Zusammenhänge verständlich werden, erfolgt nach den Beschreibungen und in den abschließenden Zusammenfassungen der Kapitel ein ‚Herauszoomen‘ aus den sozio-materiellen Arrangements, durch welches die Prozessualität32 der Sichtung und transsituative33 Zusammenhänge erkennbar werden. Der Idee des Hinein- und Herauszoomens ist somit ein systematischer Perspektivwechsel implizit, ohne eine Perspektive über die andere zu stellen (vgl. ebd.: 239).
32 Beim Prozessbegriff lehne ich mich an Elias´ (1997) Definition an, nach der Prozesse nicht auf ein im Vorfeld festgelegtes Endprodukt ausgerichtet sind. 33 Bei diesen situationsübergreifenden Zusammenhängen wird an vorangehende Thematisierungen angeschlossen, ohne diese nochmals zu explizieren.
3. Eine Praxeographie der Talentsichtung in den Lateinamerikanischen Tänzen
Talentsichtungen in den Lateinamerikanischen Tänzen finden seit 1985 statt. Inhaltlich wurden sie basierend auf den Vorstellungen des jeweiligen Bundestrainers stetig modifiziert und an die praktischen Gegebenheiten angepasst. In den drei beobachteten Jahren dauern die Sichtungen für den Bundeskader Lateinamerikanische Tänze (A-Jugend) drei Tage. Für diesen Zeitraum sind Trainer*innen und Tänzer*innen im selben Hotel untergebracht. Sie nehmen auch die Mahlzeiten gemeinsam ein, so dass sie nahezu die gesamte Zeit miteinander verbringen und sich auch außerhalb des Tanzsaals erleben. Jedes Jahr treten ca. 25 Paare im Alter von 14 bis 21 Jahren an. Die eingeladenen Paare wurden von den jeweiligen Landestrainer*innen basierend auf ihren Einschätzungen zu den Paaren und den erzielten Ergebnissen bei Turnieren für die Sichtung nominiert. Von ihnen werden pro Jahr ca. fünf Paare in den Bundeskader aufgenommen. Das Erscheinungsbild der Tänzer*innen erscheint mir sehr homogen. Zwar unterscheidet sich der Kleidungsstil bei der Sichtung von den oftmals bunten und glitzernden Outfits und auffälligem Make-Up bei Turnieren, jedoch ist auch hier ein spezifischer Dresscode zu erkennen. Dieser zeichnet sich durch eng anliegende, zumeist schwarze Kleidung aus, die die Körperformen sichtbar macht (s. Abb. 1). Bei den ‚Herren‘ – wie die Teilnehmer im Feld genannt werden – ist die Kleidung vor allem im Taillen- und Hüftbereich enganliegend, so dass Bewegungen der Hüfte gut erkennbar sind. Die Aufmachung der ‚Damen‘ zeichnet sich durch dezentes Make-Up und einen freien Blick auf die Beine aus, die durch die hohen Absätze der Tanzschuhe zusätzlich optisch verlängert werden (s. Abb. 2). Allen gemein ist eine aufrechte und gespannte Körperhaltung. Durch diese und den einheitlichen Kleidungsstil gerät der teils große Altersunterschied in den Hintergrund.
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Abb. 1: Dresscode bei der Sichtung
Abb. 2: Tanzschuhe der Damen
Das auswählende Trainer*innenteam besteht aus vier Personen, die alle selbst als Tänzer*innen internationale Erfolge erzielt haben. Der Bundestrainer ist den anderen Trainer*innen übergeordnet und vorrangig für die Konzeption der Sichtungsinhalte verantwortlich. In den beobachteten Jahren setzen sich die Sichtungen aus verschiedenen Aufgaben zusammen. Zum einen sollen – im Vorfeld einstudierte – Choreographien der fünf Lateinamerikanischen Tänze (Samba, Chacha, Rumba, Paso Doble, Jive) präsentiert werden. Dabei wird zwischen Choreographien unterschieden, die nur Basic-Elemente der jeweiligen Tänze aufweisen, und Choreographien, die darüber hinaus Tanzschritte beinhalten. Zum anderen werden in den drei Tagen mehrere Aufgaben gestellt, die erst während der Sichtung bearbeitet werden können. Bspw. müssen die Paare basierend auf Takt- und Schrittvorgaben des Bundestrainers eigene kleine Choreographien erarbeiten und vor den restlichen Teilnehmer*innen demonstrieren. Dies geschieht in vorgeschalteten, vom Bundestrainer geleiteten Unterrichtseinheiten, die mit der Demonstration und Bewertung der Aufgabe abgeschlossen werden. Zudem werden den Tänzer*innen Zeitfenster für freies Training eingeräumt, bei denen bereits im Zeitplan vermerkt ist, dass dieses unter Beobachtung stattfindet. Weitere Eindrücke von den Paaren werden in Einzelgesprächen gesammelt, in denen die Paare ihre Motivation und ihre Ziele darlegen sollen. Alle genannten Aufgaben finden in einem Tanzsaal statt, der mit Parkett ausgelegt und an einer Seite mit großen Spiegeln bestückt ist. Für das sichtende Trainer*innenteam sind an einer Wand Tische mit Stühlen aufgestellt, an denen es sich einrichten kann. Links davon bildet sich der „Tänzerbereich“, wo die Tänzer*innen sich aufhalten, wenn sie nicht tanzen (s. Abb. 3).
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Abb. 3: Anordnung im Tanzsaal
Als Bewertungshilfe und zur Dokumentation der Ergebnisse wurde eigens für die Sichtung ein Bewertungsbogen konzipiert, der im Laufe der Jahre immer wieder an die Erfahrungen der Trainer*innen mit der Sichtung angepasst und weiterentwickelt wurde. In insgesamt 25 Kategorien werden von jedem*r Trainer*in ohne Absprache untereinander Punkte für die Paare vergeben. Nur einmal werden im Bogen Tänzerin und Tänzer separat bewertet. Die Bewertungen auf dem Bogen beziehen sich hauptsächlich auf die Demonstrationen der einstudierten Tänze und Choreographien (vgl. 3.9). Neben diesen offen als Bewertungsteile deklarierten Runden macht der Bundestrainer bereits bei der Begrüßung transparent, dass die Trainer*innen die Paare auch über die Bewertungsrunden hinaus beobachten und durchgehend bewerten: „Alles was ab jetzt passiert, müsst Ihr Euch vorstellen, ist schon Casting (--). Und es geht jetzt schon los. Auch wenn wir heute noch keine Punkte vergeben, aber wir gucken natürlich schon mal: okay, wer hat ein bisschen Charisma? Wer hat ein bisschen Ausstrahlung? Wer stellt sich überhaupt dar auf der Fläche? Wer steht immer nur hinterm Pfeiler und möchte nicht gesehen werden? Ab jetzt geht es darum, zu sehen, wir Ihr Euch so präsentiert.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Bei den Sichtungen in den Lateinamerikanischen Tänzen unterscheide ich zwischen acht teils wiederkehrenden Arrangements, auf die ich im Folgenden nacheinander eingehe. Da kaum tanzspezifische Unterschiede bei den Sichtungspraktiken gefunden wurden, beziehen sich die Ausführungen auf Beispiele aus allen fünf Lateinamerikanischen Tänzen, ohne dass diese jeweils explizit benannt
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werden. Wie oben geschrieben, beschreibe ich zunächst die jeweilige Anordnung, bevor ich auf die Techniken des Sehens der Trainer*innen und die damit für sie als wertvoll erachteten und zum Vorschein gebrachten Talentmerkmale eingehe. Zudem thematisiere ich die Spielräume, die sich in den jeweiligen Anordnungen für die Tänzer*innen ergeben, sich als Talente hervorzutun und welche Techniken des Sich-Sichtbarmachens sie anwenden.
3.1 ARRANGEMENT ‚AUFWÄRMEN‘ 1 Die Sichtung in den Lateinamerikanischen Tänzen beginnt mit einer knapp einstündigen Aufwärmeinheit, die zwar nicht im Bewertungsbogen dokumentiert, von den Trainer*innen jedoch bereits für die Bewertung der Tänzer*innen genutzt wird. Hier sehen die Trainer*innen die Bundeskaderanwärter*innen erstmals tanzen. Während des Aufwärmens sollen alle 50 Tänzer*innen gleichzeitig, aber jede*r für sich – also nicht paarweise – alle fünf Lateinamerikanischen Tänze nacheinander tanzen (s. Abb. 4). Abb. 4: Anordnung beim Aufwärmen
Die Musik wird beim Aufwärmen nicht in Originalgeschwindigkeit, sondern um 30 Prozent verlangsamt gespielt, was es den Trainer*innen ermöglicht, die Bewegungsausführungen deutlicher zu sehen. Anders als bei Turnieren und beim Großteil der anderen Aufgaben während der Sichtung erhalten nicht nur die Herren eine Startnummer, sondern auch an den Körpern der Damen wird die gleiche Startnummer wie die ihres jeweiligen Partners gut sichtbar befestigt. Dies er-
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Auszüge aus dem Arrangement wurden bereits in Janetzko (2016) veröffentlicht.
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möglicht es den Trainer*innen Eindrücke von beiden Tanzpartner*innen zu erlangen, obwohl sie beim Aufwärmen separat tanzen. Nach jedem der fünf Tänze gibt es eine kurze Pause, in der die Trainer*innen den Tänzer*innen ein allgemeines Feedback geben und eine Aufgabe für den nächsten Tanz formulieren. Bspw. sollen sich die Tänzer*innen auf die ‚Raumeinnahme‘, ihre ‚Präsentation‘ oder den ‚Armeinsatz‘ konzentrieren. Im Anschluss verteilen sich die Tänzer*innen wieder auf der Tanzfläche und beginnen erneut, jede*r für sich zu tanzen. Da die Tanzfläche mit 50 Tanzenden sehr voll ist, bewegen sich diese zumeist im Uhrzeigersinn rotierend, um möglichst mit niemandem zusammenzustoßen. Die Trainer*innen positionieren sich während des Aufwärmens um die Fläche herum und beobachten das Geschehen. Auf Seiten der Tänzer*innen lassen sich unterschiedliche Techniken des Sich-Sichtbarmachens ausmachen. Einige Tänzer*innen versuchen Blickkontakt zu den (be)wertenden Trainer*innen aufzunehmen, welchen die Trainer*innen jedoch vermeiden. Teilweise versuchen die Tänzer*innen, länger im Blickfeld der Trainer*innen zu verweilen und die Bewegungen in diesem Bereich stärker ‚auszutanzen‘. Andere Tänzer*innen hingegen ziehen einen größeren Abstand zu den Trainer*innen vor und passieren diese schneller. Die Trainer*innen wählen jeweils verschiedene Standpunkte, um die Tänzer*innen zu beobachten. Ein Trainer stellt sich auf einen Stuhl, um auch bei voller Fläche einen Überblick zu erhalten. Nach dem ersten Tanz dreht er die Musik aus und ruft alle Tänzer*innen zu sich: „Ich hab‘ mich eben extra auf einen Stuhl gestellt, ja? Die meisten von Euch haben das gar nicht mitbekommen. Ich hab‘ Euch so beobachtet und Ihr habt gar keinen Raum um Euch herum. […] Ihr seid nur beschäftigt mit den Schritten. Was sollen wir denn jetzt von Euch erwarten? Ihr wollt was verkaufen, ja? Ganz klar! So. Ihr denkt, wenn Ihr ständig auf den Boden guckt-? 80 Prozent von Eurem Tanzen bewegt sich dahin, dass Ihr einmal den Blick nach oben habt und umgekehrt 20 Sekunden auf den Boden. Wo nehmt Ihr den Raum ein? Um zu sehen, wo Ihr steht. breitet die Arme aus Ich stell mich da oben hin und ich sehe nur Gesichter, die so führt die Hand auf Augenhöhe und dann nach unten Ihr müsst den Raum auch wahrnehmen, wo Ihr steht streckt die Arme weit von sich wenn Ihr die Arme ausstreckt, dann ist das Euer Raum. Ihr nehmt das gar nicht wahr,
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lässt die Arme weit ausgestreckt dass der Raum von hier streckt die Arme noch ein Stück weiter aus bis hier ist richtet sich noch weiter auf, stellt sich auf die Zehenspitzen und fasst sich mit einer Hand an den Kopf und bis da streckt die Arme weit auseinander das ist Euer Raum und wenn Ihr das nicht wahrnehmt, habt Ihr ein Problem. Ihr habt alle Talent (--). Deswegen seid Ihr hier. Ich finde, das muss man auch herausfordern.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Aus der Aussage lässt sich schließen, dass der Trainer beim Aufwärmen vor allem die Präsentation bewertet, die sich für ihn in der gegebenen Anordnung durch die „Einnahme von Raum“ mit einem nach vorne gerichteten Blick auszeichnet. Die Beobachterposition des Trainers auf dem Stuhl ermöglicht es ihm, auch bei voller Tanzfläche die Blickrichtungen der Tanzenden zu beobachten. Er gleicht das Gesehene gestisch mit seiner Vorstellung von Raumeinnahme ab, die er während seines Feedbacks anzeigt. Auch die anderen Trainer*innen bestätigen in den videogestützten Interviews die Fokussierung auf die Blickrichtung und Raumorientierung der Tanzenden, so dass sich beim Aufwärmen ein gemeinsamer Sehstil erkennen lässt: „Ja, diese Raumorientierung. Was ich schon sagte, wenn ich selber keinen Raum fühle, also ich nehm‘ – ich hab‘ für mich meinen Raum nicht bestimmt, dann werde ich in diesem Gewühl nicht gesehen […] Viele dümpeln so auf der Stelle herum und geben Dir gar keine räumliche Darstellung. Er (zeigt auf einen Tänzer aus der Aufnahme der Aufwärmeinheit) guckt zum Beispiel immer auf den Boden. Und damit ist für mich schon die Selbstdarstellung sehr eingeschränkt, denn wir sind nun mal in einem Sport, in dem wir uns selbst darstellen müssen.“ (Interviewauszug Trainerin 4) „Also das ist ja erstmal sehr durcheinander. Jetzt geht‘s eigentlich erstmal darum, wer schafft es bei solch einer Unruhe auf der Fläche dann auch die Blicke auf sich zu lenken, weil das ist etwas, was man nachher beim Turniertanzen braucht. Also ich seh‘ zum Beispiel hier den Jungen (zeigt auf den Tänzer, auf den auch Trainerin 4 verwiesen hat), der guckt zum Beispiel die ganze Zeit zum Boden. Ich sag mal so. Von der ganzen Haltung.
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Der ist völlig nach innen gekehrt. Hat überhaupt nicht irgendwie einen Fokus nach außen, wo man eigentlich nur denkt, der ist eigentlich gar nicht richtig da. […] Hinzukommt, inwieweit auch die einzelnen Tänzerinnen und Tänzer eine Raumübersicht schon haben, denn bei dieser Unruhe-. So. Man hat dann so seinen Blickkanal und eigentlich müssten jetzt alle Tänzer an Dir vorbeikommen. Und dann sieht man sofort. Okay. Wer hat ‘ne gute Präsentation. Das sind alles so Dinge, die man, wenn man so zwei drei Takte jemanden beobachtet, relativ schnell wahrnimmt […] Also im Prinzip schauen wir erstmal uns die einzelnen Tänzer an und wir sehen, dass es Mädchen gibt, die gleich auffallen, […] und es gibt natürlich auch Tänzerinnen und Tänzer, die einfach nur so mittanzen. Und die suchen wir natürlich nicht unbedingt. Und so macht man sich erstmal ‘nen Eindruck über alle Tänzer auf der Fläche.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Die Anordnung beim Aufwärmen mit 50 Tänzer*innen erzeugt ein „Gewühl“, welches es den Trainer*innen jedoch erst ermöglicht zu sehen, wem es trotz dieser „Unruhe auf der Fläche“ gelingt, Raum einzunehmen, die Übersicht zu bewahren und in der Masse2 aufzufallen – was beide Trainer*innen mit dem Verweis auf die benötigte Selbstdarstellung beim Turniertanz als wichtiges Merkmal werten. Durch die rotierende Fortbewegung der Tänzer*innen, die ebenfalls dem Arrangement geschuldet ist, können sich die Trainer*innen an einem festen Standpunkt positionieren, den alle Tänzer*innen nacheinander passieren. Damit wird das Sehen der als relevant gewerteten Merkmale durch die Anordnung begünstigt. Die Bedeutsamkeit der rotierenden Fortbewegung für das Sehen der Merkmale als auch die implizite Anforderung an die Tänzer*innen sich in die rotierende Masse einzufügen, wird in der folgenden Szene deutlich, in der drei Tänzer die fünf Minuten durchgehend frontal vor der Spiegelwand verweilen und sich selbst beim Tanzen betrachten. Die anderen Tänzer*innen müssen dadurch um sie herum tanzen und die gesamte Rotation gerät ins Stocken. Noch während des Tanzes versuchen zwei Trainer*innen, die Spiegelwand zu verhängen. Bei der anschließenden Ansage des Bundestrainers wird das Verhalten dieser drei Tänzer vor allen anderen Tänzer*innen kritisiert. Der Trainer weist darauf hin, dass sich die Tänzer*innen auf ihre Außendarstellung konzentrieren und nicht „selbstbezogen“ agieren sollen. Während der Spiegel in späteren Übungseinheiten explizit als Feedbackmöglichkeit thematisiert wird, ist seine Einbindung 2
Gemeint ist hierunter „eine konkrete, begrenzte und überschaubare Ansammlung von Menschen in gemeinsamer Aktion“ (Hillmann 1994: 527). Da die Tänzer*innen nicht ein Ziel gemeinsam verfolgen, sondern in Konkurrenz zueinander stehen und von den Trainer*innen auch gesetzt werden, erscheinen mir alternative Begrifflichkeiten wie „Kollektiv“ oder „Gruppe“ unpassend.
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beim Aufwärmen von den Trainer*innen nicht gewünscht. Die öffentliche Kritik nach Kriterien, die vorab nicht expliziert wurden, verdeutlicht die implizite Normativität der Bewertungspraxis beim Aufwärmen. Es heben sich diejenigen Tänzer*innen beim Aufwärmen positiv hervor, die sich ohne Explizierung in die Sichtungspraxis als kompetente Mitspieler*innen einfügen. Wie das Beispiel zeigt, beinhaltet die Mitspielfähigkeit ein Wissen über Positionierungen und den situationsspezifischen Einbezug von Artefakten. Weichen die Tänzer*innen von dieser impliziten Normativität ab, greifen die Trainer*innen nachjustierend und kritisierend ein. Damit gewähren sie den Tänzer*innen auch Einblicke in ihre (Be)Wertungslogik. Auch die kritisierten Tänzer können ihre Bewertung positiv beeinflussen, indem sie die Kritik für die Trainer*innen sichtbar – verbal oder durch Verlegenheitsgesten – annehmen und sich im Folgenden an den gewünschten Vollzugsformen orientieren. Eine Besonderheit beim Aufwärmen ist, dass die Trainer*innen nicht Paare, sondern die einzelnen Tänzer*innen beobachten. Die Verteilung einer Startnummer an beide Partner*innen ist ein Moment dieser Individualisierung. Sie gewährleistet eine Einzelbewertung. So können die Trainer*innen die Leistungen der Damen und Herren auch innerhalb eines Paares vergleichen, was sie den Tänzer*innen auch zurückmelden, ohne ihre konkreten Eindrücke weiterzugeben. Während die Bundeskaderanwärter*innen weiter tanzen, tauschen sich die Trainer*innen kurz aus und kommen zu der Einschätzung, dass die Damen schlechter performen als die Männer. Dies führen die Trainer*innen auf die Logik der Tanzpraxis zurück, bei der die Damen für gewöhnlich bei vielen Tanzschritten von den Herren geführt werden. Im Folgenden adressiert der Bundestrainer allein die Damen und macht in seiner Aussage deutlich, nach welchen Kriterien er ihre Performance bewertet: „Ihr Damen, Ihr müsst in der heutigen Zeit eine unheimliche Geschwindigkeit entwickeln können. Ihr sollt nicht durchgehend schnell sein. Ich möchte eigentlich nachher, dass Ihr eher langsamer werdet. In vielen Positionen länger auf dem Fuß bleibt und dann schneller in den kurzen Sequenzen und dann wieder viel Zeit habt, weil das ist eigentlich das, was die Top-Damen machen. Die sind super schnell und dann stehen sie wieder auf dem Fuß, lassen sich Zeit, atmen, breathing action. All das. Stretch, alles passiert und dann explodieren die wieder. Und das braucht Ihr. Und das sieht noch ein bisschen träge aus.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Der Trainer fokussiert bei den Damen vor allem die Geschwindigkeit der Beinund Fußarbeit. Diese ist für die Trainer*innen jedoch nicht nur in Bezug auf die Geschwindigkeit von Bedeutung:
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„Die Beine sollten gestreckt sein und wenn der Fuß schön steht. Da (zeigt auf die Beine einer Tänzerin), da kannst du das sehen. Siehst du hier? (Zeigt auf die Beine einer anderen Tänzerin, die in der Bewegung nicht ganz gestreckt werden), ist auch niemals. Das ist von den Beinen niemals zum Endpunkt.“ (Interviewauszug Trainerin 4)
Die Verlangsamung der Musik vereinfacht für die Trainer*innen die Bewertung der Bein- und Fußarbeit, bei der die Bewegung laut den Trainer*innen bis „zum Endpunkt“ erfolgen soll und die Tänzer*innen „auf dem Fuß“ bleiben sollen. Neben der Technik der Bein- und Fußarbeit thematisiert der Trainer in seinem Feedback an die Damen auch die Performance als Paar. Auch bei ihrer Soloperformance müssen die Tänzer*innen den Unterschied zwischen den Parts, in denen sie in der Choreographie alleine oder mit dem Partner tanzen, für die Trainer*innen sichtbar und damit die Orientierung am Paartanz erkennbar machen. Damit bewerten die Trainer*innen die Performance im Hinblick auf den imaginierten Paarkörper aus Dame und Herr. Das sogenannte Partnering – die Verbindung im Paar und das Tanzen miteinander – sehen die Trainer*innen vor allem an der Handhaltung. So hebt ein Trainer eine Tänzerin positiv hervor, bei der die Hand „konstant ruhig war, weil der Partner dort sein sollte. […] Man sieht an der freien Hand immer, wo der Partner tanzt, das erwarte ich von Euch“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll). Somit dient die Hand als einzelnes Körperteil als Indiz für das zu bewertende Merkmal Partnering. Fazit Arrangement 1: Das Sichtbarmachen der individuellen Leistung und Auffälligkeit Das sozio-materielle Arrangement des Aufwärmens ermöglicht den Tainer*innen zwei unterschiedliche Fokussierungen: Nach einem ersten ‚Scannen‘ der Masse richtet sich ihr Blick auf einzelne Tänzer*innen. Es werden neben der „Auffälligkeit“ der ‚ganzen’ Person einzelne Körperteile betrachtet. Hierbei verändern die Trainer*innen nach Bedarf die Sichthöhe, um das jeweils anvisierte Merkmal – wie die Blickrichtung oder die Fußarbeit – besser bewerten zu können. Die Musik ist dabei ein bedeutsamer Mitspieler: Die verlangsamte Abspielgeschwindigkeit erleichtert den Trainer*innen die Beobachtung der technischen Ausführung. Meine Beobachtungen zeigen, dass die Trainer*innen große Überschneidungen bezüglich der angewandten Techniken des Sich-Sichtbarmachens und der Wertung von Merkmalen als Indizien für Talent aufweisen. Zwar steht für die Trainer*innen in dieser Anordnung die individuelle Leistung im Vordergrund, jedoch verschaffen sich die Trainer*innen zusätzlich einen ersten Eindruck vom Partnering, indem sie die Partner*innen imaginär zusammenführen.
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Die Vergabe identischer Startnummern an beide Partner*innen erleichtert diese Imagination. Anhand der skizzierten Aufwärmsequenz zeichnen sich zudem unterschiedliche Positionierungsrechte bzw. ‚territoriale Ansprüche‘ (vgl. Goffman 1974: 62f.)3 von Trainer*innen und Tänzer*innen in dem sozio-materiellen Arrangement ab. Durch die rotierende Fortbewegung der Tanzenden ist es den Trainer*innen möglich, eine feste Beobachtungsposition einzunehmen und die Masse im Hinblick auf ‚herausstechende‘ Tänzer*innen zu ‚scannen‘. Abweichungen thematisieren und sanktionieren sie entsprechend vor den gesamten Tänzer*innen. Während die Trainer*innen also ihre Position anpassen können, erwarten sie von den Tänzer*innen ein Einfügen in die rotierende Masse und eine Fokussierung auf die Präsentation. Mitspielfähigkeit zeichnet sich in der Aufwärmeinheit dadurch aus, dass nicht nur ein technisches Können – wie bspw. Fußarbeit – sondern auch ein Gespür für Positionierungsrechte und den Umgang mit Artefakten demonstriert wird. Die Tänzer*innen müssen sich demnach in die implizite Ordnung einfügen und gleichzeitig in dieser positiv aus der Masse herausstechen. Hierfür wenden sie unterschiedliche Techniken an: einige versuchen, in der rotierenden Fortbewegung länger im Blickfeld der Trainer*innen zu verweilen, in diesem Bereich die Bewegungen extremer ‚auszutanzen‘ und dabei den Blickkontakt zu suchen. Andere wiederum scheinen sich eher auf sich zu konzentrieren und dabei die Nähe zu den Trainer*innen sogar zu meiden. Die Positionierungen der beiden Teilnehmer*innengruppen beeinflussen sich demnach gegenseitig. Das Arrangement ist so eingerichtet, dass es bestimmte Positionierungskonstellationen von Tänzer*innen und Trainer*innen nahelegt. Bereits in dieser ersten Anordnung nehmen die Trainer*innen (Be)Wertungen basierend auf ihren Beobachtungen vor, die zwar nicht im Bewertungsbogen festgehalten werden, jedoch als erster Eindruck von den Tänzer*innen dienen. Über das Feedback nach jedem Tanz erhalten die Tänzer*innen wiederum nach und nach Auskunft darüber, welche Techniken des Sich-Sichtbarmachens von den Trainer*innen positiv bzw. negativ gewertet werden und damit darüber, was „eine adäquate Vollzugsform der Praktik“ (Alkemeyer 2013: 58) ist. Selbst bei abweichendem Verhalten können die Tänzer*innen durch eine sichtbare Annahme der geäußerten Kritik – in dem skizzierten Fall verbal oder durch Verlegenheitsgesten – ihre Bewertung positiv 3
Goffman (1974: 62f.) spricht vom „Territorium unmittelbar um oder vor einem Individuum, auf das es einen aufgrund offenbar instrumenteller Erfordernisse von den anderen anerkannten Anspruch hat.“ So erheben bspw. Turner*innen Anspruch auf die Strecke zum Sprungpferd und Museumsbesucher*innen können erwarten, dass niemand sich beim Betrachten von Kunstwerken zwischen sie und das Kunstwerk stellt.
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beeinflussen. Demnach treten die Tänzer*innen nicht als passive Objekte in Erscheinung, sondern werden zu beobachteten Subjekten, denen in dem Arrangement ein bestimmter Spielraum zum Sichtbarwerden zur Verfügung steht, der von den einzelnen Tänzer*innen unterschiedlich genutzt wird.
3.2 ARRANGEMENT ‚PAARVORSTELLUNG‘ Bevor sich die Trainer*innen einen tiefergehenden Eindruck von den tänzerischen Qualitäten der Bundeskaderanwärter*innen verschaffen, sollen sich alle Paare der Jury nacheinander vorstellen. Hierfür schicken die Trainer*innen alle Tänzer*innen aus dem Saal und bitten sie nacheinander paarweise herein. Das Trainer*innenteam nimmt an der Tischreihe Platz. Für die Paare markiert der Bundestrainer mit Klebeband eine Stelle in ca. 4 Meter Entfernung, auf der sie sich positionieren sollen (s. Abb. 5). Abb. 5: Paarvorstellung
Der Bundestrainer bittet alle Paare, sich einzeln mit Namen und Alter vorzustellen, den jeweiligen Tanzverein zu benennen und die nächsten tänzerischen Ziele auszuführen. Die Aufgabe fällt den Paaren unterschiedlich leicht. Einige Paare präsentieren sich selbstbewusst und können sofort konkrete Ziele aufzählen. Andere Paare haben schon bei der Vorstellung Probleme: sie sind sich uneinig, wer von beiden beginnen soll, oder vergessen auf eine der gestellten Fragen zu antworten. Ohne Rückmeldung löst der Bundestrainer die Anordnung im Anschluss an die Präsentationen auf und geht zur nächsten Aufgabe über, weswegen die videogestützten Interviews für die Analyse des Sehstils der Trainer*innen von besonderem Wert waren. Im Folgenden gehe ich auf zwei Beispiele konkreter ein,
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um den Trainer*innenblick und die Techniken der Tänzer*innen, sich hervorzuheben, zu analysieren. Das Paar Nummer 84 betritt den Tanzsaal. Die beiden positionieren sich zunächst ohne Körperkontakt nebeneinander auf der Markierung. Sie (8w) steht gerade mit geschlossenen Beinen und ineinander gefalteten Händen, er (8m) wippt unruhig auf der Stelle. Der Oberkörper ist leicht nach vorne gebeugt und die Hände sind hinter dem Rücken verschränkt (s. Abb. 6a)
Abb. 6a-c: Vorstellung Paar Nr.8
Bundestrainer (BT): „Guten Tag, könnt Ihr Euch mal einzeln bitte vorstellen, Name, Alter, welcher Club, für welchen Landesverband Ihr tanzt?“ 8w: „Ich bin Elisabeth, bin 16 Jahre alt und ich tanze für den Landesverband [anonymisiert] im Club [anonymisiert].“ Sie fasst sich mit der rechten Hand ans Brustbein, schaut zu 8m, schließt die Hände wieder gerade runterhängend 8m: er schaut zu ihr, fasst sich an den Hals, schaut wieder nach vorne (s. Abb. 6b) 8m: „Mein Name ist Gregor, ich bin auch 16 und wir tanzen wie gesagt in [anonymisiert].“ wippt auf der Stelle mit rundem Rücken hin und her, schaut kurz zu ihr und wieder nach vorne 8m: Der Tänzer macht zwei kleine Schritte auf der Stelle, öffnet die Arme und legt eine Hand auf den unteren Rücken seiner Partnerin, fasst sich mit der linken Hand an seine Halskette (s. Abb. 6c)
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Die Namen wie Nummerierungen wurden zum Zwecke der Anonymisierung verändert.
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BT: „Was ist Euer nächstes großes Ziel?“ 8m: „Unsere Ziele sind auf jeden Fall, dass wir eine gute tänzerische Partnerschaft führen, fasst sich an die Halskette, schaut zu ihr, lässt den linken Arm hängen und führt ihn hinter den Körper 8m: dass wir uns im Training nicht die ganze Zeit streiten, (-) dass wir zusammenbleiben beugt den Oberkörper leicht vor und zurück, führt den linken Arm federnd nach vorne und wippt zweimal mit dem Arm 8m: und wir möchten auf jeden Fall in den nächsten Jahren bei der Deutschen Meisterschaft kratzt sich am Hals mit der linken Hand 8m: versuchen den Ersten zu machen, lässt den linken Arm wieder an der Seite hängen 8m: dann auf der Welt- und Europameisterschaft unsere bestmögliche Leistung zu bringen.“ schaut kurz zu ihr und wieder nach vorne BT: „Gut (--).“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
In den videogestützten Interviews mit den Trainer*innen ist es auffällig, dass alle Trainer*innen zunächst die Körperhaltungen der beiden Tänzer*innen thematisieren und den Tänzer negativ bewerten aufgrund seiner krummen, leicht vorgebeugten Haltung, der mangelnden Körperspannung, den umherwandernden Blick und den zahlreichen kleinen Bewegungen mit Armen und Beinen: „Der runde Rücken, Kopf nach vorne, die Formspannung im Körper ist nicht da und wenn er dann spricht, ist er unsicher, über das, was er machen muss.“ (Trainer 2) Die Tänzerin hingegen nehmen die Trainer*innen als selbstbewusst und „gesettelt“ (Trainerin 4) wahr, aufgrund der „stabilen“ Körperhaltung. Basierend auf dieser kurzen Sequenz bewerten sie die Tänzer*in als die besser organisierte und „stärkere im Paar, die besser weiß, was sie will“ (Trainerin 4). Neben der separaten Bewertung der beiden, gehen die Trainer*innen auch auf die Erscheinung der Tänzer*innen als Paar ein. In der kurzen Vorstellung nehmen die Trainer*innen die beiden nicht als „Einheit“ wahr, da sie „solitär“ nebeneinander agieren würden und werten dies negativ. Erst im nächsten Schritt gehen die Trainer*innen auf die formulierte Zielsetzung ein und bewerten diese unabhängig voneinander ebenfalls alle negativ. „Zusammenbleiben ist doch keine Zielsetzung“, sondern „selbstverständlich“ (Trainer 1). Zudem sei die Teilnahme an der Weltmeisterschaft für die Altersgruppe keine realistische Zielsetzung, sondern „anmaßend“ (Trainer*innen 3 und 4). Auch wirke die Zielsetzung wie „auswendig gelernt
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und nicht authentisch“ (Trainer 2). Hierzu im Kontrast steht die Bewertung des folgenden Paares: Abb. 7a-c: Vorstellung Paar Nr. 4
Bundestrainer (BT): „Könnt Ihr Euch eben vorstellen, beide einzeln: Name, Alter, wo Ihr wohnt, welche Klasse Ihr tanzt.“ Paar 4 stellt sich auf die Markierung, beide stehen grade, sie verschränkt die Hände vor dem Körper, er legt seinen rechten Arm um sie, mit dem anderen Arm fährt er sich am Rücken und an der Seite lang, während der rechte Arm um sie gelegt bleibt 4m: „Ähm ich bin Pablo und ich komme aus [anonymisiert].“ legt die linke Hand zunächst auf seine Brust (s. Abb. 7a) und dann auf seinen Rücken […] 4w: „So ich heiß´ Natalie bin auch 17 Jahre alt, komme auch aus [anonymisiert] 4m: blickt zu ihr (s. Abb. 7b) 4w: und wir tanzen in der Hauptgruppe A (-) ja.“ schaut kurz zu ihm und wieder nach vorne lacht leise schaut kurz zu ihr (s. Abb. 7c)
4m:
BT: „Okay und was ist Euer nächstes Ziel? Für Euer Tanzen?“ 4m: „Unser nächstes Ziel für unser Tanzen ist an dem [Name Turnier] teilzunehmen und dort in die Endrunde zu kommen.“ 4w: nickt
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BT: „Okay (--) in den Kader zu kommen.“ 4m: „Ja und in den Kader zu kommen.“ BT: „Das ist das wichtigste Ziel. (lächelt) (--) Gut.“ (Auszug aus dem vom Beobachtungsprotokoll)
Anders als im ersten Beispiel bewerten die Trainer*innen die beiden als Paar. Durch den konstanten Körperkontakt, seinen um sie gelegten Arm wie auch seinen auf ihr ruhenden Blick und die kurzen Blickkontakte zwischen den beiden nehmen die Trainer*innen sie als Einheit wahr: „Die beiden treten auch als Paar auf“ (Trainer 3). „Die demonstrieren, dass sie eine Einheit sind“ (Trainerin 4). D.h., die Trainer*innen schließen erneut anhand der kurzen Vorstellung auf das Paarverhältnis und die Rollenverteilung. Während die Trainer*innen die Tänzerin als schüchtern und unsicher wahrnehmen, sehen sie den Tänzer als den dominanten Part im Paar an, der sich um seine Partnerin kümmere. So interpretierenden sie bspw. den um die Tänzerin gelegten Arm als „beschützende Haltung“ und „Hilfestellung“ für die Partnerin (Trainer 3). Die genannte Zielsetzung wird nicht als optimal, jedoch als ‚authentisch‘ und „nicht auswendig gelernt“ (Trainer 3) aufgefasst, was die Trainer*innen positiv bewerten. Zwar benennt auch das Paar nicht die vom Bundestrainer gewünschte Zielsetzung, zunächst in den Kader zu kommen, jedoch ergänzt der Bundestrainer das Ziel lächelnd, ohne es negativ dem Paar gegenüber oder auch im videogestützten Interview zu thematisieren. Auch diese Aufgabe spiegelt sich – wie das Aufwärmen – nicht im Bewertungsbogen wider, wird jedoch von den Trainer*innen als wichtiger Eindruck für die Bewertung angesehen. Nachdem die Tänzer*innen zunächst beim Aufwärmen in der Masse beobachtet wurden, bietet das zweite sozio-materielle Arrangement den Trainer*innen die Möglichkeit, sich einen Eindruck von den einzelnen Paaren zu verschaffen. Ähnlich wie in einem Vorstellungsgespräch gäbe es „keine zweite Chance für einen ersten Eindruck“ (Trainerin 4).
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Fazit Arrangement 2: Bewertung der Zielperspektive und Rollenverteilung im Paar Im zweiten sozio-materiellen Arrangement ist eine feste Positionierung für Trainer*innen und das sich jeweils vorstellende Paar in den zumeist einminütigen Gesprächen vorgesehen. Anders als in allen anderen Arrangements stellen die Trainer*innen die Tänzer*innen vor die Aufgabe, sich in erster Linie verbal zu präsentieren, wobei die Interviews zeigen, dass die Trainer*innen für die Bewertung der Paare nicht nur die Aussagen, sondern vor allem die begleitende Gestik und Positionierung der Paare zueinander betrachten und anhand dieser auf die Rollenverteilung im Paar und ihre Beziehung schließen. Anhand der genannten Zielsetzungen versuchen die Trainer*innen sich einen Eindruck von den langfristigen Zielperspektiven des Paares zu verschaffen. Wie die Beispiele zeigen, reicht es den Trainer*innen jedoch nicht aus, weit in der Zukunft liegende Ziele wie bspw. die Teilnahme an Weltmeisterschaften zu benennen. Stattdessen verweisen die Trainer*innen immer wieder auf eine gewünschte ‚Authentizität‘ (s.u.) bei den Antworten. Beides – die Bedeutsamkeit der Zielperspektive und eine geklärte Rollenverteilung – sehen die Trainer*innen als Voraussetzung für einen langfristigen Erfolg beim Tanzen an: „jemand ohne Ziele und Struktur trainiert anders. […] Paare, die keinen Plan haben, was sie machen wollen, haben auch keinen Plan für den Sport“ (Trainer 2). Die Anforderung der Trainer*innen an die Paare, sich verbal zu präsentieren, führt bei vielen Paaren zu Verunsicherung, welche sich körperlich bemerkbar macht: Einige der Tänzer*innen wippen nervös auf der Stelle, führen kleine Bewegungen aus oder verlieren ihre aufrechte Körperhaltung. Die Trainer*innen führen die Verunsicherung auf die ungewohnte Aufgabenstellung zurück: „das sind die nicht gewöhnt. Sie sind nur gewöhnt mit ihren Tänzen Ausdruck zu machen. […] Wenn die auf die Fläche gehen, brauchen die nicht zu sprechen. Viele haben mit dem Sprechen Probleme, weil sie mit dem KÖRPER sprechen“ (Trainerin 4). Die Fokussierung auf die Körper begründen die Trainer*innen zum einen damit, dass einige Paare vermeintlich gewünschte Antworten auswendig lernen würden, ohne diese „authentisch rüber zu bringen“ (Trainerin 4). Anhand der die Aussagen begleitenden Gestik ließe sich die ‚Authentizität‘ der Aussagen überprüfen, wobei die Trainer*innen mir gegenüber nicht explizieren können, was genau sie als authentisch ansehen. Vielmehr beruhe die subjektive Bewertung dieser auf einem impliziten Gespür. Zum anderen ist es aber auch für die Trainer*innen ungewohnt, anhand von verbalen Aussagen Bewertungen vorzunehmen. Der eingeschliffene, auf jahrelangen Erfahrungen basierende Blick, der nur die körperliche Performance (be)wertet, scheint eine davon abweichende
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Fokussierung zu erschweren. Auffällig ist zudem, dass die Trainer*innen, die alle jahrzehntelang selbst als Tänzer*innen aktiv waren, in den videogestützten Interviews immer wieder in eine vergemeinschaftende Wir-Form fallen, wenn sie die Ansprüche an die Tänzer*innen thematisieren: „wir müssen nicht verbal was rüber bringen, wir müssen‘s nonverbal rüberbringen“ (Trainerin 4). Daraus lässt sich schließen, dass auch die körperliche Disponiertheit (vgl. Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 37) der Trainer*innen, ihren Fokus auf die Körper lenkt. Des Weiteren legt auch die räumliche Anordnung der Teilnehmenden eine Beobachtung der körperlichen Aufführung nahe: Der vorgegebene Abstand zwischen Trainer*innen und dem sich jeweils vorstellenden Paar, entspricht der Distanz, die von den Trainer*innen in anderen Arrangements als idealer Abstand zur Sichtbarmachung der Paare als Einheit benannt wird (vgl. Arr. 3). Die Trainer*innen bewerten anhand der Gestik nicht nur die ‚Authentizität‘ der gegebenen Antworten, sondern auch das Paarverhältnis und inwiefern die Paare den Trainer*innen als Individuen oder als Einheit erscheinen. Hierfür betrachten sie die Positionierung der beiden Körper wie auch den Blickkontakt der Paare zueinander. Aus der Tatsache, dass nicht einzelne Tänzer*innen, sondern Paare in den Kader nominiert werden, lässt sich die Bedeutsamkeit des Kriteriums begründen. Die gewonnenen Eindrücke über das Paarverhältnis vertiefen die sichtenden Trainer*innen in den anderen Arrangements und erhöhen den Anspruch an diese (vgl. Arr. 3; 5; 6; 7). Für die Paare ist der Spielraum, sich hervorzutun, in diesem soziomateriellen Arrangement stark eingeschränkt. Durch die strikte Vorgabe der Positionierung werden die Körper, im Vergleich zu den anderen Anordnungen, ruhig gestellt. Allein durch die körperliche Darstellung als Paar und eine ‚authentische‘ Beantwortung der Fragen können sich die Tänzer*innen positiv hervortun, wobei der Bundestrainer kaum Hinweise gibt, worauf die Trainer*innen achten. So scheint der Fokus auf dem Gesprochenen zu liegen, welches – wie oben beschrieben – jedoch durch Gestik und eine in den Trainer*innenaugen adäquate Positionierung zueinander beglaubigt werden muss.
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3.3 ARRANGEMENT ‚BEWERTUNGEN IM DIREKTEN VERGLEICH‘ 5 Den Schwerpunkt der Sichtung bilden Bewertungsrunden, in denen drei bis fünf Paare gleichzeitig vor der Jury und den anderen Tänzer*innen zu Musik einstudierte Choreographien präsentieren (s. Abb. 8). Abb. 8: Anordnung bei Bewertungen im direkten Vergleich
Hierfür ruft der Bundestrainer die Paare auf die Tanzfläche, auf der sie ihre Startposition selbst bestimmen können. Aufgabe der tanzenden Paare ist es, ihre im Vorfeld einstudierten Choreographien der Jury zu präsentieren. Die Trainer*innen verteilen sich über die Ränder der Tanzfläche und verändern ihre Position gelegentlich. Bei diesen Runden tragen sie für jedes Paar zwischen null und fünf Punkte in den Bewertungsbogen ein, der am Ende der Sichtung ausgewertet wird (vgl. 3.9). Nach anderthalb Minuten stellt ein Trainer die Musik aus, die Paare verlassen die Tanzfläche und der Bundestrainer ruft die nächsten drei bis vier Paare auf die Fläche. Der Rest der Tänzer*innen verteilt sich am Rand und schaut den tanzenden Paaren schweigend zu. Das Arrangement spiegelt die Anordnung bei Turnieren wider und ist damit eine gewohnte Aufgabe für die Paare und sichtenden Trainer*innen, die alle auch als Wertungsrichter*innen fungieren. Das Arrangement lässt sich bei drei verschiedenen Aufgabenstellungen wiederfinden. In ihm werden erstens die sogenannten Basic-Tänze präsentiert. Diese dürfen nur die Grundschritte des jeweiligen Tanzes beinhalten und sollen in einer entsprechenden Choreographie vorgeführt werden. Die zweite Aufgabenstellung ist die Präsentation der komplexeren Choreographien, die auch bei Turnie5
Auszüge aus dem Arrangement wurden bereits in Janetzko (2016) veröffentlicht.
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ren getanzt werden. Die vorgeführten Tänze in den sogenannten Basic- und Choreo-Endrunden werden von den Paaren vor der Sichtung mit dem*r jeweiligen Heimtrainer*in einstudiert. Die Endrunden erfolgen bereits am ersten Tag der Sichtung als erste offizielle Bewertungsrunden. Im letzten beobachteten Jahr kam eine dritte Aufgabenstellung hinzu, für die dieselbe Anordnung gewählt wurde: Eine während der Sichtung mit dem Bundestrainer eingeübte Schrittfolge wird von drei Paaren im unmittelbaren Vergleich vorgetanzt. Der Bundestrainer zählt die Paare so ein, dass alle gleichzeitig starten und die identische Schrittfolge mehrmals hintereinander gleichzeitig tanzen (s. Abb. 9). Durch das Einzählen und die identische Schrittfolge wird die Vergleichbarkeit der Paare vereinfacht. Abb. 9: Paare im unmittelbaren Vergleich
Die Paare erhalten in diesem Arrangement erst nachdem alle Paare getanzt haben ein allgemeines Feedback. Auch mit mir als Beobachterin wird während dieser Bewertungsrunden kaum kommuniziert, da die zeitliche Taktung sehr eng ist. Daher waren zum Verstehen des Sehstils der Trainer*innen die videogestützten Interviews besonders hilfreich. Im Vergleich zum ersten Arrangement ist die Anzahl der gleichzeitig zu bewertenden Tänzer*innen stark reduziert. Dies ermöglicht den Trainer*innen einen detaillierten Blick auf die Tanzenden. Die Anordnung zu Paaren lässt zusätzliche Eindrücke über bereits thematisierte Merkmale zu. Wie beim Aufwärmen fokussieren die Trainer*innen die Fußarbeit. Um diese auf Augenhöhe genau beobachten zu können, zieht eine Trainerin die Position in der Hocke vor. Anders als beim Aufwärmen stehen nicht nur die Geschwindigkeit und die individuelle Fußtechnik, sondern auch die Synchronizität der Fußarbeit im Paar im Vordergrund:
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„Die sind unterschiedlich in den Fußtimings. Das ist dann nichts. […] Ohne Füße krieg ich auch keine Verbindung im Körper. Das unten ist aber für mich die Basis. Ist auch ein Beispiel, was ich immer wieder bringe: ich gehe jetzt gleich mal raus zu Deinem Auto und dann schraub ich Dir ein Rad ab und dann kannst Du mal gucken, wie Du nach Hause kommst mit Deiner hübschen Karosserie. Dann hast Du vielleicht ‘nen tollen Motor da drin und ‘ne tolle Karosserie aber Du kommst nicht weit. Also ohne die Räder funktioniert in meinen Augen das oben nicht. Ist meine Philosophie. Wenn da unten schon nichts stimmt, dann brauch ich auch nicht mehr viel weiterzumachen.“ (Interviewauszug Trainerin 4)
An dieser Aussage lässt sich eine Blickfolge und eine Hierarchie der Bewertungskriterien erkennen: Die Fußarbeit zeigt sich als wichtigstes Merkmal; wird das Kriterium nicht erfüllt, kann dies bereits zum Ausschluss des Paares führen. Laut der Trainerin baut sich über die Fußarbeit die Verbindung beider Körper auf. Die Fußarbeit dient den Trainer*innen zusätzlich als sichtbarer Indikator für die Führungsqualitäten der Herren und das Führungsverständnis der Damen. Ein Grund, warum die Herren besser seien als die Damen, sei ein falsches Verständnis von Führung: „Führung ist nicht Führung. Führung ist lenken. Lenken bedeutet, dass etwas in Bewegung ist und dann umgelenkt wird. Führung wird im Tanzen so verstanden: der Mann führt und die Dame wartet. Und das ist für mich ‘ne Katastrophe. Deswegen werden die Mädchen auch nicht besser, weil die Information, die sie bekommen ist: Du musst warten bis der Herr führt. Und die Information ist falsch. […] Und das siehst Du hier an der Fußarbeit.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Die Damen stehen zwar in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Partner, da dieser alle Schritte einleite, jedoch müssten sie die Bereitschaft vermitteln, sich gleichsam aktiv lenken zu lassen, anstatt passiv auf die Führung zu warten. Die Trainer*innen lesen6 dies zum einen an der Schnelligkeit und Synchronizität der Füße ab, zum anderen an der Handhaltung – diesmal im Paar: „Also die Lockerheit der Hand. Hier siehst Du (zeigt auf ein Paar im Video), es ist nicht ein Arm der lebt, der fließend ist in der Bewegung. Dass Du merkst, die Balancelinien arbeiten zueinander und voneinander weg. Aber jeder balanciert sich selber und die Verbin6
In Anlehnung an eine Formulierung von Schindler (2011b: 345) wird davon ausgegangen, dass Trainer*innen die Körper der Tänzer*innen im Hinblick auf Merkmale ‚lesen‘ können, ohne dass die Tanzenden genau wissen, was ihre Körper den Trainer*innen zu erkennen geben (vgl. auch Alkemeyer/Michaeler 2013: 228).
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dung ist über die Hände. Entspann‘ ich den Arm, entspannt sich der Rücken. Meine Balanceebene wird dann anders. Balance ist ein Loslassen, ist ein nicht festhalten. So. Und das ist die Schwierigkeit, die die Mädchen auch haben. Sie können nicht loslassen, weil sie einfach festgehalten werden.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Der Trainer achtet also auf die Hände des Paares, die den Körperkontakt herstellen. Vor allem die Handführung der Herren sei aufschlussreich. Dieses Merkmal kann laut den Trainer*innen unterschiedliche Ausprägungen aufweisen: Hände können fest sein, was sie negativ werten, oder locker, so dass die Hände der beiden Tanzenden „sich nur berühren“, was ein gutes Partnering ermögliche (vgl. Arr. 4). Während beim Aufwärmen, die Trainer*innen anhand einer ruhigen Handhaltung der Tänzerinnen die Verbindung zu einem imaginierten Partner ablesen, schließen sie bei der Paarperformance von der Lockerheit der verbindenden Hände auf die Qualität des Partnering. Erst jetzt wird für die Trainer*innen sichtbar, ob sich der bei der Solo-Performance des Aufwärmens gewonnene Eindruck auch beim Tanzen im Paar bestätigt: „[…] aber dann [beim Tanzen als Paar] sieht man sofort aha das liegt schon daran, dass das zu fest ist oder sie zu viel Kraft braucht oder er zu viel Kraft zum Führen. Und das beeinträchtigt dann natürlich auch von der Muskulatur dann den eigenen Körper und dann bricht das ganze Bewegungsbild auf einmal zusammen.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Die Trainer*innen konkretisieren in diesem Arrangement auch ihre Ansprüche an die Ausrichtung des Blickes beim Tanzen. Dieser soll sich nach Möglichkeit auf die Partnerin bzw. den Partner richten: „Der guckt zum Beispiel seine Partnerin nie an. Der guckt ganz woanders hin. Das heißt Partneringskills gleich Null“ (Trainer 3). Diese Einschätzung teilen auch die anderen Trainer*innen (4): „Sie guckt wenigstens ab und zu noch zu ihm, aber selbst wenn er in ihre Richtung schaut, guckt er sie nicht an. Also er ist ein Selbstdarsteller par excellence und ihm ist es völlig egal, wer da mit ihm tanzt. Also das ist für mich kein Partnering.“ Wie bei der Paarvorstellung schließen die Trainer*innen anhand des Blickkontakts der Paare auf die Qualität des Partnering. Im geschilderten Beispiel geht die Einschätzung sogar so weit, dass der mangelnde Blickkontakt des Herren mit seiner Partnerin als Zeichen für seine Gleichgültigkeit ihr gegenüber gedeutet und entsprechend bewertet wird. Vor dem Hintergrund der Frage, welche Techniken des Sehens die Trainer*innen zur Bewertung von Talent einsetzen und welche Merkmale sie als relevant erachten, ist auffällig, dass die Trainer*innen bei den Paaren nacheinander
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einzelne Körperpartien fokussieren. Hierfür verändern sie zwischenzeitlich ihre Position im Raum und variieren erneut ihre Sichthöhe. Anders als beim Aufwärmen geht es ihnen jedoch nicht mehr um die Bewertung der einzelnen Tänzer*innen, sondern um die jeweiligen Paarkörper.7 An das zweite Arrangement anschließend, erwarten die Trainer*innen eine Präsentation des Paares als Einheit. Von beobachtbaren Details wie der Synchronizität der Fußarbeit, der Handhaltung im Paar und der Blickrichtung der Tanzenden schließen die Trainer*innen auf ein übergeordnetes Talentmerkmal: das Partnering. Die individuellen Körper müssen für die Trainer*innen auf der Folie dieser Details als Paarkörper in Erscheinung treten: „Im Topbereich verschmilzt der Körper zu einer Einheit. Ein Körper. Das ist ganz wichtig und das sieht man auch“ (Trainer 2). Zur Sichtbarmachung dieses Paarkörpers bedarf es einer spezifischen räumlichen Anordnung der Teilnehmer*innen: „Also ich sag immer so 4-5 Meter, weil man ein Paar dann besser sieht. Das ist eigentlich so der ideale Abstand, ansonsten wird es manchmal zu weit weg sein. Wobei dann sieht man natürlich schön die Silhouette, wenn ich jetzt ein Paar von weiter weg sehe, kann ich sehr schön sehen, wie die Beinlinien sind, wie auch das Partnering läuft, also wie die Verbindungen im Paar laufen. Ist ein Paar näher, kann man natürlich besser die Bewegungsabläufe kontrollieren. Nur wenn ein Paar zu eng ist, dann krieg ich im Prinzip nur einen Körper. Wenn ich jetzt aber ein Paar auch bewerten möchte, brauche ich eine gewisse Distanz und die liegt so bei 4, 5 Meter. So alles, was näher ist, muss ich mich schon entscheiden, zu wem ich gucke.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Den Trainer*innen ist es mithin nicht möglich, alle für sie relevanten Merkmale gleichzeitig zu sehen, weswegen sie den Abstand zu den bewertenden Paaren immer wieder variieren. Je nach Positionierung werden unterschiedliche Aspekte scharf gestellt, andere rücken in den Hintergrund: Nur bei entsprechender Entfernung kommt die Gestalt des Paarkörpers zum Vorschein. Eine mittlere Distanz ermöglicht hingegen die Beobachtung von Details beim Partnering wie Einzelheiten der Bewegungsabläufe oder der Synchronizität der Fußarbeit. Eine noch geringere Distanz lässt den Paarkörper als Beobachtungseinheit verschwin-
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Hierbei lehne ich mich an Brümmers (2015: 120) Verständnis vom Kollektivkörper an. Wie sie anhand des Beispiels einer Sportakrobatikgruppe verdeutlicht, unterliegt der Kollektivkörper einem Organisationsprinzip, bei dem die Bewegungen der Einzelnen so zusammengeschaltet werden, dass die Teilnehmer*innen in einem starken Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen und das Ge- bzw. Misslingen der Bewegungsvollzüge nicht eindeutig dem Tun Einzelner zugerechnet werden kann.
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den und ermöglicht es den Trainer*innen, sich auf die Einzelnen im Paar zu konzentrieren. In diesem Zusammenhang thematisieren die Trainer*innen unter sich auch die Körperformung einzelner Tänzer*innen, wenn diese zu sehr von ihrem Ideal – einem schlanken Körper – abweicht und sich bspw. Bauchansatz erkennen lässt. Darauf angesprochen, erklären mir die Trainer*innen, dass das Aussehen zwar offiziell kein Kriterium sei, aber im Tanzsport durchaus Bedeutung habe: „Und gutes Aussehen ist auch nicht so schlecht, ne? In unserem Sport.“ (Interviewauszug Trainerin 4) „Denn letzten Endes: Optik ist beim Tanzsport – auch wenn man das nicht so offiziell sagen darf – ist ein ganz entscheidender Punkt!“ (Interviewauszug Trainer 1)
Damit sind sowohl Körperformung als auch der Kleidungsstil gemeint. Beide Punkte beziehen sich nicht nur auf die einzelnen Tänzer*innen, sondern auch auf die Stimmigkeit im Paar, was einer der Trainer anhand eines Negativbeispiels verdeutlicht: „Eine Tänzerin (in einer zurückliegenden Sichtung) hatte auch ein bisschen Figurprobleme, sie war schon ja ein bisschen übergewichtig sollte man nicht sagen, aber es war einfach. Es PASSTE alles aus meiner Sicht nicht. Das haben aber auch alle bestätigt. Also so der ganze LOOK stimmte nicht, es passte auch alles von den Größenverhältnissen nicht das sind natürlich auch alles so Dinge, die da reinspielen. Es passte einfach alles irgendwo nicht. […] Das ganze Image eines Paares soll ja nach außen transportiert werden. Und dazu gehört eben auch zum Beispiel tänzerisch natürlich auf der einen Seite, das ist natürlich das Wichtigste, aber es gehört auch der LOOK dazu. Ist so beim Tanzsport!“ (Interviewauszug Trainer 1)
Auch wenn die Tänzer*innen nicht ihre Turnierkostüme bei der Sichtung tragen, stellen die Trainer*innen Ansprüche an ihre Erscheinung, die zwar nicht expliziert werden, jedoch bei zu starker Abweichung des ‚Looks‘ von den impliziten Vorstellungen unter den Trainer*innen bzw. mir gegenüber thematisiert werden: „Wenn ich mir vorstelle, wenn da jemand mit ausgeleiertem T-Shirt oder schlabberigen Jeans auftaucht und dann sagt, das ist für mich die Kleidung, die für mich für die Talentsichtung die richtige ist, dann denk ich mir: (verzieht das Gesicht) hätt‘ ich vielleicht mit meinem Trainer drüber gesprochen. Nicht, dass die da ‘ne Modenschau machen sollen, das nicht! […] Ich glaube, dass was daran nachher ganz wichtig ist, dass das insgesamt
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mit der Persönlichkeit zusammen einen Einklang ergibt. Und das. Auch das kann man schnell. Das spürt man schnell, ob das wirklich ‘ne Verkleidung ist oder ob das wirklich ich sag jetzt mal so cool ist. Wenn das halt so ‘nen Look hat, wo man sagt: das passt alles zusammen! Das ist stimmig! Und wenn man dann die Bewegung sieht und dann den Look dazu und plötzlich ergibt das eine- dann sagt man: das passt zusammen. Und dann kann ich sagen, bei dem einen Jungen, der hat dann ein ausgeschnittenes T-Shirt an und so weiter und da sag ich, ja hättest mal lieber ein Hemd angezogen, vielleicht ein bisschen aufgekrempelt, schicken Kragen und so weiter und bei dem anderen Jungen sag ich: Das passt! Das ist einfach. Das ist STIMMIG.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Aus der Aussage lässt sich schließen, dass es keine feste Kleiderordnung gibt, die für alle Teilnehmer*innen gilt. Erneut stellen die Trainer*innen einen ‚Authentizitäts‘-Anspruch, dessen Erfüllung sie bewerten, ohne die Wertungskriterien explizieren zu können. Auch hier müssen die Tänzer*innen ein Gespür für die Grenzen des in der Praxis Möglichen aufweisen. Wie bei den anderen Kriterien in diesem Arrangement erhalten die Tänzer*innen auch im Hinblick auf ihr Äußeres kein direktes Feedback, so dass sie die Erwartungen der Trainer*innen im Idealfall antizipieren und den Spielraum ausloten müssen. Hinzu kommt, dass die Optik des Paares auch nicht als Merkmal im Bewertungsbogen zu finden ist – anders als die tänzerische Performance. Ähnlich wie beim Aufwärmen wenden die Paare unterschiedliche Positionierungsstrategien an: Einige versuchen, im direkten Blickfeld der einzelnen Trainer*innen zu verweilen, andere wiederum halten Distanz zu ihnen. Anders als beim Aufwärmen ist durch die wenigen Paare auf der Fläche die Sichtbarkeit der Tänzer*innen auf größerer Distanz besser als in unmittelbarer Nähe. Sind die Tänzer*innen zu nah, verhindert das nicht nur die Sicht auf den Paarkörper, sondern wird auch negativ bewertet: „Dann kann ich die nicht bewerten. Die stören mich auch. Die stören auch meine Position als Wertungsrichter. Weil sie verdecken die anderen und auch (-) weil diese Energie, die dann auch auf mich zukommt, das will ich gar nicht haben“ (Interviewauszug Trainer 2).
Im Vergleich zu den vorhergehenden Arrangements zeigt sich, dass je nach Aufgabenstellung und Positionierung der Teilnehmenden zueinander unterschiedliche Techniken des Sich-Sichtbarmachens von den Trainer*innen positiv bewertet werden. Die Tänzer*innen müssen demnach nicht nur ein Gespür für die angemessene Kleidung, sondern auch für die Anforderungen im jeweiligen Arrangement aufweisen.
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Für die Trainer*innen bietet das Arrangement die Möglichkeit, die gewonnen Eindrücke einem direkten Vergleich mit anderen Paaren zu unterziehen: „Wenn Du Dir das andere Paar hinten im Vergleich anschaust, dann siehst Du, dass das alles gleichmäßig ist als Paar. Die hier vorne (zeigt auf das vorderste Paar im Video) ist nicht im Takt und nicht in der Musik, das ist Null. Das kann man auch in Relation zu den beiden anderen sehen.“ (Interviewauszug Trainer 3)
Dies ist im Fall der Ausführung von identischen Schrittfolgen und des Einzählens in diese sogar in einem unmittelbaren Vergleich möglich. Die Trainer*innen variieren die Zusammensetzung der gleichzeitig tanzenden Paare im Laufe der Sichtung, so dass sie ihre Bewertungen immer wieder irritieren und nachjustieren können. Es zeigt sich, dass die Trainer*innen die kriteriengeleitete Bewertung in diesem Arrangement nicht allein an den einzelnen Paaren vornehmen, sondern im Vergleich in der Form von besser/schlechter konstatieren. Auf der Basis des Vergleichs wägen die Trainer*innen die vergebenen Punkte ab, setzen die Werte ins Verhältnis zueinander und verändern sie teilweise. Zusätzlich zu den genannten Merkmalen werden je nach Aufgabenstellung in dem Arrangement weitere Merkmale für die Trainer*innen sichtbar. Da die Paare die Choreographien lange Zeit im Vorfeld der Sichtung einstudiert haben, lässt sich laut Trainer*innen das Potenzial bei der Präsentation dieser weniger gut erkennen als bei den anderen beiden Aufgabenstellungen. Es kann durch lange Trainingsprozesse eine „Illusion“ (Trainer 1) erzeugt werden. Eine Reduktion auf Basic-Schritte ermögliche den Trainer*innen zum einen zu erkennen, wer das Wissen über die Einteilung der Schritte beherrsche. Wer Schritte über die Basic-Schritte hinaus tanze, zeige sein Unwissen körperlich an. Zum anderen vereinfache das Tanzen der Tanzschritte in ihren Grundformen den Trainer*innen die Bewertung des jeweiligen technischen Könnens. Laut den Trainer*innen kann eine Entwicklung, die für den Spitzensportbereich langfristig notwendig sei, nur durch die Verinnerlichung der Grundformen stattfinden. Die neu eingeführte Vorgabe der genauen Tanzschritte, die in dem Arrangement präsentiert werden sollen, ist eine weitere Engführung. Da der Bundestrainer die Choreographie erst in der Sichtung bekanntgibt, können die Paare die Schrittfolge nicht im Vorfeld einstudieren. Dadurch sollen für alle die gleichen Ausgangsbedingungen entstehen. Das Einzählen schafft für die Tänzer*innen einen erkennbaren Rhythmus für die kommende Praktik, an dem sie sich orientieren können (vgl. Broth/Keevalik 2014: 116). Durch das Einzählen und die gleichzeitige Präsentation von drei Paaren ist zusätzlich eine Uniformierung gegeben, die einen unmittelbaren Vergleich ermöglicht.
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Je nach Aufgabenstellung ist der Spielraum für die Tänzer*innen, sich als Talente sichtbar zu machen, unterschiedlich groß. Betrachtet man den Ablauf bei allen drei Aufgaben wird deutlich, dass die Tänzer*innen in diesem Arrangement den Großteil am Rand des Geschehens verweilen. Dort sollen sie möglichst nicht auffallen, was Ermahnungen durch die Trainer*innen verdeutlichen, falls einzelne Tänzer*innen am Rande bspw. reden. Ein positives Auffallen ist während des Zuschauens nicht möglich. Somit müssen die Tänzer*innen während des Wartens – anders als beim Aufwärmen – in der Masse der Zuschauenden ‚unsichtbar‘ bleiben. Für ihren 90 sekündigen Auftritt müssen sie schnell von ‚unauffällig’ zu ‚sichtbar’ umschalten. Aufgrund der sozio-materiellen Anordnung und der zeitlichen Vorgabe müssen die Tänzer*innen auf den Punkt genau agieren, um sich positiv hervorzutun. Hinzu kommt, dass die Trainer*innen nicht mehr nur die individuelle Performance, sondern die Paarkörper im direkten Vergleich miteinander bewerten. Je nach Aufgabenstellung variiert der Spielraum für die Präsentation. Während die Paare bei den freien Choreographien individuell entscheiden können, was sie präsentieren, ist der Spielraum bei den Basic-Tänzen auf bestimmte Schritte beschränkt. Die Präsentation der in der Sichtung einstudierten Schrittfolge ist eine Zuspitzung, bei der die Trainer*innen den Paaren sowohl die Schritte wie auch den genauen Startpunkt vorgeben. Da in diesem Arrangement keine Rückmeldungen nach den einzelnen Auftritten gegeben werden, können die Tänzer*innen nur antizipieren, worauf die Trainer*innen den Fokus bei diesen Bewertungsrunden legen. Fazit Arrangement 3: Das Sichtbarmachen und Bewerten von Paarkörpern Im dritten sozio-materiellen Arrangement wird die Anzahl der gleichzeitig zu bewertendenTänzer*innen von insgesamt 50 auf sechs reduziert, wobei die Tänzer*innen als Paare angeordnet werden, so dass die Trainer*innen nur drei Paarkörper gleichzeitig bewerten. Während im ersten Arrangement durch die hohe Anzahl an Tanzenden die Auffälligkeit Einzelner für die Trainer*innen sichtbar wurde, dient die Reduktion der gleichzeitig zu beobachtenden Paarkörper in den Bewertungsrunden der besseren Sichtbarkeit von Details der Fußarbeit, Handhaltung und Blickrichtung. Diese wurden zwar auch schon im ersten Arrangement beobachtet, dort jedoch an den einzelnen und nicht an den Paarkörpern thematisiert. Im Vordergrund der Bewertung steht für die Tariner*innen nicht mehr nur die einzelne Fußarbeit, sondern zusätzlich die Ausführung als Paar. Die Trainer*innen bewerten die als wichtig erachteten Merkmale damit transsituativ, wobei die Anforderungen an die Tänzer*innen sich im Verlauf der Sichtung er-
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höhen. Um die Merkmale hinreichend für die Trainer*innen sichtbar werden zu lassen, genügen keine flüchtigen Blicke auf die zu bewertenden Tänzer*innen wie beim Aufwärmen, sondern es muss ein anderes Beobachtungsdispositiv hergestellt werden. Die räumliche Anordnung nur weniger Paare und die sich um sie herumbewegenden Trainer*innen lassen eine detaillierte Beobachtung der jeweiligen Partien der Paarkörper zu. Die auf diese Weise sichtbar gemachten Details dienen den Trainer*innen als Indikatoren für nicht unmittelbar zu beobachtende Talentmerkmale. So wird von der Handhaltung im Paar auf das jeweilige Verständnis von Führung und von der Quantität der Blickkontakte auf die Paarbeziehung geschlossen. Die flexible Positionierung der Trainer*innen zu den Paaren ermöglicht es ihnen, nicht nur Körperdetails, sondern auch den Paarkörper als Einheit zu bewerten. Die Trainer*innen verändern ihren Abstand nach Bedarf, um die unterschiedlichen Aspekte nacheinander in den Fokus zu nehmen. Die verschiedenen Talentmerkmale werden von den Trainer*innen jedoch nicht als gleichwertig gewertet. So zeigt das dritte Arrangement, dass sie die Fußarbeit als grundlegendes Auswahlkriterium werten. Eine negative Bewertung dieser kann bereits zum Ausschluss aus dem Bundeskader führen. Die gewonnenen Eindrücke kontrollieren und sichern die Trainer*innen durch einen (unmittelbaren) Vergleich mit anderen Paaren. Der Vergleich wird im Extremfall durch das Einzählen und die Vorgabe derselben Schrittfolge hergestellt und abschließend durch ein Abwägen der vergebenen Punkte im Bewertungsbogen nochmals überprüft. Auffällig sind erneut die Überschneidungen der Bewertungen durch die Trainer*innen, die sich durch die vorherige Ausbildung eines gemeinsamen Sehstils im Sinne von Fleck erklären lassen. Auch ohne Absprachen untereinander beobachten die Trainer*innen dieselben Details, werten diese als relevant und kommen zu ähnlichen Bewertungen. Hinsichtlich der Auswahlkriterien zeichnen sich unterschiedliche Klassifizierungen ab: Während im ersten Arrangement den Tänzer*innen die meisten Kriterien offengelegt wurden, ohne jedoch im Bewertungsbogen aufzutauchen, werden die Kriterien im dritten Arrangement nur unter den Trainer*innen besprochen. Diese Kriterien lassen sich wiederum unterscheiden in solche, die sich im Bewertungsbogen widerspiegeln, und andere – wie bspw. das Erscheinungsbild – die zwar intern verhandelt, jedoch nicht dokumentiert werden (vgl. Arr. 8). Auf Seiten der Tänzer*innen zeigt der arrangementübergreifende Vergleich, dass je nach Aufgabenstellung unterschiedliche Positionierungen für das Sichtbarmachen als Talent positiv bewertet werden. Führte eine große Distanz beim Aufwärmen zum Untergehen in der Masse, ist diese in diesem Arrangement von
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Vorteil, um als Paarkörper in Erscheinung zu treten. Auch innerhalb des Arrangements bringen die verschiedenen Positionierungen unterschiedliche Anforderungen von Trainer*innenseite mit sich. Während des Wartens müssen die Tänzer*innen in der Masse aus Zuschauenden ‚verschwinden‘. Aus dieser Unsichtbarkeit müssen sie für ihre kurze Präsentation schnell in den Modus des Sichtbaren und Auffälligen wechseln, um sich im Anschluss wieder in die wartende Masse einzureihen. Es zeigt sich, dass an die verschiedenen Positionen im jeweiligen Arrangement bestimmte Rechte und Pflichten gebunden sind und sich dadurch unterschiedliche Spielräume eröffnen. Während der Präsentation ist der Spielraum der Tänzer*innen, sich hervorzuheben, je nach Aufgabe unterschiedlich stark eingegrenzt. Die Präsentation der freien Choreographien bietet die größten Möglichkeiten, sich individuell hervorzutun. Durch die Einschränkung auf Basic-Schritte bis hin zur genauen Vorgabe der Tanzschritte wird der Spielraum immer weiter begrenzt, was den Trainer*innen wiederum einen genaueren Blick auf das technische Können der Paare ermöglicht. Durch die zeitliche Vorgabe von 90 Sekunden müssen die Paare punktgenau performen. Anders als im ersten Arrangement geben die Trainer*innen erst ganz zum Schluss ein Feedback zur Performance auf der Tanzfläche, so dass die Tänzer*innen die für die Trainer*innen relevanten Merkmale bis dahin nur antizipieren können.
3.4 ARRANGEMENT ‚FEEDBACK VOM BUNDESTRAINER‘ Den Übergang zwischen den verschiedenen Aufgaben in der Sichtung markieren längere Rückmeldungen vom Bundestrainer an alle Tänzer*innen. Hierfür ruft er alle Tänzer*innen zusammen, die sich in einem Halbkreis um ihn herum platzieren (s. Abb. 10).
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Abb. 10: Anordnung beim Feedback vom Bundestrainer
Nach einem allgemeinen Feedback zur gerade abgeschlossenen Aufgabe, erfolgt eine kurze Ansage zu der als nächstes anstehenden Aufgabe. Im Folgenden gehe ich näher auf das Feedback nach einer Basic-Endrunde ein: Als die letzten Paare nach der Basic-Endrunde die Tanzfläche verlassen und sich in der Tänzer*innenecke eingefunden haben, positioniert sich der Bundestrainer mit seinem Bewertungsbogen und einem Buch über die Grundlagen Lateinamerikanischer Tänze vor den Bundeskaderanwärter*innen. Diese ordnen sich sofort in einem Halbkreis um ihn. Bundestrainer: „Ich bin durchgehend entsetzt! […] Ich nenn jetzt keine Namen, denn das steht hier (tippt mit einem Finger auf den Bewertungsbogen). Meine beste Bewertung war eine 3 und es geht runter auf 1. […] Ich sag mal 5 ist SUPER; 4 ist richtig toll; 3 ist okay, man sieht vieles; 2 ist für mich okay, ein bisschen schlapp, Höhen und Tiefen, sehr viele Tiefen, einige Höhen; 1 ist, man war dabei und 0 ist, man hat nicht getanzt. 0 hab‘ ich nicht vergeben. Aber ich hätte fast 0 gegeben. Denn wir haben eine Technik (hebt das Buch hoch). Und in dieser Technik – sorry, das ist jetzt vielleicht nicht Eure Aufgabe aber Ihr solltet Trainer haben, die wissen, was in diesem Buch steht. Das ist derzeit unsere Basic und NICHTS anderes. Und wenn ich dann Paare sehe, die halbe B-Folgen tanzen, dann ist das eigentlich Thema verfehlt, dann sollte ich diese Paare eigentlich nach Hause schicken. Ihr könnt da nichts für. Dann seid Ihr von Euren Trainern schlecht vorbereitet worden.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Ohne einzelne Paare zu adressieren, macht der Bundestrainer deutlich, dass die gezeigten Leistungen des Großteils der Paare nicht zufriedenstellend für ihn waren. Als Verantwortliche benennt der Bundestrainer jedoch nicht die Paare, sondern die jeweiligen Heimtrainer*innen. Sie werden von ihm als zuständig für die
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Vermittlung von Wissen und die Erstellung der Basic-Choreographien angesehen und nehmen aus seiner Sicht großen Einfluss auf die gezeigte Performance. Trotz körperlicher Abwesenheit werden sie als relevante Mitspieler*innen ins Spiel gebracht. Zudem meldet der Bundestrainer zum ersten Mal in der Sichtung zurück, wie die Punktevergabe erfolgt. Nach dieser allgemeinen Rückmeldung expliziert er seine Einschätzung an konkreten Beispielen. Zu diesem Zweck benennt er nacheinander einzelne Tanzschritte und bittet ausgewählte Tänzer*innen oder Paare, hervorzutreten und den jeweiligen Schritt zu demonstrieren (s. Abb. 11a-b). „Basic heißt Basic! Und ich möchte in der Rumba zum Beispiel eine Forward Walk Turning Aktion sehen. Der Trainer hebt den Arm Richtung Tanja, einer Tänzerin. Kannst Du die mal zeigen Tanja? Forward Walk Turning zu einer Fan-Position Der Trainer tritt ein paar Schritte zurück. Tanja kommt in die Mitte, tanzt den Schritt, sie stoppt die Bewegung (s. Abb. 11a) Stop! und das Bein zeigt.
Abb. 11a: Schrittdemonstration
Das ist so ein Beispiel. Trainer bewegt sich in Richtung der Bundeskaderanwärter*innen. Tanjas Partner streckt ihr die Hand entgegen, sie nimmt sie und reiht sich wieder ein Es gibt dann zum Beispiel (---) einen Delay Forward Walk zum Beispiel in Sliding Doors. Vicky und Benjamin. Könnt Ihr das einmal zeigen? Der Trainer schaut ein Paar an und hebt den Arm in ihre Richtung (s. Abb. 11b)
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Abb. 11b-c: Trainer holt Paar zur Schrittdemonstration auf den Bühnenraum
Das Paar tritt aus den Zuschauenden hervor Der Trainer macht Platz für sie Das Paar tanzt den Schritt vor,
verweilt in der Position. (Abb. 11c) Und stop! Das ist zum Beispiel ein Delayed Forward Walk
mit einem gebeugten Bein. auf den ersten Seiten stehen.
Das sind alles so Dinge, die im Buch
Trainer nähert sich wieder den Zuschauenden,
hält das Buch hoch,
Dankeschön. Trainer nickt beiden kurz zu Das Paar löst sich aus der Position und reiht sich wieder ein. […] Und das möchte ich sehen, das möchte ich in den Füßen sehen, in den Beinen sehen, dass Ihr das wisst.“ Trainer nimmt wieder die Position in der Mitte ein. (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Die Anordnung der Teilnehmenden schafft einen Bühnenraum, den hauptsächlich der Bundestrainer einnimmt. Von seiner Position aus kann er die Bundeskaderanwärter*innen überblicken und steht in ihrem Fokus. Ähnlich wie bei den Bewertungsrunden bilden die Bundeskaderanwärter*innen eine Masse, aus der sich der Bundestrainer einzelne Paare heraussucht. Er überlässt ihnen für eine kurze Zeit den Bühnenraum, auf dem sie für die Demonstration exponiert werden. Sie führen die in der Basic gewünschten Schritte vor und werden durch Ansagen des Bundestrainers in den für ihn entscheidenden Momenten in der Bewegung verlangsamt und angehalten (s. Abb. 11a,c), so dass die für den Bundestrainer relevanten Details markiert und damit den Tänzer*innen transparent ge-
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macht werden.8 Zwar erlangen die Paare einen herausgehobenen Status in der Masse der Bundeskaderanwärter*innen, indem der Bundestrainer sie auf den Bühnenraum bittet, jedoch müssen sie, um den Status zu bestätigen, die vom Trainer gewünschte Schrittfolge auch demonstrieren können. Beim Vergleich der ausgewählten Paare mit den Bewertungen des Bundestrainers wird ersichtlich, dass er nur Paare auswählt, die eine höhere Punktzahl erlangt haben. Durch ihre exponierte Position werden sie im Hinblick auf die Basic als Vorbilder für die restlichen Tänzer*innen adressiert. Damit wird die an die gesamten Tänzer*innen gerichtete Kritik für die ausgewählten Paare im Moment der Vorführung abgeschwächt. Wie es der Trainer formuliert, wurde ihr „Wissen“ über die richtigen Basic-Schritte an den Füßen und Beinen „gesehen“ (s.o.). Dieses Wissen soll auch an die restlichen Tänzer*innen vermittelt werden. Durch die Kombination aus körperlicher Demonstration und verbalen Ansagen kennzeichnet der Trainer die entscheidenden Details der Schritte, die auf dem Bühnenraum besonders gut sichtbar sind. Indem der Trainer durch das ‚Einfrieren‘ der Tanzbewegungen und das Benennen der relevanten Körperteile wie „und das Bein zeigt“ oder „gebeugtes Bein“ die Aufmerksamkeit der Tänzer*innen auf die für ihn entscheidenden Details lenkt, erhalten die Tänzer*innen erste Einblicke in den Sehstil der Trainer*innen. Dies wird vor allem in der Anordnung möglich, in der ein geteilter visueller Fokus auf die Vorführenden im Zentrum des Halbkreises entsteht (vgl. Goodwin 2007: 57). Neben der Demonstration an anderen Tänzer*innen führt der Bundestrainer auch selbst Schritte zumeist in falscher und richtiger Ausführung vor (s. Abb. 12a-c): „Wenn ich mir das angucke im Jive, einige haben direkt VOLL außer Takt getanzt! In der Samba haben wir ‘ne Fußarbeit Leute, da muss man auch mal ‘ne Ferse zum Boden bringen! Im Jive kann ich nicht die Chassés alles nur auf Ballen tanzen Trainer dreht sich von den Tänzer*innen weg und tanzt mehrere Chassés nur auf den Ballen (s. Abb. 12a). Einzelne Tänzer*innen tanzen Chassés auf ihrem Platz
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Die schwedische Linguistin Leelo Keevalik (2013: 11) zeigt in ihren Mikroanalysen zu Paartanz wie erst durch die Kombination von Ansagen und körperlicher Ausführung sogenannte coproduced units entstehen, bei der die relevanten Details der thematisierten Tanzschritte markiert werden und die gewünschte Ausführung ermöglichen.
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Abb. 12a-b: Falsche und richtige Ausführung der Fersenbewegung
Trainer hört auf zu tanzen und dreht sich wieder zu den Tänzer*innen Ganz ehrlich, wenn ich das in der D oder C Klasse sehe, dann fliegen die raus in der Vorrunde Einzelne Tänzer*innen tanzen weiterhin Chassés auf ihrem Platz Ihr wisst das doch alle. Also eigentlich solltet Ihr das alle wissen, dass ihr 1 und 2 UND absenken der Ferse […] Trainer tanzt Chassé und senkt die Ferse ab (s. Abb. 12b) Beim Paso Doble, die Mädels AUSdruck! (-) Wir haben das Thema Ladies FIRST! (-) Ihr steht da teilweiseTrainer macht zwei Schritte nach rechts, hebt die rechte Hand leicht und schaut durchgehend zu Boden (s. Abb. 12c)
Abb. 12c: Falsche Ausführung beim Paso Doble
das ist echt ein bisschen enttäuschend, das ist wirklich enttäuschend Trainer hört auf sich zu bewegen und schaut wieder zu den Tänzer*innen Und das sind alles Dinge, die können wir jetzt gar nicht alle besprechen aber normalerweise müssten wir uns mehrere Tage mit den Basics beschäftigen, damit Ihr die Grundkenntnisse draufhabt. Die Grundkenntnisse, die Ihr auch in den Choreographien in vielen Details zeigen müsst.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
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Erneut legt der Trainer durch körperliche und verbale Betonungen seine Relevanzsetzung offen. Zusätzlich zur richtigen Ausführung demonstriert er nun auch die falsche, wodurch die Unterschiede hervorgehoben werden. Damit bietet er den Tänzer*innen Sehhilfen, mit denen sie sich selbst im Hinblick auf die thematisierten Details beobachten können. Bei einigen Tänzer*innen ist zu erkennen, wie sie sofort im Anschluss an den Trainer anfangen, die Tanzschritte auf ihrer Position auszuführen. Dies lässt sich als Prozess der Selbstreflexion im Modus „kinästhetischer Sympathie“ (Geertz 1987: 217)9 interpretieren. Die Tänzer*innen vergegenwärtigen sich die richtige Ausführung der Tanzschritte und scheinen sich damit die Relevanzsetzung über den Körper zugänglich machen zu wollen. Gleichzeitig ist dies für sie eine Möglichkeit, sich aus der Masse hervorzutun und kann daher als Technik des Sich Sichtbarmachens gedeutet werden. Durch die Anordnung ist der Fokus auf den Bühnenraum gelegt, dessen Zugang der Bundestrainer regelt. Den Tänzer*innen, die er nicht zum Vorführen auffordert, bleibt – ähnlich wie im dritten Arrangement – wenig Spielraum, sich in der Masse sichtbar zu machen. Die enge, auf Zuhören angelegte Anordnung lässt keine großen Bewegungsmöglichkeiten zu. Auffällig ist zudem, dass die Tänzer*innen während der gesamten sechsminütigen Rückmeldung nicht sprechen. Die bühnenhafte Anordnung und die monologartige, strenge Zurechtweisung durch den Trainer lassen keinen Raum für eine verbale Interaktion zwischen Trainer und Tänzer*innen, die einem stummen Publikum gleichen. Die einseitige Verteilung der Redeanteile trägt zusätzlich zur Autorität des Bundestrainers bei. Die Tänzer*innen nehmen in dem Arrangement die Position von Zuhörenden ein, so dass sich über die räumliche Anordnung und die einseitig verteilten Redeanteile die in den Sichtungspraktiken vorgesehene Hierarchie zwischen Bundeskaderanwärter*innen und Trainer*innen reproduziert. Insgesamt wird in dem Feedback die Ernsthaftigkeit der Situation betont. Mahnend hebt der Bundestrainer hervor, dass die Tänzer*innen mit der gezeigten Leistung in höheren Klassen bei Turnieren ausscheiden würden. Damit bringt er erneut die Zielperspektive ins Spiel, die bereits bei der Paarvorstellung relevant war. Hinzukommt, dass diese Runde nun im Bewertungsbogen festgehalten und damit auch offiziell Einfluss auf die Kaderentscheidung hat. Zusätzlich zu der an die gesamten Tänzer*innen gerichteten Kritik werden – wie beim Auf9
Der vom Ethnologen Clifford Geertz (1987: 208ff.) geprägte Begriff bezeichnet das Phänomen des direkten körperlichen Nachvollzugs einer beobachteten Handlung. Beim Balinesischen Hahnenkampf beobachtete Geertz, dass die Köpfe der Zuschauer den Bewegungen ihrer Hähne folgen. Laut Geertz lässt sich dies auf die tiefgehende Identifikation mit den Tieren zurückführen. Auf den Sport übertragen, spricht Alkemeyer (2006: 277) von kinästhetischer Sympathie, wenn das beobachtete Geschehen einen „Resonanzboden“ in den motorischen und affektiven „Tiefenschichten“ der Zuschauer*innen findet.
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wärmen – die Damen separat aufgrund ihrer zu schwachen Leistung adressiert. Der bereits zuvor diagnostizierte Leistungsunterschied zwischen den Geschlechtern wird bestätigt und den Tänzer*innen zurückgemeldet. Fazit Arrangement 4: Einblicke in den Sehstil der Trainer*innen Die vierte Anordnung schafft einen geteilten visuellen Fokus auf einen Bühnenraum, auf dem der Bundestrainer das erste Mal in der Sichtung detailliert Rückmeldung zum Sehstil und den vorgenommenen Bewertungen gibt. Mit Hilfe ausgewählter Tänzer*innen wie auch mittels seines eigenen Körpers und ergänzender Ansagen markiert und verdeutlicht der Bundestrainer Details einzelner Tanzschritte und seiner Bewertungen. Durch die wiederholten und unterschiedlichen Demonstrationen präsentiert er den Tänzer*innen ein Kontinuum von richtigen und falschen Ausführungen auf dem sie sich selbst verorten können. Damit werden bei einigen der Tänzer*innen Selbstreflexionsprozesse angebahnt, die sich im körperlichen Nachvollzug der vorgeführten Bewegungen zeigen. Mit den offen gelegten Kriterien können sie sich selbst beobachten. Dies schließt an die Logik der Trainingspraxis an. Den Großteil des Trainings üben die Paare alleine vor dem Spiegel. D.h., sie sind darauf angewiesen, sich selbst beobachten, korrigieren und bewerten zu können. Voraussetzung hierfür sind Einblicke in die Maßstäbe und Kriterien der Wertungsrichter*innen. Zuständig für diese Wissensvermittlung sind laut dem Bundestrainer die jeweiligen Heimtrainer*innen, die damit – trotz ihrer körperlichen Abwesenheit – als relevante Teilnehmer*innen ins Spiel gebracht werden. Zudem (re)produzieren die Positionierung der Teilnehmer*innen und die einseitige Verteilung der Redeanteile die Hierarchie zwischen dem Bundestrainer und den Bundeskaderanwärter*innen, wie auch den Tänzer*innen untereinander. Auch durch das lange Warten auf ein Feedback, welches erst am Ende der Bewertungsrunde in einem Monolog an alle Tänzer*innen erfolgt, wird Unterordnung auf Seiten der Tänzer*innen eingeübt. Die geäußerte Kritik an der Performance wird für einige Tänzer*innen durch ihre Benennung zu Demonstrationssubjekten abgeschwächt. Das Heraustreten aus der kritisierten Masse und das Einnehmen des Bühnenraums impliziert eine bessere Bewertung als die der Konkurrenz. Da der Trainer den Zugang zum Bühnenraum regelt, bleiben den restlichen Tänzer*innen wenige Möglichkeiten, in Erscheinung zu treten. Einzig der körperliche Nachvollzug der vorgeführten Tanzschritte kann als Versuch des Sich Sichtbarmachens gedeutet werden.
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3.5 ARRANGEMENT ‚TRAINING MIT DEM BUNDESTRAINER‘ Jeden Tag findet mindestens eine ca. 90minütige Trainingseinheit mit dem Bundestrainer statt, in der er den Tänzer*innen eine bestimmte Schrittfolge vermittelt, die abschließend bewertet wird. In jeder dieser Einheiten setzt der Bundestrainer einen Schwerpunkt wie bspw. Partnering, Technik oder Timing, den er den Tänzer*innen auch mitteilt. Die Festlegung des Schwerpunkts basiert auf den vorhergehenden Beobachtungen und Bewertungen. Zumeist werden Defizite der Tänzer*innen aufgegriffen, die die Trainer*innen als veränderbar annehmen. Das kollektive Einüben der jeweiligen Schrittfolgen wird begleitet von wiederholten Ansagen und Demonstrationen von Seiten des Bundestrainers. Zudem wechseln sich die Gruppenphasen mit Sequenzen ab, in denen die Paare für sich üben und von den Trainer*innen individuell Rückmeldung erhalten. Während sich die meisten anderen sozio-materiellen Arrangements durch eine Distanz zwischen Bundeskaderanwärter*innen und Trainer*innen kennzeichnen, weist das Trainingsarrangement eine erhöhte Interaktion zwischen ihnen auf, in der die Trainer*innen den Tänzer*innen Einblicke in ihren Sehstil und ihre (Be)Wertungslogik geben. Es lassen sich zwei Arten von Trainingseinheiten unterscheiden, auf die ich im Folgenden detailliert eingehe: In der ersten beschriebenen Einheit vermittelt der Bundestrainer die Schrittfolge zunächst an die einzelnen Tänzer*innen, bevor die Schrittfolge als Paar eingeübt wird. In der Darstellung stelle ich die Vermittlungsschritte chronologisch vor und gehe auf folgende Inhalte ein: Überprüfung verschiedener Wissensformen; Überprüfung des Engagements und Einblicke in den Sehstil der Wertungsrichter*innen. Im zweiten Beispiel beschreibe ich das Einüben einer Schrittfolge direkt als Paar. Inhaltliche Schwerpunkte bilden hierbei die Bedeutsamkeit des Partnering und die Überprüfung des Reflexionsvermögens. 1. Trainingseinheit Die Vermittlung der jeweiligen Tanzschritte verläuft immer nach demselben Muster. Der Bundestrainer ruft die Tänzer*innen zusammen und positioniert sich im ersten Schritt vor der Spiegelwand dem Spiegel zugewandt und die Tänzer*innen reihen sich hinter ihm auf. Langsam demonstriert er die ersten Schritte und macht parallel kurze Ansagen. Nach und nach steigen alle Tänzer*innen in die Schrittfolge ein (s. Abb. 13).
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Abb. 13: Schrittdemonstration vor dem Spiegel
Anders als beim Aufwärmen ist die Nutzung des Spiegels als Feedbackmöglichkeit bei dem ersten Vermittlungsschritt explizit vom Trainer gewünscht. Nur durch dieses Artefakt wird die Gleichzeitigkeit der Lehr-, Lern- und Prüfungspraxis ermöglicht (vgl. Schindler 2011a: 78f.). In dem sozio-materiellen Arrangement sehen die Tänzer*innen gleichzeitig die Rück- und Vorderseite des Bundestrainers und können ihre eigenen Körperbewegungen im Spiegel abgleichen. Dem Bundestrainer wiederum ermöglicht der Spiegel die Kontrolle der Ausführungen der Tänzer*innen. Er versucht diese zu korrigieren, indem er seine eigenen Bewegungen betont und mit „empraktischen“ (Bühler 1965: 39)10 kurzen Ansagen wie bspw. „Hüfte“ oder „und nun schnell“ unterstreicht und laut den Takt mitzählt. Überprüfung verschiedener Wissensformen Die Vermittlung der Tanzschritte unterbricht der Bundestrainer immer wieder, um verschiedene Wissensformen abzufragen. Nachdem er zunächst explizierbares deklaratives Wissen – wie bspw. die internationalen Bewertungskriterien oder Namen von bekannten Tanzpaaren – abfragt, prüft er im Laufe der Trainingsstunde immer wieder prozedurale, implizite Wissensbestände der Tänzer*innen ab (vgl. Wiater 2007: 21). Bspw. benennt er Tanzschritte, die die adressierten Tänzer*innen körperlich umsetzen sollen (s. Abb. 14).
10 Der vom Sprachtheoretiker Karl Bühler (1965) geprägte Begriff beschreibt Sprechakte, die untrennbar mit nicht-sprachlichen Handlungen verflochten sind. Die Bedeutung der Sprechakte erschließt sich erst unter Einbezug der Praktiken in denen sie stattfinden (vgl. auch Streeck/Goodwin/LeBaron 2011: 2).
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Abb. 14: Wissensabfrage während der Trainingseinheit
Die Tänzer*innen sollen die Schritte jedoch nicht nur körperlich ausführen, sondern umgekehrt, auch demonstrierte Tanzschritte korrekt benennen und damit verschiedene Wissensbestände miteinander verknüpfen. Bundestrainer (BT):
BT:
wir werden jetzt ein paar technische Dinge besprechen. Dreht sich vom Spiegel weg und wendet sich den Tänzer*innen zu
Michael, was ist ein Delayed Forward Walk? Trainer schaut einen Tänzer an
Einige andere Tänzer*innen melden sich Michael fängt an den Schritt zu tanzen BT:
ja gut, (-) Trainer schaut Michael zu, wendet den Blick von ihm zu den restlichen Tänzer*innen
[…] BT: wie nennt sich denn das? (---) Tanzt einen Tanzschritt vor, schaut einen der Tänzer an, der den Schritt nachtanzt BT:
Moritz! Moritz tanzt den Schritt nochmals nach BT: was tanzt Du denn da? Moritz: ähm einen Back (-) Replace BT: genau! (-) einen BACK REEEplace BT verlagert Gewicht auf‘s linke, hintere Bein, rechtes Bein Schritt nach vorne BT: So. Ich denk mal, dass müsst Ihr alle so hinkriegen. Und 3,4 und 1 Trainer dreht sich von den Tänzer*innen weg und stellt sich wieder vor sie, Trainer tanzt wieder vor den Tänzer*innen Tänzer*innen steigen in die Schrittfolge ein (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
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Bei der Wissensabfrage ist der Bundestrainer der Einzige, der seine Position verändert. Er adressiert Tänzer*innen aus verschiedenen Reihen und Richtungen und fragt sowohl welche, die – ähnlich wie im Schulunterricht – aufzeigen, als auch Tänzer*innen, die sich nicht melden. Damit wird es für die Tänzer*innen schwer, sich der Adressierung und Wissensabprüfung zu entziehen. Anders als beim Warten während der Bewertungsrunden (vgl. Arr. 3) bilden die Tänzer*innen keine einheitliche Masse, sondern der Bundestrainer kann durch die Anordnung einzeln auf sie zugreifen.11 Aufgrund der von den Trainer*innen diagnostizierten Defizite bei der BasicBewertung geht der Bundestrainer in der ersten Trainingseinheit auf Grundlagen ein. Ergänzend zum Feedback nach der Basic-Endrunde (vgl. Arr. 4) erklärt er im Training ausführlich die Bedeutsamkeit der Grundschritte an einzelnen Beispielen: „Übrigens bei dem Delayed Forward Walk mit gebeugtem Bein wird häufig auf EINS schon belastet (winkelt das rechte Bein an, klatscht mit der rechten Hand auf den rechten Oberschenkel). Im Buch steht drin auf UND (--) Ihr solltet das auf jeden Fall trainieren! Ich weiß, dass auch viele Trainer das so unterrichten, aber es ist technisch gesehen FALSCH (-) denn wir haben ja unser Buch, wir haben unser Regelwerk und danach muss auf dem UND belastet werden, ja? […] Bei internationalen Kongressen zur Fortbildung ALLER Wertungsrichter, die nicht nur Welt- und Europameisterschaften bewerten, sondern auch Jugendturniere und auch International Opens, wurde nochmal ganz klar explizit darauf hingewiesen, dass DAS (tanzt den Schritt und belastet das Bein auf eins) eigentlich technisch alles falsch ist. […] Jetzt könntet Ihr Euch fragen, worauf achten denn jetzt Wertungsrichter. Die achten nachher darauf, WIE jemand tanzt. […] Wenn jetzt Wertungsrichter vor allen Dingen Technik bewerten und die Musikalität bewerten, dann sind das die zwei Gebiete wo ihr bei Sliding Doors zum Beispiel darauf achten solltet, dass ihr das UND trefft und nicht zu früh auf der eins tanzt. […] Bereich Technik fallt Ihr dann sofort durch, Bereich Movement to Music fallt Ihr dann sofort durch. Das müsst Ihr JETZT lernen. Denn wenn Ihr nachher Deutschland international vertreten sollt und dann kommt Ihr auf einmal und ein Trainer sagt Dein Forward Walk Turning ist nicht gut, dann ist das zu spät! […] Denn nur eine Choreographie, nur allein tolle Schritte, das alleine bringt‘s auch nicht, sondern es MUSS im Prinzip die Technik auch da sein. Technik ist das ALLERwichtigste.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Die Basic-Schritte werden vom Bundestrainer nicht nur als relevant für die Sichtung markiert, sondern in den Kontext von zukünftigen Turniererfolgen gestellt. 11 Broth und Keevalik (2014: 114) sprechen von „stationary individuals“, die durch die Anordnung wie auch Gestik für Beobachter*innen als einzelne Teilnehmende oder Paare erkennbar werden.
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Hierfür ruft er den Tänzer*innen die internationalen Bewertungskriterien12 ins Gedächtnis. Basierend auf den Kriterien Technical Quality und Movement to Music ist die korrekte Ausführung der charakteristischen Tanzschritte nicht nur für in der Zukunft liegende Turniere wie Europa- und Weltmeisterschaften, sondern bereits bei Jugendturnieren und International Opens, an denen die Paare bereits teilnehmen, von besonderer Bedeutung. Die Dringlichkeit, sich mit der Basic auseinanderzusetzen, unterstreicht der Bundestrainer mit dem – fast schon ermahnenden – Hinweis, dass es hierfür später zu spät sei. Wie beim Feedback (vgl. Arr. 4) bringt der Bundestrainer die Heimtrainer*innen als für die Praxis relevante Mitspieler*innen ins Spiel, die verantwortlich für die Vermittlung der Tanzschritte seien. Während er jedoch beim Feedback die Heimtrainer*innen als alleinige Verantwortliche für die Vermittlung der (falschen) Basic benannte, adressiert der Bundestrainer nun auch die Tänzer*innen als mitverantwortlich, die sich mit Hilfe des Grundlagenbuches unabhängig von den Heimtrainer*innen über die korrekte Ausführung der Tanzschritte zu informieren haben. Im Anschluss nimmt der Trainer wieder seine Position vor den Tänzer*innen ein und leitet nach einigen weiteren Durchgängen der Schrittfolge zum nächsten Vermittlungsschritt über. Im zweiten Schritt sollen sich alle Tänzer*innen um 180 Grad drehen und die Schrittfolge nun ohne Spiegel kollektiv üben. Zunächst positioniert sich der Bundestrainer wieder vor den Tänzer*innen, löst sich dann nach einigen Durchgängen im dritten Schritt aus seiner Position und geht zwischen ihnen – weiterhin laut mitzählend – umher (s. Abb. 15). Abb. 15: Anordnung der Teilnehmer*innen im 3. Vermittlungsschritt
12 Laut internationalem Tanzsportverband sind die wichtigsten Bewertungskriterien: „Technical Quality“, „Movement to Music“, „Partnering Skill“ und „Choreography and Presentation“ (WDSF 2013).
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Sobald der Trainer eine falsche Ausführung sieht, unterbricht er das Zählen, ruft die Tänzer*innen zusammen und thematisiert den beobachteten Fehler. Im Anschluss zählt er zur Schrittfolge wieder laut ein und die Tänzer*innen führen die Schritte erneut mehrfach hintereinander aus. Das Üben der Schrittfolge wird durch den hohen Formalisierungsgrad, die zahlreichen Wiederholungen und die angestrebte Gleichförmigkeit der Bewegungsausführung zur rituellen Vergemeinschaftungspraxis (vgl. Merrit-Müller 2015: 312). Die Demonstration der Zugehörigkeit zu den talentierten Tänzer*innen erfolgt über die tänzerische Darstellung der gewünschten Praktik (vgl. ebd.: 330). Zudem ermöglicht die Anordnung dem Bundestrainer einen Überblick und eine spezifische Vergleichbarkeit. Durch die Taktvorgabe wird die Gleichzeitigkeit der Ausführung gewährleistet. In der Masse von 50 Tanzenden, die die identische Schrittfolge vollführen, werden Abweichungen besonders deutlich erkennbar. Dadurch, dass der Trainer nicht mehr auf die Position vor den Tanzenden festgelegt ist und sich frei zwischen den Reihen bewegen kann, sind für ihn nicht nur die erste Reihe, sondern nacheinander alle Tanzenden sichtbar. Ziel für die Tänzer*innen ist ein erneutes Einfügen in die Masse. Anders als in den bisher thematisierten Arrangements sollen sie jedoch in der Bewegungsausführung nicht auffallen. In immer höheren Schwierigkeitsgraden wird die Schrittfolge durch körperliche Übung inkorporiert und perfektioniert. So wird im vierten Schritt die Rhythmusvorgabe durch den Bundestrainer durch verlangsamte Musik ersetzt. Sobald die Musik einsetzt, streben die Körper der Tänzer*innen in eine Gleichförmigkeit (vgl. ebd.: 319), in der der Rhythmus nun ohne die Marker des Trainers körperlich deutlich gemacht werden muss. Diese Erhöhung des Schwierigkeitsgrades wird zunächst unter Zuhilfenahme des Spiegels ‚abgefedert‘. Die Tanzenden können sich wie zu Beginn der Trainingseinheit für kurze Zeit selbst visuell im Hinblick auf ihre Rhythmusstimmigkeit überprüfen, bevor sie sich im fünften Schritt wieder vom Spiegel abwenden und dieser damit erneut als Feedbackmöglichkeit wegfällt. Im sechsten Schritt wird schließlich die Musik in normalem Tempo abgespielt und die Tänzer*innen sollen die Schrittfolge ohne Rhythmusmarkierungen vom Trainer oder Selbstkontrolle durch den Spiegel ausführen. Überprüfung des Engagements Der Bundestrainer unterbricht die an eine didaktische Vermittlungsreihe erinnernde Abfolge immer wieder mit Hinweisen auf die aktuelle Prüfungssituation:
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Die Tänzer*innen führen die Schrittfolge zu Musik aus, der Bundestrainer geht herum. Bundestrainer: „Stop! Musik wird ausgestellt Wenn ich jetzt hier rumgehe und ich mach mir jetzt ein Bild von Euch Trainer tanzt die Schrittfolge ohne Spannung, sichtbare Übergänge oder körperliche Markierung des Rhythmus, Schlecht! (---) da stehen übrigens auch Herrschaften, die Euch auch gleich bewerten verweist mit dem Arm auf die anderen Trainer am Trainertisch und die gucken JETZT auch schon, ja? […] So kann ich vielleicht tanzen, wenn ich auf die Fläche gehe und will mich ein bisschen eintanzen, wobei selbst dann. Wenn die Wertungsrichter, die sitzen ja meistens in der Halle irgendwo in ‘ner Ecke an ‘nem Tisch. Und es gibt ganz viele Wertungsrichter, die sich auch schon beim Eintanzen die Paare anschauen. So und da kann man schon POSITIV auffallen, oder gar nicht auffallen, oder negativ. So und wer positiv auffällt, der hat‘s beim Turnier dann schon ein bisschen leichter. Also IMMER on sein. Und HEUTE sowieso. […] Ihr werdet heute bis 22 Uhr bewertet und wer um 21.55 Uhr nicht mehr on ist, der wird viele Punkte verlieren. (---) So. Nochmal.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Der Trainer betont, dass selbst beim Üben der Schrittreihe ein spezifisches Engagement gezeigt werden muss. In Bezugnahme auf Goffman (1971) ist mit dem Begriff im Folgenden zum einen das Gefühl der Verpflichtung gemeint, welches sich mit der Teilnahme an Praktiken durch die mit ihnen einhergehenden Anforderungen einstellt.13 Zum anderen beinhaltet der Begriff auch den aktiven Part des Sich-Engagierens (vgl. Brümmer/Mitchell 2014: 161). Das Engagiert-Sein in 13 Laut Goffman (1971: 44) bedeutet Engagement „an einer anlaßgemäßen Aktivität teilzunehmen, [mit einer] Art kognitiver und affektiver Versunkenheit darein. […] Der Terminus ‚engagiert‘ hat zwei weitere Bedeutungen in der Alltagssprache: die von ‚Verpflichtung‘, man fühlt sich gewissen Aktionen verpflichtet und verantwortlich; und die von ‚Zuneigung‘ im Sinne von Investition der eigenen Gefühle und Identifikation mit einer Sache.“ Wie Brümmer und Mitchell (2014: 161) herausarbeiten, ist der Begriff durch seine Doppelbedeutung des passiven Engagiert-Werdens von Teilnehmer*innen durch die Aufgaben einer Praktik als auch eines aktiven körperlichmental-affektiven Sich-Engagierens der Teilnehmer*innen für die sich stellenden Aufgaben an praxistheoretische Konzepte hochgradig anschlussfähig.
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der Tanzsichtung weist bei den Tänzer*innen unterschiedliche Grade auf. Trotz der „grundsätzlichen Familienähnlichkeit der Körperpositionierungen“ (MerritMüller 2015: 323) werden in der gleichzeitigen Ausführung der identischen Schrittfolge Unterschiede im Engagement durch die Variationen der Bewegungsausführung sichtbar. Der Bundestrainer nimmt Zuschreibungen bezüglich des Engagiert-Seins vor, die in seine Bewertungen einfließen. Der Talentstatus der einzelnen Tänzer*innen ist damit labil und muss immer wieder performativ unter Beweis gestellt werden. Die Tänzer*innen konzentrieren sich in der vermeintlichen Übungssituation auf das Üben der Schrittfolge und orientieren sich nach vorne bzw. zur jeweiligen Position des Bundestrainers. Die anderen Trainer*innen sind für die Tanzenden je nach Position des Bundestrainers nicht sichtbar (s. Abb. 16). Durch ihn werden die restlichen Trainer*innen den Tänzer*innen als Mitspieler*innen ins Gedächtnis gerufen, die unabhängig von ihrer Sichtbarkeit für die Bewertung durchgehend zuständig sind. Es wird eine panoptische Anordnung geschaffen, in der die Tänzer*innen einer permanenten möglichen Beobachtung aus den verschiedenen Positionen ausgesetzt sind und sich entsprechend verhalten müssen (vgl. Foucault 1994a: 256ff.). Abb. 16: Panoptische Anordnung
Durch den erneuten Verweis auf die Sehgewohnheiten von Wertungsrichter*innen, gibt der Bundestrainer zum einen weitere Einblicke, die für die Platzierung bei Turnieren relevant sind. Zum anderen zieht er eine Parallele zwischen der Sichtung und Turnieren. Selbst in Situationen, die offiziell nicht bewertet werden – wie dem Aufwärmen bei Turnieren oder der Einübung von Schrittfolgen in der Sichtung – müssen die Tänzer*innen sich engagiert zeigen, um in den anschließenden Praktiken positiv bewertet zu werden. Als Zuspitzung
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macht der Bundestrainer deutlich, dass bei der – bis zu dreizehn Stunden pro Tag andauernden – Sichtung bis zur letzten Minute Engagement gezeigt werden müsse. Wer nicht mehr „on“ sei, könne sogar Punkte verlieren und damit bei der Sichtung negativ bewertet werden. Dass sich das Engagement nicht nur auf die Ausführung von Tanzschritten, sondern auch auf das Verhalten über die tanzspezifischen Praktiken hinaus bezieht, zeigt das folgende Beispiel: Während die Tänzer*innen die Schrittfolge erneut synchron ausführen, betritt einer der Tänzer (Dominic) verspätet den Tanzsaal und möchte sich einreihen. Als der Trainer ihn sieht, dreht er die Musik aus und alle Tänzer*innen hören auf zu tanzen: Bundestrainer (BT): „Stopp! Dominic! Möchtest Du mitmachen, oder?“ Dominic (D): „Ja, ich war noch nicht-.“ BT: „Schneller! Das ist ‘ne Sichtung!“ D:
„Ich weiß.“
BT: „Damit das allen klar ist, Ihr werdet alle ständig beobachtet und ich schau‘ mir das sehr sehr sorgfältig an, wie Ihr Euch nicht nur tänzerisch anstellt, sondern wie das auch ansonsten so läuft. Und wenn einer raus muss auf Toilette oder so, dann kann er auch eben herkommen und sagen ich muss mal austreten oder sowas. Aber nicht einfach so rausgehen und die ganze Gruppe will anfangen und einer geht hier gemütlich so durch.“ D:
„Ich war auf Toilette.“
BT: „Okay. Du sagst das nächste Mal Bescheid und dann läufst Du schnell und nicht so gemütlich.“ D:
„Ja“
Trainer 2:
(vom Trainertisch aus) „Können wir das mal klären bitte. Solange Ihr hier Unterricht habt, verlässt KEINER den Saal! (-) Mich nervt das schon den ganzen Tag! Das ist ‘ne Aufmerksamkeit gegenüber dem Bundestrainer (-) und Ihr seid hier um Stand-by zu sein. Wenn Ihr das nicht wollt, dann verschwindet. Versteht Ihr?“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
In der Anordnung der synchron agierenden Körper ist eine unauffällige Einreihung für Dominic nicht möglich. Sein Zu-spät-Kommen wird sofort wahrgenommen und die Übung unterbrochen. Das ‚Fehlverhalten‘ wird nicht nur im Stillen registriert, sondern – zum ersten Mal mit namentlicher Adressierung – vor allen Teilnehmenden kritisiert. Die Kritik bezieht sich nicht nur auf das Zuspät-Kommen, sondern auch auf die Art und Weise: Der Bundestrainer bemän-
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gelt die „gemütliche“ Gangart Dominics, der sich stattdessen zu beeilen habe, um an der Übung zu partizipieren. Auch Dominics Reaktion auf die öffentliche Zurechtweisung unterscheidet sich von allen anderen beobachteten Fällen. Weder entschuldigt er sich, noch signalisiert er Reue durch bspw. Verlegenheitsgesten, wie es im skizzierten Beispiel beim Aufwärmen der Fall war (vgl. Arr. 1). Dies führt schließlich dazu, dass sich ein weiterer Trainer aus seiner stillen Beobachterposition löst und die Zurechtweisung durch den Bundestrainer untermauert. Mit seiner Ansage macht er nochmals deutlich, dass die Tänzer*innen durchgehend unter Beobachtung stehen und jedes Fehlverhalten registriert und entsprechend bewertet wird. Gleichzeitig verweist der Ausschnitt auf die politisch-normative Dimension der Sichtungspraktiken, da hierbei Hierarchien und mögliche Spielräume ausgehandelt werden. Die Trainer*innen legen durch ihre ermahnenden und disziplinierenden Adressierungen ihre bis dahin stillen Beobachtungen des schon „den ganzen Tag“ auftretenden Fehlverhaltens offen. Wer sich in diese – bis dahin impliziten – Regeln der Sichtungspraxis nicht einfüge, würde aus der Sichtung exkludiert. Das unangekündigte Verlassen des Tanzsaals während der Einheit wird – zumindest von Trainer 2 – als Respektlosigkeit dem Bundestrainer gegenüber und damit als Abwertung seines Status‘ gedeutet. Durch die Zurechtweisung vor allen Teilnehmenden in Kombination mit der ermahnenden Erinnerung der durchgehenden Beobachtung wird explizit die Hierarchie zwischen Trainer*innen und Tänzer*innen ins Gedächtnis gerufen und gefestigt. Der abschließende Satz, dass diejenigen, die ‚das‘ – den durchgehenden „Stand-Bye“ Modus – nicht wollen, gehen könnten, unterstreicht die Machtasymmetrie. Damit handelt es sich beim Training mit dem Bundestrainer nicht um eine reine Übung, bei der für den Ernstfall ein „zweckorientiertes So-Tun-als-ob“ (Goffman 1980: 72) praktiziert wird.14 Vielmehr fließen Übung und Prüfung in der Sichtungspraxis ineinander. Während in der abschließenden Bewertungsrunde das tänzerische Können im Vordergrund der Bewertung steht, bewerten die Trainer*innen im Training das Engagement der Tänzer*innen. Die Art und Weise, wie sie sich im Training präsentieren, wie aufmerksam sie sind, wie gut sie bereits beim Üben die Bewegungen ausführen, aber auch wie sie sich den Trainer*innen gegenüber verhalten, werten diese als Zeichen für das jeweilige Engagement. Die Schwierigkeit des Sich-Engagiert-Zeigens liegt in diesem Trainingsarrangement im zunächst widersprüchlich erscheinenden Anspruch des Nicht14 Goffman (1980: 72) spricht von „Einübungen“ in denen zumeist Anfänger*innen Erfahrungen in bspw. einer neuen Praktik sammeln können, ohne, im Falle von Versagen, mit Konsequenzen rechnen zu müssen.
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Auffallens und Auffallens. Die Tänzer*innen sind vor die Aufgabe gestellt, sich zum einen einzureihen und bei der synchronen Ausführung der Tanzschritte nicht von den anderen abzuweichen, also möglichst nicht aufzufallen. Gleichzeitig müssen sie sich auch im Training aus der Masse hervortun und den Trainer*innen positiv auffallen. Zur Bewältigung dieser widersprüchlichen Anforderungen sind den Tänzer*innen nur eingeschränkt Möglichkeiten gegeben, die anhand der folgenden Beispiele gezeigt werden: In einem siebten Schritt sollen die Damen und Herren eine Schrittfolge separat üben. Dafür reihen sie sich nach Geschlechtern getrennt an den gegenüberliegenden Seiten der Tanzfläche auf. Der Bundestrainer adressiert jeweils eine Seite, tanzt die Schrittfolge zunächst vor, bevor die Tänzer*innen sie nachtanzen, während die Partner*innen zuschauen (s. Abb. 17). Abb. 17: nach Geschlechtern getrenntes Üben der Schrittfolge
Der Bundestrainer tanzt eine Schrittkombination vor, die eine Spirale und einen anschließenden Vorwärtsschritt beinhaltet. Während die Tänzer dem Trainer dabei zuschauen, tanzt ein Tänzer (Moritz, Nr. 14) die Schrittfolge parallel mit. Bundestrainer: „zwei, Moritz: (s. Abb. 18)
drei tanzt Spirale tanzt zwei Spiralen
vier“ vorwärts Schritt vorwärts Schritt
Abb. 18: Moritz tanzt sich aus der Reihe
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Der Bundestrainer dreht sich wieder zu den Tänzern, zählt diese ein und sie fangen an, die Schrittfolge zu tanzen. Moritz dreht erneut zweimal statt einmal in der gleichen Zeit, in der die anderen Tänzer eine Drehung ausführen (s. Abb. 19).
Abb. 19: Doppelte Spirale getanzt von Moritz
BT:
„Moritz, bleib cool! Du drehst zu viel. Trainer schaut Moritz an
Nochmal“ dreht sich zu den Tänzern
Tänzer gehen wieder zur Wand „[Name ehemaliger Lateintänzer] der war glaube ich der Erste, der das getanzt hat, tanzt zwei Drehungen hintereinander vor der hat immer noch eine extra Drehung gemacht Trainer schaut zu Moritz Ihr macht jetzt nur Spirale Trainer tanzt: Spirale, Moritz: tanzt Spirale,
vorwärts Schritt. vorwärts Schritt vorwärts Schritt
Spirale Spirale, Spirale
Die andere Drehung, Moritz, die lassen wir mal weg Trainer schaut zu Moritz, der immer noch vor den anderen Tänzern steht (s. Abb. 20) Moritz nickt und reiht sich wieder bei den Tänzern ein
Abb. 20: Adressierung Moritz
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BT: und nochmal zwei, drei vier und eins, zwei, drei vier“ Moritz führt die Schritte nun korrekt mit den anderen Tänzern aus (s. Abb. 21) (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Abb. 21: Moritz führt Tanzschritt mit den Tänzern korrekt aus
In der Übung positioniert sich der Tänzer Moritz direkt vor dem Trainer*innentisch und einem der beobachtenden Trainer an der Seite, so dass er in ihrem unmittelbaren Blickfeld steht. Anders als die restlichen Tänzer tanzt er bereits bei der Demonstration des Bundestrainers die Schrittfolge richtig mit. Damit tanzt er sich buchstäblich aus der Reihe der anderen Tänzer und wird für alle sichtbar (s. Abb. 20). Er demonstriert bereits sein Engagement während die anderen noch in einer Reihe verweilen. Diese hervorgehobene Position bezieht er im Laufe der Übung immer wieder und bleibt damit bei Ansagen des Bundestrainers für alle sichtbar, ohne die Grenze zum territorialen Bereich der Trainer*innen oder des Bundestrainers zu überschreiten (vgl. Arr. 1). Bei der kollektiven Ausführung der Schrittfolge hebt er sich durch eine Drehung zu viel hervor (s. Abb. 19). Dies ist zwar nicht die geforderte Schrittfolge, wird jedoch vom Bundestrainer – anders als bei den bisherigen Abweichungen – nicht als zu wenig Engagement in der Übungspraxis, sondern als positives Überengagement gewertet. Der Bundestrainer gibt dem Tänzer den Hinweis „cool“ zu bleiben, greift seinen Tanzschritt jedoch auf, erklärt von welchem erfolgreichen Tänzer dieser stammt und führt ihn selber aus. Mit der direkten Adressierung an Moritz, die Drehung solle jetzt weggelassen werden, geht der Bundestrainer wieder zur Vermittlungsreihe über. In der folgenden kollektiven Ausführung reiht sich Moritz nun ein und demonstriert, dass er auch den geforderten einfacheren Tanzschritt ausführen kann (s. Abb. 21). Damit gelingt es Moritz in allen Aktionen positiv aufzufallen. Durch kleine Abweichungen in seiner Positionierung bzw. der Tanzausführung macht er sich für alle anderen und im speziellen für die Trainer*innen sichtbar. Die Abweichungen sind so gewählt, dass sie ihn für die Trainer*innen als ambitionierten
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und engagierten Tänzer erscheinen lassen, dem es gelingt, sich im Spielraum des Arrangements positiv hervorzutun. Im folgenden Beispiel bringt er nicht nur sich in Spiel, sondern nutzt auch Gelegenheiten, um seine Partnerin hervorzuheben: Nachdem die Herren einige Male die Schrittfolge unter Anleitung des Bundestrainers geübt haben, sind die Damen an der Reihe. Nach dem ersten Durchgang unterbricht der Bundestrainer die Übung, während die Damen sich wieder Richtung Wand zu ihrer Ausgangsposition bewegen. Bundestrainer (BT): „Welches Mädchen glaubt denn, tolle Füße zu haben? Damen gehen gesammelt zurück zur Wand ohne den Trainer anzuschauen. Auch als sie an ihrer Position angekommen sind, reagiert keine der Damen BT: (----) Wie bitte?“ Moritz: „Miriam!“ [Moritz‘ Partnerin] Trainer dreht sich zu Miriam BT:
„Miriam komm vor. Ein Applaus für Miriam! Trainer schaut zu Miriam Miriam geht zum Trainer alle klatschen
BT:
Ich hätte ja jetzt erwartet, dass Ihr Alle aufzeigt! Trainer schaut in Richtung der Damen Ihr müsst auch SELBSTbewusstsein haben! Ihr müsst auch sagen, ich zeig das jetzt einfach mal! Was ich aber auch ganz toll finde, Moritz Du hast gerufen, nicht? Trainer dreht sich zu Moritz und zeigt auf ihn Moritz nickt
BT: Dass Du SO von Miriam begeistert bist, dass Du vor der ganzen Gruppe sie hervorhebst. Das ist wirklich GANZ Trainer fängt an zu klatschen Alle Tänzer*innen fangen an zu klatschen BT: Trainer geht zu Miriam nimmt ihre Hände So. Was ich jetzt will, ist eine Spiral Cross Position. Dann setz ich den Fuß hoch an Miriam streckt den rechten Fuß
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Abb. 22a-c: Trainer demonstriert mit Miriam eine geführte Drehung
BT: steht auf beiden Füßen, ich dreh ein, dreh dreh dreh dreh […] Ganz edel! Ganz edel! Kreuzen, kreuzen! führt Miriam in einer 180 Grad Drehung auf der Stelle: Abb. 22a-c DAS ist Qualität!“ Trainer hebt den Blick nach oben zu den Herren, nickt Miriam kurz zu, lässt ihre Hände los Miriam löst die Position und reiht sich bei den Damen ein Damen und Herren klatschen (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Nachdem keine der Damen, sich nach Aufforderung durch den Bundestrainer meldet, nutzt Moritz die Möglichkeit seine Partnerin aus den Tänzerinnen hervorzuheben und ruft laut ihren Namen. Dieses Verhalten, das nicht der Normativität der bisherigen Sichtungspraxis entspricht, da der Bundestrainer sonst durchgehend die Redner*innenliste bestimmt, wird jedoch nicht sanktioniert, sondern positiv gewertet und mit Applaus unterstrichen. Der Bundestrainer greift den Einwurf von Moritz auf und hebt seine Aktion als beispielhaft hervor. Damit schließt seine Adressierung an Moritz an die vorhergehenden an und zeigt, dass die Teilnehmenden sich nicht in einmaligen Adressierungsakten gegenseitig positionieren, sondern dass es sich um einen Prozess ständigen Wiederholens handelt (vgl. Butler 1997: 31). In seinen Rückmeldungen an die Damen wird die Adressierung deutlich selbstbewusster aufzutreten. Allein Miriam kann die Kritik durch ihre tänzerische Leistung ‚abfedern‘, für die sie mit Attributen wie „edel“ beschrieben und ihre Ausführung abschließend mit „Qualität“ betitelt wird. Auch für sie fordert der Bundestrainer Applaus vom Rest der Tänzer*innen ein. Damit gelingt es Moritz durch sein für die Sichtung untypisches und daher gewagtes Verhalten
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nicht nur sich selbst, sondern auch seine Partnerin aus der Masse der Bundeskaderanwärter*innen positiv hervorzuheben. Insgesamt weist Moritz anders als Dominic auch ohne vorherige Explikation damit ein Gespür für den Handlungsspielraum der Tänzer*innen auf. Ihm gelingt es einerseits an die impliziten Ordnungen der Sichtungspraktiken ‚anzukoppeln‘ und innerhalb seines territorialen Bereichs und Handlungsspielraums diese in Ansätzen zu transformieren (vgl. Pille 2013: 248). Indem er sich zunächst in die Sichtungspraktiken einfügt, der (Be)Wertungslogik der Trainer*innen folgt und sich damit als mitspielfähig erweist, werden leichte Transformationen bzw. die Ausweitung seines Handlungsspielraums ermöglicht. D.h., die Einflussnahme auf die (Be)Wertungslogiken und damit auch auf die Talentkonstruktionen setzt ein Wissen bzw. Gespür über die (impliziten) Normativitäten voraus. Einblicke in den Sehstil der Wertungsrichter*innen In einer kurzen Pause tauschen sich die Trainer*innen über die Unterschiede im Auftreten von Damen und Herren aus. Der Bundestrainer beschließt aufgrund der bisherigen Beobachtungen den Rest der Trainingseinheit stärker auf die Damen bzw. das Partnering auszulegen. Nachdem die Herren die Schrittfolge nochmals demonstriert haben, ruft er die Tänzerinnen zu sich, während sich die Herren wieder an der Wand positionieren sollen. Leise, so dass ihn die Tänzer nicht hören können, macht er die Damen auf die Fehler der Herren aufmerksam: „Ihr habt doch gesehen, dass die vieles falsch machen. […] Wenn Ihr das schon seht, dass die ständig Fehler machen, dann sehen das die Wertungsrichter erst recht. Und die sollen Euch jetzt führen. Lasst Euch von denen nicht einschüchtern!“ Der Bundestrainer bittet die Herren die Schrittfolge nochmals zu tanzen. Danach wendet er sich wieder an die Damen: „Passt auf. Ihr solltet jetzt immer bedenken. Ihr seid jetzt Wertungsrichter. Wenn ein Tänzer so knapp vor Euch tanzt (der Trainer hat nur einen Meter Abstand zu den Damen), den kann ich gar nicht bewerten! Ich brauche eine bestimmte Distanz um auch zum Beispiel vergleichend zu bewerten. Da wo die Herren jetzt stehen (s. Abb. 23a), könnt Ihr viel besser vergleichen, als wenn die so eng stehen. Auch wenn Ihr zum Beispiel Turniere tanzt, dann solltet Ihr mit Euren Trainern auch darüber sprechen, wo Ihr Euch aufstellt. So wenn ein Paar nachher so eng am Wertungsrichter tanzt, das strengt einen Wertungsrichter nur an, der fühlt sich nur gestört. Wenn jetzt aber (dreht sich zu den Herren) Jungs kommt mal zwei, drei Schritte weiter vor (s. Abb. 23b). (Dreht sich zu den Damen) Das ist doch okay, oder? So kann man sie noch gut sehen.“
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Abb. 23a-d: Demonstration des Abstands zwischen Tänzern und ‚Wertungsrichter*innen‘
(An die Herren gewandt) „Kommt mal noch ein Stück vor (s. Abb. 23c) (wendet sich wieder an die Damen) Jetzt wird‘s schon schwer. (zu den Herren) Kommt mal noch ein Stück vor (s. Abb. 23d). (An die Damen gerichtet) So was passiert jetzt? Ihr könnt die gar nicht richtig sehen! (an die Herren) Also alle zurück. Ihr könnt Euch aufstellen, wie Ihr wollt. Wer sich traut in der ersten Reihe zu tanzen, zeigt Selbstbewusstsein. (Trainer dreht sich zu den Damen) So, und Ihr schaut jetzt mal auf diese technischen Dinge. (An die Herren) Ich zähl Euch ein: und eins, zwei und eins, zwei […]“ (Tänzer tanzen die Schrittfolge zur Taktvorgabe des Trainers). (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
An die Beobachtung der Trainer*innen anschließend, dass die Tänzerinnen oftmals zu passiv im Paar agieren, gewährt der Trainer nur den Damen Einblicke in den Sehtsil der Wertungsrichter*innen. Die Herren dienen ihm als Demonstrationsobjekte, erfahren darüber hinaus jedoch keine Beachtung. Durch die geschlechterspezifische Selektion der Wissensweitergabe werden die Herren in ein größeres Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Partnerinnen gesetzt. Der Einblick in die Bedeutsamkeit der richtigen Distanz zwischen Tanzkörper und Wertungsrichter*in erfolgt sehr schnell. Der Bundestrainer lässt den Tänzerinnen wenig Zeit, den Einfluss der unterschiedlichen Distanzen auf das Sehen der Tanzkörper zu testen. Stattdessen legt er sehr schnell offen, welche Distanzen für das Sehen und Bewerten geeignet sind und welche als „anstrengend“ bzw. „störend“ emp-
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funden werden. Der Trainer lässt die Damen also wenig praktische Erfahrungen in der Position von Wertungsrichter*innen sammeln, sondern gibt ihnen hauptsächlich theoretisch-kognitive Informationen bezüglich des Sehstils. Dieser soll nicht selbst eingeübt, sondern das Wissen darüber soll bei der Sichtung und auf Turnieren für eine strategisch bessere Platzierung genutzt werden. Als schließlich im achten Schritt der Vermittlung die Schrittreihe um Paarelemente ergänzt wird (eine ausführliche Beschreibung erfolgt in der Beschreibung der zweiten Trainingseinheit) und die Paare die gesamte Schrittfolge gemeinsam tanzen sollen, gibt der Trainer den Tänzer*innen weitere Informationen über den Sehstil der Wertungsrichter*innen: „Auf einem großen Turnier, wo die Fläche 35 Meter lang ist und ich glaub 20 Meter breit ist. Stellt Euch das mal vor: 35 Meter Länge. 20 m Breite. Und als Wertungsrichter wird einem ein Platz zugewiesen. Das heißt ich stehe jetzt zum Beispiel hier in der Ecke. So, nun habe ich jetzt 35 Meter. So jetzt sehe ich Florian (einer der Tänzer), wenn ich hier stehe, Florian gehst Du mal weiter zurück, noch weiter, noch weiter. So. (s. Abb. 24). Wenn er sich jetzt dort bewegt und das Ganze in schwarz, natürlich sehe ich noch Körperbewegungen, aber Ihr könnt Euch vorstellen, wie das Ganze verschwimmt. Wie das immer undeutlicher wird. Was kann ich da hinten noch sehen? Natürlich sehe ich sofort die Beine, ich höre Musik und ich sehe sofort, ob die Beine schnell arbeiten. Ob die Balancen stimmen, ob jetzt jemand im Oberkörper eine extreme Bewegung macht, kann ich vielleicht nicht immer sehen, aber man sieht, ob ein Körper insgesamt geschmeidig ist oder nicht. Und das sind eigentlich Dinge, die dann relativ schnell aufgenommen werden und dann siehtt man, der hat einen koordinierten Körper, eine koordinierte Bewegung und sieht es richtig aus.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Abb. 24: Demonstration der Distanz bei großen Turnieren
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Durch die Positionierung des Bundestrainers zu einem der Tänzer soll für die Bundeskaderanwärter*innen die Wertungsrichter*innenoptik vorstellbar werden (vgl. Abb. 24). Anders als im vorherigen Beispiel fordert der Trainer die Tänzer*innen jedoch nicht auf, die Position des Bewertenden einzunehmen. Stattdessen benennt er Details, die aus der Entfernung sichtbar sind: Anhand der Beine und der Bewegung zu Musik wird die Koordinationsfähigkeit des tanzenden Körpers bewertet. Durch die Betrachtung der Beinarbeit werden Bewegungen im Oberkörper schlechter sichtbar. Zusätzlich zur optimalen Positionierung gibt der Trainer damit Hinweise für die relevanten Details bei der Bewegungsausführung. Erneut scheint es nicht um den Nachvollzug des Sehstils zu gehen, sondern um eine Informationsweitergabe, die die Tänzer*innen bei Turnieren – und bereits bei der Sichtung – strategisch nutzen können, um bessere Bewertungen zu erhalten. Nach einigen weiteren Durchgängen und der Möglichkeit des individuellen Übens zu Musik mit persönlichem Feedback von den Trainer*innen (eine ausführliche Beschreibung erfolgt in der Nachzeichnung der zweiten Trainingseinheit) präsentieren die Paare die eingeübte Schrittreihe in Kleingruppen und werden von den Trainer*innen bewertet (vgl. Arr. 3). 2. Trainingseinheit Überprüfung des Partnering und des Reflexionsvermögens Aufgrund seiner bisherigen Beobachtungen beschließt der Bundestrainer den Inhalt der zweiten Trainingseinheit zu ändern und den Schwerpunkt auf die Verbindung im Paar zu legen. Hierfür wählt er eine Choreographie, die sich durch viele verbindende Elemente auszeichnet. Daher wird die Schrittfolge von Beginn an ans Paar und nicht an die einzelnen Tänzer*innen vermittelt. Den Schwerpunkt teilt er den Paaren gleich zu Beginn der Einheit mit: „So, wichtig ist, Ihr tanzt erstmal die Schritte und dann versucht Ihr eine Verbindung herzustellen. Stellt Euch nochmal in der Gegenüberstellung auf, denkt an die Beinposition, Posture und Körper, Haltung, Hals lang, nicht den Kopf nach vorne schieben, Brustbein anheben, hinten Spannung im Bein haben, die Männer hinten rechts, die Damen vorne links und einen wunderschönen Fuß. Schön gestrecktes Bein. Und jetzt mal bitte beide die Wirbelsäulen zueinander. Die Hand bleibt relativ ruhig. Ihr arbeitet beide mit den Wirbelsäulen zueinander. So dass eine Verbindung entsteht.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
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Dieser erste Teil der Ansage verdeutlicht bereits die Komplexität der Bewegungsausführung. Zunächst ruft der Bundestrainer ein Gespür für die Beinposition mit unterschiedlichen Spannungen, die Füße, den Hals, die Kopfhaltung, das Brustbein und die gesamte Körperhaltung auf. Für Noviz*innen im Tanz – wie mich bspw. – wäre weiterhin unklar, was genau bei den jeweiligen Körperteilen beachtet werden muss. Für die erfahrenen Tänzer*innen reichen diese kurzen verbalen Marker (vgl. Schindler 2011b: 341), um „einen spezifischen körperlichen Zustand [zu] induzieren“ (Brümmer 2015: 154 Fn. 148) und die gewünschte Haltung einzunehmen. Neben diesen zahlreichen Aspekten – Beinposition, Posture, Haltung, Hals lang, Brustbein raus etc. – sollen die Paare den Fokus jedoch vor allem auf die Verbindung im Paar legen und für die Trainer*innen sichtbar machen: „Okay und da möchte ich sehen, dass sich der Abstand im Paar verändert. Das ist ein wichtiges Zeichen für Partnering. Da kann man relativ schnell sehen, ob es arbeitet, ob es atmet im Paar oder doch sehr statisch ist. […] Fühlt mal eben, ob Eure Partnerin in Balance auf ihrem Fuß steht. So wenn Ihr jetzt wollt, dürft Ihr sie auch gerne mal ein bisschen dichter ran holen. Holt sie mal ein bisschen dichter ran. (Die Herren ziehen ihre Partnerinnen dichter zu sich, s. Abb. 25) In Out-of-Balance-Position. Holt sie wieder zurück, stellt sie in Balance (Herren führen Damen zurück in die Ausgangsposition, s. Abb. 26). Okay. Männer Ihr habt die Möglichkeit da mit ihr zu arbeiten. Wenn SIE, wenn Eure Partnerin Euch vertraut, dann könnt Ihr mit ihr alles Mögliche machen, ja? Aber sie muss Euch vertrauen und auf der anderen Seite müsst Ihr auch zusammenpassen. Ihr müsst Eure Körper zueinander bewegen. Ich will jetzt nicht, dass Ihr sie die ganze Zeit Out-ofBalance stellt, aber ich möchte, dass Ihr erstmal spürt, wann ist sie in Balance, wann ist sie Out-of-Balance, und dann kann man eben damit auch ein bisschen spielen.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Abb. 25: Out-of-Balance Position
Abb. 26: In-Balance Position
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Die rein verbale Instruktion richtet sich nur an die Herren und schreibt den Damen eine Passivität zu: Die Herren können die Damen „näher ranholen“, sie „zurückstellen“, mit ihnen „alles Mögliche machen“ und „spielen“. Der Trainer erzeugt durch die Ansage eine Hierarchie im Tanzpaar, in dem der Herr über zumindest einige der Bewegungen der Dame bestimmen kann. Diese Hierarchie ergibt sich aus der Praxis des Lateinamerikanischen Tanzes, die für ihre Teilnehmer*innen zwei unterschiedliche Positionen bereithält: Die „Führende“ und die „Folgende“15 (vgl. Villa 2009: 117). Auch wenn es inzwischen Ausnahmen gibt, ist die Verteilung der Positionen in der Regel geschlechtsspezifisch. 16 Für die Herren ist die Position des Führenden vorgesehen, während die Damen folgen17 (vgl. Haller 2014: 93ff.). Die Damen müssen eine Bereitschaft zeigen, sich in diese Passivität zu begeben, was für den Trainer auf Vertrauen basiert.18 Die geschlechtsspezifische Zuordnung der Position wird zusätzlich durch die Kleidung – im speziellen die Schuhe – gestützt: Die Damen müssen hohe Absätze tragen, die ihren körperlichen Schwerpunkt verschieben19 und „nicht gerade zu einer bewegungsdynamischen Autonomie – im Sinne eines Führens der Bewegungen – beitragen“ (Haller 2014: 137f.).20 15 Dass die Figuren des „Führens“ und „Folgens“ sich nicht nur in Tanzpraktiken finden lassen, verdeutlichen bspw. Pille und Alkemeyer (2016) anhand einer praxeologischen Analyse von Schulunterricht. 16 Villa (2009: 113) weist bspw. darauf hin, dass ein und dieselbe Person im Tango mal führen und mal folgen kann. Jedoch ginge dies nicht innerhalb eines Tanzes und müsse möglichst durch Artefakte (wie bspw. einen entsprechenden Schuhwechsel) oder andere Hilfsmittel sichtbar gemacht werden. In Ergänzung sei darauf hingewiesen, dass diese strikte Trennung nicht in allen Tanzformen vorgesehen ist. So führt Gugutzer (2010) am Beispiel der Contact Improvisation aus, dass es Tanzformen gibt, in denen Führen und Folgen abwechselnd eingenommene Rollen sein können, die nicht geschlechtsspezifisch verteilt sind. In dieser Tanzform wird durch das „Geben und Nehmen des Körpergewichts“ (S. 178) ein Rollenwechsel initiiert und kann mehrfach innerhalb einer Performance stattfinden. 17 Daher wird im Folgenden von dem Führenden und der Folgenden gesprochen. 18 Wie Brümmer (2015: 98ff.) am Beispiel der Sportakrobatik verdeutlicht, besitzt Vertrauen eine konstitutive Bedeutung für die erfolgreiche Bildung eines Kollektivkörpers. 19 So kommt es im Laufe der Sichtungen immer wieder zu Ermahnungen von Seiten der Trainer*innen, wenn Damen ihre flacheren Trainingstanzschuhe bei Bewertungsrunden tragen wollen. 20 Inwiefern über Artefakte wie bspw. die Schuhe die jeweilige Position im Tanzen angezeigt wird, arbeitet Villa (2002: 183) in der Queertangoszene heraus, in der Frauen
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Nur bei wenigen Paaren lässt sich nach der verbalen Instruktion des Trainers ein Unterschied zwischen den Tanzpositionen In- bzw. Out-of-Balance erkennen.21 Der Trainer geht dazu über, bei den nächsten Tanzschritten, in denen das Verständnis von Führen und Folgen von Bedeutung ist, die Tanzschritte vorzutanzen und explizit die Damen zu adressieren: „Und es ist wichtig, dass Ihr nach der Drehung 2 und 3 und auf dem rechten Fuß hinten dann dreht sich, stoppt auf dem rechten Fuß hinten, klopft mit der Hand auf den Oberschenkel und links vorne das Bein gestreckt habt. hält das linke Bein gestreckt Ladies. Nicht nach hinten setzen. löst seine Position Der größte Fehler 2 und 3 dreht sich dabei kommt aber nicht zum Stehen, sondern stolpert in den nächsten Schritt weiter Ihr habt keine Verbindung mehr zueinander. Diese Forward Walk Turning Aktion dreht sich nochmal stoppt wie beim ersten Mal bringt Euren Körper mehr nach vorne fasst sich an die Seiten, führt die Hände nach vorne und macht einen Schritt nach vorne (s. Abb. 27a-c)
Abb. 27a-c: Demonstration der Bewegungsrichtung
in der Position als Führende die Schuhe wechseln und statt der fünf bis neun Zentimeter Absätze, flachere ‚Männer-Tanzschuhe‘ tragen. 21 Als Kontrast s. die beiden Paare in Abb. 25 und 26: während bei dem Paar im Vordergrund ein deutlicher Unterschied in der Distanz und ihren Körperhaltungen zu sehen ist, sieht das Paar im Hintergrund bei beiden Positionen annähernd gleich aus.
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und damit arbeitet Ihr um dann wieder an ihn ranzukommen führt seine getreckten Hände vor seinem Körper zueinander (s. Abb. 28a) und dann kann er Euch in die neue Richtung führen führt die geschlossenen Hände zur Seite (s. Abb. 28b) und nicht, dass Ihr SELBER (--) Noch einmal.“ löst die geschlossenen Hände und führt eine Hand alleine zur Seite (Abb. 28c) (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Abb. 28a-c: Hände als Tanzpaar
Wie bereits beim vierten Arrangement zeichnen sich die Rückmeldungen vom Bundestrainer durch eine Mischung aus körperlicher Demonstration und verbalen Ansagen aus, die sich gegenseitig ergänzen und nur gemeinsam einen Sinn ergeben (vgl. Goodwin 2006; Streeck 2009). Wieder führt der Trainer zur Verdeutlichung sowohl die richtige als auch die falsche Ausführung vor. Während er letztere nur einmal und sehr schnell zeigt, demonstriert er die richtige mehrfach und ‚friert‘ seinen Körper in bedeutsamen Positionen ein, um mit Hilfe seiner Hände auf wichtige Details zu verweisen (s. Abb. 27). Erneut lässt sich beobachten, dass einige Tänzer*innen die Bewegungen selbst ausprobieren und den Trainer bei der richtigen Ausführung versuchen nachzuahmen. Während die Tänzerinnen bei der Drehung zur Unterstützung auf ihre Partner zurückgreifen können, steht der Trainer vor der Aufgabe, diesen Paartanzschritt alleine auszuführen und auch die unterschiedlichen Anschlussmöglichkeiten ohne Partnerin zu zeigen. Da dies nur bedingt möglich ist, greift er schließlich auf seine Hände als Demonstrationsobjekte zurück (vgl. Abb. 28), um zumindest in Ansätzen die
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verbalen Aussagen körperlich zu unterstreichen (vgl. Streeck 2009).22 Das Beispiel verdeutlicht die Grenzen einer individuellen Demonstration eines Paartanzschrittes, welcher sich bei richtiger Ausführung durch die wechselseitige Beziehung der Bewegungen im Paar auszeichnet (vgl. Haller 2014: 56). Da die Bewegungen bei den thematisierten Schritten eines Partners*einer Partnerin bedürfen, geht der Trainer dazu über, bei den folgenden Demonstrationen eine*n Tänzer*in als Partner*in hinzuzuziehen, wobei er zumeist einen Tänzer auswählt und selbst den Damenpart übernimmt:23 Der Bundestrainer und Erik – einer der Tänzer – stellen sich in die Mitte des Kreises. BT: „Wenn wir jetzt hier stehen, bauen wir natürlich eine Verbindung zueinander auf und haben den Körperschwerpunkt zueinander. Und es ist so, dass ich jetzt Deine Wirbelsäule spüre und dass ich Dir jetzt auch meine Wirbelsäule gebe und dadurch entsteht eine Verbindung. Erik beginnt sich zu bewegen.
Er bringt seinen Schwerpunkt nach vorn, Trainer nickt Erik zu
Erik lehnt sich nach vorne und leitet den Tanzschritt ein Trainer deutet bei Erik auf den Oberkörper
Ich reagiere darauf Trainer lehnt sich zeitlich knapp versetzt nach hinten und führt Tanzschritt nach hinten aus Natürlich können wir das auch selber machen. Trainer tanzt den Schritt nochmals und zieht Erik mit Das sieht man sofort! Und es ist so, als Dame fange ich sofort an mega aktiv zu werden. Ihr sollt aktiv sein, aber trotzdem soll es IMMER gelassen bleiben, es soll immer relativ unangestrengt aussehen. Und die Dame muss heute extrem viel leisten. Wenn sie das alles aus eigenem Antrieb machen muss, wird es immer auch etwas STOCKEND aussehen, FEST. Wenn wir über Körpergewicht arbeiten, kann ich viel entspannter als Dame tanzen, weil ich kriege von ihm die Information. Aber er muss auch spüren, wann ich auf dem Fuß bin, um den nächsten Schritt einzuleiten.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
22 Für eine Systematik von Handgesten s. Streeck (2009). Hierin zeigt Streeck zudem, dass die unterschiedlichen Funktionen der Gesten auch in Abhängigkeit zu den jeweiligen Ansprüchen an die Aufmerksamkeit der Interaktionspartner*innen stehen. 23 Da die Videoaufnahmen zu der Szene aufgrund einer ungünstigen Positionierung qualitativ nicht aussagekräftig sind, wurden keine Standbilder von der Szene eingefügt.
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Was der Trainer zuvor alleine nicht verdeutlichen konnte, demonstriert er nun mit einem der Tänzer. Erneut wird der Fokus auf die Verbindung im Paar gelenkt und die Einleitung von Schritten, die erst erfolgen soll, wenn der vorherige Tanzschritt beendet wurde. Für eine gute Bewertung muss die Dame als Folgende auf die Bewegungseinleitung von ihrem Partner warten. Ob die Kommunikation im Paar funktioniert, ist laut dem Bundestrainer in der Bewegungsausführung sichtbar, die dann „stockend“ und „fest“ sei. An dem Beispiel lassen sich die komplexen Abstimmungsprozesse im Paar erkennen: Der Herr muss ein Gespür dafür entwickeln, wann seine Partnerin ihren vorherigen Tanzschritt beendet hat, um erst dann den nächsten Schritt einzuleiten. Dies soll im Idealfall über die verbindenden Hände gefühlt, gegenseitig über die „Wirbelsäulen“ gespürt und damit die Gewichtsverlagerungen erfühlt werden. Ein solches Gespür bildet sich nach Angaben der Trainer*innen erst nach vielen Jahren aus und bezieht sich nicht nur auf das individuelle Tanzen mit verschiedenen Partner*innen, sondern auf das Tanzen in derselben Paarkonstellation. In diese mischen sich die Trainer*innen auch nicht ein, da die Tänzer*innen selbst entscheiden müssen, mit wem sie diese enge Verbindung eingehen können bzw. wollen. Neben dem mehrstündigen Training ca. vier Mal die Woche, bei dem die Paare sich bedingt durch die Tanzpraxis körperlich nahekommen und sich durchgehend über die Trainingsstruktur, die Inhalte und in der Tanzpraxis selbst abstimmen müssen, sind viele der Paare auch privat zusammen und wechseln füreinander den Wohnort bzw. ziehen zusammen, um optimal gemeinsam trainieren zu können. Der Status einer Einheit als Paar kann laut Angaben der Trainer*innen auch nicht von außen erzwungen werden, sondern ergibt sich nur bei vorliegender Passung der Individuen und einer jahrelangen gemeinsamen Tanzpraxis. Eine Vorgabe von außen würde aufgrund der notwendigen Verbindung und Reflexion, nicht funktionieren: „Aber zwei tolle Tänzer schaffen nicht ein Paar. Das muss nicht sein. […] Über Gefühle zu sprechen in dieser Sportart ist sehr schwierig. Weil ich kann nicht mit Dir über Gefühle sprechen. Ich kann nicht sagen, das musst Du so fühlen. Ich fühle das und das. Das musst Du auch fühlen. Weil man da die Reflexion nicht hat.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Damit gehen die sichtenden Trainer*innen davon aus, dass das notwendige Bewegungsgefühl nicht (nur) auf individuellen Reflexions- und Regulationsmechanismen beruht, sondern sich darüber hinaus eine implizite, „spürende Verständigung“ (Gugutzer 2010: 172) zwischen den Partner*innen entwickeln muss (vgl.
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Collinson 2008: 52ff.; Haller 2009).24 25 Individuelles Reflektieren und tänzerisches Können sind demnach notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen. Dies deckt sich mit den praxistheoretischen Überlegungen von Alkemeyer und Villa (2010: 328), die herausarbeiten, dass zwischen den an einer Praxis Beteiligten „Resonanzen entstehen [müssen], damit eine Praxis in Gang gesetzt und am Laufen gehalten werden kann“. Aus den Aussagen kristallisiert sich zudem die Annahme der Trainer*innen einer körperlichen Widerständigkeit bzw. eines Eigensinns im Hinblick auf die „Verschmelzung“ (Haller 2009) zweier Tänzer*innen zu einem Paarkörper heraus. Wie die Körpersoziologin Haller (ebd.: 100) betont, kann im performativen Akt des Tanzes das Gelingen einer „Einheitserfahrung“ nicht garantiert werden. Die Mitspielfähigkeit in den Tanzpraktiken hängt demnach nicht nur von den individuellen „skilled bodies“ (Schatzki 2001: 3) ab, sondern von der Zusammensetzung der Teilnehmer*innen zu Paarkörpern. Damit wird erneut deutlich, dass nicht die individuelle Leistung für den Erfolg in den Lateinamerikanischen Tänzen bedeutsam ist, sondern das Funktionieren als Paar (-körper) (vgl. Arr. 3). So lässt sich auch bei den Demonstrationen beobachten, dass die Kommunikation zwischen dem Bundestrainer und dem*r Tanzpartner*in nicht immer auf Anhieb funktioniert. Gerade wenn der Trainer den Damenpart übernimmt, kommt es zu ‚misslungenen‘ Ausführungen. Insgesamt diagnostizieren die Trainer Defizite bei den Herren, die Damen adäquat zu spüren und entsprechend zu führen: „weil die Männer, das ist auch so brutal, was die führen, sie reißen die Mädchen, sie reißen die von den Füßen runter“ (Trainer 2). Gleichzeitig würden einige die Damen nicht signalisieren, wann sie bereit für den nächsten Tanzschritt seien: „Sie muss die Information geben, ich bin bereit das zu tun, mein Körper ist bereit das zu tun und jetzt kannst du mich lenken. Weil ich beweg‘ mich schon in diese Richtung. Lenke mich. Nicht führe mich“ (Trainer 2). Als Konsequenz geht der Bundestrainer dazu über, den Rest der Vermittlung mit einem der anderen erfahrenen Trainer durchzuführen 24 Je nach Praktik kann die Verständigung unter den Interaktionspartner*innen über verschiedene Sinne ablaufen. So verdeutlicht bspw. Weeks (1996) am Beispiel eines Orchesters wie sich beim gemeinsamen Musizieren eine ‚hörende Verständigung‘ einstellt und die Fehler der anderen durch gegenseitige Bezugnahme ausgeglichen und damit für das Publikum nicht hörbar werden. 25 Diese Annahme setzt sich von bewegungswissenschaftlichen Theorien wie bspw. dem Konzept der generalisierten motorischen Programme ab (vgl. bspw. Schmidt/Lee 2011) laut dem Bewegungsmuster gespeichert und abgerufen werden. Bewegungen würden demnach zentral vorprogrammiert sein und könnten größtenteils ohne Feedback bzw. basierend auf einem individuellen Soll-Ist-Abgleich ausgeführt und ggf. korrigiert werden.
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(s. Abb. 29). Der Schwerpunkt wird weiterhin auf die Verbindung im Paar gelegt, die beide aktiv mitgestalten sollen: Abb. 29: Trainer demonstrieren Tanzschritte
Trainer 2: „Und wenn ich das mit dem [Name Bundestrainer] mache, spüre ich ihn immer. Und das ist auch ganz wichtig, dass die Mädchen auch den Männern sagen, wo sie sind. Weil wenn ich ihn nicht spüre, dann ist das überhaupt nicht möglich. Er muss mir auch sagen, wann ist seine Bewegung zu Ende. Ich führ ihn dahin und er sagt mir okay: Fertig (die beiden tanzen den Schritt gemeinsam erneut vor) Und jetzt kann ich ihn führen. Er teilt mir hier mit (klatscht sich mit der rechten Hand auf die linke) wann ist er fertig. Und ich kann spüren, wann er seine Bewegung erledigt hat und jetzt kann ich weiterführen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt für die Mädchen.“ Bundestrainer: „Und die Dame muss erstmal fertig werden. Ich muss als Dame das Signal geben. Und wenn ich eine gute Dame bin, dann mach ich das. Oder wenn ich sage: mein Herr ist zu schlecht, ich mach das lieber selbst. Dann weiß ich wenigstens, wo ich bin. Aber ich hoffe, dass Ihr, wenn Ihr das seht, diese eine Variante, dass es atmet mit dieser Elastizität, dass es anders aussieht.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Ähnlich wie mit den Positionierungen im Raum (vgl. Arr. 1) sind für die Trainer*innen auch mit den Positionen innerhalb eines Paares unterschiedliche Rechte und Pflichten verbunden (vgl. Brümmer 2015: 153). Der Herr hat die Aufgabe, die Dame zu lenken und bestimmt damit über die Bewegungsrichtung, das Timing der Bewegungseinleitung und die Bewegung selbst. Gleichzeitig soll er jedoch nicht unabhängig von den Aktivitäten der Dame über diese Punkte entscheiden, sondern über die verbindenden Hände ihr Timing und ihre Bewegungsausführung erfühlen. Die Dame muss ihm durch Signale beim Erspüren ih-
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rer Bewegung helfen. Nur so kann der bereits thematisierte Paarkörper als Einheit in Erscheinung treten (vgl. Arr. 3). Dieses Gespür füreinander beinhaltet die Körper gegenseitig in der schnellen Abfolge der Bewegungen bis in die kleinen Details lesen zu können und aufeinander einzuspielen. Um als Talente anerkannt zu werden, müssen die Tänzer*innenkörper sowohl als ‚spürende Organe‘ wie auch als ‚Displays‘ an denen u.a. dieser Spürsinn sichtbar wird, in Erscheinung treten. Während sich nach Meinung der Trainer*innen die ersten Jahre noch durch „Aushandlungsprozesse“ auszeichnen, bildet sich im Idealfall nach und nach eine „gemeinsame Idee von Bewegungen“ aus: „Irgendwann geht das ineinander über und jeder versteht sich. […] Vieles macht der Körper intuitiv, wenn er denn geschult ist. Also Du empfindest die Musiken dann ähnlich. […] Aber es dauert schon. Es braucht sehr viel Zeit, bis Du das kannst. Also vier fünf Jahre. Im Topbereich bist Du dann schon so aufeinander eingestellt, das könntest Du im Schlaf.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Dies ist nach Ansicht der Trainer*innen bei den wenigsten Paaren in der Sichtung der Fall, da sie zumeist erst einige Monate bis wenige Jahre miteinander tanzen. Auf Grundlage der verbalen Instruktionen und der verschiedenen Demonstrationen des Bundestrainers alleine, mit einzelnen Tänzer*innen und einem der anderen Trainer sollen die Paare nun für sich die Schrittreihe üben, sich über die körperliche Interaktion austauschen und im speziellen die „Intensität der Führung fühlen“ (Trainer 1). Die Paare wiederholen die Schrittfolge mehrfach. Es lässt sich jedoch nur bei wenigen Paaren verbaler oder körperlicher Austausch über die Verbindung zwischen ihnen beobachten. Die zuvor gegebenen Instruktionen und Demonstrationen des Bundestrainers scheinen die intendierte Wirkung – eine Reflexion über die Verbindung im Paar – nicht erzielt zu haben. Nach interner Diskussion mit den anderen Trainer*innen ordnet der Bundestrainer an, dass alle Damen sich einen neuen Partner suchen. Als sich neue Paarkonstellationen gebildet haben, wird die Schrittfolge erneut drei Mal ausgeführt. Wieder sollen sich die Paare im Anschluss Rückmeldung zur Verbindung geben. Dieses Mal kommunizieren die neu zusammengestellten Paare mehr miteinander und einige geben sich multimodal Rückmeldung über Gesten und Zeigebewegungen auf einzelne Körperteile sowie verbale Äußerungen 26 wie „zu fest“, „ich
26 In Anlehnung an Cuffari und Streeck (2017: 197) werden Gesten und Sprechakte nicht als „radically distinct ontological kinds“ aufgefasst. Auch in Analysen sollten
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spüre gar nicht, wann Du den Schritt einleitest“ oder „Du reagierst zu langsam“. Die ungewohnten Paarkonstellationen, die aufgrund des fehlenden Eingespieltseins aufeinander zumeist mit einem ‚misslingenden‘ Partnering einhergehen, befähigen die Tänzer*innen zu einem Reflektieren über die Verbindung. Der Bundestrainer veranlasst noch drei weitere Wechsel nach dem gleichen Ablaufschema, bevor die Tänzer*innen sich in ihren ursprünglichen Paarkonstellationen zusammenfinden und die gleiche Übung nochmals ausführen. Es lässt sich beobachten, dass einige der Paare viel mehr miteinander kommunizieren als zu Beginn der Einheit. Die gemachten Negativ-Erfahrungen in den fremden Paarkonstellationen scheinen die Tänzer*innen für die beim Partnering wesentlichen Aspekte sensibilisiert und zur Kommunikation darüber befähigt zu haben. Einige Paare führen die Bewegung nun in verschiedenen Geschwindigkeiten immer wieder und teils überzeichnet aus, halten sich selbst an bestimmten Stellen an und kommentieren Details. Bei den Tänzer*innen lässt sich ein „reflection in action“27 (Schön 2009: 49ff.) erkennen, wonach Reflexion nicht als analytischdistanzierte Denkleistung, sondern als praktische Aufmerksamkeit im körperlichen Vollzug für den Vollzug aufgefasst wird. Einige der Paare ziehen die beiden herumgehenden Trainer zu Rate. Sie demonstrieren die Schrittfolge, versuchen die Schwierigkeiten zu verbalisieren und gemeinsam mit dem Trainer zu bearbeiten. Die Trainer demonstrieren nacheinander nochmals beide Parts während die Tänzer*innen die Tanzschritte körperlich nachvollziehen (s. Abb. 30). Abb. 30a-b: Demonstration der Tanzparts mit synchronem Nachvollzug
Interaktionen daher nicht in einzelne ‚Kanäle‘ zergliedert, sondern als „Gesamtgestalten“ (Meyer 2010: 225) betrachtet werden. 27 Die von Donald Schön als ‚reflection in action‘ bezeichneten Prozesse, lassen sich bereits bei Bourdieus (2001: 208f.) Beschreibungen vom „praktischen Reflektieren“ finden: „einem situativen, in die Handlung eingebundenen Nachdenken, das erforderlich ist, auf der Stelle die vollführte Handlung oder Geste zu beurteilen und eine schlechte Körperhaltung zu korrigieren“ und sich damit vom Nachdenken „eines scholastischen Denkers“ abgrenzt.
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Die Trainer setzen „ihre eigenen, aufs Engste mit den Anforderungsprofilen der jeweiligen Bewegungen vertrauten und in diesem Sinne ‚wissenden’ Körper“ (Brümmer/Mitchell 2014: 178) ein, um die angestrebte Praktik zu verdeutlichen. Durch das Beobachten einzelner Paare, den individuellen Austausch und das Üben mit ihnen können die Trainer im Idealfall die jeweiligen Probleme erkennen und korrektiv Einfluss auf die Ausführung nehmen. Im gemeinsamen Tanzen reflektieren die Trainer die Bewegungsausführung und explizieren die Diskrepanz zwischen der aktuellen Ausführung und der geforderten Praktik (vgl. Brümmer 2015: 205). Damit versuchen sie durch ein „reflection-in-and-onaction“ (ebd.) die Aufmerksamkeit der Paare auf spezifische Details zu lenken, um die idealtypische Ausführung der Praktik zu erzielen. Durch die reflexive Fremdführung werden die Paare zur Selbstführung angehalten und befähigen sich selbst durch den Austausch miteinander und mit den Trainern zur Selbstreflexion. In Anlehnung an Brümmer und Mitchel (2014) erscheinen die Teilnehmenden von Praktiken somit nicht als passive Rekrut*innen, die nur ‚fremdtechnologisch‘ zugerichtet und formiert werden, sondern sie eignen sich das von den Trainer*innen und Partner*innen „verfügbar gemachte praktische Wissen mühevoll, aktiv und ‚selbsttechnologisch‘“ (ebd.: 179) an. Die Bedeutsamkeit der Befähigung zur Selbstreflexion ergibt sich aus der Logik der Trainingspraxis, die bereits kurz skizziert wurde. Für den Großteil des Trainings sind die Paare auf sich gestellt und können sich nur gegenseitig korrigieren bzw. den Spiegel als Feedbackmöglichkeit nutzen.28 Nur Paare, die in der Lage sind, ihre Fehler selbst zu erkennen und selbstständig zu korrigieren, können die zahlreichen Übungseinheiten ohne Trainer*in effektiv zur „Erinnerungsfabrikation und Verinnerlichung“ (Merrit-Müller 2015: 319) des gewünschten Ablaufs nutzen, der dann auch unter erschwerten Bedingungen wie bspw. Turnieren (vgl. Arr. 4; 7) oder auch Sichtungen abgerufen werden kann. Die restlichen Trainer*innen beobachten die Paare bei ihren Interaktionen und tauschen sich mit den am Training beteiligten Trainern am Ende der Vermittlungseinheit informell darüber aus, bei welchen Paaren sich ein Reflexionsvermögen erkennen ließ und wer in der kurzen Zeit zu Selbstkorrekturen in der Lage war. Für die folgende Bewertungsrunde beschließen die Trainer*innen den Fokus auf das Partnering zu legen und für die Verbindung im Paar die Punkte zu vergeben.
28 Je nach Förderung und finanzieller Lage können sich die Paare unterschiedlich häufig Trainer*innenstunden leisten.
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Fazit Arrangement 5: Bewertung des Engagements und der Befähigung zur paarbezogenen Reflexion Das Training mit dem Bundestrainer ist das komplexeste Arrangement und zeichnet sich im Vergleich zu den bisherigen Fällen durch eine hohe Interaktion zwischen Trainer*innen und Bundeskaderanwärter*innen, wie auch tiefergehende Einblicke für die Tänzer*innen in den Sehstil der Trainer*innen und Wertungsrichter*innen aus. Die unterschiedlichen Anordnungen ermöglichen es den Trainer*innen verschiedene Talentmerkmale zu bewerten: So nutzt der Bundestrainer die Vermittlung einer neuen Schrittreihe, um unterschiedliche Wissensformen abzuprüfen. Die Anordnung beim ersten Vermittlungsschritt vor dem Spiegel schafft eine Lehr-, Lern- und Prüfungssituation, in der die Tänzer*innen den Trainer gleichzeitig von vorne und hinten bei der Demonstration beobachten können. Zur Abfrage der deklarativen Wissensbestände wird die vermittelnde Anordnung aufgelöst und dem Schulunterricht ähnelnd, ruft der Trainer einzelne Tänzer*innen auf. Durch die stetige Veränderung seiner Position erscheinen ihm die Tänzer*innen nicht als einheitliche Masse, sondern er kann auf die einzelnen Tänzer*innen zugreifen. Diese sind damit durchgehend einer potenziellen Adressierung ausgesetzt, die sich auch in den anderen Überprüfungen von Wissensformen verstärkt wiederfindet. Das Lösen der festen Position des Bundestrainers vor den Tanzenden ab dem dritten Vermittlungsschritt wie auch die Positionierung der anderen Trainer*innen außerhalb des Sichtfeldes der sich synchron bewegenden Tänzer*innen schafft eine panoptische Anordnung, in der Abweichungen von der korrekten Ausführung sichtbar werden. Die Trainer*innen greifen Abweichungen sofort auf und thematisieren sie vor allen, so dass die Tänzer*innen unmittelbar Rückmeldung und weitere Hinweise zur korrekten Ausführung erhalten. Durch die zahlreichen Korrekturen und Ermahnungen wie auch die gewährten Einblicke in den Sehstil der Trainer*innen in der panoptischen Anordnung lernen die Tänzer*innen den Blick von außen auf sich selbst anzuwenden und sich, ihre Partner*innen aber auch ihre Konkurrenz zu beobachten. Selbstreflexion bzw. die Befähigung zu dieser ist für die Trainer*innen ein entscheidendes Talentmerkmal, ohne das keine langfristigen Erfolge erzielt werden können – aufgrund der Logik der Trainingspraxis, die sich durch ein selbstständiges Trainieren und Korrigieren auszeichnet. Daher widmen die Trainer*innen der Ausformung und Bewertung dieses Merkmals so viel Zeit bei der Sichtung. Daran anschließend lässt sich auch eine Verschiebung der Verantwortlichkeiten zwischen den Tänzer*innen und den zwar körperlich abwesenden, aber trotzdem als relevant erachteten Heimtrainer*innen erkennen. Während der Bundestrainer sie
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zuvor als Hauptverantwortliche für die Vermittlung der Basic bezeichnete (vgl. Arr. 4), spricht er den Tänzer*innen nun mehr Verantwortung und Eigenständigkeit zu. Selbst im Falle einer falschen Vermittlung von Seiten der Heimtrainer*innen sei es Aufgabe der Tänzer*innen, sich selbstständig über die korrekten Schritte und ihre Ausführung zu informieren. Die wiederholte Rückmeldung zur Basic wie auch der Aufbau der Vermittlungsreihen machen auch deutlich, dass die Trainer*innen von einem sequenziellen Ablauf der zu erlernenden praktikspezifischen Fertigkeiten ausgehen. Werde diese Zeitlichkeit nicht eingehalten, indem das Erlernen bestimmter Fertigkeiten übersprungen werde, sei das Entwicklungspotenzial und damit das Talent der Tänzer*innen durch sie selbst limitiert, da ein späteres Nachholen nicht möglich sei. Die Einblicke in den Sehstil der Wertungsrichter*innen bzw. Trainer*innen gehen jedoch nicht so weit, dass die Tänzer*innen diesen praktisch nachvollziehen können. Dazu sind die ‚Sehübungen‘ zu kurz und zu theoretisch. Zielsetzung scheint eher eine Wissensweitergabe zu sein, die zur besseren Positionierung im Raum und Fokussierung bei der Bewegungsausführung genutzt werden soll. Neben tänzerischen Aspekten lernen die Tänzer*innen gerade durch die Zurechtweisungen im Hinblick auf ihr Engagement auch Details über die (Be)Wertungslogiken der Trainer*innen. Jedoch ist selbst nach einer positiven Adressierung im Hinblick auf die einzelnen Merkmale durch den Bundestrainer der Talentstatus unsicher und muss daher durchgehend performiert und immer wieder aufs Neue von den Trainer*innen zugeschrieben und beglaubigt werden. Das Hineinzoomen in das Arrangement zeigt unterschiedliche Techniken des SichSichtbarmachens – dem aktiven und kreativen Part des Sich-Engagierens. Die Tänzer*innen müssen hierfür ein Gespür für ihren jeweiligen Spielraum die Grenzen der Anerkennbarkeit aufweisen, der sich aus den teils impliziten Normativitäten der Sichtungspraktiken und (Be)Wertungslogiken ergibt. Je besser sich die Tänzer*innen als kompetente Mitspielende in die Sichtungspraktiken einfügen, desto größer kann ihr Handlungsspielraum werden, und umso wahrscheinlicher ist eine Mitgestaltung der Talentkonstruktionen. Das zu zeigende Engagement bezieht sich nicht nur auf tanzspezifische Praktiken, sondern auch auf das gesamte Verhalten während der Sichtung: Am Zuhören, Gehen, Üben, mit dem*r Partner*in interagieren etc. deuten die Trainer*innen den Grad des Engagiert-Seins. Dabei scheint auch die Dauer der mehrstündigen Trainingseinheiten wie der gesamten Sichtung – pro Tag bis zu 13 Stunden – dazu beizutragen, das Engagement besser sichtbar zu machen. Die als Training deklarierten Einheiten erweisen sich als Bestandteil der Prüfung, in
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der die Trainer*innen neben dem tänzerischen Können weitere Talentmerkmale bewerten. Die Prüfung der als wichtig erachteten Merkmale in aufeinander aufbauenden Vermittlungsschritten ermöglicht es den Trainer*innen, nicht nur über das grundsätzliche Vorliegen dieser bei den Tänzer*innen zu urteilen, sondern auch eine differenzierte Einschätzung der Ausprägungen vorzunehmen. Durch die schrittweise Erhöhung des Anspruchs an die Tänzer*innen in der Vermittlung wird in den panoptischen und vergleichenden Anordnungen genau sichtbar, wer die Anforderungen in den unterschiedlichen Stufen erfüllt. Die Veränderung des sozio-materiellen Arrangements markiert jeweils den Übergang zur nächsten Stufe. Die mehrfachen Wiederholungen der Übung auf allen Stufen können in Anlehnung an Brümmer (2015: 167) als Absicherung des Könnensstandes gedeutet werden, welche ein zufälliges Gelingen bei einer singulären Ausführung ausschließen sollen, bevor eine Steigerung der Anforderungen vorgenommen wird. Wie das Beispiel des Partnering zeigt, werden die als wichtig erachteten Merkmale von den Trainer*innen nicht als eine Art ‚reflektierter Plan‘ im Vorfeld festgelegt und in der Sichtung überprüft, sondern sie ergeben sich situativ im Verlauf der Sichtung im Wechselspiel mit den anderen Teilnehmenden. Basierend auf den Performances der Tänzer*innen reflektieren die Trainer*innen auf Talentmerkmale und verändern die Schwerpunkte in den Sichtungspraktiken wie auch das Vorgehen bei der Vermittlung. So lässt sich immer wieder beobachten, wie die Trainer*innen die Übungs- bzw. Prüfungspraktiken unterbrechen und sich über das Beobachtete und das Vorgehen beraten. Am Beispiel des Reflektierens über die Handhaltung im Paar wird zudem deutlich, dass die Vermittlungsschritte nicht von vornherein festgelegt sind. Vielmehr entscheidet sich die Abfolge situativ und die Sichtungspraktiken weisen ein ständiges Nachjustieren – ein reflection-in-and-on-action – auf, wodurch sie sich auch selbst verändern (vgl. Schatzki 2016). Der Bundestrainer probiert zunächst unterschiedliche Vermittlungswege aus (rein verbale Instruktion; Demonstration mit einem*r der anderen Teilnehmenden), die jedoch alle nicht zum gewünschten Ergebnis führen. Nach einer kurzen Beratung mit den anderen Trainer*innen leitet er eine Veränderung der Übungspraxis ein und lässt die Paare in mehreren neuen Paarkonstellationen tanzen. Die ungewohnten Konstellationen führen bei den Tanzenden zu einer Irritation der bis dahin nicht reflexiv zugängigen Abstimmungsprozesse im Paar über die Hände. Sie befähigen die Paare über das Partnering zu reflektieren und zu kommunizieren. Der (Miss-)Erfolg der unterschiedlichen Vermittlungswege zeigt, dass erst die „De- und Rekomposition“ (Brümmer 2015: 208) der Paarkörper die von den Trainer*innen intendierten Reflexions-
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prozesse in Gang setzt. Das von den Tänzer*innen geforderte Reflexionsvermögen bezieht sich nicht auf eine distanzierte, analytische Denkleistung, sondern auf körperlich-sinnliche Abstimmungs- und Korrekturprozesse während der Bewegungsausführung. Ist das Gelingen der Ausführung von mehreren Teilnehmer*innen abhängig – wie im Falle des Paartanzes, in dem nicht einzelne Tänzer*innen agieren, sondern eine Einheit als Paarkörper bilden – werden die Reflexionsprozesse aufgrund der zusätzlich gestellten Anforderungen und Abstimmungen komplexer: Mit beiden Positionen im Paar gehen unterschiedliche Rechte und Pflichten einher, die für die Adressierung als Talent von den Tänzer*innen verinnerlicht werden müssen. Eine gelungene Bewegungsausführung bedarf der Ausbildung einer geteilten Vorstellung von Bewegung, der wechselseitigen Bezugnahme und eines sich gegenseitig lesen Könnens. In der Sichtung kommt bei den Trainer*innen die Überzeugung zum Tragen, dass die Herstellung dieses „wortlosen Verstehen[s]“ (Müller 2014: 201) nicht ohne jahrelange gemeinsame Tanzpraxis möglich sei. Eine individualistische Ausformung praktikspezifischer Fähigkeiten sei nicht hinreichend (vgl. Brümmer 2015: 208), sondern es bedürfe einer verteilten Handlungsträgerschaft zwischen den Tanzpartner*innen, durch die sie sich gegenseitig zum Mitspielen in der Tanzpraxis befähigen. Für die Trainer*innen ist für die Auswahl letztendlich das Talent des Paarkörpers und nicht der einzelnen Tänzer*innen bedeutsam. Von einer Vorgabe der Paarkonstellationen von außen sehen die Trainer*innen aufgrund der Überzeugung, ab, dass das im Zusammenspiel entwickelte und benötigte Reflexionsvermögen wie auch der Spürsinn für den anderen nicht von außen diktiert werden könne. Daraus lässt sich schließen, dass die Trainer*innen von einer körperlichen Widerständigkeit bzw. einem körperlichen Eigensinn ausgehen, der sich bei ‚falschen‘ Paarkonstellationen äußere und die ‚Verschmelzung‘ zu einem Paarkörper verhindere. Die Relevanz der Paarkonstellation, die Interaktion im Paar und das Abhängigkeitsverhältnis innerhalb der Paare werden im folgenden Arrangement tiefergehend beleuchtet.
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3.6 ARRANGEMENT ‚KREATIVAUFGABE‘ Jedes Jahr stellt der Bundestrainer den Paaren im Laufe der Sichtung eine sogenannte Kreativaufgabe bei der sie innerhalb von einer Stunde selbstständig eine eigene Choreographie zu einem vorgegebenen Tanz entwickeln sollen. Hierfür gibt er eine Taktanzahl für die Länge der Choreographie, wie auch Rhythmen, Tanzschritte und Figuren vor, die enthalten sein müssen. Bei der Kreativaufgabe lassen sich zwei Anordnungen unterscheiden, nach denen auch das Kapitel gegliedert ist: Die Phase des Erstellens der Choreographie unter stiller Beobachtung der Trainer*innen und die Präsentation der Choreographie, die die Trainer*innen bewerten. Das Erstellen der Choreographie unter Beobachtung Der Bundestrainer erklärt den Tänzer*innen die bevorstehende Kreativaufgabe und notiert die wichtigsten Stichpunkte an einer Tafel. Im Anschluss teilt er den Tänzer*innen mit, dass sie den Trainer*innen während der Bearbeitung der Aufgabe keine Fragen stellen dürfen. Abschließend stellt er ihnen offen, ob sie die 60 Minuten im Tanzsaal bleiben oder nicht, stellt leise Musik an und geht zu den anderen Trainer*innen. Diese nehmen am für sie eingerichteten Tisch Platz und beobachten die Paare. Viele der Tänzerinnen tauschen ihre hohen Tanzschuhe gegen Turnschuhe und kehren zu ihren Tanzpartnern zurück, die sich über den Tanzsaal verteilen (vgl. Abb. 31). Bei den Paaren lassen sich unterschiedliche Vorgehensweisen erkennen. Einige wenige Paare fangen schnell an erste Schritte zu vollführen. Die meisten diskutieren zunächst mehrere Minuten miteinander, bevor sie anfangen ihre Ideen zur Choreographie auszuprobieren. Nach ca. 15 Minuten verbringen alle Paare den Großteil der Zeit mit dem Entwerfen und Üben der Choreographie und unterbrechen das Tanzen nur für kürzere Absprachen. Es ist zu beobachten, dass der Umgang wie auch die Stimmung innerhalb der Paare stark variieren. Die meisten Paare wirken sehr konzentriert und in die Aufgabe vertieft. Viele holen sich Zettel und Stift und notieren ihre Choreographien. Manche Paare machen den Eindruck sehr ausgelassen zu sein und lachen miteinander in den kurzen Tanzpausen. Bei einigen wenigen Paaren scheint die Stimmung sehr angespannt und es lassen sich Streitgespräche beobachten (vgl. Abb. 32). Einige Paare reden angeregt, während andere eher still nebeneinander her agieren und sich teilweise alleine an Tanzschritten versuchen.
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Abb. 31: Entwicklung einer Choreographie
Abb. 32: Streitgespräch
Abb. 33: Kontrolle im Paar
Die Trainer*innen bezeichnen das freie Training als sehr aufschlussreich im Hinblick auf das Paarverhältnis: „Da beobachten wir schon mal, ob ein Paar sich überhaupt allein beschäftigen kann. Wie es sich verhält. […] Man lernt die ja erst mal da so richtig kennen. […] Wie kann es die Aufgabe dann auch zusammen bewältigen, wie setzen die das zusammen. […] Wer MEHR die Arbeit macht, ist sie eher diejenige, ist er eher derjenige, ergänzen sie sich als Team, hat ein Paar sich überhaupt was zu sagen.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Während im Training mit dem Bundestrainer die tänzerische Kommunikation im Vordergrund stand, wird bei der Bearbeitung der Kreativaufgabe die Interaktion und Rollenverteilung im Paar auch abseits der Tanzpraxis zum Vorschein ge-
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bracht. Hierbei zeigt sich, dass innerhalb der Paare viele der Herren den führenden Part in den Interaktionen übernehmen: Sowohl im Redeanteil als auch im Bestimmen der Tanzschritte sind sie zumeist dominanter als die Damen. Bei einigen Paaren lässt sich zudem beobachten, dass die Herren nicht nur die Choreographie entwickeln, sondern auch die Ausführungen der Partnerin kontrollieren (vgl. Abb. 33), was wiederum auf eine Hierarchie im Paar schließen lässt. Die Beobachtung der Bundeskaderanwärter*innen bei der Bewältigung der Kreativaufgabe gewährt zusätzlich Einblicke in den Umgang der Tänzer*innen untereinander über die Paarkonstellationen hinaus. Da die Trainer*innen explizit nicht als Ratgeber*innen zur Verfügung stehen, müssen die Tänzer*innen sich selbst bzw. gegenseitig zu helfen wissen. Auch hier werden verschiedene Strategien sichtbar. Während der Großteil der Paare für die gesamte Stunde unter sich bleibt, tauschen sich einzelne Paare immer wieder untereinander aus, fragen nach bestimmten Tanzschritten und führen sich Teile ihre Choreographie gegenseitig vor. Wie die Trainer*innen mir mitteilen, lesen sie daran die Teamfähigkeit der Tänzer*innen ab: „Natürlich sind das alles Paare, Einzelpaare, aber trotzdem leg ich sehr viel Wert darauf, dass das auch irgendwo eine Gruppe wird, dass man auch ein bisschen teamfähig wird, weil wenn man nachher auch in so ‘nem Kadertraining ist, wenn einer sich immer ausschließt aus allem, kann das für einen Kader auch zu einer schlechten Atmosphäre führen.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Die Organisation des Kadertrainings, die nicht paarbezogen, sondern in der Gruppe stattfindet, führt dazu, dass nicht nur die Interaktion im Paar, sondern auch zwischen den verschiedenen Paaren zu einem Kriterium für die Bewertung wird (vgl. Arr. 8). Die Beobachtung der Tänzer*innen beim Bewältigen der Kreativaufgabe ermöglicht die tiefgehensten Einblicke in die Interaktionsweisen während der Sichtung. Die Positionierung der Trainer*innen am Rand, die zudem klar signalisieren, dass sie nicht für Rückfragen zur Verfügung stehen, lässt diese nach einiger Zeit in den Hintergrund geraten. Die Tänzer*innen können und müssen selbst wählen, welche Wege sie zur Lösung der Aufgabe heranziehen. So können die Trainer*innen als stille und von den Tänzer*innen wenig beachtete Beobachter*innen das jeweilige Paarverhältnis und die Teamfähigkeit bewerten. Auch zum Ende der gegebenen 60 Minuten variiert das Verhalten der Paare. Einige sind weiterhin mit der Erstellung der Choreographie beschäftigt und fragen beim Bundestrainer an, ob sie länger im Tanzsaal bleiben dürfen. Damit legen sie einerseits offen, dass sie die Aufgabe nicht in der vorgegebenen Zeit be-
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wältigt haben, signalisieren jedoch andererseits Engagement und die Ernstnahme der gestellten Aufgabe. Einige wenige Paare verlassen frühzeitig den Tanzsaal. Wobei auch hier Unterschiede erkennbar sind. Während einige eher weit entfernt vom Trainer*innentisch ihre Choreographie üben und schließlich ohne aufzufallen wortlos gehen, inszenieren sich einige direkt vor den Trainer*innen als erfolgreiche und schnell(er) agierende Einheit: Sie tanzen die Choreographie im unmittelbaren Sichtfeld der Trainer*innen mehrfach hintereinander durch, umarmen und klatschen sich abschließend ab und verlassen dann frühzeitig den Raum. Andere Paare schauen sich gegenseitig kurz zu, warten aufeinander und verlassen als Kleingruppe lachend den Tanzsaal. Einzelne Paare splitten sich auf. So verlässt eine Tänzerin bereits den Tanzsaal, während ihr Partner sich seinen MP3-Player holt und mit Ohrstöpseln im Ohr seine Choreographie vor dem Spiegel immer wieder solo tanzt. Nach 65 Minuten bittet der Bundestrainer alle Paare aus dem Tanzsaal und zum gemeinsamen Abendessen (vgl. Arr. 8). Nach einer einstündigen Essenspause finden sich alle Paare wieder im Tanzsaal ein, um ihre Ergebnisse zu präsentieren. Die Präsentation der erstellten Choreographien Die Paare müssen ihr Ergebnis vor allen anderen zunächst ohne Musik und den Takt mitzählend und anschließend zu Musik vorführen. Die Trainer*innen bewerten beide Präsentationen – mit und ohne Musik, wobei ich mich in den folgenden Ausführungen auf die Präsentationen ohne Musik konzentriere, da die Präsentation zu Musik im siebten Arrangement thematisiert wird. Für die Präsentation bittet der Bundestrainer die Paare nacheinander auf die Tanzfläche. Zum ersten Mal bei der Sichtung müssen die Paare alleine auf der Tanzfläche vor allen anderen tanzen (vgl. auch Arr. 7). Von den 25 Paaren übernehmen nur vier Damen das Zählen, was die Trainer*innen als weiteres Indiz für die klassische Rollenverteilung werten. Der Bundestrainer hebt es jedes Mal positiv hervor, wenn eine Dame für das Zählen zuständig ist und kommentiert es mit Aussagen wie „endlich zählt auch mal ein Mädchen“, oder „Frauenpower“. Bei allen Paaren sind alle geforderten Elemente in den Choreographien enthalten, jedoch verzählen sich viele Herren bei der Vorführung ohne Musik oder tanzen schneller als sie zählen, so dass die Taktanzahl nicht der geforderten von 24 entspricht. Der Umgang innerhalb der Paare mit dieser Situation variiert: Der Bundestrainer kündigt das nächste Paar (Nr. 5) an, welches die Tanzfläche betritt und anfängt seine Choreographie zu tanzen. In Halbschritten zählt der Herr die Takte laut mit (1 und 2, 2 und 2, etc.), wobei das Zähltempo variiert. Nach 10 Takten vergisst er einen Halbschritt und geht laut von 11 zu 12 ohne den halben Takt über. Beide tanzen unbe-
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irrt bis zum 20. Takt weiter. Der Tänzer wird leiser beim Zählen und hört beim 22. Takt komplett auf. Am Ende der Choreographie schaut er sofort zu den Trainer*innen rüber, die alle am Trainer*innetisch stehen. Trainer 1 und 3: „mach nochmal“ Trainerin 4: „Du hast Dich hier in der Ecke verzählt“ 5w lacht ihren Partner an 5m schaut weiter zu den Trainer*innen BT: „Du bist ja nicht auf 24 Takte gekommen. Mach nochmal von vorne.“ Beide positionieren sich wieder am Ende der Tanzfläche. Sie lächelt ihrem Partner aufmunternd zu, bevor die beiden beginnen ihre Choreographie nochmals zu tanzen. Sie zählt nun leise und den Blickkontakt zu ihm suchend die ersten 7 Takte mit, bis seine Stimme lauter und sicherer beim Zählen wird. Dieses Mal ist das Paar bereits nach 23 Takten mit der Choreographie am Ende, wobei zunächst unklar ist, ob die Choreographie zu kurz konzipiert wurde oder der Tänzer zu langsam gezählt hat. Der Bundestrainer fordert das Paar auf die Choreographie zu Musik zu tanzen, während eine Trainerin leise mitzählen soll. Das Paar lacht sich kurz an, positioniert sich wie am Anfang und tanzt die Choreographie nun zu Musik. Nach 24 Takten dreht der Bundestrainer die Musik wieder leise und die mitzählende Trainerin bestätigt ihm, dass die Anzahl der Takte nun stimmte. Die seitlich positionierten Tänzer*innen fangen an zu klatschen und das Paar reiht sich wieder bei ihnen ein. (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Während der gesamten Vorführung demonstrieren die beiden einen entspannten Umgang miteinander und die Dame unterstützt ihren Partner konstant. Als der Herr sich das erste Mal verzählt, tanzt auch sie unbeirrt weiter und versucht damit seinen Fehler zu ‚decken‘. Auch als die Trainer*innen auf den Fehler hinweisen, lächelt sie ihn weiterhin an, nickt ihm aufmunternd zu und unterstützt ihn zunächst beim Zählen bis seine Stimme lauter wird und Sicherheit suggeriert. Diese durchgehende Unterstützung des Partners in der Prüfungssituation war nicht bei allen Paaren zu erkennen: Das nächste Paar (Nr. 13) wird auf die Tanzfläche gebeten. Wieder übernimmt der Herr das Zählen nach dem üblichen Muster (Halbtaktschritte werden laut mitgezählt). Bereits nach zwei Takten kommt er aus dem Zählen raus, beide unterbrechen ihre Tanzschritte. Sie verdreht die Augen und begleitet vom Lachen der restlichen Tänzer*innen gehen beide
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wieder auf ihre Ausgangsposition und fangen von vorne an. Nach 16 Takten hört der Herr erneut auf zu zählen und unterbricht sein Tanzen. Sie schaut ihn eindringlich an, zählt leise den nächsten Takt und tanzt weiter. Er steigt nach kurzem Zögern wieder ein und übernimmt ab dem 18. Takt wieder das Zählen, kommt jedoch mit dem Tempo durcheinander, so dass auch bei diesem Paar Taktanzahl und das Ende der Choreographie nicht übereinstimmen. Er fragt die Trainer*innen, ob sie nochmal dürfen, was diese bejahen. Erneut kommt der Herr nach zwei Takten zählen raus, unterbricht den Tanz und zieht seine Partnerin in die Ausgangsposition. Sichtlich genervt schaut sie zu ihm rüber und sagt „3“. Ohne Blickkontakt zu ihr aufzunehmen, fängt er wieder von vorne an. Nach sieben Takten hört er erneut auf zu zählen, beide tanzen jedoch weiter und sie übernimmt laut das Zählen, wird nach zwei Takten leiser, als er wieder übernimmt, jedoch zählt sie leise bis zum 20. Takt mit. Dieses Mal stimmt auch die Taktanzahl und das Paar darf die Choreographie nun mit Musik vorführen, was auf Anhieb problemlos klappt. (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Durch das Verdrehen der Augen und genervte Blicke macht die Tänzer*innen ihre Unzufriedenheit mit ihrem Partner für alle Anwesenden sichtbar. Auch wenn der Tanzversuch bereits von ihm abgebrochen wurde, signalisiert sie, indem sie weiterzählt, dass sie die Aufgabe hätte lösen können. Er hingegen lässt sich zunächst von ihr nicht helfen, sondern bricht immer wieder für beide die Versuche ab, in dem er das Tanzen beendet und sie in die Ausgangsposition zieht. Erst beim letzten Versuch ohne Musik nimmt er ihre Unterstützung an und stoppt nicht sofort den Tanz, wenn er sich verzählt, so dass sie beim dritten Anlauf die Aufgabe bewältigen. Die Aufgabe ist von den Trainer*innen bewusst gewählt, um den Umgang der Paare untereinander durch die Drucksituation sichtbar zu machen und bewerten zu können. Die Kommunikation im Paar wird von den Trainer*innen als wichtiges Bewertungskriterium angesehen: „Das kann nicht angehen, dass da jeder für sich alleine ist und manchmal sogar im PAAR sich nicht viel zu sagen haben und sich eigentlich nur auf der Fläche treffen und ansonsten nicht viel miteinander zu tun haben. Das sind Dinge, die auch auffallen.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Zudem würde bei der Aufgabe erkennbar werden, wer es gewohnt sei, laut oder zumindest für sich die Takte mitzuzählen, was die Trainer*innen als Bewusstsein für die Schritte deuten. So gibt es einige Paare, die die Aufgabe souverän und ohne Fehler meistern. Jedoch wird bei einigen Paaren das Tanzen dadurch beeinträchtigt:
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„Was man jetzt gleich sieht, dass er jetzt eigentlich relativ gut zählt und sie tanzt und er ist beschäftigt mit der anderen Sache. Er kann gar nicht zu dem kommen, was ihn eigentlich ausmacht.“ (Interviewauszug Trainer 3)
Das laute Zählen ermöglicht es den Trainer*innen zu sehen bzw. zu hören, ob ein Bewusstsein bei den Tänzer*innen für die Schritte und Takte vorliegt, was aus der folgende Aussage hervorgeht: „In dem Moment, wo die aufhören zu zählen oder leiser werden, wissen wir genau Bescheid: Die wissen die Schritte auch nicht. […] Der (zeigt auf den Tänzer aus dem ersten Beispiel) macht vieles aus dem Gefühl heraus richtig, aber hat keinen Plan und dafür ist das Zählen wichtig. A wollen wir einige da hinbringen, dass sie Bewusstsein reinbringen, dass sie selber mal merken, okay wenn ich was bewusster mache, dann weiß ich auch genau am dritten Takt kommt das und am fünften Takt hab ich das“ (Interviewauszug Trainerin 4).
Die Trainerin unterscheidet zwischen einer ‚intuitiven‘ Ausführung der Tanzschritte – wie sie bei allen Paaren zu Musik aber ohne lautes Zählen auch bei dieser Aufgabe gelingt – und einer bewussten Ausführung, die sie aus der erfolgreichen Zählweise der Takte ableitet: „Also das [Zählen] ist ein gutes Zeichen zu wissen, ob das antrainiert schon ist oder ob es nur aus dem Gefühl heraus ist. Nur Gefühl hilft auch nicht. Kann ein Talent sein, aber […] da ist vieles aus dem Bauch heraus. Um ein guter Weltmeister zu werden, muss ich mein Tanzen wiederholbar machen, […] dass ich montags die gleiche Leistung wie dienstags, mittwochs, donnerstags abrufen kann. Weil das gibt mir die Selbstsicherheit hinterher auf die Fläche zu gehen bei einer Weltmeisterschaft. Die sind auch nervös, gar keine Frage, aber sich hinzustellen zu sagen, ich weiß was ich kann. Und daraus kommt Selbstsicherheit, daraus kommt Ausstrahlung. Und deswegen ist das Zählen wichtig. Aber wie gesagt, verbal sind die alle nicht gewohnt.“ (Interviewauszug Trainerin 4)
Erneut wird die Zielperspektive, die über die Sichtung hinaus geht, von der Trainerin thematisiert, die zudem aufzeigt, dass die Trainer*innen Talent als notwendiges jedoch nicht hinreichendes Kriterium für den Erfolg im Tanzen ansehen. So könne jemand aufgrund seiner tänzerischen Leistung ohne zu zählen als talentiert angesehen werden, jedoch bedarf es nach Ansicht der Trainer*innen eines Bewusstwerdens und Reflektierens des eigenen Tanzes, um die Leistung wiederholbar zu machen und diese auch in besonderen Drucksituation wie der Weltmeisterschaft zeigen zu können. Damit sind die Paare im Vorteil, die im
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Training ihre Tanzschritte zählen können, was bei den Wenigsten in der Sichtung der Fall ist. Als Begründung für die Wichtigkeit des Zählens im Training führen die Trainer*innen erneut die Logik der Trainingspraxis an: „Die müssen ja auch zählen können im Training. Wenn sie jetzt feststellen, da stimmt irgendwas nicht, ja ich weiß gar nicht, wie der Rhythmus ist. Und dann muss man das eben zählen können. […] Theoretisch müsste ich in Latein die Schritte der Dame als Herr erkennen, um sie führen zu können. Und die Rhythmik ist ja in Latein noch häufiger ganz anders zwischen Männlein und Weiblein. Die Frauen machen häufig zum Beispiel mehr Schritte und er steht nur rum und führt sie oder so. Das ergibt sich aus der Führungsidee des Tanzes heraus. Also die Dame führen und dann steh ich und sie läuft im Endeffekt. Und das ist der Punkt. Deswegen machen wir das [Zählen] auch.“ (Interviewauszug Trainer 3)
Das ist auch eine weitere Erklärung dafür, dass mehr Herren als Damen das Zählen übernehmen: Durch die Logik des Führens und Folgens müssen die Herren auch bei unterschiedlichen Rhythmen im Paar nicht nur die eigenen, sondern auch die Schritte der Partnerin wissen, um sie zu führen. Interessanterweise gelingt dies allen Herren, solange sie nicht laut mitzählen müssen. Erst durch die Aufgabe des lauten Zählens schleichen sich Fehler in das Tanzen ein. Hierbei ist selbst für mich als Laiin die Beobachtung der Trainerinnen nachvollziehbar, dass gerade bei den Herren, die sich verzählen, die Betonungen im Körper anders sind als mit Musik. Während sich die Körper zu Musik wie gewohnt bewegen, stellt das Zählen einen Störfaktor für einige Herren dar, der die routinierten automatisierten Bewegungen irritiert und zu einem vom Takt abweichenden Rhythmusbetonungen führt, was wiederum das Verzählen provoziert. Die Gleichzeitigkeit von Zählen und Tanzen müsse laut Trainer*innen systematisch und über längere Zeit eingeübt werden, was jedoch nur bei wenigen Paaren sichtbar sei. Fazit Arrangement 6: Bewertung der Selbstständigkeit und der Interaktion der Paare Die sogenannte Kreativaufgabe wird in zwei unterschiedlichen sozio-materiellen Arrangements bearbeitet, die verschiedene Merkmale für die Trainer*innen zum Vorschein bringen. Die Anordnung beim freien Erstellen und Üben der Choreographie bietet den Trainer*innen die tiefsten Einblicke in die Interaktionen der Paare. Während beim Training mit dem Bundestrainer die tänzerische Kommunikation besonders gut sichtbar wurde (vgl. Arr. 5), zeigt sich beim freien Üben
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die Interaktion und Rollenverteilung auch abseits der Tanzpraxis. Durch die Positionierung der Trainer*innen am seitlich platzierten Tisch und die Vorgabe, die Trainer*innen nicht ansprechen zu dürfen, rücken diese schnell in den Hintergrund und können sich als stille Beobachter*innen ein Bild von den Paaren machen. Da es keine Vorgaben zum Lösen der gestellten Aufgabe gibt, werden die Rollenverteilung und die eingeschliffenen Interaktionsweisen im Paar sichtbar, die für die Trainer*innen Aussagekraft über die ‚Verbindung‘ der Paare haben. Das Arrangement ähnelt dem der Trainingspraxis, die einen Großteil der gemeinsamen Zeit der Paare ausmacht, wobei die Paare durch die zeitliche Vorgabe und die bevorstehende Bewertung in eine erhöhte Stresssituation versetzt werden. Anhand der Verteilung der Redeanteile, die Bestimmung der Tanzschritte wie auch der Überprüfung der Ausführung entsteht bei den meisten Paaren der Eindruck einer heteronormativen Geschlechterordnung. Diese wird laut Aussagen der Trainer*innen zusätzlich durch die – zumeist männlichen – Heimtrainer*innen gestützt: Die angehenden Tänzer „kommen durch die Tür, sagen guten Tag haben noch nie was mit Tanzen zu tun gehabt und dann kriegen sie gleich an den Kopf geknallt aber Du bist jetzt hier der Wichtige […]. Weil sie führen müssen […]. Das wird ihnen von Anfang an beigebracht“ (Trainerin 4). Auch durch die Logik der Tanzpraxis, in der die Herren die Führung übernehmen, entsteht eine Hierarchie im Paar, die sich auch in den Interaktionen im Paar übers Tanzen hinaus beobachten lässt. Das freie Üben bietet zudem auch Einblicke in den Umgang der Paare mit ihrer Konkurrenz. Hieraus ziehen die Trainer*innen erste Schlüsse über die Teamfähigkeit der Paare, welche aufgrund des in Gruppen organisierten Kadertrainings für sie von Relevanz ist (vgl. Arr. 8). Auf Seiten der Tänzer*innen lässt sich ein unterschiedlicher Umgang mit dem gegebenen Spielraum in dem Arrangement erkennen. Ähnlich wie beim Aufwärmen ziehen es einige Paare vor, im Hintergrund weit entfernt von den Trainer*innen zu bleiben und sich auf das Einstudieren der Choreographie zu konzentrieren. Andere nutzen die Möglichkeit sich auf verschiedene Arten als erfolgreiche Einheit zu präsentieren. Durch das konzentrierte Arbeiten direkt vor den Trainer*innen performen sie ihr Engagement. Das selbstständige Training als modulierter Rahmen (Goffman 1980: 52ff., vgl. auch Merrit-Müller 2015: 332) der Sichtung sieht zwar einerseits ein Versunkensein in die Ausführungen vor, jedoch ist auch das Training bereits Teil der Prüfung, so dass auch die Trainingspraxis und nicht nur das Ergebnis – die Choreographie – relevant ist. Einige Paare wissen die Aufgabe richtig zu deuten und sich in den Praktiken als wissende Mitspieler*innen zu engagieren. In dem sie in den Unterbrechungen einen
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liebevollen und lockeren Umgang miteinander demonstrieren, signalisieren sie nach außen ihre Verbindung. Auch das frühe Verlassen des Tanzsaals nachdem die Choreographie mehrfach direkt vor den Trainer*innen getanzt wurde, signalisiert das erfolgreiche Meistern der Aufgabe sogar unter der gegebenen Zeit. Aber auch die Paare, denen die Zeit nicht ausreicht, können sich zumindest als engagierte Tänzer*innen hervortun, in dem sie um mehr Zeit bitten und dafür ihre Pausenzeit verkürzen. Die Paare, die sich offensichtlich nicht einig sind bezüglich der Choreographie und dies durch heftige Diskussionen und Gesten des Genervtseins für die Trainer*innen sichtbar machen, werten sich selbst ab, da sie nicht als Einheit auftreten. Die Eindrücke zum Zusammenhalt der einzelnen Paare werden bei der Präsentation der erstellen Choreographien vertieft. Die sozio-materielle Anordnung entspricht der des siebten Arrangements. Jeweils ein Paar tritt auf die Tanzfläche und demonstriert alleine ihre Choreographie während die anderen Tänzer*innen sie beobachten und die Trainer*innen sie bewerten. Erschwerend kommt die ungewohnte Praktik des Zählens hinzu. Erneut wird die Dominanz der Herren bei dieser Aufgabe deutlich, da bei dem Großteil der Paare, die Herren das Zählen übernehmen, was sich mit der Logik des Führens und Folgens erklären lässt. Die Paare müssen in diesem Arrangement zunächst ihre Kreativität und ihre Selbstständigkeit unter Beweis stellen. Ähnlich wie beim Training mit dem Bundestrainer (vgl. Arr. 5) geht es in diesem Arrangement nicht um die Überprüfung bereits im Vorfeld einstudierter Choreographien, sondern um die Fähigkeit in kurzer Zeit gestellte Aufgaben als Paar umzusetzen. Laut den Trainer*innen sind diese Aufgaben auch gewichtiger als die einstudierten Tänze, obwohl sich dies nicht im Bewertungsbogen widerspiegelt (vgl. 3.9). Bei den im Vorfeld von den Heimtrainer*innen erstellten Choreographien „kann es jetzt sein, dass man sehr begeistert ist, weil alles perfekt antrainiert ist und im Prinzip eine Illusion hergestellt wird. Und dann geht man in den Unterricht und dann will man ein bisschen die Kreativität auch sehen und auf einmal kommt da gar nichts mehr. […] Im Zweifel bin ich dann auch immer ein bisschen für den Unterricht, also für die Aufgaben, inwieweit ein Paar in der Lage ist, auch Aufgaben zu bewältigen.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Die Bewältigung der Kreativaufgabe würde zeigen „inwieweit jemand auch in der Lage ist, sich schnell umzustellen auf neue Bedingungen“ (Trainer 1). Da die Paare sich nicht im Vorfeld auf die Aufgaben vorbereiten können, sollen letztendlich Unterschiede aufgrund von ungleichen finanziellen Ressourcen und daraus resultierenden quantitativen und qualitativen Differenzen an Trainer*innen-
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stunden ausgeglichen werden. Die Bedeutsamkeit der Heimtrainer*innen wird damit erneut relativiert (vgl. Arr. 5). Des Weiteren werten die Trainer*innen die Sicherheit im Zählen als Bewusstsein für die Choreographie, was sie als Voraussetzung für die Wiederholbarkeit von Höchstleistung auch unter Stresssituationen wie bspw. Meisterschaften formulieren. Hier spezifiziert sich das Talentverständnis der Trainer*innen: Talent wird zwar als notwendiges, jedoch nicht hinreichendes Kriterium für Spitzenleistungen angesehen. Auffällig ist, dass alle Paare die Aufgabe mit Musik ohne Zählen auf Anhieb erfolgreich bewältigen. Daraus lässt sich schließen, dass ein bestimmtes Maß an Kreativität und Selbstständigkeit wie auch ein implizites Gespür für die richtige Ausführung auf dem Leistungsniveau vorausgesetzt werden können. Erst die Ausführung einer für den Großteil ungewohnten Praktik – in diesem Fall des Zählens beim Tanzen – lässt deutliche Unterschiede zwischen den Paaren erkennen. Durch die Modulation der Praktik wird die Verantwortlichkeit für das Gelingen dieser je nach Teilnehmendenposition – Zählende*r, Nicht-Zählende*r – unterschiedlich verteilt und zugeschrieben (vgl. Alkemeyer/Buschmann 2017: 12). Nichtsdestotrotz müssen die Tänzer*innen bei der Aufgabe als Einheit überzeugen, was bedeutet, dass die Verteilung der sozialen Positionen geregelt sein sollte. Gerade der Umgang mit Fehlern erweist sich für die Trainer*innen hierbei als aufschlussreich, da sichtbar wird, ob die Tänzer*innen sich auch in Stresssituationen gegenseitig unterstützen und die Verteilung der Aufgaben einhalten bzw. in souveräner Abstimmung miteinander regeln. Zum wiederholten Male heben die Trainer*innen die Wichtigkeit der Konstellation des Tanzpaares hervor. Diese wird zum Gradmesser der Qualität des Dargebotenen und verdeutlicht die Abhängigkeit der Tanzpartner*innen voneinander (vgl. Haller 2009: 92) für die Talentzuschreibung und Kaderauswahl.
3.7 ARRANGEMENT ‚SOLOPERFORMANCE‘ Die letzte bewertete Einheit bei der Talentsichtung ist die sogenannte Soloperformance. Nacheinander werden alle Paare aufgerufen und präsentieren einen Tanz alleine auf der Tanzfläche. Für die tanzenden Paare liegt die Besonderheit bei der Anordnung darin, dass sie die Tanzfläche für sich haben und nicht auf andere Paare Rücksicht bei der Raumeinnahme und Richtungsbestimmung nehmen müssen. Welchen der fünf Lateinamerikanischen Tänze sie vorführen, wurde im Vorfeld ausgelost. Die anderen Paare und die Trainer*innen verteilen sich um die gesamte Fläche herum und bilden das Publikum (s. Abb. 34). Während
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die Trainer*innen erneut Punkte im Bewertungsbogen eintragen, feuern die anderen Paare das jeweils tanzende Paar an. Abb. 34: Anordnung beim Solotanz
Das Arrangement ähnelt stark dem Finale bei Turnieren, bei dem die Finalist*innen ebenfalls zum Abschluss des Wettbewerbs einen Tanz alleine auf der großen Tanzfläche vor der Jury, den anderen Paaren und dem Publikum vortanzen. Anders als bei Turnieren dürfen bei der Sichtung alle Paare und nicht nur die bis dahin Bestplatzierten solo performen. Wie im dritten Arrangement zeigen die Paare hierbei ihre im Vorfeld einstudierten Tänze. Neben der erneuten Bewertung des Partnering und des Paarkörpers setzen die Trainer*innen den Fokus bei der Soloperformance vor allem auf die Präsentation und die Selbstsicherheit der Paare: „Die Solotänze sind einfach, wie präsentiert sich so jemand allein auf der Fläche mit seinem Tanz. Also wie gut ist er jetzt? Wie präsent? Besitzt er auch eine gewisse Arroganz um zu sagen, ich bin jetzt hier der Beste. Muss er nicht sein, aber er muss sich darstellen! Es schauen alle zu. Wie viel Standing hat er, um das auch wirklich so hinzukriegen?“ (Interviewauszug Trainer 2)
Damit ist für die Trainer*innen nicht allein die Darbietung von technisch korrekt ausgeführten Tanzschritten von Bedeutung, sondern darüber hinaus die Inszenierung als selbstbewusste Tänzer*innen. Auffällig ist, dass – wie bei zahlreichen anderen Äußerungen – die Trainer*innen sprachlich allein die Tänzer und nicht das Paar adressieren. Es geht um „seinen Tanz“, die „Arroganz“ und das „Standing“, das „er“ besitzt. Obwohl die Solotänze immer als Paar vorgeführt werden, lässt sich – zumindest sprachlich – bei den Trainer*innen eine Zu-
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schreibung von Leistung an die Tänzer erkennen, die die bereits thematisierte Hierarchie im Paar reproduziert. Durch die großen Überschneidungen zu dem Arrangement beim Finale von Turnieren sollen die Paare zudem zu einer erhöhten Ernsthaftigkeit affiziert werden, da alle Paare turniererfahren sind und die Anordnung nur aus diesem Kontext kennen: „Die Paare müssen die Aufgabe immer vor der ganzen Gruppe auch präsentieren und da sieht man natürlich auch, wer hat dann auch das Nervenkostüm so etwas vor der Konkurrenz zu präsentieren. Denn das ist dann auch das, was man nachher beim Tanzsport braucht. Ich muss mich da hinstellen und ich bin in der Endrunde und dann gucken mich alle neidisch an (lacht) und dann muss ich ja, dann kann ich ja nicht auf einmal Panik kriegen oder so.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Innerhalb dieser ‚Simulation‘ des Finales bewerten die Trainer*innen die „Erledigungsbereitschaft“29 (Gebauer 2009: 72) der Paare, die sich nicht nur durch technisches Können und die bisher thematisierten Merkmale auszeichnet, sondern in Ergänzung durch die Fähigkeit auch unter erhöhtem Druck konstant Leistung abrufen zu können: „Wenn ein DRUCK entsteht, dann äußert sich das sofort auch in der Leistung auf Turnieren. So und wenn dieser Druck da ist und dieser Druck ist EINFACH schon da, weil die Vorgabe ist 3 bis 4 Paare von diesen 25 Paaren, die da sind, kommen in den Bundeskader für ein Jahr. Und da will jeder rein. Und dieser Druck ist schon immens!“ (Interviewauszug Trainer 1)
Damit wird eine doppelte Drucksituation erzeugt. Zum einen bleibt der durchgehende Druck der Sichtung erhalten, der sich aus der Tatsache der starken Selektion ergibt, bei der nur wenige der Anwesenden in den Kader berufen werden. Zum anderen wird der Druck durch die zeitlich gesehen gleiche Platzierung und räumliche Ähnlichkeit zu Turnierfinalen erhöht, da diese aufgrund ihrer Wichtigkeit eine gesteigerte Ernsthaftigkeit affiziert bzw. affizieren soll. Gleichzeitig wird das Finale von großen Turnieren als Ziel in die Praxis der Sichtung reinge29 Gebauer (2009: 72) versteht unter der Erledigungsbereitschaft die Hinwendung zum Zukünftigen, die sich aus den Anforderungen der unmittelbaren Umwelt ergibt und sich bspw. in Vorspannungen der Muskeln äußert, in Erwartung der körperlichen Anstrengungen, die bevorstehen. Inwiefern die Erledigungsbereitschaft trainiert und von anderen Mitspieler*innen der jeweiligen Praktik herbeigeführt werden kann, verdeutlicht Brümmer (2015: 149ff.) am Beispiel einer Sportakrobatikgruppe.
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holt und damit durch die sozio-materielle Anordnung eine Zielperspektive über die Sichtung hinaus aufgerufen: Der Sichtungsprozess ist damit auf einen Endpunkt orientiert, die über die Aufnahme in den Bundeskader hinausgeht. Die Tänzer*innen sollen nicht nur im Vergleich zur anwesenden Konkurrenz überzeugen, sondern sich langfristig auch auf internationalen Turnieren durchsetzen. In allen beobachteten Jahren benennen die Trainer*innen den Bundeskaderanwärter*innen zur Orientierung auch Vorbilder bzw. lassen diese sogar bei den Sichtungen vortanzen: Die aktuelle Deutsche Meisterin, die mit ihrem Partner auch international unter den Bestplatziertesten zu finden ist, betritt den Tanzsaal. Der Bundestrainer unterbricht sofort die Einheit und fordert die Tänzer*innen auf, einen engeren Kreis zu bilden. Er bittet die Deutsche Meisterin etwas vorzutanzen. Nach einem kurzen Zögern, geht sie in den Kreis, ein Trainer dreht die Musik auf und die Deutsche Meisterin fängt an zu tanzen. Die anderen klatschen im Takt. Nach einer Minute dreht der Bundestrainer die Musik aus, alle klatschen und der Bundestrainer adressiert die Bundeskaderanwärter*innen:
Abb. 35: Vorführung Vorbild
„Ich will Euch nur daran erinnern, dass ich gesagt habe, dass man so was auch alleine tanzen kann. Ich meine das ist doch Sex pur (lacht). Voller Ausdruck! Sie ist balanciert. Richtig toll! Man sieht an der freien Hand immer, wo ihr Partner tanzt, das kann man immer direkt sehen und genau das erwarte ich von Euch. Das müsst Ihr Zuhause trainieren, damit Ihr das genauso toll hinkriegt.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Die für die Tänzer*innen bisher schemenhafte ‚Talentgestalt‘, auf die sie bisher nur anhand der Rückmeldungen und Adressierungen der Trainer*innen schließen konnten, wird nun durch die Deutsche Meisterin verkörpert. Der Trainer
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verweist auf bereits thematisierte Bewertungskriterien wie bspw. die Handhaltung, anhand derer – anders als bei den Bundeskaderanwärterinnen – durchgehend auf die Position des Partners geschlossen werden könne (vgl. Arr. 1). Während der Status der Deutschen Meisterin als Talent aufgrund ihrer zahlreichen Titel nicht in Frage gestellt wird – zumindest nicht bei der Sichtung – wird durch sie der prekäre Status der Tänzer*innen umso deutlicher hervorgehoben. Das besondere an ihrem Status als Anwärter*innen für den Bundeskader ist, dass dieser von Beginn an auf Veränderung ausgelegt ist.30 Er impliziert das Potenzial in den Bundeskader aufgenommen oder abgelehnt zu werden. Mit beidem gehen abweichende Zuschreibungen – als Talent bzw. Nicht-Talent – einher. Anders als die exponierte Tänzerin erfahren die Anwärter*innen noch nicht die durchgehende Adressierung als Talent. Stattdessen machen die Trainer*innen ihnen durch die permanenten Rückmeldungen ihren prekären Status bewusst, da sich Lob und Kritik bei fast allen Tänzer*innen abwechseln. Auf die Deutsche Meisterin wird auch nachdem sie den Tanzsaal verlassen hat, Bezug genommen und sie wird immer wieder als Vorbild thematisiert: Bundestrainer: „Dass [Name der Deutschen Meisterin] dann zum Beispiel am Sonntagabend hier ist, um zu üben, wo alle anderen dann eher Fernsehen, Tatort oder ins Kino gehen oder am Computer bei Facebook sind, da steht sie dann hier bis 22 Uhr im Saal. Bestimmt ist sie auch mal bei Facebook oder geht ins Kino aber sie ist STUNDENLANG hier und beschäftigt sich mit den Dingen und es wird nicht langweilig! Es wird nicht langweilig. Die steigern sich dann so darein, um so präzise zu werden.“ (Auszug aus dem Beobachtungprotokoll)
Der Trainer suggeriert, dass erst durch die quantitative und qualitative Zuspitzung des Trainings – sich in den Tanz ‚hineinsteigern‘, das Tanzen anderen Freizeitaktivitäten vorziehen etc. – die demonstrierte Präzision in der Ausführung und der Erfolg im Tanzsport möglich seien. In allen drei beobachteten Jahren verweisen die Trainer*innen immer wieder auf Vorbilder, um spezifische Adressierungen an die Tänzer*innen vorzunehmen:
30 Zu ähnlichen Ergebnissen kommen die Erziehungswissenschaftler*innen Bünger, Jergus und Schenk (2016) bzgl. der Subjektivierungsprozesse vom wissenschaftlichen Nachwuchs. Aufgrund des Status‘ der ‚Noch-Nicht‘-Berufenen, zeichnet sich dieser durch die Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit im Hinblick auf die Sichtbarkeit im wissenschaftlichen Feld aus und ist in der Finallogik auf Veränderung ausgerichtet.
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Direkt im Vorfeld der Soloperformances ruft der Bundestrainer die Tänzer*innen zusammen und hält noch eine kurze Ansprache, in der er Feedback zum vorherigen Training gibt und auf die bevorstehende Aufgabe der Soloperformance einstimmt: Bundestrainer: „Normalerweise müsstet Ihr, wenn Ihr große Turniere tanzt, wenn Ihr die Austrian Open tanzt, wenn Ihr nächstes Jahr Eure Deutsche Meisterschaft tanzt, dann müsst Ihr in der Lage sein, eine einfache Schrittkombination so locker hinzukriegen, dass Ihr das nach einer halben Stunde von der Konzentration her, dass die Qualität gleichbleibt und das ist einfach nicht da, bei dem was ich gesehen hab! Es fällt alles immer mehr in sich zusammen. Und wenn ein Wertungsrichter sich Euch nach einer Minute Euch anguckt, dann seid Ihr nur noch zu einem Viertel der Qualität da. Stellt Euch vor den Spiegel und trainiert das. Trainiert das! Trainiert Euren Körper! Und verliebt Euch in Euren Körper! Steigert Euch da so rein, dass Ihr wahnsinnig werdet, wenn Ihr es nicht schafft. Gleich habt Ihr Pause, einen Punkt noch. Wer kennt noch [Name eines international bekannten Tänzers]? Der hat einmal gesagt: Er hat sechs Stunden trainiert und hat seinen Schritt nicht hingekriegt. Der ist nach Hause gefahren, hat was gegessen und hat sich schlafen gelegt. Er konnte nicht schlafen. Hatte ein schlechtes Gefühl, weil er den Schritt nicht hinbekommen hat. Er hat nachts um eins seine Partnerin geweckt, hat gesagt, wir müssen wieder ins Studio, wir müssen weiter trainieren. Das war ein Paar, die hatten Momente, da hat man gestanden und uns lief eine Gänsehaut runter und wir waren alle nah am Weinen, so toll war das. Und solche Momente kriegt man nur, wenn man auch so fantastisch ist. Und ich möchte, dass Ihr so fantastisch werdet, dass wenn Ihr tanzt, wir alle anfangen zu weinen. So, Ihr habt jetzt 10 Minuten Pause, dann wird bewertet.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Die Aussagen verdeutlichen ein Ethos, das der Bundestrainer versucht an die Bundeskaderanwärter*innen zu vermitteln: Erfolgreiche Tänzer*innen zeichnen sich demnach nicht zwingend dadurch aus, dass sie die Techniken und Figuren auf Anhieb beherrschen. Vielmehr sei das Engagement für das Tanzen entscheidend. In seiner Ansage adressiert der Trainer alle Bundeskaderanwärter*innen als defizitär hinsichtlich der dargebotenen Leistung über eine längere Zeitspanne, was er jedoch nicht für die unmittelbare Berufung in den Kader relevant macht, sondern weit darüber hinaus in den Kontext von großen Turnieren in den kommenden Jahren stellt. Bei der ‚Behebung‘ des Defizits, gehe es nicht allein um die zeitliche Investition der Tänzer*innen, sondern auch um das emotionale Engagiert-Sein und -Werden, welches sich durch ein „reinsteigern“ und „wahnsinnig werden“ auszeichne, wenn man sich die Tanztechniken nicht erfolgreich aneigne. Damit stellt der Bundestrainer erneut der (defizitären) Leistung der Tänzer*innen eine Anzustrebende entgegen. Wie im ersten Fall werde dieses
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Engagement mit einer herausragenden Leistung belohnt, die die Zuschauer*innen zu Tränen rühre. Wieder endet der Trainer mit dem Verweis, dass dies die Zielperspektive für die Tänzer*innen sein sollte, die – so die explizite Botschaft – mit genügend Engagement auch erreicht werden könne. Zudem thematisiert der Bundestrainer erstmals den Bezug der Tänzer*innen zu ihren eigenen Körpern. Während diese bisher nur im Hinblick auf den zu bildenden Paarkörper oder technische Details zur Umsetzung von Tanzfiguren angesprochen wurden, erfolgt hier eine klare Anweisung zum Verhältnis zum eigenen Körper: Dieser soll nicht nur trainiert, sondern es soll sich in ihn verliebt werden. Damit ist über die Funktionalität auch das emotionale Verhältnis zum Körper laut Trainer*innen bedeutsam. Fazit Arrangement 7: Bewertung der Präsentation und Selbstsicherheit im Paar Das letzte Arrangement im Tanzsaal zeichnet sich durch eine große Ähnlichkeit zu Turnierfinalen aus. Jedes Paar präsentiert alleine auf der Tanzfläche einen einstudierten Tanz, während der Rest der Paare mit den Trainer*innen das Publikum bildet und das tanzende Paar anfeuert. Im Vergleich zum dritten Arrangement, in dem ebenfalls die im Vorfeld einstudierten Tänze – jedoch mit drei anderen Paaren auf der Fläche – präsentiert werden, muss sich das tanzende Paar nicht mit anderen Paaren koordinieren. Auch hinsichtlich der von den Trainer*innen thematisierten Talentmerkmale lassen sich Parallelen zum dritten Arrangement erkennen. So kommentieren die Trainer*innen erneut die Paarkörper mit Blick auf körperliche Details und das Partnering. Ihr Fokus liegt jedoch in diesem Arrangement auf der Präsentation und damit verbunden der Selbstsicherheit der Paare. So bringt die Erleichterung der Bedingungen durch die Soloperformance gleichzeitig einen erhöhten Anspruch an die Paare mit sich. Zusätzlich sind sie den Blicken der Trainer*innen und der restlichen Tänzer*innen die gesamte Dauer der Performance über ausgesetzt, was einerseits die in der Sichtung einmalige Chance beinhaltet, den Trainer*innen einen einstudierten Tanz von Anfang bis Ende ohne einen unmittelbaren Vergleich mit der Konkurrenz zu präsentieren. Andererseits birgt die Aufgabe die Gefahr, dass die sichtenden Trainer*innen jeden kleinsten Fehler, wie auch konditionelle Schwächen unmittelbar registrieren. Der Spielraum der Paare ist relativ groß. Sie können die Choreographie selbst bestimmen und auf einstudierte Tänze zurückgreifen, die sie bereits häufig performt haben. Die Ähnlichkeit zu Turnierfinalen wird von den Trainer*innen bewusst gesucht, um die Erledigungsbereitschaft der Paare auch unter turnierartigen und
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damit hohen Drucksituationen bewerten zu können. In allen drei von mir beobachteten Jahren verweist der Bundestrainer auf erfolgreiche Tänzer*innen, die er als Vorbilder im Hinblick auf ihr Engagement thematisiert. Durch die konkrete Benennung und im skizzierten Fall sogar Vorführung des Vorbilds nimmt die bisher schemenhafte Talentfigur Gestalt an. Auffällig ist die glorifizierende Darstellung des Engagements der Vorbilder, welches die Trainer*innen als Notwendigkeit für eine herausragende Leistung darstellen. Sie adressieren die Bundeskaderanwärter*innen zwar als defizitär hinsichtlich des Engagements, jedoch läge es in ihrer Hand das Defizit zu beheben, um die Leistung der Vorbilder zu erreichen. Ihr auf Veränderung ausgelegter Status als ‚Noch-Nicht‘-Talente wird in diesem letzten Arrangement vor der Entscheidungsfindung besonders deutlich und zeigt zugleich, dass der Sichtungsprozess auf einen Endpunkt hin ausgerichtet ist, der weit über die Aufnahme in den Bundeskader hinausgeht. Damit ist auch der Status als Talent mit der Aufnahme noch nicht bzw. nicht dauerhaft gesichert, sondern muss auch dann immer wieder performativ unter Beweis gestellt und von außen beglaubigt werden.
3.8 ARRANGEMENTS AUßERHALB DES TANZSAALS Neben den sozio-materiellen Arrangements im Tanzsaal erwiesen sich die Beobachtungen beim gemeinsamen Essen wie auch in der Freizeit als für die Sichtung bedeutsam. Da hier keine Möglichkeit zum Filmen oder Fotografieren bestand, greife ich bei der Beschreibung des Arrangements nur auf die Gedankenprotokolle und Interviews zurück. Bei den gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten gruppieren sich die Trainer*innen an einem Tisch, der zumeist etwas abseits der Tänzer*innen ist. Sie kommen immer wieder auf die einzelnen Bundeskaderanwärter*innen zu sprechen. Diese erscheinen zum Frühstück und Abendessen im Freizeitlook, wodurch die Homogenität ihres Aussehens (vgl. 3) aufgehoben wird. In diesen als Pausen gerahmten Situationen werden auch Gruppierungen innerhalb der Bundeskaderanwärter*innen erkennbar. Es gibt Paare, die sich bei allen Mahlzeiten mit bestimmten anderen Paaren zusammentun und sich ausgelassen unterhalten und laut lachen. Andere Paare bleiben auch bei den Mahlzeiten eher für sich. Teilweise lösen sich die Tänzer*innen auch von ihren Partner*innen und setzen sich zu anderen Bundeskaderanwärter*innen. Laut den Trainer*innen sind die Beobachtungen außerhalb des Tanzsaals wichtig, um weitere Eindrücke zur Teamfähigkeit zu erlangen:
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„Das ist wichtig, weil man auch ein bisschen sieht, ist so ein Paar, wenn es in den Kader kommen will, auch TEAMfähig. Seh‘ ich da nur so eigenbrötlerisch, so dass jeder am besten seinen eigenen Tisch hat oder ist da so ein Gefühl von Team, von Gruppe, das sich da ergibt. Und ich möchte ganz gerne, dass das auch ein Team ist. […] Wenn ich jetzt zum Beispiel in Kali bin, dann sind da drei Top-Paare, die fahren dann um die ganze Welt um dort zusammen Deutschland zu repräsentieren, dann möchte ich auch, dass das auch ein TEAM Deutschland ist.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Wie sich bereits beim sechsten Arrangement abzeichnete, ist den Trainer*innen Teamfähigkeit über das Paar hinaus wichtig. Dadurch, dass das Kadertraining in der Gruppe und nicht mit den einzelnen Paaren stattfindet, sollen laut den Trainer*innen die Kadermitglieder als Team funktionieren und sich sowohl im Training wie auch auf Meisterschaften gegenseitig unterstützen und dadurch bessere Leistungen erzielen: „Du musst später in ‘nem C-Kader, musst du ja eine Gruppe haben, die dann homogen ist, die dann auch GEMEINSAM arbeiten, gemeinsam sich pusht, ja? Natürlich sind die ein bisschen, sind individuelle Leute, das ist okay so, man muss die nicht eingrenzen, aber ab da finde ich, dass wir in einem Team arbeiten müssen, damit das funktioniert. Das sich daraus auch Power entwickelt und daraus entwickelt sich auch wieder der Einzelne auch raus.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Während sich in den Arrangements im Tanzsaal kaum Möglichkeiten zur Beobachtung der Interaktionen unter den Tänzer*innen ergeben, bietet das gemeinsame Essen eine gute Möglichkeit für die Trainer*innen die Gruppierungen und Interaktionen näher zu beleuchten. Wichtig ist hierbei anzumerken, dass es sich nicht um eine systematische oder geplante Beobachtung handelt, sondern dass in allen drei Jahren die Gespräche der Trainer*innen nebenbei immer wieder auf die Tänzer*innen und ihre Interaktionen oder Erscheinungen ‚abdriften‘ bzw. einzelne Kommentare gemacht werden. So kommentieren sie bspw. untereinander, dass eine Tänzerin in den Pausen selten bei ihrem Partner sitzt oder zwei Paare fast immer zusammen anzutreffen sind. Des Weiteren bietet das gemeinsame Essen die Möglichkeit das Essverhalten der Tänzer*innen zu beobachten. „Was ich vielleicht beobachten würde, wenn irgendein Mädchen gar nicht isst, ne? Da müssen wir mal nachfragen, ob da irgendwas anderes nicht stimmt. […] Es sind ja auch welche dabei, die sind gut im Futter, […] aber das kann man ja auch beeinflussen. Da muss man dann gucken, kann man da was dran drehen, kann man daran nichts drehen. Da
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muss man sehr sehr vorsichtig sein in dem Alter, damit sie nicht essgestört werden.“ (Interviewauszug Trainerin 4)
Durch die Bedeutsamkeit der Optik im Tanzsport, die auch die Körperformung beinhaltet (vgl. Arr. 3), wird auch die Ernährungsweise der Tänzer*innen für die Trainer*innen relevant. Zum einen, um durch Ernährung das angestrebte Körperideal zu erzielen. Zum anderen um sicherzustellen, dass – falls notwendig – die Kontrolle des Essverhaltens nicht in eine Essstörung umschlägt.31 Auffällig ist, dass die Trainer*innen das Kriterium der Körperformung nur intern diskutieren. Darauf angesprochen, erläutern mir die Trainer*innen, dass sie es aufgrund der Brisanz des Themas vorziehen, diesbezügliche Hinweise an die Heimtrainer*innen weiterzuleiten, die ein engeres und vertrauensvolleres Verhältnis zu den Tänzer*innen haben und das Thema damit besser ansprechen könnten. Auch in den Abendstunden lässt sich bei den Trainer*innen feststellen, dass sie das Verhalten der Tänzer*innen beobachten und hinsichtlich ihrer Eignung als Kadermitglieder abwägen. Bspw. sitzen die Trainer*innen abends im Foyer des Hotels beisammen und können so nebenbei beobachten, welche Tänzer*innen in welchen Konstellationen das Hotel verlassen und zu welcher Uhrzeit sie wiederkommen. Je nach Lautstärke auf den Zimmern werden auch diese von den Trainer*innen noch aufgesucht. Ähnlich wie in Assessmentcentern (vgl. bspw. Horn 2002; Nienaber 1997) müssen die Bundeskaderanwärter*innen durchgehend ein angemessenes Verhalten performen: „Also wenn Du weißt, dass da wie beim letzten Mal wo ein paar dann einfach die halbe Nacht durch die Gänge rasen oder wie auch immer, dann spielt das schon ‘ne Rolle. Weil dann sag ich mir: Du willst am nächsten Morgen um 9 fit sein. Sie wissen, sie haben einen langen Tag vor sich. Und müssen da Leistung abliefern. Wenn‘s mir wichtig ist, dann gehe ich ins Bett. Ich mach keine Party. Wenn‘s mir nicht wichtig ist, dann mach ich Party. Also das spielt schon in diesen Bereich mit rein.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Somit bewerten die Trainer*innen selbst das Verhalten in der Freizeit der Tänzer*innen im Hinblick auf das Engagement und die jeweilige Zielperspektive. Auch dieses Kriterium findet sich nicht im Bewertungsbogen wieder, fließt aber indirekt in die Bewertung ein:
31 Laut Wanke, Petruschke und Korsten-Reck (2004: 289) liegt die Prävalenz bei Sportlerinnen an einer Essstörung zu erkranken in den sogenannten ästhetischen Sportarten, zu denen auch Tanzen gezählt wird, bei 42 Prozent.
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„Es ist nebenbei in der Bewertung. Wenn es jetzt ein Grenzfall wäre und ich weiß es ist ein Partymensch, dann brauch‘ ich den nicht im Kader. Weil der mischt mir da alles auf. Ist es ein Supertalent dann nehm‘ ich den trotzdem mit. Und dann wird der da eingenordet und beobachtet und der kriegt aber schon die Vorabwarnung erleb‘ ich das nochmal, bist Du direkt wieder draußen. Also die kriegen ‘ne Ansage.“ (Interviewauszug Trainerin 4)
Die Aussage macht auf eine Unterscheidung der Trainer*innen zwischen Talentmerkmalen und Auswahlkriterien für den Bundeskader aufmerksam. Das Freizeitverhalten scheint für die Trainer*innen weniger mit Blick auf die Talentbewertung relevant, kann sich jedoch trotzdem auf die Bundeskaderauswahl auswirken. Bewerten die Trainer*innen eine Person tänzerisch als talentiert, ist der Spielraum im Freizeitverhalten zwar größer als bei anderen, die als weniger talentiert bewertet werden, jedoch gibt es Grenzen. So wurde in einem der beobachteten Jahre ein Paar trotz hoher Platzierung bei der Sichtung nicht in den Kader aufgenommen, da der Tänzer außerhalb des Tanzsaals immer wieder negativ auffiel: „Also dieses Verhalten dulden wir nicht. Und das ist auch okay so. Dann merken die Jungs, okay, sie müssen die Konsequenzen tragen. Und das finde ich schon gut so. Es geht nicht gegen sie, weil sie kriegen immer ‘ne Warnung. Weil jeder kriegt ‘ne Chance, aber es ist so, dass sie einfach lernen müssen, und die Konsequenzen tragen müssen. Und dann lernen sie auch, sich weiterzuentwickeln.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Da die Trainer*innen den Tänzer*innen die Zwischenstände aus den Bewertungsbögen nicht zurückmelden, können sie nur anhand der Adressierungen bei Feedbacks (vgl. Arr. 4) und beim Training mit dem Bundestrainer (vgl. Arr. 5) versuchen ihren Rang zu antizipieren. Über das tänzerische Talent hinaus ist für die Bundeskaderauswahl auch das Verhalten der Tänzer*innen relevant, was die Trainer*innen mit der Logik der Trainingspraxis (vgl. Arr. 5) und der zukünftigen Vorbildfunktion begründen (vgl. auch Arr. 7): „Und es ist natürlich auch so, dass ich natürlich auch für mich sage, wenn jetzt jemand durch den Talentkader durchkommt und dann für ein Jahr in den Bundes C-Kader kommt, das ist ja auch eine Signalwirkung für andere Paare und ich finde es ist ganz wichtig, dass das Paare sind, die das auch nach außen mitteilen können und wo man auch sagen kann: das kann ich verstehen. Also das ist so ein Paar, das aufgrund seiner Leistung aufgrund seines Verhaltens und so weiter da auch hingehört. Wenn jetzt jemand sich überall ganz schlecht benimmt, auf Turnieren zum Beispiel, sich auf Turnieren ganz schlecht benimmt,
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sich gegenüber den anderen Paaren ganz schlecht benimmt und dann ist so jemand ein Vorbild, das sind ja auch so Dinge.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, warum Trainer*innen und Bundeskaderanwärter*innen über die gesamten drei Tage der Sichtung im selben Hotel untergebracht sind und ihre Mahlzeiten gemeinsam einnehmen. Meine Beobachtungen lassen darauf schließen, dass die Trainer*innen und Tänzer*innen die Situationen unterschiedlich auffassen. Während die Tänzer*innen das Arrangement eher als „Hinterbühne“32 (Goffman 2011: 104ff.) zu deuten scheinen, auf der sie trotz der Anwesenheit der Trainer*innen „kurze Ruhepausen“ einnehmen und nicht zwingend als Bundeskaderanwärter*innen auftreten, sondern „aus der Rolle fallen“ (ebd. S. 105) können, bleiben die Trainer*innen in ihrer bewertenden Position und nutzen die sich bietende Möglichkeit, auch außerhalb des Tanzsaals Eindrücke von den Tänzer*innen zu gewinnen, ohne ihnen diese offen zu legen. Diese vordergründig als Pause gerahmten Situationen, bietet den Trainer*innen neben der stillen Beobachtung der Tänzer*innen zudem die Möglichkeit sich über die bisherigen Eindrücke auszutauschen und die nächsten Sichtungsschritte zu diskutieren. In einigen Fällen haben die Diskussionen auch dazu geführt, die bisherigen Sichtungskriterien in Frage zu stellen: Beim gemeinsamen Mittagessen besprechen die Trainer*innen die anstehenden Paarvorstellungen (vgl. Arr. 2) und welche Fragen an diese gestellt werden sollen. Bis zu dem Zeitpunkt war es üblich, die Paare nach ihren ‚Finanzplänen‘ bzw. finanziellen Ressourcen zu befragen. Da der Tanzsport im Vergleich zu anderen Sportarten kostenintensiv und die Möglichkeiten des Verbands die Paare finanziell zu unterstützen selbst im Kader relativ gering sei, ist es nach Ansicht einzelner Trainer*innen unabdingbar, dass die Paare über finanzielle Ressourcen verfügen, um an (inter-)nationalen Turnieren teilnehmen zu können. Während diese Rahmenbedingung bisher als konstitutives Element in die Sichtungspraktiken einfloss, wird es nun von einem der Trainer*innen in Frage gestellt: „Was machen wir hier eigentlich? Wir sind hier um Talente zu sichten, nicht um Finanzen abzufragen!“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll). Dies löst unter den Trainer*innen eine Diskussion über die Zielsetzungen von Talentsichtungen und Ta32 Laut Goffman (2011: 123) dürfen auf Hinterbühnen auch Handlungen stattfinden, die „zwar auf die Darstellung [auf der Vorderbühne] bezogen“ sind, mit diesen jedoch in Widerspruch stehen können. Auf der Vorderbühne hingegen wird eine Darstellung für ein spezifisches Publikum performt, bei der „einige Aspekte betont, andere hingegen, die den hervorgerufenen Eindruck beeinträchtigen könnten, unterdrückt“ werden (ebd. S. 104).
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lentmerkmalen unabhängig von ‚äußeren Faktoren‘ wie bspw. der Finanzen aus. In Anlehnung an Boltanski kann die Situation als Registerwechsel angesehen werden, in denen sich die Teilnehmenden aus der Situation lösen, in ein sogenanntes metapragmatisches Register wechseln und ihre Aufmerksamkeit sich der Frage zuwendet „wie das, was abläuft, zu qualifizieren bzw. zu kennzeichnen sei“ (Boltanski 2010: 106; Herv. i. O.). Im Gegensatz zum sogenannten pragmatischen Register zeichnen sich diese metapragmatischen Momente durch ein gehobenes Reflexionsniveau aus, in dem die Handlungen nicht nur im Vollzug angepasst, sondern unterbrochen und kritisch hinterfragt werden. Im konkreten Beispiel reflektieren die Trainer*innen auf die Zielsetzung von Talentsichtungen und beschließen, dass die finanzielle Lage der Paare keine Aussagekraft über das Talent habe und damit kein Kriterium für die Sichtung sein dürfe. Die bis dahin gängige Praxis beim Paarinterview wird in der Diskussion außerhalb des Tanzsaals kritisch hinterfragt und letztendlich verändert. Fazit Arrangement 8: Bewertung der Teamfähigkeit und Reflexion der Sichtungskriterien Das einzige Arrangement außerhalb des Tanzsaals wird von den Teilnehmenden unterschiedlich gerahmt. Während die Tänzer*innen das Arrangement als Pause von der Sichtung wahrnehmen, in der sie in Freizeitkleidung erscheinen, den Trainer*innen kaum Beachtung schenken und sich unterschiedlich gruppieren, verbleiben die Trainer*innen im Bewertungsmodus und nutzen die Möglichkeit etwas abseits von den Tänzer*innen weitere Eindrücke zu sammeln. Hierbei lassen sich keine spezifischen Techniken des Sehens ausmachen. Vielmehr wird durch die unterschiedliche Rahmung des Arrangements ein tiefergehender Eindruck von den Tänzer*innen zu bereits thematisierten Merkmalen wie bspw. der Teamfähigkeit über das Paar hinaus und dem Engagement ermöglicht. Der Spielraum der Tänzer*innen variiert in Abhängigkeit von der Bewertung des tänzerischen Talents. Tänzer – auffällig ist, dass ausnahmslos nur Tänzer und keine Tänzerinnen thematisiert werden – die zum jeweiligen Stand in der Rangliste der Sichtung höher platziert sind, haben einen größeren Spielraum, was vom Ideal abweichendes Verhalten betrifft, als niedriger Platzierte, wobei die Trainer*innen auch bei Gutplatzierten Grenzen setzen. Hier zeigt sich eine Differenzierung der Trainer*innen zwischen Talentmerkmalen und darüberhinausgehenden Auswahlkriterien für den Bundeskader. Grenzüberschreitungen werden nicht an die Tänzer*innen kommuniziert, wirken sich jedoch auf die Auswahl für den Bundeskader aus. Die beschriebenen Arrangements außerhalb des Tanzsaals sind feedbackfreie Orte, die neben der stillen Beobachtung den Trainer*innen die
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Möglichkeit zur Diskussion über bisherige Eindrücke bieten, in denen sich auch Wechsel ins metapragmatische Register vollziehen können.
3.9 ENTSCHEIDUNGSFINDUNG MIT HILFE DES BEWERTUNGSBOGENS Das Ende der Sichtung leitet der Bundestrainer nach dem letzten Solotanz ein (vgl. Arr. 7). Hierfür lässt er alle Tänzer*innen für eine abschließende Ansage zusammenkommen: „Ihr seid durch für heute und auch mit der Sichtung Latein. Über Ergebnisse kann ich logischerweise noch nichts sagen. Erstens wird jetzt noch weiter ausgerechnet. […] Zum weiteren Prozedere: es gibt ein Ranking, und nach diesem Ranking werde ich dem Bundessportwart die Einstufung mitteilen [von 1 bis 25] und dann ist es am Ende ein Gespräch zwischen dem Bundessportwart und mir, wie viele Paare in den Bundeskader für ein Jahr kommen. Es wird auf jeden Fall nicht so sein, dass ich den Kader vollmache, so dass ich im Januar keine Möglichkeiten mehr habe noch andere Paare aufzunehmen. Also ich gehe mal davon aus vier fünf Paare werden es im Höchstfall sein. Denn ich werde mir Plätze offenhalten und natürlich weiter beobachten, soweit ich selber da bin, oder Eure Ergebnisse mir anschauen und werde darauf reagieren. Und das müsst Ihr verstehen. Ich möchte mir die Möglichkeit offenhalten, zu sehen, wie Ihr weitergeht und wer dann vielleicht auch noch in Frage kommt. Wenn Ihr etwas nicht zum Ranking, sondern zu Eurer Leistung spezieller wissen wollt, dann läuft das am liebsten über die Heimtrainer. Dann sagt dem Heimtrainer Bescheid, dass sie mich ruhig mal anrufen sollen. Dann kann da gern noch mal Feedback kommen, was mein Eindruck ist, woran noch gearbeitet werden muss, warum es vielleicht gereicht oder auch nicht gereicht hat. Aber ein Ranking werden wir auf jeden Fall nicht bekannt geben und das bleibt unter uns und das wird nicht weitergereicht.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Nach vorhergehenden einzelnen Verweisen auf den Bewertungsbogen (vgl. bspw. Arr. 4) und seiner Präsenz in den Bewertungsrunden (vgl. Arr. 3) macht der Bundestrainer in seiner finalen Ansage transparent, dass über die eingetragenen Werte ein Ranking aufgestellt wird. Die Aussage suggeriert, dass nicht die Trainer*innen über den Zugang zum Bundeskader entscheiden, sondern das errechnete Ranking. Wie Mau (2017: 74) herausstellt, zielen Rankings darauf ab, „Beobachtungsobjekte in eine Rangfolge zu bringen“. Das so errechnete und damit vermeintlich objektive Ergebnis sei viel schwerer in Zweifel zu ziehen als bloße Meinungsäußerungen (vgl. ebd.: 260). Die Ergebnisse werden jedoch an
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die Paare weder bei der Sichtung noch im Anschluss kommuniziert. Stattdessen wird die differenzierte Einschätzung über das Talent auf den binären Code: Aufnahme/Nicht-Aufnahme in den Bundeskader reduziert und den Tänzer*innen per Post mitgeteilt. Damit werden die Selbstverortung unter den Bundeskaderanwärter*innen und die damit verbundene Leistungseinschätzung für die Paare erschwert. Detailliertere Rückmeldung zur Leistung bzw. zu potenziellen Ansatzpunkten zur Optimierung können von den Paaren auch nicht direkt eingefordert werden, sondern müssen über die Heimtrainer*innen erfolgen, die damit erneut trotz ihrer Abwesenheit ins Spiel gebracht werden. Über diese selektive Wissensweitergabe wird die Hierarchie zwischen den Statusgruppen reproduziert, da die Paare auf diese Informationen angewiesen sind, um ihre Leistungen zu verbessern. Damit verlassen die Tänzer*innen die Sichtung ohne Auflösung ihres ‚Noch-Nicht‘-Status‘ bzw. Überführung in den Status als (Nicht-)Talente. Der identitätsstiftende Moment der Benennung in den Kader wird auf einen Zeitpunkt über die Sichtung hinaus verlegt und über das auf Distanz ausgelegte Medium des Briefs ausgelöst. Gleichzeitig suggeriert der Bundestrainer mit seiner Ansage, dass auch mit der (Nicht-)Aufnahme in den Kader kein Endpunkt erreicht ist, sondern die Paare auch darüber hinaus beobachtet werden und die Zuschreibung sich in beide Richtungen – Aufwertung zum Talent bzw. Aberkennung des Talentstatus‘ – abermals verändern kann. Erneut wird ersichtlich, dass die Anerkennung als Talent kein einmaliger Akt ist, mit dem ein gesicherter Status einhergeht, sondern ein auf Wiederholung ausgelegter Prozess des performativen unter Beweis Stellens und von außen Beglaubigens. Der Bewertungsbogen als wichtiger Teilnehmer an der Sichtungspraxis Sobald die Tänzer*innen ihre Sachen gepackt und den Tanzsaal verlassen haben, versammeln sich die Trainer*innen an ihrem Tisch und vergleichen ihre Bewertungen in den letzten Kategorien. Zuvor wurden bereits Pausen für den Vergleich und das Eintragen der Punkte in den Computer genutzt. Die vier Trainer*innen haben bei allen Bewertungsrunden jede*r für sich Punkte für die Paare vergeben. Die 25 im Bogen dokumentierten Kategorien beziehen sich zum Großteil (in 16 Kategorien) auf die Präsentation der im Vorfeld einstudierten Tänze (Basic, Choreo, Solotanz) für die die Trainer*innen Punkte von Null bis fünf vergeben. Zusätzlich wird die Mitarbeit beim Training wie auch das selbstständige Üben bei der Kreativaufgabe bewertet, wie auch die Kreativität, Technik und der Ausdruck bei der Präsentation der selbstgestalteten Kreativaufgabe. Nur einmal bewerten die Trainer*innen Dame und Herr separat. Die vier Werte der
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Trainer*innen werden in jeder Kategorie jeweils addiert und der Querschnitt in einen finalen Bewertungsbogen im Computer eingetragen. Auch wenn die Trainer*innen einzeln bewerten, gibt es große Überschneidungen. Bei den wenigen Abweichungen lässt sich beobachten, wie sich die jeweilige Person rechtfertigt und die eingetragenen Werte nochmals genau prüft und gelegentlich anpasst. Durch die Diskussionen verschaffen sich die Trainer*innen kollektiv Gewissheit darüber, was bei den jeweiligen Paaren besonders positiv war bzw. fehlte (vgl. Kalthoff 1996: 117). Da die Trainer*innen bereits ab dem ersten Tag die Werte immer wieder beim Eintragen in den Computer abgleichen und diskutieren, gleichen sich ihre Bewertungen immer weiter an, so dass zum Ende der Sichtung kaum noch abweichende Werte vorliegen bzw. die Relationen zwischen den Paaren gleich sind. Somit regt der Bogen zum Austausch über die eingetragenen Werte an, wodurch die Trainer*innen den Sehstil immer weiter gemeinsam spezifizieren. Der Bewertungsbogen ist ein wichtiger Teilnehmer an den Sichtungspraktiken, durch den der Fokus auf bestimmte Aspekte gelenkt wird, allein dadurch, dass er vorgibt, welche Praktiken bewertet werden sollen und ein Glaube erzeugt wird, dass die eingetragenen Werte das jeweilige Talent repräsentieren (vgl. Kalthoff 2016: 237). Die starke Einflussnahme des Bogens auf die (Be)Wertungspraxis wird auch daraus ersichtlich, dass Merkmale, die laut Aussage der Trainer*innen unterschiedlich stark gewichtet werden, im Bogen davon abweichend angelegt sind. So betonen die Trainer*innen immer wieder, dass die Lernfähigkeit der Paare entscheidender sei, als die im Vorfeld einstudierten Tänze. Dies spiegelt sich jedoch nicht im Bogen wider, in dem mehrfach die Zuhause einstudierten Tänze bewertet werden, wohingegen die Trainer*innen für die in der Sichtung eingeübten Choreographien nur einmal Punkte vergeben. Ein Abgleich zeigt, dass bei weitem nicht alle in der Sichtung thematisierten Talentmerkmale sich im Bewertungsbogen widerspiegeln. Versucht man diese zu systematisieren, wird deutlich, dass es Merkmale gibt, die die Trainer*innen den Tänzer*innen gegenüber transparent machen. Nicht alle diese Merkmale lassen sich jedoch im Bogen wiederfinden. Andere im Bogen angegebenen Merkmale wie bspw. das Einstudieren der Kreativaufgabe werden den Tänzer*innen nicht mitgeteilt. In der letzten Kategorie lassen sich Merkmale gruppieren, die weder im Bewertungsbogen auftauchen, noch den Tänzer*innen gegenüber transparent gemacht, jedoch unter den Trainer*innen als relevant erachtet werden (bspw. die Optik der Tänzer*innen wie auch die Teamfähigkeit über das Paar hinaus). Die wichtigste Funktion des Bogens scheint die Quantifizierung von Talent zu sein. Durch diese Technik der vermeintlichen Objektivierung werden die subjektiven und komplexen Bewertungen der Trainer*innen in Zahlenwerte über-
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setzt und auf diese reduziert (vgl. Heintz 2016: 316; Ouart 2011: 160). Hierdurch werden nicht nur einzelne Paare bewertet, sondern eine distinkte Verteilung aller Paare über eine Skala organisiert und eine soziale Relation zwischen ihnen im Ranking fixiert (vgl. Kalthoff 1996: 121; Mau 2017: 13f.). Da die Trainer*innen bei den jeweiligen Bewertungsrunden den Zwischenstand nicht immer vor Augen haben, wird ihnen durch den Bogen die relationale Platzierung alle Paare abgenommen. Gleichzeitig werden durch Rankings auch spezifische „Wahrnehmungs-, Denk- und Beurteilungsschemata“ antrainiert (vgl. ebd.), die folgende Bewertungen beeinflussen und im Ergebnis die vorhergehenden Entscheidungen, „was wie gemessen und bewertet werden kann und soll“ (ebd.: 260) unsichtbar machen. Der Glaube daran, dass mit Hilfe des Bogens ein Ranking erstellt werden kann, welches das Talent der Paare repräsentiert, wird in einzelnen Fällen kurzzeitig irritiert, wenn Paare, die die Trainer*innen als talentiert wahrnehmen im errechneten Ergebnis schlechter abschneiden. Jedoch stellen die Trainer*innen daraufhin nicht die Validität des Verfahrens in Frage, sondern passen ihre Bewertungen der entsprechenden Paare in den folgenden Runden an, damit das gewünschte Ergebnis final ‚errechnet‘ wird. Damit zeigt sich eine weitere Funktion des Bogens: Er dient zur Legitimation der Bewertungen. Gerade in ästhetischen Sportarten wie dem Tanz, wo Leistungen nicht objektiv messbar sind, sondern basierend auf subjektiven Eindrücken bewertet werden, müssen auch in den Sichtungen diese subjektiven Einschätzungen zu dem jeweiligen Talent bspw. gegenüber Funktionären transparent und nachvollziehbar gemacht werden. Während die subjektiven Eindrücke aufgrund ihrer Komplexität nach außen schwerer zu vermitteln sind, sind die eindeutigen Zahlenwerte und die daraus hervorgehende Rangordnung auch für Außenstehende nachvollziehbar (vgl. ebd. 260). Damit suggeriert der Bogen einen objektiven Bewertungsprozess nach klar vorgegebenen Kriterien. Wie Heintz (2007) herausstellt, ist die Objektivität von Zahlen jedoch kein Sachverhalt, sondern eine Zurechnung, die aufgrund des hohen Maßes an Explizitheit des Mediums eine Infragestellung des Ergebnisses – im vorliegenden Fall der Talentsichtung – unwahrscheinlicher macht. Der Bogen suggeriert einen objektiven Bewertungsprozess der die Position der Trainer*innen stärkt, da sie ihre intersubjektiven Bewertungen mit dem Bogen objektivieren und die Ergebnisse bei unerwünschten Abweichungen manuell anpassen können, ohne dass diese Anpassungen nach außen sichtbar werden. Der Bogen fungiert damit für die Trainer*innen in diesen Fällen als Koalitionspartner, da er ihnen die Möglichkeit bietet, ihre Bewertungen über die teils manipulierten Zahlenwerte gegenüber nächst höheren Instanzen zu verteidigen. Somit wird den intersubjektiven Bewertungen durch den Bogen ein objektives Gewand gegeben, welches die Bewertungen legitimiert.
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Hierarchisierung von Bewertungskriterien für die finale Bundeskaderauswahl Das Vorgehen zur finalen Entscheidungsfindung ist in allen drei Jahren gleich. Nach Eintragen der letzten Punktwerte in den Computer orientieren sich die Trainer*innen an den Ergebnissen, die aus der Tabelle hervorgehen. Sie kommentieren die Hochplatzierten der Reihe nach kurz – zumeist zustimmend – und beglaubigen damit das errechnete Ergebnis. In diesen Diskussionen wird die Hierarchie unter den Trainer*innen, in der der Bundestrainer über den anderen steht, ersichtlich. Dies wird schon allein daran deutlich, dass er von Anfang an betont, dass er – sollte er dem errechneten Ergebnis nicht zustimmen – die Nominierung für den Kader auch unabhängig von der Liste vornehmen würde. Neben den vielen anderen Merkmalen, ist für die Trainer*innen vor allem technisches Können von Bedeutung, was sie damit begründen, dass der Tanzsport kein ergebnisorientierter Sport sei: „Und es ist ja so, dass im Tanzsport wir NICHT nur ERGEBNISorientiert bewertet werden, sprich wie im Fußball: es wird ein Tor geschossen. Ob der Schütze nun eine perfekte Technik hat, spielt eigentlich keine Rolle. Ob der alles falsch macht, was es in der Lehre gibt und er schießt ein Tor, dann ist das egal. Tanzsport wird zu einem Großteil der Bewegungsablauf, also die TECHNIK bewertet, es ist also nicht nur das Resultat sprich, das Paar kann eine Samba oder einen Walzer oder einen Tango tanzen, sondern es geht eigentlich darum, was macht das Paar? Das heißt, wir sind eher eine Sportart, die sehr stark über den technischen Ablauf bewertet wird und das bedeutet, dass man eben auch eine Liebe für das Detail haben muss.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Durch die Logik der Tanzpraxis, deren Bewertung sich nicht anhand der erzielten Tore oder einer messbaren Zeit wie bspw. im Sprintbereich ableiten lässt, erlangt die technische Ausführung einen hohen Stellenwert, so dass die Trainer*innen vor allem Paare in den Kader berufen wollen, die sie als technisch hoch versiert bewerten. Wie aus den Beobachtungen und dem folgenden Zitat hervorgeht, revidieren die Trainer*innen ihre Entscheidung vor allem bei fehlendem Engagement (vgl. Arr. 5): „Bringt er die Bereitschaft mit, sag ich mal sich zu schinden, also wirklich zu arbeiten. Bringt er die Bereitschaft mit gezielt zuzuhören und auch gezielt das dann abzuarbeiten. […] Talent ist für mich etwas, was sich entwickelt. […] Es gibt die, die ständig dabei bleiben, die ständig lernen und versuchen die Bereitschaft zu haben, ich will besser werden. Die werden es auch. […] Und die meisten, die Bewegungstalente, die extrem erfolg-
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reich sind am Anfang, das sind die, die scheitern. Weil es kommt immer bei jedem Sport auch die Tiefe und die verkraften die Tiefen nicht. Wenn sie abstürzen, verkraften die das nicht. Und die anderen, die von Anfang an versucht haben zu arbeiten, zu trainieren, denen macht das nichts aus. Die arbeiten dann weiter.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Aus der Aussage geht zudem eine Differenzierung und Hierarchisierung zwischen verschiedenen Talentmerkmalen und -formen hervor: Der Trainer unterscheidet zwischen anlagebedingtem „Bewegungstalent“ und sich entwickelnden und damit formbaren Talenten. Mit Verweis auf die Zielperspektive – langfristiger internationaler Erfolg im Tanzsport – stellt er formbare Talente über die Bewegungstalente, da laut ihm Misserfolgserlebnisse, die sich entwickelnde Talente in ihrer Laufbahn häufig erleben, zur Ausbildung von Frustrationstoleranz führen. Diese würde den Bewegungstalenten fehlen, sei jedoch eine notwendige Eigenschaft um langfristig im Tanzsport erfolgreich zu sein. Sind die Trainer*innen bei einzelnen Paaren unentschlossen, werten sie die Bewertung des Herren im Paar als bedeutsamer als die Bewertung der Dame. So entscheiden sich die Trainer*innen in allen Jahren eher für die Paare, bei denen der Partner als talentiert eingeschätzt wird, auch wenn sie bei seiner Partnerin Schwächen diagnostizieren. Im umgekehrten Fall werden die Paare eher nicht für den Kader nominiert, was die Trainer*innen folgendermaßen begründen: „Das ist jetzt so, weil das Tanzen zurzeit mehr über den Herren schon läuft. Da aber die körperlichen Voraussetzungen für die Frauen meistens auch mit den hohen Schuhen und auch insgesamt vom ganzen Muskelapparat und so weiter die sind ja nicht so stark wie die Männer. […] es ist so, dass die meisten Damen, wenn sie im direkten Vergleich zu den Herren standen, dann immer ein bisschen schwächer ausgesehen haben. So. Und das ist, wo wir jetzt die Tendenz hingehen, die Männer sind stärker als die Frauen. Und jetzt bekommen die Männer auch noch die Startnummer auf dem Rücken und das ist auch noch etwas was zusätzlich hinzukommt. Das heißt also wenn ich jetzt einen sehr sehr guten Herren sehe, der tanzt und - ich sag jetzt mal - die Dame tanzt gut mit, sehr guter Herr, die Dame tanzt gut mit. Seh‘ ich die Nummer, seh‘ ich den beweglichen Rücken, sehe nochmal wie der Herr so von der Posture, von der Haltung und so alles da steht, dann kriegt der sein Kreuz. Jetzt sehe ich auf der anderen Seite eine sehr gute Dame und dann guck ich mir den Herrn an und der sieht ein bisschen steif aus und ich muss aber warten bis er sich gedreht hat. Bis er mir die Nummer gezeigt hat, ich beobachte den Herrn und denk auf einmal: ach nee das geht eigentlich nicht. So dann kriegt das Paar kein Kreuz. Also das ist schon so. Der Herr nimmt schon beim Tanzsport eine ganz wichtige Rolle ein. Hinzu kommt natürlich, dass der Herr aus der Story heraus, der Führende sein soll, er soll schon aktiv auch sein in seinen Abläufen und wenn die Herren aktiv sind, ist das immer schon
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auch besser. Es ist so, wenn man im Gesellschaftstanz ist, und ein Mann kann gut tanzen, die meisten Frauen können gut mittanzen. Umgekehrt wird‘s zur Katastrophe.“ (Interviewauszug Trainer 1)
In der Aussage kommen unterschiedliche Argumente für die männliche Dominanz im Paarkörper zum Tragen. Zum einen greift der Trainer auf Biologismen zurück: Durch die unterschiedlichen körperlichen Voraussetzungen der Geschlechter ergebe sich eine Ungleichverteilung von Kraft zwischen den Partner*innen. Zum anderen würden die tanzspezifischen Artefakte wie die hohen Tanzschuhe der Damen und die Startnummer, die nur am Rücken des Herren befestigt wird33 und notwendig ist, um die Bewertung im Bogen zuzuordnen, die Wichtigkeit des Herren stützen. Abschließend verweist der Trainer erneut auf die Logik der Tanzpraktik, in der unterschiedliche Positionen für Dame und Herr vorgesehen sind (vgl. Arr. 5). Aus der Logik des Führens und Folgens und den entsprechenden heteronormativen Teilnehmendenpositionen werden auch die Verantwortlichkeiten für das ‚Produkt‘ – den Tanz – unterschiedlich verteilt (vgl. Alkemeyer/Buschmann 2017: 12). Zusammenfassend ergibt sich für die Trainer*innen aus der Materialität und den unterschiedlich gewichteten Positionen in den Tanzpraktiken die Dominanz des männlichen Parts im Paarkörper. Insgesamt bewerten die Trainer*innen die Paare als talentiert, die in ihren Augen alle thematisierten Merkmale aufweisen (vgl. 3.10), wobei die Merkmalsausprägungen variieren können. So kann bspw. eine geringe Auffälligkeit laut Trainer*innen durch ein herausragendes technisches Können ausgeglichen werden; oder die nicht ‚optimale‘ Erscheinung als Paarkörper aufgrund eines nicht idealen Größenunterschiedes34 durch die Kombination aus sehr großem Engagement und Selbstständigkeit im Paar. Auch die äußere Erscheinung des als talentiert bewerteten Paarkörpers lässt sich anhand der ausgewählten Paare nicht vereinheitlichen. Es lässt sich festhalten, dass keine feste Subjektform von Talent in Anschlag gebracht wird, sondern verschiedene Kombinationen von Merkmalsausprägungen der als wertvoll erachteten Merkmale für die Zuschreibung von Talent möglich sind. Wichtig ist, dass die Trainer*innen bei den als schwächer bewerteten Merkmalsausprägungen Potenzial zur Verbesserung sehen.
33 Im Anschluss an die ersten beiden Sichtungsjahre reflektieren die Trainer*innen auf den Effekt, den die Vergabe der Startnummer nur an die Herren hat und gehen dazu über auch den Damen eine Startnummer zu geben. 34 In diesem Fall waren die Tänzer*innen annähernd gleich groß.
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3.10 ZWISCHENFAZIT: SICHTUNGSPRAKTIKEN IN DEN LATEINAMERIKANISCHEN TÄNZEN Im folgenden Zwischenfazit fasse ich die wichtigsten Ergebnisse hinsichtlich der aufgeworfenen Forschungsfragen zusammen. Um die Mikrologiken der Sichtungspraktiken bei den Lateinamerikanischen Tänzen zu erfassen, wurde in die wiederkehrenden sozio-materiellen Arrangements ‚hineingezoomt‘ und diese im Hinblick auf die jeweiligen Adressierungen, Techniken des Sehens, Techniken des Sich-Sichtbarmachens und die daraus hervorgebrachten Talentmerkmale untersucht. Dem Vorschlag Nicolinis (2012: 219ff.) folgend, werden durch das ‚Herauszoomen‘ aus den Arrangements und dem Vergleich der Mikrologiken transsituative Zusammenhänge erkennbar gemacht. Zunächst gehe ich auf die wichtigsten Erkenntnisse bezüglich der sozio-materiellen Arrangements ein. Diese gruppiere ich hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und skizziere, welche Merkmalsbeobachtungen sie jeweils nahelegen bzw. erschweren. Anschließend erfolgt eine zusammenfassende Darstellung der verschiedenen Techniken des Sehens der Trainer*innen. Im dritten Abschnitt werden die Techniken des SichSichtbarmachens der Tänzer*innen zusammengefasst und gruppiert. Zudem gehe ich auf den Prozesscharakter der Sichtung ein, in dessen Verlauf die Spielräume der Tänzer*innen, sich mit Hilfe dieser Techniken sichtbar zu machen, stark variieren und der Anspruch an sie stetig steigt. Während sich die aufgelisteten Punkte vor allem der Frage widmen, wie Sichtungspraktiken ablaufen, fasse ich im Anschluss die wichtigsten Ergebnisse bezüglich der Bedeutsamkeit des Bewertungsbogens und der als relevant markierten Talentmerkmale zusammen und thematisiere, was für ein Talentkonstrukt die Teilnehmenden gemeinsam in den Sichtungspraktiken performativ hervorbringen. Abschließend gehe ich auf die wichtigsten Erkenntnisse hinsichtlich der (Re)Adressierungen und der daraus resultierenden Subjektivierungen der Teilnehmenden ein. Die hier vorgenommene Systematisierung der Ergebnisse erfolgt auf der Grundlage analytischer Unterscheidungen, die in der Empirie zusammenfallen. Die Sichtungspraktiken finden hauptsächlich in sozio-materielle Arrangements statt, in denen einzelne oder mehrere Tänzer*innen sich zumeist rotierend auf der Tanzfläche bewegen, während sich die Trainer*innen am Rand platzieren. Drei dieser Arrangements (1; 3; 5)35 ermöglichen den Trainer*innen einen unmittelbaren Vergleich zwischen den Tänzer*innen, wobei der Handlungsspiel-
35 Die Nummern stehen für das jeweilige Arrangement, in dem die konkreten Beispiele ausführlich behandelt werden.
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raum der Tänzer*innen im Hinblick auf den Startzeitpunkt und die Festlegung der Tanzschritte variiert. Vor allem durch die strikte Festlegung dieser Punkte wird die Gleichzeitigkeit der Ausführung hergestellt, was den Vergleich und die Wahrnehmung von Abweichungen im positiven wie auch negativen Sinne in Bezug auf die normative Ordnung der Praktik vereinfacht. Daneben gibt es Anordnungen, in denen die Tänzer*innen als Paare eingeteilt nacheinander performen und die Trainer*innen sie einzeln bewerten (2; 6b; 7). Die Anordnungen erschweren zwar die Vergleichbarkeit, ermöglichen jedoch einen detaillierteren Blick auf die Paare. Die Trainer*innen beobachten die Paare zum einen in für sie bekannten Bewertungssituationen, durch die eine höhere Ernsthaftigkeit affiziert wird (3; 7). Zum anderen ähneln einige der Arrangements Trainings- wie auch Freizeitanordnungen, so dass alltägliche Routinen in den Blick geraten und die Trainer*innen die Paare bzgl. der Teamfähigkeit im und über das Paar hinaus bewerten (5; 6a; 8). Das Besondere an diesen Arrangements ist, dass Training (5; 6a) bzw. Freizeit (8) und Prüfung zusammenfallen. Während die bisherigen Arrangements den Tänzer*innen vertraut sind, gibt es Anordnungen, in denen den Tänzer*innen ungewohnte Aufgaben gestellt werden (2; 6a). Die Trainer*innen erhoffen sich bei diesen Aufgabenstellungen zum einen, ungleiche Voraussetzungen wie bspw. Trainingshäufigkeit, finanzielle Ressourcen, unterschiedliche Heimtrainer*innen etc. auszugleichen und einen Eindruck von der Lernfähigkeit und der Interaktion innerhalb der Paare zu erhalten. Zum anderen sollen die Paare in Stresssituationen versetzt werden, um beobachtbar zu machen, wie sie unter Druck agieren und auch mit Fehlern umgehen. Während die Trainer*innen in den meisten Anordnungen die tanzenden Körper bewerten, werden in zwei Arrangements (2; 4) diese vordergründig ‚still gestellt‘. Die Analysen zeigen, dass selbst in diesen Anordnungen – unabhängig davon, ob die Tänzer*innen sich als schweigende zuhörende (4) oder als sprechende Teilnehmer*innen (2) in die Praktiken einfügen – die Trainer*innen ihre Körper ‚lesen‘. Anhand der Gestiken, Blicke und Positionierungen der Körper schließen die Trainer*innen auf die Einheit als Paar und das Engagement – teils unabhängig vom Gesagten. In allen Arrangements lassen sich unterschiedliche territoriale Ansprüche der Trainer*innen feststellen, aus denen sich zumeist die Positionierungsrechte der Tänzer*innen ableiten. Damit bringt sich im physischen Raum die soziale Ordnung zur Geltung (vgl. Bourdieu 2001: 172). Umgekehrt beeinflussen gerade in den Arrangements mit größerem Spielraum für die Tänzer*innen ihre Positionen wiederum die Positionen der Trainer*innen. Es lässt sich festhalten, dass die Positionierungen der Teilnehmendengruppen sich gegenseitig bedingen und die
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einzelnen Arrangements unterschiedliche Konstellationen dieser nahe legen. An die verschiedenen Positionen in den Anordnungen sind jeweils bestimmte Rechte und Pflichten gebunden. Von den Tänzer*innen wird bspw. in den vergleichenden Arrangements (3; 6b; 7) wie auch bei den Feedbacks des Bundestrainers (4) erwartet, in der Masse der Zuschauenden bzw. Zuhörenden nicht (negativ) aufzufallen. Mit dem Wechsel vom Rand auf die Tanzfläche verändert sich die Anforderung und die Paare müssen sich während der kurzen Präsentation hervorheben. Aus den Anordnungen der Teilnehmendengruppen resultieren auch unterschiedliche Erwartungen an die Trainer*innen. Bspw. legt die Einnahme des Bühnenraums (4) wie auch der Position in der ersten Reihe vor der Spiegelfront (5) Demonstrationen nahe. Ähnlich wie im Schulkontext adressieren sich die Teilnehmendengruppen durch Fragen stellen, Aufzeigen, Drannehmen und ermahnende Zurechtweisungen als hierarchisch unterschiedlich positionierte Lehrende und Lernende. Hier müssen sich nicht nur die Tänzer*innen, sondern auch die Trainer*innen als kompetent erweisen, um in ihrem Status als Mitspieler*innen bestätigt zu werden. Die Hierarchie zwischen den Teilnehmendengruppen zeichnet sich zudem in den einseitig verteilten Redeanteilen, wie auch der Ausstattung mit symbolisch ‚aufgeladenen‘ Artefakten wie bspw. den Bewertungsbögen ab. Ähnlich wie bei den Tänzer*innen lassen sich auch innerhalb der Trainer*innengruppe in den Arrangements unterschiedliche Anforderungen je nach Positionierung unterscheiden. Bspw. nehmen die restlichen Trainer*innen während des vom Bundestrainer angeleiteten Trainings (5) eine stille Beobachter*innenposition am Rand ein, die sie jedoch bei zu starken Abweichungen von ihren Vorstellungen eines angemessenen Verhaltens für Zurechtweisungen kurzzeitig aufgeben. Durch diese Wechsel wird eine panoptische Anordnung geschaffen, die im Verlauf der Sichtung die Selbstbeobachtung der Tänzer*innen verstärkt. In Bewertungsarrangements (3; 6; 7) hingegen müssen die Trainer*innen innerhalb kürzester Zeit die Performance der Paare begutachten und ihre subjektiven Eindrücke in eine Werteskala übersetzen. Hierfür wenden sie verschiedene Techniken des Sehens an. Besonders durch die Veränderung der Distanz zum jeweils zu bewertenden Paar werden unterschiedliche Merkmale ‚scharf gestellt‘. Während eine größere Distanz den Paarkörper in Erscheinung treten lässt, ermöglicht ein geringerer Abstand die Fokussierung auf einzelne Körperteile wie bspw. die Fußarbeit oder Handhaltung. Die Trainer*innen variieren nicht nur den Abstand, sondern auch die Sichthöhe, um das anvisierte Merkmal besser zu sehen. Auch die Veränderung der Anzahl wie auch Anordnung der gleichzeitig tanzenden Körper wird als Technik genutzt, verschiedene Merkmale hervorzu-
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heben. So wird bspw. beim Aufwärmen durch die erzeugte Masse – bestehend aus den 50 Tänzer*innen – die Auffälligkeit Einzelner besonders gut sichtbar. Eine Fokussierung auf das technische Können wird durch die Verlangsamung der Musik, wie auch die Reduktion der gleichzeitig zu bewertenden Körper vereinfacht. Durch den unmittelbaren Vergleich mit anderen relativieren die Trainer*innen die Wertungen der einzelnen Paare. Zudem validieren die Trainer*innen ihre Einschätzungen durch den körperlichen Nachvollzug oder durch den Abgleich mit nicht anwesenden Toppaaren, die in den Ansprachen der Trainer*innen ins Spiel gebracht werden. Da einige der als wichtig erachteten Merkmale nicht direkt beobachtbar sind, werten sie andere beobachtbare Merkmale als Indikatoren und ziehen diese zur Bewertung heran. So schließen sie bspw. anhand der Handhaltung beim Tanzen auf das Führungsverständnis und deuten anhand der Zugewandtheit der Körper und der Redeanteile im Paar die ‚Verschmelzung‘ der Tänzer*innen zu einer Einheit. Die Analysen zeigen große Überschneidungen bei den von den Trainer*innen als Talentmerkmale gewerteten ‚Zeichen‘, die durch ebenfalls sehr ähnliche Techniken des Sehens zum Vorschein gebrachten werden. Zudem haben die videogestützten Interviews, wie auch ergänzende Reflexionsgespräche mit den Trainer*innen ergeben, dass die Trainer*innen ihren Sehstil und das hervorgebrachte Talentkonstrukt – bis auf wenige Ausnahmen, in denen die Trainer*innen ins metapragmatische Register wechseln (8) – nicht hinterfragen und dabei andere Details ausblenden. So nahmen die Trainer*innen bspw. die sprachliche Fokussierung auf die Herren, wie auch die Favorisierung dieser in den Paaren bei Grenzfällen nicht wahr. Diese Aspekte wurden erst durch das Medium der Videos in den videogestützten Interviews reflexiv zugänglich. Hier zeichnet sich ein kollektiver Denk- bzw. Sehstil der Trainer*innen ab (vgl. 2.2), der einerseits das ‚Sehen‘ von Talent erst ermöglicht, andererseits dem Sehstil Widersprechendes ausblendet (vgl. Fleck 1983: 153f.). Wie die Analysen ergeben haben, beruhen die Wahrnehmungen der sichtenden Trainer*innen nicht allein auf dem Sehen der Paare, sondern es werden verschiedene Sinneseindrücke zur (Be)Wertung kombiniert. Reckwitz (2015: 447) betont, dass verschiedene „Sinnesorgane, Akte des Wahrnehmens und Aktivitäten des Handelns innerhalb einer Praktik […] untrennbar miteinander verzahnt“ sind, wobei die einzelnen Sinnesorgane je nach Praktik in „Sinnesregimen“ auf- bzw. abgewertet werden (vgl. ebd.). So sichten die Trainer*innen zwar hauptsächlich über das Sehen der Paare, jedoch spielen in ihren Sehstil weitere Eindrücke wie bspw. das Tasten der Handhaltung oder das Hören der Musik zur Überprüfung des Tanzens im Rhythmus mit hinein. Mit Flecks Ansatz (vgl. 2.2) fasse ich die Trainer*innen als Kollektiv auf, das durch die jahrelange, gemeinsame (Be)Wertungspraxis ei-
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nen gemeinsamen Sehstil ausgebildet hat, der unterschiedliche ‚Talentgestalten‘ (s.u.) aufweisen kann. Im Zuge der Selektion von als wichtig und unwichtig gewerteten Merkmalen entstehen jedoch ‚blinde Flecken‘. Die im Sehstil eingebetteten Normativitäten über die Techniken des Sehens und die als relevant gewerteten Merkmale werden von den Trainer*innen als selbstverständlich angesehen und können in Anlehnung an Garfinkel (1967: 44) als „seen but unnoticed“ charakterisiert werden. Durch die praxeographische Untersuchung konnten unter anderem diese impliziten Normativitäten und Maßstäbe des (Be)Wertens herausgearbeitet werden. So lesen die Trainer*innen die Körper der Tänzer*innen in den verschiedenen Arrangements wie ‚Displays‘, auf denen praxisrelevante Unterschiede zum Zeigen gebracht und im Hinblick auf die leistungssportliche Eignung ihrer Träger*innen bewertet werden. Gleichzeitig haben die empirischen Beispiele verdeutlicht, dass die Tänzer*innen nicht als passive Objekte aufgefasst werden dürfen. Vielmehr sind sie aktiv an den Sichtungspraktiken beteiligt und wenden unterschiedliche Techniken des Sich-Sichtbarmachens an, um sich als Talente anerkennbar – „accountable“ (Garfinkel 1967: 1) zu machen. Trotz der klaren Hierarchie zwischen Trainer*innen und Tänzer*innen, sind diese ‚accounts‘36 der Tänzer*innen wesentlicher Bestandteil der Sichtungspraktiken und machen die Normativität und den sozialen Sinn dieser nicht nur erkennbar, sondern erzeugen ihn mit (vgl. Bergmann 2000: 126; Rouse 2007). Die verschiedenen Arrangements lassen teils unterschiedliche Normen der Anerkennbarkeit zu. Bspw. werden der Einsatz der Artefakte und die Positionierungsrechte, wie auch die damit verbundene Unterordnung unter die normative Ordnung der Sichtungspraktiken und damit einhergehenden Verhaltensformen praktiken- und arrangementspezifisch eingeübt. Dabei treten die Tänzer*innen durch unterschiedliche Techniken des Sich-Sichtbarmachens als Träger*innen spezifischer Kompetenzen in Erscheinung (vgl. Alkemeyer/Buschmann 2017: 11). Indem sie sich die Anforderungen der Praxis zu eigen machen, befähigen sie sich zum Mitspielen – teils in Kooperation mit den anderen Teilnehmenden, teils durch die Abgrenzung von ihnen. Damit lassen sich innerhalb der Bundeskaderanwärter*innen Unterschiede erkennen: Während einige im Hintergrund verweilen, suchen einzelne Tänzer*innen die Aufmerksamkeit bspw. durch Blickkontakt mit den Trainer*innen und positionieren sich in ihrem unmittelbaren Sichtfeld. Dabei erweisen sich diejenigen als besonders erfolgreich, die ein Gespür für den jeweiligen 36 In seinem ethnomethodologischen Ansatz geht Garfinkel (1967: 10ff.) davon aus, dass Teilnehmende in der stetigen interaktiven Hervorbringung der Alltagswirklichkeit sich wahrnehmbar und verstehbar machen (müssen), indem ihre Accounts „reflexiv an den Kontext ihrer lokalen Produktion angebunden […] sind“ (Geimer 2013).
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Handlungsspielraum haben und es schaffen der paradox erscheinenden Anforderungen gerecht zu werden, sich einerseits in die Masse einzufügen und gleichzeitig im Rahmen der jeweiligen Praktik sich aus der Masse positiv hervorzutun. Beispiele hierfür sind der Tänzer, der beim Proben im unmittelbaren Vergleich in derselben Zeit eine Drehung mehr macht als die anderen und damit seine Schnelligkeit und sein Engagement demonstriert (5); Tänzer*innen, die sich beim Training mit dem Bundestrainer bei allen Fragen melden (5); oder auch die Paare, die die Kreativaufgabe schneller als die anderen Paare im direkten Blickfeld der Trainer*innen bewältigen und ihre Souveränität und Verbindung als Paar demonstrieren (6). In allen Fällen werden Engagement und die Kompetenz performt, die gestellten Aufgaben problemlos bewältigen zu können. Wichtig ist, dass das Kompetenzversprechen, welches mit diesen Techniken einhergeht, in den Bewertungssituationen auch jedes Mal aufs Neue eingelöst werden muss, um als Talent von den Trainer*innen anerkannt zu werden. Aber auch einige der Tänzer*innen, die sich nicht direkt kompetent in die Praktiken einfinden, wenden Techniken an, um sich als engagierte und lernfähige Mitspieler*innen hervorzutun. So bitten bspw. einige Paare darum, ihre Pausen verkürzen zu dürfen, um länger zu üben (6) oder demonstrieren die Annahme von geäußerter Kritik durch Verlegenheitsgesten (1). Selbst bei geringem Spielraum wie es bspw. beim Feedback vom Bundestrainer (4) der Fall ist, versuchen einige der Tänzer*innen, sich durch Nachahmung der positiv hervorgehobenen Bewegungen als engagierte und reflexive Teilnehmende zu zeigen. Wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass der Handlungsspielraum unter den Tänzer*innen auch innerhalb eines Arrangements variieren kann. Stufen die Trainer*innen eine*n Tänzer*in bspw. hinsichtlich des tänzerischen Könnens als besonders talentiert ein, tolerieren sie Abweichungen bei anderen Merkmalsausprägungen stärker, wobei die Trainer*innen auch hier Grenzen ziehen (8). Damit werden die Talentmerkmale der Talentkonstruktionen zwar separat in den Arrangements sichtbar, ihre Bewertung erfolgt jedoch nicht unabhängig voneinander. Indem Tänzer*innen sich bei einzelnen Merkmalen besonders positiv hervorheben, zumeist indem sie ein Wissen bzw. Gespür für die (impliziten) Normativitäten der Sichtungspraktiken und die Logiken der (Be)Wertung aufweisen, ist auch eine aktivere Mitgestaltung der Talentkonstruktion durch die Ausweitung des eigenen Handlungsspielraums möglich. Damit haben die Tänzer*innen, die sich am besten in die Sichtungspraktiken einfinden, die größten Mitgestaltungsmöglichkeiten. Als besonders aufschlussreich im Hinblick auf die Grenzen der Spielräume und die impliziten Normativitäten haben sich Momente der starken Abweichungen gezeigt. Selbst in Arrangements, in denen die Trainer*innen zunächst von
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Rückmeldungen absehen, machen sie ihre impliziten Talentvorstellungen bei starker Abweichung durch Kritik und Zurechtweisung explizit. Als Beispiel sei hier auf das Nutzen und Verweilen vor der Spiegelwand während des Aufwärmens (1) oder die eigene Pausenbestimmung während einer Trainingseinheit mit dem Bundestrainer (5) verwiesen. Das Ausmaß der Kritik richtet sich nach dem Grad der Abweichung wie auch dem Neuigkeitswert der Information innerhalb der Sichtung. Einmal thematisierte Aspekte tolerieren die Trainer*innen bei wiederholtem Vorkommen noch weniger. Das ‚Rauszoomen‘ aus den Arrangements verdeutlicht an dieser Stelle den Prozesscharakter der Sichtung. Mit Scheffer, Michaeler und Schank (2008) lässt sich die Sichtung als ein Verfahren begreifen, in dessen Verlauf die Tänzer*innen durch die Rückmeldungen und Adressierungen der Trainer*innen immer mehr Wissen über den Sehstil der Trainer*innen erlangen. Jede Wissensweitergabe geht gleichzeitig mit der Erwartung einher, dieses Wissen auch praktisch umzusetzen und sich damit als kompetente*r Mitspieler*in zu beweisen. Dabei variieren die Möglichkeiten der Wissensweitergabe stark zwischen den Arrangements. Das Training mit (5) wie auch das Feedback vom Bundestrainer (4) legen durch die räumlichen Anordnungen und zeitlichen Abläufe Demonstrationen, Rückmeldungen und im Allgemeinen größere Interaktionen zwischen den Teilnehmendengruppen nahe. In diesen Anordnungen erlangen die Tänzer*innen die meisten Einblicke in den Sehstil des Trainer*innenkollektivs. Jedoch sind die ‚Sehübungen‘ zu kurz angelegt, um einen praktischen Nachvollzug des Sehstils zu ermöglichen (vgl. Schnelle 1982: 21). Stattdessen findet eine deklarative Wissensweitergabe statt, auf welche Details die Trainer*innen Wert legen, was sie oftmals durch Demonstrationen der richtigen und übertrieben falschen Ausführung von Tanzschritten untermalen. Sie bieten den Tänzer*innen damit Sehhilfen zur Selbstbeobachtung, wie auch ein Kontinuum auf dem sie sich selbst verorten können. Damit wird erneut an die Logik der Trainingspraxis angeschlossen, in der die Paare zum Großteil ohne Rückmeldungen von außen Korrekturen vornehmen müssen, wodurch die Befähigung zur Reflexion ein zentrales Talentmerkmal wird. In diesem Kontext werden auch die Heimtrainer*innen der Paare – trotz körperlicher Abwesenheit – als Mitspieler*innen relevant gemacht, wobei die Trainer*innen ihre Bedeutung im Zuge des Sichtungsprozesses relativieren. Während sie die Heimtrainer*innen zunächst als zuständig für die Erstellung der Choreographien und Vermittlung von grundlegendem tanzspezifischem Wissen ansehen (4), verschiebt sich die Verantwortung im Laufe der Sichtung immer mehr zu den Paaren hin, die sich auch unabhängig von den Heimtrainer*innen Wissen aneignen (5) und schließlich selbst Choreographien gestalten (6).
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Die Analyse der ins Spiel gebrachten Talentmerkmale zeigt, dass die Trainer*innen nicht alle als bedeutsam angesehenen Merkmale den Tänzer*innen gegenüber offenlegen. Es lässt sich eine Klassifizierung vornehmen, nach der die Merkmale auf den Vorder- und (vermeintlichen) Hinterbühnen thematisiert werden und in unterschiedlichem Maße in den Bewertungsbogen einfließen (vgl. 3.9.). Dieser ist nicht bloß Mittel der Bewertung, sondern ein aktiver Vermittler: Er stellt die Aufmerksamkeiten der Bewertenden spezifisch ein, hebt bestimmte Merkmale der zu bewertenden Körper und Körperfigurationen hervor und rückt andere in den Hintergrund. Damit werden durch den Bogen Selektionskriterien auf fundamentale Weise mitbestimmt – ohne dass diese Wirkungszusammenhänge und ihre Konsequenzen von den Trainer*innen selbst immer vollständig durchschaut werden. Der Bogen fungiert als Objektivierungstechnik und zentrale Instanz der Beglaubigung der Bewertungen der Trainer*innen vor Dritten. Seine diesbezügliche Wirksamkeit und Überzeugungskraft hängt zusammen mit seiner Zahlenförmigkeit. Dem Legitimationsdruck der (inter-)subjektiven Bewertungen wird durch die Übersetzung in ‚objektive‘ Zahlen nachgekommen. Interessant ist dabei, dass und wie die Trainer*innen die Logik der Zahlendominanz selbst unterlaufen, indem sie die Werte teils nachträglich verändern, um ihren subjektiven Eindrücken Geltung zu verschaffen. Fasst man die Bewertungskriterien zusammen, zeigt sich das tänzerische Können als wichtigstes Talentmerkmal – auch im Bewertungsbogen. Die Trainer*innen machen das tänzerische Können vor allem an der Fuß- und Beinarbeit des*der Einzelnen wie auch des Paarkörpers fest. Die Fuß- und Beinarbeit sollte schnell, auf den Punkt genau im Rhythmus und im Paar synchron sein wie auch „bis zum Endpunkt ausgetanzt“ (Trainerin 4) werden. Durch die Anordnung von Wertungsrichter*innen und Paaren bei Turnieren, bei denen auch auf große Entfernung vor allem die Fuß- und Beinarbeit gut sichtbar ist, wird dies zum Hauptkriterium, um Technik zu bewerten. In den Sichtungen thematisieren die Trainer*innen zudem die Blickrichtung, die Reihenfolge des Aufbaus von Bewegungen wie auch die Handhaltungen. An diesen Merkmalen werden die Transsituativität und der Prozesscharakter der Sichtung besonders deutlich, da die Merkmale in den verschiedenen Arrangements in aufeinander aufbauenden Stufen, mit jeweils erhöhtem Anspruch, abgeprüft werden. Durch die schrittweise Erhöhung des Anspruchs an die Tänzer*innen wird genau sichtbar, wer die Anforderungen in diesen unterschiedlichen „Qualifizierungsstufen“ (Scheffer 2013: 95ff.) körperlich umsetzen kann. Die im Feld wiederkehrende Thematisierung der Bedeutsamkeit vom grundlegenden Verständnis der Basic-Schritte (5; 6) hat gezeigt, dass die Trainer*innen von einem sequenziellen Ablauf der zu erlernenden praktikspezifischen Fertig-
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keiten ausgehen. Wird die Reihenfolge nicht eingehalten, indem das Erlernen bestimmter Fertigkeiten übersprungen wird, sei das Entwicklungspotenzial und damit das Talent der Tänzer*innen durch sie selbst limitiert, da ein späteres ‚Nachholen‘ nicht möglich sei. Dabei bezieht sich das Verständnis sowohl auf körperliches, wie auch auf deklaratives Wissen, wobei die Wissensformen bspw. bei der Erstellung von Basic-Choreographien ineinandergreifen: Die Tänzer*innen sollen die Schritte nicht nur körperlich umsetzen, sondern auch benennen und als Basic-Schritte klassifizieren können. Ein weiteres zentrales Talentmerkmal für die Trainer*innen ist Engagement, welches sich nicht nur auf die tänzerische Präsentation in den Bewertungsarrangements bezieht, sondern die ganze Sichtung hindurch sichtbar sein soll. Die Tänzer*innen sollen von den jeweiligen Praktiken nicht nur passiv engagiert werden, sondern sich auch aktiv engagiert zeigen (vgl. Brümmer/Mitchell 2014: 161). In erster Linie sind hierbei die körperlichen Techniken für die Trainer*innen aufschlussreich. Anhand des Pünktlich-Seins, Früh-zu-Bett-Gehens, aber auch in der Art des Zuhörens und Übens deuten die Trainer*innen den Grad des Engagements und weisen wiederholt auf die Bedeutsamkeit des EngagiertSeins hin. Dies beinhaltet jedoch auch die von den Tänzer*innen artikulierte Zielsetzung für die eigene Tanzkarriere. Hierbei versuchen die Trainer*innen, anhand der Aussagen in Kombination mit den Positionierungen der Körper und der Gestiken und Mimiken die ‚Authentizität‘ zu bewerten (2). Durch die Performance als engagierte Tänzer*innen wie auch die wiederholte Kritik bei abweichendem Verhalten und Benennung bzw. performative Vorführung von konkreten Vorbildern (7), geben sich die Teilnehmenden gegenseitig Hinweise zum notwendigen Engagement und darüber hinaus zu der ‚Talentgestalt‘, an der sich die Tänzer*innen orientieren sollen. Die Adressierungen der Trainer*innen richten sich in diesen Situationen an die gesamten Bundeskaderanwärter*innen, ohne zwischen ihnen zu differenzieren. So diagnostizieren die Trainer*innen ihnen bspw. ein Defizit im Hinblick auf das performierte Engagement, welches nur sie selbst durch die Arbeit an sich beheben könnten. Durch die Kontrastierung mit bereits etablierten Tänzer*innen wird der auf Veränderung ausgelegte Status der zu bewertenden Tänzer*innen als ‚Noch-Nicht‘-Talente besonders deutlich. Insgesamt ist die Sichtung auf einen Endpunkt ausgerichtet, der über die Aufnahme in den Bundeskader hinausgeht. Die Paare sollen nicht nur im Vergleich zur anwesenden Konkurrenz überzeugen – und sich gleichzeitig mit ihnen als teamfähig erweisen – sondern sich langfristig auch auf internationalen Turnieren durchsetzen und als Vorbilder anerkannt werden. Damit ist der Status als Talent auch mit der Aufnahme in den Bundeskader noch nicht bzw. nicht dauerhaft gesichert,
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sondern muss auch darüber hinaus immer wieder performativ unter Beweis gestellt und von außen beglaubigt werden. Im Zentrum der Bewertungen steht bis auf eine Ausnahme (1) der Paarkörper und nicht die einzelnen Tänzer*innen. Die jeweiligen Partner*innen sollen laut den Trainer*innen zu einer Einheit ‚verschmelzen‘ (vgl. Haller 2009). Hierfür müssen sich die Paare aufeinander einspielen und eine gemeinsame Wahrnehmungs- und Reflexionsebene entwickeln. Individuelles Reflektieren und tänzerisches Können sind für die sichtenden Trainer*innen im Paartanz notwendige, jedoch keine hinreichenden Bedingungen. Eine gelungene Bewegungsausführung bedarf laut der Trainer*innen der Ausbildung einer geteilten Vorstellung von Bewegung, der wechselseitigen Bezugnahme und eines sich gegenseitig ‚lesen‘ Könnens. Die Partner*innen müssen sich demnach gegenseitig zum Reflektieren befähigen. Diese paarspezifische Reflexionsfähigkeit beziehen die Trainer*innen nicht auf eine distanzierte, analytische Denkleistung, sondern auf körperlich-sinnliche Abstimmungs- und Korrekturprozesse während der Bewegungsausführung. Ist das Gelingen der Ausführung wie in diesem Fall von beiden Partner*innen und nicht einer*m Teilnehmer*in abhängig, werden die Reflexionsprozesse aufgrund der zusätzlich gestellten Anforderungen und Abstimmungen komplexer: Mit beiden Positionen im Paar gehen unterschiedliche Rechte und Pflichten einher, die die Tänzer*innen verinnerlichen müssen. Zusammenfassen lässt sich dies mit den Figuren des ‚Führens‘ bzw. ‚Lenkens‘ und ‚Folgens‘. In den Praktiken der Lateinamerikanischen Tänze ist für die Herren die Position des Führenden vorgesehen, während die Damen folgen, was auch durch die Materialität, im speziellen die Schuhe, gestützt wird (5). Wie bei den empirischen Beispielen herausgearbeitet wurde, lässt sich die heteronormative Geschlechterordnung der Paare nicht nur in tanzspezifischen Praktiken wiederfinden. Es lässt sich die Vermutung aufstellen, dass durch die Tanzpraktiken Hierarchien inkorporiert werden, und daher auch in den angrenzenden Praktiken wie bspw. die Interaktion der Paare bei der Erstellung von Choreographien zum Tragen kommen (2; 6a; b). Auch die Trainer*innen sprechen in Grenzfällen, wo zwischen zwei Paaren gewählt werden muss, den Herren eine größere Bedeutung zu (vgl. 3.9). Dies lässt sich auf die Bewertungspraktiken bei Turnieren zurückführen, bei denen nur an die Herren Startnummern verteilt werden. Die Startnummer als wichtiges Artefakt für die Zuordnung der Paare, die nur am Rücken der Herren befestigt wird, verstärkt die Fokussierung auf diese. Bei den Talentsichtungen verteilen die sichtenden Trainer*innen Startnummern zusätzlich an die Damen, um ihren eigenen Sehgewohnheiten von Turnieren entgegenzuwirken. Die Trainer*innen unternehmen während der Sichtungen mehrere Versuche die heteronormative Geschlechterordnung zumindest in Ansätzen aufzubrechen.
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Bspw. geben sie teils nur den Damen Einblicke in ihren Sehstil (5) oder loben die Damen bei im Feld als emanzipatorisch zu wertenden Aktionen (6b). Jedoch fallen auch die Trainer*innen im Laufe der Sichtung immer wieder hinter ihren formulierten Anspruch des Aufbrechens der Hierarchie zurück, indem sie in der Sichtung bei Grenzfällen die Leistung des Herren höher bewerten oder sprachlich den Herren im Paar hervorheben (6). Insgesamt wird die heteronormative Geschlechterordnung immer wieder performativ von den Teilnehmenden hervorgebracht und bestätigt. Das Einfügen in die Ordnung mit Einigkeit über die jeweiligen Rechte und Pflichten scheint damit Voraussetzung für die Anerkennung als Talent zu sein. Dies beinhaltet eine nach außen demonstrierte Selbstsicherheit und Selbstständigkeit wie auch eine konstruktive Interaktion der Paare. So sollen sie in den Sichtungspraktiken gemeinsam in vorgegebener Zeit neue Choreographien lernen (5), teils selbst gestalten (6) und auch in Drucksituationen als geschlossene Einheit mit hoher ‚Erledigungsbereitschaft‘ in Erscheinung treten (3; 5; 6; 7). Wie herausgearbeitet wurde, gehen die Trainer*innen von einer körperlichen Widerständigkeit bzw. eines Eigensinns im Hinblick auf die ‚Verschmelzung‘ zweier Tänzer*innen zum Paarkörper aus.37 Es kommt die Ansicht zum Tragen, dass erst durch eine jahrelange gemeinsame Tanzpraxis diese ‚Verschmelzung‘ und das wortlose Verstehen möglich seien. Anhand der in der Sichtung einmaligen kurzzeitigen neuen Konstellationen der Paare (5) zeigt sich, dass eine individualistische Ausformung praktikenspezifischer Fertigkeiten nicht hinreichend ist (vgl. Brümmer 2015: 208). Vielmehr bedarf es der gegenseitigen Befähigung zum Mitspielen, bei dem die Handlungsträgerschaft zwischen den Tanzpartner*innen verteilt ist. Basierend auf diesem Ergebnis lässt sich die Auswahl von Paaren statt einzelnen Tänzer*innen erklären. Eine Bestimmung der Paarkonstellationen von außen würde laut den Trainer*innen nicht funktionieren, da das im Zusammenspiel entwickelte und benötigte Reflexionsvermögen wie auch der ‚Spürsinn‘ für den anderen nicht von außen erzwungen werden könne. Die äußere Erscheinung des talentierten Paarkörpers lässt sich nicht vereinheitlichen. Zwar thematisieren die Trainer*innen untereinander anthropometrische Merkmale wie das Größenverhältnis der Partner*innen und die Körperformung (8), jedoch lassen die ausgewählten Paare keinen einheitlichen Phänotyp erkennen (vgl. 5.9). Die Trainer*innen betonen immer wieder die Bedeutsamkeit von ‚Authentizität‘ und ‚Auffälligkeit‘, jedoch lassen die Analysen keine genaue
37 Dies widerspricht auch der praxistheoretischen Konzeptualisierung einer reibungslosen Rekrutierung von Körpern als ‚Trägern von Praktiken‘, in denen Körper als funktionierende ‚Glieder‘ von Praktiken aufgefasst werden (vgl. Schmidt 2012: 51)
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Bestimmung dieser Begriffe, wie auch keine schablonenhafte Erfassung der Merkmalsausprägungen zu. Insgesamt hat die praxeographische Untersuchung ergeben, dass die Trainer*innen keine feste Subjektform von Talent in die Sichtung einspielen. Vielmehr bringen die Teilnehmenden gemeinsam verschiedene ‚Talentgestalten‘ hervor, was sich daran zeigt, dass die als talentiert bewerteten Paarkörper verschiedene Kombinationen und Ausprägungen der thematisierten Merkmale aufweisen (vgl. 3.9). Die Subjektivierung durch Anerkennung als (potenzielles) Talent ist in der Sichtung kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess des ständigen Wiederholens, in dem der fragile Subjektstatus performativ unter Beweis gestellt und von den anderen Teilnehmenden beglaubigt werden muss (vgl. Butler 1997: 31). Durch die gegenseitigen Adressierungen in Form von Kommentaren, Kritiken, Blicken und Gesten wird ein geteiltes, praktisches Verständnis darüber hergestellt, welche Vollzugsformen in den jeweiligen Praktiken adäquat sind (vgl. Alkemeyer 2013: 58; Reh/Ricken 2012: 43). Die Teilnehmenden lernen so nach und nach, welche Anschlusshandlungen von ihnen erwartet werden und welche Spielräume ihnen innerhalb der sozio-materiellen Arrangements zur Verfügung stehen. (vgl. Alkemeyer/Buschmann/Michaeler 2015: 32). Gleichzeitig deuten die vielen Adressierungen der Trainer*innen darauf hin, dass diese von einer Formbarkeit – zumindest von bestimmten Talentmerkmalen ausgehen – sowohl durch die Tänzer*innen selbst, wie auch durch die Trainer*innen. Zwar werden von den Trainer*innen in den Interviews immer wieder „geborene Bewegungstalente“ angesprochen und diese im Bogen positiv bewertet, jedoch werden sie gleichzeitig negativ thematisiert, da das angeborene Talent die Ausbildung von Engagement und Frustrationstoleranz verhindern würde – Eigenschaften, die die Trainer*innen als notwendig für langfristige und internationale Erfolge werten. So versuchen sie durch disziplinierende Adressierungen in den panoptischen Anordnungen den Tänzer*innen die permanente Fremdbeobachtung immer wieder bewusst zu machen und bspw. auf die Technik oder auch das Engagement Einfluss zu nehmen. Durch die verschiedenen Praktiken des wiederholten Vormachens und Korrigierens in Anordnungen vor der Spiegelwand oder im unmittelbaren Vergleich mit dem Bundestrainer oder der Konkurrenz sollen sie zudem zur Selbstbeobachtung befähigt werden. Diese wiederum ermöglicht es ihnen, eigenständig Korrekturen an der (technischen) Ausführung vorzunehmen. Insgesamt werden in den verschiedenen sozio-materiellen Arrangements den Tänzer*innen immer wieder Sehhilfen gegeben, mit denen sie sich selbst im Hinblick auf die thematisierten Details beobachten, im Vergleich verorten und überprüfen können und sollen. Damit bestimmt die Annahme der Formbarkeit von
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bestimmten Talentmerkmalen die Adressierungen in den Sichtungspraktiken maßgeblich. Wie die Analysen zeigen, bilden die Teilnehmenden ihre Mitspielfähigkeit in einem nicht immer reibungslosen, sondern teils konfliktreichen Prozess aus. Dies gilt nicht nur für die Tänzer*innen, sondern auch für die Trainer*innen. Auch sie werden im Verlauf der Sichtung subjektiviert und bilden sich als spezifische Beobachter*innensubjekte. Die als wichtig erachteten Merkmale werden von den Trainer*innen nicht als eine Art ‚reflektierter Plan‘ in Anschlag gebracht und routiniert abgerufen, sondern sie rearrangieren sich situativ im Laufe der Sichtung im Wechselspiel mit den anderen (nicht-)menschlichen Teilnehmenden. Auch die Trainer*innen müssen sich in den Sichtungspraktiken der Normativität unterordnen und sich als kompetent erweisen. So sind auch an ihre Positionen innerhalb der verschiedenen Arrangements normative Erwartungen geknüpft, die Handlungsspielräume eröffnen oder verschließen. Während die Analyse nach Arrangements sortiert die Situativität und Mikrologik offengelegt hat, wird durch das Herauszoomen die Einrichtung eines Beobachtungsdispositivs verdeutlicht. Durch die wechselseitigen Positionierungen und (Re)Adressierungen im Sichtungsprozess entfalten die Teilnehmenden – deren Positionen mit unterschiedlich viel Macht ausgestattet sind – gemeinsam die Normen der Anerkennbarkeit und subjektivieren sich im Zusammenspiel zu spezifischen Subjekten.
4. Eine Praxeographie der Talentsichtung im 400m Sprint
In der Leichtathletik sichten die Bundestrainer*innen Athlet*innen ab 15 Jahren, nach Altersklassen sortiert. Die Jüngsten werden für den D/C-Kader1 nominiert, in dem für jede Disziplin drei Plätze zur Verfügung stehen. Je nach Kaderstufe variiert die Anzahl an verfügbaren Plätzen. Ab der zweiten Kaderstufe – dem CKader, für den sechs Plätze zur Verfügung stehen – gibt der Deutsche Leichtathletik Verband (DLV) Richtwerte vor, die die Athlet*innen erreichen müssen, um in den Kader aufgenommen zu werden. Dies ist beim D/C-Kader nicht üblich. Zu Beginn meiner Forschung konnten die jeweiligen Disziplin-Bundestrainer*innen selbst entscheiden, wie genau sie sichten. 2 In den meisten Disziplinen wurde nur bei Wettkämpfen gesichtet. Einige wenige Disziplintrainer*innen entwickelten komplexere Verfahren, um die Sichtung über die Wettkämpfe hinaus auszudehnen und einen umfassenderen Eindruck von den Athlet*innen und ihren Heimtrainer*innen zu erhalten. Vor allem Disziplinen mit 1
Zu 2018 wurde das Kadersystem umstrukturiert. In der neuen Struktur werden die Kader folgendermaßen unterteilt: Olympiakader (OK), Perspektivkader (PK), Ergänzungskader (EK) sowie im Nachwuchsbereich die Nachwuchskader 1 (U23), 2 (U20) und 3 (U18). Die Berufung in einen Bundeskader orientiert sich an der sogenannten sportfachlichen Prognose der Leistungsfähigkeit eines*r Athlet*in (vgl. DLV 2018a). Hierauf wird im Fazit näher eingegangen.
2
Das Sichtungsmodell in der Leichtathletik befindet sich seit einigen Jahren im Umbruch. Das neue Modell wird vom DLV in Zusammenarbeit mit dem Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) entwickelt. Es soll jährlich eine gemeinsame Sichtung für alle Disziplinen stattfinden. Schwerpunkt des Modells sind sportmotorische Testbatterien, die um psychologische Tests und subjektive Eindrücke der jeweiligen Bundestrainer*innen ergänzt werden, die in einem standardisierten Bogen in vorgefertigten Kategorien festgehalten werden sollen.
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einer geringen Anzahl an Nachwuchsathlet*innen haben die Sichtungsmaßnahmen erweitert. Unter anderem hat sich auch der damalige Disziplintrainer 400m für eine Ausweitung der Sichtungsmaßnahmen entschieden und mich diese praxeographisch begleiten lassen. Zusätzlich zu der Sichtung bei Wettkämpfen hat der Bundestrainer Wochenendmaßnahmen initiiert, zu denen er potenzielle 400m Läufer gemeinsam mit ihren Heimtrainer*innen einlud. Bei den Athleten liegt die Besonderheit vor, dass sie aufgrund ihrer Altersklasse bisher bei Wettkämpfen keine 400m gelaufen sind, sondern maximal 300m, da die größere Distanz erst ab 16 Jahren bei Wettkämpfen vorgesehen ist. D.h., sie sind mit der Distanz, für die die Trainer sichten, nicht vertraut. Das Ergebnis der Sichtung zielt also auf die Benennung der Athleten ab, die in Zukunft eine bisher nicht gelaufene Distanz erfolgreich bewältigen können, was den Prognosecharakter der Talentzuschreibung verdeutlicht. Die Trainer orientieren sich bei der Auswahl der Athleten an den Erfolgen über 300m bei verschiedenen Wettkämpfen. Der Grund dafür, dass die Disziplin erst ab höheren Altersklassen vorgesehen ist, liegt in der längeren körperlichen Belastung im anaeroben Bereich.3 Bereits hieraus ergeben sie für die sichtenden Trainer spezifische Anforderungen an die Athleten: „Ich glaube, es braucht da einen besonderen Typus von Athleten. Diejenigen, die genau wissen, ich lauf hier los und komm nach 400m an und es geht mir TOTAL dreckig, das ist ein GANZ großer Unterschied zu den 200m. Also diese mentale Einstellung sich in diese Richtung quälen zu können, das braucht ‘nen besonderen Typ Athleten.“ (Interviewauszug Trainer 1) „Also vom Charakter her muss man natürlich auch beißen können, das ist klar. Also man muss schon einen gewissen Spaß daran haben sich auch in diesen Schmerz herein zu begeben. […] Und deswegen ist es auch fatal, wenn man junge Athleten unvorbereitet auf die 400m schickt. Das darf man gar nicht machen.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Anders als beim Tanzen bezeichnen die Trainer die Sichtungsmaßnahme im 400m Sprintbereich den Athleten gegenüber nicht als solche, sondern als „400m Projekt“, dessen Ziel es laut Einladungsschreiben ist, „interessierte und talentier3
Im Gegensatz zu aeroben Stoffwechselvorgängen läuft die anaerobe Energiebereitstellung ohne die Beteiligung von Sauerstoff in den Zellen ab. Bei diesem Prozess entsteht Laktat, durch welches die Muskeln ‚übersäuern‘ (vgl. Markworth 2004: 236ff.). 400m als längste Sprintdistanz bringt die höchste Übersäuerung der Muskulatur mit sich, weswegen sie als physisch und psychisch belastende Disziplin angesehen wird.
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te Nachwuchssportler mit ihren Heimtrainern an die 400m Strecke heranzuführen [… und] Trainern und Sportlern die wichtigen Grundlagen für den Langsprint zu vermitteln und Hilfestellung bei der Trainings- und Wettkampfplanung zu geben“. Neben der Sichtung einzelner Athleten für den Bundeskader zielt das Projekt auch darauf ab, Athleten für die 400m Staffel zu finden, sodass die Athleten – ähnlich wie im Tanzen – sowohl als Konkurrenten wie auch als potenzielles Team adressiert werden. Dies zeigt sich bspw. darin, dass jede sportliche Einheit mit dem Bilden eines Kreises endet, bei dem alle gemeinsam „Teamgeist“ rufen (vgl. Abb. 36). Abb. 36: Teamkreis
Die Auswahl der Athleten, die zur Sichtung eingeladen werden, basiert auf Wettkampfergebnissen, ohne dass die Athleten den Trainern näher bekannt sind. Zu der von mir begleiteten Sichtungsmaßnahme wurden die laut Wettkampflisten sieben schnellsten Athleten über 300m eingeladen.4 Für die Sichtung zuständig sind der Disziplintrainer und einer seiner Vorgänger, der selbst internationale Erfolge im 400m Sprintbereich erzielt hat. Ähnlich wie bei den Tanzsichtungen verbringen alle Teilnehmenden den Großteil der Zeit während der Maßnahme zusammen, wobei ein Unterschied darin liegt, dass die meisten Athleten sich im Vorfeld nicht kannten. Zudem variiert der Ort der Sichtung. Laufspezifische, wie auch disziplinübergreifende Trainingseinheiten finden in einer Turnhalle oder draußen auf der Laufbahn statt. Die Begrüßung und Einzelgespräche mit den Athleten und ihren jeweiligen Heimtrainer*innen werden in einem Seminarraum abgehalten. Anders als bei der Tanzsichtung verwenden die Trainer keinen Bewertungsbogen. Nur bei den Einzelgesprächen fertigt der Disziplintrainer Noti4
Aufgrund von Krankheit sind zu dem im Folgenden beschriebenen Sichtungstermin nur fünf der sieben eingeladenen Athleten mit ihren Heimtrainer*innen erschienen.
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zen zu den Aussagen der Athleten und Heimtrainer*innen an, ohne dass diese eine standardisierte Form haben. Der Aufbau des zweiten empirischen Kapitels orientiert sich am Vorhergehenden. Ich beschreibe die Sichtungspraktiken anhand der wiederkehrenden sozio-materiellen Arrangements und untersuche diese im Hinblick auf die formulierten Forschungsfragen. Auch bei der 400m Sichtung orientiere ich mich bei der Reihenfolge der Arrangements an der chronologischen Abfolge in der Sichtung, wobei sich auch hier Arrangements wiederholten. Zudem beginne ich mit dem Arrangement bei der Wettkampfbeobachtung, welches – zeitlich gesehen – von den restlichen Sichtungspraktiken abgekoppelt stattfand. Auch wurden beim Wettkampf andere Athleten beobachtet, als während der dreitägigen Sichtungsmaßnahme. Da die Wettkampfbeobachtung – wie oben beschrieben – jedoch zentral für die Sichtungspraktiken in der Leichtathletik ist, entschied ich, sie trotz der benannten Abweichungen als erstes Arrangement in die Analyse einzubeziehen. Die Bedeutsamkeit der Wettkämpfe greife ich im abschließenden Fazit nochmals auf. Insgesamt habe ich in meiner Analyse fünf verschiedene Arrangements herausgearbeitet, die ich im Folgenden beschreibe. Hierbei gehe ich wieder auf die Techniken des Sehens der Trainer*innen und die damit sichtbar gemachten Talentmerkmale ein und thematisiere die jeweiligen Spielräume und Techniken des Sich-Sichtbarmachens der Athleten. Den Abschluss des Kapitels bilden die Nachzeichnung der Entscheidungsfindung und ein weiteres Zwischenfazit, in dem ich die Ergebnisse für die aufgeworfenen Forschungsfragen bezüglich der Sichtungen im 400m Sprint zusammenfasse.
4.1 ARRANGEMENT ‚WETTKAMPFBEOBACHTUNG‘ Bei den von mir begleiteten Wettkampfbeobachtungen sichtet der zuständige Bundestrainer gemeinsam mit einem anderen Trainer. Die ausgewählten Wettkämpfe zählen für die Altersklasse zu den wichtigsten, so dass die Trainer davon ausgehen, dass Athlet*innen, die sich für die Deutschen Meisterschaften qualifizieren wollen, bei diesen vertreten sind. Die sichtenden Trainer schauen sich zwar alle Athleten in ihrer Disziplin an, haben jedoch teilweise Empfehlungen von anderen Trainer*innen im Vorfeld erhalten, wem sie besondere Aufmerksamkeit widmen sollten oder Athleten stehen aufgrund von vorhergehenden herausragenden Wettkampfergebnissen im Fokus. Die Sichtung beim Wettkampf lässt sich in zwei Phasen einteilen. Zunächst begeben sich die Trainer auf den sogenannten Einlaufplatz (s. Abb. 37), der sich abseits des Stadions befindet.
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Hier haben alle für den Wettkampf gemeldeten Athlet*innen die Möglichkeit, sich im Vorfeld warm zu machen, bevor sie sich in den sogenannten Callroom begeben und schließlich zum Wettkampf geführt werden. Abb. 37: Einlaufplatz
Auf dem Weg zum Einlaufplatz wird der Bundestrainer immer wieder angesprochen und führt kurze Gespräche mit verschiedenen Trainer*innen. Die meisten Gespräche sind von Zahlen dominiert, die ich auf die Schnelle nicht notieren kann: „Der hat bei dem Wettkampf [Benennung Zeit] erzielt, auf 200m lag der bei [Benennung Zeit]“ […] „der Athlet hat sich in ‘nem halben Jahr um eine Sekunde verbessert, wenn der so weiter macht, dann läuft der bald [Benennung Zeit] auf der Strecke.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Die sich hier bereits abzeichnende Bedeutsamkeit von Zahlen wird im Verlauf der Sichtung immer wieder unterstrichen. Auf dem Einlaufplatz angekommen, beobachten die Trainer die Athleten für den Langsprint, die sich zumeist alleine einlaufen. Einige joggen auch in kleinen Gruppen oder führen gemeinsam Übungen durch. Auch die Heimtrainer*innen der sich einlaufenden Athleten sind auf dem Einlaufplatz. Sie stehen teils abseits und beobachten das Geschehen oder unterhalten sich untereinander. Einige suchen das Gespräch mit ihren Athleten und geben Anweisungen. Die von mir begleiteten Trainer positionieren sich unauffällig etwas abseits der Laufbahn. Durch die Anwesenheit viele Heimtrainer*innen, Eltern, Physiotherapeut*innen etc. werden sie von den Athleten nicht wahrgenommen. Beim Einlaufplatz hat sich für mich die Besonderheit ergeben, dass es nicht möglich war, zu filmen. Durch die Tatsache, dass die Trainer den Athleten und
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Heimtrainer*innen zu diesem Zeitpunkt noch nicht offen legen, dass sie zum Sichten anwesend sind, konnte ich die beobachteten Athleten nicht um ihr Einverständnis bitten, sie zu filmen. Zusätzlich hätte das Filmen, das – anders als beim Wettkampf – auf dem Einlaufplatz unüblich ist, eventuell für Irritation gesorgt, was ich ebenfalls vermeiden wollte. Daher liegen mir zu den Beobachtungen auf dem Einlaufplatz keine Videos vor und die Auswertung stützt sich auf die Beobachtungsprotokolle und vor allem Interviewaussagen der Trainer. Diese beobachten die verschiedenen Athleten beim Warmmachen, ohne dass für mich nachvollziehbar ist, worauf sie genau achten und zu welchen Bewertungen sie kommen. Ähnlich wie bei einigen Arrangements in der Tanzsichtung sind die Gespräche und Interviews mit den Trainern daher essenziell für den Nachvollzug des Trainerblicks. Die Athlet*innen organisieren selbst, wann wer läuft und beobachten sich gegenseitig beim Aufwärmen. Der Trainer erzählt von einer Athletin, die beim Aufwärmen eine Konkurrentin beobachtet habe und dann niedergeschlagen war, weil sie bereits auf dem Einlaufplatz anhand der Beobachtung gewusst habe, dass die andere das Rennen nachher machen würde. Da hätte man beim Aufwärmen gesehen, dass bei der Athletin die Technik bei der Ausführung wie auch die innere Einstellung stimmte. So wäre es dann auch gekommen. (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Demnach dient der Einlaufplatz nicht allein dem Warmmachen vor dem Wettkampf, sondern lässt die Athlet*innen aufgrund der gegenseitigen Sichtbarkeit als Konkurrent*innen in Erscheinung treten. Die Athlet*innen beobachten sich gegenseitig, was wiederum die sichtenden Trainer beobachten können, ohne von den Athlet*innen in ihrer Sichtungsfunktion wahrgenommen zu werden. Somit ergibt sich durch die sozio-materielle Anordnung eine Asymmetrie der Sichtbarkeit (vgl. Brighenti 2007: 326 ff.), die es den sichtenden Trainern ermöglicht, für sie relevante Merkmale zu beobachten: So thematisieren beide Trainer unabhängig voneinander dieselben Merkmale, auf die sie auf dem Einlaufplatz achten. Zentral ist für beide die Fokussiertheit der Athlet*innen, die sie anhand des beobachtbaren Verhaltens deuten: „Also wenn einer die ganze Zeit nur quatscht mit anderen, dann fokussiert er sich nicht. Dann ist er nicht konzentriert auf den Lauf und dann können manche sagen, ich brauch das, dann sag ich, das geht nicht, ich muss irgendwann, das muss nicht jeder zwei Stunden vorher machen, aber irgendwann ist die Phase, wo jeder Athlet auch sagen muss, jetzt muss ich in meinen Tunnel. Weil ansonsten kann ich mich nicht wirklich - da bin ich zu abgelenkt, ich hab‘ einfach zu viele andere Dinge im Kopf.“ (Interviewauszug Trainer 2)
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„Also einlaufen kann ja auch durchaus so aussehen, dass mehrere Athleten sich zusammen einlaufen und dabei unterhalten und das ist auch überhaupt kein Thema, aber ab ‘nem gewissen Punkt denk ich mal ist es schon wichtig sich rauszunehmen und zu sagen: okay was kommt als nächstes und wo soll der Fokus drauf liegen.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Für beide Trainer schließen sich Interaktionen unter den Athlet*innen und die Fokussierung auf den Wettkampf gegenseitig aus. Dementsprechend deuten die Trainer diejenigen Athleten als fokussiert, die sich irgendwann von den anderen Athlet*innen distanzieren und für sich selbst aufwärmen. Neben den Interaktionen unter den Athlet*innen beobachten die Trainer auch die Interaktionen zwischen den zu sichtenden Athleten und Heimtrainer*innen. Wenig Interaktion zwischen den beiden auf dem Einlaufplatz deuten sie als Zeichen für Selbstständigkeit: „Muss er ständig zum Trainer rennen, muss fragen, was soll ich jetzt machen oder steht der Trainer nebenan und steuert den Athleten fern, was in ‘nem jungen Alter erstmal NOCH kein Problem ist, aber wie abhängig ist jemand vom Trainer oder wie selbstständig ist er auch schon […] weil er nachher auch selbstständig die Leistung bringen muss. Also wenn er irgendwann mal vor 70.000 Zuschauern eine Entscheidung treffen muss, dann muss er die selbstständig treffen, ohne dass er jetzt unbedingt mit dem Trainer vorher Rücksprache hält.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Damit ist die Selbstständigkeit der Athleten für die sichtenden Trainer weniger im aktuellen Alter von Relevanz, sondern wird im Hinblick auf langfristige Ziele wie bspw. Olympische Spiele bedeutsam, bei denen die Athleten ggf. auf sich allein gestellt Entscheidungen fällen müssen. Die Aussage impliziert, dass dies denjenigen leichter falle, die bereits in jungen Jahren gelernt haben, selbstständig im Leistungssport zu agieren. Wie in späteren Beschreibungen (vgl. Arr. 5) noch deutlicher herausgearbeitet wird, sehen die sichtenden Trainer die Heimtrainer*innen als bedeutsame Mitspieler*innen an. Auch hier deutet sich bereits an, dass die Heimtrainer*innen zwar in den jungen Jahren der Athleten das Training bestimmen und diese „fernsteuern“, sich jedoch laut den Trainern allein schon aufgrund der Anordnungen bei Wettkämpfen, bei denen die Heimtrainer*innen nicht durchgehend an der Seite der Athleten sein können, mehr und mehr zurückziehen sollten, um sie zum selbstständigen Entscheiden zu befähigen. Bereits in der beobachteten Altersklasse der 14-16-Jährigen solle „erkennbar sein, dass er selbst weiß, was er zu tun und was er zu lassen hat.“ (Interviewauszug Trainer 1). Sichtbar wird dies für die Trainer an der Häufigkeit der Interaktionen mit dem*der Heimtrainer*in.
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Neben der Fokussierung und Selbstständigkeit beobachten die sichtenden Trainer zudem die Bewegungsausführungen und interpretieren diese im Hinblick auf die Laufleistung. Laut dem Bundestrainer steht beides in unmittelbarem Zusammenhang zueinander: „Wenn ein Athlet nicht geschmeidig ist, kann er auch nicht schnell rennen. […] Also das ist schon elementar wichtig“ (Interviewauszug Trainer 1). Aus der Aussage lässt sich schlussfolgern, dass der Trainer neben der erzielten, objektiv messbaren Sprintzeit weitere Kriterien zur Bewertung von Talent heranzieht, die er anhand von körperlichen Merkmalen deutet. Ohne eine Kontaktaufnahme zu den Athleten oder Heimtrainer*innen verlassen die Trainer den Einlaufplatz und begeben sich auf die Tribüne im Stadion, wo die Wettkämpfe stattfinden. Hier platzieren sie sich auf der Tribüne auf Höhe des Ziels bei den 400m Läufen, was nach Angaben des Bundestrainers von der ‚üblichen‘ Positionierung anderer 400m Trainer*innen abweiche. Abb. 38: Beobachtung beim Wettkampf
Für gewöhnlich stünden die Trainer*innen auf Höhe der 200 oder 300 Meter um die Zwischenzeiten zu stoppen, anhand derer sie werten, ob ein Athlet zu schnell, genau richtig oder zu langsam angelaufen sei. Somit erachten Trainer*innen nicht nur die Endzeit an sich als relevant, sondern unterteilen die Strecke und stoppen Zwischenzeiten, anhand derer sie die Leistung der Athleten bewerten. Trotz der Relevanz der Zwischenzeiten ziehen es die von mir begleiteten Trainer vor, sich auf Höhe des Ziels zu positionieren. Die meisten Läufe beobachten die Trainer fast kommentarlos ohne Zuhilfenahme von technischen Mitteln, da man nur so „richtig schauen“ könne (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll). Nur wenige Läufe – zumeist von Athleten, die bereits im Kader sind – werden vom Bundestrainer mit einem Tablet schweigend aufgezeichnet, um sich diese später nochmals in Ruhe anschauen und die Zwischenzeiten stop-
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pen zu können (s. Abb. 38). Zusätzlich notiert sich der Co-Trainer die finalen Zeiten der Läufer. Bei einem Athleten thematisieren die Trainer, dass er bei den letzten Rennen mehrfach auf der Außenbahn hätte rennen müssen. Wie die Trainer mir erklären, seien die beiden äußeren Bahnen am unbeliebtesten. Vor allem die Bahn ganz innen sei schwierig, da man auf dieser aufgrund der Kante nicht so weit innen laufen könne, wie auf den anderen Bahnen. Die mittleren Bahnen seien am besten zum Laufen, da man dort vom Gegner ‚gezogen‘ würde. Obwohl beim Sprinten die körperliche Kopräsenz der Konkurrenz keine Grundvoraussetzung für die Austragung des sportlichen Leistungsvergleichs ist, wird darauf nicht verzichtet. Die Aussagen der Trainer bestätigen Müllers (2014: 198) These, dass „die gleichzeitige Anwesenheit der konkurrierenden Athleten […] die soziale Situation und damit auch den Ausgang des Leistungsvergleichs nicht unerheblich“ beeinflusse. Aus der Aussage der Trainer lässt sich spezifizieren, dass nicht allein die Kopräsenz, sondern auch die sozio-materielle Anordnung der Teilnehmenden – in diesem Fall die Positionierung auf den verschiedenen Bahnen – von den Trainern als für die Laufleistung bedeutsam angesehen wird. Diese Annahme lassen die Trainer auch in ihre Bewertungen der Athleten einfließen, indem sie bspw. ein schlechtes Abschneiden von einem Athleten mit der Positionierung auf der Außenbahn begründen. Für mich als Laiin ist abgesehen von der offensichtlichen Platzierung der Athleten wenig erkennbar. Nachfragen meinerseits während der Wettkämpfe zu Details wie bspw. der genauen Fokussierung oder Begründung für die Wertungen bleiben für mich nur unbefriedigend beantwortet, da es den Trainern schwerfällt, ihre Einschätzungen detailliert zu verbalisieren. Sie tauschen unter sich zumeist nur zum Ende der Läufe kurze Kommentare wie bspw. „war am Anfang zu schnell“ oder „hat mir gut gefallen“ aus. Ähnlich wie zu Beginn meiner Beobachtungen bei den Tanzsichtungen tappe ich – trotz der öffentlichen Aufführung der körperlichen Leistung – im Dunkeln, während die Trainer detailliert sehen. Erneut waren die videogestützten Interviews ‚erhellend‘, um zumindest in Ansätzen die Sehstile der Trainer nachvollziehen zu können. Wobei – vermutlich aufgrund meiner Videoaufnahmen, bei denen ich nicht einzelne Läufer fokussiere, sondern immer die Totale für den gesamten Lauf gewählt habe (vgl. 2.4.2) – die Trainer sich in den videogestützten Interviews nicht auf einzelne Läufer beziehen, sondern allgemeine Aussagen fällen. Zur Bewertung deuten die Trainer die Performance der Läufer auf den letzten 100 Metern hinsichtlich unterschiedlicher Punkte:
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„da sieht man schon: wer will so ein Rennen gewinnen oder wer gibt frühzeitig auf? Also da seh‘ ich eher so ein bisschen übertrieben die Charaktereigenschaften von ‘nem Läufer. […] Wenn ich sichten will, dann guck ich, wie macht er das Rennen? […] Also derjenige, der am Anfang zu schnell angelaufen ist, weil er sehr motiviert ist, der wird bei 300m nicht mehr wissen, wie soll ich ins Ziel kommen. Wird aber vielleicht trotz dieser Problematik, die er körperlich dann hat, kämpfen. Das kann man dann auch sehen. Und es reicht dann vielleicht eben nicht bis ins Ziel. Und dann gibt‘s vielleicht den Cleveren, der sich sein Gut eingeteilt hat, der bis ins Ziel fightet und auf Nummer sicher geht auch und bis zwei Meter hinter dem Ziel fightet und dann gibt‘s vielleicht diejenigen, die schon 20m vorm Ziel schon diesen hier machen (sackt vornüber zusammen) und dann im Ziel grad noch jemand vor sie kommt. Bevorzugen würd‘ ich natürlich den Zweiten (lacht), der sich das Rennen gut einteilt. Der konsequent und ja voller Konzentration das Rennen zu Ende läuft. Wobei mir derjenige, der zu schnell anläuft, auch recht ist, weil der ist ja erstmal in der Regel motiviert und will das gut machen. Wenn das natürlich jemand ist, der jetzt schon 20, 21 Jahre ist und der macht das seit fünf Jahren so, dann ist der auch nicht mehr interessant.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Die Aussage verdeutlicht eine hierarchische Typologie von Läufern. Der Trainer differenziert zwischen denjenigen, die (über-)motiviert sind und trotz der körperlichen Probleme bis zum Schluss ‚kämpfen‘ und denjenigen, bei denen mit zunehmender körperlicher Belastung auch weniger Motivation zu erkennen ist. Der dritte Athlettyp, der „Clevere“, wird als intelligenter und ambitionierter Idealtypus skizziert: er weiß sich seine Kräfte einzuteilen, läuft konzentriert und konsequent und sogar wenige Meter über das Ziel hinaus, um „sicher zu gehen“. Die Hierarchie bezüglich des jeweiligen Talents der drei Typen wird zusätzlich vom Faktor Erfahrung beeinflusst. So kann der übermotivierte Athlet für den Trainer interessant sein, wenn es sich um einen unerfahrenen Läufer handelt. Mit zunehmender Erfahrung jedoch wird von den Läufern die Fähigkeit erwartet, sich ihre Kräfte bewusst einzuteilen, wobei der Trainer nicht klar definiert, ab wann er diese Fehler nicht mehr toleriert. Erneut ermöglicht die durch die sozio-materielle Anordnung erzeugte Asymmetrie der Sichtbarkeit den sichtenden Trainern eine unbemerkte Beobachtung der Techniken des Sich-Sichtbarmachens der Athleten im Wettkampf. Anhand der Laufperformance schreibt der Trainer Athleten Charaktereigenschaften zu, die er hinsichtlich der ‚Verwertbarkeit‘ des Athleten im Leistungssport wertet. Platzierung und (Zwischen-)Zeiten allein würden laut dem Bundestrainer nicht reichen, um eine Einschätzung zum Talent abgeben zu können. Neben den bereits genannten Punkten formuliert der Trainer in der folgenden Passage weitere Merkmale, die er zur Beurteilung des Talents heranzieht:
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„Der Trainer muss ihn [den Athleten] schon darüber hinaus kennen. Wenn er jetzt nur die Zeiten hätte, dann könnte man ihm ja auch ‘ne Mail schreiben, pass mal auf, das sind die Namen, die sind von so und so ‘ne Zeit bis so und so gerannt, der mit der schnellsten Zeit, das ist das Talent. Bitte, hier hast ihn. Nee, der will ja schon sehen, wie sind die körperlichen Voraussetzungen, wie – ist das ein kleiner und quirliger, ist das ein Großer, ein schlanker Athlet etc.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Einen Athleten „kennen“ bedeutet für den Trainer laut dieser Aussage einen Athleten sehen. D.h., die interaktionslose Beobachtung auf Distanz – wie sie beim Wettkampf gegeben ist – sieht der Trainer in einem ersten Schritt als ausreichend zur Einschätzung von Talent, da die anthropometrischen Faktoren, die der Trainer als wichtig erachtet, auch auf Distanz sichtbar seien. Auf die Frage, ob ein bestimmter Phänotyp bevorzugt werde, entgegnet der Trainer: „Nee, ich kenn Kollegen, die für ihre Disziplin ein bestimmtes Athletenideal vor Augen haben, aber das mag auch in manchen Disziplinen wichtig sein, groß zu sein, stark zu sein, schwer zu sein, keine Ahnung. Für die 400m ist es nicht zwingend notwendig groß und schlank zu sein oder klein und dürr oder wie auch immer. Die Kollegen, die das so sehen, schränken sich mitunter sehr ein für ihre Disziplin, weil die suchen ein bestimmtes Athletenpotenzial und wenn da jetzt kein Großer dabei ist, dann gibt‘s für die in der Disziplin keine Talente. Was ich für Quatsch halte. Es gibt kleine, schnelle Sprinter und es gibt große, schnelle Sprinter.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Da laut Aussage des Trainers die körperliche Erscheinung des Athleten nicht entscheidend sei, bleibt für mich zunächst unklar, was genau der Trainer hier als wichtig erachtet. Hierauf wird im dritten Arrangement näher eingegangen. Nur im Falle einer positiven Bewertung lösen die Trainer die Asymmetrie der Sichtbarkeit auf und suchen das Gespräch mit Athleten und Heimtrainer*innen, um weitere Informationen zum Athleten und seinen Interessen und dem bisherigen Training einzuholen. Da die Trainer bei den drei von mir begleiteten Wettkämpfen keinen der Athleten positiv bewerten bzw. alle als talentiert eingestuften Athleten bereits im Kader waren, liegen hierzu keine weiteren Informationen vor.
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Fazit Arrangement 1: Bewertungen der Athleten(-körper) in einer Asymmetrie der Sichtbarkeit Anders als im Tanzen deuten sich im ersten Arrangement unterschiedliche Sehstile und auch differente Vorstellungen bezüglich einiger Talentmerkmale unter den Trainer*innen an. So werden unterschiedliche Positionierungen zum Sichten gewählt und auch die Angaben zum bevorzugten Phänotyp variieren. Dies trifft jedoch nicht auf die von mir begleiteten Trainer zu, sondern wird anhand ihrer Aussagen über die Sehgewohnheiten anderer Trainer*innen gefolgert. Allgemein ist zu den Ergebnissen der ersten Arrangementanalyse anzumerken, dass diese sich aufgrund der eingeschränkten Aufnahmemöglichkeiten stark auf die Gespräche im Feld und die Interviews stützt. Zudem werfen die allgemein gehaltenen Kommentare der Trainer zu meinen ersten Wettkampfaufnahmen die Frage auf, inwiefern meine gewählte Kameraperspektive die Sehmöglichkeiten der Trainer in den videogestützten Interviews einschränkt (vgl. 2.4). Auch meine Beobachtungen der Trainer auf der Tribüne zeigen, dass die Trainer trotz der großen Entfernung zu den Athleten eine Beobachtung mit bloßem Auge der Beobachtung mit der Kamera und ihren Zoommöglichkeiten vorziehen. Die Anordnungen, in den sich überschneidenden Wettkampf- und Sichtungspraktiken, weisen die Besonderheit auf, dass eine Asymmetrie der Sichtbarkeit und Wahrnehmung der Teilnehmenden entsteht. Durch die vielen Teilnehmenden an den Wettkampfpraktiken und ihre räumliche Anordnung wird den sichtenden Trainern eine unbemerkte Beobachtung der Athleten im Umgang mit ihrer Konkurrenz ermöglicht. Die Athleten sind für die Trainer sichtbar, diese werden jedoch von den Athleten beim Wettkampf in der Masse der Zuschauenden nicht gesehen bzw. auf dem Einlaufplatz nicht als sichtende Trainer wahrgenommen. D.h., phänomenal identische Handlungsmuster ergeben unterschiedliche Praktiken – Wettkampf und Sichtung – deren Bedeutung erst im Vollzug erkennbar wird (vgl. Schürmann 2014). Aufgrund der Sichtbarkeits- und Wahrnehmungsasymmetrie in den sich überschneidenden Praktiken finden keine (Re)Adressierungen zwischen den sichtenden Trainern und den Athleten statt. Die sichtenden Trainer konstituieren die Athleten(körper) als ‚Displays‘ und deuten diese hinsichtlich ihrer Eignung für den Bundeskader. Auf dem Einlaufplatz schließen sie von den Interaktionen der beobachteten Athleten mit anderen Athlet*innen und Heimtrainer*innen auf ihre Fokussierung und Selbstständigkeit. Zudem prognostizieren die Trainer anhand der Geschmeidigkeit der Bewegungsausführung die zu erwartende Laufleistung. Die Eindrücke vom Einlaufplatz gleichen sie mit den Leistungen beim Wettkampf ab, bei denen wiederum die genaue Positionierung auf der Laufbahn mitberücksichtigt wird. Die Trainer
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ziehen von den Beobachtungen der letzten 100 Meter Rückschlüsse auf die Herangehensweise der Athleten an den Lauf, wie bspw. ihre Fähigkeit, den Lauf strategisch zu gestalten. Die von mir begleiteten Trainer legen – laut ihrer Aussage anders als andere Trainer – Wert darauf, die Athleten auf der Zielgeraden zu beobachten. Grundsätzlich bezeichnen sie es als essenziell die Athleten selbst zu sehen und ihr Verhalten zu beobachten, um sich nicht nur von der Anthropometrie, sondern auch von der Herangehensweise an den Wettkampf einen Eindruck zu verschaffen. Damit werden von den sichtenden Trainern die erzielten Zeiten als notwendige, jedoch nicht hinreichende Informationen zur Wertung von Talent angesehen. Wie in der Einleitung des Kapitels bereits geschrieben, beziehen sich die folgenden Ausführungen auf Sichtungsmaßnahmen, die zeitlich und örtlich abgekoppelt von den geschilderten Wettkampfbeobachtungen stattfanden und bei denen auch andere Athleten beobachtet wurden.
4.2 ARRANGEMENT ‚BEGRÜßUNG‘ Die dreitägige 400m Sichtung findet in einem Sportzentrum statt. Für den Einstieg finden sich die Teilnehmenden in einem Seminarraum zusammen, in dem Stühle zu einem Sitzkreis angeordnet sind (s. Abb. 39). Bereits in der Vorstellungsrunde werden durch die Rededauer Machtpositionen verdeutlicht und auf Heimtrainer*innenseite Kompetenzen verbalisiert: Während alle Athleten sich sehr kurz fassen und nur ihren Namen und Verein nennen, gehen die Heimtrainer*innen ausführlich auf ihre Trainer*innenposition, eigene Erfahrungen als Athlet*innen, bisherige Schwerpunktdisziplinen, wie auch kurz auf ‚ihren‘ anwesenden Athleten ein und thematisieren bspw. wie lange sie den Athleten bereits trainieren. Ähnlich wie bei den Bundeskaderanwärter*innen beim Tanzen (vgl. 3.2) scheinen die Athleten es nicht gewohnt zu sein, sich im Sportkontext durch verbale Interaktionen hervorzuheben. Im Anschluss an die Vorstellungsrunde startet der Bundestrainer eine Präsentation, die er an die Wand hinter sich projiziert. Beim Vortrag bleibt er sitzen und unterstreicht seine Ausführungen körperlich wenig, 5 wodurch der Fokus für
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Laut Hrachovec (2009: 262) lassen sich zwei Arten von PowerPoint-Präsentationsformen unterscheiden bei denen der Einbezug des Körpers variiert: Während Aufführungen Vortragende in ihrer gesamten körperlichen Präsenz umfassen und der Körper bspw. als Veranschauungsmedium genutzt wird, reduziert sich die Körperlichkeit bei
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Zuhörende noch stärker auf die Bilder gelenkt wird. Mit der Präsentation adressiert der Bundestrainer in erster Linie die Athleten hinsichtlich einer spezifischen Zielperspektive. Da mir die PowerPoint-Präsentation nicht vorliegt, werden im Folgenden keine Ausschnitte aus dieser abgebildet, sondern ihr Inhalt zunächst beschrieben und im Anschluss in Bezug auf die implizite Zielperspektivierung gedeutet. Abb. 39: Stuhlkreis bei der Begrüßung
Zu Beginn der Präsentation sieht man eine Auflistung der sieben zum Projekt eingeladenen Athleten, von denen bis auf zwei, die verletzt sind, alle anwesend sind. Der Bundestrainer führt aus, dass die 400m zur aktiven Zeit des CoTrainers die stärkste Disziplin der Deutschen Leichtathletik waren und dass es Ziel des Projekts sei, die Disziplin wieder „nach vorne zu bringen“. Es folgen Bilder von aktuellen Bundeskaderathleten für die 400m im Jugend- und Erwachsenenbereich mit einer Auflistung ihrer jeweiligen Bestzeit über die Strecke. Die nächsten Folien listen Athleten auf, die in relativ jungen Jahren über 400m international erfolgreich waren, was vom Trainer mit den folgenden Worten kommentiert wird, bei denen er nacheinander die Athleten anschaut: „noch ‘ne Folie hab‘ ich vorbereitet, um Euch auch mal deutlich zu sagen, dass die Athleten nicht 30 Jahre alt werden müssen, um dann irgendwie mal ‘ne 44 Zeit zu rennen“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll). Er geht einige der Beispiele durch, unter denen auch der Co-Trainer ist, bei denen er jeweils den Namen, das Land für das sie gestartet sind, das damalige Alter, die Zeit über 400m beim jeweiligen Wettkampf und das Abschneiden wie bspw. Olympiasieg oder 3. Platz bei der
Ausführungen vornehmlich auf die Stimme des Vortragenden und die Argumentation wird wenig durch Gesten und Körpereinsatz unterstrichen.
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Europameisterschaft benennt. Als Übergänge werden Folien mit Motivationssprüchen kommentarlos gezeigt wie bspw. „Nicht weil die Dinge unerreichbar sind, wagen wir sie nicht; weil wir sie nicht wagen, bleiben sie unerreichbar.“ Nach einigen Beispielen fasst er zusammen und richtet dabei seinen Blick erneut nacheinander auf die anwesenden Athleten: „So kann man sie alle durchgehen, die mit relativ jungen Jahren über 400m erfolgreich sind. Also glaubt niemandem, der sagt mit 27, 28 kann man erst erfolgreich sein. Das geht auch früher. Ist nicht zwingend, aber wenn man auf die Weltbestenliste guckt, sieht man immer wieder viele Athleten, die in jungen Jahren sehr erfolgreich sind.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Es folgen Bilder von jungen Leichtathleten, bei denen der Bundestrainer die Anwesenden fragt, wer jeweils abgebildet ist. Die meisten werden von den Athleten oder Heimtrainer*innern erkannt. Oftmals zeigt der Bundestrainer zunächst ein Bild von einem Athleten, wie bspw. Robert Harting, im Alter der anwesenden Bundeskaderanwärter und im Anschluss eins zum Höhepunkt der Karriere. Wie mir der Bundestrainer im videogestützten Interview erläutert, versucht er, durch die Kombination aus den Bildern derselben Athleten die Imagination der Nachwuchsathleten hinsichtlich ihrer eigenen Sportkarriere anzuregen. Die bis dahin weit entfernte und eventuell nicht vorstellbare Zielsetzung, in einigen Jahren selbst international erfolgreich zu sein, soll durch den medialen Einsatz vermittelt und ‚näher‘ herangeholt werden. Neben der PowerPoint-Präsentation setzt der Bundestrainer noch weitere Mittel ein, um die Athleten auf die Zielperspektive einzustimmen. So reicht er bspw. ein aktuelles Deutschlandtrikot des Leichtathletikteams herum, so dass jede*r der Anwesenden es für einige Sekunden in den Händen hält. Dies kann als Materialisierung der zu vermittelnden Ziele – Mitgliedschaft im Bundeskader und Teilnahme für Deutschland an internationalen Wettkämpfen – interpretiert werden, die im Idealfall die Athleten hinsichtlich dieser Ziele affizieren soll, indem sie durch die Materialisierung wortwörtlich wie auch im übertragenden Sinne greifbar werden. Während einige der Heimtrainer*innen das Trikot nur kurz in die Hand nehmen und kaum genauer anschauen, bevor sie es weitergeben, betrachten die Athleten das Trikot jeweils ausführlicher, halten es vor sich hoch und geben es erst im Anschluss weiter. Sie scheinen damit die Adressierung des Bundestrainers als potenzielle Träger des Trikots anzunehmen. Währenddessen setzt der Trainer die Präsentation fort und geht im zweiten Teil auf für die Athleten relevante Wettkämpfe ein, wobei diese bis zu zwei Jahre in der Zukunft liegen. Die nach Jahren sortierten Wettkämpfe kommentiert der Trainer
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mit Zielsetzungen für die Athleten wie: „dies ist für Euch weniger relevant und sollte nicht im Fokus stehen“ oder „im kommenden Jahr solltet Ihr Euch drauf konzentrieren 400m Läufer vielleicht zu werden und bei den DJM gut auszusehen und mit vorne dabei zu sein“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll). Somit versucht der Trainer sowohl kurzfristige, wie auch langfristige Zielsetzungen zu vermitteln, wobei die Zeitspannen für kurzfristige Zielsetzungen sich auf das nächste Jahr beziehen und langfristige Ziele mehrere Jahre im Voraus angegangen werden sollten. Die Präsentation wird durch die Projektion und die Kommentierung durch den Bundestrainer zum optischen Bezugspunkt für alle Anwesenden (vgl. Hrachovec 2009: 261). Trotz der kreisförmigen Anordnung, aus der sich an sich keine Hierarchie ergibt, liegt der Fokus auf der Präsentation und dem Bundestrainer. Der Redeanteil der anderen ist gering und vor allem die Athleten sind sehr zurückhaltend – auch bei an sie gerichteten Fragen. So reagiert zunächst auch niemand von ihnen als der Trainer die Präsentation beendet und sie auffordert, ihre Motivationsgründe für die Teilnahme am Projekt offen zu legen: Bundestrainer (BT): „Jetzt sollt Ihr mal erzählen (schaut in die Runde). Machen wir nicht reihum, wer was sagen will, sagt was. (Schaut nochmals in die Runde, keiner reagiert, nach einigen Sekunden Pause schaut er zum Athleten rechts von sich) Wieso bist Du hier? Weil Dein Trainer gesagt hat: fahren wir hin“. (Alle lachen) Der erste Athlet, Hilko6, zögert kurz und schaut dann abwechselnd den Bundestrainer an und auf den Boden: „Ich wollt‘ einfach mal die anderen kennenlernen und schauen, wie die so drauf sind. Weil ich mach‘ Leichtathletik noch nicht so lange und hab voll Respekt vor den anderen. Und ich weiß noch gar nicht so richtig, wie das alles abläuft und das wollt‘ ich mir mal anschauen.“ BT: „Okay“ (schaut den zweiten Athleten, Patrick, an) Patrick: „Ich bin eher neugierig gewesen, was jetzt wirklich - ich bin parallel noch im Landeskader. Also was sind einfach so die Unterschiede, was dann wo gemacht wird. Was im Landeskader gemacht wird und was hier im Projekt.“ BT: „Okay“ (schaut den dritten Athleten, Martin, an) Martin: „Ich bin eigentlich ganz offen hierhergefahren, weil ich bin auch erst seit 2,5 Jahren dabei. Also erstmal ganz offen. Dann erhoff‘ ich mir viele Tipps. Dann natürlich die Leute natürlich auch, weil viele Leute kennt man von der Bestenliste, also die Namen. 6
Um die Entwicklung der Einschätzungen über den Verlauf der Sichtung nachvollziehen zu können werden für die Athleten anonymisierte Namen verwendet.
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Wenn man jetzt die Gesichter dazu sieht, weil bei Wettkämpfen trifft man sich ja jetzt auch noch nicht. Und ja-“ BT: „Mh“ (schaut den vierten Athleten, Niklas, an) Niklas: „Ja also ich fand‘s erstmal ziemlich cool, ein deutschlandweiter Lehrgang und war ich auch erstmal ein bisschen so okay, hier bin ich jetzt. Und ich mach auch noch nicht soo lange Leichtathletik, drei vier Jahre. Und also ich denk‘ mal, das ist schon auch cool wie gesagt hier alle auch kennenzulernen und ich bin auch relativ offen.“ Der Bundestrainer nickt Niklas zu und wendet seinen Blick dann dem letzten Athleten, Christian, im Stuhlkreis zu. Christian: „Joa ich fand‘s halt mal interessant halt zu wissen, wer hinter den Zeiten steckt, die man halt im Internet oder so halt lesen kann, wo man halt mal zu sehen, was ‘ne Person dahinter steckt ja. Und mit denen mal ins Gespräch zu kommen und so.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Anders als vom Bundestrainer intendiert, äußern sich die Athleten nur kurz und letztendlich doch reihum, nach Adressierung durch den Bundestrainer durch seine Blickausrichtung auf den jeweiligen Athleten. Ein Hervorheben auf Seiten der Athleten ist hier nur durch die Darlegung der Motive möglich, wobei diese laut Bundestrainer wenige Unterschiede aufweisen (s.u.). Aus den Aussagen lässt sich herausfiltern, dass die Athleten sich untereinander noch nicht kennen und auch der Ablauf und die Inhalte des Projekts unbekannt sind. Zumindest zwei der Athleten sind erst seit wenigen Jahren in der Leichtathletik aktiv, so dass vom Bundestrainer Zielperspektiven formuliert werden, die einen längeren Zeitraum umfassen, als die Athleten die Sportart ausüben. Im videogestützten Interview reflektiert der Trainer sein eigenes Vorgehen und die Antworten der Athleten: „Klar gibt‘s erstmal ‘nen Eindruck aber eigentlich sind die Antworten immer so: naja hm, die anderen mal kennen lernen, und die Abläufe mal kennenlernen. Das ist natürlich auch ‘ne komische Situation für die Athleten. Die sind 15 16 und dann sollen die sich erklären. Ja, könnte man auch geschickter machen vielleicht. Nee aber seh‘ ich jetzt so. So ‘ne Runde ist immer nicht ganz so einfach. Ich denke mal, dass da keiner jetzt sagen wird und außerdem will ich demnächst 45,0 rennen. Will ja keiner auch als Depp dastehen, der sowas rausposaunt. Deshalb nimmt man die Vorlage vom Ersten und sagt ich möchte erstmal alle kennenlernen und ist erstmal vorsichtig und zurückhaltend. Aber man kriegt schon ein bisschen mit von den Athleten, wie die so ticken. Bei den beiden [Hilko und Patrick] war relativ schnell klar, naja, ob die mal 400m laufen wollen, ist die Frage. Aber
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das war uns ja klar, dass wir zwar einige einladen, aber dass nicht alle diejenigen sind, die für die 400m brennen.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Obwohl der Trainer die Situation für die Athleten als schwierig einschätzt und annimmt, dass eher zurückhaltende Antworten gegeben werden, geht er davon aus, einen ersten Eindruck von den Athleten erlangen zu können – vor allem im Hinblick auf die Motivation und Zielperspektive. Beim Nachhaken bezüglich der Einschätzung zu den beiden namentlich genannten Athleten hat sich ergeben, dass der Eindruck nicht nur auf den bis dahin gezeigten Videosequenzen beruhte – die Einstimmungssequenzen waren die ersten, die ich dem Trainer vorspielte – sondern auch auf späteren Eindrücken aus der Sichtung. Hier lässt sich die Vermutung aufstellen, dass die Videoaufnahmen nicht adäquat für die Befähigung der Trainer zum Nachvollziehen sind (vgl. 2.4.2) oder die Gesamteindrücke zu den Athleten aufgrund der geringen Anzahl an Athleten noch präsent waren. Damit lässt sich an dieser Stelle nicht sagen, ob die oben zitierten Athletenaussagen allein aufschlussreich für die Trainer sind. Der Bundestrainer beendet diese Sequenz der Einstimmung mit einer erneuten Adressierung an die Athleten hinsichtlich der von ihm vorgesehenen, langfristigen Zielperspektive. Hierbei stellt er den Zeitraum zwischen jetzt und dem Ziel: Endlauf bei den Olympischen Spielen als kurz dar und betont zum einen, dass er und der Co-Trainer bei allen anwesenden Athleten das Potenzial dafür sehen und zum anderen, dass es allein an den Athleten selbst läge, ob sie dieses Ziel erreichen: (Bundestrainer schaut den Co-Trainer an) „Ich glaub‘ so haben alle irgendwie mal angefangen (schaut in die Runde) in den Landeskadern - und auf einmal standen sie im Olympiastadion und sind den Endlauf irgendwo gerannt. Das geht relativ schnell. Das ist jetzt hier in der Runde wahrscheinlich schwer vorstellbar, aber sowas kommt auf Euch zu (lässt den Blick zwischen den Athleten hin und her schweifen). (2) Es liegt an Euch, dass es auf Euch zukommt, ob Ihr das gerne erreichen wollt. Wir glauben, dass Ihr das alle könnt. […] Das sind spannende Sachen, passieren lustige Sachen auch bei Wettkämpfen. [Name Co-Trainer] wird da einiges zu erzählen haben.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Nach dieser Verantwortungszuschreibung greift der Bundestrainer den CoTrainer ein weiteres Mal als Vorbildfigur für die Athleten auf, der sein Insiderwissen auch an die Athleten weitergeben könne. Dies bildet den Übergang zum letzten inhaltlichen Punkt der Einstimmung, bei dem alle gemeinsam einen Videomitschnitt von dem höchsten internationalen Erfolg des Co-Trainers an-
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schauen und dieser den Wettkampf und die Hintergründe kurz kommentiert. Im Anschluss teilt der Bundestrainer nur noch den Treffpunkt für den kommenden Tag mit und beendet die Begrüßung. Fazit Arrangement 2: Einstimmung auf die Zielperspektive Bei der Begrüßung ist durch den Stuhlkreis eine feste Position für alle Teilnehmenden vorgesehen. In diesem hebt sich der Bundestrainer durch die hinter ihm projizierte Präsentation, wie auch durch seinen hohen Redeanteil hervor. Für die Trainer steht in diesem Arrangement nicht das Sichten von Talentmerkmalen im Vordergrund, sondern die Einstimmung der Athleten (und ihrer Heimtrainer*innen) auf die langfristige Zielperspektive: die Teilnahme an internationalen Wettkämpfen bis hin zum Endlauf bei den Olympischen Spielen. Anders als im Tanzen findet die Perspektivierung getrennt von den feldspezifischen körperlichen Praktiken statt und es werden vom Bundestrainer Ziele gesetzt, die durch die Altershomogenität der Athleten für sie alle mindestens fünf Jahre in der Zukunft liegen. Diese lange Zeitspanne versucht der Trainer durch eine mediale Vermittlung für die Athleten zu verkürzen, in dem er unter anderem junge erfolgreiche Athleten in der Präsentation auflistet und bei älteren Athleten Bilder aus ihrer aktiven Leichtathletikzeit im Alter der anwesenden Athleten ergänzt. Er führt ihnen potenzielle Vorbilder und Identifikationsfiguren vor, um die Zielsetzung greifbarer zu machen. Neben den Erfolgen wie der Platzierung bei spezifischen, im Feld prestigeträchtigen Wettkämpfen wie bspw. den Olympischen Spielen, listet er die erzielten Zeiten über die 400m auf, um die Ergebnisse besser einschätzbar zu machen. Des Weiteren wird immer wieder der anwesende Co-Trainer als Verkörperung der Zielperspektive an- und im Video aufgeführt und somit zwei verschiedene Zeitlichkeiten zusammengebracht – die des Co-Trainers als jungem, aktivem Athleten wie auch die des erfahrenen CoTrainers, der sein Insiderwissen an die Nachwuchsathleten weitergeben kann. Das Ziel der Teilnahme an internationalen Wettkämpfen wird durch die körperliche und mediale Anwesenheit des Co-Trainers, wie auch durch das Herumreichen des Nationaltrikots näher heranzuholen versucht. Die lange Zeitspanne bis zum formulierten Ziel versucht der Bundestrainer zudem durch die Aufsplittung in Teilziele zu verkürzen. So gibt er vor, was die Fokussetzung in den kommenden Jahren sein sollte und welche Wettkämpfe für die Athleten seiner Meinung nach relevant sind. Durch das Führen durch die Präsentation dominiert er die Runde im Stuhlkreis und versucht, den Anwesenden die Zielperspektive inklusive Teilziele zu diktieren. Gleichzeitig adressiert er die Athleten als selbstwirksame Subjekte, die es allein in der Hand haben, ob sie diese Ziele erreichen. Die-
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se sollen in der Einstimmung durch die verschiedenen Adressierungen dazu angeregt werden, Visionen von ihrem zukünftigen Selbst zu imaginieren. Ob dies gelingt, ist in diesem Arrangement nicht beobachtbar. Erst im späteren Verlauf der Sichtung versuchen die Trainer, die Zielsetzungen der Athleten zu überprüfen (vgl. Arr. 5). Durch die räumliche Anordnung in der die Körper im Stuhlkreis im Vergleich zu den anderen Arrangements eher still gestellt werden, ist der Spielraum der Athleten, sich während der Einstimmung hervorzuheben, begrenzt. Durch die sozio-materielle Anordnung steht das Verbale im Vordergrund, wobei der Bundestrainer durch seinen hohen Redeanteil und das Führen durch die Präsentation die Anordnung dominiert. Die wenigen Fragen, die der Bundestrainer an die Athleten richtet, werden teils von den Heimtrainer*innen beantwortet. Bei der Frage nach der Motivation sich am Projekt zu beteiligen, hebt sich für die sichtenden Trainer keiner der Athleten hervor, was auch damit zusammenhängt, dass teilweise gleiche Motive genannt werden. Hier lässt sich die Vermutung aufstellen, dass, ähnlich wie im zweiten Arrangement in der Tanzsichtung herausgearbeitet wurde, der Schwerpunkt der Kommunikation in dem Feld bei den Athleten auf dem sportspezifischen Bewegungskönnen und nicht dem Verbalen liegt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Athleten sich nicht nur gegenüber den sichtenden Trainern präsentieren müssen, sondern die anderen Athleten wie auch die Heimtrainer*innen anwesend sind. Auch meine CoPräsenz im Stuhlkreis, wie auch der Einsatz der beiden von mir aufgestellten Kameras, können als Beeinflussung auf das Verhalten der Athleten nicht ausgeschlossen werden (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 22). Während die Athleten es gewohnt sind, bei für sie routinierten Praktiken wie Wettkämpfen oder beim Training für Bewegungsanalysen etc. gefilmt zu werden, bildet die Begrüßung den Auftakt der Sichtung, die für alle Athleten eine ungewohnte Praxis ist, bei der der Schwerpunkt durch die Anordnung im Stuhlkreis auch noch auf dem im Feld ungewohnten Verbalen liegt und zusätzlich gefilmt wird. Anders stellt es sich im dritten Arrangement dar, in dem das jeweilige Bewegungskönnen aufgeführt werden soll.
4.3 ARRANGEMENT ‚DISZIPLINSPEZIFISCHE EINHEIT‘ 7 Einen Schwerpunkt der Sichtung bilden vom Co-Trainer angeleitete Trainingseinheiten, in denen die Athleten wiederholt – jedoch immer in der gleichen An-
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Auszüge aus dem Arrangement wurden bereits in Janetzko (2018) veröffentlicht.
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ordnung – Laufbewegungen durchführen. Die zu sichtenden Athleten reihen sich hintereinander auf und absolvieren im ersten Schritt ca. 10 Meter langsam und mit kleinen Schritten sogenannte Skippings, ohne dass der Trainer die Übung selbst fließend vormacht. Bei Skippings handelt es sich um eine klassische Übung aus der Laufschule in der Leichtathletik, bei der die Fußgelenksarbeit und der Fußaufsatz im Fokus stehen. In sehr kleinen Vorwärtsbewegungen werden die Knie angewinkelt und der korrekte Fußaufsatz geübt. Im Vergleich zum Sprinten bei Wettkämpfen werden somit in dieser Übung die Komplexität der Bewegungsausführung und die Laufgeschwindigkeit reduziert. Die Auswahl dieser Übung begründen mir die Trainer in den Interviews damit, dass es sich hierbei um eine wenig voraussetzungsvolle und körperlich nicht anstrengende Übung handle, mit der man die Lauftechnik überprüfen könne, „um einfach mal zu gucken, was vorhanden ist bei den Athleten“ (Interviewauszug Trainer 1). Die Anleitung durch den Co-Trainer ermöglicht es dem Bundestrainer, sich als stiller Beobachter seitlich der Athleten zu positionieren und sich ganz auf das Sichten zu konzentrieren. Während der Bundestrainer sich mittig links von der abgesteckten Laufbahn platziert, läuft der Co-Trainer bei der Ausführung des jeweiligen Athleten seitlich von diesem mit (s. Abb. 40). Die Heimtrainer*innen der Athleten sind bei der Sichtung mit anwesend und beobachten die Einheit etwas abseits der Laufbahn. Abb. 40: Arrangement bei Laufübungen
Erst wenn ein Athlet am Ende der Markierung angekommen ist und der CoTrainer sich wieder neben der Laufbahn am Start platziert hat, darf der nächste Athlet starten. In dem sozio-materiellen Arrangement ist es somit nicht vorgesehen, dass die Athleten die Übung parallel, im unmittelbaren Vergleich, ausführen, sondern hintereinander, so dass die Trainer jeweils den ausführenden Athleten in den Blick nehmen. Bei der zweiten Runde derselben Übung positioniert
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sich der Co-Trainer neben dem Bundestrainer und sie kommentieren vor allem einen Athleten immer wieder, ohne dass die Athleten oder Heimtrainer*innen sie hören können: Bundestrainer (BT): „Niklas ist so einer würd‘ ich sagen, das könnt‘ was werden. Der hat dickere Knie als Oberschenkel. In dem Alter gut.“ Co-Trainer (CT): „Der ist schnell, war ja der Schnellste aber- Die sind alle noch nicht aber bei ihm, bei ihm ist besonders das Gefühl noch nicht. Die Fußgelenksarbeit vorhin beim Laufen, die ging relativ ja sogar und der Fußaufsatz ist relativ schnell, aber schon bei den Skippings hängt er hier drin (zeigt auf die Hüfte). Als wenn er die Kraft noch nicht hat sich die ganze Zeit oben zu halten.“ BT: „Hat er wahrscheinlich auch nicht.“ CT: „Ja eben.“ BT: „Auch als würde er aufm Sofa sitzen.“ CT: „Das krieg‘ ich aber auch. Das kriegst du ganz leicht weg. Das ist ja das Schöne an der Sache.“ BT: „Das ist so einer – würd‘ ich sagen, das - könnt was werden.“ CT: „Das ist der Diamant.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Auffällig ist hier, dass die Trainer vermeintliche Defizite (geringe Ausprägung der Oberschenkelmuskulatur, falsche Hüftstellung als Indikator für mangelnde Kraft und ein fehlendes Gefühl für die Bewegung) positiv werten, was zum einen an der Annahme liegt, diese Defizite seien von außen korrigierbar. Zum anderen lässt sich dies darauf zurückführen, dass als wichtig erachtete Merkmale nicht isoliert bewertet, sondern ins Verhältnis zur erzielten Laufleistung gesetzt werden („Der ist schnell, war ja der Schnellste [beim Wettkampf]“). Erst in dieser Kombination kommen die Trainer zu der Einschätzung, der Athlet wäre der „Diamant“, aus dem „was werden könnte“. Damit spielen die Trainer Vorannahmen bezüglich weiterer Talentmerkmale wie bspw. der Körperformung, wie auch der Korrekturmöglichkeiten von als Defizit interpretierten Merkmalen in die Beobachtungspraxis ein und bringen sie machtvoll zur Geltung, da sie die Bewertung der Athleten maßgeblich beeinflussen. Neben den als (weiter) formbar interpretierten Merkmalen thematisieren die Trainer auch Merkmale wie bspw. die Schnelligkeit und Technik beim Fußaufsatz, die ihrer Ansicht nach bereits vorhanden sein müssen. So lässt sich auch erklären, warum einige der Athleten bei der Ausführung der Skippings nicht weiter
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unter den Trainern thematisiert werden. Sie weisen nach Ansicht der Trainer Defizite auf, die – anders als die oben genannten – nicht einfach zu beheben seien. So kommentieren beide Trainer den Fußauftritt zweier Athleten in den videogestützten Interviews folgendermaßen: „Aber man merkt ja, er geht sehr aktiv nach unten (trommelt auf den Tisch) […]. Das hören Sie, weil er (trommelt wieder auf den Tisch)“ (Interviewauszug Trainer 2). „Der Fuß hat relativ laut aufgesetzt […]. Die Ausführung ist doch so, dass man sagt, naja hm, der schnelle Fuß fehlt da und es war relativ schnell klar, dass er nicht derjenige ist, der unbedingt 400m laufen soll.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Der leise und schnelle Fußauftritt ist für beide Trainer ein entscheidendes Talentmerkmal, welches für die Aufnahme in den Kader gegeben sein muss. Wie bereits bei der Tanzsichtung zeigen die Interviewauszüge zudem, dass bei den von den Trainern angewandten Techniken des Sehens unterschiedliche Sinne miteinander verschränkt werden (vgl. Reckwitz 2015: 447), um das als wichtig erachtete Merkmal, die Technik beim Fußauftritt, bewerten zu können. So bewerten die Trainer den Fußauftritt nicht nur anhand des Gesehenen, sondern in Kombination mit dem Gehörten. Während die Trainer unter sich detailliert auf ihre Einschätzungen zu einzelnen Athleten und den beobachteten Defiziten eingehen, richtet der Co-Trainer nur ein allgemeines Feedback an die gesamte Gruppe, in dem er die Punkte Blickrichtung, aufrechte Körperhaltung in Zusammenhang mit der Hüftstellung aufgreift. „Ihr macht ein paar grundlegende Fehler: Ihr neigt alle ein bisschen dazu, Ihr sitzt (greift sich an Hüfte). Also bei dieser Übung: der Blick ist gerade aus (streckt die Hand vor der Stirn nach vorne gerade vor sich: Abb. 41a). Egal was ich jetzt sage oder jemand anders, ihr guckt immer gerade aus. Zum Gucken und Korrigieren ist der Trainer da. Brust raus (klopft sich mit den Fingern auf die Brust s. Abb. 41b), weil wenn ihr so hängt, dann geht das Becken nach vorne (schiebt sein Becken nach vorne) und dadurch verkürze ich mir unter anderem auch diesen Muskel hier“ (zeigt auf seine Oberschenkelhinterseite). (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
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Abb. 41a-b: Markierung relevanter Aspekte bei der Ausführung von Skippings
Beim ersten Feedback werden weder die spezifischen Defizite noch die Einschätzungen zu den einzelnen Athleten diesen gegenüber transparent gemacht. Stattdessen hält der Co-Trainer das Feedback sehr kurz und konzentriert sich auf zwei Aspekte, die er anhand seines Körpers verdeutlicht, ohne die Bewegung selbst fließend vorzuführen. Multimodal durch den Körpereinsatz in Kombination mit den Aussagen markiert er für die Ausführung wichtige Körperpartien. Seine Ausführungen richtet er sowohl an die Athleten wie auch an ihre Heimtrainer*innen. Diese werden sogar primär als zuständig fürs „Gucken“ und „Korrigieren“ adressiert. Damit schreibt der Trainer den Teilnehmenden unterschiedliche Zuständigkeiten zu: Die Athleten müssen zwar die Bewegung mit ihrem Körper ausführen, für die Korrekturen der Ausführung adressiert er jedoch die Heimtrainer*innen. Während der Trainer die Athleten damit hinsichtlich der benötigten Selbstreflexion ‚entlastet‘, werden die Heimtrainer*innen dadurch als bedeutsame Mitspieler*innen adressiert. Die ‚Entlastung‘ der Athleten entsteht auch durch die sozio-materielle Anordnung: Die wartenden Athleten sind hinter dem jeweils ausführenden Athleten positioniert, von wo aus der spezifische Blickwinkel, wie ihn die (be)wertenden Trainer einnehmen, nicht möglich ist. Auch durch die Ausführung nacheinander ist ein unmittelbarer Vergleich der Athleten untereinander ausgeschlossen. Der Co-Trainer führt die gewünschte Bewegungsausführung auch nicht fließend vor, so dass er den Athleten keine Idealausführung zur Orientierung bietet. Bei dem allgemeinen Feedback adressiert er die Athleten als Gruppe und nicht als Einzelpersonen. Sie hören dem CoTrainer während der Ausführung sitzend oder stehend zu. Der Bundestrainer bleibt die gesamte Einheit durch auf seiner Position als stiller Beobachter. Nach dem ca. einminütigen Feedback bittet der Co-Trainer die Athleten, die Skippings erneut vorzuführen. Dieses Mal gibt er noch während der Ausführung kurze Anweisungen, die er bereits im allgemeinen Feedback thematisiert hatte, wie „Blick nach vorne“ oder „langsamer“. Nach zwei Durchgängen ruft er die Athleten wieder zusammen und richtet seine Rückmeldung zunächst wieder an
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alle, wobei er erneut dieselben Punkte – Blickrichtung und Raumeinnahme – aufgreift. Im Folgenden adressiert er dann zwei Athleten im Speziellen: (Richtet den Blick auf Christian): „Christian Du bist nicht unterm Körperschwerpunkt bei der Übung, draußen beim Laufen bist Du unterm Körperschwerpunkt, aber bei dieser Übung hier nicht. (Christian nickt) Hierfür gibt‘s ein ganz spezielles Krafttraining, so dass jeder Muskel speziell trainiert wird für‘s Sprinten (wendet den Blick auf Niklas und schaut abwechselnd ihn und Christian an): Ihr zwei, versucht daran zu denken, dass ihr hinten das Bein streckt, sonst nehmt ihr Euch selber Geschwindigkeit. […] (Richtet den Blick auf Niklas) Blick nach vorne heißt nicht Kopf in den Nacken (nimmt den Kopf in den Nacken) sondern gerade aus. (Er wendet den Blick nun wieder den anderen Athleten zu) und jetzt nochmal.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Wie aus den videogestützten Interviews hervorgeht, wird Christian von den Trainern in der Gruppe als ein weiteres mögliches Talent angesehen, wobei es dem Trainer schwerfällt, zu explizieren, woran er das festmacht, abgesehen vom Fußaufsatz: Trainer 1:
„Hm, da beim Christian haben wir auch gedacht, da ist ein bisschen was. Da ist ein bisschen was da, dass wir denken, was ausreicht, um gut 400m zu laufen.“
Interviewerin:
Woran sehen Sie das?“
Trainer 1:
„Hm. Ich sag mal ganz einfach: am Fußaufsatz. (2) Nee, ist so das Gesamtbild.“
Interviewerin:
„Bestehend aus?“
Trainer 1:
„Na aus dem ganzen Menschen von Kopf bis Fuß. Also ich kann Ihnen das nicht erklären. Keine Ahnung.“
(Interviewauszug Trainer 1)
Nach dem ersten Feedback, in welchem der Co-Trainer die Athleten als Gruppe ansprach, und hinsichtlich Bewegungskorrekturen nur die Heimtrainer*innen adressierte, gibt er nun zusätzlich individuelle Rückmeldungen, jedoch ebenfalls in Form vom Aufzeigen von Defiziten, und nur an diejenigen Athleten, die laut Trainereinschätzung besonders talentiert sind. Durch die alleinige Thematisierung von Defiziten bleiben die Gesamteinschätzungen der Trainer von den Athleten für diese unklar. Gleichzeitig wird durch die individuellen Rückmeldungen die zuvor zugewiesene Aufgabenverteilung zwischen Heimtrainer*innen und
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Athleten – zumindest bei den angesprochenen Athleten – relativiert, und die Athleten werden aufgefordert, ihre Bewegungsausführung nun auch selbst zu reflektieren und zu korrigieren. Im zweiten Schritt sollen die Athleten aus den langsamen und wenig raumeinnehmenden Skippings einen fließenden Übergang in einen Kurzsprint zeigen, was der Laufbewegung bei Wettkämpfen näher kommt als die reine Ausführung von Skippings. Die sozio-materielle Anordnung bleibt hierbei unverändert. Wieder lässt der Co-Trainer die Athleten die Bewegung nacheinander vorführen, während der Bundestrainer die Athleten etwas abseits der Laufbahn beobachtet. Die meisten Ausführungen bleiben vom Bundestrainer unkommentiert, nur bei der Ausführung von Niklas lacht er kurz, da der Übergang von Skippings zu Sprint – selbst für mich als Laiin leicht erkennbar – nicht fließend gelingt. Der Co-Trainer wartet wieder mit seinen Rückmeldungen, bis alle Athleten sich an der Startlinie eingefunden haben und adressiert hierbei vor allem Niklas, zunächst durch Blickkontakt und anschließend auch gestisch und sprachlich: Co-Trainer: (schaut Niklas an) „Der Übergang sollte eigentlich fast fließend sein, (zeigt auf Niklas) bei Dir hat man den z.B. extrem genau gesehen, wo der war. Kleiner Tipp. (Schaut weiter nur Niklas an, der seinen Blick erwidert) Erhöht ganz leicht die Frequenz, und dann ganz langsam (lehnt sich mit dem Oberkörper nach vorne) ganz leicht nach vorne gehen, immer ein bisschen mehr und merken jetzt bin ich automatisch im Lauf, ja? Versucht mal.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll) Bei der folgenden Ausführung kann man bei allen Athleten beobachten, wie der Übergang fließender wird, auch bei Niklas, wobei die Ausführung weiterhin nicht optimal erscheint. Erneut thematisieren die Trainer nur ihn untereinander und kommentieren die Ausführung für die anderen nicht hörbar: Co-Trainer:
„Der hat wirklich noch Potenzial. (Lacht)“
Bundetrainer: „Erstaunlich, dass er SO ne 36 gelaufen ist.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Wie bei der ersten Skippingübung wird die technische Ausführung des Athleten, die die Trainer als defizitär ansehen, in Zusammenhang mit der Wettkampfleistung gebracht und in dieser Kombination als größtes Potenzial bewertet. Nach einigen weiteren Wiederholungen beendet der Co-Trainer die Einheit und nach dem Bilden des Teamkreises (vgl. Abb. 36) entlässt er die Athleten und Heimtrainer in die Mittagspause.
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Fazit Arrangement 3: Bewertung von Technik im Verhältnis zur Laufleistung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Technik der Athleten nicht isoliert bewertet, sondern ins Verhältnis zur Laufleistung gesetzt wird. Hierfür wird eine Anordnung geschaffen, in der die sichtenden Trainer die Athleten seitlich bei der Ausführung einer in ihrer Komplexität stark reduzierten Laufbewegung beobachten können. Die Einschätzung erfolgt zu jedem Athleten individuell und nicht im Vergleich. Die Trainer fokussieren bestimmte Körperpartien und setzen die Beobachtungen ins Verhältnis zu im Vorfeld erzielten Laufleistungen. Ihr Vorverständnis von Talent wird in die (Be)Wertungspraktiken eingespielt. So wird eine gute Laufleistung bei technisch unausgereifter Bewegungsausführung als größtes Talent bewertet, da der Athlet damit das größte Potenzial zur Optimierung aufweise. Ihre Einschätzungen kommunizieren die Trainer jedoch nicht an die Athleten, sondern teilen ihnen nur einige beobachtete Defizite mit. Die Athleten werden größtenteils hinsichtlich der Korrekturen entlastet, da die sichtenden Trainer die Heimtrainer*innen als für die Korrekturen zuständige Mitspieler*innen adressieren. Individuelle Rückmeldungen zu den beobachteten Defiziten und ihren Korrekturmöglichkeiten erfolgen nur an die als talentiert bewerteten Athleten. Der Spielraum der Athleten sich aus der Gruppe hervorzutun, ist in diesem sozio-materiellen Arrangement durch die eng gefasste Aufgabe, die fast durchgehende Anrede als Gruppe, wie auch die den Athleten fehlenden Einblicke in die (Be)Wertungslogik der Trainer sehr begrenzt. Vordergründig scheint eine optimale Bewegungsausführung positiv zu sein, wobei die sichtenden Trainer keinen Orientierungsrahmen in Form von einer Idealausführung bieten. Somit können die Athleten sich diese nur anhand der nach und nach thematisierten Defizite und Korrekturvorschläge erschließen. Ein Hervorheben wäre demnach durch das Beheben der thematisierten Defizite möglich, wobei dies zum einen nicht erfolgt und zum anderen für die sichtenden Trainer nicht essenziell für die Bewertung von Talent zu sein scheint. Nach der (Be)Wertungslogik der Trainer werden zudem gerade die Athleten positiv bewertet, die von dem beschriebenen Optimum abweichen, wobei sie intern zwischen korrigierbaren und nicht korrigierbaren Defiziten unterscheiden. Die reflexive bzw. durch die Heimtrainer*innen vorgenommene Bewegungskorrektur ist somit für die sichtenden Trainer für die Bewertung von Talent – zumindest in dieser Anordnung – nicht relevant.
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4.4 ARRANGEMENT ‚DISZIPLINÜBERGREIFENDE EINHEIT‘ Neben laufspezifischen Übungen absolvieren die Athleten auch disziplinübergreifende Einheiten. Die folgenden beschriebenen Sporteinheiten sind die ersten, die der Bundestrainer anleitet. Hierbei lassen sich zwei Anordnungen unterscheiden, die sich in der Einheit immer wieder abwechseln. In der chronologisch gesehen ersten Anordnung ist es Aufgabe der Athleten, um ein großes, durch Hütchen abgestecktes, Feld zu laufen und vom Bundestrainer vorgegebene Laufarten wie bspw. ‚Rückwärtslauf‘, ‚Hopserlauf‘ oder ‚Anfersen‘ auf einer Geraden nacheinander vorzuführen oder Steigerungsläufe zu absolvieren. Hierbei steht der Bundestrainer an einer Ecke des abgesteckten Feldes und gibt von dort aus Kommandos. Die Heimtrainer*innen und der Co-Trainer beobachten die Einheit von einer Hallenseite aus. In der zweiten Anordnung liegen die Athleten nebeneinander auf im Vorfeld platzierten Matten. Der Bundestrainer positioniert sich mit einer Stoppuhr in der Hand zunächst mittig mit etwa drei Metern Abstand vor den aufgereihten Matten, so dass er alle Athleten im Blick hat. Die Athleten liegen mit den Köpfen dem Trainer zugewandt. Hinter ihnen sitzen die Heimtrainer*innen und der CoTrainer, so dass die Athleten von vorne und hinten von Trainer*innen beobachtet werden, jedoch nur den Bundestrainer vor sich und zumindest die direkt neben sich platzierten Athleten sehen können. Im Folgenden lässt der Trainer die Athleten jeweils 60 Sekunden eine spezifische Kraft-/Koordinationsübung absolvieren wie Liegestütz, Unterarmstütz bei dem nacheinander die Beine an den Oberkörper herangezogen werden, Bauchmuskelübungen, etc. Der Bundestrainer sagt jeweils kurz die Übung an und startet die Zeit auf der Stoppuhr. Im 10 bis 20 Sekundentakt teilt er den Athleten die verbleibende Zeit mit. Sind die 60 Sekunden abgelaufen, diktiert er direkt die nächste Übung und fordert die Athleten auf, sofort zu dieser überzugehen. Nach knapp zehn Minuten wechselt die Anordnung wieder zur ersten und die Athleten sollen ohne Pause einen Steigerungslauf über zwei Runden um das abgesteckte Feld absolvieren. Im direkten Anschluss erfolgen wieder Laufrunden mit spezifischen Bewegungsvorgaben, bevor die Anordnung wieder zur zweiten wechselt und die Athleten erneut ohne Pause auf den Matten Kraft- und Koordinationsübungen im 60 Sekundentakt ausführen. Dieser Anordnungswechsel vollzieht sich drei Mal, bevor der Trainer die Einheit beendet. Da meine Analysen einen transsituativen Zusammenhang zwischen den (Re)Adressierungen und den Techniken des Sich-Sichtbarmachens über die jeweilige Anordnung hinaus ergeben haben, werden die Anordnungen nicht sepa-
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rat behandelt, sondern wiederkehrend thematisiert, um die Bezugnahmen zu verdeutlichen. D.h., ich beschreibe im Folgenden Beobachtungen aus den beiden Anordnungen nicht kompakt – unabhängig von ihrem zeitlichen Verlauf in der Sichtung – sondern halte mich an die chronologischen Wechsel der Anordnungen, wie sie in der Sichtung stattgefunden haben. Bei den Beschreibungen konzentriere ich mich auf den Zusammenhang zwischen den im Verlauf der Trainingseinheit zunehmenden korrektiven Adressierungen des Bundestrainers bei der zweiten Anordnung an einzelne Athleten und ihrer anschließenden Performance beim Steigerungslauf in der ersten Anordnung: Bei der ersten Runde der zweiten Anordnung auf den Matten lassen sich nur wenige Adressierungen des Bundestrainers an einzelne Athleten beobachten, wobei der Bundestrainer die Art der Adressierung von Übung zu Übung verändert: Die Athleten sollen zunächst mit Liegestütz beginnen.8 Bereits bei dieser ersten Übung lassen sich deutliche Unterschiede in den Ausführungen der Athleten erkennen (s. Abb. 42). Vor allem Niklas‘ (zweiter Athlet von rechts) Körper bildet bei dieser Übung keine gerade Linie. Stattdessen ragt der Po durchgehend nach oben. Auch senkt er seinen Körper nicht so tief wie die anderen und führt die Bewegung nicht fließend, sondern ruckartig mit Pausen am höchsten Punkt aus. Immer wieder lässt sich beobachten, wie er zu den anderen Athleten schaut. Diese hingegen richten den Blick nach unten und schaffen es für den Großteil der Zeit die Bewegung ‚sauber‘ auszuführen. Der Bundestrainer behält seine Position mittig vor den Athleten bei und teilt ihnen im zehn Sekundentakt die verbleibende Zeit mit. Der Bundestrainer richtet den Blick auf Niklas. Dieser führt die Bewegung immer ruckartiger aus, und pausiert oben immer länger. Der Bundestrainer äußert: „macht immer weiter, immer weiter, versucht immer weiter zu machen.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
8
Im Idealfall sollen Oberkörper und Beine hierbei durchgehend eine gerade Linie bilden, und durch Anwinkeln und Strecken der Arme, der Körper bis auf wenige Zentimeter über den Boden abgesenkt und wieder in einer Linie angehoben werden.
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Abb. 42: Zweite Anordnung. Unterschiedliche Ausführung von Liegestütz
Bei dieser ersten Bewegungsausführung kommentiert der Bundestrainer die Ausführungen nur mit einer allgemeinen Ansage, ohne namentlich einzelne Athleten zu adressieren oder seine Position zu verändern. Durch die in der Übung vorgesehene Blickrichtung nach unten sind Adressierungen des Bundestrainers an die Athleten durch Blickkontakt bei ‚korrekter‘ Bewegungsausführung nicht möglich. Bereits bei der zweiten Übung, zu der der Trainer ohne Pause überleitet, beginnt er einzelne Athleten spezifischer zu adressieren: Die Athleten sollen im Unteramstütz jeweils fünf Mal das rechte und dann fünf Mal das linke Bein seitlich an den Oberkörper heranziehen. Beim Unterarmstütz, bei dem der Körper wie beim Liegestütz im Idealfall eine Linie bilden soll, wird erneut offensichtlich, dass Niklas als einziger von Beginn an, von dieser Idealausführung abweicht. Erneut ragt der Po noch oben, so dass der Körper eher einen ‚Hügel‘ als eine gerade Linie bildet. Nach einem kurzen Blick auf Niklas, nähert sich der Bundestrainer seiner Matte und äußert direkt: „Nicht den Hintern nach oben strecken, versucht eine Linie-“ Niklas senkt den Po ein wenig ab, hebt diesen jedoch beim nächsten Beinwechsel sofort wieder auf die vorherige Höhe. Christian, der Athlet rechts von ihm, gelingt zwar die Linienbildung, jedoch zieht er jede Seite jeweils nur einmal an den Oberkörper und wechselt nicht erst nach fünf Malen. Als der Trainer dies sieht, nähert er sich seiner Matte und wiederholt mehrfach und immer langsamer werdend: „Fünf Mal links, fünf Mal rechts“. Nach drei Malen blickt Christian kurz zu ihm auf, so dass die beiden Blickkontakt haben, und fängt nun an, die vorgesehene Anzahl an Wiederholungen pro Seite durchzuführen. Erst dann entfernt sich der Bundestrainer von seiner Matte, blickt erneut zu Niklas, dessen Körper immer noch keine Linie bildet und adressiert ihn nun namentlich: „Hintern unten lassen Niklas.“ Dieser blickt kurz auf zum Trainer, korrigiert seine Ausführung wieder bis zum nächsten Beinwechsel und nimmt dann wieder die ‚falsche‘ Körperhaltung ein. Der Bundestrainer nähert sich nun wieder seiner Matte und adressiert ihn nochmals zusätzlich verbal: „Oberkörper eine Linie und das Bein seitlich Niklas“. Die Athleten rechts und links von
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ihm schauen jeweils kurz zu ihm, er selbst versucht die Ausführung zu korrigieren, verfällt jedoch nach wenigen Sekunden wieder in die ‚falsche’ Ausführungsform. Der Trainer schaut kurz auf die Stoppuhr: „Noch 5 Sekunden (5) und stopp. Rückenlage. Rückenlage. Käfer. 60 Sekunden. Fertig und Los!“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Während der zweiten Übung ändert der Bundestrainer seine Adressierungsweisen. Anders als zuvor ist nun durch die Kombination aus Äußerung und Positionsveränderung der jeweilige Adressat ersichtlicher, da die Positionsveränderung des Bundestrainers selbst bei nach unten gerichtetem Blick wahrzunehmen ist. Athleten, denen ihre Bewegungsausführung reflexiv zugänglich ist, können diese zudem mit den geäußerten Korrekturen abgleichen und somit auch auf diesem Wege überprüfen, ob sie vom Bundestrainer adressiert werden. So lässt sich bei den beiden ganz links positionierten Athleten, Hilko und Martin, die die Bewegungen durchgehend dem Ideal annähernd ausführen, kein einziges Stocken in den Bewegungen oder Aufblicken beobachten. Christian und Niklas, die beiden Athleten ganz rechts hingegen, scheinen zunächst nicht zu bemerken, dass sie jeweils vom Trainer adressiert werden. Während bei Christian schließlich die wiederholte verbale Adressierung in Kombination mit der Positionierung vor ihm zur dauerhaften Korrektur der Bewegungsausführung führt, setzt Niklas die Korrekturen selbst bei zusätzlicher namentlicher Adressierung nicht dauerhaft um, sondern verfällt immer wieder in die falsche Ausführungsform, was von den Trainern nicht als Nichtwahrnehmung der Adressierung oder Verweigerung der – deutlich anstrengenderen – korrekten Ausführung, sondern als Folge mangelnder Kraft zur Ausführung, wie auch als fehlende Reflexivität bezüglich dieser gedeutet wird: „Normalerweise sollte er eine Bank machen, wo er einigermaßen gerade ist, aber der ist ja – (lacht). Er hat gar kein Gefühl für seinen Körper. Ihm fehlt die Kraft aber auch. Wie bei der Technik. Ich kann mich ja nur stützen, wenn ich die Kraft auch habe.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Die bereits im zweiten Arrangement angewandten Deutungsmuster bezüglich Niklas‘ Ausführungen werden vom Trainer auf die Beobachtungen im dritten Arrangement übertragen und somit auch die vorherigen Zuschreibungen wie mangelnde Kraft als Erklärung für die falsche Ausführung wiederholt. Bei der dritten Übung, dem sogenannten Käfer, sollen die Athleten in Rückenlage im Wechsel gleichzeitig die entgegengesetzten Arme und Beine strecken. Während erneut Hilko und Martin (die beiden Athleten ganz links) die Übung dem Ideal entsprechend aus-
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führen, weicht dieses Mal Patrick (Athlet in der Mitte) besonders stark davon ab: statt die Arme in einer fließenden Bewegung von über Kopf gerade ausgestreckt bis neben dem Körper auf der Matte liegend zu bewegen, macht er nur kleine, abgehackte Bewegungen senkrecht über der Brust, was durch die Reaktionen der Heimtrainer*innen nacheinander die Aufmerksamkeit der restlichen Teilnehmenden auf sich zieht:
Patrick: macht kleine abgehackte Armbewegungen Heimtrainer 1: zeigt auf Patrick, blickt kurz zu den anderen Heitrainer*innen, lacht Restliche HT: schauen zu Patrick, lachen Bundestrainer:
Arme lang, Arme lang Schaut zu HT und Patrick, geht zu Patrick, führt seinen Arm Patrick: korrigiert die Bewegung Restliche Athleten: schauen zu Patrick (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Abb. 43: körperliche Korrekturen bei der Bewegungsausführung
Durch das Zeigen und Lachen eines der Heimtrainer*innen, in welches die Restlichen einstimmen, bringen sich die Heimtrainer*innen in der dritten Übung, unabhängig von ihrer Sichtbarkeit für die Athleten, deren Blick von ihnen abgewandt ist, als wertende Beobachter*innen ins Spiel. Ihr Lachen lenkt die Aufmerksamkeit aller zunächst auf sie und durch das Zeigen und Blicken auf Patrick. Wie im fünften Arrangement beim Tanzen wird eine panoptische Anordnung geschaffen (vgl. Foucault 1994a: 256f.), durch die die (einzelnen) Athleten im Fokus der Beobachtenden stehen. Wird die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Athleten gelenkt, werden die anderen jeweils nicht adressierten Athleten ebenfalls zu Beobachtern, was sie kurzzeitig bei der Ausführung entlastet, da der Fokus auf jemand anderem liegt, ihnen jedoch gleichzeitig vergegenwärtigt, wie schnell jeder Einzelne ins Zentrum der Beobachtung rücken kann.
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Des Weiteren zeigt die Analyse des Beispiels, dass der Bundestrainer nun noch mehr Adressierungsarten miteinander verknüpft: Er adressiert einzelne Athleten nun nicht mehr nur durch verbale Äußerungen und Veränderung seiner Position, sondern zusätzlich durch körperliche ‚Manipulation‘, bei der er den jeweiligen Athleten in die richtige Bewegung führt. Die korrektiven Adressierungen implizieren eine Bewertung der gezeigten Bewegungsausführung als defizitär und sind für alle anderen sichtbar. Wie das dritte Beispiel zudem zeigt, wird eine zu stark vom Ideal abweichende Bewegungsausführung den Athleten schließlich nicht nur durch Adressierungen des Bundestrainers, sondern aller restlichen Teilnehmenden in den verschiedenen Formen: Blicken, Lachen, korrektiven Äußerungen und/oder körperlichen Manipulationen zurückgemeldet. Der Spielraum der Athleten, sich in diesem Arrangement positiv hervorzuheben, ist durch ihre Positionierung auf den Matten, die Festlegung der Übung, wie auch die Dauer der Ausführung sehr gering. Können sie die jeweilige Übung nicht oder nicht durchgehend korrekt ausführen, werden sie vom Bundestrainer sofort für alle anderen sichtbar bzw. hörbar korrektiv adressiert. Bei diesem ersten Durchgang sind es die drei rechts platzierten Athleten, Niklas, Patrick und Christian, die vom Bundestrainer bzw. den Heimtrainer*innen adressiert werden. Noch während der letzten Sekunden der dritten Übung kündigt der Bundestrainer bereits den unmittelbar anschließenden Steigerungslauf über zwei Hallenrunden an, mit dem ein Wechsel in die erste Anordnung einhergeht. Die Ankündigung wird von den Athleten zunächst nicht als Aufforderung, sich direkt von den Matten zu erheben und loszulaufen, interpretiert. Erst nach wiederholten verbalen Adressierungen wie „los geht‘s“, „ausruhen könnt Ihr Euch später im Bett!“ stehen alle Athleten auf und fangen langsam an, hintereinander loszutraben, wobei sie zunächst in der Reihenfolge laufen, in der sie auf den Matten lagen. Die Unzufriedenheit damit macht der Bundestrainer durch weitere Adressierungen deutlich wie einem lauten und schnellen in die Hände Klatschen, begleitet von Ausrufen wie „das ist zu langsam!“, „nach vorne Druck machen“ und schließlich der Aufforderung zum Überholen: „Wenn der Vordermann zu langsam ist, könnt Ihr auch einfach überholen! Kein Problem!“. Während die Athleten die Aufgabe in der gegebenen Anordnung zunächst als eine nacheinander zu bewältigende interpretieren und nur langsam lostraben, verändert sich die Rahmung der Übung durch die Adressierungen des Bundestrainers und die Reaktionen der Athleten darauf. Aus der zeitgleich zu bewältigenden Übung wird ein kompetitiver Lauf. Durch die gegebene Anordnung wird ein unmittelbarer Vergleich der Laufleistungen in Form von ‚schneller/langsamer als die anderen‘ sichtbar, ohne exakte Zeitmessungen zu benötigen. Bzw. wird durch den Verzicht auf eine exakte Zeitmessung die Überprüfbarkeit der unterschiedlichen
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Laufleistungen auf den sichtbaren Abstand zwischen den Athleten und Überholmanöver reduziert. So erhöht Niklas nach der Aussage des Bundestrainers sofort seine Geschwindigkeit und überholt auf der verbleibenden Strecke zwei der drei Athleten. Nachdem Niklas anfängt, das Tempo anzuziehen, legen die anderen nach. Christian, der als letzter losgelaufen war, überholt dieselben Athleten wie Niklas und beendet damit als Dritter die zwei Runden. D.h., zwei der drei Athleten, die in der vorherigen Anordnung mehrfach korrektiv adressiert wurden, reagieren nun als erste auf die Adressierungen des Bundestrainers. Diese Performance kann man als Nutzung des in der Anordnung gegebenen Spielraums interpretieren, um sich positiv hervorzutun, in dem zum einen die Anweisungen des Bundestrainers befolgt und zum anderen die Leistungsunterschiede im Sprinten gezeigt werden. Es folgen drei weitere Wechsel zwischen den beiden Arrangements. Bei den weiteren Malen in der zweiten Anordnung auf den Matten adressiert der Bundestrainer erneut nur die drei Athleten wie bereits in der ersten Runde, wobei er sich zunehmend auf Niklas fokussiert. Immer wieder spricht er ihn mit Namen an, nähert sich seiner Matte und führt ihn durch Berührungen in die vorgesehene Bewegungsausführung (s. Abb. 44), was auch die anderen Athleten wahrnehmen und immer wieder zu Niklas und dem Trainer schauen. Abb. 44: Trainer führt Niklas in die vorgesehene Bewegungsausführung
Als der Bundestrainer nun von den Übungen auf den Matten zur ersten Anordnung, in der der Steigerungslauf stattfindet, überleitet, muss er – anders als in der ersten Runde – nun keine zusätzlichen Adressierungen vornehmen, um den Steigerungslauf kompetitiv zu rahmen, da Niklas sofort aufspringt und bereits sprintend den Steigerungslauf beginnt. Damit ändert er auch von Beginn an die Reihenfolge der Athleten zu den Vorrunden. Ihm folgen zunächst Christian und Pat-
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rick, und somit die vom Bundestrainer auf den Matten adressierten Athleten, wobei Christian Patrick erneut überholt. Die beiden in ihrer Ausführung nicht korrigierten Athleten Hilko und Martin bilden den Schluss. Über die zwei Runden setzt sich Niklas in der Anordnung klar erkennbar immer weiter von dem Rest der Athleten ab und beendet die zweite Runde mit mehr als einer Hallenlänge Vorsprung (s. Abb. 45). Abb. 45: sichtbarer Vorsprung von Niklas vor den anderen Athleten
Wie bereits im ersten Arrangement thematisiert, zeigt sich auch hier, dass die Kopräsenz der anderen Teilnehmenden und die vorhergehenden Leistungen und Adressierungen Einfluss auf die Rahmung der Praxis und die spezifische Performance der Athleten haben (vgl. Allen Collinson 2008; Müller 2014).9 Ohne eine Kommentierung des Steigerungslaufs beendet der Bundestrainer die Trainingseinheit und entlässt die Athleten und Heimtrainer*innen in eine längere Pause. Insgesamt ermöglichen die Beobachtungen der beiden Anordnungen zwar den Nachvollzug der korrektiven und disziplinierenden Adressierungen und die jeweiligen Reaktionen hierauf, jedoch bieten die Beobachtungen allein wenig Anhaltspunkte für die (Be)Wertungslogiken der Trainer. So lässt sich zwar beobachten, wen der Trainer korrektiv adressiert, jedoch nicht, wie diese 9
Während Müller (2014) sich auf die Kopräsenz von konkurrierenden Athlet*innen bezieht und herausstellt, dass in den meisten Sportarten bei Wettkämpfen selbst dann nicht auf Kopräsenz verzichtet wird, wenn diese zum Leistungsvergleich zumindest theoretisch nicht notwendig wäre, untersucht Allen Collinson (2008) autoethnographisch wie sich Sportler*innen beim gemeinsamen Lauf gegenseitig beeinflussen und aufeinander abstimmen. Beiden zufolge ist davon auszugehen, dass durch die Anwesenheit von (konkurrierenden) Athlet*innen die soziale Situation wie auch die Leistung beeinflusst werden.
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Adressierungen zu interpretieren sind. Hierfür waren die videogestützten Interviews aufschlussreich. Diese ergaben zum einen, dass die Übungskonstellation und die verbalen Adressierungen in den Anordnungen bewusst darauf ausgelegt waren, sichtbar zu machen, wie die Athleten auf starke körperliche Belastungen und disziplinierende Adressierungen reagieren, und im Idealfall schneller zu sehen, ob, und wenn ja, wie die Athleten in Drucksituationen körperlich performen: „Da geht‘s im Prinzip erstmal darum zu gucken, wie die Jungs reagieren, wenn man ein bisschen mehr belastet. Wie die das wegstecken, wie sie so drauf sind […]. Das kann man am Anfang relativ schwer einschätzen, deshalb gibt‘s da auch mal ein paar Sprüche, dass die auch mal aus sich rausgehen können. Weil gerade am Anfang ist das auch sehr brav […] und man kriegt überhaupt keine Informationen. Und deshalb sagt man dann auch mal was, damit es auch mal ein bisschen schneller gehen kann.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Damit dienen die Adressierungen des Trainers dem performativen Etablieren von Machtverhältnissen zwischen ihm und den Athleten als auch den Athleten untereinander. Diese machtvollen Adressierungen scheinen konstitutiv für jene Drucksituationen, in der die Athleten zeigen sollen, ob sie stressresistent sind. Zum anderen zeigen die Interviews, dass beide Trainer die schlechte Performance Niklas‘ auf der Matte nicht als fehlendes Engagement, sondern als mangelnde Kraft und Kondition wie auch fehlende Reflexion der Bewegung interpretieren und letztlich positiv werten: „Da fehlt die Kraft. […] Der hatte auch noch nicht ganz genau verstanden, was man jetzt von ihm will. Was andere sofort verstanden haben – und auch da wieder, kann er noch nicht körperlich ansteuern. Da ist einfach noch unheimlich viel Potenzial, was man verbessern kann. Und er war ja Schnellster über 300 Meter vorher schon. Er ist ja als Schnellster dahingekommen.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Hier zeichnet sich eine andere (Be)Wertungslogik als im Tanzen ab. Während die sichtenden Tanztrainer*innen fehlendes Reflexionsvermögen negativ werten (vgl. 3.5), deuten die Leichtathletiktrainer es im Langsprintbereich als Potenzial und werten es daher positiv. Wobei wie bereits im dritten Arrangement die Trainer die Performance nicht isoliert betrachten und werten, sondern sie in Zusammenhang mit der im Vorfeld der Sichtung gestoppten Wettkampfzeit stellen und erst in dieser Kombination zu einer positiven Bewertung kommen. Auch der Bundestrainer bewertet gerade Niklas‘ Performance als besonders positiv. Wobei das videogestützte Interview ergab, dass ihm seine Fokussierung auf Niklas wäh-
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rend der Sichtung nicht bewusst war. So kommentiert er die oben beschriebenen Videoausschnitte folgendermaßen: „Ich steh‘ vorm Niklas hauptsächlich. Weil ich mir den quasi ausgeguckt hab. Erschreckend! Erschreckend. Ja ist so. […] Also er ist zwar auch technisch unfertig, darauf könnte ich‘s jetzt zurückführen, aber nee, ich glaub‘ das ist schon tatsächlich so, dass er derjenige ist, der am auffälligsten war, deshalb kümmert man sich mehr um ihn. […] Da hab‘ ich mich schon festgelegt, wer für mich der Favorit war.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Vor diesem Hintergrund deutet der Trainer auch die Laufleistungen von Niklas beim Steigerungslauf auf spezifische Weise: „[weil er da was] gut machen will, besser machen will als die anderen. Ja dann mal zeigen will, was er gut kann. Rennen.“ (Interviewauszug Trainer 1) Die transsituativen Zusammenhänge bei den (Be)Wertungen werden auch daraus ersichtlich, dass die Trainer beim Kommentieren der einzelnen Videosequenzen auf vorherige und spätere Einheiten verweisen. So kommentiert ein Trainer die Einheit auf der Matte mit einem Verweis auf den folgenden Steigerungslauf: „Niklas ist gleich wieder nur froh, wenn er wieder laufen kann (lacht). Ja da sieht man, das macht ihm Spaß, da fühlt er sich wohl. Da macht er sofort Druck. Da kommen die anderen gar nicht mehr mit, weil das kann er.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Fazit Arrangement 4: Bewertung von Kondition und Durchhaltevermögen Bei den disziplinübergreifenden Einheiten lassen sich zwei sich mehrfach abwechselnde Anordnungen unterscheiden, die aufgrund des aufgezeigten transsituativen Zusammenhangs zwischen korrektiven Adressierungen des Bundestrainers und den Techniken des Sich-Sichtbarmachens der Athleten zusammenhängend thematisiert wurden. Beim chronologisch gesehen zweiten Arrangement liegt eine panoptische Anordnung vor, bei der die auf Matten platzierten Athleten von allen Seiten beobachtet werden. Die Trainer ziehen hierbei Rückschlüsse auf die für sie als wichtig erachteten Merkmale: Koordination, Reflexion der eigenen Bewegungsausführung, körperliche Kondition und das generelle Durchhaltevermögen („wie die Athleten so drauf sind“ und „mit Belastungen umgehen“). Ähnlich wie bei Wettkampfbeobachtungen ermöglichen beide Anordnungen zwar einen unmittelbaren Vergleich zwischen den Athleten, da die Athleten die Übungen gleichzeitig ausführen, jedoch ziehen die Trainer diesen nur beim Steigerungslauf. Bei der zweiten Anordnung auf den Matten hingegen, beobach-
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ten sie die Athleten individuell, ohne auf die jeweils anderen Athleten in ihren Einschätzungen zu verweisen. Während die Koordination und die Reflexion der Bewegungsausführung bereits beim ersten Durchgang auf den Matten sichtbar werden, bedarf es mehrfacher Wiederholungen, um die Kondition und auch das Durchhaltevermögen sichtbar zu machen und zu bewerten. Werden die Übungen auf den Matten von den Athleten dem Ideal des Trainers entsprechend ausgeführt, geht dies mit einem eingeschränkten Sichtfeld der Athleten einher. Dies wiederum hat Auswirkungen auf die Adressierungsarten des Bundestrainers, da seine verbalen Korrekturen ohne namentliche Spezifizierung keinem Adressaten zugeordnet werden können und damit teils unbeantwortet bleiben. Im Verlauf der Einheit lassen sich bei dieser Anordnung quantitative wie auch qualitative Veränderungen der Adressierungen feststellen: Neben verbalen Äußerungen geht der Trainer immer häufiger dazu über, den jeweiligen Athleten zusätzlich durch Positionswechsel wie auch körperliche ‚Manipulation‘ korrektiv zu adressieren, und damit in die von ihm als richtig angesehene Bewegungsausführung zu führen. Da es das erste sportspezifische Arrangement in der Sichtung ist, in dem der Bundestrainer eine anleitende Funktion übernimmt, werden zudem durch die (Re)Adressierungen die Positionen zwischen den Teilnehmenden(gruppen) verhandelt und etabliert. In der zweiten Anordnung machen bereits die räumlichen Positionierungen und damit einhergehenden Bewegungsspielräume Hierarchien deutlich. Während die Athleten sich liegend auf den Matten platzieren und auf diese wortwörtlich festgelegt sind, steht der Trainer über ihnen und kann sich frei bewegen. Er diktiert die Aufgaben, wie auch die jeweilige Dauer unter Zuhilfenahme der Stoppuhr und nimmt dadurch eine zentrale und machtvolle Position in dieser Anordnung ein. Seine multimodalen Adressierungen unterstreichen den sozialen Abstand zwischen ihm und den Athleten. Indem die Athleten seine wiederholten korrektiven und disziplinierenden Adressierungen annehmen, erkennen sie ihn als kompetenten Mitspieler an, der nicht nur bestimmt was – welche Übungen und Bewegungen – sondern auch wie sie diese ausführen (sollen). Zudem schafft die Kombination aus Anordnungswechsel, Übungsabfolge und den Adressierungen des Trainers gleichzeitig einen kompetitiven Rahmen, der zum ersten Mal in der Sichtung die sonst als Gruppe adressierten Athleten in einen unmittelbaren Vergleich zueinander treten, und sie selbst – durch die Annahme dieser Adressierungen – die sozialen Abstände auch untereinander verhandeln lässt. Auf den Matten können die Athleten sich das erste Mal durch die gleichzeitige Ausführung und die währenddessen stattfindenden Korrekturen bei der Bewegungsausführung beobachten und mit den Athleten neben sich abgleichen. Durch die Adressierungen des Bundestrainers nehmen sie zudem wahr,
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wer bei den Ausführungen korrigiert wird. Die Anordnung beim Steigerungslauf lässt Spielraum für unterschiedliche Rahmungen. Anders als bei Wettkämpfen erfolgt kein Startsignal und es finden keine Zeitmessungen statt. So wird der Steigerungslauf beim ersten Durchgang von den Athleten zunächst nicht als Wettkampf gerahmt. Erst nach den entsprechenden Adressierungen des Bundestrainers („Ihr könnt ruhig überholen“) legen sie den Lauf kompetitiv aus. Da die einzelnen Zeiten nicht gestoppt werden, wird der Vergleich zwischen den Athleten in der Anordnung auf die binäre Codierung: schneller/langsamer reduziert. Hierbei zeigen die Analysen, dass vor allem die Athleten die kompetitive Rahmung an- bzw. vornehmen, die in der zweiten Anordnung korrigiert und damit in ihrer Ausführung als defizitär adressiert wurden. Die Demonstration der TrainerMacht scheint damit auch konstitutiv für das Erzeugen jener Druck- und Konkurrenzsituation zu sein. Nur einer der auf den Matten korrigierten Athleten folgt der Aufforderung zum Überholen nicht und wird selbst überholt. Bei ihm kommen die Trainer zu der Einschätzung, dass er für die Disziplin 400m nicht geeignet sei. Auch die beiden Athleten, die auf den Matten die vom Trainer gewünschten Ausführungsformen nahe kommen, setzen bei den Läufen nicht zum Überholen an. Sie werden von den Trainern in diesem Arrangement wenig beachtet und auch in den videogestützten Interviews kaum thematisiert. Durch die vom Trainer diktierten Übungen und Ausführungsformen, wie auch die zeitlich enge Taktung sind die Spielräume der Athleten, sich positiv hervorzutun, stark begrenzt. Gelingt es ihnen nicht, den Anweisungen des Bundestrainers in der einen Anordnung zu folgen, scheinen sie dies mit einer besonders guten Performance in der jeweils anderen Anordnung ausgleichen zu wollen. Ähnlich deuten die Trainer die Szenen und setzen die Performances der Athleten in beiden Anordnungen zueinander ins Verhältnis. Beim Bundestrainer lässt sich eine zunehmende Fokussierung über die Anordnungswechsel hinaus auf den Athleten Niklas beobachten, der zwar auf den Matten weiterhin die Übungen defizitär ausführt, sich dafür bei den Läufen von Mal zu Mal weiter steigert und sich sichtbar von den anderen Athleten absetzt. Bei der (Be)Wertung der Leistung verwenden beide Trainer dieselben Deutungsmuster wie bereits im dritten Arrangement. Die defizitäre Leistung (auf den Matten) werten sie als Indikator für mangelnde Kraft und fehlende Reflexionsfähigkeit. In Kombination mit der im Vorfeld der Sichtung erbrachten Wettkampfleistung, wie auch der Leistung beim Steigerungslauf bewerten sie dies jedoch als das größte Potenzial. Da der Bundestrainer nur korrektive und disziplinierende Adressierungen vornimmt, werden den Athleten diese Einschätzungen nicht zurückgemeldet, so dass sie weiterhin keine Einblicke in die (Be)Wertungslogik der Trainer erhalten.
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4.5 ARRANGEMENT ‚EINZELGESPRÄCHE‘ Neben den Einheiten in der Sporthalle ist es Teil der Sichtung, dass die beiden sichtenden Trainer die Athleten jeweils einzeln mit ihren Heimtrainer*innen interviewen. Über die Interviews hofft der Bundestrainer „rauszufinden, was die Athleten wollen“ (Interviewauszug Trainer 1). Die Beteiligten nehmen für die Gespräche an einem Tisch in einem Seminarraum Platz. Der jeweilige Athlet sitzt dem Bundestrainer gegenüber, neben dem Co-Trainer, während der*die Heimtrainer*in neben dem Bundestrainer oder neben dem Athleten Platz nimmt (s. Abb. 46). Abb. 46a-b: Anordnungen bei den Einzelgesprächen
Der Bundestrainer stellt den Athleten jeweils dieselben Fragen, die sich auf die sportliche Laufbahn, die schulischen Leistungen, den gesundheitlichen Zustand und die jeweiligen Zielsetzungen beziehen. Die Antworten notiert er in seinem Laptop, der für die anderen Teilnehmenden durch die Anordnung nicht einsehbar ist. Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Ausschnitte, in denen die Zielperspektiven erfragt werden. Wie bereits geschrieben, liegt bei den Athleten die Besonderheit vor, dass sie aufgrund der Altersklasse bisher bei Wettkämpfen keine 400m gelaufen sind, sondern maximal 300m. D.h., sie sind mit der Distanz, für die die Trainer sichten, nicht vertraut. Dies spiegelt sich auch in den Antworten der meisten Athleten wider, da nur Niklas, der bisherige Favorit der sichtenden Trainer, als Ziel den Endlauf bei den Deutschen Meisterschaften in der Disziplin 400m angibt. Alle anderen können ihre favorisierte Distanz noch nicht benennen, wobei ihr Umgang mit dieser Unsicherheit, wie auch die Reaktionen der restlichen Teilnehmenden variieren. Ich gehe nacheinander auf die formulierten Zielsetzungen einiger Athleten ein, an denen ich zum einen zeige, wie die sichtenden Trainer die beiden Talentmerkmale Zielperspektive und Selbstständigkeit für sich sichtbar und bewertbar machen und anhand der vor-
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hergehenden Bewertungen der Athleten beurteilen. Zum anderen arbeite ich die Bedeutsamkeit der Heimtrainer*innen heraus: Bundestrainer (BT): „Was hast‘ denn für Ziele nächstes Jahr?“ Hilko (H): „Also ich wollte auf die Deutschen Meisterschaften fahren, gehen.“ BT: (tippt in seinen Laptop) „Kann ja jeder hinfahren, kein Problem.“ H:
„Also mitmachen auf jeden Fall. Und dort versuchen den Endlauf zu erreichen“
BT: (tippt in seinen Laptop ohne aufzuschauen) „Welche Strecke?“ H:
„Ja also so 200 Meter, 400 Meter sowas.“
BT: „Beides!?“ H:
„--- Ja schon. - Beides schon gerne. Und natürlich über die 110m Hürden.“
BT: (Schaut zu Hilko) „Auch noch!?“ H:
(lacht) „Ja. [undeutlich] darauf hatte ich am meisten gehofft, da wollte ich am meisten reißen.“
Der Heimtrainer (HT) blickt zwischen Hilko und dem Bundestrainer hin und her, wippt mit dem Oberkörper nach vorne und rutscht auf seinem Stuhl herum. Er meldet sich kurz, streckt die Arme nach oben, lacht und schaut wieder zu Hilko. BT: „Ist das realistisch?“ H:
„Nee. Aber trotzdem, ich mag‘s machen. Schaffen.“
BT: „Okay. Jetzt hast du für alle drei die Quali, für alle drei Strecken, was machst Du dann?“ H:
„Dann such ich‘s mir an dem Tag aus.“
Heimtrainer lacht und schaut zum Bundestrainer. Der Bundestrainer richtet den Blick weiter auf Hilko. BT: „An dem Tag.“ H:
„Ja an dem Tag. Ich kann einfach alle drei melden und für das ich mich grad so perfekt fühle, das mach ich einfach.“
BT: „Nachdem Du morgens aufgestanden bist und-“ H:
„Ganz genau. Kennen Sie das nicht? Wenn Sie so einen perfekten Tag haben und wissen genau, was Sie machen wollen? Also ich hab‘ das voll oft.“
Der Heimtrainer lacht, dreht sich zum Bundestrainer HT: „Ab wann darf ich Veto einlegen?“ BT: (schaut kurz zum Heimtrainer) „Immer, immer.“ HT: „Ich wollt‘ jetzt ihn erstmal nur reden lassen.“ BT: „Jaja.“ (schaut Hilko an)
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HT: „Ich lass jetzt erstmal nur ihn-.“ BT: (schaut weiter Hilko an) „Okay. (-) Toll! (-) Gut. Und was biste? Biste ein Kurzhürdler? Bist Du ein Kurzsprinter oder biste ein Langsprinter? Was denkste?“ H:
„Weiß ich nicht.“
BT: „Weißte noch nicht.“ H:
„Lange Strecken sind so anstrengend. Aber ja kurze Strecken kann ich schon überstehen.“
BT: „Okay.“ HT: „[undeutlich] nach diesem Länderkampf [Name des Wettkampfs] war ganz interessant. Da ist er die 300 Meter ja auch gelaufen und dann wo er im Ziel war und das fand ich ‘ne interessante Aussage, sagte er, hätt´ ich noch 100 Meter weiterlaufen können. Das hat mir so ein bisschen gezeigt, ich denke mal, er KANN die 400 Meter laufen (--) auch.“ BT: „Ja ja (--) können und wollen sind dann halt verschiedene Paar Schuhe.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Die gegebene Anordnung, bei der der Bundestrainer alleine allen anderen gegenüber sitzt und sich somit der Fokus der anderen Teilnehmenden auf ihn richtet (vgl. Abb. 46b), legt bereits nahe, dass er die Gesprächsführung übernimmt. Der etwas abseits platzierte Co-Trainer fungiert als stiller Beobachter, der während der Szene nicht in Erscheinung tritt. Durch das sozio-materielle Arrangement – den zwischen Bundestrainer und dem Rest der Teilnehmenden platzierten Tisch, den für die anderen nicht einsehbaren Laptop, in den der Bundestrainer die Aussagen des Athleten eintippt, wie auch die Art der Gesprächsführung bei der der Bundestrainer bspw. aufgrund der Wortwahl („Kann ja jeder hinfahren [zu den Deutschen Meisterschaften] kein Problem“) nachhakt, wird der Fokus auf das Gesprochene gelegt und die Situation spürbar förmlich gerahmt. Bei der Zielsetzung fragt der Bundestrainer nicht allein die Disziplin ab, sondern eine darüberhinausgehende Identifikation mit dieser („Und was biste? Biste ein Kurzhürdler? Bist Du ein Kurzsprinter oder biste ein Langsprinter?“), was der Athlet Hilko mit der Aussage beantwortet, lange Strecken seien anstrengend. Im Gesprächsverlauf versucht der Bundestrainer die Antworten des Athleten immer wieder zu lenken, indem er bspw. die Aussagen hinterfragt bzw. fragend wiederholt („ist das realistisch?“ „An dem Tag – nachdem Du aufgestanden bist-“). Im Kontrast zu den meisten anderen Gesprächsverläufen (s.u.) ist auffällig, dass Hilko seine Aussagen trotz Lenkungsversuche durch den Heimtrainer und Bundestrainer („Beides?!“; „Ist das realistisch?“) nicht ändert. Die Reaktionen des Heimtrainers (sein zwischen Athlet und Bundestrainer hin und her schweifender Blick, das Herumrutschen auf dem Stuhl, das Lachen nach einigen Antworten
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des Athleten und schließlich die Äußerung: „Ab wann darf ich Veto einlegen?“) lassen auf eine Diskrepanz zwischen seiner und der Zielsetzung des Athleten schließen. Trotz der Bestätigung des Bundestrainers, dass er jederzeit einschreiten dürfe, hält er sich jedoch vorerst zurück und lässt zunächst den Athleten für sich sprechen. Erst zum Schluss versucht er die Aussagen von Hilko durch seine Beobachtung zu negieren, dass Hilko in der Vergangenheit nach 300m noch hätte weiterlaufen können. Durch die Aussage, dass zwischen können und wollen zu unterscheiden sei, lässt sich bereits eine negative Bewertung durch den Bundestrainer vermuten, was die videogestützten Interviews bestätigen: „Die [anderen Athleten] sagen nicht, die wollen zu den Deutschen Meisterschaften, das ist ‘ne Selbstverständlichkeit! […] Also die Zielstrebigkeit hat mir da gefehlt, die man mit Sicherheit braucht, um egal in welcher Disziplin erfolgreich zu sein. Ja also der Trainer hätte das ganz gern gewollt (lacht), aber der Athlet nicht unbedingt. Der Trainer wär‘s gelaufen, aber (lacht). Spätestens nach der Aussage, dass er sich eigentlich nach dem Aufstehen--- für die 400 hab‘ ich ihn spätestens ab dem Moment nicht mehr gesehen.“ (Interviewauszug Trainer 1) „Ja, bei manchen merken Sie, dass Sie an die nie rankommen. An einen Hilko, das glaub‘ ich nicht, der wird immer so‘n Spaßtyp sein, den werden Sie nie -- Der wird ganz schnell, wenn irgendwas nicht klappt, dann mach ich die andere Disziplin. Dann mach ich das wieder. Der wird ganz schnell springen. Der ist da nicht konsequent genug.“ (Interviewauszug Trainer 2)
Die sichtenden Trainer sehen Zielstrebigkeit als Merkmal an, ohne die ein längerfristiger Erfolg nicht möglich sei. Diese sprechen sie Hilko aufgrund der fehlenden Fokussierung auf eine Disziplin ab und interpretieren seine Aussagen als Anzeichen für eine generelle ‚Sprunghaftigkeit‘ des „Spaßtypen“. Im Kontrast zu der im ersten Arrangement geforderten Autonomie der Athleten gegenüber den Heimtrainer*innen deutet die Aussage von Trainer 2 darauf hin, dass diese nicht uneingeschränkt gewünscht sei. So formuliert er als Kritikpunkt neben der fehlenden Zielstrebigkeit, dass man an ihn ‚nie rankomme‘ („den werden Sie nie--“). Demnach zeichnet sich Talent für die sichtenden Trainer u.a. durch ein spezifisches Maß an Autonomie der Athleten aus, welches jedoch eine Einflussnahme von außen auf bspw. die Zielsetzung erlaubt. Wie der folgende Auszug zeigt, variiert die Einflussnahme der Heimtrainer*innen und der sichtenden Trainer in den Gesprächsverläufen:
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Bundestrainer (BT): „Darf ich bei Deinen Zielen einhaken?“ Patrick (P): „Mh“ BT: „Deutsche Jugendmeisterschaften sagst Du wäre ein tolles Ziel, das zu schaffen, okay. Und da hast [undeutlich] dann gesagt 200m eventuell.“ P:
„Da muss ich einfach gucken, wie es sich entwickelt.“ schüttelt leicht den Kopf, zuckt mit den Schultern und schaut zu seiner Heimtrainerin
BT: „WO entwickelt sich WAS? Wo siehst Du-?“ hebt die Hände HT: „Ja sprich ruhig, wobei beim Sprint ja das große Defizit ist fasst sich mit den Händen ins Gesicht schaut zum Bundestrainer P: schaut zu seiner Heimtrainerin HT: „Wenn ich das jetzt vergleiche mit den anderen Jungs, die wesentlich bessere Sprintzeiten haben, dass man da erstmal dran arbeiten muss. Dass das hauptsächlich besser wird.“ HT: „Dass Du Dich da verbesserst, ne?“ schaut kurz zu Patrick und wendet den Blick wieder zum Bundestrainer BT: „Also Du kommst zu den Deutschen Meisterschaften in welcher Disziplin?“ schaut zu Patrick HT: lacht P:
„Also ich komm zu den Deutschen Meisterschaften“ lacht
Alle vier fangen gleichzeitig an zu reden, wodurch das Gesprochene undeutlich ist, die Heimtrainerin redet mit dem Bundestrainer, der Co-Trainer mit dem Athleten. Co-Trainer: „Du musst ja jetzt nicht 400m laufen, Du kannst auch sagen ich möcht jetzt 200m Einzellaufen.“ P:
„Das ist auch das, was ich am Überlegen bin. Ob dann 200 oder 400. Also persönlich lauf ich die 200 lieber (schaut zu seiner Heimtrainerin) wobei ich wahrscheinlich über die 400 besser bin.“
BT: „Ich will Dich jetzt nicht in ‘ne Richtung drängen, dass Du jetzt sagst ich will 400m laufen. Der [Name erfolgreicher 400m Leichtathlet] ist bei den Deutschen auch nur 400 Hürden im Vorlauf gerannt um ‘ne gute Zeit zu rennen und es hat gereicht, um ihn dann bei der Europameisterschaft einsetzen zu können. Das kann auch ein Weg sein. Also es sollte eigentlich auch so sein, dass erstmal der Sprint im Vordergrund steht. Aber im Hinterkopf sollte sein, ich bin ein 400m Läufer irgendwann mal.“ HT: schaut Patrick an und nickt P: nickt BT: „Wenn du im Kurzsprint meinetwegen gut wärst, kommen sofort die Kollegen und sagen den wollen wir für den Kurzsprint haben. Dann ziehen wir den Kürzeren. Wir
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wollen ja auch schnellere Leute haben. Da stellt sich für mich die Frage: Siehst Du Dich irgendwann als 400m Läufer? Auf dem Weg dahin, klar, erste Deutsche Meisterschaft 100, 200 vielleicht noch Staffel, super. Einmal im Jahr ne 400 gerannt zu sein, vielleicht auch zweimal. Mehr muss nicht sein.“ P:
„Also nee, jetzt hab‘ ich die Frage auch richtig verstanden. Also 400 wären dann doch schon das Ziel. Über die 200 dann erstmal dahin entwickeln zu den 400. Ich war jetzt nur ein bisschen-“
HT: „Ja“ BT:
„Wenn ein Kollege kommt, dann sagst Du, Du bist schon für die 400 gebucht.“ tippt an seinem Laptop zeigt mit dem Zeigefinger auf Patrick, lacht
(Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Die Heimtrainerin und der Bundestrainer dominieren den Gesprächsverlauf. Auch wenn der Bundestrainer betont, dass er niemanden zu den 400m drängen möchte, wird anders als bei Hilko, eine offene Meinungsäußerung des Athleten Patrick durch die Anwesenheit der Heimtrainerin, ihre Reaktionen auf seine Antworten wie auch die Aussagen des Bundestrainers selbst erschwert. Patrick schaut bei seinen Antworten immer wieder zu seiner Heimtrainerin, die seine Äußerungen zunächst durch Gesten und Lachen zu bewerten scheint, bis sie kurzzeitig sogar an seiner Stelle antwortet und das Gespräch mit dem Bundestrainer übernimmt. Die Zielsetzung scheint nicht vom Athleten selbst, sondern zumindest in Absprache mit, wenn nicht sogar von der Heimtrainerin bestimmt zu werden. Laut dem Bundestrainer sei jedoch die Festlegung des Zieles durch den Athleten selbst Voraussetzung für Erfolg: „Wer sowas nicht aus freien Stücken macht, der wird‘s NIE gut machen können. Der wird nie Weltklasse werden“ (Interviewauszug Trainer 1). Ohne eine bereits gesetzte Zielperspektivierung auf die Disziplin sei demnach ein langfristiger Erfolg nicht möglich. Anders als in den anderen Athleteninterviews wird die Teilnahme an den Deutschen Meisterschaften von Athlet und Heimtrainerin nicht gesetzt, sondern scheint für beide noch unklar zu sein. Auch tendiert der Athlet zu der 200m Distanz, die ihm mehr Freude bereite, korrigiert seine Aussage jedoch abschließend auf die Zielsetzung der 400m Distanz, mit der Angabe, er hätte die Frage zu Beginn nicht richtig verstanden. Den Gesprächsverlauf deuten beide sichtenden Trainer als Zeichen für mangelndes Engagement bei Patrick: „Aber das war uns ja klar, dass wir zwar einige einladen, aber dass nicht alle diejenigen sind, die für die 400m brennen. […] Neee, bei dem hab‘ ich nicht das Gefühl der will die 400 Meter!“ (Interviewauszug Trainer 1)
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„Also da hab‘ ich nie--- Also der Gedankengang-, er ist ja schon einer der schon guckt, eigentlich lauf‘ ich das lieber, aber da hab‘ ich vielleicht mehr Erfolg. […] Aber irgendwie hab‘ ich da- […] das ist einfach Gefühl“ (Interviewauszug Trainer 2).
Beide Trainer können die genauen Gründe für ihre Einschätzung nicht explizieren und verweisen auf ihr Gefühl. Vergleicht man die Aussagen der Athleten, zeigt sich, dass die Trainer gleiche Aussagen unterschiedlich werten. So äußert auch Christian, dass er noch unsicher bei der Disziplin sei und sich die 200m gut vorstellen könne: Christian (C): „Also ich weiß nicht. Von der 400 her gesehen, weiß ich‘s jetzt überhaupt nicht, weil ich bin ja noch nie 400 gelaufen.“ BT: „Ja.“ C:
„Und ich würde da erstmal meine Zeit abwarten, die ich da lauf. Also erstmal auf jeden Fall reinkommen in das Ganze und was dann wird, das lass ich dann auf mich zukommen.“ […]
BT: „Aber biste unbedingt festgelegt auf 400, oder?“ C:
„Naja, ich weiß nicht, 200 ist denk ich mal auch ganz gut.“
BT: „Mh“ (nickt) C:
„Muss ich mal gucken, inwieweit dann ich bei den Wettkämpfen was mach, oder (schaut zum Heimtrainer). Also ich weiß noch nicht so genau.“
(Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Bei Christian wenden die Trainer jedoch andere Deutungsmuster an als bei Patrick, die auch zu einer anderen Gesamteinschätzung führen: „Ist ein richtig cleverer Junge und das merkt man auch. ‘Ne gewisse Vorsicht noch dabei, aber im Grunde genommen – grundsätzlich ja schon. Aber ich muss erstmal gucken. Wirklich gewusst hat er‘s noch nicht, weil er einfach zu vors- er ist einfach ein vorsichtiger Mensch. […] Der geht da mit dem Kopf ran, aber der wird seinen Weg auch gehen.“ (Interviewauszug Trainer 2) „Auch so ein bisschen ein kopfgesteuerter Athlet, der sich viel Gedanken darum gemacht hat und ja das sehr bewusst gemacht hat.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Beide Athleten äußern zwar gleiche Zielsetzungen bzw. Unsicherheiten bei dieser, jedoch werden die Aussagen von den sichtenden Trainern unterschiedlich gewertet. Dies lässt sich auf die vorhergehenden Bewertungen der Athleten zurückführen: Die sichtenden Trainer schreiben den Athleten Zug um Zug Identitä-
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ten zu, so dass sie ihre Verhaltensweisen den vorherigen Bewertungen entsprechend deuten (vgl. Pille/Alkemeyer 2016: 186). Christian, bei dem sich laut den Trainern in den vorherigen Arrangements Talent abzeichnete, wird als cleverer und kopfgesteuerter Athlet bewertet, der die 400m nur nicht als Ziel benennt, weil er vorsichtig sei. Patrick hingegen, der in den vorherigen Arrangements nicht das gewünschte Durchhaltevermögen zeigte, wird auch bei den Interviews ein mangelndes Engagement für die 400m zugeschrieben, weswegen er nach Einschätzung der Trainer nicht für die Disziplin geeignet sei. Eine ähnliche Verfestigung der in den vorherigen Arrangements zugeschriebenen Identität lässt sich auch beim Gespräch mit Niklas und dessen Deutung durch die Trainer beobachten: Bundestrainer (BT): „Was hast Du denn für ein Ziel nächstes Jahr?“ Niklas (N): „Na in den Endlauf eigentlich schon von den Deutschen zu kommen.“ BT: (schaut auf seinen Laptop und tippt) „Über welche Strecke?“ N:
„400“
BT: „Warum?“ N:
lächelt
BT: lächelt Niklas an N:
„Naja weil-“
BT: „Weil wir jetzt hier sitzen und ein 400m Projekt sind“ (lacht) N:
„Nee, weil, es wäre halt schon cool, wenn man sich mit den Besten acht halt aus Deutschland sich messen könnte.“
BT: (nickt ihm zu) „Mh.“ […] BT: „Wenn Du zu Recht sagst, denk ich mal, über 400m möchtest Du in den Endlauf kommen, nur zu! Schaffst Du auch. Klar!“ N:
lächelt
(Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Wie bereits geschrieben ist Niklas der einzige Athlet, der direkt zu Beginn des Gesprächs die 400m als Wunschdisziplin für die Deutsche Meisterschaft benennt und damit die von den sichtenden Trainern gewünschte Antwort gibt. Auch in diesem Arrangement bewerten die Trainer ihn als das größte Talent und deuten seine Aussagen als Indiz für die von ihnen anvisierte Zielstrebigkeit (vgl. Arr.2):
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„Niklas ist von meinem Gefühl so einer, der will einfach nur rennen. Er ist- (zeigt auf Niklas im Video) pff 400 Meter, da geht‘s hin. Das sieht man auch. Der würde am liebstenbin ja jetzt fertig, kann ich ja jetzt gehen. Aber auch gar nicht böse gemeint, der ist einfach- bloß kein Wort zu viel. Aber wenn er sich für was entschieden hat, dann ist er sehr konsequent.“ (Interviewauszug Trainer 2) „Was er da sagt: ja klar 400! Was fragst denn so? Also da war für mich auch schon klar, dass der in die Richtung unbedingt drängt und will. Und Endlauf Teilnahme, ja, klar wollte der mehr, das macht man beim ersten Gespräch, dann läuft da noch ‘ne Kamera, dann sagt man nicht man will Deutscher Meister werden, aber das war von Anfang an sein Plan.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Niklas wird von den Trainern als das wortkarge, zielstrebige Talent gedeutet, welches von Beginn an nicht nur den Endlauf über die 400m erreichen, sondern auch gewinnen wollte, was er jedoch aufgrund der sozio-materiellen Anordnung nicht äußere. Die Trainer bewerten demnach nicht nur das Gesagte, sondern imaginieren und deuten auch das nicht Gesagte anschließend an die vorhergehenden Eindrücke: Wie bereits im vierten Arrangement sehen die Trainer Niklas nicht nur als schnell an, sondern schreiben ihm eine Engagiertheit zu, so dass er sich nicht aus strategischen Gründen für die Disziplin entscheide – wie etwa Patrick, der in den 400m vermutlich größere Erfolge erzielen könne als in den von ihm lieber gelaufenen 200m – sondern auf diese „drängt“ und sie „will“ da er „einfach nur rennen will“. Während in den sportspezifischen Arrangements (3; 4) die sichtenden Trainer Niklas bereits als das größte Talent angesehen, dies ihm gegenüber jedoch nicht transparent gemacht haben, readressiert ihn der Bundestrainer nun als Talent („Nur zu! Schaffst Du auch! Klar!“) als Reaktion auf die von Niklas geäußerte Zielperspektive. Vergleicht man die Formulierungen, mit denen die Trainer die beiden als talentiert bewerteten Athleten Niklas und Christian beschreiben, mit der im ersten Arrangement vom Bundestrainer aufgestellten Typologie von Läufern, fällt auf, dass die Trainer dieselben Adjektive verwenden: So wird Christian als clever, bedacht und vorsichtig bezeichnet, und Niklas als hoch motiviert und konsequent. Einzelne Aussagen der Athleten scheinen bei den Trainern weitere assoziative Zuschreibungen auszulösen, die sich aus Typologien ableiten, die auf vorherigen Erfahrungen basieren. Ähnlich Flecks Überlegungen zum Sehstil werden bei den Athleten beobachtete Einzelheiten als Indizien für eine ‚Talentgestalt‘ gewertet, bei der von der Gestalt abweichendes nicht wahrgenommen wird. So lassen sich auch die unterschiedlichen Bewertungen der gleichen Aussagen bei Christian und Patrick erklären. Vorannahmen der Trainer bezüglich (Nicht-)
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Talent werden in die Praxis eingespielt und machtvoll zur Geltung gebracht, da sie die Bewertungen der Athleten maßgeblich beeinflussen und diese mehr und mehr auf spezifische Identitäten bzw. ‚Läufertypen‘ festlegen. Mitentscheidend für den sportlichen Erfolg sei laut den Trainern zudem, dass Heimtrainer*in und Athlet dasselbe Ziel verfolgen: „Bei [Name Heimtrainer] und Niklas ist das Ziel auch deckungsgleich. […] Wenn die [Heimtrainer*innen] nicht mitmachen wollen, wenn die dagegen sind, dann wird‘s auch nicht funktionieren.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Die Entscheidung, wen der Bundestrainer in den Kader beruft, beruht demnach nicht nur auf den Bewertungen der Athleten, sondern auch auf den Einschätzungen zum*r Heimtrainer*in. Die bereits im ersten Beispiel beobachtete Dominanz der Heimtrainer*innen bei der Gesprächsführung zeichnet sich in den meisten Interviews ab. So antwortet bspw. der Heimtrainer von Martin immer wieder für ihn: BT: „Siehst Du Dich als 400 Meter Läufer irgendwann mal, oder?“ HT: „Das hab‘ ich ihm schon erklärt, wo ich ihn ein Viertel Jahr gehabt hab‘, hab‘ ich ihm gesagt, du bist ein guter 200 und 400m Läufer.“ (Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll)
Bei den Ausschnitten zeichnet sich die Bedeutsamkeit der Heimtrainer*innen ab, die nicht nur die Trainingseinheiten gestalten, sondern auch die Disziplin (mit-)bestimmen. Die Heimtrainer*innen positionieren sich in der Sichtung als machtvolle Mitspieler*innen und werden nicht nur von den Athleten – die in den Gesprächen immer wieder Blickkontakt zu ihren Heimtrainer*innen suchen oder diese für sich antworten lassen – sondern auch von den sichtenden Trainer*innen als solche adressiert. Im videogestützten Interview gibt der Bundestrainer an, dass Heimtrainer*in und Athlet als „Team“ anzusehen seien, da der*die Heimtrainer*in die „absolut wichtigste Bezugsperson für den Athleten“ sei, die im Idealfall „derjenige ist, der das Training vor Ort steuert, der das Training plant, durchführt, der die Sorgen und Nöte des Athleten kennt, der den Athleten meistens schon 3 4 5 Jahre betreut und einfach weiß, was er bisher gemacht hat, wo er hin will und wie der Weg aussieht.“ (Interviewauszug Trainer 1)
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Aufgrund dieser Zuschreibung einer machtvollen Position ist es für die sichtenden Trainer wichtig, sich einen Eindruck der Athleten-Heimtrainer*in Beziehung zu verschaffen, da „bei bestimmten Konstellationen der Heimtrainer der Hemmschuh des Athleten“ (Interviewauszug Trainer 1) sei. Vor diesem Hintergrund lässt sich erklären, warum der Bundestrainer die Athleten mit ihren Heimtrainer*innen zur Sichtung einlädt und sie auch bei den Interviews anwesend sind. Im Hinblick auf die politisch-normative Dimension von Mitspielfähigkeit wird durch den starken Einbezug der Heimtrainer*innen in die Interviews ihre machtvolle Position gestärkt und die im ersten Arrangement geforderte Selbstständigkeit der Athleten erschwert. Diesen Widerspruch zwischen der Anforderung an die Athleten: ihre Zielperspektive selbstständig zu bestimmen und zu äußern und der Dominanz der Heimtrainer*innen bei den Gesprächen und der Zielbestimmung, reflektiert der Bundestrainer beim gemeinsamen Betrachten der Szenen: „Eigentlich wollten wir rausfinden, was die Athleten wollen. Jetzt beim näheren Betrachten ist das der totale Blödsinn, also in dem Sinne, dass die Trainer dabei hocken und sobald der Athlet falsch reagiert aus Sicht der Trainer, sie intervenieren und sagen: ‚Halt! Moment! Wir wollen schon 400m deswegen sind wir ja da!‘ Bei allen ist der Trainer so der Dominator, der sagt: ‚Du bist jetzt 400m Läufer!‘ […] Schlechte Konstellation. Das hätten wir mal lieber mit den Athleten allein machen sollen. Das war mehr ein Trainergespräch als ein Athletengespräch.“ (Interviewauszug Trainer 1)
In der Aussage kritisiert der Bundestrainer zwar die Dominanz der Heimtrainer*innen in den Gesprächen, jedoch scheint diese für ihn mit ihrer Anwesenheit einherzugehen. D.h., die Position der Heimtrainer*innen wird vom Bundestrainer per se als dominierend anerkannt, so dass nur durch einen Ausschluss aus dem Arrangement eine Befragung der Athleten möglich sei. Der Bundestrainer kritisiert nicht nur die Dominanz der Heimtrainer*innen, sondern auch seine eigene Lenkung der Gesprächsverläufe auf die 400m: „Und Blödsinn von uns, dass wir ständig dieses ‚ja und irgendwann sind‘s die 400m‘ und so weiter. Der kann ja gar nicht frei entscheiden was er will. Wir setzen den ja schon unter Druck. Was soll er denn sagen? […] Der hat überhaupt nicht offen und frei geredet und war froh, dass andere geredet haben dann, dass WIR hauptsächlich gesprochen haben und er wenig sagen musste.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Zudem äußert der Trainer Kritik an der räumlichen Anordnung:
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„Wenn ich mir angucke, wie wir da hocken: Diese Konstellation der Fragestellung und der Angeklagte. Das ist furchtbar! Also wenn ich da sitzen würde, ich würd denken: ‚Freunde, geht‘s noch?‘ Wie im Verhörraum. […] Ja vielleicht gut gedacht, aber schlecht gemacht.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Durch die Platzierung der Heimtrainer*innen neben dem Bundestrainer bilden die beiden optisch eine Einheit, die zusätzlich durch den Tisch getrennt vom Athleten ist. Der Co-Trainer sitzt zwar auf der Seite des Athleten, hält jedoch Abstand zu diesem und wird in die Gesprächsführungen wenig involviert. Durch die sozio-materielle Anordnung, bei der die Teilnehmenden am Tisch sitzen, wird eine Fokussierung auf Sprache hergestellt. Die Bedeutsamkeit der Athletenaussagen wird zusätzlich durch das Eintippen der Antworten in den – für den Athleten nicht einsehbaren – Laptop unterstrichen, was zudem erneut eine Asymmetrie der Sichtbarkeit erzeugt. Ähnlich wie im Bewertungsarrangement bei der Tanzsichtung (vgl. 3.3.) sehen die Athleten zwar, dass etwas schriftlich festgehalten wird, jedoch haben sie keinen Einblick darin, was genau notiert wird. Die Situation wird durch das sozio-materielle Arrangement formell gerahmt, was in Kombination mit der Dominanz der Heimtrainer*innen und des Bundestrainers den Athleten eine selbstständige Benennung der jeweiligen Zielperspektive erschwert. Fazit Arrangement 5: Bewertung der Zielperspektiven von Athleten und Heimtrainer*innen Im letzten Arrangement der Talentsichtung im Langsprint wird durch die Anordnung, in der die Teilnehmenden um einen Tisch herum verteilt sitzen, der Fokus auf das Gesprochene gelegt, wobei der Bundestrainer auf die genaue Wortwahl achtet und anhand dieser die Zielperspektiven der Athleten schlussfolgert. Allein die Anwesenheit der Heimtrainer*innen bei den Gesprächen deutet bereits auf die Bedeutung hin, die die sichtenden Trainer ihnen zuweisen. Die Heimtrainer*innen positionieren sich in diesem Arrangement zudem selbst als machtvolle Mitspieler*innen, in dem sie sich in den Gesprächsverlauf involvieren und teils sogar für die Athleten antworten. Indem die Athleten und sichtenden Trainer ihre Dominanz akzeptieren, erkennen sie die Heimtrainer*innen auch als Mitspieler*innen an. Durch die räumliche Anordnung wird die Situation förmlich gerahmt und gleicht einer mündlichen Prüfung des Athleten. Diese Rahmung wird zum einen durch die Materialität, wie den zwischen Trainer*innen und Athleten positionierten Tisch und das Eintippen der Antworten in den für den Athleten nicht einsehbaren Laptop, erzeugt. Zum anderen wird der
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Prüfungscharakter der Situation durch das Nachhaken des Bundestrainers bei den Formulierungen, wie auch die bewertenden Gesten und Aussagen der Heimtrainer*innen gestützt. Während die sichtenden Trainer im zweiten Arrangement versuchten, die Athleten auf die Zielperspektive 400m einzustimmen, werden in den Gesprächen nun die Zielperspektiven der Athleten einzeln geprüft. Wie bei der Analyse herausgearbeitet wurde, versuchen die sichtenden Trainer in den Gesprächen nicht nur die Zielsetzungen der Athleten, sondern auch die der Heimtrainer*innen zu bewerten. Zudem sollen die Gespräche den sichtenden Trainern Einblicke in das Verhältnis zwischen Heimtrainer*in und Athlet gewähren, welches sich laut den sichtenden Trainern im Ideal durch eine Selbstständigkeit der Athleten auszeichne, diese jedoch eine Mitbestimmung der Heimtrainer*in miteinschließe. Für die Athleten ergibt sich die Besonderheit, dass sie eine Disziplin als Zielperspektive benennen sollen, die sie (bei Wettkämpfen) noch nicht gelaufen sind. Die Athleten bewältigen diese Anforderung unterschiedlich. Nur ein Athlet, Niklas, der schnellste der Bundeskaderanwärter, der in den vorherigen Arrangements zwar unter den Trainern als Talent bewertet, jedoch von ihnen nur als in seinen Bewegungsausführungen defizitär adressiert wurde, benennt die 400m direkt zu Beginn des Gesprächs als Zielperspektive. Damit macht er sich in dem Arrangement für die sichtenden Trainer als Talent sichtbar und wird – anders als in den bisherigen Anordnungen – auch als solches von ihnen adressiert. Die sichtenden Trainer gewähren den Athleten in der letzten Anordnung das erste Mal Einblicke in ihre Bewertungen und adressieren die Athleten dementsprechend als (Nicht-)Talente. Dabei bewerten die Trainer die von den Athleten formulierten Zielperspektiven auf der Folie der vorhergehenden (Be)Wertungen, so dass ähnliche Antworten, anders als noch im zweiten Arrangement, zu unterschiedlichen Deutungen führen. Durch das detaillierte Nachzeichnen des Sichtungsprozesses wird ersichtlich, wie die Trainer die Athleten von Arrangement zu Arrangement als bestimmte, unterschiedlich talentierte, Läufertypen wahrnehmen und bewerten, und im letzten Arrangement auch entsprechend adressieren. Hinsichtlich meines methodischen Vorgehens ergab sich beim gemeinsamen Betrachten der Szenen aus diesem Arrangement die Besonderheit, dass der Bundestrainer das Geschehen unterschiedlich rahmt. Während bei der Betrachtung der vorherigen Arrangements der Deutungsrahmen die Bewertung der Bewegungen der Athleten war, rahmt er die Videos aus diesem Arrangement als Kommunikationsgeschehen zwischen sich und den anderen Teilnehmenden und wertet dieses als misslungen aufgrund der sozio-materiellen Anordnung. Interessanterweise vollzieht sich dieser Rahmenwechsel nicht bei der Sichtung selbst.
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Erst das videogestützte Interview schafft den Möglichkeitsraum für den Rahmenwechsel. Das Video scheint als Medium die notwendige Bedingung der Möglichkeit zu sein, auf das eigene Tun zu reflektieren.
4.6 ENTSCHEIDUNGSFINDUNG Am letzten Tag der Sichtung finden nochmals laufspezifische Übungen statt (vgl. Arr. 3) bevor die sichtenden Trainer sich von den Athleten und Heimtrainer*innen verabschieden, ohne ihnen ihre Bewertungen mitzuteilen. Dies hängt auch damit zusammen, dass die sichtenden Trainer die finale Entscheidung, wer in den Kader berufen wird, erst im Anschluss an die nächste Deutsche Meisterschaft treffen, bei der sie die Athleten bei ihrer Wettkampfperformance beobachten (vgl. Arr. 1). Obwohl im D/C-Kader kein Richtwert10 von den Athleten erfüllt werden muss, spielt die erzielte Zeit der Athleten bei den Meisterschaften in die Entscheidung mit hinein. Die erzielten Laufleistungen bei Wettkämpfen sind im ersten Jahr entscheidendes Auswahlkriterium für die Einladung zur Sichtung und im Folgejahr mitentscheidend für die Berufung in den Bundeskader. Basierend auf den sich über ein Jahr verteilenden Beobachtungen der Athleten bei den Sichtungsmaßnahmen und den Deutschen Meisterschaften gibt der sichtende Bundestrainer eine Empfehlung für die Aufnahme in den Bundeskader, die bei einer Bundestrainer*innenkonferenz abschließend abgesegnet wird. Wie bereits bei der Tanzsichtung wird den Athleten die Aufnahme in den Bundeskader per Post mitgeteilt. Damit verlassen die Athleten die Sichtung ohne Auflösung ihres ‚Noch-Nicht’-Status‘ und Überführung in den Status als (Nicht-)Talent, wobei die Sichtung den Athleten gegenüber als ‚Projekt‘ bezeichnet wird. Auch zum späteren Zeitpunkt geben die sichtenden Trainer ihnen keine differenzierte Rückmeldung, sondern reduzieren ihre Bewertung auf den binären Code: Aufnahme/Nicht-Aufnahme in den Bundeskader. Durch die Umstrukturierung der Sichtungsmaßnahmen müssen seit 2017 alle (potenziellen) Kaderathlet*innen jedes Jahr aufs Neue an Sichtungen teilnehmen, um in den Kader (erneut) berufen zu werden. Somit ist auch in der Leichtathletik mit der Aufnahme in den Kader kein Endpunkt erreicht, sondern die Athleten müssen sich Jahr für Jahr als Talente sichtbar machen und als solche bewertet werden.
10 Wie zu Beginn des Kapitels bereits geschrieben, ist in allen anderen Kadern das Erreichen eines Richtwertes bei ausgewählten Wettkämpfen die notwendige Bedingung, um in den Bundeskader berufen zu werden. Der Richtwert wird von Jahr zu Jahr neu auf einer Bundestrainer*innenkonferenz festgelegt.
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4.7 ZWISCHENFAZIT: SICHTUNGSPRAKTIKEN IM 400M SPRINT Im Folgenden gehe ich auf die wichtigsten Ergebnisse aus der Analyse der Sichtungspraktiken im 400m Sprint ein. Ähnlich wie in Kapitel 3.10 thematisiere ich hierbei nacheinander die Aspekte der aufgeworfenen Forschungsfragen. Nach einer zusammenfassenden Darstellung der sozio-materiellen Arrangements beschreibe ich die Techniken des Sehens der sichtenden Trainer und gehe kurz auf die Techniken des Sich-Sichtbarmachens der Athleten ein. Anhand einer Rekapitulation der verschiedenen (Re)Adressierungen gehe ich zudem auf die Subjektivierungsprozesse und die hervorgebrachten ‚Talentgestalten‘ ein, die sich aus verschiedenen Talentmerkmalen zusammensetzen. Wie in der Zusammenfassung der Ergebnisse aus den Tanzsichtungen, erfolgt die Systematisierung der Ergebnisse auf der Grundlage analytischer Unterscheidungen, die jedoch in der Empirie zusammenfallen. Anders als beim Tanzen findet die Sichtung beim 400m Sprint nicht punktuell statt, sondern wird auf mehrere Sichtungstermine über das Jahr verteilt. Bei den sozio-materiellen Arrangements in denen die Wettkampfbeobachtungen stattfinden, ergibt sich die Besonderheit, dass durch die Überschneidung von Wettkampf- und Sichtungspraktiken eine Asymmetrie der Sichtbarkeit entsteht. Diese gestattet es den sichtenden Trainern, die Athleten unbemerkt bei ihrer Wettkampfperformance – in der sie als Konkurrenten in Erscheinung treten – zu beobachten und zu bewerten. Anders als beim Tanzen gibt es kein ‚Zueinander‘. Das Verhältnis der beobachteten Körper beim Wettkampf ist damit genau so, wie es die Laufstrecke vorgibt: Sie werden als Konkurrenten, die langsamer oder schneller sind, beobachtet. Während im Tanzen viele Sichtungspraktiken einen unmittelbaren Vergleich zwischen den Tänzer*innen ermöglichen, lenken die Anordnungen in der 400m Sichtung abseits des Wettkamps den Fokus eher auf die individuelle Bewertung der Athleten (3; 5),11 wobei die Analysen ergeben haben, dass vorhergehende Läufer als Vergleichswerte dienen können. Nichtsdestotrotz scheint die Anwesenheit der anderen Athleten für die Sichtungspraktiken bedeutsam, da durch ihre Kopräsenz die Praktiken kompetitiv(er) gerahmt werden, wodurch erst spezifische Merkmale, die die Trainer als wichtig werten, in Erscheinung treten. Dabei unterscheidet sich die Art der Kopräsenz in den Anordnungen: Auf dem Einlaufplatz (1a) steht es den Athleten offen, wie sie sich zueinander (räumlich) positionieren. Beim Wettkampf (1b), wie auch bei
11 Die Nummern stehen für das jeweilige Arrangement, in dem die konkreten Beispiele ausführlich behandelt wurden.
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der disziplinübergreifenden Einheit (4), werden ihre Anordnungen von außen bestimmt und ihre Läufe in einen unmittelbaren optischen (1b; 4) bzw. zeitlichen (1b) Vergleich gesetzt. Während in diesen Arrangements die sichtenden Trainer die Athleten in Bewegung beobachten und bewerten, werden durch die Anordnungen im Seminarraum (2; 5) die Körper ‚still gestellt‘ und der Fokus durch die feste Platzierung auf Stühlen auf das Gesprochene gelegt. Bei den beiden Arrangements lässt sich ein transsituativer Zusammenhang erkennen: Die Zielperspektivierung, auf die die sichtenden Trainer die Athleten und ihre Heimtrainer*innen während der Begrüßung versuchen einzustimmen (2), wird im letzten Arrangement (5) bewertet. Wie bereits bei der Tanzsichtung zeigt sich auch beim Langsprint, dass die Techniken des Sehens der Trainer sich nicht allein auf den Sehsinn beziehen, sondern verschiedene Sinneseindrücke und Informationen zur Bewertung kombiniert werden. Während sich die Trainer bei den Gesprächen (5) auf die genaue Wortwahl der Athleten fokussieren, bewerten sie bspw. die Technik beim Laufen nicht nur anhand des Gesehenen, sondern auch anhand des Gehörten (3). In zwei von drei Arrangements, in denen die Trainer die Athleten bei Bewegungsausführungen beobachten, ermöglichen die Anordnungen (1; 3) dem Bundestrainer die Einnahme der Position des stillen Beobachters, die die Bewertung der Athleten vereinfacht. Je nach Talentmerkmal werden zur Bewertung die Geschwindigkeit und Komplexität der Bewegungsausführung reduziert (3) oder eine (vorliegende) kompetitive Rahmung genutzt (1) bzw. forciert (4). Anders als beim Tanzen variieren die räumlichen Positionierungen zwischen den sichtenden Trainer*innen. So gibt der Bundestrainer an, dass jeder Trainer unterschiedliche Positionierungen und Techniken des Sehens anwende: „Jeder macht das auf ‘ne andere Art und Weise. Also der eine stellt sich ins Ziel und guckt wie die laufen, der andere stellt sich bei den 30 fliegend auf die Hälfte weit weg, um zu sehen, wie das Laufbild aussieht, der andere guckt von hinten, der andere guckt von vorne. Also das macht hier jeder Trainer so sichtbar, wie er das meint. Jeder meint natürlich er hat recht da wo er steht (lacht). […] Das macht jeder Trainer aus den Erfahrungen heraus, ja wie er das für sich am besten beurteilen kann.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Wobei dies nicht bei den begleiteten Trainern beobachtet wurde, sondern sich auf ihre Aussagen über Kolleg*innen. Dass es spezifischer Anordnungen der Trainer und zu zu bewertenden Athleten bedarf, zeigen meine als misslungen zu bewertenden Videoaufnahmen. Bei der gemeinsamen Betrachtung dieser war es den Trainern erschwert bzw. sogar verwehrt die Athleten adäquat zu ‚sehen‘ (vgl. 2.4.2). Dies zeigt, dass das praktische Wissen der Mitspielenden, welches
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von dem*der Forscher*in für einen Nachvollzug der Praktiken angeeignet werden muss (vgl. Schindler/Liegl 2013: 58), sich auch auf die räumlichen Positionierungen bezieht (vgl. Prinz 2014: 330). So ziehen die von mir begleiteten Trainer bei Wettkämpfen eine Positionierung auf Höhe der Zielgeraden und das Beobachten mit ‚bloßem‘ Auge anderen Positionen – wie bspw. auf Höhe der 200m und der Beobachtung durch die Videokamera – vor. Für die Bewertung der Lauftechnik hingegen bevorzugen sie einen geringeren Abstand und positionieren sich seitlich von den Athleten. Die Spielräume der Athleten, sich durch Techniken des Sich-Sichtbarmachens als Talente anerkennbar zu machen und sich in die Talentkonstruktion(en) einzubringen, sind in der gesamten 400m Sichtung im Vergleich zu den Sichtungspraktiken im Tanzen eingeschränkt. Dies liegt zum einen an den gegebenen Aufgabenstellungen, die die Bewegungsausführungen und ihre Zeitlichkeit strikt vorgeben (1b; 3; 4), wie auch an den wenigen Adressierungen der sichtenden Trainer, aus denen die Athleten Rückschlüsse auf den Sehstil ziehen könnten. Die sichtenden Trainer adressieren die Athleten gar nicht (1) bis wenig. Auch aus den wenigen Adressierungen – die sich zumeist an die gesamte Gruppe der Athleten richten (2; 3) – lässt sich nicht auf ihre (Be)Wertungslogik schließen. So adressieren die sichtenden Trainer zunächst in der Einstimmung (2) alle Athleten als talentiert und im Anschluss in ihren Bewegungsausführungen als defizitär (3). In den disziplinübergreifenden Einheiten erfolgt ein Wechsel von Gruppenadressierungen zu einzelnen korrektiven Adressierungen, wobei sowohl als talentiert wie auch als nicht talentiert bewertete Athleten angesprochen werden, so dass die Athleten keine Rückschlüsse auf die Bedeutung der rein korrektiven Adressierungen ziehen können. Erst im letzten Arrangement (5) adressieren die sichtenden Trainer die Athleten mit ihren Bewertungen übereinstimmend als (Nicht-)Talente, wobei auch diese kaum Rückschlüsse auf die (Be)Wertungslogik ermöglichen. Die wenigen Rückmeldungen der sichtenden Trainer lassen sich – wie im Tanzen – als Anschluss an die Logik der Trainingspraxis deuten. In der Altersklasse trainieren die Athleten in der Regel nicht allein, sondern werden von ihren Heimtrainer*innen angeleitet und in den Bewegungsausführungen korrigiert. Diese erstellen auch die Trainingspläne für die Athleten und bestimmen die Häufigkeit, wie auch die Inhalte des Trainings. Die Heimtrainer*innen nehmen damit durchgehend von außen Korrekturen vor, wodurch die Befähigung zur Selbstreflexion für die Athleten im Vergleich zu der der Tänzer*innen weniger bedeutsam ist. Dies erklärt zum einen, weshalb die sichtenden Trainer in den Sichtungspraktiken kaum Rückmeldungen an die Athleten geben. Zum anderen wird – unter Verweis auf die Logik der Trainingspraxis – die Bedeutung der
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Heimtrainer*innen verständlich, die die restlichen Teillnehmer*innen ihnen zuweisen. Anders als bei der Tanzsichtung ist in den Sichtungspraktiken im Langsprint ihre Anwesenheit vorgesehen, wodurch sie von Beginn an als Mitspieler*innen in Erscheinung treten. Neben einzelnen Verweisen, bei denen die sichtenden Trainer ihnen im Verlauf der Sichtungspraktiken diese Position zuweisen (1; 3; 4), positionieren sie sich vor allem in den Anordnungen im Seminarraum (2; 5) selbst als bedeutsam und werden auch von den Athleten als Mitspieler*innen anerkannt. Vergleicht man die Adressierungen der sichtenden Trainer an die Heimtrainer*innen und Athleten im Sichtungsverlauf, werden die Komplexität des idealisierten Athleten-Heimtrainer*in-Verhältnisses wie auch die teils widersprüchlichen Annahmen zur jeweiligen Autonomie bzw. Handlungsmacht erschließbar: Die sichtenden Trainer sprechen den Heimtrainer*innen einerseits große Einflussmöglichkeiten auf den Athleten zu, die auch über die eigenen Einflussmöglichkeiten hinausgehen: „Hat sie [die Heimtrainerin] den nötigen Weitblick um das Talent eben nicht nur für‘s nächste Jahr vorzubereiten, sondern für die Aufgaben darüber hinaus? Was ist das für ein Partner auf der anderen Seite, der eben maßgeblich die Leistung entwickelt? Der Bundestrainer entwickelt die ja nur begleitend. Maßgebend ist ja derjenige, der tagtäglich vor Ort am Training steht.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Sie erkennen die Heimtrainer*innen als Mitspieler*innen in den für die Entwicklung des Talents bedeutsamen Praktiken wie auch als Einflussfaktor auf die Ausprägungen einzelner Talentmerkmale der Athleten an und begreifen die Heimtrainer*in und Athleten als Team (5). Andererseits erwarten die sichtenden Trainer gleichzeitig Autonomie der Athleten gegenüber ihren Heimtrainer*innen (1; 5) und gehen bei einigen Punkten wie bspw. der Zielperspektivierung von einer geringen Einflussnahme von außen auf die Athleten aus: „Alles drum herum ist alles nur Staffage. Sind alles nur Wegbegleiter oder gute Berater, schlechte Berater. […] Letztendlich ist‘s derjenige, der das [Talent] für sich sichtbar macht, das ist die einzelne handelnde Person und nicht irgendwelche drumherum.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Demnach sehen die sichtenden Trainer die Heimtrainer*innen zwar als notwendige „Wegbegleiter“ an, die bei der Talentenwicklung vor allem in den ersten Jahren essenziell sind. Jedoch konzipieren die Trainer Talent gleichzeitig als etwas in den Athleten Verankertes, was es hauptsächlich von den Athleten selbst zu entfalten gilt. Die Analysen machen hierbei auf eine Zeitlichkeit dieser Talen-
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tentfaltung aufmerksam, bei der sich eine Verschiebung der Verantwortlichkeiten von Bundestrainer*innen und Heimtrainer*innen immer mehr hin zu den Athleten erkennen lässt. So verweisen die Trainer immer wieder darauf, dass es in der zu sichtenden Altersklasse zwar üblich sei, dass die Heimtrainer*innen eine essenzielle Rolle spielen, die Athleten jedoch im Verlauf ihrer Sportkarriere immer mehr Selbstständigkeit – bspw. bei den Wettkämpfen (1) oder den Zielsetzungen (5) – erlangen sollen. Die wenigen Rückmeldungen der sichtenden Trainer an die Athleten lassen sich somit zum einen mit den gängigen Trainingspraktiken erklären. Zum anderen hängen sie mit den Vorannahmen der sichtenden Trainer zur Formbarkeit von Talentmerkmalsausprägungen zusammen. Neben den als gering angesehenen Einflussmöglichkeiten auf die Zielperspektivierung werden die Vorannahmen zur Formbarkeit besonders bei der Thematisierung des Talentmerkmals Technik deutlich, welche nicht isoliert betrachtet, sondern im Verhältnis zur Laufleistung bewertet wird. Wie das ‚Hineinzoomen‘ in das dritte Arrangement gezeigt hat, bewerten die Trainer eine Kombination aus schneller Zeit und defizitärer Technik besonders positiv, da sie die defizitäre Technik als Ansatzpunkt zur Verbesserung und damit als Potenzial deuten. Jedoch gehen die sichtenden Trainer auch hier von einer begrenzten Einflussnahme durch Trainer*innen wie auch die Athleten selbst aus. Vielmehr sehen sie Technik als etwas durch körperliche Dispositionen Festgelegtes an und gehen daher basierend auf biologistischen Deutungsmustern von einer limitierten Formbarkeit aus: „Die Wahrheit ist, es hat jeder seine vorher festgelegte individuelle Technik, die man mit Sicherheit in Nuancen verfeinern kann, dass sie für den Athleten optimal ist, […] aber alle sind so gelaufen, wie es ihre körperlichen Voraussetzungen einfach hergegeben haben. Und das kann man und das sollte man optimieren und dann ist auch gut. […] Dann wird man die auch am Schattenriss erkennen und diese Technik ändert man nicht. Das ist ‘ne sehr individuelle, festgelegte Technik.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Die Aussage zeigt zudem, dass die Trainer nicht von einer einheitlichen Technik ausgehen, sondern von sehr unterschiedlichen Ausprägungen, die es jeweils individuell in dem als gering angesehenen Spielraum zu optimieren gilt. Dies erklärt auch, warum die Trainer die Athleten individuell und nicht im Vergleich bei den Laufübungen (3) beobachten. Die Optimierungsversuche zielen dabei laut dem Bundestrainer nicht nur auf eine verbesserte Laufleistung ab, sondern weisen auch eine Legitimationsfunktion für die Trainer*innen auf:
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„WIR bilden uns aber ein, naja, wenn wir das noch rauskriegen, wenn der den Kopf gerade nimmt oder die Hüfte höher bringt oder nicht mehr so sitzt, dann wird‘s ja noch VIEL besser als das, was wir uns gerade vorstellen können. […] Weil wir uns dann wichtigtun als Trainer. Und dann haben wir auch eine Daseinsberechtigung und dann wird das auch ein Weltrekordler. Aber die Realität sieht dann doch ein bisschen anders aus.“ (Interviewauszug Trainer 1)
Trotz der Annahme geringer Optimierungsmöglichkeiten werden laufspezifische Einheiten absolviert, um auch die Positionierung der Trainer*innen zu stützen. Indem Machtrelationen immer wieder verhandelt und etabliert werden, zeigt sich die politisch-normative Dimension von Mitspielfähigkeit: Bspw. wenn die sichtenden Trainer die Athleten bewerten (4; 5) und der Bundestrainer die Position des Anleiters (4) bzw. Gesprächsführers (5) übernimmt. Basierend auf der Annahme, dass die Technik von außen nicht viel beeinflussbar, sondern „individuell“ und von ‚Natur‘ aus „festgelegt“ sei, wird verständlich, warum wenig Rückmeldungen an die Athleten erfolgen. Anders als bei der Tanzsichtung erhalten die Athleten somit kaum Einblicke in die (Be)Wertungslogik der sichtenden Trainer, so dass sie ohne entsprechende Rückmeldungen ein Gespür für den jeweiligen Handlungsspielraum bzw. die von den Trainern anerkannten Ausführungsformen aufweisen müssen. Wie die Analysen der Tanzsichtung gezeigt haben, können Rückmeldungen jedoch als Orientierungsrahmen dienen und ein aktives Einbringen in den Konstruktionsprozess erleichtern, indem sie die zugewiesenen Positionen, Möglichkeitsräume wie auch ihre Grenzen Zug um Zug erfassbar und damit leichter mitgestaltbar machen. Wie Alkemeyer, Brümmer und Pille (2017: 226) herausstellen, gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Aktivitäten von Teilnehmenden einer Praxis und „the participants’ embodied knowledge about the established hierarchies of the field and their own position in them, their quasi-intuitive ‘feel‘ for their own enduring place in relation to the others“. Durch die unterschiedlichen und teils widersprüchlichen Rahmungen und Adressierungen in den Sichtungspraktiken – wie bspw. der Bezeichnung als ‚Projekt‘ statt Sichtung in der Einladung, wie auch dem Wechsel zwischen kompetitiver Rahmung und Adressierungen als Gruppe bzw. Team – wird es den Athleten erschwert, ein Gespür für ihre Position innerhalb ihrer Statusgruppe zu erlangen. Zwar könnten sie basierend auf ihren im Vorfeld erlaufenen Zeiten eine Hierarchie untereinander aufstellen, jedoch weisen die Beobachtungen keine entsprechenden Prozesse auf, was auch darauf zurückgeführt werden kann, dass auch die Trainer vor den Athleten nicht auf ihre Zeiten Bezug nehmen. Da die Athleten zudem zumeist nacheinander Bewegungsausführungen präsentieren und die Bewertungskriterien
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hierbei nicht transparent sind, ist ihnen das Aushandeln von Positionen erschwert. Einzig die disziplinübergreifende Einheit bietet einen unmittelbaren Vergleich und ein sich zueinander ins Verhältnis setzen an und wird nach entsprechender Adressierung durch den Bundestrainer von einigen Athleten hierfür auch genutzt (4). Zusammenfassend zeigen die Analysen, dass die Athleten die wenigen Rückmeldungen der sichtenden Trainer zwar umzusetzen versuchen (3; 4), zumeist jedoch keine Rückmeldungen erhalten und dementsprechend nur anhand von imaginierten Bewertungskriterien agieren können. Da sie bei den Bewegungsausführungen (3) und Gesprächen (5) nacheinander agieren, wissen sie zwar, wann sie im Fokus stehen, jedoch bleibt unklar, anhand welcher Kriterien welche Merkmale bewertet werden. Auch konzipieren die Trainer die Athleten hauptsächlich als zu bewertende ‚Displays‘, an denen die relevanten Merkmale durch bloße Beobachtung (1; 3; 4) in Erscheinung treten. Reh und Ricken (2012: 40) folgend, kann jedoch den Adressierungen durch andere eine konstitutive Bedeutung für die „Genese des eigenen Selbst“ beigemessen werden. Durch die wenigen und teils widersprüchlichen Adressierungen, wie auch die wenigen anschließenden Readressierungen der Athleten lassen sich trotz ihrer Aufschlüsselung nur wenige Rückschlüsse auf die Subjektivierungsprozesse der Athleten ziehen. Deutlich wird hingegen, dass die Sichtungspraktiken das Aushalten von Ungewissheit und einem eingeschränkten Handlungsspielraum als Anforderungen an ihre Subjektposition stellen. Der eingeschränkte Spielraum der Athleten wird besonders im letzten Arrangement (5) deutlich, bei dem das ‚Herauszoomen‘ gezeigt hat, dass die sichtenden Trainer die Aussagen der Athleten auf der Folie einer vorgefertigten Typologie (1) und vorheriger Bewertungen der Athleten (3; 4) deuten. Während sich bei den Tanzsichtungen die unterschiedlichen Talentgestalten im Verlauf der Sichtung herausbilden, spielen die sichtenden Trainer im Langsprintbereich eine Läufertypologie von Beginn an in die Sichtung ein und rekurrieren auf diese. Basierend auf vorhergehenden Erfahrungen mit anderen Läufern bilden die sichtenden Trainer einen spezifischen Sehstil aus, der sie von Einzelheiten – wie bspw. dem Fußauftritt, der Hüftstellung aber auch der Herangehensweise bei Läufen oder der Interaktion mit den Heimtrainer*innen und den sichtenden Trainern – auf verschiedene ‚Läufergestalten‘ schließen lässt, die ‚starrer’ sind, als die Talentgestalten im Tanzen. Durch die praxisgeschulte Sehfertigkeit wird zum einen der Blick der Trainer auf Merkmale gelenkt, die sie als relevant werten. Zum anderen vervollständigen die Trainer diese einzelnen Merkmale assoziativ zu im Vorfeld ‚erblickten‘ Läufergestalten und ordnen die Athleten diesen zu. Das Herauszoomen aus den Arrangements zeigt, dass die im dritten Arrangement vorgenommenen Bewertungen und Zuordnungen im Verlauf der Sichtung
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immer weiter bestätigt werden. Dies erklärt auch, dass dieselben Verhaltensweisen der Athleten von den Trainern unterschiedlich gedeutet werden (5). Von der jeweiligen aufscheinenden Läufergestalt Abweichendes, wird nicht mehr wahrgenommen. Da die sichtenden Trainer den verschiedenen Läufergestalten unterschiedlich viel Talent zuschreiben, gehen mit den Bewertungen der ersten beobachteten Merkmale und der dabei aufscheinenden Gestalten bereits relativ stabile Gesamtbewertungen der Athleten einher. Daraus wird gleichzeitig ersichtlich, dass auch im Langsprint keine feste Subjektform des talentierten Athleten vorliegt, sondern Talent verschiedene Gestalten – wie die des leidenschaftlichen, aber wortkargen oder des bedachten und zurückhaltenden Talents – annehmen kann. Anders als im Tanzen konstruieren die sichtenden Trainer diese jedoch bereits im Vorfeld der Sichtung. Dies schränkt den Spielraum der Athleten, sich aktiv in die Talentkonstruktion(en) einzubringen, nochmals ein, da ihr Verhalten anhand der vorgefertigten Gestalten bewertet wird. So werden die beiden in der Sichtung als Talente anerkannten Athleten aufgrund von einzelnen Beobachtungen Zug um Zug auf zwei verschiedene Läufertypen festgeschrieben und ihre Verhaltensweisen entsprechend dieser Gestalten gedeutet und final bewertet. Damit werden Vorannahmen der Trainer über (Nicht-)Talent, seine Beobachtbarkeit, Formbarkeit und Ausgestaltung, wie auch die Bedeutung der Heimtrainer*innen in die Praxis eingespielt und machtvoll zur Geltung gebracht: Sie präfigurieren die Positionierungen in den Sichtungspraktiken hinsichtlich der politisch normativen Dimension und damit auch die jeweiligen Spielräume; beeinflussen die Bewertung der Athleten maßgeblich und legen diese Zug um Zug auf spezifische ‚Läufertypen‘ fest. Insgesamt haben die Analysen ergeben, dass die sichtenden Trainer zehn verschiedene Merkmale als relevant zur Bewertung von Talent werten. Bestandteil des Talentkonstrukts ist es, sich bei einem Wettkampf auf diesen im Vorfeld zu fokussieren und ihn selbstständig angehen zu können. Bei beiden Merkmalen deuten die sichtenden Trainer anhand der Interaktionen mit den Heimtrainer*innen und anderen Athlet*innen auf die jeweilige Merkmalsausprägung. Beim Lauf selbst sei es essenziell, diesen strategisch anzugehen und zu gestalten, wobei die Trainer die Merkmalsausprägung in der gesichteten Altersklasse noch als formbar ansehen. Hier wird eine Differenzierung erkennbar, die wichtig für das Verständnis des Talentkonstrukts im Langsprint ist: Bei den Merkmalen zeichnen sich unterschiedliche Annahmen über die jeweilige Formbarkeit aus, die auch auf unterschiedliche Zeitlichkeiten hinweisen. Während Fokussierung, Selbstständigkeit und eine strategische Laufgestaltung laut den Trainern in der gesichteten Altersklasse noch (!) formbar sind, weisen die Analysen Merkmale
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auf, bei denen die Trainer von stabile(re)n Ausprägungen ausgehen. Dies trifft z.B. auch auf das jeweilige Engagement zu, welches sich bspw. im Durchhaltevermögen bei Wettkämpfen (1b) wie auch im Training (4) zeige. Auf die notwendige Zielstrebigkeit (2) versuchen die sichtenden Trainer zwar Einfluss zu nehmen, jedoch gehen sie von einer marginalen Einflussnahme von außen aus. Nichtsdestotrotz müssten auch die Heimtrainer*innen eine entsprechende Zielperspektivierung einnehmen, um Athleten adäquat auf eine Sportkarriere vorzubereiten. Die von den sichtenden Trainern gewünschte Zielstrebigkeit geht soweit, dass die Athleten selbst vor dem Ausprobieren der Disziplin diese als Zielsetzung formulieren (5) und in langjährigen Zeitspannen Ziele anvisieren sollen (2; 5). Die weiteren Merkmale beziehen sich auf körperliche Eigenschaften und Fähigkeiten und lassen sich ebenfalls in Bezug auf die Annahmen der sichtenden Trainer zur Formbarkeit ihrer Ausprägungen gruppieren. Unter Bezugnahme auf Biologismen deuten die Trainer Technik – die als Einflussfaktor auf Schnelligkeit angesehen und immer im Verhältnis zur Laufleistung bewertet wird – als durch die jeweilige Anthropometrie determiniert und damit wenig formbar. Hierbei legen sich die Trainer jedoch nicht auf eine bestimmte körperliche Ausformung fest, sondern bewerten die Eignung der Athleten in Bezugnahme auf weitere Merkmale. Ähnliches gilt für die Bewegungsausführung, die die sichtenden Trainer im Idealfall als ‚geschmeidig‘ bezeichnen, wobei auch hier Abweichungen möglich sind, wenn die in Wettkämpfen erlaufene Zeit auf Talent hindeutet. Bei den als formbar angesehenen Merkmalen wie Kondition, Koordination und Kraft bevorzugen die Trainer in der Altersklasse geringe Leistungen, da sie diese als Potenzial zur Verbesserung der Zeit werten. Anhand der Analysen wird ersichtlich, dass in der Sichtung Zeit als Organisationsprinzip zum Tragen kommt: Es ist nicht nur die notwendige Bedingung für die Sichtungsteilnahme – es werden nur die schnellsten Läufer Deutschlands eingeladen – sondern auch im Sichtungsverlauf das Leitmerkmal. Die Trainer setzen alle anderen Merkmale in Bezug zu Zeit und sehen die als formbar angenommenen Merkmale als potenzielle Modulationen von dieser an. Der Blick der Trainer auf die anderen Merkmale ist so formatiert, dass sie diese im Hinblick auf potenzielle Zeitverbesserungen bewerten. So soll über die Verbesserung der Technik, Koordination, Kraft und Kondition, aber auch der Fokussierung und strategischen Gestaltung des Laufs letztendlich immer eine Verbesserung der Zeit erzielt werden. Damit beziehen die Trainer alle anderen Merkmale auf Zeit bzw. setzen Zeit als Referenzrahmen (1; 2; 3; 5). Hierbei steht jedoch nicht die bereits erlaufene Zeit im Fokus, sondern eine mögliche zukünftige, von den Trainern bereits imaginierte, sofern das diagnostizierte Potenzial ausgeschöpft
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wird. Die Fokussierung auf eine imaginierte Zeit wird auch daraus ersichtlich, dass die sichtenden Trainer die Hierarchie, die sich durch die vergangenen Laufleistungen zwischen den Athleten erzeugen ließe, in der Sichtung nicht relevant machen. Vielmehr bewerten sie die restlichen Merkmale nicht nur im Hinblick auf Verbesserungspotenzial, sondern ziehen die Merkmalsausprägungen auch als Erklärungen für die im Vorfeld erzielten Leistungen heran. So bezeichnet der Bundestrainer bspw. beim Wettkampf einen Athleten als bereits körperlich ‚ausgeformt‘, weswegen er zwar in der aktuellen Altersklasse gut abschneide, in höheren jedoch – beim ‚Nachziehen‘ der anderen Athleten – wenig Chancen aufweise. Die Analysen zeigen, dass die sichtenden Trainer die Zeit nicht nur beim Wettkampf in Zwischenzeiten (1) unterteilen, sondern auch im Sichtungsverlauf ihr Zustandekommen und Verbesserungspotenzial differenziert anhand der Bewertung der anderen Merkmale beurteilen. Diese Orientierung aller Merkmale am Leitmerkmal Zeit ist der Logik der Langsprintpraxis geschuldet, deren Endpunkt auf eine objektiv vergleichbare zeitliche Leistung ausgerichtet ist. Damit gehört sie zu den wenigen sportlichen Praktiken, in denen sich die Leistung objektiv messen und in Zahlen ausdrücken lässt (vgl. Müller 2014: 198), was auch dadurch bedingt ist, dass die Zeit das einzige Bewertungskriterium im Wettkampf darstellt. Zeit bildet damit den Ausgangspunkt für die Sichtungspraktiken – im Vorfeld erzielte Zeiten über ähnliche Distanzen – die wiederum auf einen Endpunkt über die Sichtungen hinaus – zukünftige Wettkämpfe und die dort erzielten Zeiten – ausgelegt sind. Durch die Annahme, dass Zeit durch die anderen Merkmale langfristig beeinflusst werde, wird verständlich, warum innerhalb der Sichtungspraktiken keine Zeitmessungen erfolgen, sondern der Fokus auf den restlichen Merkmalsausprägungen liegt. In diesem Zusammenhang zeichnet sich auch bei den von mir begleiteten Trainern eine Skepsis gegenüber sportmotorischen Tests zur Talentsichtung ab: „Sportmotorische Tests, da ein Talent rauszufinden – ein Beispiel vielleicht. Es rennen fünf Leute 30 Meter fliegend, das ist sowas sehr klassisches in der Leichtathletik. Alle Fünf rennen zwischen 2,99 und 3,01 also eigentlich kein Unterschied. Trotzdem wird der Trainer einen rauspicken, und wird sagen, der ist es. Das ist vielleicht gerade der mit 3,01 also vermeintlich der Langsamste. Und er wird ihnen nicht unbedingt erklären können, wieso er den rausgepickt hat, aber ein guter erfahrener Trainer wird den richtigen rauspicken und deshalb sag ich mir, können sportmotorische Tests nicht das letzte Wort sein.“ (Interviewauszug Trainer 1)
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Durch die Analyse des Talentkonstrukts wird verständlich, warum für die Trainer die reine Information über die erzielten Zeiten nicht ausreicht, um das jeweilige Talent zu bewerten. So weisen auch alle gesichteten Athleten herausragende und kaum unterschiedliche Zeiten über 300m auf. Ihr Talent wird für die sichtenden Trainer jedoch erst durch die Begutachtung der restlichen Merkmale bewertbar. Wie auch die Interviews bestätigen, fällt es den Trainern teilweise schwer, die Begründungen für ihre Bewertungen zu explizieren. Sie scheinen auf implizitem Wissen zu beruhen, welches erst durch die Mikroanalysen und das Medium der videogestützten Interviews artikulierbar wird. Die Analysen zeigen auch, dass – anders als im Tanzen – die Trainer die Bundeskaderanwärter wenig im unmittelbaren Vergleich bewerten, sondern Bewertungen zum jeweiligen Talent vornehmen, bei denen frühere Athleten die Bezugsgröße bilden. Basierend darauf entscheiden die Trainer, welche Athleten sie in den Kader berufen.
Fazit
Das Anliegen der empirischen Analysen von Innenperspektiven auf Talentsichtungen bestand darin, zu zeigen, wie sich in Sichtungspraktiken Talentkonstruktionen und (Be)Wertungslogiken in verschiedenen sozio-materiellen Arrangements im Zusammenwirken der Teilnehmenden entfalten. In den beiden vorhergehenden Kapiteln wurden die Sichtungspraktiken für beide Sportarten detailliert analysiert und die Ergebnisse im Hinblick auf die formulierten Forschungsfragen (vgl. 2.3) in den Zwischenfazits festgehalten (vgl. 3.10; 4.7) und miteinander verglichen (vgl. 4.7). Im Fazit beziehe ich die Ergebnisse der vorgenommenen Analysen auf die im Forschungsstand (vgl. 1) rekonstruierten Debatten: Weite und Dynamik des jeweiligen Talentverständnisses; Verortung in der Anlage-/Umweltdebatte, Ausrichtung der Förderung und Diagnostik. Dabei gehe ich auf den Mehrwert meiner Untersuchung für die Sportpraxis und den ([sport-] wissenschaftlichen) Talentdiskurs ein und abstrahiere abschließend, welchen Beitrag meine Arbeit zu einer Soziologie des (Be)Wertens leisten kann. Die Analysen beider Sportarten zeigen ein weites Verständnis von Talent, welches auf langfristige (inter-)nationale Erfolge ausgerichtet ist. Dabei ergeben die Talentkonstruktionen sehr unterschiedliche Komplexe aus zahlreichen Talentmerkmalen, die sich im 400m Sprint auf den einzelnen Athleten und beim Tanzen auf den Paarkörper beziehen. Gleichzeitig weisen die Talentkonstrukte trotz des großen Kontrasts der Sportarten neben zahlreichen Unterschieden hinsichtlich einiger Merkmale vordergründig Überschneidungen auf. So werden in beiden Sportarten Technik, Engagement, Selbstständigkeit und eine auf langfristige Erfolge ausgelegte Zielperspektive als wichtige Merkmale von Talent angesehen, die sich auch in den sportwissenschaftlichen Talentdefinitionen wiederfinden (1.2). Eine praxeographische Untersuchung ermöglicht über das reine Herausarbeiten der Talentmerkmale hinaus eine Aufschlüsselung der impliziten Annahmen über diese, die sich gravierend auf die Sichtungspraktiken auswirken. Hier zeigen sich große Unterschiede zwischen den Sportarten. Welche Merkma-
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le als relevant gewertet und unter welchem Blickwinkel die Merkmalsausprägungen bewertet werden, hängt u.a. mit den Logiken der Trainings-, wie auch der Wettkampfpraktiken zusammen, die sich auf die Sichtungspraktiken auswirken und darüber hinaus bspw. für die Heimtrainer*innen unterschiedliche Positionen vorsehen (vgl. 3.10; 4.7). So haben meine Analysen gezeigt, dass allein die unterschiedlichen Wettkampflogiken der beiden Sportarten sich essenziell auf die Wertung von Merkmalen und Bewertung der Merkmalsausprägungen in den Talentsichtungen auswirken: Die 400m zählen zu den wenigen Sportarten, in denen angenommen wird, dass sich die sportliche Leistung objektiv messen und in Zahlen ausdrücken lässt (vgl. Müller 2014: 197). Im Wettkampf ist für die Ermittlung der Platzierung und Erstellung des Rankings allein die erlaufene Zeit relevant, auch wenn Trainer*innen die Ergebnisse aufgrund von bspw. der Positionierung auf der Laufbahn unter sich relativieren, da sie die zugewiesene Laufbahn als Einflussfaktor auf die Platzierung ansehen (vgl. 4.1). Damit ist die Sportart bei Wettkämpfen ergebnisorientiert, da keine weiteren Merkmale wie bspw. die Technik in die Bewertung einfließen. Turniererfolge bei den Lateinamerikanischen Tänzen hingegen beruhen auf Performanceleistungen, die von Wertungsrichter*innen anhand von verschiedenen festgelegten Kriterien subjektiv bewertet werden. Bereits dieser Unterschied ist grundlegend für differente Ausrichtungen der Sichtungspraktiken. Durch die Ergebnisorientiertheit der Laufdisziplin bei Wettkämpfen bewerten die Sichtungstrainer*innen die restlichen Talentmerkmale unter einer Potenzialperspektivierung, während bei der erlaufenen Zeit bereits zum Sichtungszeitpunkt der Ist-Wert entscheidend ist. Da Merkmale wie bspw. Kondition, Koordination und Technik beim Wettkampf nicht mitbewertet werden, müssen sie zum Zeitpunkt der Sichtung nicht ausgeformt sein. Im Gegenteil: Defizite in diesen Bereichen werden im Allgemeinen als Potenzial gewertet, die bisherige Zeit – das im Wettkampf einzig relevante Merkmal – zu optimieren. Anders stellt es sich bei den Lateinamerikanischen Tänzen dar, die den ästhetischen Sportarten zugerechnet werden. Da bei Turnieren vielseitige Kriterien1 zur Bewertung der Leistung herangezogen werden, deren Defizite zu Punktabzügen führen, unterliegen die Sichtungspraktiken hinsichtlich dieser Merkmale weniger einer Potenzialperspektivierung. Vielmehr ist ein bereits ausgeformter ‚Ist-Zustand‘ entscheidend für eine positive Bewertung, so dass auch hier in erster Linie bei Turnieren bereits erfolgreiche Paare zur Sichtung eingeladen werden. D.h., die in der Logik der Wettkampf-/Turnierpraktiken relevanten Merkmale sind entscheidend für die Ausrichtung der Bewertung dieser bei Sichtungen. In bisherigen Untersuchungen bleiben diese As1
Laut dem Deutschen Tanzsportverband (2013) werden bei Turnieren folgende Kriterien bewertet: Musikalität, Balancen, Bewegungsablauf und Charakteristik.
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pekte unberücksichtigt, und Diagnoseinstrumente werden isoliert von den konkreten Bewertungspraktiken und ihrer Einbettung in praktikenübergreifende Zusammenhänge betrachtet. Praxeographische Untersuchungen können hier einen wichtigen Beitrag leisten, um (Be)Wertungslogiken aufzuschlüsseln, indem die jeweiligen Sichtungspraktiken als Bestandteil von Praktikenbündeln verstanden werden, die in die Analysen miteinbezogen werden. Des Weiteren muss die potenzielle Entwicklungsdauer der Talentmerkmale berücksichtigt werden. Die zu sichtende Altersklasse ist relativ groß (14-21 Jahre), sodass die älteren Paare bereits in der sogenannten Hauptgruppe, die die Altersspanne von 19 bis 28 umfasst, antreten können. Die potenziellen 400m Läufer sind zum Sichtungszeitpunkt 15 Jahre alt und haben noch keine Wettkampferfahrung in der Disziplin. Die größten Erfolge in der Disziplin werden zumeist mit Mitte bis Ende 20 erreicht. Damit zeichnen sich allein im Hinblick auf die Zeitspanne bis zum Hochleistungsalter unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten ab, die die Sichtungsausrichtung auf aktuelle Leistung bzw. Potenzial erklären. Für ein Verständnis der (Be)Wertungslogiken muss damit nicht nur der Zusammenhang zu anderen Praktiken reflektiert, sondern auch die zeitliche Dimension berücksichtigt werden. Je nach potenzieller Entwicklungsdauer bis zur ‚finalen‘ Bewertung kann sich die Bewertungsausrichtung von potenzieller auf aktuelle Leistung verschieben. Die Anlage-/Umweltdebatte spiegelt sich in den Sichtungspraktiken in impliziten Annahmen über die Formbarkeit (von außen) von einzelnen Talentmerkmalsausprägungen wider, wobei in beiden Sportarten sowohl von formbaren als auch von angeborenen Talentmerkmalen gesprochen wird, diese jedoch unterschiedlich gewertet werden. So findet sich bei den Tanztrainer*innen zwar ein Glaube an angeborenes Bewegungstalent, jedoch wirke sich dieses negativ auf die Ausformung weiterer notwendiger Merkmale – Engagement und Frustrationstoleranz – aus, die laut den Trainer*innen benötigt werden, um langfristig Erfolge zu erzielen. Daher werten sie Bewegungstalent nicht zwingend positiv. Technik müsse auch nicht angeboren sein, sondern sei auch beeinflussbar. Im Langsprint hingegen wird diese als durch die Anthropometrie determiniert angesehen. Darüber hinaus werden – anders als im Tanzen – auch Merkmalsausprägungen wie Engagement, Durchhaltevermögen, Reflexionsvermögen und Zielstrebigkeit im 400m Sprint als nicht formbar konzipiert. Die Merkmalsausprägungen, die die Trainer*innen als modellierbar auffassen, weisen wiederum verschiedene Annahmen über eine Zeitlichkeit von Formbarkeit bzw. chronologische Abfolgen bei der Formung auf. So gehen die Trainer*innen im Tanzen von einer einzuhaltenden chronologischen Abfolge beim Erlernen von Tanzschritten aus, die für die Ausformung von Technik auf Hochleistungsniveau essenziell sei
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(vgl. 3.5). Die Trainer im 400m Sprint hingegen sehen Merkmale wie Selbstständigkeit und Fokussierung als über die Jahre entwicklungsfähig an, wobei sie ab einem bestimmten Alter vorliegen sollten (vgl. 4.1). Zudem zeigen die Untersuchungen, dass die Trainer*innen zwischen der Formbarkeit durch die Athlet*innen selbst und der (in)direkten Formbarkeit von Merkmalsausprägungen von außen – bspw. durch Heim- oder Bundestrainer*innen – differenzieren (vgl. bspw. 3.5; 4.3). Somit veranschaulichen die Analysen, dass sich zwar in beiden Sichtungspraktiken weite und dynamische Talentkonstruktionen entfalten, diese jedoch neben einzelnen Merkmalsüberschneidungen erhebliche Unterschiede nicht nur hinsichtlich der Merkmalskombinationen, sondern auch in Bezug auf die Formbarkeit der Merkmalsausprägungen (von außen) aufweisen. Auch diese Aspekte finden in der bisherigen Talentforschung wenig Beachtung, sind jedoch essenziell für ein Verständnis der (Be)Wertungslogik. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das Unbehagen von Sportpraktiker*innen gegenüber sportwissenschaftlichen Bemühungen erklären, Talent (-merkmale) abstrakt zu bestimmen und mit übergreifenden Tests bspw. in Laborsituationen oder per Fragebogen zu erfassen (vgl. 1.2), da Talent in Abhängigkeit von den jeweiligen Trainings-, Wettkampf- und Sichtungspraktiken völlig unterschiedlich operationalisiert wird. Wie Brümmer (2015: 262) anmerkt, konzipieren sportwissenschaftliche Laboruntersuchungen den ‚Kontext‘ von Sportpraxis, wie bspw. die sozio-materiellen Arrangements, „mehr als Randbedingung sportlichen Handelns […] und abstrahieren von den beschriebenen Transferproblemen und Übertragungsgrenzen“. Mit einem praxistheoretischen Ansatz hingegen wird dieser ‚Kontext‘ „als entscheidende Einflussgröße“ (ebd.) begriffen und ermöglicht zudem einen Zugang zu den jeweiligen impliziten Normativitäten, die bedeutsam für die Herausbildung von Talent(en) sind. So zeigen die Analysen, dass die von den Trainer*innen eingespielten Annahmen über Talent – wie bspw. die Formbarkeit und Dynamik von Merkmalsausprägungen – sich nicht nur maßgeblich auf die Sichtungspraktiken, sondern auch auf die Mitgestaltung der Bundeskaderanwärter*innen an den Talentkonstruktionen auswirken: Im Vergleich der Sportarten wird durch die Mikroanalysen ersichtlich, dass die Trainer*innen basierend auf ihren impliziten Annahmen zu Talent u.a. sehr unterschiedliche Rückmeldungen geben. Nicht nur wirken sich ihre Annahmen auf die Häufigkeit der Rückmeldungen aus, sondern auch auf die Detailliertheit und die Adressierung aller oder einzelner Bundeskaderanwärter*innen. Daraus ergeben sich für diese unterschiedliche Einblicke in die (Be)Wertungslogiken der Trainer*innen. Die Einblicke wiederum beeinflussen die Gegebenheiten zur Ausformung von Mitspielfähigkeit essenziell: zum einen dienen die Einblicke als Orientierungsrahmen für den eigenen Handlungsspiel-
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raum. Je transparenter die (Be)Wertungslogik für die Teilnehmenden, desto einfacher können sie sich an dieser orientieren (vgl. bspw. 3.1, 3.5). Dies ermöglicht zum anderen eine (hierarchische) Verortung in den Sichtungspraktiken, indem die Bundeskaderanwärter*innen sich, wie auch ihre Konkurrenz, im Hinblick auf die Bewertungskriterien beobachten und einschätzen können: Indem die Bundeskaderanwärter*innen sich in den Augen der Trainer*innen bei einzelnen Merkmalen besonders positiv hervorheben – zumeist durch ein Verhalten entsprechend der (impliziten) Normativitäten der Sichtungspraktiken – vergrößert sich ihr Handlungsspielraum, verändert sich ihre hierarchische Position unter den Teilnehmenden und wird eine aktivere Mitgestaltung an der Talentkonstruktion ermöglicht. Dementsprechend haben die Bundeskaderanwärter*innen, die sich am besten in die Sichtungspraktiken einfinden, die größten Mitgestaltungsmöglichkeiten. Gleichzeitig entstehen aus den verschiedenen Rückmeldungen auch unterschiedliche Anforderungen an die Bundeskaderanwärter*innen, die wiederum verschiedene Talentkonstruktionen bedingen. Während die Langsprinter Ungewissheit aushalten und sich ohne Rückmeldung in den Sichtungen orientieren müssen, müssen die Tänzer*innen die Rückmeldungen umsetzen und sich reflexiv im Hinblick auf die mitgeteilten Bewertungsmaßstäbe überprüfen, da mit jedem Einblick in die (Be)Wertungslogik die Erwartung einhergeht, dieses Wissen auch praktisch umzusetzen und sich damit als kompetente*r Mitspieler*in zu zeigen. Damit berücksichtigen praxeographische Untersuchungen den Prozesscharakter von Bewertungen. Durch sie kann nachgezeichnet werden, wie und im Zusammenspiel welcher Teilnehmenden (Talent-)Konstruktionen vollzogen werden. Durch die subjektivierungstheoretische Analyseoptik wird darüber hinaus nachvollziehbar, wie die Teilnehmenden die Subjektpositionen konkret ausfüllen und sich hierarchisch zueinander ins Verhältnis setzen. Das performative Etablieren und Reproduzieren von Machtverhältnissen zwischen den Trainer*innen und den Bundeskaderanwärter*innen scheint in beiden Sportarten konstitutiv für das Sichtbarmachen von bestimmten Talentmerkmalen (3.5; 4.4). Gleichzeitig wird aus meinen Analysen ersichtlich, dass es Positionen gibt, die sportartspezifisch betrachtet werden müssen. So sind bspw. die Positionen der Heimtrainer*innen je nach Logik der Trainings- und Wettkampfpraktik mit unterschiedlich viel Macht ausgestattet, was sich in den Sichtungspraktiken widerspiegelt. Eine praxeographische Analyse kann nicht nur die politisch-normative Dimension von Mitspielfähigkeit und die jeweiligen Talentkonstruktionen offenlegen, sondern auch die (re)produzierten Seh- und Bewertungsmuster aufzeigen, wie bspw. die Festlegung auf Läufertypen im 400m Sprint oder die Dominanz der Herren im Tanzen, und damit das „Reflexionspotenzial“ (vgl. Borggre-
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fe/Cachay 2013: 168) von Trainer*innen erhöhen: Mit Hilfe eines in teilnehmender Beobachtung ‚befremdeten‘ Blicks kann lokales Wissen expliziert werden, welches für die Teilnehmenden nicht zwingend sprachlich verfügbar ist, da es sich „im Modus des Selbstverständlichen und der eingekörperten Routine[n]“ befindet (Hirschauer 2002: 27) und somit als „seen but unnoticed“ (Garfinkel 1967: 44) charakterisiert werden kann. Damit wird in der praxeographischen Untersuchung an den impliziten Wissensbeständen der Trainer*innen angesetzt, wobei die Trainer*innenperspektive zum einen nachvollzogen und im Zusammenspiel mit mir als Praxeographin explizit gemacht wird. Zum anderen werden die Wissensbestände durch die Analyseoptik befremdet und ergänzt. Wie die Analysen gezeigt haben, ist das Medium der videogestützten Interviews essenziell für die Schaffung eines Möglichkeitsraums, in dem Reflexionsprozesse bei den Trainer*innen angeregt werden. Hierbei wiederum sind Aufnahmen entscheidend, die den Sehgewohnheiten der Trainer*innen entsprechen bzw. nahekommen, da nur sie ein ‚Sehen‘ von Talent ermöglichen (vgl. 2.4.2.). Wobei die aus Trainer*innenperspektive als ‚misslungen‘ gewerteten Aufnahmen und ihre Kommentierung dieser mir als Forscherin wiederum halfen, die Bedeutsamkeit der sozio-materiellen Anordnungen für die Sehfertigkeit der Trainer*innen zu begreifen und mich dieser nach und nach anzunähern. Wie die Interviewauszüge zu den Einzelgesprächen im Langsprint gezeigt haben, können Aufnahmen aus für die Trainer*innen ungewohnten Perspektiven aber auch zu Irritationen des eingespielten Sehstils führen und dadurch Veränderungen anregen. Unterschiedliche Perspektiven ermöglichen somit nicht nur Forschenden verschiedene Zugänge zu praktischen Vollzügen, sondern stoßen auch bei Teilnehmenden unterschiedliche Reflexionsprozesse an (vgl. 4.5), was bspw. im Rahmen von Trainer*innenaus- und -fortbildungen genutzt werden könnte. Hinsichtlich der Förderung kann festgehalten werden, dass in beiden Sportarten zu den Sichtungen nur bereits leistungsstarke Athlet*innen eingeladen werden, aus denen die als am talentiertesten Anerkannten in die Kader berufen und gefördert werden. Somit sind die Sichtungen auf Selektion und Exzellenzförderung ausgelegt, wobei sich das Verhältnis von zur Sichtung Eingeladenen und in den Kader Berufenen bei den beiden Sportarten stark unterscheidet. Während beim Tanzen ca. 25 Paare zur Sichtung eingeladen, jedoch nur ca. fünf Paare in den Kader berufen werden, können von den insgesamt sieben eingeladenen Athleten im Langsprint drei Athleten in den D/C- bzw. sechs Athleten in den CKader berufen werden.2 Hier problematisieren die Leichtathletiktrainer eher die geringe Anzahl an Athlet*innen, aus denen überhaupt ausgewählt werden kann:
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Wobei sich die sechs Plätze auf vier Altersklassen beziehen.
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„Wir wählen ja nicht aus 500 Athleten und suchen uns die 200 besten, sondern wir sind froh, dass wir die 200 250 – das ist ungefähr die Größe im C-Kader [aller Leichtathletikdisziplinen] überhaupt beisammen haben.“ (Interviewauszug Trainer 1 Langsprint)
Die geringe Anzahl an potenziellen Athlet*innen hängt auch mit den ab dem C-Kader – bzw. im neuen System Nachwuchskader – vorgegebenen Richtwerten zusammen, die oftmals trotz Erfolgen bei internationalen Wettkämpfen weiter hochgesetzt und nur von Wenigen erreicht werden.3 Hier kommt ein stetiger Optimierungs- und Steigerungsgedanke zum Tragen, auf den ich im Folgenden noch näher eingehe. Als Reaktion auf die Untersuchungen, die postulieren, dass Wettkampferfolge im Nachwuchsbereich kein Indikator für Erfolge im Hochleistungsalter seien (vgl. 1.2), können einzelne Athlet*innen auch ohne Realisierung des Kaderrichtwertes in den Nachwuchskader in der Leichtathletik aufgenommen werden (vgl. DLV 2017: 6). Hierfür bedarf es jedoch „der gemeinsamen sportfachlichen Begründung durch die disziplinverantwortlichen Nachwuchsbundestrainer, die jeweiligen Nachwuchsblocktrainer 4 und die verantwortlichen Wissenschaftskoordinatoren/Trainingswissenschaftler der Disziplingruppe. Eine weitere fachliche Prüfung dieser Vorschläge erfolgt durch den DLVBundestrainer U23/U20.“ (ebd.) Die zahlreichen Hürden, die solche Vorschläge bis zur Aufnahme in den Kader nehmen müssen, verdeutlichen die anhaltende Gewichtung der Wettkampfleistung bei der Kaderauswahl. Gleichzeitig wird vom DLV betont, dass „keine individuelle Bewertung eines einzelnen Bundestrainers zur Anwendung“ komme (ebd.: 1), sondern „in standardisierten Testformen ermittelte Potenziale im Bereich der notwendigen Zubringerleistungen als Aufnahmekriterien“ (ebd.: 6) fungierten, die im Team besprochen würden. In den standardisierten Tests werden – repräsentativ für den sportwissenschaftlichen Talentdiskurs (vgl. 1.2) – anthropometrische, psychologische und vor allem sportmotorische Merkmale erfasst und ausgewertet. Diese wiederum, wie auch der momentane Einfluss „der Sportwissenschaft“ auf „die Sportpraxis“, werden von den beteiligten Trainer*innen teils sehr kritisch diskutiert: „Also die Sportwissenschaft nimmt natürlich Einfluss auf die Trainingsmethodik, Trainingsgestaltung auf die Trainingslehre. In letzter Zeit frag‘ ich mich immer mehr, wie gut das ist. Ob die – dass die Sportwissenschaft so einen starken Einfluss MOMENTAN, aktuell hat. Weil ich glaube, die Leistung macht letztendlich kein Wissenschaftler, sondern 3
Dies wurde bspw. bei einer von mir begleiteten Bundestrainertagung unter den Trai-
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Die Disziplinen der Leichtathletik sind in sogenannte Blöcke eingeteilt: Sprint, Lauf,
ner*innen stark kritisiert. Sprung, Wurf und Mehrkampf (vgl. DLV 2018b).
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der Trainer und der ist manchmal sehr unwissenschaftlich unterwegs, der probiert einfach. Der Wissenschaftler würde vielleicht warnen und sagen ‚um Gottes Willen mach das nicht.‘ Ja, der Einfluss ist groß und momentan sind wir auf dem Weg unterwegs: wir müssen nur den richtigen sportmotorischen Test finden und wenn wir den für die Disziplin xy gefunden haben, dann müssen wir da nur 100 Leute durchlaufen lassen und dann ist mindestens ein Olympiasieger dabei, dann finden wir den schon. Das ist glaub‘ ich ein Irrglauben.“ (Interviewauszug Trainer 1 Langsprint; vgl. auch Kapitel 1.2)
Praxeographische Arbeiten ermöglichen es herauszuarbeiten, wie sich Trainer*innen zum sportwissenschaftlichen Talentdiskurs positionieren. Dabei kann die sportwissenschaftliche und feldinterne Kontrastierung zwischen „Sportwissenschaft“ und „Sportpraxis“ aufgebrochen werden und es wird reflektiert, in welchen Situationen Teilnehmende diesen Gegensatz aufmachen, welche Wissensbestände in die Sichtungspraktiken einfließen und somit welche Wissensformationen die (Be)Wertungen mitbestimmen (vgl. bspw. die Annahmen zu anlagebedingtem und formbaren Talent). Erst die Aufschlüsselung der Wissensbestände und impliziten Annahmen ermöglicht ein Verstehen der davon bestimmten Diagnoseverfahren. Die vorliegende Untersuchung offenbart zwei unterschiedliche Diagnoseverfahren, die sich wiederum von sportmotorischen Tests unterscheiden, wie sie oftmals in der Sportwissenschaft empfohlen (vgl. 1.2) und vom DLV als wegweisend angegeben werden (s.o.). Nach den bereits vorgestellten Feinanalysen werden die Diagnoseverfahren nun auf der Folie der Erkenntnisse zu Prüfverfahren aus der Soziologie des Bewertens betrachtet. Hier lassen sich einige Annahmen zu Prüfverfahren und ihren Subjektivierungsweisen finden, jedoch stellen konkrete Untersuchungen der Prüfungspraxis und ihrer Effekte auf die Teilnehmenden bisher ein Forschungsdesiderat dar, an dem die vorliegende Untersuchung ansetzt. Wie im ersten Kapitel kurz dargestellt, lässt sich eine Ausbreitung von – in erster Linie quantitativen – Testverfahren in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen erkennen (vgl. bspw. Heintz 2007; Lemke 2004; Mau 2017). Wie Heintz (2007: 67) anmerkt, müssen Diagnoseverfahren als historisch und gesellschaftlich wandelbar begriffen werden, was sich auch im historischen Abriss des allgemeinen Talentdiskurses widerspiegelt (vgl. 1). Durch eine soziologische Perspektivierung kann der gesellschaftliche Kontext auch im sportwissenschaftlichen Talentdiskurs stärker berücksichtigt werden und im Idealfall Reflexionsprozesse anstoßen. (Quantifizierende) Tests stellen heutzutage keine Ausnahme mehr dar, sondern sie werden wiederkehrend eingesetzt, um immer wieder neu zu vergleichen und zu bewerten, so dass es immer häufiger Tests sind, „die uns sagen, wer wir wirklich sind“ (Lemke 2004: 263). Der Rückgriff auf
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quantifizierbare Daten in Tests setzt einheitliche Maße und Messverfahren voraus, die wiederum neue Vergleiche in zeitlicher, räumlicher und sozialer Hinsicht ermöglichen (vgl. Werron 2007: 253). Vor dem Hintergrund spiegelt die Präferenz der Sportwissenschaft und des DLV für standardisierte Testbatterien bei denen Zahlenwerte generiert werden, gesamtgesellschaftliche Tendenzen wider: Komplexe Sachverhalte können durch ‚Blackboxing‘-Verfahren anhand von eigenen Beobachtungs- und Vergleichsinstrumenten in (scheinbar) objektive Zahlenwerte übersetzt und damit aus dem ‚lokalen‘ in einen übergreifenden Rahmen gehoben werden (vgl. Heintz 2010: 167; Werron 2007: 247). Sobald standardisierte Vergleichskriterien vorliegen (vgl. Heintz 2016: 315), kann die Leistung von Athlet*innen nicht nur zu der aktuellen Leistung anderer Athlet*innen, sondern auch zu vorhergehenden (eigenen) Leistungen ins Verhältnis gesetzt werden. Bei diesen standardisierten Tests werden die Prüflinge isoliert hinsichtlich Persönlichkeitseigenschaften getestet, und die Prüfungen sind ergebnisorientiert angelegt. D.h., nicht die Performance während der Prüfung, sondern allein das Ergebnis dieser ist entscheidend. Dieser (Be)Wertungspraktik stellt Horn (2002) die Prüfform der ‚Theater‘-Aufführung gegenüber, bei der nicht-standardisierte Aufgaben gestellt werden und die offene Performance der Geprüften im Vordergrund steht, die zumeist in Interaktion mit anderen Prüflingen stattfindet. Somit ist die eigene Inszenierung während der Prüfung und nicht allein das Ergebnis entscheidend. So werden bspw. in Assessment Centern zukünftige Aufgaben simuliert, wobei die Bedingungen in der Prüfungssituation erschwert werden, indem sich bspw. der Zeitdruck oder die Aufgabenkomplexität erhöht (vgl. ebd.: 121). Grundprinzip der Prüfform ist dabei Transparenz der Aufgabe und ihrer Bedeutung. Damit kann jede*r nicht nur sich selbst kontrollieren, sondern auch die Mitgeprüften beobachten, und es entsteht „ein Spiegelkabinett unendlich vielfältiger Sichtbarkeit und Rückkopplung. Man beobachtet die anderen dabei, wie sie einen beobachten, beobachtet sich selbst beim Beobachtet-Werden, und man handelt im Vorgriff auf die Erwartungen der Beobachter wie der Mitspieler.“ (ebd.: 122) Die vorgelegten Feinanalysen der Diagnoseverfahren bei Talentsichtungen im Sport weisen vornehmlich Elemente der zweiten Prüfform auf und ermöglichen eine differenziertere Betrachtung dieser und ihrer Subjektivierungseffekte, auf die ich im Folgenden eingehe. Während der Langsprint neben Elementen der Zweiten auch einzelne Elemente der ersten Prüfform aufweist – so wird die Zeit, also das erlaufene Ergebnis, immer wieder als Bezugspunkt für die Bewertung von Talent herangezogen – lassen sich in der Tanzsichtung große Parallelen zu der Prüfform der ‚Theater‘-Aufführung erkennen: den Bundeskaderanwärter*innen werden immer wieder Aufgaben gestellt, die sie in einer vorgegebenen
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Zeit lösen müssen und die die Trainings- oder Turniersituationen simulieren. Zudem ist in beiden Sportarten bei den Sichtungen nicht allein das Ergebnis bei den einzelnen Aufgaben entscheidend, sondern der Prozess dorthin und auch die Interaktion unter den Bundeskaderanwärter*innen bzw. mit den Trainer*innen sind bereits Gegenstand der (informellen) Bewertung. Dabei legen die Trainer*innen im Tanzen nach und nach mehr Bewertungskriterien offen, so dass die Tänzer*innen sich im Hinblick auf die zu beobachtenden Merkmale selbst überprüfen können und sollen. In den meisten sozio-materiellen Anordnungen wird zudem eine gegenseitige Beobachtung ermöglicht, so dass die eigene Leistung mit der der Konkurrenz verglichen werden kann. Bei den 400m hingegen werden kaum Bewertungskriterien und Beobachtungsmerkmale offengelegt, so dass die Athleten wenig Anhaltspunkte für eine Selbst- bzw. Fremdbeobachtung erhalten. Aus dem Vergleich der Sportarten lässt sich herausfiltern, dass die Offenlegung von Bewertungskriterien wiederum von impliziten Annahmen über die Formbarkeit und Dynamik von Merkmalsausprägungen abhängt. Während bei den 400m von einer geringeren Formbarkeit ausgegangen wird und deswegen kaum Rückmeldungen gegeben werden, die die (Be)Wertungslogik offenlegen, erfolgen im Tanzen zahlreiche Rückmeldungen, mit der Intention der Trainer*innen Merkmalsausprägungen zu beeinflussen. Wie die Analysen zeigen, wirken sich diese Annahmen maßgeblich auf die Sichtungs- und Bewertungspraktiken aus. Diese wiederum beeinflussen die sich darin vollziehenden Subjektivierungsprozesse. Die Subjektivierungseffekte verschiedener Diagnose- bzw. Prüfverfahren stellen bisher ein Forschungsdesiderat dar, an dem ich mit meiner Untersuchung ansetze. So ergeben sich ganz unterschiedliche Subjektivierungseffekte, wenn bspw. eine Überschneidung von Wettkampf- und Sichtungspraktiken vorliegt und die Athlet*innen nicht wissen, dass sie bewertet werden; sie sich zwar der Beobachtung bewusst sind, jedoch die Beobachtungskriterien nicht kennen oder diese offengelegt und somit eine Selbstbeobachtung, wie auch die Beobachtung der Konkurrenz ermöglicht werden. Trotz einzelner Abweichungen lassen sich beide Sportarten hinsichtlich der Sichtungspraktiken eher der Prüfform zuordnen, bei der die Performance entscheidet – wobei die Analysen zeigen, dass die Typologisierung von Prüfformen weiter ausdifferenziert werden könnte. Die Bevorzugung dieser Prüfform bei Talentsichtungen lässt sich nicht nur auf die zu bewertenden Talentmerkmale zurückführen, sondern auch auf die Konsequenzen für die bewertenden Trainer*innen. Je nach Prüfform kommen ihnen unterschiedlich machtvolle Positionen zu: Während bei standardisierten Messverfahren wie bspw. Testbatterien eine Entwertung der Trainer*innen stattfindet, da die vermeintlich objektiven Werte theoretisch von jedem*r erhoben werden können, setzen Prüfverfahren, in
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denen die Bewertung der Performance im Vordergrund steht, ‚sehende‘ Trainer*innen voraus, die erst durch die Ausformung eines spezifischen Sehstils Talent(e) bewerten und selektieren können. Meine Untersuchung verdeutlicht, dass nicht-standardisierte Diagnoseverfahren letztendlich auf spezifischen, sich in Praktiken entfaltenden Sehstilen beruhen, die nicht einfach übernommen werden können, sondern über Praxiserfahrungen im Kollektiv ausgebildet werden. Erst diese Befähigung zum ‚Sehen‘, ermöglicht eine Bewertung (vgl. 2). Vor dem Hintergrund lässt sich die im Talentdiskurs aufgemachte Diskrepanz zwischen ‚Wissenschaft‘ und ‚Praxis‘ (vgl. 1.2) auch auf die damit einhergehenden, unterschiedlichen Deutungshochheiten zurückführen, die in bisherigen Untersuchungen nicht reflektiert werden. Je nach Talentkonstrukt und Diagnoseinstrument werden nicht nur den Bundeskaderanwärter*innen, sondern auch den sichtenden Trainer*innen unterschiedliche Machtpositionen zugewiesen und Handlungsspielräume eröffnet. Durch die subjektivierungstheoretischen Bausteine der Analyseoptik wird die politisch-normative Dimension von Mitspielfähigkeit berücksichtigt und die Teilnehmenden werden als „in Praktiken positionierte und sich positionierende“ (Brümmer 2015: 253) Mitspielende begriffen. Aus dieser Perspektive wird erkennbar, wie die von Beginn an unterschiedlich machtvollen Positionen der Teilnehmenden – Bundeskaderanwärter*innen und (be)wertende Trainer*innen – je nach Transparenz der Bewertungskriterien konkret ausgefüllt und Hierarchien auch innerhalb von Statusgruppen durch (Re)Adressierungen etabliert bzw. bestätigt werden. Diese den Talentdiagnosen inhärenten Subjektivierungsprozesse werden erst durch eine praxeographische Untersuchung der formalisierten Sichtungsverläufe greifbar. Sie offenbaren zudem nicht nur die genauen Vergleichsdimensionen, sondern auch die Vergleichsobjekte, die die Trainer*innen zur Bewertung heranziehen. Aus den Untersuchungen wird ersichtlich, dass die Trainer*innen nicht nur die Bundeskaderanwärter*innen einem unmittelbaren Vergleich im Hinblick auf spezifische Merkmale unterziehen, sondern teils auf abwesende Athlet*innen rekurrieren, um Talent zu bewerten. Je nach Engführung der Vergleichsobjekte – so zeigen die Analysen, dass im 400m Sprint nur bestimmte Läufertypen für den Vergleich herangezogen werden, während im Tanzen vielseitige Paare als Vergleich dienen – ist die Diagnose von Talent (un-)wahrscheinlicher, da sich unterschiedliche Spielräume für Abweichungen von der idealisierten Talentgestalt ergeben. In beiden Sportarten werden letztendlich subjektive Bewertungen von Performanceleistungen vorgenommen, die über den Zugang zu Bundeskadern entscheiden. Jedoch scheint es – abhängig von der Außenwahrnehmung der Objektivität der Sportarten – einen unterschiedlichen Legitimationsdruck für die Be-
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wertungen zu geben. Hierbei scheint es von Bedeutung zu sein, dass die zu bewertenden Talente im Tanzen im Gegensatz zum Langsprint sich in Wettkämpfen nicht in objektiv messbaren Aktivitäten zeigen: dies macht die Rolle des Sichtenden im Tanzen nach außen gleichsam ‚interpretativer‘. So geht im Langsprint zwar die Erhebung von objektiven Werten der Sichtung voraus, da die sichtenden Trainer nur die schnellsten Langsprinter zur Sichtung einladen. Bei der Sichtung selbst erheben die Trainer jedoch keine weiteren Zahlenwerte und müssen ihre subjektiven Bewertungen auch nicht nach außen transparent machen oder legitimieren. Im Tanzen hingegen werden die subjektiven Bewertungen durch das Instrument des Bewertungsbogens nach außen objektviert, indem sie in Zahlenwerte übersetzt und dadurch für Außenstehende nachvollziehbar werden. Wie Heintz (2010: 170ff.) herausstellt, ist die Objektivität von Zahlen kein Sachverhalt, sondern eine Zurechnung, die jedoch aufgrund des hohen Maßes an Explizitheit des Mediums eine Infragestellung des Ergebnisses – im vorliegenden Fall der Talentsichtung – unwahrscheinlicher macht. Eine Negierung ist nur möglich, wenn das Verfahren der Herstellung transparent ist, welches in der Regel jedoch nach außen einer Blackbox gleichkommt (vgl. ebd.). Durch praxeographische Untersuchungen können die genauen Bewertungsprozesse und die ihnen implizite Logik offengelegt und damit auch Veränderungen ermöglicht werden. Im Tanzen zeigen die Analysen, dass der Bewertungsbogen nicht bloß Mittel der Bewertung ist, sondern als aktiver Teilnehmer fungiert, in dem er die Aufmerksamkeit der Bewertenden auf bestimme Merkmale lenkt, andere in den Hintergrund rückt und damit verschiedene Kriterien unterschiedlich gewichtet. Diese vermeintliche Objektivierungstechnik definiert damit die Selektionskriterien auf fundamentale Weise mit – ohne dass diese Wirkungszusammenhänge den Trainer*innen zwingend bewusst sind (vgl. 3.9). Durch die Aufschlüsselung der für die Trainer*innen relevanten Merkmale wird eine Reflexion und eventuelle Modifikation des Bogens ermöglicht, um die Selektionsentscheidungen damit anzupassen. Vor dem Hintergrund der soziologischen Erkenntnisse zu quantifizierenden Bewertungsinstrumenten (vgl. 1) stellt sich gleichzeitig die Frage, ob ein Rückgriff auf diese zu empfehlen ist. Hier zeigt sich eine Problematik resultierend aus der aktuellen Wertung von qualitativ unterschiedlichen Wissensgehalten, die in den Bewertungs- und Selektionspraktiken im Leistungssport Geltung erlangen. Nicht nur im Tanzen und im Langsprint, sondern bspw. auch im Fußball (vgl. Brümmer 2019) dominiert – zumindest nach außen – ein analytischer und möglichst standardisierter Zugang bei Bewertungsprozessen, in dessen Zuge es zu einer Aufwertung theoretischer Wissensgehalte und einer Abwertung subjektiven Erfahrungswissens gekommen ist. Gleichzeitig zeigen meine Untersuchungen, dass in den Sichtungspraktiken selbst das subjektive Erfah-
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rungswissen einen dominanten Stellenwert einnimmt. Eine Übersetzung dieser komplexen und teils impliziten Wissensformen in standardisierte Verfahren oder gar ihr Ersatz scheint vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchung wenig erfolgsversprechend. Basierend auf den erarbeiteten Ergebnissen plädiere ich stattdessen für die Analyse dieser impliziten Wissensformen wie den in die Sichtungspraxis eingespielten Vorannahmen zu Talentmerkmalen, -gestalten und der Seh- und Bewertungsmuster, um diese reflexiv zugänglich und bspw. als Gegenstand von Trainer*innenfort- und ausbildungen zu machen. Zusammenfassend wurden theoretische Ansätze und Erkenntnisse aus der Soziologie genutzt, um zwei konkrete Sichtungspraktiken im Sport zu beleuchten und damit den (sport-)wissenschaftlichen Talentdiskurs um eine praxis- und subjektivierungstheoretische Perspektive zu erweitern. Auch wenn gerade aus praxistheoretischer Perspektive von Grenzen der Übertragbarkeit ausgegangen werden muss, kann die vorliegende Studie auch über den Sport hinaus wertvoll für Untersuchungen von Diagnose- und (Be)Wertungsverfahren sein und einen Beitrag zur Soziologie leisten. Gerade im Zuge der fortschreitenden Ausbreitung von (quantifizierenden) Prüf- und Testverfahren in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern wie bspw. Schule, Wissenschaft und Wirtschaft (vgl. bspw. Mau 2017) werden Erkenntnisse zu den genauen Bewertungsprozessen und ihrer (subjektivierenden) Wirkung immer bedeutsamer. Während hierbei zunehmend standardisierte Zugänge auch in den Analysen Beachtung finden, gerät die Relevanz von (inter-)subjektiven und auf Erfahrungswissen beruhenden (Be)Wertungsformen in den Hintergrund. Basierend auf meiner Arbeit, die die Bedeutsamkeit dieser Wissensformen – wie bspw. dem impliziten Körperwissen – in den konkreten Bewertungspraktiken zeigt, spreche ich mich für einen systematischen Einbezug dieser Wissensformen in Analysen von (Be)Wertungsprozessen aus. Des Weiteren lässt sich durch die stetige Verbreitung speziell von Testverfahren, in denen Performanceleistungen relevant gemacht werden, die Hypothese aufstellen, dass nicht nur im Sport, sondern in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen die Körper der zu Bewertenden für (Talent-)Diagnosen herangezogen werden. Da aus praxistheoretischer Sicht jede Praxis ihre eigene Logik und Körperlichkeit aufweist, geht es nicht darum, die Ergebnisse eins zu eins auf andere Felder zu übertragen, sondern aufzuzeigen, welchen Beitrag eine praxis- und subjektivierungstheoretische Analyseoptik auf (Be)Wertungspraktiken leistet. Hierfür werden aus den Ergebnissen weitere Beobachtungshinweise generiert, die für Untersuchungen anderer (Be)Wertungspraktiken hilfreich erscheinen. So wurde gezeigt, dass für ein Verständnis von Bewertungen nicht allein das Herausarbeiten der als relevant erachteten Merkmale notwendig ist, sondern zu-
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dem die impliziten Annahmen über bspw. ihre Formbarkeit – von außen und/oder durch die Prüflinge selbst – wie auch eine chronologische Abfolge von Ausformungsschritten bedeutsam sind. Basierend auf diesen impliziten Annahmen kann dasselbe Merkmal völlig unterschiedlich operationalisiert werden. Praxistheoretische Untersuchungen ermöglichen einen Zugang zu diesen impliziten Annahmen, da sich diese in den Sichtungspraktiken zeigen und damit durch Mikroanalysen der konkreten Praktiken greifbar werden. Bei der Aufschlüsselung von (Be)Wertungslogiken sollte zudem die Möglichkeit der Einbettung der zu untersuchenden Praktik in ein Praktikenbündel berücksichtigt werden, anstatt Bewertungspraktiken isoliert zu betrachten (vgl. Janetzko i.E.). Im vorliegenden Fall wurde deutlich, dass die Sichtungspraktiken zum einen in Zusammenhang mit den jeweiligen Trainings- und Wettkampfpraktiken stehen und so bspw. die Bewertungsausrichtung auf Potenzial oder aktuelle Leistung, wie auch die Position von Heimtrainer*innen von diesen angrenzenden Praktiken stark beeinflusst werden. Zum anderen finden Talentsichtungen nicht nur jährlich statt, sondern stehen in Zusammenhang mit zukünftigen Wettkämpfen, so dass nach der Sichtung kein Endpunkt erreicht wird, sondern der Talentstatus immer wieder performativ bestätigt und anerkannt werden muss. In der zukunftsbezogenen Logik des Talentdiskurses ist damit jedes gegenwärtige Können nur ein Übergang auf dem Weg zur Potenzialentfaltung oder zum ‚Verspielen‘ des Potenzials. Für ein Verständnis von Bewertungspraktiken erscheint es daher wichtig, sowohl die Anzahl und den Endpunkt der angrenzenden Praktiken, als auch die zeitliche Dimension – bspw. die potenzielle Entwicklungsdauer und Annahmen zur Entwicklungsfähigkeit, wie auch den Abstand zwischen den Bewertungen – zu berücksichtigen. Im Sport zum Beispiel entsteht durch die Kontinuität an zu bestehenden Prüfungen, um als Talent anerkannt zu werden, ein permanenter Optimierungsgedanke: Die (Wettkampf-)Leistung wird stetig ins Verhältnis zur (internationalen) Konkurrenz gesetzt, gegen die sich bewährt werden muss, um den Talentstatus aufrecht zu erhalten. Dieser Optimierungsmodus lässt sich als Indikator für eine heutige „Optimierungsgesellschaft“ (Spreen/Flessner/Rüster/Hurka 2018) lesen, da er nicht nur dem Feld des Sports inhärent ist, sondern sich in fast allen Bereichen – wie bspw. der Ökonomie – wiederfindet: „In einem wie im anderen Fall [Sport und Ökonomie] genügt es nicht, einfach nur gut zu sein, man muss besser sein als die Konkurrenz. Und weil die bekanntlich nicht schläft, gelten sportliche wie wirtschaftliche Erfolge immer nur so lange, bis ein anderer vorbeizieht und die Führung übernimmt. Wer nach oben will, muss die anderen überholen. Wer
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an der Spitze ist, muss alles daransetzen, seine Position zu halten. […] Fertig wird man mit der Arbeit an sich selbst deshalb nie.“ (Bröckling 2014: 99)
Am Feld des Sports wird die Bedeutsamkeit von Vergleichen, die mit der fortschreitenden Quantifizierung weitere Optimierungszwänge auslösen, besonders offensichtlich, da hier Leistungsvergleiche zentral sind und bereits seit Jahrzehnten systematisch gezogen werden. Dabei lässt sich aus meinen Ergebnissen die Hypothese aufstellen, dass abhängig von der Außenwahrnehmung, Bewertungspraktiken unterschiedlichem Legitimationsdruck unterliegen. Quantifizierende Verfahren, wie sie bspw. im Tanzen angewandt werden, können als Objektivierungsstrategie gedeutet werden, da durch sie subjektive Eindrücke von Performanceleistungen in vermeintlich objektive Zahlenwerte ‚übersetzt‘ und damit legitimiert werden. Wie bereits ausgeführt, fungieren die eingesetzten Instrumente hierbei nicht bloß als Mittel der Bewertung, sondern als aktive Teilnehmer, die die Bewertungs- und Selektionskriterien auf fundamentale Weise – und den restlichen Teilnehmenden nicht zwingend bewusst – mitdefinieren (vgl. 3.9). Praxistheoretische Zugänge ermöglichen eine Offenlegung dieser Prozesse. Bisherige Erkenntnisse zu Bewertungsprozessen thematisieren bereits die Bedeutsamkeit von Vergleichen. Meine Untersuchung zeigt darüber hinaus, dass je nachdem wie viele und welche Vergleichsobjekte – im vorliegenden Fall anwesende oder abwesende Athlet*innen, relativ starre oder eher flexible Talentgestalten – herangezogen werden, bzw. wie sehr Abweichungen von diesen toleriert werden, die Bewertungen unterschiedlich ausfallen. Demnach ist es in Analysen von Bewertungsprozessen wichtig, nicht nur die konkreten Vergleichsdimensionen, sondern auch die herangezogenen Vergleichsobjekte zu analysieren. Durch die Ergänzung der praxistheoretischen Analyseoptik um subjektivierungstheoretische Bausteine kann zudem die politisch-normative Dimension von Mitspielfähigkeit mitberücksichtigt werden. So wird nachvollziehbar, wie die Teilnehmenden die – teils mit unterschiedlich viel Macht ausgestatteten – Subjektpositionen konkret ausfüllen und sich hierarchisch zueinander ins Verhältnis setzen. Gleichzeitig ist zu untersuchen, inwiefern das performative Etablieren/(Re)Produzieren von Machtverhältnissen konstitutiv für das Sichtbarmachen der Bewertungsmerkmale ist, wie es in beiden Sportarten gezeigt wurde. Zudem haben meine Analysen ergeben, dass je nach Offenlegung der Bewertungskriterien unterschiedliche Ansprüche an die Geprüften gestellt werden. Gewähren die Prüfenden den Geprüften Einblicke in die (Be)Wertungslogik ermöglichen und fordern sie gleichzeitig eine Selbstbeobachtung wie auch die Beobachtung der Konkurrenz. Zudem bieten sie den Prüflingen einen Orientierungsrahmen für ihren eigenen Handlungsspielraum. Damit wird ihnen nicht nur die Ausformung
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von Mitspielfähigkeit, sondern auch eine hierarchische Verortung in der jeweiligen Praxis erleichtert – unter der Voraussetzung, dass sie in der Lage sind, sich und die Konkurrenz unter den offen gelegten Kriterien selbst zu beobachten. Gleichzeitig haben meine Untersuchungen gezeigt, dass durch die Offenlegung der Bewertungskriterien und ein Einfinden in die Bewertungspraxis sich für die Prüflinge unterschiedliche Mitgestaltungsmöglichkeiten ergeben. Somit wird durch praxeographische Untersuchungen der Prozesscharakter von Bewertungen greifbar und es kann nachgezeichnet werden, wie und im Zusammenspiel welcher Teilnehmenden sich Konstruktionen der zu bewertenden Merkmale vollziehen. Hierbei ist die Perspektivierung auf die (Be)Wertungspraxis bedeutsam, die erst das kontingente Vollzugsgeschehen zum Vorschein bringt und damit eine stärkere Berücksichtigung der „situativ-emergente[n] Qualität aller sozialen Vorgänge“ (Bergmann 2011: 228) ermöglicht. Des Weiteren wird durch meine Untersuchung verdeutlicht, dass sich je nach Offenlegung nicht nur der Bewertungskriterien, sondern auch der Prüfungssituation unterschiedliche Subjektivierungseffekte für die Prüflinge ergeben: je nach Rahmung der Praktik, Überschneidung mit anderen Praktiken, dem jeweiligen sozio-materiellem Arrangement, wie auch den Rückmeldungen in der Bewertungspraxis ist den Prüflingen (un)klar, ob, und wenn ja, nach welchen Kriterien und im Hinblick auf welche Merkmale sie bewertet werden, was sich auch auf die Selbst-Bildungsprozesse auswirkt. Jedoch sollten bei der Analyse von Bewertungsprozessen nicht nur die sich aus der Prüfform ergebenden Effekte auf die Prüflinge berücksichtigt werden, sondern auch die damit einhergehenden, unterschiedlichen Positionierungen der Prüfenden. Je nach Prüfform und Diagnoseinstrument werden auch den Prüfenden unterschiedliche Machtpositionen zugewiesen und Handlungsspielräume eröffnet, die zu (be)wertenden ‚Eigenschaften‘ (mit) zu konstruieren, da performancebasierte Bewertungen im Vergleich zu standardisierten, ergebnisorientierten Bewertungen nicht prüfer*innenunabhängig angelegt sind, sondern spezifische Sehkompetenzen voraussetzen, die erst eine Bewertung ermöglichen. Wie anhand der ‚misslungenen‘ Videoaufnahmen deutlich wurde, ist die Fähigkeit zu ‚Sehen‘ jedoch nicht einfach gegeben, sondern die Prüfenden werden erst in den jeweiligen sozio-materiellen Anordnungen und durch praxisspezifische Erfahrungen zum Sehen und Bewerten befähigt. Vor dem Hintergrund einer Verknüpfung unterschiedlicher Bewertungspraktiken wird aus subjektivierungstheoretischer Perspektive dafür sensibilisiert, dass letztendlich auch die Prüfenden im Hinblick auf die ‚Richtigkeit‘ ihrer Bewertungen bewertet werden, und auch sie ihren Status als kompetente Prüfende immer wieder performativ unter Beweis stellen und beglaubigen lassen müssen. Zurückkommend zum Feld des Leis-
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tungssports lässt sich beobachten, dass Trainer*innen- und Scoutpositionen selten langfristig vergeben werden, sondern die Vergabe und Verlängerung der Positionen von Erfolgen abhängt. Konkret sollen Trainer*innen bei der Bewertung von Talent anhand der aktuellen Leistungen Athlet*innen nicht nur hinsichtlich der Gegenwart und Vergangenheit erfassen, sondern in erster Linie die Zukunft prognostizieren und werden daran selbst gemessen. Letztendlich bezieht sich damit das eingangs thematisierte ‚Finden der Richtigen‘ (vgl. ZEIT 2018) nicht allein auf die (Be)Wertung, sondern vielmehr auf die zukünftige Verwertung von Talent, wie es bereits im neutestamentlichen Gleichnis von den anvertrauten Talenten angelegt ist (vgl. 1.1). Von der ‚Richtigkeit‘ der Prognose hängt jedoch nicht nur der Status der Athlet*innen, sondern auch der der sichtenden Trainer*innen ab.
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Soziologie Detlef Pollack
Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute September 2020, 232 S., 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3
Ingolfur Blühdorn, Felix Butzlaff, Michael Deflorian, Daniel Hausknost, Mirijam Mock
Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet Juni 2020, 350 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5442-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5442-8
Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)
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