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German Pages 450 [460] Year 1895
SAMMLUNG
THEOLOGISCHER HANDBÜCHER.
VIERTER TEIL: SYS T E M A T I S C H E T H E O L O G I E . E R S T E ABTEILUNG: CHRISTLICHE
DOGMATIL
ERSTER TEIL: PROLEGOMENA.
Bonn E d u a r d Weber's V e r l a g (Julius 1895.
Flittner)
CHRISTLICHE DOGMATIL ERSTER TEIL: PROLEGOMENA
von
D R . W I L H . S C H M I D T , D. UND O. PROFESSOR DER THEOLOGIE IN BRESLAU.
Bonn Eduard Weber's Verlag (Julius 1895.
Flittner)
Der
HOCHWÜRDIGEN THEOLOGISCHEN FAKULTÄT in
Halle a. S. Gestatten Sie, hochwürdige Herren, dass ich nach akademischer Sitte meinen schuldigen Dank für die ehrenvolle Auszeichnung, die mich am 7. März v. J. unter die Zahl Ihrer Doktoren aufnahm, auch öffentlich bethätige. Ist es die Erstlingsfrucht meiner akademischen Arbeit, durch die es geschieht, so kann sie freilich das „nonum prematur in annum" nicht zu ihren Gunsten geltend machen; aber um so mehr wird sie sich auf die althergebrachte Schätzung der „primitiae" berufen und unter diesem Gesichtspunkt eine wohlwollend nachsichtige An- und Aufnahme erbitten dürfen. Auch will ihre Überreichung ja alles Andere als etwa eine wirkliche Begleichung meiner Dankesschuld sein. Ich empfinde die mir gewordene Promotion durchaus als einen Vertrauensakt, der für das ganze fernere Leben eine Verpflichtung bleibt. Es gab eine Zeit, in der die deutsche Bildung an alle Eichtungen der Wissenschaft und Kunst sich anzuschliessen bemüht war. Nur mit der Religion drohte sie den Kontakt einzubüssen. „Gleich als wäre der Sinn für das Heilige wie eine veraltete Tracht auf den niederen Teil des Volkes übergegangen, dem es allein noch zieme, in Scheu und Glauben von dem Unsichtbaren ergriffen zu werden."
Dieser verhängnisvollen Scheidung zwischen dem, was Gott zusammengefügt hat, wehrte ein Redner, in dem der deutsche, denkend-gläubige Geist selbst seine Schwingen regte und die verständnisvolle Liebe noch beide umschloss,
religiöses Empfinden und
weltoffen forschenden Sinn. „Dass die Frömmigkeit aus dem Inneren jeder besseren Seele notwendig von selbst entspringt, dass sie es würdig ist, durch ihre innerste Kraft die Edelsten und Vortrefflichsten zu beleben
und
ihrem innersten Wesen nach von ihnen aufgenommen und erkannt zu werden," das ist es, was F r i e d r i c h D a n i e l E r n s t S c h l e i e r m a c h e r um die Wende des vorigen Jahrhunderts in seinen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern" diesen zuruft. Beinahe wieder ein Jahrhundert
ist dahin.
Ungeachtet der
erfrischenden Neubelebung religiösen Sinnes, nicht zum wenigsten durch jenen Redner, ist der alte Gegensatz unüberbrückt, nur beinahe noch gähnender und klaffender wie damals, zwischen Empfinden und Denken, zwischen Glauben und Wissen, zwischen Christentum und Bildung geblieben. An der Überbrückung dieser Kluft, an der Versöhnung beider mit zu arbeiten, das sehe ich als meine Verpflichtung an.
Gläubig
u n d verständig, verständig u n d gläubig, dieser Combination, noch richtiger dieser Coincidenz, nicht nur einem Neben-, sondern einem Mit- und Ineinander, dem möchte ich dienen; mit meinen unvergessenen Lehrern weiland in Halle, August Tholuck Müller,
gewiss,
dass Rousseau Unrecht
„L'homme en commençant
hat
und
Julius
mit seinem
Satze:
à penser cesse de sentir" ; dass
das
gesunde christliche Gefühl sich vor dem Denken nicht zu fürchten braucht,
und das gesunde Denken sich von dem Gefühl nicht los-
reisst, sondern wie jenes an diesem sieh nährt und erfrischt, so dieses in jenem seine Bestätigung lind sein Verständnis findet; aber mit ihnen nicht minder gewiss, dass „fromm und ehrlich" KorrelatBegriffe und -Tugenden sind. Niemand kann seine Vergangenheit durchstreichen; und die Geschichte kann es noch weniger. Ihr ist das Vergessen noch unmöglicher als dem Einzelnen. Nimmermehr ihre Errungenschaften, ihre Erkenntnisse, ihre Mühe und Arbeit ignorieren — „humani nihil a me alienum puto" —, aber in dem Vollbesitz dessen, was ihr gelang, die ewige Bestimmung nur um so deutlicher empfinden und die letzten Fragen nur um so ernstlicher in Angriff nehmen, das sehwebt mir als erstrebenswertes Ideal vor. Das sehe ich als die willkommene Obliegenheit an, auf die mich die Promotion mit besonderem Nachdruck hinweist, und als die theologische Aufgabe der Gegenwart, dem gebildeten Geschlecht das Bewusstsein zurück zu erobern: „Tu fecisti nos ad te: et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te." In der unentwegten Hingabe an diese Aufgabe, getreu den Richtungslinien, die ich einst in Halle empfing und behielt, bleibe ich, hochwürdige Herren, Ihr Schuldner und Verpflichteter, überzeugt, ebenso den hochherzigen Sinn richtig zu deuten, der mir den auszeichnenden Charakter wohlwollend vertraute. Breslau, den 31. Oktober 1895. D. Wilh. S c h m i d t .
Inhaltsangabe. Einleitung 1—60. § 1. Begriff der Dogmatik 1/2. § 2. Das Wort doy/xa 1—19: Der Sprachgebrauch von Soyfia als etwas Feststehendem: Cicero. Plato. Seneca. Josephus. Ignatius. Clemens Alex. Vincentius Lerinensis. Basilius der Grosse:
döyfia
und
xrjQvyjia'
syyQacpa
und
äygag ¡xy\ xaxafiekrj-
XOJV Soy/uaxtov rrjv yvwoiv..." ). E s ist also nur von ungeschriebenen Dogmen die Rede. Auf altchristliche Glaubenssätze, wie sie das „Symbol um minus" enthielt, kann sich der Ausdruck danach hier nicht beziehen; denn es trifft auf sie weder zu, dass
•ßeToav
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1) „Aliud utique est dogma, aliud praedicatio. Nam dogmata silentur, praedicationes vero publicantur. Est autem silentii etiam obscuritas, qua utitur scriptura, intellectu difficilem reddens dogmatum sententiam idque ad legentium utilitatem." 2) „ E x asservatis in Ecclesia dogmatibus et praedicationibus, alia quidem habemus e doctrina scripta prodita, alia vero nobis in mysterio tradita recepimus ex traditione Apostolorum, quorum utraque vim eandem habent ad pietatem; nec iis quisqnam contradicet, nullus certe qui vel tenui experientia noverit, quae sint Ecclesiae instituta." 3) „Haec est ratio, cur quaedam citra scriptum tradita sint, ne dogmatum notitia neglecta, propter assuetudinem vulgo veniret in contemtuin."
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Basilius: doy/ta und xrjovyfia.
sie ungeschrieben wären, noch auch dass sie verschwiegen würden. Woran werden wir aber dann denken dürfen ? Es werden uns noch zwei Merkmale genannt, sowohl dass sie dieselbe Kraft zur Gottesfurcht besitzen, wie die geschriebenen, als auch dass keiner ihnen widersprechen werde, der einigennassen aus Erfahrung wisse, was die kirchlichen Verbindlichkeiten („fteo/Mw") zu bedeuten hätten. Danach liegt es so nahe wie möglich, bei den fraglichen ungeschriebenen Dogmen an eben diese kirchlichen Verbindlichkeiten, Einrichtungen, Gebräuche selbst zu denken. Sie erbauen d. h. gereichen dem zu Förderungsmitteln seiner Gottesfurcht, der an ihren geheimen, tieferen Sinn dabei denkt und sie nicht mechanisch, gewohnheitsmässig und nur äusserlich mitmacht; und wer diese erbauende Wirkung je irgendwie an sich erfahren hat, der wird nicht über sie absprechen, sondern sie würdigen und wert halten. Dieser geheime Sinn gewisser kirchlicher Gebräuche bleibt unausgesprochen, die kirchliche Handlung selbst aber bleibt der ganzen Gemeinde zugänglich. Allerdings nun verhält sich dieser Brauch, dieser kultische Akt, diese, sagen wir, Ceremonie zu ihrem Sinn, wie die Hülle zum Kern, wie die Einkleidung zum Eingekleideten, wie das Symbol zu seiner Idee. Aber es ist ja eben ausdrücklich und notorisch ein aygcupov, sowohl das xr/Qvy/ua, der kirchliche Gebrauch, als das doy/u-a sein Sinn, mit andren Worten sein Lehrgehalt; sowohl das kultische Symbol als auch seine Idee. Indessen wird man einwenden, wo heisst denn xrjgvyfia je kirchlicher Gebrauch? Aber wenn dieser kirchliche Gebrauch „to%vv noög zrjv ivoeßeiav" haben soll, muss er denn dann nicht predigen, nicht eine Predigt sein? Wie oft hat Christus von der Hochzeit zu Cana an in Zeichensprache gepredigt? und wenn Paulus 1 Cor. 2. 4 seine Predigt nicht in überredenden Worten menschlicher Weisheit, sondern eine in Beweisung des Geistes und der Kraft, also eine Thatpredigt nennt: ist nicht noch heute und überall die Thatpredigt in vorzüglichster Schätzung und grösster Wirksamkeit? und ist und soll denn nicht noch immer der religiöse Cult mit allen seinen einzelnen Akten und seinem ganzen Apparat eine Predigt sein? Und wenn die kirchlichen fieofioi, institutiones, nach dem ganzen Zusammenhange ganz ausschliesslich nach dieser ihrer Gottesfurcht bewirkenden, erbauenden Seite erwähnt werden: was steht dann der Bezeichnung, der nach dem Kontext sinngemässesten Bezeichnung dieser kirchlichen Gebräuche als xrjQvy/naTa entgegen ?
Basilius: eyygaqpa, äyQatpa. Kahnis.
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Dagegen bietet die Stelle nicht den geringsten Anhalt, den Unterschied von Sinn und Symbol, der sich bei den aygacpa von selbst ergiebt, nun auch ganz kontextwidrig auf die eben davon ausdrücklich unterschiedenen syygaqpa, auf die feststehenden christlichen Glaubenssätze, zu übertragen 1 ). Und wie würde sich damit die peinliche Abwehr irgend welcher Textveränderungen des altkirchlichen Symbols, also recht eigentlich des Inbegriffs der Dogmen, zusammenreimen lassen? Denn wenn sich darin allerdings noch peinlicher als das Morgenland die Kirche zu Rom bewies und das Abendland mit ihr: so beschränkt sich doch auch die Beweglichkeit des morgenländischen Taufbekenntnisses, des morgenländischen Textes des Ursymbols, auf den allerengsten Kreis des Veränderlichen. Im grossen Ganzen muss man sagen, dass der alten Kirche durchweg das Dogma ein absolut Feststehendes war bis auf den Wortlaut, dass sie es so ansah und es so hütete. Und dieses Ansehen und diese unantastbare Giltigkeit geniesst es bei ihr nach dem übereinstimmenden Urteil und Wortlaut der Citate als Gottes Dogma oder wie Vincentius sagt, coelestis philosophiae dogmata; so sind sie ihnen die feststehende für die Gläubigen schlechthin verbindliche und normative Grundwahrheit. Mit diesem citatengemässen Befund stimmt es nicht, wenn Kahnis, „die lutherische Dogmatik" I, 6 definiert: „Dogma ist ein Urteil, welches auf persönlicher Autorität ruht"; wenn er behauptet: „Es durchdringen sich in diesem Worte die Begriffe Satz und Satzung, so dass bald der eine, bald der andere den Nachdruck hat." „Im ersteren Falle heissen döy/uara Lehren, welche auf persönlicher Entscheidung ruhen" (6). In diesem Sinne kommt der Ausdruck nicht vor. Die eine Belegstelle, die er dafür citiert, Cic. quaest. ac. — nicht IV, 9, wie er schreibt, sondern — II, 9, 27 spricht dagegen und nicht dafür. Denn hinter den von Kahnis citierten Worten: „Sapientia neque de re ipsa dubitare debet, neque de suis decretis, quae philosophi vocant dogmata" folgen die weiteren: „quorum nullum (sc. decretum) sine scelere prodi potent." Was dagegen nur auf persönlicher Entscheidung beruht, wird ganz folge1) Biedermann versteht Soyfia im Unterschied von der populären Predigt der Heilswahrheit (x^gvyfta) als die zunächst nur den Theologen angehende Lehrfassung derselben, aber erkennt doch an, dass dem kirchlichen Altertum „das Dogma unmittelbar", also ohne etwa „die jeweilige menschliche Lehrform" davon auszunehmen und etwa frei zu geben, „natürlich" „als die göttliche Grundwahrheit der Kirche2 selbst, ausgesprochen in ihren Lehrsatzungen" galt (Christi. Dogmatik 3).
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Schenkel. Baur. Lange. J. Köstlin. Geltungsbereich des Dogmas.
recht bei verbesserter Einsicht sine ullo scelere aufgegeben werden können. Wenn Schenkel das Dogma auf „staatsrechtlich verpflichtendes Ansehen" stützt, so kann das Wort gelegentlich auch diese Bedeutung haben, wie Lc. 2, 1, aber es ist das nur ein abgeleiteter Gebrauch. Sofern der Kaiser Augustus für seinen Staatenverband schlechthin verbindlich dekretiert und jedes Staatsoberhaupt für sein Landesgebiet gleich ihm, so kann auch ein solches Edikt ein doy/ia heissen. Der überleitende Gedanke ist das unbedingt Verpflichtende, Feststehende. Das staatsrechtliche Moment tritt dahinter völlig zurück. Auch wenn J. P. Lange, „Philos. Dogmatik" 4: politische, philosophische, theokratische und christliche Dogmen unterscheidet, so sind das nur Anwendungen des einen Begriffs des absolut Giltigen auf die verschiedenen Gebiete. Das Richtige hat schon Baur, „Lehrbuch der christlichen Dogmengeschichte": „Das Wort Dogma, wie es im Sprachgebrauch der Alten teils von philosophischen Lehrsätzen, von Anordnungen und Geboten, im n. T. auch von Bestimmungen des mosaischen Gesetzes gebraucht wird, bedeutet überhaupt das absolut Geltende, schlechthin Anzuerkennende" und besonders J. Köstlin in seinem trefflichen und wertvollen Artikel: „Dogmatik" in der 2. Aufl. der Herzog-Plittschen Realencyklopädie. Ganz korrekt auch Biedermann „Christliche Dogmatik" 2 , 2 ff. Kurzweg das Dogma nur als Lehrmeinung der Theologen zu nehmen, nennt er ,jedenfalls schief" (4) und erkennt rückhaltlos an, dass die Unterscheidung zwischen der göttlichen Heilswahrheit und der jeweiligen menschlichen Lehrform, in welche die Kirche dieselbe fasste, dem kirchlichen Altertum ferne lag (3). 4. Nun lässt sich allerdings nicht leugnen, dass der Sprachgebrauch noch ein weiteres Moment birgt und zur Geltung bringt. Wir sahen aus dem Obigen, dass Cicero das decretum (Dogma) der Akademiker, nihil percipi posse, kritisiert und ad absurdum führt. Er thut das aus Überzeugung, ohne alles Bedenken, ohne das geringste Empfinden, damit ein „scelus" zu begehen. Warum? Er ist kein Akademiker. Er zählt nicht zu ihrer Gruppe, zu dieser Schule. Daher sein Recht der Kritik. Die Dogmen (decreta) haben ihre feststehende Giltigkeit, aber nicht über die Grenzen der betreffenden philosophischen, staatlichen oder kirchlichen Gemeinschaft hinaus. Das Gebot (Dogma) des Kaisers Augustus war ein verbindliches Gebot für alle Unterthanen des römischen Reichs, aber nicht darüber hinaus. Niemand ausserhalb desselben war daran gebunden
Göttliche Autorität Grund der Geltung des Dogmas.
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und hielt sich daran gebunden. Keinem kam auch nur der Gedanke, dass er es sein könnte. Selbst innerhalb der Sekten giebt es Dogmen. Es sind nicht etwa nur die Sätze, in denen sie mit der Kirche noch übereinstimmen, sondern durchaus auch die, durch deren Pointierung sie sich von ihr trennen. Es sind die für ihren Bereich als Sekte unantastbar giltigen Wahrheitsaussagen. Für ihren Bereich und nur für ihn, nicht über ihre Gemeinschaft hinaus. In diesem Sinne definiert Biedermann (2): Das Dogma ist „ein Satz von sozialer Bedeutung: es sagt, was in einer bestimmten Gemeinschaft gilt und gelten soll". Mit Rücksicht auf ihre kirchliche Geltung heissen die kirchlichen Dogmen auch ecclesiastica; und ob die kirchlichen Schriftsteller das Epitheton hinzusetzen oder nicht, immer sind die christlichen Dogmen die für die Kirche, für die ganze Christengemeinde feststehend unantastbaren Lehrbestimmungen. Darin liegt nun freilich, dass sie nimmermehr nur als die subjektive Einzelmeinung irgend eines, wenn auch Gottes-, Gelehrten über dies oder jenes Lehrstück galten, keineswegs nur als „sententiae alicujus doctoris de capite aliquo doctrinae"; aber doch nicht minder zugleich, dass ihr Geltungsbereich das der christlichen Gemeinde war und darüber hinaus nicht. Hat denn nicht also Schleiermacher ganz recht, wenn er sich von vorne herein auf den Standpunkt des historisch vorhandenen christlichen Bewusstseins stellt und lediglich von dieser Basis aus operiert? Und Albrecht Ritsehl, wenn er alle theologischen Aussagen lediglich vom Standpunkt des Offenbarungswertes Christi und der christlichen Gemeinde aus behauptet und als giltig in Anspruch nimmt? Vom a u s s e r c h r i s t l i c h e n Standpunkte des Weltweisen, des Philosophen, des Historikers, des neutralen Beobachters: j a , aber nicht vom Standpunkte des Bekenners, des Gläubigen, des Christen. Wenigstens, und darauf kommt es in diesem Zusammenhange und an dieser Stelle lediglich an, den Christgläubigen vom Anfang, der alten Kirche, ist diese Betrachtung und Unterscheidung, diese Reserve und Selbstbescheidung, schlechterdings fremd. Sie stellen die christliche Kirche nicht mit allerlei anderen Gemeinschaften, Sekten und Philosophenschulen oder welchen Gruppen immer auf eine Linie; sie begnügen sich nicht damit, den Geltungsbereich ihrer christlich-kirchlichen Überzeugung als einen begrenzten neben andern gleich- oder doch auch berechtigten anzuerkennen, sie wissen nichts von einer Relativität ihres Wahrheitsbesitzes, sondern sie wissen das in Christo erschienene Heil als ein
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Unterscheidung der Dogmata Und der Ethica. Kahnis.
absolutes, ohne Grenze und ohne Clausel, als das Heil für ausnahmslos das ganze Menschengeschlecht, und sie wissen es so als von Gott selbst verbürgt und in Christus garantiert und verwirklicht. Es ist die Autorität Gottes, auf die sie trauen, und über die hinaus sie keine andre kennen und anerkennen. Darum und in diesem Sinne nennen sie ihre Dogmen Oeov doy/mra. Denn auch wo sie sie ecclesiastica nennen, meinen sie mit Nichten damit, dass ihnen die Kirche erst die göttliche Autorität verbürge oder doch vermittle, oder gar dass es im Grunde die Autorität der Kirche selbst sei, die die Dogmen über allen Zweifel erhebe und so sicher stelle. Das sind viel spätere degenerative Gedanken. Sondern es ist recht eigentlich die göttliche Offenbarung, wie sie in den h. Schriften niedergelegt ist, die die Dogmen als absolute Wahrheit charakterisiert und garantiert. Kahnis (6) schliesst mit Unrecht und im Widerspruch mit der von uns oben gegebenen Auslegung der Stelle bei Basilius dem Grossen de spir. s. 27, 66 — nicht 26, wie er citiert — aus dieser, dass sich das Dogina auf die Kreise der Wissenden beschränke im Unterschied von dem xi'-¡Qvyfia, das sich an das Volk wende; und definiert demgemäss die Dogmen als die Glaubenslehre der Kirche, sofern sie Gegenstand wissenschaftlicher Aneignung sind'). Sie sind vielmehr lediglieh die Glaubensüberzeugungen, wie sie auf gött1) Wer die Stelle im Zusammenhange nachgelesen hat, kann schlechterdings nicht auf einen solchen Gedanken kommen. Denn Basilius illustriert ja seine Meinung auf die ausgiebigste Weise. Wenn wir, sagt er, in unmittelbarem Anschluss an das Citat von S. 54 (oben 9), die Gebräuche, welche nicht schriftlich überliefert sind, als von geringer Bedeutung aufgeben wollten, so würden wir insolenter Weise in diesen vorzüglichen Stücken das Evangelium selbst verletzen; ja sogar das x^gvyfia auf einen b l o s s e n N a m e n r e d u z i e r e n : „fidXXov de eis ovofia yjilov neQuaz&VTes ro
xfigvyfia",
27, 66 S. f>4. Einen blossen Namen. Er sagt nicht, eine blosse Formel, als ob er dabei an ein gedankenlos gesprochenes oder gehörtes Bekenntnis, einen Glaubenssatz dächte; sondern, wenn der kirchliche Ritus ohne Sinn vollzogen wird, dann wird er zum blossen Namen. Das ist das xiiQvypa. Wie wenn die, fährt nun Basilius fort, um gleich das Verbreitetste zu nennen, welche auf Christum hoffen, dies durch das Zeichen des Kreuzes bezeichnen: „rjia>(ievrjs
xai /ivazixrjs
Jzagaöooetxtg; s e l b s t d i e
Salbung mit dem wahrhaftigen Ol: wer hat's uns schriftlich gelehrt?
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Cyrillus HieroS. licher, näher biblisch bezeugter Offenbarung beruhen.
Und die D o g -
matik würde von diesem altkirchlichen Sprachgebrauch aus definiert die wissenschaftliche Darstellung der auf Grund der h. Schrift feststehend giltigen Christenlehre sein. 5.
A b e r allerdings
brauches kommt auf.
eine
andre Beschränkung
des
Cyrill von Jerusalem, C y r i l l u s
SprachgeHieros. A r -
chiep., schreibt „chatechesis I V illuminandorum de decem undeciinve dogmatibus quibus fidei Christianae summa continetur" Migne-Ausg. 1857 4 5 0 :
„In
catechesi
post
inculcatam
parem
duarum
rerum,
nempe rectae doctrinae e t bonorum operum ad salutem necessitatem denuntiatumque pravos magistros loco bonorum audiendi periculum; generalia fidei Christianae praecepta tradit: D e Deo, de Christo, ejus incarnatione, morte, sepultura, et ad inferos descensu, resurrectione,
Wir tauchen den Täufling dreimal unter: woher ist es geschöpft? Auch dass wir in der Taufe dein Teufel entsagen und seinen Engeln: aus welcher Schrift haben wir und erheben wir das? Und warum hat Moses nicht den ganzen Tempel allen geöffnet, sondern den Einen nur den Vorhof, den Leviten den h. Dienst und dem Hohepriester das Ailerheiligste, aber auch einen T a g im Jahr zu einer bestimmten Stunde? Er wusste recht gut, dass die Vorborgenheit reizt und die Bewunderung unterhält; dagegen das Gewohnheitsmässige trivial wird. So haben auch die Apostel und Väter kirchliche Riten verordnet, aber g e h e i m und so den Mysterien ihre. Würde bewahrt. Es giebt überhaupt kein Mysterium, wenn es v o r d e n g e m e i n e n O h r e n p r o m u l g i e r t , ausgekramt, ausposaunt wird. Und nun der Sinn dieser Mysterien? Deshalb, fährt Basilius nach dem obigen Citat S. 56 fort, sehen wir Alle nach Osten beim Gebet: wenige wissen, dass wir das uranfängliche Vaterland suchen oder das Paradies, welches Gott in Eden nach Osten zu gepflanzt hat, und erklärt endlich 67, dass ihm die Zeit fehlen würde, die u n g e s c h r i e b e n e n Mysterien der Kirche alle herzuzählen. Danach lässt die eigene Deutung des Basilius keinen Zweifel, und die von Kahnis ist ausgeschlossen. Wer aber doch noch nicht davon überzeugt sein sollte, der darf auf Basilii de sp. s. 27, 68 verwiesen werden, wo Basilius die Kontroverse seiner Zeit verhandelt, o b i n d e r T a u f f o r m e l eis xo oro/xa xov tzaxgog xai zov viov xai
xov äyiov nv.
oder ovv zo~> äyicj> jivcv/nazi, gesag't werden müsse: „ 31vcvfiazi" o d e r „(Sofa jzazot xai vt
ovofiazi zov Kvßiov 'Irjoov 0eov tffiajv" u n d 1. C o r . 5. 4 „nvivfiaxos ovv xf/ Svvdfiu
xai SV zo> nvevßazi rov zov KVQIOV f)fjLiäv 'Irjoov
Xgiozov". Hätte Basilius zwischen der wissenschaftlichen Formulierung (Einkleidung) der Dogmen lind ihrer volkstümlichen Fassung — Soy/ia und xrjQvy/ia — unterschieden, so hätte in seinen Augen der Wortlaut als eine j e nach dem Auditorium variable Grösse nicht die Rolle gespielt, die er ihm in der Art, wie er die Kontroverse behandelt, augenscheinlich einräumt. Wäre diese Unterscheidung aber überhaupt damals üblich gewesen, so hätte eine solche Kontroverse gar nicht aufkommen und noch weniger mit der Heftigkeit verfochten werden können, wie es nach dem Bericht des Basilius geschah.
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Clemens Alex.
Theoderet.
ascensione et sessione ad dexteram Patris, secundo adventu, de Sp. saiicto; de hominis et ambarum ejus partium, animae nimirum et corporis, natura, de virginitatis, matrimonii, viduitatis et secundarum nuptiarum diversa bonitate, ciborum natura et delectu ac vestitus ratione, quae omnia ad corpus attinent; denique de resurrectione generali ac novissimo judicio. Quibus expositis, fontem h o r u m o m n i u m d o g m a t u m indicat, nempe scripturam s., cujus librorum . . indicem texit." Während er oben recta doctrina und bona opera unterscheidet und coordiniert, subsumiert er nachher religiöse und ethische Aussagen unter dem gemeinsamen Titel dogmata. I I (455):
„ ' 0
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Während er hier die religiösen Dogmen und die guten Werke als zweierlei unterscheidet, bemüht er sich, ihre innerliche Untrennbarkeit nachzuweisen. Der Sprachgebrauch scheint im Übergange dazu, die Dogmen lediglich auf das religiöse Gebiet zu beschränken. Clemens Alex, „o 7 i a i ò a y c o y ó g c. 1 Ausg. v. Fr. Sylburg unterscheidet: 6 fiev yàg èv zóig ò o y f i a z i x o ì g ò r j X i o z i x ò g xal à n o x a X v n z i x ò g a
o elg
ò i a x a o x a X i x ó g . òidóeotv
n g a x z i x ò g dè
òv
ó
f f & o n o i a g n Q O v z g É r p à z o rjòt]
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T t a Q a x a X e l , zàg fiévcov
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a x t ] Q Ó z a g J i a g e y y v t ó v xal
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u
Theodoret, 390—457, Bischof von Kyrrhos oder Kyros, Hauptstadt der Landschaft Kyrrhestika, 2 Tagereisen östlich von Antiochia, in der euphratensischen Kirchenprovinz, operiert mit den Ausdrücken dogmatisch und ethisch, als ob sie in ihrer Unterschiedenheit bereits ganz geläufige termini wären. Theodoreti episcopi Cyrensis interpretatio in psalmos I, 609, Patrologiae graecae Tom. L X X X (Migne-Ausg.), Theoreti opera omnia (Joh. Ludov. Schulze) Tom. I 1864. 866: Theodoret berichtet, einige Psalmen-Interpreten hätten behauptet, der erste enthalte r j ' i h x r j v ò i ò a a x a X i a v , und erklärt dagegen seinerseits: „e/iot òe ov% f j z z o w òoy f i a z i x ò g r) f j { h x ò g &do£ev elvai.
IIEQI£%£I
yoQiav
xal
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j i a g a i v e ì zoìg
h x r j v f i ó v o v , à X X à xal
äfMQz(oXä>v fióvov deioig
Xóyotg
a X X à
TCQOOÉ%EIV
xal
äosßcöv
òiijve/iòjg '
«f
xazt] alviy/mu\ wir erkennen ex IJEQOVQ (1 Kor. 13. 12), Aber auch auf dem Gebiete des exakten Wissens fehlt viel, dass unsere Vorstellungs- und Denkformen das Wesen der Dinge erschöpften oder schlechthin adäquat zum Ausdruck brächten. Hier wie dort ist unser Denken an unsre Organisation gebunden.
§ 7.
Der „christliche" Charakter der Dogmatik.
Die ,,christliche D o g m a t i k " stellt den kirchlich konf e s s i o n e l l e n G l a u b e n so d a r , w i e e r s i c h in d e m r e l i g i ö s e n Bewusstsein des D o g m a t i k e r s als christliche W a h r h e i t r e f l e k t i e r t und behauptet. 1. Religionsgeschichte ist noch keine Dogmatik. Selbst eine wissenschaftliche Wiedergabe der oder einer kirchlich festgesetzten Lehrtradition lediglich als solcher, ohne dass der Darstellende darin zugleich seine eigene Überzeugung zum Ausdruck bringt, kann nur uneigentlich so heissen. Sogar wo sie nach jener höheren Auffassung der Historie verfährt, welche nicht bloss einzelne Erscheinungen des Geistes berichtet, sondern eindringt in das geistige Leben, aus welchem sie mit innerer Notwendigkeit hervorgingen; wie Karl Hases in ihrer Art klassische, 12 mal aufgelegte und von
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Religionsgeschichte ist noch keine Dogmatik.
1828 an bis heute fortwährend gebrauchte „Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche". Obgleich er den Hutterus, f 1616, als „redivivus" so einführt, wie er vielleicht lehren möchte im 19. Jahrh., treu zwar dem altväterlichen Glauben, aber doch „ohne die Erforschungen und Fortschritte desselben gänzlich zu verschmähen", bleibt die Darstellung doch rein objektiv mit ausdrücklichem Ausschluss jeder „Beziehung auf den Glauben des Verfassers" (Vorr. zur 1. Aufl. V 12). Diese fehlt auch in AI. Schweizers „Glaubenslehre der evangelisch-reformierten Kirche" 1844/7, obgleich er seinen eigenen kritischen Standpunkt bei dem historischen Bericht zugleich bemerklich macht. Seine Absicht ist, die überlieferten Dogmen zusammenzustellen, den Glauben nebst den Meinungen einer früheren Zeit wiederzugeben, im bestimmtesten Unterschied von seiner späteren „christlichen Glaubenslehre nach protestantischen Grundsätzen" 1863/72, I, III. Historische Arbeiten sind weiter: De Wettes „Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche" 1816, H. Schmids ebenso betiteltes Werk 1843, Heinr. Heppes „Dogmatik des deutschen Protestantismus im 16. Jahrh." 1857, „Dogmatik der evangelischreformierten Kirche" 1861 (2. Bd. seiner „Schriften zur reformierten Theologie"). Und selbst Luthardts „Kompendium der Dogmatik" 9. Aufl. 1893 will ausdrücklich „keine Dogmatik im eigentlichen Sinne, auch nicht ein Abriss seines dogmatischen Systems, sondern nur eine Zusammenstellung des nötigen geschichtlichen Stoffes sein" (III), so wertvolle Dienste immer es, ähnlich wie Hases Hutterus red. als dogmatisches Repertorium, den dogmatischen Studien geleistet hat und noch leistet. Auf diesen vorwiegend historischen Charakter beschränkt sich der ganzen Anlage und Aufgabe seines „Handbuchs" gemäss und in Übereinstimmung mit dem Grundgedanken desselben über die „Notwendigkeit einer kirchlichen Bestimmtheit aller Theologie" auch Otto Zöckler, „System der Glaubenslehre", dem die dogmatische Prinzipienlehre von Herrn. Cremer vorangeht (Handb. der theol. Wissenschaften 1885, III, 45 ff.). Prof. Z. nennt seine „Auffassung und Darlegung des dogmatischen Lehrstoffes eine konfessionell bestimmte, nämlich eine evangelischlutherische"; bietet die „Lehrbestimmungen der älteren lutherischkirchlichen Dogmatik" dar, um ein hinreichend anschauliches Bild von deren festgefügtem, systematisch konsequenten Charakter zu gewähren, auf den meisten Punkten in relativ vollständiger Aufzählung, m a g i m m e r h i n die positiv bekenntnistreue Lehrtradition der kirchlichen G e g e n w a r t viele der betreffenden Formeln als
Der eigentüml. christl. Standpunkt ihres Verf. charakterisiert s. Dk.
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obsolet zu bebandeln und durch einfachere Konstruktion zu ersetzen sieb gewöhnt haben, und überlässt „die eingehendere spekulative Erläuterung und die rechtfertigende Darlegung" des dogmatischen Inhaltes „den selbständigen Dogmatiken beträchtlicheren Umfanges" (78). Wo der Titel „christliche Dogmatik" zu seinem Rechte kommen soll, handelt es sich weder nur um ein wissenschaftliches Referat, noch ist dabei die Überzeugung des Referenten ohne Belang. Mehr und mehr setzt sich der Sprachgebrauch durch, dass eine „christliche Dogmatik" den christlichen Glauben so darstellt, wie er für den mit seiner Kirche in wesentlichem Kontakt vorausgesetzten Darstellenden selbst als christliche Wahrheit gilt; dass eine „christliche Dogmatik" den kirchlichen Glauben so darstellt, wie er sich in dem Bewusstsein des von ihm im Prinzip überzeugten Dogmatikers reflektiert und behauptet. Schon Schleiermacher will weder eine bewährende Aufstellung eines Inbegriffs von überwiegend abweichenden und nur die Überzeugung des Einzelnen ausdrückenden Sätzen eine Dogmatik nennen, noch auch eine solche, die in einer Zeit auseinandergehender Ansichten nur dasjenige aufnehmen wollte, worüber gar kein Streit obwaltet (Kurze Darst. d. theol. Stud. § 197). Dass dies die sich mehr und mehr bahnbrechende Meinung von der Sache ist, beweist der Umstand, dass die „christliche Dogmatik" in immer neuen Bearbeitungen erscheint und jede den eigentümlichen Standpunkt ihres Verfassers als ihr charakteristisches Merkmal im Unterschied von allen anderen an sich trägt und vertritt, ohne doch den prinzipiellen Kontakt mit der Kirche völlig zu verlieren 1 ). Wiederum gibt es keine Fassung, in der ein Theologe seine eigenste, tiefste religiöse Überzeugung ausgiebiger und motivierter zum Ausdruck bringen könnte, als in der systematisch geschlossenen Darstellung des Ganzen des christlichen Glaubens, wie sie die Dogmatik fordert. 2. Solche immer neue Durcharbeitungen und Rechtfertigungen desselben vor dem eigenen Bewusstsein als wirkliche Wahrheit 1) Dav. Friedr. Strauss bildet keine Ausnahme. Denn seiue „christl. Glaubenslehre" ist keine christliche Dogmatik, sondern eine, wenn man will, Dogmatik des bewusst antichristlichen Pantheismus. Dagegen hat Biedermann diesen Eontakt nie preisgeben wollen und nie aus dem Bewusstsein verloren.
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In der Dogmatil* kommt eine Fraktion d. Zeitbewusstseins z. Wort.
haben ihren Wert sowohl darin, dass sie die künftigen Diener am Wort in den Sinn und Zusammenhang des Glaubens einführen, als auch darin, dass, weil doch in jedem Dogmatiker eine Fraktion des Zeitbewusstseins zu Worte kommt, die Rechtfertigung vor jenem zugleich eine solche vor diesem wird. Man könnte den Einwand machen, ob dieser letzte Umstand überhaupt möglich und selbst wünschenswert sei. Und freilich vor der widergöttlichen Gesinnung im Zeitbewusstsein kann sich der christliche Glaube weder rechtfertigen, noch ist es zu wünschen, dass nur der Versuch dazu gemacht wird, denn es müsste auf seine Kosten geschehen. Aber das Zeitbewusstsein ist j a doch nicht nur und nicht durchweg widergöttlich. Es enthält unbedingt auch Momente des Fortschrittes gegen früher. Und mit dem frommen Bewusstsein des mitlebenden Geschlechtes muss die Darstellung des Glaubens allerdings rechnen. Vor ihm muss er sich als Wahrheit ausweisen, wenn er nicht überhaupt den Einfluss auf die jeweilige Zeit verlieren und preisgeben will. Und indem er immer von neuem Gegenstand dieses Ausweises wird, ist allerdings zu erwarten, dass sich je länger j e mehr das V e r s t ä n d n i s seines Inhaltes fortbildet und reinigt, vertieft und abklärt. Das ist die partícula veri in manchen modernen Bestrebungen, die sie indessen überbieten und sich dadurch ins Unrecht setzen. Wenn AI. Schweizer „nicht, was die Väter ehedem geglaubt haben, sondern was die evangelische Kirche als jetzt lebende selbst glaubt und zumutet, in der Glaubenslehre zum wissenschaftlichen Ausdruck verarbeitet sehen" (I, III) will, so ist diese Unterscheidung Überbietung. Wenn er von Strauss in der Überzeugung befestigt, dass wir aller Dogmatik entwachsen sind, eine Glaubenslehre zu geben bezweckt, „die von der Dogmatik als der Kirchensatzungswissenschaft gänzlich verschieden sein soll" (V), so fehlt es für ein solches Unternehmen an allem Material. Freilich wird jede „Glaubenslehre" irgendwie die Spuren der betreffenden Entwicklungsstufe der evangelischen Kirche tragen, der sie angehört. Nicht nur die Arbeit, auch die Denkweise wird verraten, wo und wann sie entstanden ist. Aber das sind Einzelzüge und -auffassungen, geschichtlich bedingte Erkenntnisse, Strömungen und Richtungen, die mit einander ringen, wie wenn Schweizer vorerst den „Standpunkt der Union als die wesentlich erreichte Entwicklungsstufe" in Anspruch nimmt, aber zugleich nicht umhin kann zuzugeben, dass mancherlei andere Standpunkte noch viele
Ein gemeins. ev. Gl. im Unterschied v. d. d. Kirche ist nicht nachweisbar.
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Vertreter haben (1): von einem gemeinsamen christlichen Glauben im Unterschied von dem der Kirche, von der Möglichkeit einer christlichen Glaubenslehre in gänzlicher Verschiedenheit von der Dogmatik als der Kirchensatzungswissenschaft ist zu keiner Zeit die Rede. Eine einheitliche Konsistenz besitzt auch die moderne religiöse Anschauung so wenig, dass sie es nirgends zur Gemeinschaftsbildung bringt, und dass, wo der Versuch gemacht wird,»er immer wieder im Sande verläuft und kurzlebig beinahe zu den ephemeren Erscheinungen gehört. Und doch ist es auch Schweizer korrekter Weise um den g e m e i n s a m e n evangelischen Glauben zu thun. Er nennt seine Arbeit die Rechenschaft, die er vielen schuldig ist, „über sein bestes Wissen und Gewissen in dem heiligen Gebiete unseres g e m e i n s a m e n evangelischen Glaubens" (VIII). Aber auch wo man fundamentale Glaubensartikel der christlichen Gemeinde als angeblich unverträglich mit der Bildung von heute, wie den „empfangen vom h. Geiste, geboren von der Jungfrau Maria", preiszugeben geneigt ist, überbietet man jene partícula veri. Denn das heisst nicht, das Verständnis des Glaubensinhaltes fortbilden, sondern den Glaubensinhalt selbst und noch dazu fruchtlos opfern. Denn ein Kompromiss, das alle Mysterien, alles Geheimnisvolle und für den exakten Forscher Unerklärliche als anstössig für das Zeitbewusstsein opfern wollte, müsste konsequenter Weise zur Negation alles Glaubens führen. Also zu solchen Kompromissen darf das so berechtigte wie unerlässliche Bemühen, den christlichen Glauben vor dem Zeitbewusstsein zu rechtfertigen, nicht führen und nicht sich drängen lassen1). 1) „Christus ist mir aber nicht nur der Heilige Gottes, der Schleiermacher'sche sündlose Mensch, sondern der wahrhaftige und ewige Sohn Gottes" (Richard Rothe „Zur Dogmatik" 258. Vgl. auch seine „Dogmatik" II, § 25. 165). Vor meinem religiösen Bewusstsein behauptet sich der kirchlich konfessionelle Glaube nur so als christliche Wahrheit. Ich für meine Person könnte keine christliche Dogmatik schreiben ohne den Christusglauben der Kirche, wie er jenen Artikel des „Apostolicums" zur Voraussetzung hat. Nach meinem Urteil ist er die conditio sine qua non aller anderen Glaubensartikel; der schlechthin fundamentalste von allen in dem Sinne, dass nur er die kirchliche Christologie zu tragen vermag, sowohl wie sie lehrhaft zum Ausdruck als wie sie kultisch zur Darstellung gekommen ist und noch heute die Voraussetzung unseres evangelischen Gottesdienstes, zumal in seinen liturgischen Akten, bildet; aber auch dass nur von ihm aus das biblische Christusbild verständilch wird. Die Wahrheitsliebe steht allgemein in diesen unsren vielgeschmähten Tagen in hoher Schätzung. Sie kann es uns unmöglich nur zur Pflicht machen, unsre Abweichungen ehrlich auszusprechen, sondern nicht minder, unsre innerste Ubereinstimmung mit einem angefochtenen Glauben zu bekunden.
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Die evang. Dogmatik die genuin-christliche.
3. Aber dieser christliche Glaube hat doch sein Dasein nur in den verschiedenen konfessionellen Typen, als katholischer, römischund griechisch-katholischer, als protestantischer, evangelisch-lutherischer oder -reformierter. Wie ist denn bisher immer nur von christlicher Dogmatik und christlicher Glaubenslehre die Rede gewesen? Auch Martensen ist es an ihr gelegen. Und doch betitelt er sein Buch: „Die christliche Dogmatik". Und Kahnis, Reiff, Schenkel, Biedermann desgl. Calvin will die Dogmatik der reformierten Kirche schreiben. Und wie lautet seine Aufschrift? „Institutio religionis C h r i s t i a n a e . " Und Melanchthon nennt seine Glaubenslehre der lutherischen Konfession: „Loci theologici." Was für ein Sinn liegt dem zu Grunde? Ist der evangelische, evangelisch-lutherische oder evangelisch-reformierte und selbst der katholische in seiner noch nicht degenerierten Fassung oder ohne dieselbe in seinem Kern kein christlicher? Unzweifelhaft will das ein jeder sein, und jede einzelne Kirche macht den Anspruch, in ihrer Lehre den reinsten und edelsten Ausdruck der ursprünglichen christlichen Wahrheit zu besitzen. Und der Dogmatiker kann seine Aufgabe unter keinem geringeren und minderwertigen, unter keinem anderen GesichtsDagegen lehne ich es ausdrücklich ab, mir damit ein Urteil über die anzumassen, welche in dieser Frage, der umstrittensten von jeher und nicht am wenigsten in der Gegenwart, anders stehen und sich mit dieser ihrer andren Stellung innerlich zurecht finden. Eine Antwort darauf lässt sich nicht dekretieren und nicht kommandieren. Und wo und wann es geschähe und dadurch ein einstimmiges Lippenbekenntnis erzielt würde, so wäre damit nichts oder vielleicht noch weniger als nichts gewonnen. Nur wo sie aus dem Herzen kommt, ist sie der Rede wert. Aber wenn von anderer Seite mit Verzicht auf diesen Glauben doch von Glaubensgehorsam geredet2 und an ihn appelliert wird (J. Kaftan, „Brauchen wir ein neues Dogma?" 6fT.): so meine ich allerdings, dass dieser „Gehorsam des Glaubens" an dieser fundamentalsten Stelle einzusetzen hat, nur der Natur des Glaubens gemäss nicht in äusserlich autoritativem, sondern in innerlich aneignendem Sinn. Ich vermag nicht mit Kaftan (52) zu sprechen: „Es ist der Ruhm unseres Glaubens, der ihm den Sieg in aller Menschheit verheisst und verbürgt, dass wir zu einem Menschen sagen: Mein Herr und mein Gott!" und doch die altgläubige Voraussetzung dieses Bekenntnisses, unter der die Kirche nie aufgehört hat, den Herrn anzubeten, für eine Privatmeinung auszugeben. Die Frage, die Kaftan verneint (63), „ob wirklich der evangelische Glaube von der Gottheit des Herrn und das alte Dogma nichts als die beiden einander entsprechenden Hälften einer und derselben Wahrheit sind", hat die Kirche immer bejaht. Auf Grund und in Kraft dieses Glaubens hat sie ihren Siegeszug begonnen und wird ihn fortsetzen über die Völker der Erde. Die Ebioniten haben es ebensowenig zu einer nachhaltigen Bewegung gebracht wie die Gnostiker. "Der kirchliche Christusglaube hat die Welt überwunden, und nur er wirds weiter vermögen. Geschichtlich und psychologisch kann das Prognostikon nicht anders lauten. Der Fund der syrischen Handschrift hat daran nichts geändert.
§ 8: Die encyklopädische Stellung der Dogmatik.
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punkte ansehen und in Angriff nehmen. Was ihm selbst in wesentlichem Kontakt mit seiner Sonderkirche als Wahrheit feststeht, erfasst und trägt er nicht nur als etwas vor, was nach seiner Überzeugung nur Lehre dieser seiner Kirche oder gar nur seine persönliche Auffassung wäre, sondern er nimmt dafür das Prädikat des adäquatesten Ausdruckes der so vollkommen wie möglich und so richtig wie möglich erfassten und verstandenen c h r i s t l i c h e n Wahrheit überhaupt in Anspruch. Und das ist der Sinn, wenn evangelische Theologen ihre Dogmatik nicht mehr und nicht weniger als „christliche" nennen. Das ist das Ideal, dem auch wir zustreben: das Ideal einer „christlichen" Dogmatik: nicht mehr und nicht weniger. So verstanden ist diese Wortverbindung alles Andere, als eine Verleugnung der evangelischen Wahrheit, sondern vielmehr eine sehr energische Bejahung derselben, ihr Legitimationsausweis als g e n u i n - c h r i s t l i c h e Wahrheit.
§ 8. Die encyklopädische Stellung der Dogmatik. D i e c h r i s t l i c h e D o g m a t i k a l s e i n e D i s z i p l i n der s y s t e m a t i s c h e n T h e o l o g i e , d i e s i e m i t d e r E t h i k und der E n c y k l o p ä d i e der t h e o l o g i s c h e n W i s s e n s c h a f t e n b i l d e t , setzt die e x e g e t i s c h e und die historische T h e o l o g i e voraus und ist i h r e r s e i t s d i e V o r a u s s e t z u n g der p r a k t i s c h e n Theologie. 1. Es gibt eine Encyklopädie alles Wissens; ein organisches Ganze aller Wissenschaften 1 ). Alle wissenschaftlichen Disziplinen stehen in Beziehung zu einander und haben Zusammenhang mit einander. Das kann bei der einheitlichen Geschlossenheit sowohl des Wissensobjekts, des x6afiog mit seinen Beziehungen und Voraussetzungen, als des Wissenssubjektes, des gleichorganisierten menschlichen Geistes, nicht anders sein. Auch das theologische Wissen macht davon keine Ausnahme. Es ist keine Insel oder Enclave in der Encyklopädie alles Wissens, sondern es hat seine Stelle in ihr und seine Rolle in ihr; seine Beziehungen zu dem grossen Gebiete der universitas literarum und seinen Zusammenhang mit ihm. Die Theologie müsste verkümmern und zur Mumie erstarren, wenn sie den Kontakt mit dem gesamten Geistesleben der Welt und je ihrer 1) Kähler, „Die Wissenschaft der ehr. L. 2 " 34: „Die Einheit der Wissenschaft ist ein Strebeziel, auf welches die Erkenntnisarbeit nicht verzichten kann."
4 6 Das theol. Wissen ist keine Insel in der Encyklopädie alles Wissens.
Zeit verlieren oder nur ungepflegt lassen wollte. Sie müsste aufhören, eine Macht in dem öffentlichen, wie in dem privaten Leben eines Kulturvolkes zu sein, wenn sie nicht alle seine Interessen in ihr Licht zu tauchen und durch ihre Wahrheit zu beeinflussen vermöchte. Es ist ein unhaltbarer Standpunkt, der den Glauben nicht stärkt oder schützt, sondern schädigt, wer sich darauf beschränken wollte, ihn isoliert von allem anderen Wissen und unbekümmert um dasselbe, gleichsam mit verbundenen Augen, zu haben und zu behaupten. Man würde ihn eben damit zum Hungertode verurteilen. Denn er lebt vom Rapport mit der Welt, und in der Selbstbehauptung immer neuen Anfechtungen und Angriffen gegenüber stählt er seine Kraft und erprobt er seine Lebensfähigkeit. Die gute Gesinnung in Ehren. Pectus facit theologum. Aber wer das so verstehen wollte, als ob er damit der Arbeit überhoben oder doch den Wissenschaften als profanen Disziplinen den Rücken wenden dürfte, der hätte das Herz nicht, was Luther damit meinte und forderte. Es hängt mit der inneren Zugehörigkeit des theologischen Erkennens zur Encyklopädie alles Wissens zusammen, dass der Glaube des eigenen Herzens sich durch immer gründlichere und umfassendere Geistesarbeit vertieft und philosophia exhausta a d d u c i t ad deum. Die christliche Aneignung des alten Wortes aus dem Terentianischen Lustspiel: „Heautontimorumenos" I, 1: „Homo sum; humani nihil a me alienum puto" steht auf derselben Voraussetzung. Es ist theologische Prüderie, irgend einen Zweig des Wissens, irgend eine neue Theorie profan oder widergöttlich zu nennen, noch ehe man sich die Mühe genommen hat, sie kennen zu lernen1). Die Deutung und Anwendung mag verkehrt und widergöttlich sein: eine wirklich ausgemachte Thatsache selbst und als solche ist und kann es nie sein. Ist die Erde überall des Herrn und alle ihre Kräfte, so kann und soll alle Arbeit an ihr ein Dienst Gottes werden. Man kann seine Spuren überall finden, und es gibt keinen ernsten und ehrlichen Beruf, der sie nicht enthielte, für den, der sie sucht und 1) Clem. Alex, ström. I c. 9 will alle Dinge zur Wahrheit in Beziehung gesetzt sehen. Greg. v. Naz. nennt die Christen unverständig, welche die nicht im engeren Sinne theolog. Gelehrsamkeit als gefahrlich verwerfen. Augustin rühmt Moses, dass er in aller Weisheit der Egypter unterrichtet war Apg. 7. 22, und die gelehrten Väter vor ihm (de doctr. ehr. II c. 40), und es ist ein Wort aus katholischem Munde von heute: „Die christliche Religion hat kein Interesse, die Pflege der Wissenschaft und Litteratur zu unterdrücken. Es ist ihr Interesse und ihre Pflicht, jenen beständigen und heilsamen Fortschritt der weltlichen Wissenschaften zu befördern" Kihn „Encyklopädie u. Methodologie der Theologie" 1891 (8).
D a s theo]. Wissen selbst ist ein encyklopädisch einheitliches.
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zu erspähen versteht. Philosophie und Geschichte, Naturwissenschaft und Völkerkunde, Archäologie und Sprachvergleichung und welche wissenschaftlichen Disziplinen immer: nicht an ihnen liegts, wenn sie den oder die jeweiligen Forscher von Gott ab, anstatt zu ihm hin, führen und so mit dem theologischen Wissen in Konflikt geraten. 2. Aber auch dieses ist ein in sich geschlossenes, encyklopädisch einheitliches. Die theologischen Disziplinen bilden nicht ein Aggregat, sondern ein organisches Ganze. Wenn Schleiermacher die philosophische Theologie der historischen und der praktischen vorausschickt, so liegt j a allerdings auch darin die Anerkennung der Notwendigkeit, dass sich die Theologie mit dem übrigen Geistesleben auseinandersetzen muss und es nicht ignorieren darf. Aber die Eröffnung des Studiums damit erregt doch billig Bedenken, denn die Theologie muss erst studiert sein, ehe sie Gegenstand der Verteidigung werden kann. Freiherr H. v. d. Goltz setzt die philosophische Theologie ans Ende. Historische, systematische, praktische, philosophische: teilt er ein. Aber sollen die historischen, systematischen, praktischen Disziplinen jedem Angriff von dem reflektierenden Denken her gegenüber wehrlos sein? Nicht als eine besondere Disziplin, sondern als eine Begleiterin Aller hat die philosophische Betrachtung ihres Amtes zu walten und ihre Schuldigkeit zu thun. Es wird kaum eine Disziplin auf sie ganz verzichten können; wenn auch ihr besonderes Ressort die systematischen sein werden. Weder das a. noch das n. T. lässt sich exegetisch behandeln ohne sachliche Rücksicht auf die Zeitumstände, über die es berichtet, und auf die, unter denen es entsteht. Diese Beurteilung ist immer von mehr oder weniger allgemeinen philosophischen Gesichtspunkten initbedingt. Die Kirchengeschichte, sofern sie den Werdeprozess aufzuzeigen hat, wird in der Ermittelung der leitenden Gedanken und epochemachenden Ideen philosophischer Voraussetzungen nicht zu entbehren vermögen. Aber selbst die Predigt kann auf die bewegenden geistigen Interessen der Gegenwart nicht anders eingehen, als mit den Mitteln, die das jeweilige Geschlecht zu überzeugen geeignet sind, und hat die Einwände, die das betreffende Studium des Geisteslebens gegen das Evangelium erhebt oder nur birgt, mit seinen Waffen zu entkräften. Ist die Philosophie die denkende Betrachtung der Dinge, so kann die Theologie auf keiner Stufe des Studiums und in keiner ihrer Disziplinen darauf verzichten. Es muss ihr allgemeiner, aber doch nun nicht ihr e i n z i g e r Charakter sein. Ist sie, wie sie soll, die Wissenschaft des christlichen Glaubens,
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Die christl. Theologie hat ohne den christl. Glauben keinen Sinn.
so darf sie nicht vergessen, dass die Wissenschaft den christlichen Glanben nicht erzeugt and nicht hat erdenken k ö n n e n . Ist Uberhaupt der Glaube früher als das Wissen von ihm, so insonderheit der christliche Glaube früher als die Wissenschaft von ihm. Das wissenschaftliche Bedürfnis, ihn zu begreifen, d. h. ihn dem Weltwissen gegenüber zu behaupten und zu halten — und eben das ist die Genesis unserer wie aller Theologie — setzte ihn naturgemäss voraus. Geht nun diese Wissenschaft von ihm darauf aus oder gelangt sie dahin, diesen christlichen Glauben zu zersetzen und aufzulösen, wie etwa Strauss' „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft" 1840/1, so hat sie ihren Beruf verfehlt und aufgehört, Theologie zu sein. Die Theologie soll dem christlichen Glauben dienen, nicht ihn zerstören. Thut sie das doch, so hat sie damit ihr eigenes Grab gegraben und ihr Existenzrecht verwirkt. Es kann nur eine christliche Theologie geben, w e n n und wo dieser Glaube das Datum ist und bleibt, um dessen wissenschaftliche Erfassung und Darstellung es sich eben in ihr handelt. Er ist ihr Objekt, und ohne ihn hat sie keins; er ihre Basis, und mit dieser Basis hat sie sich selbst verloren und k e i n e n Sinn. Es wird sich demgemäss zunächst darum handeln, den christlichen Glauben als das eigentliche Objekt, um dessen wissenschaftliche Erkenntnis sich die Theologie bemüht, aus den Urkunden, die von ihm, seinem Entstehen und Werden, in unübertroffen klassischer Weise berichten und so von der Christenheit aller Zeiten und zumal den Evangelisch-Gläubigen geschätzt worden sind und werden, zu erheben. Daraus ergibt sich, dass die biblisch-exegetische Theologie das Studium und damit den encyklopädischen Kreislauf eröffnet. Eröffnet, nicht um dann als erledigt gelten zu dürfen, aber doch eröffnet, weil, wie sie dauernd notwendig bleibt, auch die allerunentbehrlichste von Anfang an ist. Denn nur mit der Schrift in der Hand hat Luther die Kirche zu reformieren und die aufgekommenen Irrtümer abzuwehren vermocht; und in der Schrift hat noch die Gemeinde von heute den Massstab, die Predigt des Evangeliums von anderer Rede zu unterscheiden. Von Anfang an hat sich das Studium zunächst an die h. Schrift angeschlossen, und da es keine andere allgemein anerkannte Urkunde gibt, muss sie den Ausgang immer bilden. Nur aus ihr ist zu ersehen, wofür sich der christliche Glaube bei seinem Aufkommen ausgab, und worin er bestand, als er seinen Triumphzug über die Völker begann.
Heinricis Unterscheidung: historische und normative Theologie.
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Damit ist eine geschichtliche Entwicklung inauguriert, die bis heute andauert und das Heute irgendwie geschichtlich bedingt. Man kann dieses nicht verstehen, ohne jene zu kennen. Man vermag die Forderungen, die die Gegenwart an den Diener der Kirche stellt, nicht zu würdigen, wenn man sie nicht in ihrem geschichtlichen Werdeprozess begreift. Deshalb schliesst sich naturgemäss an die exegetische Theologie die historische an. Sie beide mit Schleiermacher „Kurze Darst." § 85, und Georg Heinrici „Theologische Encyklopädie" 1893. 14, als die historische Theologie zu bezeichnen, trage ich um deswillen Bedenken, weil der Ursprung des Christentums, um den es sich bei der biblischen Exegese handelt, lediglich und ausschliesslich historisch nicht zu begreifen ist und erst der „bewusste Zusammenschluss des gläubigen Verständnisses mit der geschichtlichen Kunde in den Bekenntnissen der Offenbarungsgemeinde die Entstehung selbst dieser heiligen Schriften verursacht" (Kahler, „Die Wissenschaft der christl. Lehre von dem evang. Grundartikel aus im Abrisse dargestellt" 2 27) hat. War aber so der christliche Glaube ein geschichtlicher Faktor im konkreten Weltleben geworden, noch dazu mit dem bestimmtesten und unverhohlenen Anspruch, die tonangebende Rolle des beherrschenden und die Verhältnisse neu gestaltenden Prinzips zu spielen: so musste er sich sowohl dem Weltwissen gegenüber zu behaupten vermögen als auch im Wechsel der Zeitrichtungen seiner Identität und der inneren Einheit der Aussagen, in denen er sich durchsetzte, wissenschaftlich bewusst werden. Dieser Forderung entspricht die systematische Theologie, ob sie sich in der Dogmatik über Recht und Zusammenhang der Glaubenslehren, in der Ethik der sittlichen Forderungen, in der Encyklopädie der einzelnen theologischen Disziplinen wissenschaftliche Rechenschaft gibt. Sollen nun aber doch alle die gewonnenen Einsichten der Kirche nutzbar gemacht werden, so liegt es der praktischen Theologie ob, die erforderlichen Anweisungen dazu in dem ganzen Umfange des kirchlichen Dienstes zu geben, damit einerseits die erworbenen Kenntnisse auf ihre Stichhaltigkeit in der Pastoraltheologie zu erproben, sowie andererseits in ihrer Anwendung in Predigt und Katechese immer von neuem anzueignen. 3. Heinrici unterscheidet von der historischen die normative Theologie und begreift, wie unter der ersten die biblischen Wissenschaften und die Kirchengeschichte, so unter der letzteren die systematische und die praktische Theologie. Die normative Theos c h m i d t , Dogmatik I.
4
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Heinricis Unterscheidung*: historische und normative Theologie.
logie bearbeite die Gesichtspunkte und die Regeln, nach welchen der zukünftige Diener der Kirche die christliche Lehre und das kirchliche Handeln den Grundsätzen seiner Kirche entsprechend verstehen und anwenden lerne (14). Die Unterscheidung beruht darauf, dass die historische Theologie „grundsätzlich nicht konfessionell" (15) sein, sondern auch in ihrer praktischen Orientierung der Wissenschaft überhaupt angehören soll; dass ihre Fundamente die wissenschaftliche Kritik fordern und ertragen. „Sollte aber der Disziplin, welche die kirchliche Glaubens- und Lebenswissenschaft bearbeitet, der gleiche universelle Charakter zukommen, wie der historischen, so würde sie die Fühlung mit den bestehenden kirchlichen Organisationen verlieren" (15). Freilich! Aber bei ihr die Fürsorge zu treffen und bei der historischen Theologie sie „grundsätzlich" zu unterlassen, dürfte doch innerhalb einer einheitlichen Wissenschaft, als welche die Theologie gelten soll, nicht füglich durchzuführen sein — ohne mindestens die G e f a h r , zwischen den beiden, der historischen und der normativen Theologie, einen klaffenden Hiatus heraufzubeschwören und damit die Einheit zu sprengen. Es ist nicht abzusehen, wie unter diesen Umständen einige Gewähr für die Erfüllbarkeit der anderen Forderung Heinricis geleistet werden soll: „Als Disziplinen einer Wissenschaft nimmt eine jede Bezug auf die Arbeiten der anderen, die sie teils voraussetzt, teils in ihren Ergebnissen sich aneignet" (14). Wenn nun „die wissenschaftliche Kritik", welche die Fundamente, sage die Fundamente der historischen Theologie fordern und ertragen, zu Resultaten führt oder vielmehr unter dem Sehwinkel des Forschers zu führen scheint, welche den christlichen Glauben auflösen: wie soll dann die „normative" Theologie mit ihren den Grundsätzen der Kirche entsprechend verstandenen und angewendeten Gesichtspunkten und Regeln diese Resultate teils voraussetzen, teils in ihren Ergebnissen sich aneignen ? ? Und wird nicht die Gefahr solcher Resultate um so grösser sein, je weniger der christliche Glaube nach seinen Voraussetzungen und Folgen ohne Rest in den geschichtlich eruierbaren Prozess aufgeht? Ja ist nicht schon in der Forderung, den christlichen Glauben in der „historischen Theologie" lediglich und ausschliesslich unter die historische Lupe zu stellen und nur unter ihr zu beobachten, eine petitio prineipii enthalten, welche seine nicht natürliche, seine über geschichtliche Herkunft im Voraus preisgibt und damit die Entscheidung schon fällt, noch ehe die
.Neue Bedingungen theologischer Arbeit".
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Forschung begonnen hat? Auf diesem Wege ist eine einheitliche Theologie schlechterdings nicht zu verbürgen, aber die Theologie überhaupt in Gefahr. Freilich scheint auch für diesen Fall Vorsorge getragen. „Die Kirche," heisst es, „lernt durch die Wissenschaft erkennen, ob ihre Theorien veraltet oder falsch sind. Ihre Sache ist es sodann, die Folgen davon für ihr Leben zu ziehen" (8). „Verliert aber die Wissenschaft die Fühlung mit dem kirchlichen Leben," so schafft das Glaubensleben der Kirche „ n e u e B e d i n g u n g e n t h e o l o g i s c h e r A r b e i t " (8). „Die Kirche hat mit der Wissenschaft einen Bund geschlossen, damit ihre Wahrheitsliebe nicht von Leidenschaften verdunkelt und verfälscht werde" (9). An die Theologie als solche darf nicht der Anspruch erhoben werden, „dass sie Frömmigkeit erzeuge". „Als der reiche Jüngling zu Jesus mit der Frage kam: Was muss ich thun, dass ich selig werde? schickte ihn Jesus nicht zu den Schriftgelehrten. Ebensowenig wird diese Frage, sagt Heinrici, „heute in den Hörsälen der Theologen beantwortet" (9). Aber er spricht damit doch ohne Klausel aus, was sich so ohne Einschränkung nicht sagen und zugeben lässt. Freilich werden in unsern Hörsälen keine direkt erbaulichen Vorträge gehalten. Aber wenn die akademischen Vorlesungen gar keine Beziehung zu jener Frage hätten, kein Licht auf sie würfen und keinen Beitrag zu ihrer Lösung lieferten: dann allerdings wäre damit auch das Urteil über ihren t h e o l o g i s c h e n Wert gesprochen. Sie würden sowohl ausser Stande sein, ihrer Aufgabe, der Kirche zu dienen, in irgend einem Sinne zu genügen, als selbst die Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit in theologischen Fragen zu befördern, denn diese hängt allerdings von der auf „Frömmigkeit" bedachten Willensrichtung wesentlich und grundsätzlich mit ab (Joh. 7, 17). Dass diese den Schriftgelehrten von damals fehlte, machte sie zum Zerrbild dessen, was sie sein sollten, und zu einer der abstossendsten Erscheinungen jener Generation. Weil sie dem Ideal eines Schriftgelehrten, zum Himmelreich geschickt zu sein: yQa/j.fiarev? /xadTjTev&slg eis TTJV ßaadetav xwv ovQavä>v"Mt. 13.52, nicht entsprachen, deshalb konnte Jesus den reichen Jüngling mit dem Anliegen seines Herzens nicht an sie adressieren. Eine Theologie, an die als solche der Anspruch nicht erhoben werden darf, „dass sie Frömmigkeit erzeuge", ist keine. Die so verstandenen „neuen Bedingungen theologischer Arbeit" sind ein Heilmittel zum Tode. Denn mit der „theologischen" Arbeit hätte es dann überhaupt ein Ende.
52
D. „Grundsätzlich nicht konfessionell" überbietet d. Ford, sachl. Forsch.
„Der Theologe, wenn er ,sich als Christ' zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis wird/' darf „nicht von philosophischen oder konfessionellen Formulierungen des christlichen Überzeugungsstandes ausgehen." Er fragt nach den geschichtlichen Wurzeln seiner Überzeugung. Daher beginnt er mit der Bearbeitung der geschichtlichen Stoffe. Er muss zuerst wissen, was es mit dem Christentum als historischer Grösse auf sich habe, um beurteilen zu können, was die Kirche bedeutet (19). Aber er wird es nicht wohl auf diesem Wege erfahren. Eine voraussetzungslose Geschichtsbetrachtung gibt es überhaupt nicht. Ein Sehwinkel ist immer dabei mit wirksam 1 ). Die Abstraktion von dem, was er „als Christ" für eine Weltanschauung hat, ist eine Zumutung, die der Theolog beim besten Willen nicht erfüllen kann und nie erfüllt. Auch für die wissenschaftliche Rechnung hinterlässt die geschichtliche Forschung immer einen Rest, der nicht in sie aufgeht; und je von der Deutung desselben, auf die er in keinem Falle verzichten kann, hängt beinahe in der Regel der Sehwinkel für das gesamte Geschichtsbild ab. Die religiöse Stellung des Forschers macht sich ganz unabweislich in der Auffassung der angeblich lediglich nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten ermittelten Geschichte geltend. Der Aufriss mit diesem Anfang also ist für den irgendwie religiös bestimmten Forscher unausführbar, und irgendwie religiös bestimmt ist der Forscher immer, wie negativ er es immer sein mag. Sogar die atheistische Weltauffassung ist eine religiöse Denkweise und Bestimmtheit ihres Bekenners. Freilich kann von einer Geschichtswissenschaft im Ernste nicht geredet werden, wenn sie sich in ihren Resultaten durch die Anschauungen der Kirche bestimmen lässt; aber ebensowenig von einer „historischen Theologie", die grundsätzlich nicht konfessionell" sein soll. Freilich ist die Frage, „ob die heiligen Bücher der göttlichen Eingebung wegen eine von den allgemein geltenden Regeln abweichende hermeneutische und kritische Behandlung erfordern", mit Schleiermacher, „Der christl. Glaube" II, 335 einfach zu verneinen. Eine dogmatisch bestimmte Exegese kann ihrer Aufgabe nicht genügen, aber noch viel weniger eine „grundsätzlich nicht konfessionelle". Ohne einen innerlichen Kontakt mit dem konfes1) „Alle Geschichtsphilosophie entnimmt den Schlüssel zur Deutung der Dinge dem eigenen Lebensgefühl" (Friedr. Paulsen, System der Ethik. 1889. 121) und „die Philosophie ist ein Spiegel der Gemütsstimmung einer Zeit" (85).
D. Scheidung zw. christl. Theol. 11. christl. Rel. ist keine grundsätzliche. sionellen, näher christlichen G r u n d g e d a n k e n
53
ist ein Verständnis
der Kirchengeschichte so unerreichbar w i e ein solches der h. Schrift. Das „grundsätzlich nicht konfessionell" überbietet diese berechtigte w i e notwendige Forderung s a c h l i c h e r Der Aufriss streitet
Forschung.
aber selbst mit dem (4) behaupteten Be-
g r i f f der christlichen T h e o l o g i e :
„Die Theologie
ist
eine
positive
Wissenschaft; denn ihre Stoffe sind in der Geschichte gegeben und ihr Z w e c k
ist
praktischer
ein
( § 2).
Denn der Z w e c k der so
verstandenen historischen T h e o l o g i e : der biblischen Wissenschaften und der Kirchengeschichte (14), ist kein praktischer mehr, sondern sie
folgt
(14)
ausdrücklich
der
wissenschaftlich
ohne a l l e N e b e n r ü c k s i c h t e n
aber,
dass
nicht
günstigen
Methode
und S e i t e n b l i c k e .
Dafür
sie i n d i r e k t doch dem praktischen Z w e c k der christ-
lichen T h e o l o g i e habung
legitimierten
dienen
die
werde,
geringste
Einzelumständen,
liegt
in
Gewähr. wie
der
Wenn
sie
etwa
Natur
ihrer
es unter
die
Hand-
besonders
Bestimmtheit
Forschers darbieten könnte, doch geschehen sollte,
so
ist
des
das ein
zufälliges Zusammentreffen, für das in der Theorie keinerlei Anhalt geboten und keinerlei Vorsorge getroffen ist. D e r von Heinrici gegebene Aufriss
der theologischen Disziplinen
rechtigten Anforderungen
weder
scher, noch in praktischer Hinsicht. wenn
der
normativen
entspricht so den be-
in theoretischer,
näher systemati-
In systematischer nicht; denn
(systematischen
und praktischen)
Theologie
ausdrücklich der gleiche universelle Charakter nicht zukommen soll, w i e der historischen, es also ein grundsätzlich
anderer Gesichtspunkt
ist, unter dem j e die beiden Gruppen stehen und der sie scheidet: dort die Bindung „an die bestimmten Anforderungen einer Kirche 14 (16), hier die grundsätzliche Unabhängigkeit von der und von aller Konfession ( 1 5 ) :
so
kommt es nicht
senen
einheitlichen Organismus,
xvxku)
jtaideia). der
einem in sich abgeschlos-
zu
einer
Encyklopädie
(¿v
Heinrici bekennt zwar selbst, der „Krystallisations-
punkt für die nebeneinander Bestandteile
zu
nicht
liegenden
theologischen
und
auseinanderstrebenden
Wissenschaft" ruhe
„nicht
in
den
Stoffen selbst" (11); „nicht in dem Bekenntnisstand der Kirche, für welche
sie
standteile lung;
arbeitet,
denn
die Bekenntnisse sind
des geschichtlichen Prozesses
und bleiben Be-
kirchlichen
nicht in der h. Schrift, denn die Schriftauslegung
Glaubensstand der Gegenwart in
der
dem
Anspruch
der
als
decken eines
in
sich nicht" ( § 12), sich
Entwickund
der
sondern
abgeschlossenen Orga-
nismus lebensfähigen Gemeinschaft der Gegenwart, „ i h r e
Eigen-
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Luthers Grundsatz ist: Oratio, meditatio, tentatie fac. t h e o l o g u m .
a r t mit den objektiven Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnis in Übereinstimmung zu sehen": aber auch dieser Anspruch gilt für die historische Theologie nicht. Der Krystallisationspunkt ist nicht die Forderung wissenschaftlicher Bildung „von denjenigen Gliedern, die seine" (des Organismus) „Eigenart vertreten" (11), wenn die historische Theologie dieser Vertretung schlechthin überhoben ist. In praktischer nicht; denn die historische Theologie ist grundsätzlich konfessionell unabhängig, ja sogar „grundsätzlich nicht konfessionell" (15). Das Unternehmen scheitert, sehe ich recht, an der prinzipiellen Scheidung zwischen christlicher T h e o l o g i e und christlicher Re1 i g i o n , die sich nicht so durchführen lässt und als grundsätzliche falsch ist. Die berechtigte Unterscheidung wird überboten. Im Prinzip besteht sie nicht, sondern lediglich in der Anwendung. Werden, wie Heinrici (360) anerkennt, „seit Luther als der Kern aller Ratschläge zum rechten Studium" die drei Stücke gewürdigt: oratio, meditatio, tentatio: so kann die theologische Arbeit auf keiner Stufe und in keiner Disziplin davon Umgang nehmen. Dann lässt sich aber auch nicht gleichzeitig eine Theorie als die Fortsetzung und Fortbildung lutherischer Lehre ausgeben, welche diesen fundamentalen Grundsatz irgendwo aufgibt. Dieser Grundsatz wird nicht im mindesten durch die Thatsache erschüttert, welche vielmehr durchaus mit ihm besteht und nur in der Verbindung mit ihm zu verstehen und gemeint ist, dass die Reformatoren das Recht freier Forschung als selbstverständlich betonten; dass „frei und fröhlich" „diesem Zug der Reformation zur Wissenschaft vor andern Luther Ausdruck" gibt in seinem Brief an Eoban Hess v. 29. x ) März 1523: „Ego persuasus sum, sine literarum peritia prorsus stare non posse sinceram theologiam, sicut hactenus ruentibus et jacentibus literis miserrime et cecidit et jacuit. Quin video, numquam fuisse insignem factam verbi Dei revelationem, nisi primo, velut praecursoribus Baptistis, viam pararit surgentibus et florentibus linguis et literis." Der 2. Satz lässt gar keinen Zweifel darüber, dass die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung, die er fordert, nicht nur mit dem Glauben an die revelatio Dei verbi besteht, sondern nur auf der Voraussetzung desselben gefordert wird. Ja wie der ganze Brief eine liebenswürdige Empfangsbescheinigung „Eobano Hesso, poetae i n C h r i s t o f i 1) 29., nicht 23., wie Heinrici (8) hat. Vgl. Enders WW. Briefwechsel IV. 1891. S. 119. „Die Palinarum" lautet Luthers Briefunterschrift.
Luth. Forder. d. Freih. wiss. Forsch, steht auf d. Vor. d. Glaubens.
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d e 1 i" für das von ihm übersandte Gedicht „Captiva" war, in welchem Hess sich ebenso entschieden zur Reformation bekennt, wie über die Geringschätzung der humanistischen Studien seitens mancher lutherischer Prediger trauert: so sind es namentlich „pöesis und rhetorice", für deren Studium in der Jugend Hess eine Lanze einlegt. Und warum gerade für sie?" „Quod his studiis videam, sicut nec aliis modis fieri potest, mire aptos fieri homines ad sacra tarn capessenda, tum dextre et feliciter tractanda" (119, 38—40). Also gerade für sie als Hilfsdisziplinen der Theologie. Keineswegs ist aber weder in der „Captiva" des Hess, noch in dem Dankesbrief Luthers dafür etwa von einer Wissenschaft die Rede, die dem Glauben nicht sowohl dienen als „grundsätzlich nicht konfessionell" sein wollte. Für eine solche tritt keiner von beiden ein. Es ist reformatorischer, so lutherischer wie reformirter, Grundsatz, wie ihn Andreas Gerhard Hyperius, der reformierte Professor in Marburg, in seinem Buche: „De Theologo seu de ratione studii theologici lib. IV." Argentinae. 1562. I, 25 ausspricht: „Neminem namque videas serio in sacris literis proficere, nisi cujus p e c t u s deus primum cupiditate cognoscendorum piorum dogmatum accenderit; deinde ut consequi queat, spiritu suo illustravit." Und doch sagt derselbe Hyperius: „Pars philosophiae, quam Physicen vocant, non pauca habet, quae t u r p e foret a Theologo praeteriri" (55); et: „Ethice quae disputat de vita et moribus, ita ut a philosophis praecipueque Aristotele, quem methodi magistri nuncupant, tradita est, habet quaedam non aspernanda" (57) etc. Es ist der unveräusserliche Grundsatz, der seine Anerkennung durch die Jahrhunderte hindurch behauptet hat, wie ihn Kliefoth in seiner Begrüssungsrede als Superintendent in Schwerin 1844 aussprach : „Wir müssen vor allen Dingen nie lässig werden, das Heil Gottes in Gebet und Flehen für unser e i g e n e s Herz zu suchen, denn wo der Odem Gottes vom Herzen weicht, da erlischt auch das Licht des Geistes." Auch die theologische Erkenntnis wird seiner nie zu entraten und ohne ihn auch die historische Theologie die eigentlich bewegenden Fragen und treibenden Ideen der religiösen Entwicklung nicht zu würdigen vermögen. 4. In der Beziehung auf die bestehenden kirchlichen Organisationen sieht Heinrici das Gemeinsame der systematischen und der praktischen Theologie. Auch die systematische ist ihm in diesem Sinne praktische Theologie. Da der Ausdruck aber bereits festgelegt ist, so wählt er den der normativen Theologie für beide.
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D. Interesse an d. Wahrh. d. Christentums ist das der syst. Theologie.
„Die Erkenntnis des Wesens des Christentums, die geschichtliche und sachliche Würdigung der Symbole, die methodische Schriftauslegung können nicht auf einander zurückgeführt werden, ohne dass die Zuverlässigkeit ihrer Arbeit beeinträchtigt wird; nur der praktische Zweck, welchem die wissenschaftliche Anstalt dient, hält sie zusammen" (12). „Da das Christentum eine geschichtliche Religion ist, welche in den kirchlichen Gemeinschaften der Gegenwart lebt, so sind die theologischen Disziplinen teils auf Ermittelung des geschichtlichen Thatbestandes, teils auf die Bewährung und Erhaltung des christlichen Glaubens gerichtet." Das letztere ist die Aufgabe der „normativen" Theologie (14). Sie ist gebunden an „die bestimmten Anforderungen einer Kirche" (16). „Das gemeinsame Urteil über die Bedeutung der geschichtlichen Vorgänge, deren Produkt ein lebensfähiger Organismus der Gegenwart ist, und der Wert, welcher in ihm für seine Selbsterhaltung den Leistungen seiner Glieder beigelegt wird, bedingen den Bestand der Gemeinschaft" (11). Das Interesse an diesem W e r t bestimmt die normative Theologie und bildet ihren Gegenstand. Das sind die n e u e n B e d i n g u n g e n t h e o l o g i s c h e r A r b e i t . Bisher war es das Interesse an der W a h r h e i t des Christentums, welches den speziellen Gegenstand der systematischen Theologie bildete. Was den wissenschaftlichen Betrieb in der Theologie zusammenhielt, was den theologischen Studien ihren Grund und Zweck gab, lag nicht in der „normativen" d. h. praktischen Theologie, sondern in den systematischen Disziplinen. „Man ist," sagt Professor v. Schulthess-Rechberg in Zürich in Meilis theol. Zeitschrift 1895. 26, „in dem Masse Theologe, als man von dem Interesse an der Wahrheit des Christentums, wie es den speziellen Gegenstand der systematischen Theologie bildet, geleitet wird." „Und was immer," fährt er in seiner Ansprache zur Eröffnung eines theol. Vereins fort, „uns künftig in diesem Kreise beschäftigen wird, muss sich irgendwie an der Beziehung zum christlichen Glauben als die religiös-sittliche W a h r h e i t legitimieren/' Das ist die Stellung, die die systematische Theologie bisher eingenommen hat und die ihr auch nach meinem Urteil gebührt. Nicht um den W e r t , welcher für die Selbsterhaltung der Kirche den Leistungen ihrer Glieder beigelegt wird, sondern um die W a h r h e i t der christlichen Weltanschauung, um die W a h r h e i t des christlichen Glaubens ist es ihr zu thun und nur daran gelegen. Nicht an der Wertung gewisser Leistungen für die Erhaltung der Kirche,
Die Dk. ist in ganz anderem Sinn svstem. als die prakt. Theologie.
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nicht an der Wertung einzelner Glaubenslehren oder ihrer Gesamtheit auf diesen Zweck hin, sondern an der Wahrheit des christlichen Glaubens; daran, wie es Lücke, „Theol. Stud. und Krit." 1834. 775 ausspricht, „die Lehrsätze des christlichen Glaubens und Handelns in ihrer absoluten Wahrheit wissenschaftlich so darzustellen, dass aller Zweifel und Widerspruch und jede innere Zusammenhangslosigkeit des christlichen Denkens darüber verschwindet"; oder, wie er sich später in seiner Schrift: „Dr. Strauss und die Züricher Kirche." 1839. 10 ausdrückte, „dass Kirche und Wissenschaft wenigstens zu gleichen Teilen gehen und an einander ihre Grenze, ihre Wahrheit, ihr Leben haben". In diesem Sinne hat man die Dogmatik den „Herd des theologischen Heiligtums" nennen und von ihr sagen können, in ihr pulsire das theologische Leben, sie sei die Theologie xat l£oyr)v, die Königin der theologischen Disziplinen, denn alle anderen müssen ihr Dienste leisten, sich in ihren Erträgen in ihr sammeln und verwerten, in ihr als dem Gesamtertrag theologischer Arbeit. Auch Fr. Nitzsch (14) sieht sie nicht nur als die älteste theologische Disziplin, sondern auch als die wesentlichste an und bekennt, dass sie den Mittelpunkt der Theologie bilde, weil sie der wissenschaftliche Ausdruck des kirchlichen Glaubensbewusstseins selbst sei. Aber eben damit erledigt sich doch auch sein Bedenken: „Aber systematisch ist heutzutage die praktische Theologie doch auch." Denn sie ist es doch in ganz anderem Sinn als die Dogmatik. Mag auch die praktische Theologie es als ihre Aufgabe ansehen, die kultischen Gedanken als ein System zu erfassen und zusammenzuschliessen, und damit den Thatbeweis erbringen, dass sie sich nicht sowohl untereinander widersprechen als vielmehr gegenseitig bedingen und fordern; dass sie kein Konglomerat einzelner von einander unabhängiger Sätze sind, sondern ein einheitlich gegliedertes Ganze: so ist doch damit die Aufgabe der systematischen Theologie noch keineswegs erschöpft, wenn sie in demselben Sinne die christlichen Lehraussagen in ihrer inneren Einheit darstellt, sondern erst damit, dass sie das Ganze wie das Einzelne der christlichen Glaubenslehre als Wahrheit aufweist und aufzuweisen vermag. Die christliche Dogmatik muss eo ipso zu einer Apologie der christlichen Glaubensüberzeugung, der christlichen Lebens- und Weltanschauung werden. Auch die christliche Ethik kann ihre Legitimation nirgends anderswoher empfangen, als von der Dogmatik. Eine philosophische Moral mag den Versuch wagen, aus allgemein menschlichen Prinzipien
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Auch die christliche Ethik fusst auf der Dogmatik.
einen Bau aufzuführen und einen modus vivendi abzuleiten: die christliche Ethik könnte es naturgemäss nicht, ohne aufzuhören, eine christliche zu sein. Neben und nach der einheitlichen Behandlung der Glaubens- und Sittenlehre sind auch bis in die neuste Zeit Versuche beliebt worden, die beiden konzentrischen Kreise zu exzentrischen zu machen; ja die beiden Gedankensysteme ganz von einander zu isolieren. Versuche, die vor keiner Kritik zu bestehen vermögen. Sie sind überhaupt nur möglich geworden, weil es Dank der jahrhundertelangen Wirksamkeit des Christentums einen gewissen Bestand an sittlichen Überzeugungen von einiger Selbstständigkeit gibt. Diese Ethik, die man heute von aller Dogmatik zu emanzipieren unternimmt, die humanitären Bestrebungen, die man mit Vorliebe unabhängig von der Kirche pflegt, sind nirgends anderswo gewachsen, als auf dem Boden der christlichen Lehre; als auf dem Baum der christlichen Erkenntnis. Dieser ethische Besitz ist auch im Laufe der Zeit ein so fester und mehr oder weniger allgemein anerkannter geworden, dass man eine Weile wird mit ihm wirtschaften können. Für die Dauer kann es unmöglich gelingen. Die Rebe muss verdorren, die von dem Weinstock abgeschnitten ist, an dem sie wuchs und von dem sie den Lebenssaft empfing. Setzen wir aber bei dem Datum eines uns immanenten Sittengesetzes ein, so bleibt doch sowohl die Frage unabweislich, woher und von wem es gegeben sei, als auch die andere, warum wir uns fortgehend ihm beugen. Denn wäre es etwa nur ein naturhafter Zug, dem wir damit zu folgen vorgäben: so wäre das weder sittlich noch mit der empirisch kontrolierbaren ThatBache vereinbar, dass wir bei unserem Verhalten ihm gegenüber als Willensfreie handeln und ihm die Beugung auch im Einzelfall verweigern können. Die Isolierung der Sittlichkeit von der Religion lässt sich nicht durchführen und darum auch nicht die der Ethik von der Dogmatik. Das hindert nun freilich nicht, sie gesondert zu behandeln. Im Leben ist oft zusammen, was die Schule doch trennen muss oder wenigstens im Interesse der ausgiebigen Behandlung zu trennen gut thut. Aber so gewiss es keinen wahrhaft so zu nennenden Glauben gibt, der nicht wirksam würde, so gewiss bleibt die gegenseitige Beziehung zu einander und auf einander das normale Verhältnis und den christlichen Glauben als sittlich-religiöse Wahrheit darzuthun die gemeinsame Aufgabe.
Die Dogmatik ein Thermometer der Stellung zur „grossen" Frage.
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5. So ist die Dogmatik der eigentliche Mittelpunkt der Theologie und zugleich ihre Probe. Eine dogmatisch unfruchtbare Zeit deutet darauf hin, dass etwas nicht in Ordnung ist. Vielleicht sind es verschiedene Momente, die zusammenwirken. Der Angriffe könnten so viele sein, dass der Mut fehlen möchte, das Ganze der christlichen Wahrheit ihnen gegenüber aufrecht zu erhalten und wissenschaftlich zu behaupten. Wäre das so, so müsste das als ein sehr bedenkliches Symptom und überaus bedauerliches Zeichen der Zeit empfunden werden. Denn allerdings der Überzeugungskraft und des Zeugenmutes hat der christliche Glaube immer bedurft und wird er immer bedürfen zu seinem Leben und Weltüberwinden; und man hätte doppelt zu bitten und zu beten: „Wach auf du Geist der ersten Zeugen!" Der Skeptizismus quand même ist die Pest aller Religion. Oder der Zerstörungsprozess der grundlegenden Dogmen könnte bereits so weit vorgeschritten sein, dass eine Dogmatik als christliche sich nicht mehr aufstellen Hesse. Das ist zwar von mancher Seite behauptet worden. Den Hahnschrei, dass „die Nacht des Christentums" zu Ende gehe, hat in dem seinem Abschlüsse nahen Jahrhundert ab und zu eine pessimistische Seele zu vernehmen geglaubt. Hatte David Friedrich Strauss der Welt verkündet, dass die Geschichte des christlichen Dogmas die Geschichte seiner Zerstörung sei, so wurde Eduard von Hartmanns Veröffentlichung in der Leipziger Wochenschrift: „Die Litteratur" 1874. II. Quartal: „Die Selbstzersetzung des Christentums und die Religion der Zukunft" als erste Buchausgabe in Stärke von 2000 Exemplaren in 8 Wochen vergriffen. Wo man die Zeit bestimmter angab, die das Christentum noch zu leben habe, sind die Erwartungen immer unerfüllt geblieben. Kaum je vorher hat die religiöse, die sprichwörtlich „grosse", Frage die Gemüter so tief bewegt, wie heute. Der immerhin schwer kontrolierbaren Behauptung, mit welcher v. Hartmann die genannte Schrift beginnt, wohl selten habe es „eine irreligiösere Zeit gegeben als die unsere", gegenüber fehlt es jetzt wenigstens nicht ganz an Anzeichen, welche die Deutung zulassen, dass man allmählich des Verneinens satt zu werden beginnt und die negative Speise anfängt, in grösseren Schichten den Geschmack zu verlieren, oder doch dass man auf eine positivere Befriedigung der tiefsten Bedürfnisse der Menschenseele wenigstens noch keineswegs durchweg verzichtet und zu verzichten gesonnen ist. Wie immer, die Dogmatik ist das Thermometer dafür. In ihr
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§ 9: Die christliche Dogmatik der neueren Zeit.
kommt es zum Ausdruck, was an Glaubenskraft und religiösem Denken noch vorhanden ist, und welches die Wege sind, auf denen der Wahrheitssinn von beute sich die christlichen Heilsdaten anzueignen vermag. Darum gilt, wie von der systematischen Theologie überhaupt, von der Dogmatik im Besonderen, dass sie so den Mittelpunkt der Theologie bildet wie ihre Probe ist, und der alte Sprachgebrauch, welcher Dogmatik und Theologie identifizierte, den Sinn hat, dass diese mit jener steht und fällt. 6. Bedarf es schliesslich noch der Rechtfertigung, dass dieser Paragraph tiber die encyklopädische Stellung der Dogmatik die Einleitung beschliesst und nicht, wie es sonst wohl geschieht, beginnt: so hat das seinen Grund darin, dass man über diese Frage nicht füglich früher verhandeln und entscheiden kann, als bis es feststeht, welches der Begriff der Dogmatik ist.
§ 9. Die christliche Dogmatik der neueren Zeit. Die g e s c h i c h t l i c h e E n t w i c k l u n g der neueren Dogm a t i k ist weder eine g e r a d l i n i g e noch eine e i n h e i t l i c h e ; aber steht d o c h unter dem ü b e r w i e g e n d b e h e r r s c h e n d e n Gedanken der S i c h e r s t e l l u n g des d o g m a t i s c h e n Inhaltes, d. i. s e i n e s W a h r h e i t s b e w e i s e s . 1. Die neuere Dogmatik: von wann an werden wir sie rechnen? Lässt sich mit grosser Bestimmtheit bis auf die Jahreszahl der Anfangspunkt bezeichnen, von dem sie ausgeht? So urteilt K. Schwarz seiner Zeit im J. 1856 von der neuesten theologischen Entwicklung und nennt das Jahr 1835, das Erscheinen von David Friedrich Strauss' „Leben Jesu" als das Datum, welches er an die Spitze stellt („Gesch. der neuesten Theol." 3). Freilich sieht er es auch mehr als einen Schluss- wie als einen Anfangspunkt an. Mit ihm beginne eine völlige Zersetzung, eine Scheidung des bis dahin Zusammengehörenden, eine Zerstörung unendlich vieler Illusionen, eine Aufhebung vieler Unklarheiten. Und auf dem Grunde dieser Zersetzung träten ganz neue Parteibildungen hervor, spitzten sich die Gegensätze in geschärfter Weise zu (4). Freilich! Aber die Gegensätze waren doch eben schon vorher da. Die F r a g e , die Strauss in seinem „Leben Jesu" und später in seiner „Christlichen Glaubenslehre" dahin beantwortete, dass die christliehe Weltanschauung „im Kampfe mit der modernen Wissenschaft" rettungslos verloren und vernünftiger Weise nicht mehr zu halten sei, stand
Die Frage nach ihrer Datierung-. Dav. Fr. Strauss.
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lange zuvor auf der Tagesordnung, nämlich die Frage nach der Wahrheit der christlichen Glaubensaussagen. Und allenfalls von Ludw. Feuerbachs Schrift: „Das Wesen des Christentums" 1841 abgesehen, welche die kritischen Elemente zu einer „Religionsphilosophie weder in dem kindlich phantastischen Sinne unserer christlichen Mythologie, die sich jedes Ammenmärchen der Historie als Thatsache aufbinden lässt, noch in dem pedantischen Sinne unserer spekulativen Religionsphilosophie, welche, wie weiland die Scholastik, den Articulus fidei ohne Weiteres als eine logisch-metaphysische Wahrheit demonstriert" (III), enthält, die Theologie zur Anthropologie (VIII), die Religion zur Illusion geworden ansieht, während sie für Strauss nur eine unvollkommene und vom philosophischen Denken überwundene Bewusstseinsstufe ist; von Max Stirner, „Der Einzige und sein Eigentum" 1845, der seine Sach' auf nichts stellt als auf sich: „Mir geht nichts über Mich" (8), für den es keinen Sünder und keinen sündigen Egoismus gibt (482) ausser in dem Gehirne dessen, der ihn erträumt (483), für den der Gegensatz von Gut und Böse ein altfränkischer ist (481) '); und von 1) Max Stirner ist Nihilist. Hatte Feuerbach den Gott, der Geist ist, „unser Wesen" genannt, nur seine himmlische Wohnung zerstört und ihn genötigt, mit Sack und Pack zu uns zu ziehen, so werden Wir, sein irdisches Logis, sagt Stirner 45, sehr überfüllt werden. Der Geist ist so wenig jenseits und ausser mir als in mir, er ist wie alle anderen Werte mein Geschöpf. Absolute Wahrheit gibt es nicht. Ich bin es, der sie, sich zurichtet, „ein Nahrungsmittel für meinen denkenden Kopf, wie die Kartoffel für meinen verdauenden Magen, der Freund für mein geselliges Herz" (474). „Die Wahrheiten sind Material wie Kraut und Unkraut; ob Kraut oder Unkraut, darüber liegt die Entscheidung in Mir." „Die Wahrheit ist eine — Kreatur" (474). „Alle Wahrheiten unter Mir sind mir lieb; eine Wahrheit über Mir, eine Wahrheit, nach der ich mich richten müsste, kenne ich nicht. Für Mich gibt es keine Wahrheit, denn über Mich geht nichts. Auch nicht mein..Wesen, auch nicht das Wesen des Menschen." „Ihr glaubt das Äusserste gethan zu haben, wenn ihr kühn behauptet, es gebe, wie jede Zeit ihre eigene Wahrheit habe, keine „absolute Wahrheit". Damit lasst ihr ja dennoch jeder Zeit ihre Wahrheit und crschafft so recht eigentlich eine „absolute Wahrheit", eine Wahrheit, die, keiner Zeit fehlt, weil jede Zeit, wie ihre Wahrheit auch immer sei, doch eine „Wahrheit" hat. Soll nur gesagt sein, dass man in jeder Zeit gedacht, mithin Gedanken oder Wahrheiten gehabt habe, und dass diese in der folgenden Zeit andere waren, als in den früheren? Nein, es soll heissen, dass jede Zeit ihre „Glaubenswahrheit" hatte; und in der That ist noch keine erschienen, worin nicht eine höhere Wahrheit anerkannt worden wäre, eine Wahrheit, der man als „Hoheit und Majestät" sich unterwerfen zu müssen glaubte. J e d e Wahrheit einer Zeit ist die f i x e I d e e derselben, und wenn man später eine andere Wahrheit fand, so geschah dies immer nur, weil man eine andere suchte: man reformierte nur die Narrheit und zog ihr ein modernes Kleid an. Denn man wollte doch — wer dürfte an der Berechtigung hierzu zweifeln? — man wollte von einer „Idee begeistert" sein. Man wollte von einem Gedanken b«.
Max Stirner. Friedr. Nietzsche. Fr. Nietzsche 1 ) „Jenseits von Gut und Böse" 1886, „Zur Genealogie der Moral" 1888, „Die Götzendämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert" 1889, bleibt die Negativität von Strauss der Punkt, der eigentlich nur noch von ihm selbst in seiner Schrift: „Der alte und der neue Glaube" 1872, XI. Aufl. 1881 „an der Schwelle des Greisenalters" überboten wird. Denn in diesem „Bekenntnis" weiss er seine dritte Frage „Wie begreifen wir die herrscht — besessen sein! Der modernste Herrscher dieser Art ist „unser Wesen" oder „der Mensch" (476). Damit ist also der negative Fortschritt über Feuerbach am Tage. Lehrte dieser: „Die Religion ist allgemein ausgedrückt Bewusstsein des Unendlichen; sie ist also und kann nichts anderes sein als das Bewusstsein des Menschen von seinem und zwar nicht endlichen, beschränkten, sondern unendlichen Wesen" („Das Wesen des Christentums" 2); „ . . . aber was ist denn das Wesen des Menschen, dessen er sich bewusst ist, oder wer konstituiert die Gattung, die eigentliche Menschheit im Menschen? Die Vernunft, der Wille, das Herz oder die Liebe . . . sind keine Kräfte, die der Mensch hat — denn ohne sie ist er nichts, er ist, was er ist, nur durch sie — es sind die ihn beseelenden, bestimmenden, beherrschenden Mächte — göttliche absolute Mächte, denen er keinen Widerstand entgegensetzen kann" (5): so urteilt Max Stirner: „Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewusstseins. Stell' Ich auf Mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem Vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und Ich darf sagen: „Ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt" (491). Damit schliesst Stirner sein Buch. Die Lehre Pyrrhons und Timons: „An sich sei weder etwas gut noch sei es schlecht, sondern der Mensch denke sichs nur so oder so", den Gedanken des Egoismus des Einzelnen als Einzigen führt er mit Konsequenz durch. Aber das Ende, sein letztes Wort, das Facit dieser Denkweise und Gedankenreihe ist — Nihilismus, eingestandener Nihilismus. Es bleibt — Nichts. „Ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt." Immerhin eine bemerkenswerte Thatsache! Geschichtlich lehrreich. Gibt es noch einen Schritt darüber hinaus, so hat ihn Fr. Nietzsche gethan. 1) „Gewiss ist, dass sie (die Wahrheit) sich nicht hat einnehmen lassen: — und jede Art Dogmatik steht heute mit betrübter und mutloser Haltung da. Wenn sie überhaupt noch steht! . . . Ernstlich geredet, es gibt gute Gründe zu der Hoffnung, dass alles Dogmatisieren in der Philosophie, so feierlich, so end- und letztgiltig es sich auch geberdet hat, doch nur eine edle Kinderei und Anfängerei gewesen sein möge; und die Zeit ist vielleicht sehr nahe, wo man wieder und wieder begreifen wird, was eigentlich schon ausgereicht hat, um den Grundstein zu solchen erhabenen und unbedingten Philosophen-Bauwerken abzugeben, welche die Dogmatiker bisher aufbauten, — irgend ein Volksaberglaube aus unvordenklicher Zeit (wie der Seelen-Aberglaube, der als Seelen- und IchAberglaube auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften), irgend ein Wortspiel vielleicht, eine Verführung vonseiten der Grammatik her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr persönlichen, sehr m e n s c h l i c h - allzumenschlichen Thatsachen ... Es scheint, dass alle grossen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in das Herz einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinflössende Fratzen über die Erde hinwandeln müssen: eine solche Fratze war die dogmatische Philosophie, der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrtümer bisher, ein Dogmatiker-Irrtum, nämlich Piatos Erfindung vom reinen Geiste
§ 9: Die christliche t>ogmatik der netteren Zeit.
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Welt ?" nur noch vom Standpunkt und im Sinne des modernen Materialismus zu beantworten. Dogmatische Nachfolge hat er so gut wie nicht gehabt. Denn Biedermann hat sich wohl „das Feld seines theologischen Bewusstseins von ihm umackern" lassen (Benecke, Wilh. Vatke, 1883. 410); aber seine im Grunde durchaus religiöse Natur hat an der Öde der Negation kein Genüge gefunden, und er selbst ist der Mensch, von dem er sagt und gelernt hat zu sagen, und vom Guten an sich" . . . „verständlicher und für's Volk zu sagen", der christlich-kirchliche „Druck von Jahrtausenden — denn Christentum ist Piatonismus für's Volk" („Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft." 5. Aufl. 1895, 3/5). „Es hiess allerdings die Wahrheit auf den Kopf stellen und das Perspektivische, die Grundbedingung alles Lebens selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato gethan hat ; ja man darf als Arzt fragen: woher eine solche Krankheit am schönsten Gewächse des Altertums, an Plato? Hat ihn doch der böse Sokrates verdorben? Wäre Sokrates doch der Verderber der Jugend gewesen und hätte seinen Schierling verdient?" Aber der Kampf dagegen . . . . hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen. Freilich der europäische Mensch empfindet diese Spannung als Notstand: und es ist schon zwei mal im grossen Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal durch den Jesuitismus, zum zweiten Male durch die demokratische Aufklärung." . . . . „Aber wir . . . haben sie noch, die ganze Not des Geistes und die ganze Spannung des Bogens! und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss? das Ziel . . ." Damit und so schliesst die in Sils-Maria, Oberengadin, im Juni 1885 geschriebene Vorrede. Das erste Hauptstück handelt von den Vorurteilen der Philosophen. „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" fragte sich Kant — und was antwortete er eigentlich ? „Vermöge eines Vermögens" : leider aber nicht mit 3 Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig und mit einem solchen Aufwände von deutschem Tief- und Schnörkelsinn, dass man die lästige „niaiserie allemande" überhörte, die in einer solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich über das neue Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe, als Kant auch noch ein moralisches Vermögen im Menschen hinzuentdeckte: — denn damals waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht „real-politisch". — Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie; alle jungen Theologen des Tübinger Stifts gingen alsbald in die Büsche, — alle suchten nach „Vermögen" (20). „Es kam eine Zeit, wo man sich die Stirne rieb: man reibt sie sich heute noch. Man hatte geträumt: voran und zuerst — der alte Kant. . . . Wie macht das Opium schlafen? „Vermöge eines Vermögens", nämlich der virtus dormitiva — antwortet jener Arzt bei Molière, quia est in eo virtus dormitiva, cujus est natura sensus assoupire. Aber dergl. Antworten gehören in die Komödie, und es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage „wie sind synthetische Urteile a priori möglich?" durch eine andere zu ersetzen: warum ist der Glaube an solche Urteile nötig? . . . in unserem Munde sind es lauter falsche Urteile. Bei der ungeheueren Wirkung der deutschen Philosophie war eine gewisse virtus dormitiva beteiligt (22). Und woher kommt es, fragen wir, dass „die verschiedensten Philosophen" „unter einem unsichtbaren Banne" „immer von neuem noch einmal dieselbe Kreisbahn laufen", dass „irgend
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Dogmatisch überbietet nur Strauss sich selbst.
dass er
„ohne den Inhalt
seiner religiösen Vorstellungen,
der sein
eigener substanzieller ewiger Inhalt ist, nicht mehr wahrhaft leben kann,
wenn er ihm einmal, sei es in dieser oder jener Form, zum
Bewusstsein
gekommen."
Auch Alexander Schweizer
ist mit von
ihm aus-, aber ganz und gar nicht über ihn hinausgegangen. So ist in Strauss
die
einseitig kritisch negative Richtung zu
ihrer extremsten Ausgestaltung
gekommen.
Der Verzicht
auf die
etwas in ihnen sie führt, irgend etwas sie treibt in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben j e n e e i n g e b o r e n e Systematik und Verwandtschaft der Begriffe", dass „ihr Denken viel weniger ein Entdecken als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesamthaushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind" (31)? Es ist, antwortet Nietzsche, im letzten Grunde der Bann physiologischer Werturteile und Rasse-Bedingungen'' (32), und fügt hinzu: „so viel zur Zurückweisung von Lockes Oberflächlichkeit in bezug auf die Herkunft der Ideen" (32)!! „Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor allem will ein Lebendiges seine Kraft auslassen: Leben selbst ist Wille zur Macht" (23). „Es gibt immer noch harmlose Selbstbeobachter, welche glauben, dass es „unmittelbare Gewissheiten" gebe, z. B. „ich denke": . . . . „der Philosoph muss sich sagen: wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem Satz: „ich denke" ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist" (26). Die Logiker sagen: das Subjekt „ich" ist die Bedingung des Prädikats „denken"; aber es ist Aberglaube. Sie vergessen, dass ein Gedanke kommt, wenn e r will, und nicht wenn ich will (27). Die Theorie vom freien Willen verdankt ihre Fortdauer nur dem Reize, dass sie widerlegbar ist . (28). Das, was Freiheit des Willens genannt wird, ist wesentlich der Ü b e r l e g e n h e i t s a f f e k t in Hinsicht auf den, der gehorchen muss: ich bin frei, er muss gehorchen (29). „Die causa sui ist der beste Selbstwiderspruch, der bisher ausgedacht worden ist (32). Auch „der unfreie Wille" ist Mythologie: im wirklichen Leben handelt es sich nur um starken und schwachen Willen (33). „Wir sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Füreinander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben; und wie wir diese Zeichenwelt als „an sich" in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich mythologisch (33). J e n e „Gesetzmässigkeit der Natur", von der ihr Physiker so stolz redet, — sie ist kein Thatbestand, vielmehr nur eine naiv-humanitäre Zurechtmachung (34). Die gesamte Physiologie als Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht zu fassen, wie ich sie fasse — daran hat noch niemand mit seinen Gedanken nur gestreift (35). „Die modernen Menschen . . . fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel: „Gott am Kreuze" lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendwo eine gleiche Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und Fragwürdiges gegeben, wie diese Formel: sie verhiess eine Neuwertung aller antiken Werte. Es ist der o r i e n t a l i s c h e S k l a v e , der auf d i e s e W e i s e an Rom und seiner vornehmen und frivolen Toleranz, am römischen Katholizismus des Unglaubens R a c h e n a h m " (71).
Kant: Kritik der reinen Vernunft.
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Sicherstellung der dogmatischen Aussagen hat in ihm seinen rückhaltlosesten Vertreter gefunden. Aber sein Auftreten hat, wie es eine Flut von Gegenschriften hervorrief, mehr die Reaktion provoziert als ein Fortschreiten auf dieser Bahn, wenigstens in dogmatischen Arbeiten, zur Folge gehabt. Das Erscheinen seines „Leben Jesu" an die Spitze der Entwicklung der neueren Dogmatik zu stellen, kann sich danach umsoweniger empfehlen, als es selbst unter dem das Jahrhundert beherrschenden Problem stand, ob und wie die christlichen Lehraussagen sich als Wahrheit behaupten und halten lassen. 2. In gewissem Sinne lag die Frage bereits dem Gegensatz des alten Rationalismus und des Supranaturalismus zu gründe, und in gewissen Ansätzen Iässt sie sich durch beinahe die ganze christliche Aera zurück verfolgen. Gelegentlich nimmt sogar das Interesse einen akuten Charakter an. Aber zur Lebensfrage, zum Leitmotiv wird sie erst, seitdem Kants „Kritik der reinen Vernunft" mit ihrem Ergebnis, dass alle menschliche Erkenntnis mit Anschauungen anfange, von da zu Begriffen gehe und mit Ideen endige, dass so alle Vernunft im spekulativen Gebrauche mit diesen Elementen niemals über das Feld möglicher Erfahrung hinauskommen könne und also jenseits desselben, daher von der übersinnlichen, überempirischen Welt, kein Mensch jemals eine Kundschaft zu ererlangen vermöge (Ausg. v. Kirchmann 552), in weiteren Kreisen bekannt wurde. Obzwar der Rationalismus der ratio das massgebende Urteil darüber zuschrieb, was als wahr rm gelten habe, so hat er es doch versäumt, einen Aufschluss sowohl darüber zu geben, was diese ratio sei, als darüber, wie weit sie reiche. Und wenn der Supranaturalismus an die Stelle der Vernunft die biblische Oflenbarung „Warum heute Atheismus? — „der Vater" in Gott ist gründlich widerlegt; ebenso „der Richter", „der Belohner". Ingleichen sein „freier Wille": er hört nicht — und wenn er hörte, wüsste er trotzdem nicht zu helfen." „Es scheint mir, dass der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist — dass er aber gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Mißstrauen ablehnt" (78). „Das Christentum war bisher die verhängnisvollste Art von Selbstüberhebung" (70). „Moral ist heute in Europa HerdentierMoral: — also nur, wie wir die Dinge verstehen, eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor allem höhere Moralen möglich sind oder sein sollten" (135). Der „unbedingte redliche Atheismus" „ist die Ehrfurcht gebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlüsse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet" („Zur Genealogie der Moral", 4. Aufl., mit „Jenseits von Gut und Böse" in einem Bande mit fortlaufender Seitenzahl. 1895. 480). S c h m i d t , Dogmatik I.
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Der Wahrheitsbeweis.
Die dialektische Methode.
Schleiermacher.
setzt, so lässt er es ununtersucht, wie wir uns von ihr überzeugen und ihren Inhalt uns aneignen können. Dagegen ist es sowohl der innere Entstehungsgrund wie der beabsichtigte und von ihrem Schöpfer erhoffte Zweck der Hegeischen Philosophie, die christliche Weltanschauung erkenntnismässig sicherzustellen und sie theoretisch objektiv zu fundamentieren. Ihr ist es recht eigentlich um den Wahrheitsbeweis des Christentums zu thun einer Selbstbescheidung gegenüber, die sich bei der vermeintlichen Erkenntnis beruhigt, dass man von dem Übersinnlichen nichts wissen könne. Dem Umstand, dass es Hegel gelang, dieses Zutrauen zu seiner Philosophie zu erwecken und eine Zeit lang zu unterhalten, allein hat sie den Erfolg zu danken. In weiten Kreisen sah man sie als die grossartige Versöhnung von Glauben und Wissen als zusammengehörender Momente eines und desselben Prozesses an. Aber der erste Jubel der Spekulation musste verklingen und ist verklungen. Dass die dialektische Methode doch eben nur Methode war, Denkoperation, logischer Formalismus und im günstigsten Falle immer nur zu Begriffen und sogar nur zu solchen führte, deren Richtigkeit von der Richtigkeit der Methode abhing, konnte sich für die Dauer um so weniger der Einsicht verbergen, je offenkundig unmöglicher die Anwendung dieser Kategorien auf die Wirklichkeit wurde. Auch ihre Übertragung und Anwendung auf die Theologie hat dieser im Allgemeinen und der Dogmatik im Besonderen einen erkennbaren Gewinn nicht gebracht; auch apologetisch nicht. Mit leeren Begriffen kann der christliche Glaube am Allerwenigsten auskommen. Also Hegel hat unter dem leitenden Gedanken der Sicherstellung der christlichen Weltanschauung gearbeitet. Aber der lediglich erkenntnismässige Weg hat sich als ungangbar bewiesen. Nachdem der Rausch der Begeisterung für seine Philosophie vorüber war, stellte sich heraus, dass ihr schliesslicher Effekt das Misstrauen dagegen, mit theoretischen Mitteln dem Glauben Sukkurs zu leisten, eher gesteigert als gemildert oder gar überwunden hatte. Schleiermacher war erheblich vorsichtiger vorgegangen. Um die Sicherstellung der christlichen Überzeugung war es ihm nicht minder ernst zu thun wie Hegel. Seine einerseits innerlichere, andererseits praktischere Natur führte ihn einen anderen W e g , und auf ihm ist er von einem ungleich nachhaltigeren, von einem Einfluss auf die Theologie geworden, der um die Wende des vorigen Jahrhunderts mit den „Reden über die Religion an die Gebildeten
Die „Reden über die Religion".
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unter ihren Verächtern" 1799 begann und selbst heute am Ausgange des neuen Jahrhunderts noch fortdauert. E r ist der Vater der neueren Theologie, wie der neueren Dogmatik im besonderen. Mit ihm und von ihm an beginnen wir, dem geschichtlichen Sachverhalt gemäss, den Bericht über ihre Entwicklung. 3. „Dass die Frömmigkeit aus dem Innern jeder besseren Seele notwendig von selbst entspringt, dass ihr eine eigene Provinz im Gemiite angehört, in welcher sie unumschränkt herrscht, dass sie es würdig ist, durch ihre innerste Kraft die Edelsten und Vortrefflichsten zu beleben und ihrem innersten Wesen nach von ihnen aufgenommen und erkannt zu werden, das ist," sagt Schleiermacher zum Schluss der „ersten Rede" (Ausg. von C. Schwarz 20), „es, was ich behaupte und was ich gern sichern möchte": das Programm der „Reden" und der Tendenz nach seines Lebens. Damit hebt die von ihm ausgehende Bewegung an. Die „Rechtfertigung" seiner Reden ist das gute Recht der christlichen Frömmigkeit auch vor den „Gebildeten unter ihren Verächtern", und das zu erweisen, dazu verlangt er Gehör für einen „so gänzlich von ihnen vernachlässigten Gegenstand" (3). Aber er will ihr Augenmerk ausdrücklich „nur auf die inneren Erregungen und Stimmungen richten, auf welche alle Äusserungen und Thaten gottbegeistertcr Menschen hindeuten" (17). Erst wenn sie auch daran „nichts Wahres und Wesentliches" entdecken noch eine andere Ansicht von der Sache gewinnen, will er verloren haben und endlich glauben, ihre Verachtung der Religion sei ihrer Natur gemäss, und dann ihnen nichts weiter zu sagen haben (18). Es ist ihm also unverkennbar um die Wahrheit dieser „inneren Erregungen und Stimmungen" zu thun, dieses inneren Grundes aller religiösen Äusserungen und so auch der christlichen Frömmigkeit. Dazu geht er auf das Innere des christlichen Bewusstseins zurück. Aber inwieweit nun die daraus entnommenen Lehraussagen objektiv wahr seien, lässt er unerörtert. „Wollt ihr nun," erklärt er (43), „die allgemeine Beschreibung eueres Gefühls nach seinem Wesen Grundsatz nennen und die Beschreibung jedes einzelnen darin hervortretenden Begriff und zwar religiösen Grundsatz und religiösen Begriff, so steht euch das allerdings frei, und ihr habt recht daran. Aber vergesst nur nicht, dass dies eigentlich die wissenschaftliche Behandlung der Religion ist, das Wissen um sie, nicht sie selbst, und dass dieses Wissen als die Beschreibung des Gefühles unmöglich in gleichem Range stehen kann mit dem beschriebenen Gefühle selbst. Vielmehr kann dieses
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Die Frage nach Sicherstellung' der dogmat. Aussagen bleibt bei Seite.
in seiner vollen Gesundheit und Stärke Manchem einwohnen, wie denn fast alle Frauen hiervon Beispiele sind, ohne dass es besonders in Betrachtung gezogen werde; und ihr dürft dann nicht sagen, dass Frömmigkeit fehle und Religion, sondern nur das Wissen darum. Vergesst aber nur nicht wieder . . ., dass jene Begriffe und Grundsätze gar nichts sind, als ein von aussen angelerntes leeres Wesen, wenn sie nicht eben die Reflexion sind über des Menschen e i g e n e s Gefühl." Haben diese so zutreffenden Sätze lediglich die subjektive Wahrheit, die Wahrhaftigkeit des Bekenners zum Gegenstand, die sie mit gutem Rechte fordern, ohne in die F r a g e nach der objektiven Wahrheit jener Begriffe und Grundsätze überhaupt einzutreten: so wird diese etwas später noch in derselben Rede aufgenommen. „Das Universum ist in einer ununterbrochenen Thätigkeit und offenbart sich uns jeden Augenblick. Jede Form, die es hervorbringt, jedes Wesen, dem es nach der Fülle des Lebens ein abgesondertes Dasein gibt, j e d e Begebenheit, die es aus seinem reichen, immer fruchtbaren Schosse herausschüttet, ist ein Handeln desselben auf uns; und in diesen Einwirkungen und dem, was dadurch in uns wird, alles Einzelne nicht für sich, sondern als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte nicht in seinem Gegensatz gegen anderes, sondern als eine Darstellung des Unendlichen in unser Leben aufnehmen und uns davon bewegen lassen, das ist Religion. Was aber darüber hinaus will und etwa tiefer eindringen in die Natur und Substanz der Dinge, ist nicht mehr Religion, sondern will irgendwie Wissenschaft werden; und wiederum, wenn, was nur unsere Gefühle bezeichnen und in Worten darstellen soll, für Wissenschaft von dem Gegenstande, für geoffenbarte etwa und aus der Religion hervorgegangene oder auch für Wissenschaft und Religion zugleich will angesehen sein, dann sinkt es unvermeidlich zurück in Mystizismus und leere Mythologie" (45). Danach hätte es allerdings mit der objektiven Wahrheit der Glaubensobjekte ein Ende, aber auch der Pantheismus wäre die Religion, die Schleiermacher den Gebildeten unter ihren Verächtern angepriesen hätte. Schleiermacher empfindet das Anstössige des Wortlautes auch und ist bemüht, ihn in den Erläuterungen 5 und 6 zu mildern. So soll „leere Mythologie" nicht im tadelnden Sinne gemeint sein, sondern darunter denkt er den Fall, dass „ein rein ideeller Gegenstand in geschichtlicher Form vorgetragen wird" (97). Er sieht solche Darstellungen wie etwa die vieler göttlicher Eigenschaften selbst für unentbehrlich an, weil man sonst das Richtigere vom Minderrichtigen gar nicht unter-
„Der christl. Glaube nach d. Grundsätzen d. ev. K. im Zusammenhang."
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scheiden könnte: aber mehr als „nur ein Notbehelf" (98) sind sie ihm doch nicht, „weil wir es nicht besser machen können". Freilich gehören die Reden einer später überwundenen Entwicklungsphase an, und die gelegentlich pantheistischen Ansätze und Ausdrücke derselben sind nur ihr eigen. Aber die Erläuterungen sind aus dieser späteren Zeit, in der die Glaubenslehre bereits vorlag, und nehmen auf sie Bezug (96). Ist die christliche Theologie eine positive Wissenschaft, deren Teile zu einem Ganzen nur verbunden sind durch ihre gemeinsame Beziehung auf das Christentum (Kurze Darst. des theol. Stud. § 1); werden wir den Umfang der christlichen Lehre erschöpfen, wenn wir die Thatsachen des frommen Selbstbewusstseins betrachten, zuerst sowie der in dem Begriff der Erlösung ausgedrückte Gegensatz sie schon voraussetzt, dann aber auch so, wie sie durch denselben bestimmt sind (der christl. Glaube § 29); bildet so „das christlich fromme Selbstbewusstsein, wie es überall in der evangelischen Kirche nur vorkommt und anerkannt wird" (§ 32, 1), die Vorbedingung aller dogmatischen Aussagen und Erörterungen: so kommt die Frage nach einer Sicherstellung derselben unabhängig davon und darüber hinaus gar nicht zur Stellung. Es ist ihr von Haus aus vorgebeugt. Sie bleibt bei Seite und unentschieden. Seine Dogmatik, die reifste Frucht seiner literarischen Arbeit: „Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt" 1. Aufl. 1821, 2. formell verbesserte und materiell gemässigtere 1831, 5. 1861 geht unter dem bezeichnenden Wahrspruch aus: „Neque enim quaero intellegere ut credam, sed credo ut intellegam. Nam qui non crediderit, non experietur, et qui expertus non fuerit, non intelleget" Anselm. Prosl. 1. de fide trin. 2. Dagegen erklärt er sie in der Vorrede zur 1. Aufl. für die erste Glaubenslehre, „welche mit Rücksicht auf die Vereinigung beider evangelischen Kirchengemeinschaften abgefasst sei," und beruft sich in der Vorrede zur 2. Aufl. darauf, dass es einer dogmatischen Ausgleichung zwischen beiden Teilen gar nicht bedürfe und noch viel weniger eines neuen Symbols; dass ihm vielmehr ganz eigentlich obgelegen habe, nicht nur von dieser Voraussetzung auszugehen, sondern sie als einen feststehenden Grundsatz nach seinen besten Kräften durch eine freie und versöhnende Behandlung der fraglichen Schriften zu realisieren (5. Aufl. VI).
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Schi, hat keine Schule gegründet, aber alle Richtungen angeregt.
4. Schleierraacher hat keine Schule gegründet. Er protestiert auf das bestimmteste „gegen die Ehre", ihn „als das Haupt einer solchen aufzuführen" (V). Er entsinnt sich nämlich nicht, etwas erfunden zu haben, ausgenommen die Anordnung und hie und da die Bezeichnung; und ebensowenig hat er „jemals mit seinen Gedanken etwas anderes bezweckt, als sie anregend mitzuteilen, damit Jeder sie nach seiner Weise gebrauche." Aber eben das gilt ihm mehr, als „eine Fundgrube von Formeln, an denen sich nachsprechende Schüler wieder erkennen" (V). Und die Geschichte bestätigt es, dass es mehr ist. Was ihn immer davor bewahrt hat, der theologischen Entwicklung ein neues Flussbett zu graben und sie in seine Ufer einzuengen und einzuzwängen, ein gewisses feinfühliges Sensorium für das, was not that, oder die Geschichte seines eigenen Innenlebens: was hätte im günstigsten Fall der Gewinn davon sein können, wenn er doch darauf ausgegangen wäre ? Eine neue Richtung wäre zu den alten hinzugekommen. Es ist mehr und toto genere etwas anderes, was ihm die neuere Theologie bis heute verdankt. Indem er sie zur Besinnung auf sich selbst und ihr innerstes Wesen zwang, auf das innerliche Innewerden als ihre Urstätte, auf die Grundthatsache des Christentums und die aus ihr abgeleitete religiöse Erfahrung, das fromme Bewusstsein wies, hat er die Theologie in allen ihren Richtungen befruchtet. Der von ihm ausgegangene Impuls ist das ganze Jahrhundert hindurch wirksam und „anregend" geblieben. Man befindet sich Schleiermacher gegenüber in der glücklichen Lage, von ihm lernen zu dürfen, ohne auf seine Worte schwören zu brauchen, und eben so des Meisters eigenste Intention zu treffen. „Nur in diesem" — nämlich „dass es Jeder in seiner Weise gebrauche" — „Sinne," erklärt er, V, „gebe ich dies Buch zum zweiten und gewiss letzten Mal heraus." Darum kann Alexander Schweizer Schleiermachers Theologie nach der reformierten Seite fortbilden und doch von seinen Leistungen in der, Vorrede eben des Werkes, in dem er das thut, bekennen, dass er zu ihnen, „so hoch er sie stelle, immer ein durchaus freies Verhältnis eingenommen habe" („Die christliche Glaubenslehre nach protestantischen Grundsätzen." I. 1863. V). Damit stimmt auch, wie „der christliche Glaube . bei seinem Erscheinen aufgenommen wurde. Keine Richtung fand darin ihr Schibboleth. Ein Schul- oder Parteiinteresse verfolgte er nicht
D. Rubrizierung unter d. Richtungsnamen enthält kein erschöpf. Urteil.
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und vertrat er nicht. Ein Schul- oder Parteibuch war er nicht und wurde er nicht. Er befremdete Viele und befriedigte kaum Einen, aber von ihm Akt nehmen mussten alle Wortführer im theologischen Sprechsaal. Angeknüpft an ihn hat alle weitere dogmatische Arbeit. Schleiermacher hat den von ihm vorgefundenen Gegensatz von Supranaturalismus und Rationalismus theologisch überwunden und ihn in eine höhere Einheit aufzuheben gesucht. Der Unterschied einer mehr rationalen und einer mehr supranaturalen Fassung der dogmatischen Aufgabe war damit freilich nicht auch aufgehoben und konnte es, man möchte sagen, naturgemäss nicht sein. Nur in der alten Formulierung hörte der Gegensatz auf. Von Schleiermacher an kommt eine neue Nomenclatur der theologischen Richtungen auf. Man unterscheidet die vermittelnde, die biblisch-gläubige, die rein biblische, die altlutherische und die neurationalistische Theologie; je auf welche gemeinsame Instanzen oder auf welche einzelnen vor anderen sie vorwiegend sich für die Wahrheit der religiösen Aussagen beruft; ob mehr in besonnener Würdigung des supranaturalen und des rationalen Momentes zugleich, der Offenbarung und ihrer notwendig geschichtlichen Vermittlung auf ein ausgleichend versöhnendes Zumal von Glauben und Wissen, ob mehr auf die biblische Bezeugung, ob rein auf die biblischen Aussagen, ob mehr auf das kirchliche Bekenntnis, ob mehr auf die rationale Betrachtung. Wenn ich diese einmal hergebrachte Terminologie akzeptiere und unter diesen Rubren die dogmatischen Systeme aufführe, so geschieht es im Zusammenhange mit dem leitenden Gesichtspunkte des Wahrheitsbeweises oder der Begründung der christlichen Gewissheit, sofern sich die einzelnen Dogmatiker eben darin von einander unterscheiden, übrigens mit dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass damit die jeweilig vertretene Richtung nur angedeutet, keineswegs aber der Charakter des betreffenden Werkes erschöpfend gekennzeichnet werden soll. iQh bin mir sehr deutlich bewusst, wie unzureichend und inadäquat es ist, aber auch wie ungerecht es unter Umständen sein kann, ein so aus dem innersten Zentrum des eigenen Personlebens herausgewordenes Buch, wie es eine Dogmatik zu sein pflegt, unter so generelle Rubren zu klassifizieren. Wenn es nun doch geschieht, so gilt die Klassifikation als ordnendes Prinzip und beschränkt sich auf dieses Interesse. Die Gruppennamen umspannen grosse Nüancen, und genau genommen kann nur der Dogmatiker selbst massgebend über seine Zugehörigkeit zur Fraktion urteilen. Je nachdem das eine Moment mehr
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Th. Studien und Kritiken,
oder weniger betont wird, werden die Grenzen der verschiedenen Eichtungen fliessende. Nur mit dieser Reserve ordne ich die einzelnen Verfasser; nicht, ohne zugleich anzumerken oder doch durch die Darstellung anzudeuten, wie sie sich mit Schleiermacher berühren. „Die wissenschaftliche Theologie ist nicht ein Erzeugnis gelehrter oder müssiger Köpfe, sondern sie wird herausgeboren aus ihrer Zeit und aus dem Glaubensleben der Kirche, sei es dem kraftvollen, sei es dem erschlaffenden" (Frank, „Geschichte und Kritik der neueren Theologie" 1894. 221); aber sie ist keineswegs nur abhängig von Mächten ausser ihr, sondern befugt, auch von sich aus Einfluss zu üben. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen der Theologie und dem übrigen Leben (Ludw. Schulze, Rede am 28. Februar 1894). 5. Am entgegenkommendsten verhielten sich zu Schleiermacher und der in seiner Dogmatik vertretenen Glaubensrichtung die Männer, welche der nicht immer freundlich sogenannten Vermittlungstheologie in den bis heute für dieselbe mit ungeschwächtem Erfolge wirksamen „Theologischen Studien und Kritiken" im Jahre 1828 ein wertvolles Organ schufen. Schleiermacher selbst hatte in den Jahren 1818—1822 mit De Wette und Lücke die „Theologische Zeitschrift" mit analogen Tendenzen und religiös und wissenschaftlich gleicher Gediegenheit herausgegeben. Auch an den „Theologischen Studien und Kritiken" hat er mitgearbeitet, wenn er auch nicht unter ihren Gründern war. Die Vermittlungstheologie knüpft an den Supranaturalismus an, sucht den Inhalt der biblischen Offenbarung und den Wahrheitsgehalt der reformatorischen Bekenntnisse mit allem Ernste, aber auch mit massvoller Kritik zu ermitteln und über den Gegensatz des lutherischen und des reformierten Bekenntnisses hinauszuführen, beiden gerecht zu werden, dem unwandelbaren christlichen Glauben und dem modernen Geistesleben, und in ehrlicher Arbeit, aber ohne Kompromisse 1 ) beider Versöhnung anzustreben. 1) Sie hat nichts zu thun mit einer Richtung, von der Frank, „Geschichte und Kritik der neueren Theologie . . ." herausgeg. v. Schaarschmidt 1894 sagt: „Wenn es doch eine Statistik gäbe, welche die Erfolge solcher wohlfeilen und wirkungslosen Argumentationen", nämlich die veralteten und anstössigen Dogmen fahren zu lassen, um den christlichen Glauben mit .der modernen Wissenschaft auszusöhnen (282), nachweisen könnte! Das Ärgernis und die Thorheit des Kreuzes ist glücklich hinweggeschafft; aber die Weisen dieser Welt, denen zu liebe man es gethan, werden darüber lächeln und erst recht solch fad gewordenes Salz auf die Seite werfen" (347).
Carl Immanuel Nitzsch.
Twesten.
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Der ehrwürdige Führer dieser Richtung war C a r l I m m a n u e l N i t z s c h , f 1868, nach Beyschlags pietätvoll zutreffendem Ausdruck: „eine Lichtgestalt der neueren deutsch-evangelischen Kirchengeschichte" (vgl. seine so betitelte Biographie N.s. Berlin. 1872). Sein „System der christlichen Lehre für akademische Vorlesungen", 1. Aufl. 1829; 2. 1831; 6. 1851 will neben der abgesonderten Behandlung der Dogmatik und Ethik ein Studium des einigen und ganzen christlichen Lehrgebäudes erwecken, den „Zusammenhang nachweisen, vermöge dessen die Glaubensbestimmungen mit ihrer ganzen Eigentümlichkeit bis in jede, auch die letzte Pflichtlehre hineinwirken" (2. Aufl. IV), und handelt nach einer Einleitung über den Begriff, den Stoff, die Erkenntnisgesetze und die Versuche des christlichen Lehrsystems I. vom Guten, II. vom Bösen, III. vom Heil. Von der ewigen Freude sagt er, dass sie, „indem sie die allgemeine Grundbestimmung des ebenbildlichen Wesens erfülle, jedem gewähre, in höchster W a h r h e i t es selbst und doch in Gott und Mitgenosse zu sein" (260); von der a p o l o g e t i s c h e n Beweisführung, dass sich jede „auf jenen lebendigen und unmittelbaren Syllogismus des Herzens stützen müsse, welcher Joh. 7. 17 angedeutet sei. „'AjtodeixTixcos, ovx änoqxxvtixeös XQV xhjotag xa doyfiara" Theodoret 'Egavtar^g Dial. Tom. IV. 199 (Nitzsch 63). Der Rekurs auf die Schrift ist der Rekurs auf das in ihr urkundlich für alle Zeiten sich offenbarende r e l i g i ö s e B e w u s s t sein. A u g . D e t l . C h r . T w e s t e n , f 1876, „Vorlesungen über die Dogmatik der ev.-luth. Kirche nach dem Kompendium des Herrn Dr. W. M. L. de Wette I. 1826. II, 1. 1837. — 4. Aufl. 1838 tritt mit der ausgesprochenen Absicht vor die Öffentlichkeit, die ältere Weise, die Dogmatik abzuhandeln, durch die neue abzulösen, „sich seiner religiösen Überzeugung als einer nicht bloss auf äusserer Autorität, sondern auf i n n e r e r W a h r h e i t und Notwendigkeit beruhenden bewusst zu werden" (4. Aufl. III). „Die blosse mang" (im Sinne von Autoritätsglauben) genügt nicht. „Wir bedürfen der yv&oiq — der wahren gegen die falsche —, u n d im Christentum ist nichts, warum wir dies B e d ü r f n i s v e r l e u g n e n s o l l t e n (V). „Evangelischen Glauben und wissenschaftliche Tüchtigkeit" schätzt Twesten „als die Grundbedingungen der evangelischen Frömmigkeit" (XIII). Dem gewöhnlichen Verfahren der Dogmatik" (26), auch den Glaubenslehren von Daub und Marheinecke (27) macht er den Vorwurf, dass sie vom Standpunkt
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Twesten tritt für erkenntnismässig objektive Giltigkeit der KL. ein.
des religiösen W i s s e n s ausgehen, während in der Religion das Gefühl das Ursprüngliche, die Erkenntnis abgeleitet, mithin nur aus dem Gefühle zu begreifen sei (26). Daher wählt er für seine Darstellung den Standpunkt der Reflexion als den eigentlichen der Religionswissenschaft (27). „Zwar hängen Gefühl und Glaube nicht schlechterdings von den Bestimmungen des Wissens ab; sie führen ja selbst ihren Gehalt und ihre Sicherheit mit sich" (30). „Die Aussagen des religiösen Gefühls können mancherlei Deutungen zulassen," „ohne dass dadurch der christliche Charakter des frommen Bewusstseins verändert wird.". „Dies geht aber doch nur bis zu einem gewissen Punkt." „ G ä b e es g a r k e i n e n w i s s e n s c h a f t lich zu r e c h t f e r t i g e n d e n S i n n " jener Aussagen, so müssten w i r sie f ü r K r a n k h e i t oder T ä u s c h u n g e r k l ä r e n und sie zu u n t e r d r ü c k e n suchen." Obgleich also die Religion weder Erkenntnis ist, noch von der Erkenntnis ausgeht: so verhält sie sich doeh nicht gleichgiltig gegen dieselbe, und es ist z. B. für den religiösen Glauben nicht einerlei, ob wir aus wissenschaftlichen Gründen meinen, behaupten oder leugnen zu müssen, dass der Mensch unsterblich sei. Ü b e r h a u p t ist die R e l i g i o n in i h r e m w i r k l i c h e n Leben ein G a n z e s , in w e l c h e m G e f ü h l , G l a u b e n und W i s s e n nicht g e t r e n n t w e r d e n k ö n n e n . Dies dürfen wir um so weniger unbemerkt lassen, je leichter jemand versucht sein könnte, aus unserer Grundansicht Folgerungen abzuleiten, die wir nicht anerkennen können, z. B. wenn Jemand meinte, der Inhalt der Offenbarung dürfe uns nur so viel gelten, als wir in ihm gewisse Gefühle ausgedrückt fänden, nicht, inwiefern er auch unsere Erkenntnis fester begründete oder erweiterte" (31). Damit ist Twesten über den in der zweiten seiner „Reden über die Religion" eingenommenen Standpunkt S c h l e i e r m a c h e rs hinaus und für die nicht bloss subjektive, sondern erkenntnismässig objektive Giltigkeit der aus dem Inneren des Dogmatikers reproduzierten Kirchenlehre grundsätzlich als ein unentbehrlich religiöses Interesse eingetreten. — Das Werk ist unvollendet geblieben. Die im September 1837 in nicht zu langen Zwischenräumen verheissene zweite und dritte Abteilung des 2. Bandes (II 1, XXX) sind nicht erschienen. J o h a n n Heinr. Aug. E b r a r d „Christliche Dogmatik" I 1851, II 1852 schreibt seit vollen 60 Jahren wieder eine „Christliche Dogmatik", die einen Theologen reformierten Bekenntnisses zu ihrem Verfasser hat. Er will die W a h r h e i t , d i e n u r e i n e i s t , eruiren (IX) und meint, ähnlich wie seinerseits S c h l e i e r m a c h e r
Ebrard.
Lange.
Schenkel.
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(D. ehr. Gl. VI), dass eben deshalb seine Dogmatik eine recht reformierte d. h. echt unirte, nämlich so sei, dass alles, was sich anderen Konfessionen als schriftgemäss und wahr erweise, in ihr Aufnahme finde. In der Prädestinationslehre ist er überdem entschiedener Gegner Calvins und Anhänger Melanchthons (VII), und in der Abendmahlslehre findet er bei jeder der beiden Konfessionen eigentümliche Wahrheitsmomente. Als Idee, Sein und Verklärung behandelt er Gott als den Ursprung, als den Mittler und als den Vollender in reformiert kirchlich rezipierter Fassung. „Der Sabbath ist" ihm „ein ewiges Zeichen zwischen Gott und seinem Volk" (I, 552), „das letzte Resultat der Vollendung" „die endlose Scheidung der Seligen und der Verdammten" (II, 747). „Die letzten Fragezeichen werden dort am Throne des Lammes ihre Erledigung finden" (II, 748). J o h a n n P e t e r L a n g e (ref.), f 1884, „Christliche Dogmatik", I. philosophische 1849, II. positive 1851, III. angewendete 1852 setzt die Glaubenslehre mit dem gesammten G e i s t e s l e b e n in B e z i e h u n g u n d a u s e i n a n d e r und nennt „die Lehre von dem Gottmenschen den Schlüssel a l l e r E r k e n n t n i s s e , den die Phil o s o p h i e s u c h t " , das Prinzip aller Prinzipien" I , 666. Mit S c h e i e r m a c h e r sieht er die Frömmigkeit als absolutes Abhängigkeitsgefühl an, aber findet eben in dieser absoluten Bedingtheit des Menschen seine Freiheit begründet, sofern er eben so sein Gesetz nicht von aussen empfangen könne, sondern in sich selber habe (I. 120. 185). D a n i e l S c h e n k e l , f 1885, „Die christliche Dogmatik vom Standpunkt des Gewissens aus dargestellt", I 1 8 5 8 : Die Grundlegung; II 1859, 1 : Die Lehrausführung, 2 : von den Thatsachen des Heils; Motto: „To yäg ygafifia aitoxrewei, ro de Ttvevfia fcoojtoieV — hat sich durch seine Vorträge über das theologische System S c h l e i e r m a c h e r s überzeugt, dass dessen Religionsbegriff nicht mehr genügt, und dass die Dogmatik von einem neuen dem Heilsbedürfnis entsprechenderen ausgehen müsse (IV). Dieser neue ist das G e w i s s e n , „das religiöse Organ des menschlichen Geistes", in dem wir unserer selbst nicht lediglich bewusst werden, wie wir als solche sind, sondern immer so, wie wir auf Gott bezogen sind, so dass das Selbstbewusstsein im Gewissen auf ursprüngliche Weise immer zugleich mit dem Gottesbewusstsein gesetzt ist und die Berufung auf den im Selbstbewusstsein persönlich sich bezeugenden Gott die Grundthätigkeit des Gewissens ist (I, 135). „Auch im
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Liebner.
Marteusen.
Reiche der Herrlichkeit werden die individuellen Besonderheiten fortwirken. Die Einen werden dienen, die Anderen herrschen, jene willig aus Liebe, diese heilig in Demut, um dessen willen, der uns zuerst gegen den Vater geliebt hat" (1227). Am 6. August 1839 hatte De Wette an Fries voll Lobes über einen Schüler, der für hundert gelte, Schenkel, Verfasser einer neulichst herausgekommenen Schrift über Strauss, geschrieben, dass derselbe, von der Identitätsphilosophie zurückgekommen, eingesehen habe, dass nur auf dem s u b j e k t i v e n Standpunkte die Wahrheiten des Christentums behauptet werden können" (E. Henke, Fries' Leben, 363). T h e o d . Alb. L i e b n e r , f 1871, „Die christliche Dogmatik aus dem christologischen Prinzip". Erster Band: Christologie oder die christologische Einheit des dogmatischen Systems. Erste Abteilung 1849 — mehr ist nicht erschienen — steht unter dem beherrschenden Gedanken, dass das christliche System das schlechthin höchste, das System aller Systeme ist, welches alle anderen nur suchen und in dem sie allein ihre Wahrheit haben, und bekennt, „dass eine Zeit", auch „in der Entwicklung der christlichen Völker, n i e ganz irrt" (388). H. M a r t e n s e n , f 1884, „Die christliche Dogmatik" 1849, vom Verf. selbst veranstaltete deutsche Ausgabe 1856, vorher schon ohne sein Vorwissen (III) deutsch erschienen 1850, — sieht nicht nur darin, wie namentlich S c h l e i e r m a c h e r , die Aufgabe der Dogmatik, „in einer dem gegenwärtigen Bedürfnis der Kirche entsprechenden Gestalt das Erlösungsbewusstsein der Reformationszeit zu reproduzieren", sondern zugleich in einer neuen Gestalt das Offenbarungsbewusstsein der ersten Jahrhunderte, dessen Inhalt von der Reformationszeit grösstenteils nur traditionell aufgenommen wurde, zu reproduzieren, oder vielmehr beide in einer höheren Synthese wissenschaftlich zu rekapitulieren, die dann zugleich das Berechtigte in der Dogmatik des Mittelalters rekapitulieren wird". Diese unsere Zeit bedürfe zwar „des scharfen Salzes des Augustinianismus in hohem Grade", aber die Kirche des Evangeliums habe nicht nur mit dem Pelagianismus des Lebens, sondern auch mit dem des G e d a n k e n s zu kämpfen, der sich in deistischen, pantheistischen, atheistischen und materialistischen Denkweisen als eine Weltmacht kundthue, deren verderbliche Herrschaft durch die in den letzten Jahren eingetretene v ö l l i g e G l e i c h g i l t i g k e i t g e g e n a l l e P h i l o s o p h i e ein noch grösseres Terrain gewonnen habe (VII). Diese Erweiterung des protestantischen Bewusstseins stimme durchaus mit der echt
Bichard Rothe, theo!. Ethik.
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reformatorischen Forderung, keinen Artikel des christlichen Glaubens als ein blosses Traditum und äusserliches Erbe zu belassen (VIII). Die Dogmatik sei zu sehr nur Heilsordnung geblieben und habe noch viele Schätze zu schöpfen übrig gelassen. „In der ganzen kirchenhistorischen Entwicklung" wird „ k e i n e n e u e A u f g a b e entstehen können, sei es in bezug auf die Lehre oder auf das Leben, welche die Kirche vermittelst der ewigen Grundgedanken der Wahrheit und des Lebens, die in d e r h. S c h r i f t niedergelegt sind, nicht wird lösen können" (382). Wie „gegen die falsche Gnosis", so „ist dasselbe Schriftwort eine Schutzwehr gewesen gegen die unfruchtbare Orthodoxie, welche die Kirchlichkeit auf Kosten der Christlichkeit ausbildete, und es hat stets zu einer Erleuchtung zurückgeführt, die von der Erbauung unzertrennlich ist, weil die apostolische Erleuchtung ihrem innersten Grunde nach eine Erleuchtung zur Seligkeit ist" (382). R i c h a r d R o t h e , „Theologische Ethik". Erster Band 1845. Einleitung und Güterlehre. Zweiter Band: Fortsetzung der Güterlehre und Tugendlehre 1845. Dritter Band: Pflichtenlehre 1848, vollständig 5 Bde. 1854; 2. Aufl. 1867—72 posthum. — f 1867 — legt darin dem wissenschaftlichen Publikum sein theologisches Bekenntnis vor. Was er bietet, ist „nach dem gemeinhin gangbaren Sprachgebrauch zum sehr grossen Teil mehr dogmatischer Natur als ethischer" (III); „ein naturwüchsiges Erzeugnis seines eigensten Einsiedlerlebens" (IV). Seine Arbeit soll als Zeugnis dafür gelten, „dass noch Raum genug übrig ist für neue Bahnen", „sich in Ansehung des Christentums w i s s e n s c h a f t l i c h zu orientieren". „Das sie beseelende P r i n z i p " ist „der u n b e d i n g t e Glaube an Christum als den wirklichen und alleinigen Erlöser und die Liebe zu ihm" (VI). „Der e i n f a c h e C h r i s t e n g l a u b e " , „die geschichtliche Erscheinung, welche der h. Name Jesus Christus bezeichnet", ist das „Fundament alles seines Denkens, das letzte Gewisse, der einzige feste Punkt", das „unantastbare Allerheiligste der Menschheit", das „eine schlechthin u n e r f i n d b a r e Datum". Nur „ein Denken aus dem Ewigen kann das Bedürfnis der Gegenwart befriedigen" (VIII). Er hat sich keines der philosophischen Systeme als Überzeugung aneignen können (18). Sein Buch will lediglich Theologie oder genauer Theosophie sein. Es ist ihm eine Genugtliuung, es auszusprechen, wie viel er S c h l e i e r m a c h e r verdankt (XII). Das Christentum darf nicht mit der Kirche identifiziert werden, wenn es nicht mit sich selbst verfeindet werden soll (XIII). Das Christen-
Richard Rothe „Dogmatik".
tum, und zwar eben das u r a l t e Christentum in seiner streng verstandenen Ü b e r n a t ü r l i c h k e i t ist etwas Mehreres, als blosse Religion, es ist ein ganzes, volles, neues menschliches Leben, und der Erlöser ist kein Kleriker, sondern ein hohepriesterlicher König (XIII). „Wehe mir, wenn mir Gott und die Welt nicht überschwenglich grösser blieben als mein Begriff von ihnen!" (XIV). Der dritte Teil stellt seine praktische christliche Lebensansiclit in ihrer bestimmten Anwendung auf die Gegenwart ihren Grundzügen nach dar. Das Ganze ist der Versuch einer spekulativen Herleitung der christlichen Wahrheit in ihrer Plerophorie aus der religiösen Urthatsache des Sich durch Gott Bestimmtfindens. In der That ein monumentaler Gedankenbau aus dem Ganzen, aber doch staunenswerter als überzeugend und akzeptabel; auch mehr anregend als nachzusprechen; „ein Gebäude von theologischen Sätzen", das ihm und eben nur ihm eigentümlich zugehört. Ihm, dem einsamen Denker, dem wissenschaftlichen Einsiedler, „der stracks vor sich hin gehen muss mit seinem Denken, wohin er auch gerate" (VII). R i c h a r d R o t h e , „Dogmatik". Aus dessen handschriftlichem Nachlasse herausgegeben von D. Schenkel. Erster Teil: Das Bewusstsein der Sünde. Zweiter Teil: Das Bewusstsein der Gnade, 1870, die jüngere zweier hinterlassenen Bearbeitungen der christlichen Dogmatik, welche unverkennbar seinen akademischen Vorlesungen über diese Disziplin zu gründe gelegen hat, — sieht die Analyse und begriffliche Darstellung des e v a n g e l i s c h - c h r i s t l i c h f r o m m e n B e w u s s t s e i n s als die Aufgabe der Dogmatik an. Sie hat die Begriffe Gottes und des Menschen, von Sünde und Gnade zu entwickeln, „wie sie im christlichen Bewusstsein gegeben sind, und nicht etwa zu konstruieren, wie sie „abgesehen von dem christlichen Bewusstsein" gefunden werden möchten (1). Die Dogmatik wird so nach S c h l e i e r m a c h e r s Vorgang eine h i s t o r i s c h e Disziplin. Die traditionell kirchliche Lehre legt Rothe seiner Darstellung durchweg zu gründe; prüft sie vor der Schrift, auf ihre religiöse Wurzel, spekulative Begründung und Berechtigung. So z. B. das Dogma von der Dreieinigkeit, Die Schöpfung wird nach der kirchlichen Dogmatik (126), vor dem christlich frommen Gefühl (131), vor der h. Schrift (132), vor dem rein wissenschaftlichen Gesichtspunkte (134), auf ihre spekulative Begründung (138), in ihrer Notwendigkeit von dem aufgestellten Gottesbegriffe aus (140), in ihrem spekulativen Begriff (147) zur Sprache gebracht. Historisch-kritisch bezw. -apologetisch im besten Sinn ist die Methode
J. A. Dorner.
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durchweg. Auf eine systematische Konstruktion konnte es von der Fassung der Disziplin aus nicht abgesehen sein. Um so mehr ist J. A. D o r n e r , f 1884, „System der christlichen Glaubenslehre", Erster Band: Grundlegung oder Apologetik, 1879. Zweiter Band: Spezielle Glaubenslehre, 1881; 2. Aufl. 1886, ins Englische übersetzt, — darauf bedacht. „Die christliche Glaubenslehre hat zwar nicht schlechthin produktiv, vielmehr reproduktiv, aber darum doch nicht bloss empirisch und reflektierend, sondern auch aufbauend (konstruktiv) und progressiv zu verfahren. Der christlich erleuchtete Geist, durch den Glauben und seine Erfahrung mit dem objektiven Christentum geeint, von dem der Glaube sich gestiftet weiss, und das von der h. Schrift und dem schriftmässigen Glauben der Kirche bezeugt ist, hat sein religiöses Wissen zu systematischer Begründung und Entfaltung zu bringen" (1. Aufl. 155, § 13). „Nicht bloss um Beschreibung der frommen Gemütszustände", des Glaubens und seines Inhalts, handelt es sich, „sondern um o b j e k t i v e W a h r h e i t und Darlegung des realen Sachverhaltes in der Ordnung, wie das Eine begründet, das Andere begründend ist." Nicht der Glaube könne das Begründende für das Christentum heissen, sondern im o b j e k t i v e n Christentum, wie es durch Christus offenbar, von der Schrift aber bezeugt sei, in l e t z t e r Beziehung in Gott liege die begründende Macht für den Glauben. Dieser sei nur das subjektive principinm cognoscendi des Christentums, während Gott in Christus und dem hl. Geist das principium essendi des Christentums bleibe. Diese christliche Gottesidee werde, nachdem sie primär im Glauben von der religiösen Gewissheit ergriffen sei, als die in s i c h s e l b s t w a h r e und notwendige aufzuzeigen sein, in dem einerseits der unauflösliche Zusammenhang der Gottesidee im allgemeinen mit dem Vernunftwesen des Menschen, andererseits in dem christlichen Gottesbegriff die Ergänzung und Vollendung des Gottesbegriffs überhaupt nachgewiesen werde (158). Der, wenn man will, erkenntnis-theoretische Standpunkt des von Anselm übernommenen Mottos Schleiermachers ist damit nicht überschritten. Der Glaube muss dem Erkennen vorausgehen. Auch der christlichen Gottesidee werden wir auf keinem anderen Wege inne. Dorner konstatiert, dass allen bedeutenderen neueren Dogmatikern seit Schleiermacher der Glaube . . . die Grundlage der Dogmatik sei (159). Aber S e h l ei er m a c h e r sei sie nicht nur die Grundlage, sondern allein ihr Inhalt gewesen. Um eine o b j e k t i v e Erkenntnis Gottes und Christi sei es ihm n i c h t zu thun, ihm bö-
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,J. A. D o i n e l \
stehe dag Christentum nur in dem Gefühl oder Bewusstsein der Erlösung (160). Besser sage schon J . Müller, wir müssten von der religiösen Gewissheit des Glaubens allerdings zu einem objektiven Wissen von Gott streben, aber das habe nur auf regressivem Wege durch Schlüsse von der Wirkung auf die Ursache zu geschehen. So komme er zu objektiven Aussagen über Gott, die dann wieder logisch geordnet würden zu einem Ganzen. So auch v. Hofmann, Thomasius, Nitzgeh, Lange, Frank, „System der christl. Gewissheit". Aber nicht erst durch Schlüsse, auf der via causalitatis, können wir zur Erkenntnis Gottes oder Christi kommen, sondern „durch den religiösen Prozess selbst schon erschliesst sich (Eph. 1. 18) das Auge des Gemüts für Gott und Gott für dieses Auge" (161). Der Glaube schon hat unmittelbar die geistige Intuition von Gott als Vater; er weiss nicht bloss von sich, von dem Erlöstsein, sondern auch, j a primär, von dem erlösenden Gott. „Nicht einmal das Erlöstsein unserer Person könnte uns gewiss sein, wenn wir nicht seine objektive Begründung in Gott erführen, nicht nur erschlössen" (161). Es bedürfe nicht, mit Liebner, Rothe und Martensen zu sagen, der Glaube sei das Medium, wodurch sich seine Selbstbeglaubigung für das geistige Auge vollziehe. Unser Glaube vernehme diese Beglaubigung, und nun könne auch das eigene Zeugnis unseres Geistes folgen (Eph. 1. 18); sondern es sei kein Grund, warum die wissenschaftliche Thätigkeit nicht von diesem W i s s e n des gläubigen Geistes, von dieser Gotteserkenntnis ausgehen solle in progressivem Verfahren, oder warum sie sich nur richten solle auf das subjektive Faktum des Erlösstseins, um regressiv durch Schlüsse daraus kausale Aussagen über Gott zu gewinnen (162). Danach liegen die Verhältnisse so: Schleiermacher beschränkt sich auf das fromme Bewusstsein und fragt nicht nach Objektivität seines Inhalts. Dorner, J. Müller und Rothe sind darüber einer Meinung, dass es für die Frömmigkeit nicht gleichgiltig ist, wie es sich mit der Objektivität des Geglaubten verhält, aber über das Wie des Erweises von der Objektivität differieren sie. J . Müller schliesst regressiv von der religiösen Gewissheit des Glaubens auf die Ursache davon und deren Beschaffenheit und kommt so zu o b j e k t i v e n Aussagen über Gott. Rothe schliesst aus dem Wissen von Gott, welches der Glaube in sich hat, auf den, der sich so beglaubigt. Dorner nimmt einfach von diesem Wissen Akt als der o b j e k t i v e n Vorstellung von Gott, von der die wissenschaftliche Arbeit als einer objektiven Basis ausgehen dürfe.
Ii. von der öoltz.
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Wir werden uns nicht wundem können, dass die Theologie sich bei diesem Bescheide noch nicht beruhigt hat. Das gediegene, tiefgründige und umfangreiche Werk behandelt I nach einer Einleitung über die encyklopädische Stellung der christlichen Glaubenslehre 1/15 die Lehre vom Glauben als der Vorbedingung der Erkenntnis vom Christentum als der Wahrheit (Pisteologie) 16/172, die Fundamentallehre, von Gott 173/501, von der Kreatur 501/542, von der Einheit Gottes und des Menschen 542/732; II die Lehre von der Sünde 1/246, das christliche Heil: Christus 247/693, die Kirche oder das Reich des heiligen Geistes 694/979 und schliesst: „Nach den Kämpfen und Trübsalen, besonders der letzten Zeit vor Christi Wiederkunft wird die Hochzeit des Lammes sein, wird der Bräutigam die Braut heimholen zum neuen Abendmahl (Offb. 19, 7. 9. Mt. 22. 2 ff.), zur seligen und unauflöslichen Vereinigung der Glieder mit ihrem Haupt, durch welche die teuersten und heiligsten Verhältnisse irdischer Gemeinschaften alle zu ihrer Wahrheit gelangen" (979). Freiherr H. von d e r G o l t z , „Die christlichen Grundwahrheiten oder die allgemeinen Prinzipien der christlichen Dogmatik" 1873 beschränkt sich auf die allgemeinen Prinzipien der christlichen Lehre bei nur gelegentlicher Berücksichtigung der konfessionellen Gegensätze und strebt eine „Vermittlung" an, welche von einer klaren und positiven Basis ausgeht. Die Dogmatik muss sich ihrer Aufgabe wieder mehr bewusst werden, direkt für die Einheit und Reinheit der kirchlichen Lehre zu arbeiten. „Der Bestand unserer evangelischen Landes- und Volkskirchen hängt davon ab, dass nur die wesentlichen christlichen Grundwahrheiten als Grenze der Lehrfreiheit behandelt, aber diese auch mit klarer Bestimmtheit anerkannt werden" (VIII). „Ein kirchlich brauchbares Bekenntnis entsteht nur durch eine Glaubensthat der Gemeinde." „Aber die Theologie muss durch wissenschaftliches Arbeiten dieselbe vorbereiten . . . " „In keiner Weise fällt der kirchliche Charakter der Dogmatik mit konfessioneller Orthodoxie zusammen" (IX). „Das dogmatische System muss das Gleichgewicht herzustellen trachten in der theoretischen, ethischen und mystischen Auffassung des Christentums. Die erstere sichert das Verständnis für die o b j e k t i v e Grundlage der in Christo vermittelten Heilsgemeinschaft mit Gott, die zweite sichert das Verständnis für ihren wesentlichen Zweck und Wert, die dritte sichert das Verständnis für die subjektive Lebendigkeit und Innerlichkeit. Die erste schliesst den IndifferenS c h m i d t , Dogmatik I.
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Fr. Reiff.
tismus und Syncretismus aus, die zweite den Antinomismus und Fanatismus, die dritte den Traditionalismus und den Klerikalismus (739). F r . R e i f f , „Die christliche Glaubenslehre als Grundlage der christlichen Weltanschauung", 2 Bände, 1. Aufl. 1872, 2. Aufl. 1876 schreibt, um seinem dogmatischen Unterricht an der Missionsanstalt in Basel statt des zeitraubenden Diktates etwas Gedrucktes zu gründe zu legen. Das Aufsuchen der Fühlung mit dem a l l g e m e i n e n W i s s e n s s t o f f sieht er so für die Theologie der Gegenwart überhaupt unbestreitbar als angezeigt, wie eine wirkliche Darstellung der Gesamtanschauung von der p o s i t i v aufgefassten Glaubenslehre aus für ein Bedürfnis in der theologischen Litteratur der Gegenwart an. „In den einfachen, grossen Schriftgedanken mit ihrer Fülle von Kraft und Tiefe, an welchen das Grösste das ist, d a s s sie w a h r s i n d , liegt der Reichtum des christlichen Glaubens" (V). Grade in die genuinen und originalen Schriftgedanken einzudringen, ohne sich gegen die Forschungen und die Resultate menschlicher Wissenschaft auf dem ihr zuständigen Gebiete engherzig zu verschliessen, hat sich Reiff besonders angelegen sein lassen. Die Behandlung hält gemäss der nächsten Bestimmung der Arbeit die Mitte zwischen der rein wissenschaftlichen und der populären (VI). „Ein dogmatisches Lesebuch für Theologen und Nichttbeologen" (IX), hat es eine Ubersetzung ins Schwedische erlebt. Der Standpunkt ist der biblisch-gläubige. „Auch seine konfessionelle Stellung ist ihm dadurch bestimmt, dass er seinen Standpunkt nur innerhalb der S c h r i f t nehmen wollte" (IX). Er ist von Haus aus lutherisch, und die Resultate seiner Schriftforschung lassen ihn das auch mit Freuden sein (IX). Er sucht in der „Vorhalle" den Weg zu festen, realen Ausgangspunkten und findet diese Realitäten, diese W i r k l i c h k e i t e n (nqáyimxa Hebr. 11, 1), die existieren, in den, wenn auch unsichtbaren, Glaubensgegenständen. „Niemand wäre von sich aus auf sie gekommen; denn niemand hat Gott je gesehen; niemand ist je in den Himmel aufgestiegen. Wir müssen sie uns von dem sagen lassen, der im Himmel ist, und von seinem Sohne, der auf Erden gekommen (Joh. 1, 18. 3, 13). Und auch wenn sie uns mitgeteilt werden, ist eine über den nächstliegenden Augenschein hinweghebende Schwungkraft des Geistes (Joh. 6, 44; 1. Cor. 2, 14) . . . . erforderlich, um sie zu erfassen." „Eben der machtvoll überführende Eindruck der unsichtbaren Dinge reicht dem Herzen die Kraft." „So sehr ist das Unsichtbare eine Realität, dass es allein die bleibende Realität
Hermann JPlitt. J. T. Beck.
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ist." „Was unsichtbar ist, ist ewig (2. Cor. 4, 18). Im Unsichtbaren ist die Heimat des substanziellen, unvergänglichen Seins (1. Petr. 1, 4; 2. Cor. 5, l ) u (17). H e r m a n n P l i t t , f 1880, „Evangelische Glaubenslehre nach Schrift und Erfahrung". Erster Band 1863, zweiter 1864, sieht „die Hauptaufgabe des theologischen Strebens darin, auf dem festen, schriftmässigen Boden der reformatorischen, zunächst lutherischen Grundgedanken, welche besonders im paulinischen Zeugnis wurzeln, eine solche Fortbildung der evangelischen Glaubenslehre fördern zu helfen, welche mit diesem Lehrtropus den johanneischen, nach seiner spekulativen Seite sowohl als auch und besonders nach der ethischen, lebendiger verbindet, als dies in der evangelisch-kirchlichen Dogmatik gewöhnlich war" (XI). Den evangelischen Ethizismus des Johannes sieht er noch zu wenig gewürdigt. Er allein könne zu einem immer vollendeteren Ausbau der evangelischen Glaubenslehre führen. Nach dieser Seite hin will er die Schätze der S c h r i f t w a h r h e i t aufschliessen und verwerten (XII). Er behandelt I die Lehre von Gott, II die vom Menschen und III die vom Heil. „Die sogen, anoxataaraaig nävrwv könnte höchstens als eine geheimnisvolle M ö g l i c h k e i t Gegenstand christlicher Hoffnung sein, aber sie hat die Schrift doch weder dem Wortlaute noch dem Lehrzusammenhange nach wirklich für sich; dagegen lässt dieselbe dem Gedanken einer endlichen Vernichtung Raum" (400). War diese Dogmatik aus der Brüdergemeinde hervorgegangen, so bekennt Reiff selbst, wie von den Theologen aus der Bengelschen Schule aus dem vorigen Jahrhundert neben Oehler und Gess besonders von seinen Lehrern Beck und Landerer in Tübingen Anregung überhaupt und für seine Glaubenslehre besonders empfangen zu haben. Wenn die geschichtliche Betrachtung nun erst jetzt zu Beck übergeht, so liegt das daran, dass bei diesem Theologen die biblische Fundamentierung der Dogmatik noch ausschliesslicher zur Geltung kommt und der bei den bisherigen Bearbeitungen immer noch irgendwie mit der Wissenschaft vermittelnde Charakter zurücktritt oder vielmehr prinzipiell aufgegeben wird. Mit ihm treten wir in die Gruppe der rein biblischen Richtung. 6. J. T. B e c k , f 1878, „Die christliche Lehrwissenschaft nach den biblischen Urkunden". Erster Teil: Die Logik der christlichen Lehre, 1841, geht unter der Losung 2. Cor. 4. 7 und behandelt in den Prolegomenen die Lehre von Gott, im 1. Teil die Weisheit in Christo. Das Werk ist unvollendet geblieben. Vor
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J. Chr. It. Hofmann.
H. Kübel.
allem sollen sieh die Schriftforscher danach sondern, was sie suchen, ob die Wahrheit, oder ob sie Söldlingsdienste verrichten (X). Er will einen lebensverständigen und gewissenstreuen Gebrauch der Schrift selbst. Da hofft er mit einem Zuge weiter zu kommen, als mit der immer raffinierter ausgesponnenen Industrie auf den guten Kredit der Gläubigen hin oder mit den diplomatischen Verhandlungen mit dem Unglauben, die mit dem eigenen Lebenskapital Hazard spielen (XVI), und ist gewiss: „Mit dem Anfang des Glaubens ist der Mensch grundhaft und wachstümlich in organischen Lebensverband mit Christus versetzt; das göttlich zeughafte Leben mit allen seinen in Christus durchgebildeten Vollendungsstufen ist hypostasiert als individuelle Habe, wonach die Todes- und Lebens-, Auferstehungs- und Himmelsgeineinschaft mit Christus eben so schon wirkliche Wahrheit, wie als solche immer mehr sich zu verwirklichen hat" (633). J. Chr. K. H o f i n a n n , f 1877, „Der Schriftbeweis". Ein theologischer Versuch. 3 Bände. 1. Aufl. 1853/5; 2. 1857/60. „Nach der Schrift ist mit der Neuschaffung der Welt die zwischen Gott und dem Menschen sich begebende Geschichte zu Ende . . . Jenseits dieses Abschlusses ist Gott seiner in Christo geeinigten Menschheit Alles in Allem. Die aber ausser Christo geblieben, sehen weder einer neu beginnenden Heilswirkung noch einer allmählichen Vernichtung, sondern lediglich der endlosen Fortdauer ihres zweiten Todeszustandes entgegen" (2. Hälfte, 2. Abteilung 662). Dennoch ist es nicht die Absicht und die Anlage des Werkes, einzelne Schriftstcllen zu pressen oder mit einzelnen Schriftstellen zu beweisen, sondern das Ganze des Systems mit dem Ganzen der h. Schrift. Gottes Wort als Ganzes, habe sie überall gleiche Beweiskraft. Die Thatsachen der Geschichte, deren Denkmal das Schriftganze sei, müssen zum Beweise dienen. Die Übereinstimmung zwischen dem Ganzen des Systems und dem Ganzen der Schrift ist die Probe für den Beweis. Der einfache Thatbestand, dessen Entfaltung das System ergibt, die in Christo vermittelte persönliche Gemeinschaft mit Gott, hat den wesentlichen Inhalt der Heilsgcschichte zur Voraussetzung. Diese Entfaltung ist Selbstaussage des Christen. Darin tritt im Ansatz eine Berührung mit S c h l e i e r m a c h e r zu tage. R. K ü b e l , „Christliches System nach der h. Schrift" 1873 vereinigt 22 Jahre nach der 6. Aufl. von Nitzschs „System" Dogmatik und Ethik wieder in ein Lehrsystem. Das Buch soll dem
Aug. Friedr. Christian Vilmar.
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dogmatisch-ethischen Konversatorium am Predigerseminar in Herborn dienen, die biblische Lehre in den Mittelpunkt stellen und ein möglichst einfacher und kurzer, aber doch dabei streng wissenschaftlicher, biblisch systematischer Leitfaden sein (3). Auch er nennt wie Reiff: Beck, Landerer und Oehler seine Lehrer. Um die biblische Systematik ist es ihm zu thun. Wie Thomasius von der Christologie aus, so will er die Dogmatik unter der Losung 2. Cor. 3. 17 „von der ohnedies noch immer fast stiefmütterlich behandelten Pneumatologie aus" (5) darstellen. „Des Christen Genügsamkeit (1. Tim. 6. 6) ist wirklich Selbstgenügsamkeit. Und ebenso wenig, wie die Dinge dieser Welt, braucht er zu seinem eigensten Leben die Menschen; er kennt niemand nach dem Fleisch (2. Cor. 5.16), ist keines Menschen Knecht (2. Cor. 7. 23), selbst die Naturbande der Eltern-, Gatten- und Geschwisterliebe u. s. f. sind ihm für sein innerstes pneumatisches Leben nicht notwendig, möglicherweise sogar verderblich (Lc. 14.26), daher ist Menschenfurcht und Menschengefälligkeit ihm fremd. — Zu dieser negativen Seite, der Bedürfnislosigkeit, kommt als positives Moment der Freiheit die Herrscherstellung in der Welt. Braucht er die Welt nicht, so braucht diese ihn, und er gebraucht sie nach seinem Willen. Die Jünger des Herrn sind der Welt so notwendig, wie Licht und Salz (Mt. 5. 13 ff.), nur sie bringen und erhalten ihr Wahrheit und Leben, ohne ihre Fürbitte z. B. ginge sie zu Grunde" (Ps. 106, 23; Hesek. 22, 30) (431). Aug. F r i e d r . C h r i s t i a n V i l m a r , Prof. in Marburg, f 1868, „Dogmatik", 2 Bände 1874; herausg. v. Piderit, vertritt mit konfessioneller Schärfe die „Theologie der Thatsachen", ohne der christlichen Erkenntnis gerecht zu werden, und überbietet das Schriftprinzip in so äusserlicher Weise, dass er ein direkt billigendes oder verwerfendes Einzelwort für sein Urteil verlangt und danach entscheidet. Darunter habe man sich zu beugen. Dadurch wird der Ausspruch Augustins, den er unter sein von seinen Zuhörern erbetenes Porträt setzt: „In ecclesia non valet hoc ego dico, hoc tu dicis, hoc ille dicit, sed haec dicit Dominus" nicht ins Unrecht gesetzt, sondern nur die Anwendung, die Vilmar von ihm macht. Die markige Persönlichkeit, die Glaubensstärke, der Eliaseifer in Ehren: um so mehr, je seltener solche Gestalten sind. Aber ihre Schranke braucht darum nicht verschwiegen zu werden und darf es um so weniger, je höher man sie zu würdigen vermag. Die göttlichen Thatsachen der Erlösung sollen erfahren und erlebt werden, „so wie dieselben von der christlichen Kirche erfahren und erlebt
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F. H. R. Frank.
worden sind" (V), so soll sie auch die Dogmatik darstellen (I, 4). „Thöricht ist es, die wachsende Erkenntnis als primäre Eigenschaft des seligen Lebens anzusehen . . . und nichts als Sentimentalität, auf das Wiedersehen der Unsrigen zu hoffen. Dort werden wir Christum anschauen und in Christo die Anderen erkennen" II, 330. Geistesverwandt mit Hofmann und angeregt von ihm hat F. H. R. F r a n k , Professor in Erlangen, mit selbständigem Denken und systematischem Geschick durch sein „System der christlichen Gewissheit", 2 Bände, 1. Aufl. 1870 und 1873; 2. Aufl. 1881 und 1884 die Dogmatik auf ein festes Fundament zu stellen unternommen und dann in seinem „System der christlichen Wahrheit", 2 Bände, 1878, 1880; 2. Aufl. 1885 und 1886, 3. 1894 unter dem Gesichtspunkt des Werdens (Prinzip, Vollzug und Ziel) diese selbst behandelt. Die christliche Gewissheit ist ihm die Selbstgewissheit des Wiedergeborenen. Die subjektive Erfahrung der Wiedergeburt des Einzelnen nimmt er zum Ausgangspunkt und ermittelt die ursächlichen Faktoren dieses Erlebnisses. Dabei setzt er sich einem doppelten Bedenken aus, einmal dass er nicht unterscheidet zwischen den inneren Aussagen selbst und den Reflexionen darüber, sodann dass die Wiedergeburt der Selbstbeobachtung insofern einige Schwierigkeiten bereitet, als sie sich nicht anders als durch ein Glaubensurteil konstatieren lässt, welches sich eigentlich in jedem Einzelfall der Konstatierung von neuem durchsetzen muss. Dazu kommt, dass die Rolle, welche Schrift und Bekenntnis neben Glaubenserfahrung spielen, eine unvermittelte ist und dadurch die Möglichkeit eines einheitlichen Systems ernstlich gefährden und das aufgestellte Prinzip als solches wieder aufheben. Nimmt man aber, wie es Frank will, die Selbstgewissheit des Wiedergeborenen als Prinzip, so wird die subjektive Begründung des Glaubens nicht überschritten. Freilich ist es richtig, was Frank „System der christlichen Gewissheit" I, 5 erklärt: „Überall wo Gewissheit sich findet, es sei auf welchem Gebiet es wolle, kann sie nicht anders zustande kommen, als durch Selbstüberzeugung des Subjekts, dessen eigene That sie ist. Die Nötigung, eine Realität als solche anzuerkennen . . . ist zuletzt eine innerliche, durch Selbstentscheidung des Subjekts bedingte", und ebenso was er „Geschichte und Kritik der neueren Theologie, insbesondere der systematischen seit Schleiermacher", aus dem Nachlass des Verfassers herausgegeben von
F. H. R. Frank.
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P. Schaarselimidt, seinem Schwiegersohn, 1894 sagt: „Man kann die Gesundheit der Lehre nicht wünschen, ohne die Gefahr der Subjektivität in Kauf zu nehmen" (25). Aber es handelt sich doch eben darum, diese Gefahr nicht nur zu konstatieren, sondern zu parieren. Und wenn er es einen „grossen Nonsens" nennt, „wenn man über die Hervorstellung des Subjekts wehklagt und nicht begreift, dass alle Berufung auf objektive Realitäten dagegen nicht verfängt" (32): so ist es ja allerdings so, dass es für uns keine objektiven Realitäten gibt ohne ihre subjektive Vermittlung. Aber diese Erkenntnis entbindet doch noch nicht von der Aufgabe, ungeachtet dieser in unserer Organisation bedingten unentbehrlichen subjektiven Aneignung ihre objektive Realität festzuhalten und — deutlich zu machen. Sieht es Frank schliesslich selbst als die Aufgabe der Gegenwart an, das rechte Verhältnis zu den objektiven Realitäten zu finden, so vermag ich wenigstens ihm nicht darin beizupflichten, dass diese Aufgabe in seinem System bereits gelöst sei. Die Darstellung des Systems der christlichen Wahrheit gilt ihm als die 2. Aufgabe der systematischen Theologie. Den Inhalt der christlichen Wahrheit bildet ihm die Gesamtheit der Realitäten, welche dem Christen auf dem ihm eigentümlichen Wege sich vergewissert haben und damit seinem Verständnis zugänglich geworden sind, die rein geistlichen zunächst, aber mit ihnen zugleich die in solcher Beziehung und unter solcher Beleuchtung erfassten natürlichen (System der ehr. Wahrheit I, § 1). Die christliche Wahrheit partizipiere zwar formell an dem Begriff der Wahrheit schlechthin, „insofern wir an die sonderlichen Objekte der christlichen Erfahrung und Erkenntnis, um sie als Wahrheit gelten zu lassen, auch keine andere Forderung zu stellen wissen als die der Realität" (18) im Unterschied vom Schein; aber sie unterscheide sich materiell von anderen, natürlichen Wahrheiten, insbesondere von der philosophischen (27), von jenen dadurch, dass sie das Ganze der Wahrheit umfasse, von dieser, die in ihrer Weise auch darauf ausgehe, dadurch, dass ihr dieses Ganze die dem Glauben erschlossene Heilswahrheit und mithin ihr Standpunkt der christianozentrische ist, d. h. dass „der an sich gemeinsame anthropozentrische Standpunkt, von welchem die Wahrheit ist und von welchem aus sie erkannt wird, sich in ihr näher zum christianozentrischen bestimmt hat" (28). Ich vermag nicht zuzugeben, dass die christliche Wahrheit so hinreichend sichergestellt ist. Frank steht im bewussten Gegensatz
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F. H. R. Frank.
gegen die neuerdings vielfach wieder aufgekommene kritische und idealistische Denkweise. Die reale Existenz der Objekte für uns, sagt er, ist einem Zweifel nicht unterworfen, und wir reden in diesem Sinne von dem Sein als der Wahrheit. „Für uns — dieses nun nicht bloss individuell, sondern generell zugleich genommen, da etwas anderes gar nicht möglich ist — und doch um deswillen nicht weniger real, j a vielmehr grade darum objektiv real, weil für uns" (25). Nun steht freilich fest, dass es für uns keine Erkenntnis und also auch keine Wahrheit gibt ohne vom anthropozentrischen Standpunkt aus. Aber es steht nicht minder fest, sowohl dass dieser Standpunkt uns gelegentlich täuscht als auch dass es Wahrheiten gibt, ohne dass wir uns von ihnen überzeugen, ohne dass es solche für uns sind. Daraus folgt, dass dieser Standpunkt allerdings der anderweitigen Kontrolle und eventuellen Korrektur bedarf. Ist weiter der spezifisch-christliche Erfahrungskreis ein toto genere und grundsätzlich anderer als der allgemeinmenschliche: dann ist nicht abzusehen, wie es je zu einem Wahrheitsbeweis davon für den Menschen kommen soll. Denn er läge für ihn ausserhalb des Ressorts seiner Perzeptionsfahigkeit. „Zu den Grundgedanken," sagt Frank in dem Vorwort zur 3. Aufl. III, „rechne ich vor allen diesen, dass Ernst gemacht werde mit der Lostrennung der theologischen Prinzipien von aller Philosophie." Meinem Urteil nach ist damit darauf, die christliche Gedankenreihe als Wahrheit zu legitimieren, endgiltig Verzicht geleistet. Unter dem Prinzip des Werdens (erster Teil I, 107/288) bringt Frank die Gesamtheit aller der Momente, deren der Gläubige von Gott als der obersten Kausalität der jeweils realisierten Menschheit Gottes innegeworden ist, die Theologie; unter dem Vollzug des Werdens (zweiter Teil I, 295/502 und II, 1/450) das von Gott ausgegangene Werden, dessen Gegenstand die Menschheit Gottes in ihrer Generation, Degeneration und Regeneration ist, die Anthropologie und die Soteriologie; unter dem Ziel des Werdens (dritter Teil II, 450/512) die Eschatologie: „Gott alles in allem" zur Darstellung. „Geworden ist, was von dem Werdeprinzip, dem dreieinigen Gotte, aus auf Grund der Schöpfungs- und der Erlösungsidee werden sollte: Es ist geschehen, ich bin das A und das 0 , der Anfang und das Ende" (II, 512). Die Berührung Franks mit Schleiermacher ist evident. Aber das „fromme Selbstbewusstsein" Schleiermachers ist eine Einheit
Ludwig1 Schöberlein.
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von echt christlichen Gedanken und philosophischen Anschauungen, dagegen deckt sich das Franks nahezu mit der Konkordienformel. Daher kommt es, dass dieser ungeachtet des subjektiven Ausgangspunktes eine lutherisch-koufessionelle Dogmatik schreibt und auch zu Ritsehl im ausgesprochenen Gegensatz steht. Henri Bois, „De la certitude chrétienne", „Essai sur la théologie de Frank", Montauban 1887, schliesst mit den Worten: „Ce n'est pas seulement l'instruction, qu'on recueille chez Frank, c'est aussi et dans une mesure vraiment inattendue, l'édification. Ses trois systèmes sont animés d'une inspiration éminemment religieuse, profondément chrétienne. . . . on s'attendait à voir un dogmaticien, on le voit en effet et non pas moindre qu'on ne le croyait, mais, ce qui est encore mieux, on se sent en contact avec un chrétien" (341). L u d w i g S c h ö b e r l e i n , „Das Prinzip und System der Dogmatik. Einleitung in die christliche Glaubenslehre" 1881 will darin „keine eigentliche Dogmatik" geben. Er erklärt das ausdrücklich mit dem Hinzufügen: „Möge es mir vergönnt sein, sie später noch folgen zu lassen!" (V). So schrieb er im Oktober 1880. Bald darauf, im Wintersemester 1880/81, nötigte ihn ein unheilbares Magen- und Leberleiden, wie seine Vorlesungen abzubrechen, so seine Feder niederzulegen, und am 8. Juli 1881 endete der Tod seine langjährige gesegnete irenische Wirksamkeit in Göttingen. Er nennt selbst seinen Standpunkt nicht den eines unselbstständigen Eklektizismus, sondern den einer Irenik, welche in der Zentralität des Prinzips einen festen Ausgangspunkt bietet für wahre Universalität des Systems (IX). Er prüft sein einheitlich zentrales Prinzip an der Übereinstimmung mit der heil. Schrift, an den geschichtlichen Auffassungen des Christentums und den gegenwärtig theologischen Hauptrichtungen. Demnach enthält sein grundlegender Teil biblische, geschichtliche und wesentliche Begründung und sein darstellender die prinzipiellen Ideen des christlichen Glaubens: die Liebe, das Reich Gottes, den Gottmenschen und als Bedingungen davon: Sünde und Gnade, und das System die Längenentwicklung des Reiches Gottes und die Breitenentfaltung desselben. „Die Liebe ist das subjektive, innere, das Reich Gottes ist das objektive, äussere, und der Gottmensch ist im Verhältnis zu beiden das zentrale Prinzip." „Der Gottmensch ist das Lebenszentrum im göttlichen Reiche, der Vermittler des Lichtes und Lebens für die Menschheit, der Angelpunkt von Zeit und Ewigkeit, von Himmel und Erde" (634). Unter dem Einflüsse
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Martin Kahler.
Schellings, Franz von Baaders und Schuberts hatte Schöberlein in München studiert. Er ist weder nur vermittelnd, noch nur biblisch, noch nur beides zugleich, sondern auch theosophisch-mystisch, aber alles in allem eine harmonische, christlich verklärte, irenische Persönlichkeit. M a r t i n K ä h l e r „Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem ev. Grundartikel aus im Abrisse dargestellt" 1. Aufl. 1883. 2. Aufl. 1893 spricht sich in seiner Widmung an Pastor D. Heinrich Hoffmann in Halle dahin über seine Arbeit aus, er habe versucht, sie zu treiben, „wie in treuer Hingabe an die h. Schrift, so in dankbarem Empfangen von der Kirche, namentlich auch von der heut in Arbeit stehenden, aus und in der ich als Christ und Theolog lebe". „Aus einer schriftmässigen, reformatorisch-evangelischen und, wie ich meine, auch lutherischen Grundauffassung" (X) leitet der Abriss die sog. systematische Theologie ab. „Die Theologie ist die Wissenschaft der Offenbarungsreligion und darum wie die Offenbarung Gottes in Christo durchaus eigenartig und selbständig" (10). „Das Christentum ist nicht eine Art neben anderen gleichberechtigten, sondern es ist die wahre Religion gegenüber den falschen, weil es die Heilsoffenbarung Gottes in Christi Person und Werk bringt und in dieser die unentbehrliche Voraussetzung für wirkliche Religion d. h. für die persönliche Wechselbeziehung mit dem sich darbietenden Gotte." „Nirgend anders aber als in dieser ist die Vermittlung für eine dem Gegenstande entsprechende Erkenntnis Gottes gegeben, für eine wahre Theologie" (11). „Die eigentümliche Würde der h. Schrift macht die Beschäftigung mit der ihr gewidmeten Wissenschaft zur d a u e r n d e n G r u n d l e g u n g a l l e r t h e o l o g i s c h e n Bild u n g , o h n e w e l c h e d i e s e l b e in F o r m a l i s m u s o d e r P o s i t i v i s m u s a u s a r t e n m u s s . Die Entbindung von geschichtlicher Forschung überliefert einer Willkür, welche in Skepsis gegen Theologie oder auch gegen Christentum auszulaufen pflegt" (34). „Den wissenschaftlichen Erweis für die Allgemeingiltigkeit der einzelnen Sätze, selbstverständlich auf Grund der theologischen Voraussetzung, liefert vorbereitend ihre allgemeingiltige Form, durchgreifend aber nur der Nachweis ihres Zusammenhanges d u r c h i h r e B e z i e h u n g zu d e m G r u n d s a t z e c h r i s t l i c h e r Ü b e r z e u g u n g " (61). Der evangelische Grundartikel ist der gemeinchristliche. „Der rechtfertigende Glaube an den geschichtlich-übergcschichtlichcn Christus legt zuerst in der christlichen Apologetik seine Voraussetzungen, dann in der evangelischen Dogmatik seinen Gegenstand,
Philippi.
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endlich in der theologischen Ethik seine Bethätigung dar" (68). Demgemäss behandelt das Werk nach einer Einleitung in die Theologie überhaupt und in die sog. systematische Theologie insbesondere 1/79 als ersten Lehrkreis die Voraussetzungen des rechtfertigenden Glaubens: christliche Apologetik 79/209, als 2. Lehrkreis den Gegenstand des rechtfertigenden Gl.: evangelische Dogmatik 209/439 und als 3. Lehrkreis die Betätigung des rechtfertigenden Glaubens: theologische Ethik 439/626 und schliesst: „Heilige Liebe — dabei bleibt es — macht die Wahrheit persönlichen Lebens aus; deshalb bleibt es demselben in Ewigkeit nicht minder wesentlich, mitzuteilen als zu empfangen; und wenn die gegliederte Fülle geschaffener Personen anbetend feiert, so bietet die unerschöpfliche Fülle des sich offenbarenden Gottes, seiner schaffenden und lenkenden Weisheit und seiner Abgestaltung in den mannigfaltigen vollendeten Eigentümlichkeiten den Inhalt für darstellende und schauende Wechselwirkung, deren ewige Lebensfülle tragenden Grund und das zusammenhaltende Ziel an Gott selbst in seiner dreifaltigen Selbstbethätigung hat" (626). Tiefsinn und Standpunkt ist damit gekennzeichnet. 7. Eine Apologie im engeren Sinne l u t h e r i s c h e r R e c h t g l ä u b i g k e i t macht sich F r i e d r . Ad. P h i l i p p i , Professor in Eostock, + 1882, „Kirchliche Glaubenslehre" I 1854, II 1857, III 1859 in ebenso gründlicher wie gemeinverständlicher Auseinandersetzung mit den modernen Richtungen zur Aufgabe. Von der Definition der christlichen Religion als der durch Christum vermittelten, näher wiederhergestellten Gemeinschaft des Menschen mit Gott als dem der neueren Theologie, soweit sie noch den Namen der christlichen verdiene, gemeinsamen Satz (1) aus behandelt er in I Grundgedanken oder Prolegomena (Religion, Offenbarung, Glaube, Glaubenslehre, h. Schrift, Kanon, Inspiration, Auslegung); in II die ursprüngliche Gottesgemeinschaft (Gotteslehre, ursprüngliches Verhältnis Gottes zur Welt, ursprüngliche Gemeinschaft Gottes mit der persönlichen Kreatur), in III die Störung der Gottesgemeinschaft (Sünde, Satan, Tod); in IV die obj. Wiederherstellung der Gottesgemeinschaft durch Christum (1. Christi Person, 2. Christi Werk); in V die subjektive Zueignung der objektiv wiederhergestellten Gottesgemeinschaft, 1. Lehre von der Heilsordnung, 2. Lehre von den Gnadenmitteln, 3. Lehre von der Kirche; in VI die zukünftige Vollendung. „Die normale Beschaffenheit des menschlichen Geistes, durch welche die Harmonie mit Gott bedingt war, desgleichen die normale Beschaffen-
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Thomasius.
heit des menschlichen Leibes, durch welche das harmonische Verhältnis von Geist und Leib gesetzt war, sowie endlich die normale Beschaffenheit der Urnatur, auf welcher das harmonische Verhältnis zwischen ihr und des Menschen ganzer geist-leiblichen Persönlichkeit ruhte, musste naturgemäs sich auch in der Psyche als Gefühl des geist-leiblichen Wohlseins, als Lebens- und Seligkeitsgefühl abspiegeln" (II, 379). Weitherziger und nicht ohne energische Ansätze selbständiger Fortbildung der kirchlichen Lehre in der Christologie vertritt denselben Standpunkt, dem es um das zu thun ist, „was sich der Kirche als schriftgemässe Wahrheit bewährt hat und durch ihren Konsensus sanktioniert ist" I 2 IV: G. T h o m a s i u s , Prof. in Erlangen, f 1875, „Christi Person und Werk. Darstellung der evangelisch-lutherischen Dogmatik vom Mittelpunkt der Christologie aus" I 1853, 2. Aufl. 1856, II 1855, III 1861. Sieht seine Arbeit weit mehr rückwärts als vorwärts, so beabsichtigt er gleichwohl nicht eine blosse Wiederholung altkirchlicher Bestimmungen und Formen; die Aufgabe der Dogmatik, die ihm vorschwebt, ist vielmehr, das Dogma aus seinen tief innerlichen Gründen und Lebenswurzeln heraus stets neu und frisch zu reproduzieren, und so möchte er der Gegenwart dienen (V). Die Bezeichnung „lutherisch" hat den Sinn, dass das EigentümlichLutherische sich mit dem Allgemein-christlichen und Evangelischen deckt, ja „die rechte, schriftgemässe Mitte zwischen den konfessionellen Gegensätzen bilde" (V). Den Ausgangspunkt nimmt Thomasius in dem rechtfertigenden Glauben, in der persönlichen durch Christus wiederhergestellten Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen, prüft die sich von da aus ergebenden Aussagen an der Schrift und weist endlich den kirchlichen Konsensus dafür nach (9). G e g e n die Methode, u n m i t t e l b a r von der S c h r i f t auszug e h e n , hat er das begründete Bedenken, dass ein Jeder die in ihm teils durch die allgemeine Richtung der christlichen und wissenschaftlichen Bildung teils durch das kirchliche Gemeinwesen, dem er angehört, vermittelte Anschauung schon mit zur Betrachtung der h. Schrift bringt, und dass wir diese nicht auf rein exegetischem Wege gewinnen (5). „Das Charakteristikum der Vollendung ist nicht unterschiedslose Einerleiheit, . . sondern die harmonische Verbindung von Einheit und Mannigfaltigkeit, von Individualität und Gemeinschaftsleben, von Geist und Natur, von ethischer Gottesschönheit und leibhafter Gottesherrlichkeit — von Rezeptivität und Aktivität.
Rahnis.
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Der selige Friede in Gott, der nach dem Tode die Seelen im Jenseits umfing, wird" in der Vollendung „zugleich zur vollen Lebensthätigkeit, für welche die neue Welt, in der die verklärte Gemeinde ihre Stätte hat, den reichsten Anlass bieten wird." „In ihr wird der reine Ertrag der ganzen weltgeschichtlichen Entwicklung, in ihr wird alles wahrhaft Menschliche und Natürliche in seiner Eigentümlichkeit bewahrt, aber verklärt und durchleuchtet sein von dem Licht, das von dem Lamme Gottes ausgeht, geeint in dem einen göttlichen Leben, welches, wie ein lauterer Strom, Alles durchdringt. Denn nicht Untergang der Einzelnen in Gott, sondern „Gott Alles in Allen" ist das Ziel und Ende der Wege Gottes. Zu diesem Ende war dem Sohne das Reich übergeben, jetzt ist das Ziel erreicht: die neue Menschheit in Gott verklärt, der leuchtende Spiegel des trinitarischen Verhältnisses, wie es urbildlich zwischen dem Vater und dem Sohne im h. Geiste besteht" (III, 503). „Und so geht die geschichtliche Bewegung der h. Trinität zurück in die ewige Selbstgleichheit der drei Personen, welche wie die Voraussetzung, so das innere und unwandelbare Zentrum der ganzen Heilsgeschichte ist" (III, 505). Hatte der erste Band von den Voraussetzungen der Christologie und zwar den ausserzeitlichen und den geschichtlichen gehandelt, so hat der 2. die Person des Mittlers, und der 3. das Werk des Mittlers zum Inhalt. Die Menschwerdung fasst Thomasius als Assumtion der menschlichen Natur von Seiten der 2. Person der Gottheit (II, 115) und als Selbstbeschränkung eben derselben, „Entäusserung zwar nicht dessen, was der Gottheit wesentlich ist, um Gott zu sein, wohl aber Entäusserung der göttlichen Seinsweise an die menschlich-kreatürliche Existenzform und eo ipso Verzichtleistung auf die göttliche Herrlichkeit, die er von Anfang an beim Vater gehabt, und der Welt gegenüber, sie beherrschend und durchwaltend bethätigt hat" (II, 131). „Erst so," sagt Thomasius, „kommt es zu einem wirklichen Eingehen in die Menschheit, zu einer Menschwerdung Gottes, und so erst resultiert die geschichtliche Person des Mittlers, von welcher wir wissen, dass sie der Gottmensch ist" (II, 131). K a r l F r i e d r . Aug. K a h n i s , Prof. in Leipzig, „Die l u t h e r i s c h e Dogmatik historisch genetisch dargestellt" I 1861, II „Der Kirchenglaube historisch-genetisch dargestellt'' 1864, klagt, dass es das stehende Verfahren der antikirchlichen Tagespresse sei, die Gebundenheit der positiven Theologen zu benutzen, um ihre Freiheit
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Eduard Böhl.
zu verdächtigen, und die Freiheit derselben als ein Zeugnis gegen ihre Gebundenheit anzusehen. Zweierlei Gewicht aber sei dem Herrn ein Greuel. Was uns binde, was uns frei mache, sei die Wahrheit (I, X). Die Aufnahme aber, die sein erster Band im Lager seiner eigenen Richtungsgenossen findet, stimmt ihn auch ihnen gegenüber zu der Bemerkung: „Ich glaube, dass die Theologen, welche den Kirchenglauben vertreten, nicht genug über sich wachen können, dass sie den Pharisäern und Schriftgelehrten nicht gleich werden. Pharisäischer Fanatismus für das Alte und schriftgelehrte Fertigkeit sind die bösen Geister aller Restaurationsrichtungen" (II, IX). Er gibt I nach der Einleitung im 1. Abschnitt die Geschichte der lutherischen Dogmatik, im 2. die Religion, im 3. das Wort Gottes; II den altkatholischen Kirchenglauben, den mittelalterlichen Kircbenglauben, die Reformation, die lutherischen Glaubenslehren, nennt als 3. Prinzip des Protestantismus den „Grundsatz, dass die Substanz der Kirche die unsichtbare Gemeinschaft der Gläubigen im h. Geist unter Christo, dem Haupte, der Einheitspunkt aber der sichtbaren Kirche das Wort ist" (II, 620), und sieht die johanneische Aufgabe der evangelischen Theologie der Gegenwart darin, im treuen und doch freien Anscbluss an den paulinischen Bekenntnisgrund der Reformation nach dem ewigen Geistesevangelium zu trachten, das auf dem Grunde der Apostel und der Propheten ruht, durch die Geschichte des Reiches Gottes immer mehr Gestalt gewinnen will, bis es offenbar werden wird, wenn Christus unser Leben wird offenbar werden (II, 626). „Was die Lutheraner der Gegenwart hinter sich haben," sagt er, „ist die Aufklärung und Revolution; was sie unter sich haben, ist der Boden einer von weltlichen Interessen beherrschten Zeit." „Wir waren erst Christen und wurden erst dann Lutheraner. Was uns zuerst feststehen muss, ist, dass wir Christen sind. Unser Christentum aber besteht nicht in einer Summe fest ausgeprägter Dogmen, sondern in der lebendigen Gemeinschaft mit Gott durch den Glauben an den Gekreuzigten im h. Geist" . . . . „Unbedingt sind wir nur Christen, bedingt Protestanten, Lutheraner. Im Protestantismus, im Luthertum ist nur so viel wahr, als in ihm vom Evangelium ist" (II, 623/4). Hatten die 3 letztgenannten Dogmatiker in der Vertretung des antiunionistischen genuin lutherischen Standpunktes die Lösung gesucht, so unternimmt reformierterseits das nämliche: E d u a r d B ö h l , Professor in Wien, „Dogmatik". Darstellung der Christ-
Eduard Böhl.
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liehen Glaubenslehre auf reformiert-kirchlicher Grundlage 1887. Er nennt unser Zeitalter ein solches, „in welchem man seine alten theologischen Penaten zerschlägt, um neue dagegen einzutauschen" (V), und Heidegger (f 1698) „den letzten reformierten Dogmatiker", wenn er auch Wyttenbach und Stapfer in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts wenigstens erwähnt 1 ). Er teilt die Sorge Alex. Schweizers, durch eine reformierte Dogmatik der Union ein Hindernis zu bereiten, nicht; ein Kleinod, welches lange im Staube gelegen habe, bleibe dennoch ein Kleinod — und wer es finde, freue sich dessen und verkünde es den „Nachbarn". Zu diesen rechne er die, welche in der allgemeinen Sprachenverwirrung einen deutlichen Ton ersehnen (VI). „Soll der Faden der Orthodoxie wieder aufgenommen werden, dann hat sich der betreffende Dogmatiker wohl zu prüfen, ob er den göttlichen Beruf hat, den Heilsinhalt des Wortes Gottes wirklich zu erheben." Die Möglichkeit, dass solches geschehe, sei erwiesen, denn Christus habe seinen Gläubigen, nicht aber einem abstrakten Begriff, dem was man ,,Kirche" nenne, den heiligen Geist versprochen, der sie in die ganze Wahrheit leiten werde (Joh. 6, 45). Durch einzelne Männer belehre Gott seine Kirche. Ohne dieses Zeugnis des h. Geistes sei man eben ein falscher Zeuge. Bevor er zu der Dogmatik selbst übergeht, unternimmt er es, den Prinzipien der modernen Dogmatiker gegenüber rundweg zu erklären, dass ein Zusammengehen oder auch nur eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit ihnen für ihn unthunlich und auch unfruchtbar sei (XIX ff.). Er seinerseits geht u n m i t t e l b a r v o n d e r h. S c h r i f t a u s und zwar unter der Kontrolle der B e k e n n t n i s s e s e i n e r K i r c h e , mit denen er sich aufs Innigste eins wisse. Auch sei er selbst durch die Schrift zum kirchlichen Dogma gekommen und dieses wieder habe seinen Glauben an die Schrift bekräftigt (LX). Der neue Himmel und die neue Erde ist eine Metapher für das immerwährende Einwohnen der Seligen bei dem Herrn Jesu. An eine Erneuerung oder Wiedergeburt der sichtbaren Welt ist nicht zu denken. Wo Christus mit seinem verklärten Leibe bis dahin weilt, da wird auch für die Gläubigen Platz sein, wo sie 1) Stapfer schrieb nach Wolff'scher Methode: Institutiones theologiae polemicae universae, ordine scientifico dispositae. V Tomi. Turic. 1743—47; Wyttenbach: Tentamen theologiae dogmaticae methodo scientifico pertraetatae. Vol. I—III. Bernae 1741—47; Heidegger, Corpus theologiae christianae, 2 Folianten ed. Schweizer 1700; dasselbe kürzer für Studenten Medulla theol. ehr. 1696; noch kürzer für Anfänger: Medulla medullae th. ehr. 1697.
Heinrich Voigt.
Weisse.
ihren Himmel und ihre Erde bei einander haben werden. Dort, wo Christas ist, war schon immer und ist auch ferner der Gläubigen Heimat (612). H e i n r i c h V o i g t , Professor in Königsberg, „Fundamentaldogmatik''. „Eine zusammenhängende historisch kritische Untersuchung und apologetische Erörterung der Fundamentalfragen christlicher Dogmatik," 1874, bezweckt im Grunde nichts, „als Förderung des apostolischen, deutsch-reformatorischen wahren Christentums" (XIII) und hofft dafür von dem Einswerden in den fundamentalen Heilswahrheiten der deutschen Reformation dem alle christlichen Kulturzustände bed rohenden materialistischen Unglauben gegenüber. Es schien ihm geboten, endlich diese Fragen möglichst zu einem gewissen und einstweiligen Abschluss auf Grund der Prinzipien positiver evangelischer Theologie bringen zu müssen (VIII). In dem Bericht über die Anschauungen Anderer befleissigt er sich der Objektivität, die er verheisst, und in der Kritik des sachlichen Tones den er in Aussicht stellt (IX). Eingehend und massvoll orientiert er instruktiv über die einschlägigen Fragen; so ausgesprochen evangelisch wie ohne konfessionelle Schärfe. „Persönlicher christlicher Glaube ist die unerlässliche Bedingung einer Darstellung der christlichen Dogmatik" (681). In grossem Stile und ausgleichendem Interesse hat von seinem Systeme aus Ch. H. Weisse, „Philosophische Dogmatik oder Philosophie des Christentums". Erster Band 1855 (Einleitung und erster Teil: Theologie). Zweiter Band 1860: Die Welt- und Menschenschöpfung (zweiter Teil: Kosmologie und theologische Anthropologie). Dritter Band 1862: Die Heilslehre des Christentums (dritter Teil: Soteriologie) die kirchliche Glaubenslehre zu einer philosophischen Weltanschauung verarbeitet. „Der Gattungsbegriff der Religion ist der Begriff der Erfahrung" (16). Als ein besonderes Erfahrungsgebiet umschliesst die Religion ein s u b j e k t i v e s Moment als Zuständigkeit Einzelner u n d ein o b j e k t i v e s als Bewusstsein Mehrerer (23 ff.). Das Verfahren ist, „aus den Worten und Winken der göttlichen Offenbarung die leitenden Gesichtspunkte für eine Untersuchung zu entnehmen, deren sachlicher Inhalt nicht aus ihr allein, sondern stets zugleich aus den reich strömenden Quellen empirischer und philosophischer W e l t e r k e n n t n i s zu schöpfen ist" (II, 50). Durch Math. 12. 38, Lc. 11. 22 soll Jesus die Erhabenheit seines Bewusstseins über alle supernaturalistischen Elemente des Wunderbegriffs kundgegeben haben, in seiner Umgebung aber dem Triebe
Carl Mase.
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dichterisch-religiöser Sagenbildung nicht haben wehren dürfen. Dieser Trieb habe auch sein Leben und seine Persönlichheit mit einem Gewebe sinnvoller Wundergebilde umzogen, „deren Charakter ein wesentlich mythologischer ist" (I, 113). So leitet uns diese wohlgemeinte, aber doch religiös und spekulativ insuffiziente Philosophie über zu der Richtung, die als die sogen, n e u r a t i o n a l i s t i s c h e zwar den alten Rationalismus sehr weit hinter sich hat, aber doch dem rationellen Faktor das Wunder grundsätzlich opfert. 8. In vielfacher Berührung mit der vermittelnden Theologie, von Generationen begeisterter Schüler gefeiert, eine verehrungswürdige Dozentengestalt feinsinnigsten Geistes und lebenslanger Arbeit: C a r l H a s e , Professor in Jena, „Lehrbuch der evangelischen Dogmatik. Erste Aufl. 1826. 6. Aufl. 1870 unter dem Titel: „Evangelisch-protestantische Dogmatik" widmet sein Buch bei dem ersten Ausgang zwei Gelehrten sehr verschiedener Ansicht (Schubert und Winer) als ein „Zeugnis des Geistes, der in vielfacher Form die Geister unsichtbar verbindet zur einigen Kirche" (1. Aufl. VI), behandelt nach den Prolegomenen Anthropologie (das religiöse Leben nach dem Ideale, nach der Realität, nach der Synthese von beiden), Theologie, Christologie (Christus in der Geschichte, in der Kirche, im Gemüte), und erklärt nur dies zum Glauben gehörig, „dass Christus durch die Einwirkung seines zeitlichen Lebens fortlebe in der Kirche, in welcher nichts geschehen soll gegen seinen Geist; und dass der Christ hoffen darf, mit dem über Alles geliebten Herrn einst näher vereinigt zu werden." Anbetung aber . . . gebühre nur der Gottheit (1. Aufl. 405). „Nur durch die Rückkehr zum rein praktischen Inhalte der Taufformel, in welcher die Summe des Christentums niedergelegt ist, wird der ursprüngliche religiöse Sinn, aus dem die Trinitätslehre hervorgegangen ist, wiedergewonnen: Gott ein Vater über Alles, mit ihm die Menschheit durch den Menschensohn, der ein Gottessohn in der einen Hinsicht immer gewesen ist, in der andern geworden ist, in neuer Liebe vereint, auf dass Alle durch den freien und heiligen Gemeingeist der Kirche Kinder Gottes werden und Gott Alles in Allem" (6. Aufl. 490). Ihm als seinem väterlichen Freunde widmet in dankbarer Verehrung und gleicher Gesinnung O t t o P f l e i d e r er seinen „Grundriss der christlichen Glaubens- und Sittenlehre", 1880. Er sieht die Aufgabe der Glaubenslehre darin, 1. ein treues Bild des positiven christlichen Glaubenslehrstoffes S c h m i d t , Dogmatik I.
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Schenkel, Die Grundleiiretf.
nach den Grundzügen seines geschichtlichen Werdens und Wachsens zu geben, 2. die bleibende Wahrheit aus den geschichtlichen Dogmen kritisch zu eruiren, 3. diese Wahrheit in die für das religiöse Bewusstsein der jeweiligen kirchlichen Gemeinschaft angemessenste praktische Form zu fassen, und lässt auf eine religions-philosophische Prinzipienlehre die spezielle Dogmatik in den beiden Unterabteilungen, der Voraussetzungen des christlichen Heils nach Seiten des Gottes-, Welt- und Selbstbewusstseins, und des christlichen Heils selbst nach Grund, Mittel und Zweck folgen (6). „Die universelle Zweckerfüllung der Menschheit liegt im Reich Gottes als der einheitlichen Verwirklichung des gottmenschlichen Geistes in der mannigfaltig gegliederten Gemeinschaft der in Gott mit einander verbundenen Gotteskinder, wie sie in der christlichen Gemeinde immer schon wirklich ist und immer noch wirklicher werden soll." „Diese Idee des Reiches Gottes in ihrem Doppelsinn des Seienden und Seinsollenden bildet wie den Schlussstein der christlichen Glaubenslehre, so zugleich den Grundstein der christlichen Sittenlehre" (240). D a n i e l S c h e n k e l , „die Grundlehren des Christentums aus dem Bewusstsein des Glaubens" 1877, hat der Erwartung C. Schwarz' „Geschichte der neuesten Theologie" 4. Aufl. entsprochen, dass er bei einer erneuten Revision seiner „Christlichen Dogmatik" noch manchen Ballast der Vermittlungstheologie über Bord werfen werde (VI). Nicht etwa nur die Theologie, das Christentum selbst sieht er gegenwärtig in einen schweren Kampf um das Dasein gedrängt (VII). Die Glaubenslehre ist ihm die Erfahrungswissenschaft des religiös-sittlichen Geistes (IX), der sich seines unendlichen (objektiven) Inhaltes zunächst unmittelbar und sodann in den endlichen Formen des Denkens, Wollens, Fühlens und Anschauens mittelbar bewusst wird. Diesen Vermittlungsprozess des Unendlichen mit dem Endlichen in unserem Geiste stellt ihm eigentlich die Glaubenslehre dar. Seine Überzeugung trennt ihn sowohl von dem „reinen Denken" wie von der phantastischen, theosophischen Weltanschauung, überhaupt von jedem Verfahren, welches zur Lösung der religiösen Probleme die intellektuelle oder ästhetische, j e n s e i t d e r E r f a h r u n g l i e g e n d e S p e k u l a t i o n zu Hilfe nimmt (IX). Er desavouiert das R.ubrum der „vermittelnden Theologie", desjenigen,
Alex. Schweizer.
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was man mit diesem dehnbaren, wissenschaftlich undefinierbaren Ausdruck bezeichne, fiir seine „christliche Dogmatik"; sie habe durch ihren Ausgang vom Gewissen die Autorität der herkömmlichen kirchlichen Tradition prinzipiell aufgegeben (X). ,,Es gibt nur eine P r o b e f ü r d i e W a h r h e i t eines Lehrsatzes, dass er sich zurückübersetzen lasse in eine wirkliche Glaubenserfahrung" (XI). „Die Religion selbst wurzelt in den innersten Tiefen des Selbstbewusstseins, und sie ist eine so zuverlässige, psychologisch und geschichtlich erwiesene Urthatsache des Geistlebens, dass es keines phantastischen Aufputzes bedarf, um sie glaubwürdig zu machen" (XI). Wir verdanken der exakten Forschung die helle Einsicht in die Welt, aber zur Erhebung Uber die Welt und zur W e l t ü b e r w i n d u n g gelangen wir nur durch die Religion und das Bewusstsein von ihr in der Theologie. Die Theologie ist im allgemeinen eine Geisteswissenschaft wie Philosophie und Geschichte, sie hat im besonderen das Wissen des endlichen Geistes in seiner Beziehung zum unendlichen Geiste zu ihrem Gegenstande; darum liefert sie zwar keine f e r t i g e n Resultate, umfasst aber die tiefsinnigsten und unerschöpflichsten Probleme (XII). Der Einleitung (Die religiösen Grundthatsachen) folgt I der Ursprung der Grundlehren des Christentums, II. der Inbegriff der Grundlagen des Christentums. Der in Strauss', „Der alte und der neue Glaube" 222 gepriesenen Weltvernichtung, wo die Wirklichkeit spurlos verschwindet und auch kein Andenken zurücklässt, gegenüber fragt Schenkel: „Lässt sich eine trostlosere Weltanschauung denken und blickt man von solchen Eschatologien nicht ehrfurchtsvoll zu der biblischen Lehre von den letzten Dingen hinauf" (528) ? und von Hartmann, J. Bahnsen, Mainländer gegenüber: „Dieser Philosophie des Todes mit dem berauschenden Schlaftrünke tritt das Christentum entgegen mit seinei- erweckenden und trostreichen Religion des Lebens" (529). A l e x a n d e r S c h w e i z e r 1 ) , „Die christliche Glaubenslehre nach protestantischen Grundsätzen." Erster Band oder Allgemeiner Teil 1863; zweiter Band oder besonderer Teil. Erste Abteilung. 1869; zweite Hälfte 1872; 2. Aufl. 1877, „will nicht, was die Väter ehedem geglaubt haben, sondern was die ev. Kirche als jetzt lebende selbst glaubt und zumutet, in der Glaubenslehre zum wissenschaftlichen Ausdruck" verarbeiten, „von blossen Meinungen möglichst befreit und im bestimmtesten Unterschied von bloss historischer 1) Professor in Zürich.
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Alex. Schweizer.
Dogmatik" (III) ; will das Seinige thun, „um eine Heilung so krankhafter Zustände herbeizuführen", wo dem bloss amtlich veranlassten Sichaufnötigen eines Dogmensystems" „die aufrichtige Überzeugung nicht mehr folgen kann, so dass nur Selbstüberlistung oder Selbstvergewaltigung das nicht mehr fromme, sondern abergläubige Ziel willkürlich genug zu ergreifen sucht", will „zur Verständigung über den wirklich geglaubten Glauben beitragen und eine Glaubenslehre geben, die von der Dogmatik als der Kirchensatzungswissenschaft gänzlich verschieden sein soll, aber „mit der grössten Offenheit" darlegt, „wie auf jetziger Entwicklungsstufe der evangelische Glaube sich gestaltet" (VIII). Dabei hat er an eine menschliche Gesittung, die nicht mehr vom Christentum als Religion getragen würde, nicht den mindesten Glauben, eine fernerhin dogmatisch zu leitende sieht er aber als unmöglich geworden an (V). Mit grosser Entschiedenheit tritt der reformierte Dogmatiker für die Union ein; fordert für die Kanzel — er war auch Pfarrer am Grossmünster in Zürich — eine absolut gewisse fides divina und beruft sich dafür auf das absolut giltige sittliche Gesetz und das noch höher und ebenso absolut und sicher sich als einzigen Heilsweg für uns Menschen erweisende Evangelium. Die Glaubenslehre dürfe aber in ihrer Selbständigkeit mit d e r P h i l o s o p h i e u n d W i s s e n s c h a f t als Sache des objektiven Bewusstseins n i c h t vermengt werden, obwohl beide einen Wecbseleinfluss auf einander ausüben. Auch der objektive Geist könne nur durch und mit dem subjektiven zur Durchbildung gelangen (VI). Der Einleitung folgen als 1. Hauptteil: Die Aussagen des christlichen Selbstbewusstseins über die Grundlagen des evang. - christlichen Glaubens, als 2. der elementare religiöse Glaube im christlichen, als 3. der spezifisch christliche Glaube (die Ökonomie des Vaters, des Sohnes, des h. Geistes). „Je länger," sagt er, „das sich anbietende Heilsleben zurückgewiesen wird und j e mehr man sich demselben gegenüber verstockt, desto schwerer wird das Eingehen auf dasselbe, desto drückender aber auch das Gericht, so dass nur schweres und dauerndes Elend die Verstocktheit wieder erweichen kann . . Immer aber bleibt das Gericht der Gesetzesreligion die ernste Abmahnung vom Elend des Sünders in der Gesetzesreligion und wirkt mit zur Einladung ins Heil der Erlösungsreligion" (2. Aufl. I I 2, 411). So ernst ist es AI. Schweizer. Seine Glaubenslehre ist „auf der Kanzel gereift" (II, 2, 417). „Wer freilich den verherrlichten Christus als die schlechthin vollendete Menschwerdung der Idee n i c h t a l s e i n e n r e a l e n glauben mag, sondern Christus als
Biedermann.
Lipsius.
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Person bei den Toten sucht, sein Leben in Verherrlichung aber als Illusion betrachtet, der verliert auch jede Hoffnung auf eine ewige Bestimmung, die wir als Erlöste erreichen" (II 1 , 241). Alois E m a n u e l B i e d e r m a n n , Professor in Zürich, f l 8 8 5 , „Christliche Dogmatik" 1869; 2. Aufl. 2 Bände: 1884, darf sagen, an seinen Paragraphen sei vom ersten bis zum letzten jeder mit der Präzision abgewogen, die man von einer exakten Wissenschaft verlange, und dass sein Buch zum Studieren und nicht zum blossen Lesen bestimmt und eingerichtet sei (1. Aufl. VI). Er weiss, was er D. Fr. Strauss vom Beginn seiner theologischen Studien an verdankt, und erkennt das in vollem Umfang an, aber sein Nachbeter ist er nicht und verwahrt sich dagegen, dass man sein Buch einfach unter Strauss subsumiere. Auf S c h l e i e r m a c h e r beruft er sich. Der H e g e l ' s c h e n Philosophie verdankt er einen grossen Teil der Nahrung seines philosophischen Denkens; ist aber von ihr aus in die Weiterentwicklung in der von der begründeten Kritik gewiesenen Bahn mit eingegangen(IX). Er hofft den Thatbeweis durch sein Buch zu erbringen, dass eine Glaubenslehre, je vollständiger sie ihre Aufgabe gerade als Dogmatik, als wissenschaftliche Verarbeitung des kirchlichen Dogmas, erfüllt, um so gründlicher dem Dogmatismus in der Wissenschaft an die Wurzel geht (X). Einer Einleitung folgt I. prinzipieller Teil: das Wesen der Religion 22/109, II. historischer Teil A. die Christlehre 163/331, B. die Kirchenlehre 303/495, III. kritisch-spekulativer Teil: Kritik des kirchlichen Dogmas 505/616, die wissenschaftliche Fassung des christlichen Prinzips 617/700, das christliche Heilsleben 701/763. „Im Weltdasein hat nur der endliche Geist einen eigenen absoluten Daseinszweck; diesen aber erfüllt er nur in der persönlichen Lebensgemeinschaft mit dem absoluten Geiste durch die Subjektivierung der Absolutheit des Geistes zum Lebensgrund, zur Lebensnorm und zum Lebensziel seines eigenen, in der Welt endlichen, aber in der Welt ewigen Geisteslebens" (763). R i c h a r d A d a l b e r t L i p s i u s , Lehrbuch der evangelischprotestantischen Dogmatik. 1. Aufl. 1876. 2. 1879, Prof. in Jena, sieht mit Recht „den Schwerpunkt der Dogmatik heute in dem Nachweise des guten Rechtes der christlich-religiösen Weltanschauung überhaupt" (V), hat aber zu einer Metaphysik, welche die objektive Realität des religiösen Verhältnisses, „ohne deren Voraussetzung keine religiöse Weltanschauung bestehen kann", auf rein begrifflichem Wege deduzirt, alles Vertrauen verloren. Andrerseits ist er „fest
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Albrecht Ritschi.
überzeugt, dass keiner ein wirklich religiöser Mensch zu bleiben vermag, dem die Religion nur als poetischer Schmuck des Lebens gilt" (VI). In der Vorrede zur 2. Auflage beklagt er sich, dass man gegen seine Theorie des religiösen Erkennens die Anklage geschleudert habe, dass sie alle objektive Wahrheit unsicher mache. Vollends abgeschmackt sei der Vorwurf der Offenbarungsleugnung gegen eine religiöse Weltanschauung, d i e d u r c h u n d d u r c h auf der Voraussetzung der o b j e k t i v e n R e a l i t ä t der g ö t t l i c h e n O f f e n b a r u n g b e r u h e , und die die verschiedenen Formen und Stufen derselben bis hinauf zur geschichtlichen Offenbarung in der Person Christi zu verfolgen sucht (VII). Der Formulierung seines Unterschiedes von Biedermann, dass der alte Gegensatz von Hegel und Schleiermacher, wenn auch erheblich gemildert durch die dazwischen liegende Entwicklung wieder aufgelebt sei, will er nicht widersprechen. Mit Ritsehl ist er sich zahlreicher Berührungen in dem Punkte bewusst, der ihn von den „Spekulativen" trenne. Am meisten weiss er sich mit Alexander Schweizer einig. Ist ihm auch weder um die Zukunft der wissenschaftlichen Theologie noch um die Lebenskraft des christlichen Glaubens bange, so sei doch der theologische und kirchliche Parteihader niemals übler angebracht gewesen, als in einer Zeit, in der es ganz andre Feinde mit vereinten Kräften zu bekämpfen gelte (VIII). Nach einer Einleitung behandelt er I. die theologische Prinzipienlehre, II. das dogmatische System 1. die Lehre von Gott, 2. die von der Welt und vom Menschen, 3. die von dem in Christus erschienenen Heil. „Seiner Bestimmung nach ist das Reich Gottes ein schlechthin universelles, keinen schlechthin von sich abschliessendes; in seiner jedesmaligen Verwirklichung aber ist es immer partikulär und wird es bleiben, so lange es eine Geschichte gibt, sei es unter den gegenwärtigen, sei es unter künftigen Naturbedingungen des geistigen Lebens" (803). Die diese Dogmatiker bewegende und im Mittelpunkt der theologischen Diskussion von heute stehende erkenntnistheoretische Frage hat A l b r e c h t R i t s e h l „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung". Erster Band: Die Geschichte der Lehre. 1. Aufl. 1870. Zweiter Band: Der biblische Stoff der Lehre. 1. Aufl. 1874. Dritter Band: Die positive Entwicklung der Lehre. Erste Aufl. 1874. Zweite Aufl. 1882/83. Dritte Aufl. des dritten Bandes 1888 und „Theologie und Metaphysik" 1. Aufl. 1881 in Fluss gebracht, und sie wird auf der Tagesordnung bleiben, bis sie in befriedigenderer Weise gelöst ist als bisher.
Strauss.
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9. D a v i d F r i e d r i c h S t r a u s s , „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft" Erster Band 1840. Zweiter 1841 — e n t h ä l t b e r e i t s die K r i t i k der n e u e r d i n g s e m p f o h l e n e n R e z e p t e , die christliche Wahrheit dem Welterkennen gegenüber sicherzustellen; und d e s h a l b ist hier der geeignete Platz, ihn zur Sprache zu bringen. Die Unterscheidung des ideellen Gehaltes von der sinnlichen Realität, aus der die Verstandesthätigkeit jenen auszumitteln und die Vernunftthätigkeit den so ausgemittelten zum reinen Gedanken zu erheben hat (Biedermann), die Unterscheidung der religiösen Vorstellung als eines nur mehr oder minder sinnlich gefärbten Ausdrucks eines geistigen Gehaltes von diesem (Lipsius), die Beschränkung der religiösen Urteile auf Werturteile im Unterschied von Seinsurteilen (Ritsehl) finden im Grunde und der Sache nach schon dort ihr Tribunal. „Längst hatte man" in betreff der vorchristlichen Religionen „das Bild von der Idee, den Inhalt von der Form, unterscheiden gelernt und aus den losen Verhüllungen der Götterfabel einen gediegenen Wahrheitskern herausgefunden." „Die Religion war auch dieser Betrachtungsweise Gefühl, Vorstellung und ihr damit gleichsam ein eigener Haushalt neben dem reinen philosophischen Erkennen eingeräumt; aber diese Weise des Gefühls, der Vorstellung, war an ihr nur die Form: ihr Inhalt ein geistiger, ein Gedankeninhalt, mithin die Befugnis des Denkens und Wissens anerkannt, über seine Wahrheit und das Verhältnis jener Formen zu ihr in letzter Instanz zu entscheiden." „Die Religion — hiess es nun, auch mit Beziehung auf die christliche — ist die Art und Weise des Bewusstseins, wie die Wahrheit für alle Menschen, für die Menschen aller Bildung ist" (Strauss I, 11); die wissenschaftliche Erkenntnis der Wahrheit aber ist eine besondere Art ihres Bewusstseins, deren Arbeit sich nicht alle, vielmehr nur wenige, aussetzen." „Der Gehalt ist derselbe; aber wie Homer von einigen Dingen sagt, dass sie zwei Namen haben, den einen in der Sprache der Götter, den anderen in der Sprache der übertägigen Menschen: so gibt es für jenen Gehalt zwei Sprachen, die eine des Gefühls, der Vorstellung und des verständigen, in endlichen Kategorien und einseitigen Abstraktionen nistenden Denkens, die andre des konkreten Begriffs" (Hegel, Encyklopädie der philos. Wissenschaften, 3. Aufl. XIX). „Hierbei tritt die Schwierigkeit ein, an einem Inhalte zu trennen, was Inhalt als solcher,
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Strauss als Kritiker g e g e n die modernen Erkenntnistheorien.
der Gedanke, ist, von dem, was der Vorstellung als solcher angehört. Die Vorwürfe, die man der Philosophie macht, reduziren sich darauf, dass die Philosophie die Formen abstreift, die der Vorstellung angehören. Das gewöhnliche Denken hat kein Bewusstsein über diesen Unterschied; weil ihm an diese (Form-)Bestimmnng die Wahrheit geknüpft ist, meint es, der Inhalt werde überhaupt weggenommen" „Hegel, Religionsphilosophie I, 80). Dem gegenüber weist nun Strauss nach, dass nach derselben, der Hegel'schen, Philosophie, von der das Verhältnis so bestimmt werde, diese Unterscheidung unmöglich, dass der Inhalt nichts ist als das Umschlagen der Form in Inhalt und die Form nichts als Umschlagen des Inhalts in Form (Hegel, Encyklopädie 140); dass mithin nicht gesagt werden könne, die ganze Form sei dem Inhalt gleichgültig, dieser könne bei einer totalen Verwandlung der Form doch derselbe bleiben. Wenn daher Hegel die Form der Vorstellung, in welcher ihm zufolge die Religion den absoluten Inhalt habe, ungescheut als eine untergeordnete inadäquate bezeichne: so frage sich, ob in einer endlichen Form der Inhalt als absoluter vorhanden sein könne und nicht vielmehr mit dieser Form selbst ein endlicher, der Idee unangemessener, werde (Strauss 13)? Der von da aus der Religion zugedachte Sußcurs ist keiner. Dieses Verdikt über Hegel bleibt auch stichhaltig gegen Biedermann und Lipsius, soweit sie mit der fraglichen Unterscheidung operieren und weiter zu kommen hoffen. Hegel hat so wenig Recht, gegen den Schein zu protestieren, als wollte seine Philosophie in ihrer Beziehung zur christlichen Religion deren Dogmen erst zu ihrer Wahrheit verhelfen und damit ausser der Form auch ihren Inhalt verändern (Religionsphilosophie II, 288), wie Biedermann und Lipsius. Weiter wendet sich Strauss gegen Feuerbach. Dieser unterscheide zwischen theoretischem und praktischem Verhalten und lasse von letzterem ausschliesslich die Religion, wie von ersterem die Philosophie ausgehen. Aber indem er diesen Unterschied dahin bestimme, dass der theoretische Standpunkt uns die Dinge zeige, wie sie an sich sind, ohne auf die Bedürfnisse des Gemütes Rücksicht zu nehmen, der praktische, wie sie für uns sind, uns taugen und befriedigen, ohne auf ihr objektives Wesen Rücksicht zu nehmen: so drücke er dieses praktische Verhalten in der That so weit herab, dass wir es nicht mehr als vernünftiges anzuerkennen vermögen (Strauss 20). „ S o l l t e e s d e m r e l i g i ö s e n Standpunkt w e s e n t l i c h s e i n , u n s Gott und g ö t t l i c h e D i n g e nur
Strauss gegen die Sufficienz der subjectiven Lösung.
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s u b j e k t i v , o h n e a l l e R ü c k s i c h t auf i h r w i r k l i c h e s Wesen, d a r z u s t e l l e n , so w ä r e e i n e E n t z w e i u n g z w i s c h e n b e i d e n S t a n d p u n k t e n g e s e t z t , ü b e r d i e wir nie h i n a u s k o m m e n k ö n n t e n . " So klage Frauenstädt: die Philosophie schickt mich dem Glauben in die Arme; dieser aber wirft mich wiederum in die Arme der Philosophie zurück, und diese schleudert mich wieder in die Arme des Glaubens: so ist mein Geist der Spielball dieser beiden grossen Mächte" (Die Menschwerdung Gottes 141). Ein Prozess ins unendliche, wie man sieht, fügt Strauss 21 hinzu, von dem es einen nur Wunder nehmen muss, wie ihn der Verfasser hier für ein unvermeidliches Letztes ausgeben mag, da er doch selbst an einem anderen Orte den Fehler verraten hat, durch den jener Prozess überall, wo er sich findet, herbeigeführt ist, dadurch nämlich, dass von zwei Bestimmungen, d i e w e s e n t l i c h z u s a m m e n z u f a s s e n w a r e n , abwechselnd nur die eine und wieder die andere gesetzt wird (Über die Freiheit des Menschen und die Persönlichkeit Gottes 38). So Strauss (21) im J. 1840 gegen Feuerbach und Frauenstädt. Aber die Ritschl'sche Position erliegt demselben Gericht. Uns Gott und göttliche Dinge, uns den Inhalt unserer Glaubensaussagen nur subjektiv darzustellen und die Frage nach ihrer Realität offen zu lassen, damit kommen wir nicht aus. Wir müssen weiter. Ein Prozess ins unendliche, ein Zwiespalt ohne Ende kann nicht das letzte Wort sein uud darf es nicht sein. Darf es nicht sein um des Friedens derer willen, welche glauben u n d denken, welche auf eins so wenig wie auf das andere verzichten wollen und verzichten k ö n n e n . Darüber hinaus zu kommen, das ist die dogmatische Aufgabe der Gegenwart. Der Weg, den Strauss einschlägt, ist ungangbar, denn er führt zum religiösen Nihilismus, und die tiefsten Bedürfnisse des Menschenherzens bleiben unbefriedigt. Zuerst gibt er dem alten Glauben das Wort und lässt ihn „ungestört in aller Breite seine Herzensmeinung aussprechen"; dann kommt die moderne Wissenschaft an die Reihe und „darf vorbringen, was sie gegen ihn zu erinnern weiss". Doch damit auch sie nicht den Vorteil des letzten Wortes geniesse, so dürfen zuletzt noch die Unterhändler und Vermittler ihr Heil versuchen" (VIII). Aber wenn er dabei zu dem Resultate kommt: Die Geschichte des Dogmas ist die Geschichte seiner Zersetzung: so ist das Konstruktion, aber keine Geschichte, und keine „christliche Dogmatik", sondern eine Deroute derselben. Wenn das Jenseits als der letzte Feind ausgegeben wird, den „die
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Berth. Nitzsch.
spekulative Kritik zu bekämpfen und womöglich zu überwinden hat" (II, 739), und damit seine „Christliche Dogmatik" schliesst: so ist das ein trostloses Ende, bei dem sich weder der Glaube noch die moderne Wissenschaft beruhigen kann. Aber dass es sich heute allerdings darum handelt, nicht bloss den konfessionellen Gegensatz und die einzelnen Lehren, sondern vorerst die Weltanschauung, die ihren Boden bildet, sicher zu stellen (VII), das ist, wie die Verhältnisse wenigstens in der Gegenwart liegen, rundweg zuzugeben. Nur dass eben das die Aufgabe ist, das unveräusserliche Recht dieser christlichen Weltanschauung der modernen Wissenschaft gegenüber und selbst mit ihren Mitteln aufzuzeigen und nachzuweisen und nicht jene dieser zu opfern, wie es Strauss thut und sie selbst, so viel an ihm ist, in Trümmer schlägt, ohne die doch selbst die moderne Wissenschaft und das ganze Kulturleben mit in Atemnot geraten und den Erstickungstod erleiden mtisste. Denn aus ihr sind sie geboren, und diese christliche Weltanschauung ist ihre Lebensluft und Lebenskraft. Die Strauss'sche Dogmatik ist unüberboten geblieben an kritischer Schärfe und zersetzendem Geist. Sie bedeutet weitaus den tiefsten Punkt dogmatischer Negation im Jahrhundert. Aber auch sie hat ihre Impulse von S c h l e i e r m a c h e r empfangen. Im Jahre 1831 ging der Tübinger Repetent David Strauss nach Berlin, um Schleiermacher über das Leben Jesu zu hören, der zu erst darüber las und. zwar weder ohne Skepsis noch ohne kombinierenden Spürsinn; aber doch au .fond im konservativen Geiste. 10. Die neueste Dogmatik, welche vorliegt, ist von Ritschlschen Gedanken beeinflusst, wenn sie auch mit den „neuen Bedingungen theologischer Arbeit" nicht durchweg Ernst macht, aus einer gewissen kritischen Reserve nicht eigentlich heraustritt und den Ton sachlicher Erörterung niemals verlässt. Um dieses ihres Charakters willen lässt sie sich nicht füglich in eine der früheren Gruppen einreihen und muss deshalb, vielleicht als ein Produkt des Überganges mitten in der Kontroverse des Tages, gesondert genannt werden. F r i e d r . Aug. B e r t h . N i t z s c h , „Lehrbuch der evangelischen Dogmatik", 1892 hat sich „bemüht, die Leser in den gegenwärtigen Stand der Fragen einzuführen und deshalb die neuesten Streiter auf der theol. Arena am ausführlichsten zu Worte kommen zu lassen" (VII). Es ist ihm nicht nur um die wissenschaftliche Darlegung, sondern auch um die Verteidigung des Glaubens- oder Bewusstseinsinhaltes
Berth. Nitzsch.
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und zwar in den Denk- und Ausdrucksformen des gegenwärtigen Zeitalters zu thun (1). Sein Fundamentalsatz, an den er den Anspruch erhebt, dass er in einem Gesamt- und zwar religiösen Urteil über die konkrete geschichtliche Person Christi oder deren Werk bestehe (42), lautet: „Jesus Christus ist durch Verwirklichung des Reiches Gottes in der Menschheit der bleibende Mittler des Heiles derselben geworden" (40). Dieser Satz verrate sowohl in dem Doppelbegriff von Gottesherrschaft und Menschenheil, dass es sich im Christentum um Religion handle (40), als führe zur Erkenntnis des Wesens des spezifischen d. h. evangelischen Christentumes (41). Warum er es vorzieht, mit R i t s c h 1 (Rechtf. III 8 , 13), wenn auch in abweichender Weise, von der Idee und Begründung des Reiches Gottes, sowie von den anderen Kardinalbegriffen seines Fundamentalsatzes auszugehen, rechtfertigt er so: Dass das Christentum Anspruch habe auf Zuerkennung gewisser abstrakter Eigenschaften, nämlich des spezifisch ethischen, monotheistischen und universalistischen Gepräges, vermöge das Wesen des Christentums im Vergleich zu anderen Religionen noch nicht zu bestimmen (116 ff.); ebensowenig die Hervorhebung einer abstrakten Centraiidee desselben, weder als der Religion der Unsterblichkeit (Lessing) noch als der des dreieinigen Gottes, noch als der Darstellung der Einheit des Göttlichen und Menschlichen; weder als der Religion der moralischen Vernunftidee oder des moralisch, nicht religiös gefassten Reiches Gottes (Kant) noch als der der Liebe, noch als der der Erlösungsidee, der Gotteskindschaft (122). Das Christentum als eine bestimmte geschichtliche Religion wurde vor allem durch ihren Stifter geprägt, welcher diese sowohl nach ihrem Ursprung als nach ihrem Inhalt als eine geoffenbarte d. h. im Sinne der christlichen Gemeinde als eine übernatürliche bestimme. Und eben das komme in dem Begriff der Verwirklichung des vollendeten Gottesreiches zum Ausdruck und zur Geltung. Auch liege für das christliche Bewusstsein in dem Urteil, demzufolge in Christus das Heil der vollendeten Gottesherrschaft offenbar sei, sowohl dass er der bleibende Mittler des Heils als auch dass seine Erscheinung, einzig zwar in ihrer Art, doch kein abgerissenes Phänomen, sondern Gipfelpunkt und Abschluss einer Reihe göttlicher Offenbarungsakte sei (124). Erst er selbst verwirklicht das vollkommene Reich Gottes, indem er es einmal lehrhaft, zugleich aber lebendig (durch das, was er war und wirkte uud litt) lückenlos darstellte und unter dem, wenngleich noch sünd-
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haft bleibenden Geschlechte der Menschen zu einem fortan nicht mehr zu unterdrückenden Agens machte (200). Von diesem Fundamentalsatz aus behandelt der erste Teil: Die dogmatische Prinzipienlehre von der Religion, von dem Christentum, von der abschliessenden Bestimmung seines Wesens, von der Ii. Schrift und dem Wesen des Protestantismus; der zweite Theil: die spezielle Dogmatik von der Anthropologie, anhangsweise vom Satan, von der Theologie, im Anschluss an die Weltregierung anhangsweise von den Engeln, von der Christologie. „So wenig sich die wesentlichen Glaubensaussagen über Christus einem ausserhalb der christlichen Erfahrung stehenden Bewusstsein anbeweisen lassen, so müssen sie doch so beschaffen sein, dass die Möglichkeit ihres Inhaltes auch von den draussen Stehenden, rein geschichtlich Forschenden und dem religiösen Glauben sich Verschliessendeu nicht in Abrede gestellt werden kann" (454). „In Wahrheit" ist der Ausspruch Joh. 1, 14 „das Wort ward Fleisch" „darauf zu beziehen, dass das (unpersönliche) ewige Oifenbarungsprinzip in dem ganzen Lebenswerke und insofern allerdings auch in der (übrigens physiologisch und psychologisch rein menschlichen) Person Jesu sich geschichtlich verwirklicht und verkörpert hat" (497). „Man kann jedenfalls nicht behaupten, dass der Glaube an eine physiche übernatürliche Geburt Jesu gemeinsame apostolische Überzeugung gewesen sei" (517). „Eine geoffenbartc Metaphysik ist die christliche Religion nicht," d. h. „einmal dass es nicht Sache des Christentums ist, über die letzten Gründe des Universums und den Zusammenhang alles Seienden, über Gott und Welt Auskunft zu geben, soweit nicht das Wissen um dieselben eine notwendige Grundlage für das Wissen um das höchste Gut des Menschen bildet, dass es also auch keine übernatürliche aus Offenbarung stammende Metaphysik gibt, die ohne zu jener Grundlage zu gehören, Gegenstand der christlichen Lehre sein könnte; sodann dass auch im Uebrigen nichts zum wesentlich Christlichen gehören kann, was lediglich die Bedeutung hat, Mittel der Welterklärung zu sein, mithin nur dem Interesse des wissenschaftlichen, rein theoretischen Erkennens dient" (44). In der „Vollendung des Reiches Gottes" muss sich „das Element des Lebens der Auferstandenen" zu der gegenwärtigen Welt ebenso verhalten, wie der pneumatische Leib zu dem gegenwärtigen materiellen. Schlechthin unäumlich können wir uns die neue Welt nicht vorstellen. Die ewige Ruhe kann nicht als ewiger Stillstand gedacht werden, sie schliesst ein Fortschreiten in der Erkenntnis
£>er Einfluss Kants und Hegels.
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des höchsten Gutes und in der thatkräftigen Erstrebung desselben nicht aus, sondern ein" (625). Mit diesem bestimmt supranaturalen Ausblick schliesst das Buch. 11. Neben der durch das ganze Jahrhundert fortlaufenden Linie des Einflusses Schleiermachers gehen verkürzte Linien der Einwirkung Kants und Hegels her. Nachdem Liebmann „Kant und die Epigonen" 1865. 115 die Parole ausgegeben hatte: „Es muss auf Kant zurückgegangen w e r d e n " : ist das Experiment des Neu - Kantianismus in Kurs gekommen. Ob nur als ein „sauve qui peut", als ein „willkommenes Notdach", unter das man sich fluchtet , um nur überhaupt ein Unterkommen zu finden (Laas, „Kants Analogien der Erfahrung" 1876. 2) oder ob es „der allgemeine Charakter der Zeitgeschichte und des geistigen Lebens der Gegenwart" ist, „auf deren Grundlage die Jung-Kantische Bewegung sich erhob" (Stählin, „Kant, Lotze, Albr. Ritsehl" 1888. 71): die beiden Fälle schliessen einander nicht aus, und auch in dem letzten bleibts ein Experiment; nur ein solches, auf das eben der allgemeine Charakter der Zeitgeschichte hindrängt. Denn wenn dieser nach der empirischen Methode gravitirt und doch mit ihr die andere Welt nicht erreicht: so ist der Neu - Kantianismus der Versuch, ihr auf anderem Wege beizukommen und gewiss zu werden. Die Vertreter desselben gehen übrigens j e ihre besonderen Pfade. Einerseits Lipsius, andererseits die Anhänger Ritschis; und auch von diesen beinahe jeder in seiner eigenen Weise: W. Hermann, Herrn. Schultz, Jul. Kaftan. Unter Hegels Einfluss stehen Ph. R. Marheineke, „Die Grundlehren der christlichen Dogmatik als Wissenschaft". 2. Aufl. Berlin 1827 und „Das System der christl. Dogmatik". Berlin 1847; Karl Daub, „Die dogmatische Theologie jetziger Zeit oder die Selbstsucht in der Wissenschaft des Glaubens" 1833; Strauss, Feuerbach und Biedermann. Ohne Berührungspunkte mit Hegel ist auch Ed. von Hartmann nicht, aber seine bestimmenden Gedanken hat er von Schopenhauer, und sein mit diesem gemeinsamer Pessimismus unterscheidet und scheidet ihn grundsätzlich von Hegel und dessen Zutrauen zu seiner „Philosophie der Wirklichkeit", zu seiner panlogistischen Lösung des Welträtsels. 12. Die vorstehend gegebene Übersicht hat sich bis auf die Namen der Führer der Ritschlschen Richtung ausschliesslich auf Verfasser von dogmatischen Systemen beschränkt. Es handelte sich um die Disziplin im Ganzen und deren Bearbeitungen. Der Wert
ÜO
j . Müller. R. Rothe. Albr. Ritschi. W. Herrmann. Herrn. Schultz.
und zum Teil tiefgreifende Einfluss dogmatischer Monographien, welche einzelne Fragen oder doch nicht das geschlossene Ganze behandeln, bleibt dabei in voller Anerkennung. Julius Müllers, eines Dogmatikers ersten Ranges, zweibändiges Werk: „Die christliche Lehre von der Sünde" 1844 hat dem „positiv-dogmatischen Interesse" (Y) bleibende Dienste geleistet und (6) Auflagen erlebt. „Umfassendere Vorarbeiten über einzelne Lehrstücke, besonders über die Kernpunkte der christlichen Lehre" schienen ihm dringenderes Bedürfnis, als immer neue Darstellungen des Ganzen. Vgl. auch seine „Dogmat. Abhandlungen" 1870. Rothes Abhandlungen „Zur Dogmatik", zuerst in den Theol. Studien und Critiken" 1860. Heft 2, später 1863 separat erschienen, bedeuten in ihrer das Urteil klärenden Weise einen Markstein in der mehr oder weniger allgemeinen Auffassung, zumal der Inspirationsfragc. Albrecht Ritschis grossangelegtes und einheitlich geschlossenes W e r k : „Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung" 1870/74 hat mit seiner grundsätzlichen Ausscheidung des Welterkennens aus dem dogmatischen Betriebe und der praktischen, näher ethischen Fundamentirung der theologischen Erkenntnis eine Schule gegründet und eine Uber sie hinausgehende allgemeine Bewegung hervorgerufen. Von seinen vorerwähnten Schülern erblickt W. Herrmann in Marburg „Die Metaphysik in der Theologie". Halle 1876. „Die Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit. Eine Grundlegung der systematischen Theologie". Halle 1879, „in Kants Trennung der theoretischen Erkenntnis von der sittlich bedingten Überzeugung den Freibrief für die aus den Fesseln philosophischer Weltanschauungen erlöste Theologie" „(Die Religion . (X), deren Aufgabe der doppelte Nachweis ist, zu zeigen, dass der Mensch eine sittliche Person nur sein kann, sofern er mit klarem Bewusstsein unter einer göttlichen Leitung seiner Geschicke steht, und darzuthun, dass diese Überzeugung allein durch das geschichtliche Faktum der Erscheinung Jesu Christi begründet wird („Der Verkehr des Christen mit Gott" 205); sieht Herrn. Schultz, „Die Lehre von der Gottheit Christi. Communicatio idomatum" 1881, seinem verehrten Kollegen und Freunde A. Ritsehl „zum Ausdruck des Dankes für vielfache Förderung zur Bezeugung der Gemeinschaft in den Zielen der theol. Arbeit" gewidmet, in dem Satz der alten Kirche: „Er ist Mensch geworden, damit wir Gott würden" die Lösung, während er eine „Gottheit Christi, für welche es keinerlei Analogie in der christlichen Erfahrung geben kann,
Jul. Itaftan. Òtto Pfleiderer.
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als eine solche bezeichnet, die immer irrtümlich gedacht sein m ü s s e ' ) (527); erkennt Julius Kaftan, „Das Wesen der christlichen Religion" 1881/88; „Die Wahrheit der christlichen Religion" 1888 in dem „sittlichen Leben der Menschheit in allen seinen Formen und wo es sich findet, den Kern der Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Offenbarung" („Das Wesen . . . " 2 355), aber in diesem nicht nur nach seiner Entwicklung, als habe es an der Geschichte nur den Schauplatz seiner Verwirklichung, sondern „seinem inneren Wesen nach und mit seinem ganzen Inhalt" das Resultat der Geschichte („Die W a h r h e i t . . " 518), mit Verzicht selbst auf „einen alle Zeit leicht widerlegbaren Mythus über die sittliche Anlage des Menschen" (519). Das Recht dieser Anwendung der empiristischen Methode auf die theologische Arbeit, recht eigentlich der grundsätzlich antimetaphysischen Erklärung der Religion, steht im Vordergründe der theologischen Kontroverse der Gegenwart. Gegen diese Auffassung und Methode nimmt mein B u c h : „Der alte Glaube und die Wahrheit des Christentums." Berlin 1891 in eingehender Auseinandersetzung mit Prof. Kaftans 1889 erschienenen B u c h : „Die Wahrheit der christl. Religion" Stellung. Sehr entschieden hat Otto Pfleiderer in seinem Aufsatz Uber die religions - philosophische Grundlage der Ritschlschen Theologie (Jahrb. für prot. Theol. 1891. 3. Heft) gegen den positivistischen Unterbau der Theologie J. Kaftans Protest erhoben; derselbe, der abgesehen von seinem erwähnten „Grundriss" durch sein 2bändiges, dem Tübinger Stift als Festgabe zum 21. Nov. 1868, dem hundertjährigen Geburtstage Schleiermachers, gewidmetes W e r k : Die Religion, ihr Wesen und ihre Geschichte, 1869. 2. Aufl. 1878 und seine „Religionsphilosophie auf geschichtlicher Grund1) „Die Gottheit Christi macht ihn gleichwertig mit dem, was die Gemeine als Einheit charakterisiert, nicht mit dem, was ihre einzelnen Glieder sind" (528). Sie ist „nicht identisch mit seiner religiösen und sittlichen Vollkommenheit. Aber sie setzt beide voraus, und sie schliesst wahre menschliche Persönlichkeit nicht aus, sondern setzt sie voraus. Gottheit und Menschheit sind nicht zwei Substanzen in Christus, sondern zwei Betrachtungsweisen der einen Persönlichkeit" (537). Zu der Voraussetzung seiner „wesentlichen Unsündlichkeit" in irgend einem Zeitraum seines irdischen Lebens ist kein Grund vorhanden (722). In der Lehre von Jesus als dem Christus und in der Lehre von der Gottheit Christi vollendet sich, was der christliche Glaube über den Heiland auszusagen hat. „Was in diese Aussagen sich nicht als innerlich notwendige Folgerung einschliessen lässt, das gehört der geschichtlichen Wissenschaft an, welche das Leben Jesu von Nazaret, wie das eines jeden geschichtlichen Menschen, in ihren Zusammenhang einzureihen und nach ihren Grundsätzen zu beurteilen hat, unbeeinflusst durch die religiöse Bedeutung, welche dieser Mensch für die Glieder seiner Gemeinde hat, als ihr Heiland, Herr und Gott" (728).
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Julius Köstlin.
läge" 1878. 2. Aufl. 1883. 3. von Band I 1893 mit der ausgesprochen bestimmtesten Tendenz, den Deismus einerseits wie den Pantheismus andererseits durch eine theistische Weltauffassung zu überwinden: „Ebensowenig als das fromme Gemüt kann das wissenschaftliche Denken sich mit einer von diesen Weltanschauungen" (Deismus oder Pantheismus) „befreunden" („Die Religion . . . " I, 223/4)') schon Stellung zu den verschiedensten dogmatischen Fragen genommen hatte. In der ihm eigenen Gründlichkeit und ruhig sachlichen Prüfung tritt der durch seine früheren, lange bevor der Streit die akute Schärfe von heute angenommen hatte, angestellten Untersuchungen: „Der Glaube, sein Wesen, Grund und Gegenstand" 1859, sowie durch seine wiederholten die Bewegung begleitenden Äusserungen in den „Tli. Studien und Kritiken" besonders dazu berufene Dogmatiker Julius Köstlin in die Erörterung der Frage ein und kommt in seinen Schriften: „Die Begründung unserer sittlich-religiösen Überzeugung" 1893 und „Der Glaube.. mit Rücksicht auf die Hauptfragen der Gegenwart" 1895 unter beständiger Auseinandersetzung mit den neuesten Stimmen zu dem Resultate, dass die innere Erfahrung Grund sittlichreligiöser Überzeugung ist, die keine bloss objektive Kunde zu ersetzen vermag. Wer nur sie von der Heilsoffenbarung hätte, ohne von ihr auch innerlich berührt und ergriffen zu sein, würde darüber, worin ihre wahrhafte Befriedigung bestehe, nicht recht zu urteilen vermögen. „Es bleibt dabei: keine Gewissheit von Realem, die nicht schliesslich auf äusserer oder innerer Erfahrung, auf einem Innewerden der Sinne oder des inneren, höheren Sinnes ruht! Da mag die sinnliche Erfahrung weltlicher Dinge deshalb gar sicher scheinen, weil sie jedem gleichmässig unwillkürlich sich aufzwingt, ohne dass man an ihr und ihren Ergebnissen Kritik zu üben sich veranlasst fände. Feste Gewissheit aber bringt nur jene innerlich sich bezeugende Gottesoffenbarung, indem sie mit ihren unbedingten Forderungen und göttlichen Darbietungen unser Innerstes trifft, unseren .1) Weil Gott ebenso beim Pantheismus, nur in anderer Weise als beim Deismus, verendlicht wird; bei diesem, weil „Gott an der ihm ausschliessend gegenüberstehenden Welt seine Schranke" hat, bei .jenem, weil Gott „nur durch das Werden der Welt hindurch zu seiner eigenen Wirklichkeit gelangt": so „ergibt sich hieraus die Forderung, die Einseitigkeit der Transscendenz (Deismus) und der der Immanenz (Pantheismus) auf einem höheren Standpunkt zu vermitteln; und diesen höheren Standpunkt, die höhere Einheit jener beiden Einseitigkeiten, finden wir im Theismus" (224). Ist zwar Pfleiderer von Hegel ausgegangen, so hat er doch zugleich entscheidende Impulse von Schleiermacher empfangen, und ist jedenfalls bemüht, den Pantheismus auch in der Hegel'schen Fassung zu überwinden.
Julius Köstlin.
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Willen bewegt, die, welche sich ihr öffnen, schlechthin und für immer befriedigt und beseligt" (Die Begr. 124; Der Gl. 334). Die Frage, „ob wir nicht schon durch Denkfolgerungen von dem gesamten anderen, weltlichen, sinnlichen Inhalt unseres Bewusstseins und Wissens aus mit Notwendigkeit auf einen über allem waltenden Gott und von einer also festgestellten Idee Gottes und der Religion, vielleicht auch schon aufs Bedürfnis einer besonderen Gottesoffenbarung und auf die Geltung der uns zu teil gewordenen Offenbarung geführt werden, verneint Köstlin; aber darum will er doch nicht etwa jenes Weltwissen in ängstlicher oder auch hochmütiger Haltung beiseite lassen, sondern aus dessen eigenem Inhalt und Wesen heraus seine wirklichen Ansprüche und zugleich seine Schranken nachgewiesen haben. „Es soll dies nicht ein Beweis des Glaubens werden, wohl aber ihn gegen falsche Einwendungen wahren helfen" („Die Begr." 123; mit noch bestimmterer Würdigung des Weltwissens: „d. Gl." 91). Damit ist, meine ich, das Wahrheitsmoment der gegnerischen Position, ohne das sie zu einem so weitgehenden Einfluss gar nicht hätte gelangen können, anerkannt und für die theologische Weiterbewegung verwertet oder festgelegt, aber auch seine extreme das Welterkennen ausschliessende Überbietung abgelehnt. Der Hegelschc Satz, dass, was wirklich ist, gut ist, hat in dem Sinne sein Recht, dass nichts umsonst in der Geschichte und für ihre Weiterentwicklung geschieht. Keine Erscheinung kommt zur Geltung und wird eine Macht, ohne dass ihr ein richtiger Gedanke zu gründe liegt. Das gilt auch von der Ritschlschen Theologie. Aber seine Überbietung hindert, bei ihr stehen zu bleibeil. Wir müssen weiter; was an ihr wahr ist, behalten, die Überbietung ablehnen und überwinden. Denn wir können nicht „von dem vollkommen guten Gott zu einem inneren Zwiespalt und zu sogenannter doppelter Buchführung, sondern zu einer inneren Harmonie der Intelligenz wie des Wollens" (Köstlin, „Die Begr." 123) bestimmt sein 1 ). 1) In unsere Tage fällt die deutsche Ausgabe eines syrischen Ansatzes z u einer Dogmatik. So wird man das von Karl Kayser aus dem syrischen Grundtext ins Deutsche übersetzte: „Buch von der Erkenntnis der Wahrheit oder der Ursache aller Ursachen" nennen dürfen, obwohl es keine logischen Definitionen oder streng philosophischen Beweise hat und „die grammatische Schreibweise" (45) vermeidet, sondern in schlichter, allgemeinverständlicher, vielfach erbaulicher Sprache redet, weil es nicht nur die prinzipiellen Fragen der „Prolegomena", sondern auch einen Teil der speziellen Dogmatik verhandelt; freilich unter einem Gesichtspunkt, welcher den eigentümlich christlichen Charakter absichtlich in den Hintergrund treten lässt. Denn der Verfasser, „ein schwacher Mensch", S c h m i d t , Dogmatik I.
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Das syrische Buch: Causa cäusarürrt.
wie er sich selber nennt, „aus der Stadt Edessa in Beth Nahrein", 30 Jahre lang Bischof seiner Gemeinde („ob nach dem Willen Gottes, ob durch die Thätigkeit der Menschen? dem, der allein alles weiss, sei Ehre!"), vielfach bedrängt „im Verkehr mit dieser beunruhigenden und verfinsternden Welt" (10) verfolgt nichts geringeres als eine Alliance von Christen, Juden und Muhamedanern. Das Buch ist nach dem Tode des Übersetzers (1891) aus dessen Nachlass, ergänzt durch die Übersetzung des Schlusses nach den Handschriften R 0 P in der syrischen Ausgabe der Causa causarum S. 270 ff., den Kaysei' unübersetzt gelassen hatte, von Prof. Ryssel, 1893 von Prof. Siegfried in Jena herausgegeben worden. Über die Abfassungszeit der Urschrift, nach Nöldeke das 11. oder 12. Jahrh., sind die Akten noch nicht geschlossen. Der Verfasser will in seinem Buch der Ursache aller Ursachen, des Schöpfers aller Geschöpfe „alle Völker unter dem Himmel" lehren, „wie d i e W a h r h e i t zu e r k e n n e n i s t " (1)*). In 7 Büchern beantwortet er die Frage. Das erkenntnis-theoretische Problem gleichsam eröffnet das 1. Es gibt die Lösung, dass, wer das Gute vernachlässigt oder auch keinen Gefallen daran findet, nicht in seiner wahren, ihm anerschaffenen Natur stehen geblieben ist, dem Bösen unterworfen, der mit seinem Willen über ihn herrscht und seine Freiheit vernichtet, und ein Lügner wird (19). Wer alle Völker zugleich erquicken und ihnen mit dem Worte der Wahrheit helfen will, ohne sich auf die Schrift zu berufen: der muss das Dienliche daher entnehmen, woher die Schrift ihre Belehrung entnimmt. „Der Vater der Schrift ist b e i uns allen, und der Grossvater der Schrift ist der Vater v o n uns allen." Der Vater: der Verstand. Der Grossvater die Natur, die uns zum Sein und Wesen brachte (25). „Wahrheit ist etwas, das da ist; Lüge ist etwas, das nicht ist" (28). Die Frage, wie erkannt werde, dass ein Gott ist, nötigt zu der Einsicht, dass wir „ein Haus der Erkenntnis bauen" müssen (33). Das Ziel ist die Tugend, das Mittel dazu gute Werke, das Fundament die Erkenntnis der Wahrheit als der Anfang alles Guten (33). Was aber ist sichere, beständige Wahrheit? Die jetzt sind, waren nicht immer. Gott aber war. Folglich ist er wahrer und gewisser. Von der Hoffnung und im Vertrauen darauf, dass er ist, geht die Forschung aus, ob er auch ist und wie erkannt wird, dass er ist (34). Die Antwort kann nicht sein: irgend ein Buch sei der Zeuge, sondern, da es viele gibt, die gar keine Bücher gelesen haben, diese einander auch widerstreiten, nur der Vater und Lehrer jeder Schrift und von uns allen: die Natur (35). Sie ist der Anfang und zuverlässiger Lehrer. Zwei sichtbare und fühlbare Dinge sind unfassbar, weil in ihnen eine geheime Erkenntnis und grosse Weisheit verborgen ist: der Makrokosmos und Mikrokosmos. Woher sind sie? woher die Welt? wie ein Automat von sich selbst? Das ist wegen der grossen Wunder, Ordnungen, Wesen und Veränderungen in ihr nicht zu glauben (44). Es muss noch etwas geben, das ihr vorhergegangen ist und sie in dieser bewundernswerten schönen Harmonie geordnet hat. „Die klare und feine Natur in mir bezeugt, dass es so ist." Und wie ich, so hat die Welt einen Herrn. Und „dies, dass ein Gott ist, ist aus der Natur und natürlicher Erkenntnis nachgewiesen" (44). Aber nun einer oder viele? In dem All sind keine allgemeine Veränderungen viele 1000 Jahre hindurch eingetreten, und die besonderen sind keine gegensätzlichen, sondern beständige, in der Natur bleibende, welche den festen Bestand der Natur noch deutlicher anzeigen (49). Der Winter ward nicht zum Sommer und nicht umgekehrt u. s. w. „Daraus lernen wir, dass nur ein Herr und Schöpfer ist, der nicht seines Gleichen oder Gegner hat" (50). Aber „was ist er denn ?" (60). Ich bin vernünftig: um wieviel mehr er, der Vater aller Vernunft, die grosse Vernunft. Ich bin lebendig: um wieviel mehr er, der allen Leben
*) Wiederum ein Belag zu der bereits oben S. 6 citierten Bemerkung Otto Flügels.
Causa causïirurrt.
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g-ibt (62) ! „Und aus diesen natürlichen und wahren Gedanken haben wir uns überzeugt, dass unser Herr lebendig- ist und die grosse Vernunft hat, die Quelle aller Vernunft, dass er der Vater ist des Wortes und des weisen Gedankens {loyoç), in welchem (oder durch welchen) er alle Geschöpfe schuf und machte und dass ein lebendiger Geist in ihm ist, durch den er von selbst bewegt wird und alles Bewegliche bewegt. „Wo keine Vernunft ist, da ist auch kein Gedanke, und wo Vernunft und Gedanke ist, da ist Leben, weil ohne Lebendigkeit keine Vernunft und kein Gedanke sein kann (63). Vgl. Aristot. Metaph. XII, 7: „fj yàç vov èvéçysia fa»)." Die Vernunft als Ursache und Quelle berechtigt den Namen „Vater"; denn die Vernunft ist nicht der Sohn eines anderen. Das Wort der Vernunft heisst ihr Sohn, weil das Wort von der Vernunft erzeugt ist. Es ist Bild und Abglanz der ewigen Vernunft, Hebr. 1. 3 (64). „Und wie könnte denn einmal Vernunft und Wort nicht Leben in sich haben!" (67). Sein Leben ist sein Geist, und dieser Geist Gottes ist heilig und wird Gott genannt, weil er sich von selbst und kein anderer ihn bewegt; wie das Lebendige in dir dich bewegt und ausser deinem Schöpfer kein anderer es in Bewegung setzt (67). „Drei Personen, drei Namen, drei Eigentümlichkeiten, aber eine Natur, eine Gottheit in Dreifaltigkeit, eine Dreifaltigkeit in einer Gottheit. „Das ist die h. Dreifaltigkeit" der Christen (68). Die Frage, ob Gott einen bestimmten Namen hat oder nicht, wird dahin beantwortet: Es sind 3 Bezeichnungen, mit denen er angemessen bezeichnet wird, der • über jeden Namen und jede Bezeichnung erhaben ist: der Gute, der Reiche, der Weise (74). Ob er die Ursache aller Ursachen und der Schöpfer aller Geschöpfe sei, wird bejaht; denn vor ihm war keiner und nach ihm wird keiner sein (79). Die Schöpfung aus Nichts bleibt dem seelischen Menschen eine Thorheit : der geistliche nur erkennts (1, Cor. 2, 14—15). Daher Reinheit des Herzens zu erstreben (80). Nichts ist ohne die erste Ursache. Also ist Gott die Ursache aller Ursachen und der Schöpfer aller Geschöpfe (82). Als solcher sorgt er für alles, regiert er alles und nimmt auf alles Bedacht (83). Fassbar ist er dem unreinen Herzen nicht (93). Gemäss eines tugendhaften Wandels steigt der Mensch auf in wahrer Erkenntnis und dringt ein in die göttlichen Geheimnisse (95). Die Vernunft drang in Gott ein mit drei undurchdringlichen Panzern bewaffnet, mit Glaube, Hoffnung, Liebe (101): der Vater von allen, der sie alle umfasst, und doch ist er unendlich (102). Das 2. Buch geht auf die Fragen ein, warum der Schöpfer Geschöpfe schuf und Welten herstellte (105), — nicht damit sie ihn priesen, nicht aus irgend einem Bedarf (106), sondern weil er gut, reich und weise ist, muss er durchaus von seiner Güte andern wohlthun, von seinem Reichtum bereichern und seine Weisheit in seinen Werken zeigen (107) — was Gottes Wille in seiner Schöpfung sei — seiner Natur gemäss, wohlzuthun, mitzuteilen, zu vollenden und zu vervollkommnen (109). Die vergängliche Liebe des Menschen ist es, von der aus er nach jener unvergänglichen verlangt, welche in der Vereinigung mit dem Schöpfer besteht (112). Dass die Denkenden darin vollendet werden, ist der Wille Gottes in seiner Schöpfung (112). Dass uns aber Gott nicht gleich vollkommen und selig geschaffen habe, ist iür uns selbst und unsere Würdigung dessen, was wir mit Mühe erringen, heilsam und nützlich (113). Ob noch eine andere Welt ausser dieser sichtbaren und realen ist? Unser Leib lässt jedes seiner Teile in den Elementen, seinen Eltern, zurück, wo sie erhalten und nicht verringert werden, weil es keinen Ort noch Stelle weiter gibt, wo sie zerstreut würden. So wird auch die Seele an dem geistigen, für sie passenden Ort und ihrer Natur gemäss bis zur Zeit der Erneuerung aufbewahrt, und dann nimmt sie von neuem aus den Elementen ihre Teile, zieht denselben Leib an, den sie ausgezogen hat und wird in Unverweslichkeit erhalten (114). Und diese andere Welt ist nicht von Elementen und besteht nicht von ihnen; nicht zusammengesetzt, nicht sichtbar, nicht körperlich, sondern geistig und einfach (118); aber nicht die Welt Gottes. Eschatologische Fragen behandelt das 2. Buch bis zum Schluss. Daa
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Causa caiisanirn.
з. handelt von der Schöpfung des Menschen und dem Zweck seines Daseins; darunter von der religiösen Anlage und der Sicherheit des menschlichen Gotterkennens. Dass Gott ist, das wissen wir, wie? dagegen lässt sich vom Geschaffenen nicht erkennen, weil von der Gottheit keine qualitas, quidditas und quantitas ausgesagt werden kann. Erhaben ist er über alles Wort, alle Vernunft, alle Gedanken (189). Daher rührt auch die Verschiedenheit der Gotteserkenntnis (195). Das 4. Buch handelt von der Weltschöpfung in der h. Schrift: Nutzen der Schriftzeichen, Erfindung der Buchstabenschrift, Richtigkeit der bibl.Beschreibung von der Schöpfung и. a.; das 5. von den Stufen des Schöpfungsvorganges (Astronomie), das 6. von der Beschaffenheit des Äthers und der Luft und deren Veränderungen, das 7. von den Vögeln und anderen Tieren und ihrer Bestimmung, den Schöpfer erkennen zu lassen in seinen Werken (375), und von der Natur in der Erde und ihren Bildungen.
Prolegomena. Die Prolegomena bestimmen 1. Inhalt oder Objekt, 2. Form oder Methode der Dogmatik.
1. Inhalt der Dogmatik. Gegenstand der christlichen Dogmatik ist der christliche Glaube. Der christliche Glaube gehört unter den Gattungsbegriff Religion. Was ist Religion?
§ 10. Die Religion ein allgemein-menschliches Datum. Die R e l i g i o n Menschheit.
ist
ein U n i v e r s a l p h ä n o m e n
der
1. Religion ist ein Datum, ein historisch Gegebenes, eine geschichtliche Thatsache. Man mag ihr gram sein oder doch ihren Einfluss ungern empfinden, aber man kann sie nicht leugnen. Man mag ihre Forderungen ignorieren und ihren Akten in irgend einer üblichen Form gegenüber eine feindselig abwehrende Haltung einnehmen, aber man kann nicht in Abrede stellen, dass sie ist, dass es Religion gibt in der Welt. Man mag verschiedener Meinung sein über die Stelle, die sie einnimmt, und über die Rolle, die sie in dem Geistesleben der Völker und der Einzelnen spielt, aber bestreiten lässt es sich nicht, dass sie eine solche hat und behauptet. Die Religion ist nicht ein Erzeugnis einer Zeit oder ein Besitz nur einzelner Bevorzugter; sondern soweit unsere Kenntnis zurückreicht in die Tage von vordem, und je mehr unsere Forschung ihren Horizont ausdehnt über die bisherigen Grenzen der Völkerkunde: Religion ist ein Gemeingut der Menschen, ein allgemein menschliches Datum. 2. Herodot, 484—424 v. Chr., der älteste bekannte griechische Historiograph, der sog. „Vater der Geschichtschreibung", entwirft (IOTOQIWV I, 216) von den Massageten, die er auf seiner Wan-
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§ 10: Die, Religion ein allgemein-menschliches Datum.
derung zu den Scythen an der nordöstlichen Küste des kaspiseben Meeres und jenseits des Jaxartcs, im Norden des heutigen Khiwa, antraf, ein sehr dunkles Sittenbild, aber einem der Götter wenigstens huldigen sie. Der Sonne als dem schnellsten der Unsterblichen bringen sie das Schnellste des sterblichen Geblüts dar, ihre Pferde. Homer, der älteste Dichter der Griechen, der Sage nach noch 4 Jahrhunderte vor Herodot, lässt zwar von den Cyclopen einen derselben sagen (Odyss. 9, 275), sie nähmen keine Rücksicht auf den Schild tragenden Zeus und die seligen Götter, denn sie seien viel besser denn diese, lediglich nach eigenem Gutdünken handle er, ohne nach der Feindschaft von Göttern und Menschen zu fragen (ßvjuog /ne xeXevet 278); und der selbst tragisch endende Tragiker Euripides, 480—407 v. Chr., berichtet in seinem Satyrspiel „Cyclops" {KvxXcoip) (120) von ihnen: Nofiädeg' axovei ovöev ovöeig ovdevog": aber es wird damit doch nur die frevle Selbstüberhebung dieses sagen- oder märchenhaften Geschlechtes über göttliches und menschliches Recht ( „ v j i e Q c p t ä k m v , d&e/niarmv" Horn. Odyss. 9, 106) behauptet; der Respekt vor den Göttern, nicht der Glaube an ihre Existenz und ihr Walten geht ihnen ab. Die Cyclopen sind als irreligiös, aber nicht als religionslos gedacht; aber selbst diese ihre Irreligiosität erscheint doch als etwas ganz Abnormes, Ungeheuerliches, Entsetzliches — in dieser metaphorischen Bedeutung wird xvxlameiog oder xvxkmmog gebraucht — nach dem Urteil und in der Vorstellung der Berichterstatter, Homers sowohl wie des Euripides ; einfach als etwas Unerhörtes und ganz Ungehöriges, als eine monströse Gesinnung; was sie j a natürlich nicht sein könnte, wenn die Allgemeinheit der Religion und die Realität göttlicher Macht oder Mächte nicht die unangefochtenste Überzeugung von damals gewesen wäre. Und das ist sie das ganze Altertum hindurch, nicht als Glauben an die bestimmten Einzelgestalten der Mythologie und der Volksvorstellung, aber doch irgendwie an die Gottheit, an göttliches Wesen und göttliche Macht, geblieben und war es noch, als die griechisch-römische Welt bereits im Todeskampfe lag. Plutarch, 50—120 oder 131 n. Chr., drückt seine Überzeugung von der Universalität der Religion in der Sprache und Denkweise seiner Zeit adv. Coloten c. 31 *) so aus, man finde wohl Städte ohne Mauern, 1) EVQOIg ä'av EXITBR TtöXug azei/tazovs, äyQafi/xdzovi, aßaaiXevzovg, aoixovg, ¿XOIßarov;, vofiiafiarog jirj deo/ierag, aizeiQovg ^eärgeov xal yvfiraaicov. aviegov de izöXewg xai a&eov, fir) -/oio/ievrjs ev^aig, fiqdk ogxoig, [irjdk fiavzeiatg, /ir/Ss -Ovoiaig in äya&oii, /.ttjdk äjzozQonaig xaxtbv, ovöeig ioziv ovd' i'otai yeyovwg iteazijs.
Herodot.
Homer.
Euripides.
Plutarch.
Cicero.
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ohne Litteratur, ohne Könige, ohne Paläste, ohne Reichtümer, auch ohne Münzen und ohne Kenntnis von Theatern und Gymnasien, aber eine Stadt ohne Tempel und Götter, eine Stadt, die nichts von Gebeten, Eiden, Orakeln, Opfern, sei es zum Dank für Wohlthaten oder zur Abwendung von Übeln, wüsste, habe sicher noch niemand gesehen und werde sie nicht sehen. J a er fährt fort: Leichter könne eine Stadt ohne Grund gegründet werden, als ein Staat ohne allen Götterglauben ent- und bestehen. Er nennt ihn das Band jeder Gemeinschaft, die Basis aller Gesetze'). Bekannt ist der etwa 150 Jahre frühere Ausspruch Ciceros, 106—43 v. Chr., de natura deorum I, 43: „Quae est enim gens aut quod genus hominum, quod non habeat sine doctrina anticipationem quandam deorum?" Und die Überzeugung hat sich bis heute gehalten und allen Angriffen gegenüber immer wieder zu behaupten und zu erhärten vermocht. Alex. Ross' gewissermassen die Religionsvergleichung inaugurierendem W e r k : „Unterschiedliche Gottesdienste in der ganzen Welt," Heidelberg. 1674 ist mit fortlaufender Seitenzahl: Bernhardi Varenii Kurzer Bericht von mancherlei Religionen und Völkern. Aus dem Lat. verdeutscht durch E. F. angedruckt. Derselbe teilt die „heutigen heidnischen Religionen" so ein: 1. „Wilde, gar keinen Gott Glaubende und Menschenfressende, ohne einige Erkenntnis Gottes und göttlicher Gewalt, dahinlebend, wie das Vieh." 2. „So die Gestirne göttlich verehren, besonders Sonne und Mond." 3. „So vielen Göttern dienen." 4. „Einem Gott als dem obersten und allerhöchsten, aber neben ihm viele andere Götter und zwar nicht nach Anweisung der geoifenbarten h. Schrift (945). Über die Frage, ob Nr. 1 vorkomme, disputiert der Verfasser (947) und entscheidet sich durch die „öffentliche Erfahrung". Griechische Philosophen hätten nicht geglaubt. Protagoras sei deshalb von den Athenern aus der Stadt vertrieben, wie Diogenes Laertius klar anzeige. Sowohl die indianischen Sendbriefe der Jesuiten als die niederländischen Relationen berichteten, dass die Jenxuaner in Japan an gar keine Gottheit glauben. Die Schifffahrt habe dasselbe genugsam bekannt gemacht von den Völkern durch ganz Brasilien und beim Vorgebirge der guten Hoffnung, Um- und Anwohnern bei der Magellanischen engen Fahrt; im südlichen Teil der Insel Sumatra, Bewohnern der Insel Madagaskar, Hornaische Inseln bei 1) . . . „xôZcç av ¡loi SoxeT fiâXXov êddtpovç %CÙQIÇ, rj nohrela rfjç jtsqi &ecöv SàStjç vtpaige&eiorjç navxÔJtaoi, ovaxaoiv XaßeTv rj Xaßovaa TTjoijoai ' . . . ro ovvexuxov
œnâarjs xoivfoviaç xal vofio&eoiaç Zgetofta'1 (Plut. scr. moralia II, 1376. Paris 1841).
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Alexander Ross.
Neu-Guinea. Der Reisebesehreiber der Erdumsegelung des Schiffers le Maire berichte: Wir haben aus keinerlei Merkzeichen spüren können, dass dieses Volk irgend einem Gott diene. „Die Leute daselbst leben ohne alle Sorge, wie die Vögel in den Wäldern, säen und ernten nicht, kaufen und verkaufen nicht, arbeiten nicht. Das Land bringt alles von selbst; Cocosnüsse und Bananen u.dgl.; sie halten kein Vieh ohne allein Säue." Von den brasilianischen Menschenfressern berichteten die Historien : Einige dahin verschlagene Europäer hätten sie zu überreden gesucht, dass ein Gott sei und darauf die Antwort erhalten: das müsse ein gar schlimmer Gott sein, der daran seine Lust habe, die Menschen also zu schrecken. Beruft sich aber schon dagegen eine Fussnote darauf, dass Marchgravius de incolis Brasiliae c. 9 berichte, dass die Brasilianer Tupa eine oberste und höchste Fürtrefflichkeit nennen, Tupacanunga Donner, Tupaberaba Blitz = Glanz der Herrlichkeit oder Majestät, der sie ihre Schaufeln, Grabscheiter und Wissenschaft des Landbaus verdanken und ihn für einen Gott halten, an die Unsterblichkeit der Seele glauben, böse Geister fürchten, Cupiria, den Gott der Gemüter, Macachera, den Gott der Wege, dadurch verehren, dass sie ihm bisweilen Pfähle in die Erde stecken und Geschenke dazu: so ist auch die Behauptung der Religionslosigkeit aller anderen Genannten inzwischen unhaltbar geworden. Recht eigentlich die exakte, eingehendere Forschung beweist in jedem Einzelfalle von neuem, dass die gegenteilige Meinung auf nicht zureichender Prüfung beruht. Schon C. Meiners „Allg. krit. Gesch. der Religionen" 1806. I (15) weist darauf hin. Hatte Hume (nat. hist. of rel., introd.) sich auf die Reisebeschreiber berufen, welche berichten, dass man unter mehreren Völkern keinen Schatten von Religion entdeckt habe, und teils hieraus, teils aus den abweichenden Vorstellungen von Gott geschlossen, dass der Begriff von höheren Naturen nicht auf so ursprünglichen Anlagen des Menschen beruhe, wie Selbstliebe, Geschlechtstrieb, Elternliebe, Rachgier und Dankbarkeit (1. c.): so kennt Meiners ausser den Gliedern, Organen, Kräften und Trieben nichts, was so unaufhaltsam aus der allgemeinen Anlage der Organisation ungebildeter Menschen erwachse, als die Erkenntnis und Verehrung höherer Wesen. Selbst die Sprache sei nicht natürlicher, nicht so natürlich als die Religion. Kleine Gesellschaften seien eher möglich ohne tönende Zeichen, als rohe Menschen ohne Vorstellung höherer Naturen. Die entgegen-
C. Meiners.
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gesetzten Reiseberichte zeugten nicht dagegen. Die Reisenden seien nicht lange genug unter den Völkern gewesen, so die nicht, welche Robertson, Histor. of America, Basl. Ausg. II, 164, 431 citiere; so nicht der Verfasser von Description de la Nigritie. Amsterd. 1789. 125, welcher auf das Zeugnis seines maitre de langue versichert, dass die Seraires aucun culte hätten. Oder die Reisenden schlössen zu voreilig aus der Abwesenheit von Tempeln und Priestern u. dgl. auf die Religionslosigkeit der Völker. Dampier hat bei den Neuholländern nicht bemerkt, dass sie Gott einen religiösen Dienst leisten (New voyage round de world II, 171); die Bashee-Insulaner hatten nicht einmal Idole (II, 130); die Nicobaren keine Religionsform, weder Tempel noch Idole, noch irgend einen äusseren Kult einer Gottheit. Collins sage von den Neuholländern, dass sie weder Sterne, noch Feuer, noch Tiere verehren, noch von irgend einem eingebildeten Gegenstand sich zu guten Handlungen antreiben, noch von bösen abhalten lassen. Aber er muss berichten, dass sie den abgeschiedenen Seelen Menschen opfern oder doch um ihretwillen Blut vergiessen; dass sie die abgeschiedenen Seelen fürchten, desgl. Donner und Blitz, ebenso die Zauberer. Zauberei setze den Glauben an gute oder böse Götter voraus, oder die Zauberer müssten selbst so angesehen werden. Auch das Abbinden von Fingergliedern werde vermutlich der Versöhnung von Göttern gelten. Grant berichte, dass die Neuholländer den bösen Gott Boyle nennen, sowie dass ein Neuholländer, der in der Nacht Wasser holen sollte, einen englischen Soldaten gebeten habe, ihn zu begleiten, weil er den Boyle fürchte. Andererseits kann aber auch eine gewisse Praeoccupation, eine Idee, die den Forscher beherrscht, das sachliche Urteil erschweren. Hat man den Vorwurf gelegentlich gegen zum Optimismus geneigte Missionare erhoben: so illustriert Max Müller den Fall nach der anderen Seite hin an Darwin. Charles Darwin wird ein Belag der Macht des Sehwinkels bei der Beobachtung. Er rechnete die Feuerländer zu den niedrigsten Barbaren („Die Abstammung des Menschen . ." I, 28), und seine Meinung von ihnen war so gering, dass er sie kaum als Mitmenschen anerkennen und ihre Sprache kaum artikuliert nennen wollte. Kapitän Cook verglich sie mit den beim Räuspern entstehenden Geräuschen. Aber sicherlich werde nie ein Europäer sich unter so vielen heiseren und glucksenden Kehltönen räuspern. Auch ihr Aussehen war ihm nichts weniger als sympathisch und menschenwürdig. Genug Darwin, als
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Der Sehwinkel bei der Beobachtung.
er die Küsten Südamerikas besuchte, glaubte in ihnen gefunden zu haben, was er finden wollte, den Menschen in tierischem Zustande, wenn möglich auf einer noch tieferen Stufe, als sie von einigen der höheren Tiere erreicht wird. Und nun, berichtet M. Müller, kommt Kapitän Snow eben dahin und findet in den Feuerländern, was ihre äussere Erscheinung betrifft, wirklich schöne Vertreter der menschlichen Rasse; Professor Virchow protestiert gegen die Behauptung, dass sie eine niedere Rasse seien, und belegt seinen Protest durch die Ausstellung einer Anzahl eingeborener Feuerländer in Berlin. Und ihre Sprache: Giacomo Bove hat sie neuerdings studiert, beschreibt sie als lieblich, angenehm und vokalreich. Es sind einige Dialekte auf Feuerland, so Alacalu oder Ona, welche auch Bovfe als rauh und guttural beschreibt, von denen aus Darwin die ganze Sprache beurteilt hat. Dass das ein Irrtum war, ist er später ehrlich genug gewesen, selbst einzugestehen (M. Müller, Natürliche Religion. Aus dem Englischen von Schneider. 1890. 80). Aber es ist doch ein sehr instruktiver Fall, wie eine vorübergehende Berührung mit einem Volksstamm nicht ausreicht, um über sein Geistesleben ein massgebendes Urteil zu bilden; und — der Sehwinkel des Beobachters auch seine Rolle dabei spielt. Es trifft eine ganze Reihe von Momenten zusammen, welche die Erforschung gerade der Religion von Naturvölkern erschweren. Auch wenn die Hindernisse der Sprache überwunden sind und das Gefühl der Fremde gegenseitig einigermassen gewichen ist: ein modus vivendi in mancher anderen Hinsicht kann lange Zeit mit einer ganz vorgeblichen Bemühung, einen Einblick in die religiöse Seite des Volkslebens zu gewinnen, Hand in Hand gehen und zusammen bestehen. Die Denkweise geht, wenn immer nach denselben Denkgesetzen, doch in ganz eigen- und für uns fremdartigen Bahnen; und von seinen religiösen Vorstellungen spricht der Naturmensch zu allerletzt und immer nur mit Überwindung einer teils pietätvollen, teils abergläubischen Scheu. Um ein Verständnis darüber zu gewinnen, dazu gehört, sagt der Missionar A. Schynse auf Grund seiner Erfahrungen unter den Bateke, Bayanti und Babuma, j a h r e l a n g e s ernstes Studium" („Zwei Jahre am Congo." 1889. 90). Dazu gehört, hatte schon vor ihm der Afrikareisende Max Buchner geurteilt, „viel mehr Zeit und namentlich auch viel mehr kritische Schärfe, als manchen Berichterstattern verfügbar zu sein schien" (Ausland. 1884. 10). Neues umfassendes Material zur Verneinung der Universalität der Religion hat John Lubbock gesammelt und in seinem 1874 von
John Lubbock.
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Passow übersetzten und von Virchow bevorworteten Bucbe: Prehistoric Times as illnstrated by Ancient Remains and the Manners and Customs of Modern Savages" 1865 („Vorgeschichtliche Zeit, erläutert durch die Überreste des Altertums und die Sitten und Gebräuche der jetzigen Wilden") veröffentlicht. Übrigens ein ehrenwerter Forscher. „Fest überzeugt," schreibt er in der Vorrede zur 1. Aufl. XII, „dass Religion und Wissenschaft nicht wirklich in Widerspruch mit einander stehen können, strebte ich danach, in dem vorliegenden Werke den Grundsatz zu befolgen, den der Bischof von London in seiner im vorigen Jahre zu Edinburg gehaltenen ausgezeichneten Vorlesung aufgestellt hat." „Der Mann der Wissenschaft," sagt Dr. Tait, „muss redlich, geduldig und umsichtig vorwärts schreiten. Er muss prüfend seine Beobachtungen aufspeichern und aus seiner Forschung unerschrocken die folgerichtigen Schlüsse ziehen, in der Überzeugung, dass er sowohl an der Wissenschaft, wie auch an der Religion Verrat üben würde, wenn er in der Absicht einer von beiden zu Hilfe zu kommen, auch nur um eines Haares Breite von der geraden Linie der Wahrheit abweichen würde" (Lectures on science and revelation delibered at Edinburgh. Times, 7. Nov. 1864). Solche Gesinnung verdient alle Anerkennung. Sie verbürgt den ehrlichen Ernst des Forschers, die Wahrheit zu suchen, aber mehr allerdings nicht; eine Garantie, dass das, was er dafür als das so gewonnene Ergebnis seiner Arbeit ansieht, auch wirklich Wahrheit ist, ganz und gar nicht. Nur die brave Gesinnung, mehr ist nicht damit gewährleistet. Aber sie soll man würdigen, auch wenn man das Resultat beanstanden muss. Virchow bevorwortet die deutsche Übersetzung von Lubbocks Schrift: „Die Entstehung der Zivilisation. Der Urzustand des Menschengeschlechtes." Erläutert durch das äussere und innere Leben der Wilden. Nach der 3. Aufl. von A. Passow deutsch. Mit einem einleitenden Vorwort von Virchow. Jena. 1875. Aber auch er verschweigt nicht seine abweichende Meinung. Die gesammelten Thatsachen, schreibt er, gelangen zu dem Schluss, dass der Mensch sich ursprünglich in einem Zustand der äussersten Barbarei befunden hat, aus welcher sich mehrere Racen vermöge eigener Kraft zu höherer Bildung aufgeschwungen haben. So tritt er in offenen Gegensatz zu den Verteidigern der uralten Lehre von einer ursprünglichen Vollkommenheit und einer späteren Degeneration des Menschen (V). „Es lässt sich nicht verkennen, dass d i e S i c h t u n g d e s S t o f f e s noch
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John Lubbock.
m i t g r o s s e r S o r g f a l t v o r g e n o m m e n w e r d e n muss." Auch vermag Virchow nicht zu behaupten, dass der Verfasser ausnahmslos das Richtige getroffen hat. Namentlich sein Kapitel über die Sittlichkeit scheint in einigen Punkten angreifbar (VI). Lubbock selbst empfindet es störend, in der Religion der Wilden Dinge zu erwähnen, die unser Gefühl im höchsten Grade verletzen, ähnlich wie Meiners. Aber gleich diesem tröstet er sich, dass ein wahrhaft frommes Gemüt mit besonderer Befriedigung die allmähliche Entwicklung der richtigeren Glaubensansicht und reineren Lehre betrachten wird (167). Dass bei seinem Urteil gleichwohl der Seliwinkel auch seine Rolle spielt, dafür mag ein Beispiel genügenEr berichtet von der Unterredung eines ehrenwerten Kaffern mit Arbrousset (Tour at the Cape of Good Hope 120). „Deine Botschaft enthält das, wonach mich verlangte," erklärt der Kaffer. „Höre mich an, dann wirst du selbst beurteilen können, was ich suchte. Vor 12 Jahren machte ich mich auf, um meine Heerde auf die Weide zu treiben! Es war nebeliges Wetter. Ich setzte mich auf einen Felsen und richtete trübe Fragen an mich selbst. Wer hat die Sterne mit der Hand berührt? Wo sind die Säulen, auf denen sie stehen? Die Wasserwogen ermüden nie. Sie kennen keine andere Bestimmung, als unaufhörlich, vom Morgen bis Abend und vom Abend bis zum Morgen, zu fliessen. Wo aber halten sie inne und wer zeigt ihnen ihren Weg? Auch die Wolken kommen und gehen. Sie ergiessen ihre Wasser über die Erde. Woher stammen sie? Wer sendet sie? Die Beschwörer sinds jedenfalls nicht, die uns den Regen bringen. Wie vermöchten sie d a s ? und wenn sie es thun, warum merke ich es nicht, wenn sie zum Himmel steigen, um ihn zu holen? Ich höre den Wind und sehe ihn nicht. Wer führt ihn h e r ? Wer lässt ihn wehen, heulen und uns in Furcht jagen? Weiss ich, wie das Korn hervorspriesst? Wer gab der Erde Weisheit und Kraft, es hervorzubringen? Und dann vergrub ich mein Antlitz in beide Hände" (168). Lubbock sagt dazu: „Dies ist jedoch eine Ausnahme!" Aber wenn immer, und wer hat Gelegenheit, das festzustellen oder ähnliche Gedankenreihen zu belauschen: diese Äusserung ist ein Beweis für eine religiöse Aufgeschlossenheit des Wilden, die symptomatisch ist. D. h., es liegt nicht an seiner Natur, sondern an seiner e r w o r b e n e n Stumpfheit, wenn er ihr nicht nachgeht oder nachhängt. Man braucht kaum zu den Analphabeten von heute innerhalb des zivilisierten Europas zu gehen. Es wird schwerlich unter den Provenienzen der Volksschule
John Lubbock.
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an solchen fehlen, die auf gleich spontane Weise nicht zu reflektieren pflegen. Zur Fixierung dessen, was Lubbock bestreitet, verdient es weiter berücksichtigt zu werden, dass er das übereinstimmende Zeugnis von allerlei Berichterstattern, es gebe Rassen ohne alle religiöse Anschauung, mit der ausdrücklichen Reserve berichtet, dass Reisende bei verschiedenen Gelegenheiten das Vorhandensein einer Religion bestritten, weil der betreffende Glaube dem unsern unähnlich war. „Die Beantwortung der F r a g e : ,Sind alle Menschen im Besitz einer Religion?' hängt lediglich von der Bedeutung ab, die man diesem Worte beilegt. Gilt schon ein blosses Furchtgefühl und das Bewusstsein, dass vielleicht noch ausser uns andere mächtige Wesen das Weltall bewohnen, für Religion, dann müssen wir freilich zugeben, dass sie e i n G e m e i n g u t d e r M e n s c h e n i s t " („Entstehung der Civilis." 174). Lubbock beruft sich hier auf einige von ihm in seinem Werke „Die vorgeschichtliche Zeit" II, 276 — nicht wie sein Citat lautet II, 576 — genannte Zeugen für das Vorkommen religionsloser Stämme, z. B. für Eskimos auf Kapitän Ross. Aber die angezogene Stelle aus Ross, „voyage of discovery to the Arctic Regions" 127 ist eine durchaus zur Verwertung ungeeignete Inquisition des Eskimos Ervik, des Ältesten des Trupps, der an Bord kam. Man denke sich die L a g e : die Wilden in der ganz fremden, neuen Umgebung, wie einschüchternd musste schon dieser Umstand wirken! Dazu die Besorgnis, die allgemein natürliche Scheu, von dem zu reden, was ihnen heilig ist! Und überdem die Schwierigkeit, die Fremden zu verstehen! Das gilt auch von dem folgenden Citat des Paters Dobritzhoffer bei den Abiponen. Wenn ihre Sprache kein Wort für Gott oder göttliche Wesen gehabt hat, so ist das noch kein Beweis für Religionslosigkeit. Hat aber der Pater aus dem Spanischen Dios in den Katechismus ohne Umstände e i n s c h a l t e n können, so muss ihnen doch der Begriff zugänglich gewesen sein: „Dios eenam caogerik," Gott der Schöpfer der Dinge. Gibt Waitz, „Anthropologie der Naturvölker" I, 322 das Votum a b : „Weder sind Völker ohne jede Spur von Religion nachweisbar, noch haben alle bekannten Völker ihre Götter": so bleibt das auch den Nachweisen Lubbocks gegenüber durchaus im Recht. In sehr vielen Fällen sind anfangs geheimgehaltene religiöse Vorstellungen später als ganz bestimmt ausgeprägte hervorgetreten. Abergläubische Zeremonien weisen durchweg auf einen Glauben an übersinnliche oder doch übermächtige Wesen hin.
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John Lubbock.
Quatrefages.
Gust. Roskoff.
Fängt nun aber doch Lubbock die aufsteigende Reihe der Stadien des religiösen Lebens: — Atheismus, Fetischismus, Totemismus, Schamanismus, Anthropomorphismus, Schöpfer-Gott als wirklich überirdisches Wesen, Koinzidenz von Religion und Sittlichkeit — mit dem Atheismus, ausdrücklich dem vollständigen Fehlen aller religiösen Begriffe an : so hat der Gegenbeweis nicht auf sieh warten lassen. Quatrefages, l'espèce humain. 1877. „Das Menschengeschlecht." Autoris. Ausg. 1878 prüft dasselbe Material und gelangt zu dem entgegengesetzten Resultat. Freilich, erkennt er, darf man bei einer wissenschaftlichen Untersuchung des religiösen Lebens „sich nicht etwa jenen Physiologen zum Muster nehmen, der seine Untersuchungen wesentlich nur auf die Wirbeltiere ausdehnen wollte, mit Ausschluss der niedrigeren Tiere, bei denen die charakteristischen tierischen Vorgänge in ganz einfacher und mehr versteckter Form verlaufen. . . . Jeden Glauben, mag er noch so einfach und dürftig, noch so naiv und kindisch erscheinen oder mag er ans Abgeschmackte anstreifen, hat der Anthropolog dennoch als religiöses Element anzunehmen, wenn derselbe sich nur irgendwie unter die Vorstellungen ausgebildeter religiöser Systeme unterordnen lässt" (II, 227). Gustav Roskoff, „Das Religionswesen der rohesten Naturvölker" 1880 sichtet auch seinerseits die Daten Lubbocks, und das ist sein Ergebnis wie das von Quatrefages : Weder ist das Material Lubbocks geeignet, noch anderes vorhanden, um die Existenz religionsloser Völker glaubhaft zu machen. Es gibt deren keine. Lubbocks Behauptungen werden im Einzelnen widerlegt. Den Australiern hatte er zwar selbst einen Glauben an die Existenz geheimnisvoller Wesen zugeschrieben („Vorgeschichtliche Zeit" II, 301 Anm.), aber ihnen doch Religionslosigkeit nachgesagt. G. Gray, Two Expeditions in Austr. II, 228, bezeugt dagegen, dass jede Familie einen Schutzgeist hat, und Waitz-Gerland, „Anthropologie der Naturvölker" VI, 794, dass sie an ein gutes Wesen glauben; Oldfield, Transactions of Ethnol. Societ. III, 208, dass sie eine grosse Zahl von übernatürlichen Wesen verehren; Prichard, Naturgeschichte des Menschengeschlechtes, VI, 277 hörte von einem Missionar in Wellington, dass selbst einem Schöpfer aller Dinge Bai-a-Mai nebst seinem Sohne Burambim jährlich ein Fest gefeiert wurde; Behr, „Über die Urbevölkerung von Adelaide" (Monatsber. der geogr. Gesellschaft in Berlin. Neue Folge. V, 91) konstatiert, dass es zwar keine Tempel, aber heilige Plätze in Australien gibt.
Gust. Roskoff.
Wilh. Schneider.
Den ersten Bewohnern von Queensland wird alles, was den Charakter einer Religion hat, abgesprochen. Aber sie fürchten den Budyah, einen bösen Geist, dem sie Honig zurücklassen, wenn sie einen wilden Bienenstock ausnehmen, und von dessen Gehässigkeit sie die Blattern herleiten (Roskoff 38). Analog widersprechende Urteile anderer Forscher oder Berichterstatter den Behauptungen Lubbocks gegenüber macht Roskoff' bis S. 110 namhaft, über die Buschmänner (42—44), die Hottentotten (44—49), Feuerländer (49—51) u. s. w. Der Glaube an böse Geister und Zauberei enthält das Gefühl der Gebundenheit, und das Moment der zurückbindenden Wirkung auf das Leben entspricht damit dein eigentlichen Sinne des Wortes „religio", darf also so genannt werden (170). Der Wilde glaubt an Zauberei, weil er auf die Gunst einer idealen freundlichen Macht hofft (171). Dagegen lässt es sich nicht zugeben, wenn Roskoff die Bangigkeit des Kindes im Dunkeln damit erklärt, es fürchte, sein Selbstbewusstsein zu verlieren (34). Das laute Sprechen will es nicht sowohl von seinem Ich vergewissern, als vielmehr seine Gedanken eben dadurch von der Furcht ablenken. Es beruht auch diese Bangigkeit durchaus auf einem Glauben an Geister oder doch an Gefahren, welche im Dunkeln schleichen, und dem Einsamen von irgend welchen unsichtbaren Mächten drohen. Und dass Furcht mit zur Religion gehört und zwar auf den niedrigen Religionsstufen als primitives, wesentlich vorwiegendes Gefühl, leugnet auch Roskoff nicht (34). Roskoffs Beweisführung ist bis jetzt unwiderlegt geblieben. M. Müller zweifelt an der Möglichkeit, sie zu widerlegen; er meint, dass damit diese Streitfrage als erledigt gelten sollte (82). Aber ihre Beantwortung im Sinne Quatrefages-Roskoff wider Lubbock hat sogar noch eine neueste Bestätigung gefunden von Wilh. Schneider „Die Religion der afrikanischen Naturvölker" 1891 mit Bezug auf diese. Gottesidee, sittliches Bewusstsein, Gewissenhaftigkeit einerseits, Geisterfurcht, Fetischdienst, Zauberei andererseits treten dem Forscher dort entgegen, so dass die einheimischen Volksstämme Afrikas gar nicht einmal auf eine sehr niedere Stufe der religiösen Entwicklung zu setzen sind. Schon der Titel ist religionsgeschichtlich und indirekt auch für unsere Frage von Interesse. Die Religion, nicht die Religionen der afrikanischen Naturvölker, nennt W. Schneider sein Buch. „Denn die bunte Mannigfaltigkeit der religiösen Vorstellungen und Übungen
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Willi. Schneider.
wird durch eine überraschende Gleichheit in den Grundanschauungen und in den Hauptgebräuchen der durch weite Ländereien von einander getrennten, in Körperbeschaffenheit, Sprache und Lebensgewohnheiten verschiedenen Negervölker beherrscht" (1). Es ist das Land, von dem seiner Zeit T. W. M. Marschall, .,Die christl. Missionen." Aus dem Engl, von C. B. Reiching. Regensb. 1863. II, 212 geschrieben hatte: „Es erscheint als eine Art von Paradoxon, von der Religion im Zusammenhange mit Afrika zu sprechen, wie wenn wir die Schneemassen des Kaukasus oder die kühlenden Ströme, welche sie entsenden, in den brennenden Sandwüsten der Sahara suchen wollten, so dass wir beinahe versucht sind, uns mit Zweifel und Furcht vor einer Untersuchung der Religionsannalen eines Landes abzuwenden, dessen Geschichte in dieser einzigen Thatsache zusammengefasst scheint, dass es nach einem Jahrtausend noch immer die Heimat des Negers ist." Es ist der „dunkle Erdteil", der auch zu dem Verzeichnis religionsloser Völker John Lubbocks einen ansehnlichen Beitrag geliefert hat. Erwähnt er die auffallende Thatsache, „dass die Algonkinsprache, obgleich sie eine der reichsten ist, keinen Ausdruck für „Liebe" besitzt und sich Elliot daher, als er ihnen im Jahre 1861 die Bibel übersetzte, gezwungen sah, einen zu erdenken"; dass „die Tinnehsprache ebenfalls kein Wort enthält, welches „Liebhaber" oder „geliebt" ausdrückt": so gilt cum grano salis, was Karl Hillebrand („Zeiten, Völker und Menschen" III, 303) bemerkt: „Von der Abwesenheit gewisser Wörter auf die Abwesenheit gewisser Ideen und Gefühle zu schliessen ist ein trügerisches Spiel, das meist irreführt." „Mit einer Vorstellung von Gott, dem Schöpfer und Herrn der Welt," erklärt W. Schneider 12, „sind auch die Negervölker vertraut, so unklar, unbestimmt und sinnlich gefärbt dieselbe . . . immerhin sein mag." „Nachdem mehr als ein halbes Hundert Negerstämme samt ihren Sprachen der wissenschaftlichen Erkenntnis zugänglich sind" (27), werden sich die Grundgedanken derselben bestimmen lassen 1 ). Keine Rasseneinteilung der afrikanischen Menschheit erfreut sich allgemeinen Beifalls. 1) In der südafrikanischen Völkerfamilie finden sich Sagen, Satzungen und Gebräuche, insbesondere ßeinigungs- und Sühnopfer, die eine Reihe von Kennern an die israelitischen erinnert haben. Der Umstand, dass die Natalkaffern sich an einen berühmten Ahnherrn ihrer Fürsten, Namens Moses, im Gebete wenden, sowie die Vermutung Merenskys, in der Gegend von Sofala sei das salomonische Ophir zu suchen, haben auf den Gedanken gebracht, die Zulu und ihre Verwandten möchten aus einer Mischung der in salomonischer Zeit eingewanderten Israeliten und Araber mit den Eingeborenen des Landes entstanden 6ein.
Der religionslose Naturmensch gehört in das Reich der Fabel.
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W. Schneider folgt daher der geographischen Gruppierung und beginnt mit Nord-Guinea. Er weist neben I Gottesbewusstsein, Schöpfungs- und Urstandssagen in Westafrika, West-, Inner- und Ostafrika II pessimistisch-spiritistische Naturauffassung, Geisterund Totenverehrung, III Fetischismus und verwandte Arten des Aberglaubens, IV Hexenwahn und Hexenverfolgung, Gottesurteile, V Dnsterblichkeitsglauben über ganz Afrika nach. Friedr. Ratzel, Völkerkunde. 1885. I, 31 urteilt: „Die Ethnographie kennt keine religionslosen Völker, sondern nur verschieden hohe Entwicklung religiöser Ideen, die bei einigen, wie im Keime, oder besser, wie in einer Verpuppung klein und unscheinbar liegen, während sie bei einem anderen zu einem herrlichen Reichtum von Mythen und Sagen sich entfaltet haben. Das Beispiel der Sprache muss uns sehr vorsichtig machen." „Von jeher", bestätigt, seine Stellung zu der Frage zusammenfassend, W. Schneider, „war man gewohnt, den Menschen als ein religiöses Wesen anzusehen und in seiner Religionsfähigkeit einen besonderen Vorzug und ein unterscheidendes Merkmal der Menschennatur zu erblicken. Ein Volk ohne alle Religion wäre ein ebenso seltsames Missgebilde wie ein Volk ohne Sprache. Ein Wesen, dessen Blick nur an der Erscheinungswelt haftet, nicht hinter oder über derselben eine zweite Welt mit Gestalten oder Mächten erspäht, die zu den sinnfälligen Dingen in Beziehung stehen, ist ein Wesen ohne menschliche Vernunft. In Wirklichkeit aber gehört der religionslose Naturmensch ebenso in das Reich der Fabel, wie der sprachlose Urmensch" (4). Th. Waitz, 0 . Peschel, G. Gerland, V. v. StraussTorney, B. Edw. Tylor, C. P. Tiele sind derselben Meinung. 3. a) Demgegenüber kann es nicht in die Wagschale fallen, wenn Julius Kaftan „Das Wesen der christlichen Religion" 2. Aufl. 1888. 2 es eine — „Thatsache" nennt, „dass zwar weitaus die meisten Mensehen Religion haben, dass es aber auch solche" gebe, „von denen es offenbar nicht behauptet werden" könne. Bis jetzt ist auch nur ein Volk der Art nicht bekannt geworden. So oft die Entdeckung religionsloser Völker behauptet worden ist, so oft ist derselben der Nachweis gefolgt, dass die gründlichere Forschung ihr widerspricht. Der etwaige Rekurs aber auf einzelne Menschen macht dagegen schlechterdings nichts aus. Gibt es kein Volk ohne Religion, so kann auch der aus seinem Schosse geborene und mit seinem gesamten Geistesleben in seinem Mutterboden wurzelnde Einzelne ursprünglich und von Haus aus nicht ohne sie sein. Ob er sich ihr S c h m i d t , Dogmatik I.
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Julius Kaftan. Otto Grüppé.
auf Grund seines freien Willens widersetzt und mehr und mehr ztt entwöhnen sucht: selbst auf diesem Wege wird und kann er es nur dahin bringen, irreligiös zu werden, aber nicht religionslos. Vielmehr bleibt seine Irreligiosität immer eine Opposition gegen die Religion, weil er sich ihrer nie völlig zu entledigen vermag. Audi die Exemplifikation auf den Taubstummen ändert an dem Thatbestand nichts. Der so gut wie unbeweisbaren Behauptung, er werde ohne direkt erziehlichen Einfluss zu keinerlei religiösen Ideen und Vorstellungen kommen, steht die aktenmässig bewiesene und immer wieder erfahrungsmässignachweisbareThatsache gegenüber, dass er sich durch diesen Einfluss zu religiösen Empfindungen und Rücksichten bilden lässt. Ohne Anlage wäre das dem geschicktesten Erzieher unmöglich. Ausbilden lässt sich nur, was der Anlage, der Potenz nach vorhanden ist. Ohne diese gegebene Anlage mag eine Abrichtung, eine Dressur gelingen, und man hat es auf diesem Gebiete mit einzelnen Exemplaren dazu besonders geeigneter Tierarten ziemlich weit gebracht, aber zu einer Abrichtung in der Religion ist es nirgends gekommen. Religiöse Abrichtung ist eine contradictio in adjecto. Die Natur der Religion schliesst eine Abrichtung aus. b) Aber eben diese Anlage wird bestritten. Gerade wider sie beruft sich Otto Gruppe auf den Taubstummgeborenen als Gegeninstanz („Die griechischen Cuite und Mythen in ihren Beziehungen zu den orientalischen Religionen" I. 1887). Ein übrigens ganz gesunder Taubstummer, fragt er, wird er sich ohne Unterricht eines religiösen Objektes bewusst werden? und Sehnsucht empfinden, sich mit ihm in Verbindung zu setzen? Wird sich diese Sehnsucht zur Hoffnung verdichten? Vollends würde er wohl dem vorgestellten religiösen Objekt zu Liebe Öl oder Fleischstücke im Feuer verbrennen? die Sonne mit erhobenen Händen ansingen und sich vorstellen, dass Ahnen einst an einem glücklichen Ort wohnten, an den auch er gelangen muss ?• Das alles waren Vorstellungen, die zu allen oder doch sehr vielen Religionen gemeinsam gehören (257). „Er würde nichts von alledem tliun." Aber vielleicht treten bei ihm jene hemmenden Umstände ein, die alle Anlage in der Entfaltung hindern ? Aber er war j a sonst gesund; nur dass er keine religiösen Mitteilungen von anderen empfing (258). Indessen woher weiss denn Gruppe, dass der übrigens ganz gesunde Taubstumme, „von alledem nichts thun würde"? Ermitteln Hess sich das doch nur auf dem Wege des Experimentes und zwar einer ganzen Reihe von Experimenten, um jeden Zweifel aufzuheben.
Der Taubstummgeborene als Gegeninstanz.
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Das Experiment ist aber ein in diesem Falle unanwendbares Auskunftsmittel. Sowohl aus moralischen als aus physischen Gründen. Aus jenen, denn es widerspricht der Würde der Persönlichkeit, mit ihr und noch dazu lebenslang zu experimentieren. Aus diesen, denn wenn der Begriff Unterricht nicht etwa auf den methodischen Lehrplan der Schule beschränkt wird, ist es unmöglich, einen Menschen Zeit seines Lebens gegen unterrichtliche Einflüsse in irgend einem Sinne abzuschliessen. Man müsste ihn schon gegen allen Verkehr mit Menschen sicher stellen, aber eben damit würde auch der Entfaltung seines Geisteslebens überhaupt eine unnatürliche Hinderung bereitet und entscheidender Abbruch gethan, so dass das Ergebnis nicht als massgebend und noch weniger als normal gelten könnte. Der Satz: „Er würde nichts von alledem thun" ist also eine Vermutung, eine unverbindliche und unmassgebliche Privatmeinung Gruppes. Denken wir ihr gleichwohl noch einen Augenblick nach. Also ein übrigens ganz gesunder Taubstummer in einem Stamm oder Volk, das Öl oder Fleischstücke im Feuer verbrennt und die Sonne mit erhobenen Händen ansingt, ist der Gegenstand unserer Observation. Niemand sagt ihm, dass jenes wie dieses ein kultischer Akt ist und einen religiösen Sinn hat. Und wenns ihm einer sagte, er hört's ja nicht, und ebenso wenig kann er danach fragen. Gab es schon Schriftzeichen, so wird doch auf sie für den Taubstummen dieser Stufe als Unterweisungsmittel nicht gerechnet werden dürfen. Jedenfalls reflektiren wir nicht auf sie. Aber ungeachtet alles dessen sah er doch die Ceremonie, den Vorgang, den oft wiederholten Akt: er sah die zur Sonne erhobenen Hände, sah Öl und Fleisch im Feuer verbrennen. Ist er übrigens, also auch geistig, ganz gesund gewesen, so lässt sich unmöglich annehmen, dass er sich bei diesem wiederholten Anblick nichts gedacht habe; sondern dass sein religiöses Empfinden daran erwachte und sich nach und nach in derselben Weise genug that. Freilich war das auch eine Art Unterricht, nur durch das Auge, und wie sich unsere religiöse Anlage aktualisiert, wird freilich immer davon abhängen, auf welcher religiösen Entwicklungsstufe sieh unsere Umgebung befindet. Aber ohne diese Anlage würde es überhaupt, auch nicht auf dem Wege des Unterrichtes, zu einer Äusserung oder Nachahmung kommen. Fr. v. Hellwald, „Kulturgeschichte in ihrer nattirl. Entwicklung bis zur Gegenwart" I 3 1883. 34 leugnet die Anlage nicht. Aber er lässt sie erst auf dem Wege der Transmutation erworben worden sein. Der modernen Naturauffassung, sagt Gruppe, würde es zwar nicht widersprechen,
Otto Gruppe: Es gibt keine religiöse Uranlage. dass der menschliche Geist in fortgesetzter Zuchtwahl eine Beschaffenheit gewonnen habe, die ihn zwingt, religiöse Begriffe aus sich selbst herauszubilden; dass diese religiösen Begriffe ihm also angeboren sind. Aber die Erfahrung lehre es jeden, der sich belehren lassen wolle, dass im Gegensatz gegen die sich von selbst einstellenden Bedürfnisse und Triebe der Ernährung, der Ruhe, der Fortpflanzung das religiöse Gefühl nicht angeerbt, sondern anerzogen und von aussen mitgeteilt werde (258). Freilich ein Bedürfnis, wie diese leiblichen, ist. es nicht, denn es gehört lediglich dem Geistesleben an. Aber eben deshalb beweist die Parallelisierung nichts, ist vielmehr ein Einschlag, der selbst erst des Beweises bedürfte. Von der v. Hellwaldschen Erklärung der Anlage gilt allerdings genau dasselbe. Jene Triebe, fährt Gruppe fort, sind für die Erhaltung der Gattung notwendig. Darum müssen sie sich von selbst einstellen. Ovdev yäg r\ cpvoi? noisi judrtjv. Weil es an einem Antrieb dafür fehlte, dass die religiösen Begriffe erblich wurden, deshalb vererben sie sich wirklich nicht. Woher Gruppe dieses „weil" weiss, verrät er uns wieder nicht. Es ist die Eigentümlichkeit seiner „exakten" Methode, dass sie mit unbewiesenen Voraussetzungen als Axiomen operiert und — beweist. Als vererblich will er „höchstens eine mehr oder minder abnorme Schwäche" einräumen derjenigen Seite des menschlichen Verstandes, welche in normalem Zustande die Fortpflanzung der Religion erschweren würde, — eine Schwäche, die sich erst innerhalb der gewordenen Religion entwickeln konnte, für das Werden der Religion aber ganz gleichgiltig ist. Folglich gibt Gruppe die Annahme einer bestimmten religiösen Uranlage des Menschengeschlechtes auf (258). J a sogar eine unbestimmte aktive religiöse Uranlage, wie die Evolutionisten und Transformationisten annehmen, werde dadurch unmöglich. Legten diese im Unterschied gegen die antiken Erklärungsversuche die Ausbildung der religiösen Begriffe nicht in das Leben des einzelnen Menschen, sondern in die Geschichte der Völker und geständen damit zu, dass die Religion von aussen mitgeteilt werden müsse, so Hessen sie doch die Konsequenz dieses Zugeständnisses, dass es nämlich eine religiöse aktive Anlage nicht gebe, immer wieder ausser Acht. Allgemein menschlich sei nicht eine bestimmte Religion, auch nicht eine bestimmte religiöse Anlage, auch nicht ein bestimmter aktiver Trieb zur Religion, sondern eine passive Potenz, eine Empfänglichkeit, nicht eine Kraft. Pfleiderer, Jahrbücher für prot. Theologie, I, 70, spreche zwar aus, dass die religiöse Anlage im Grunde nichts weiter enthalte, als die Möglichkeit,
Otto Gruppe: Das ungeteilte Menschengeschi, hatte keine Religion.
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dass der Mensch zur Religion kommen konnte, verfolge aber diesen Gedanken nicht weiter. Richtiger wird man sagen müssen, nur nicht im Sinne Gruppes, einfach deshalb nicht, weil der Gedanke Pfleiderers eben doch erheblich tiefer gefasst und besonders nicht auf dem positivistischen Boden gewachsen ist. Der menschliche Geist, sagt Gruppe, sei der Nährboden für das religiöse Gefühl, aber es müsse in ihn hineingelegt werden. Die Religion liege nicht im Menschen. Aus einer rein passiven Fähigkeit sei die Konformität der Bildungen noch viel weniger erklärbar, als aus einem aktiven Triebe. Das ungeteilte Menschengeschlecht habe d e m n a c h © keine Religion, auch keinen religiösen Trieb besessen, f o 1 g 1 i c h (!) konnte sie auch keinen vererben. D a h e r (!) erklärte es sich, dass die Religion zwar weit, aber keineswegs allgemein verbreitet sei. Die Völkerkunde wisse von zahlreichen Stämmen, welche zu einer religiösen Bildung auch nicht einen Anfang gemacht hätten. Die modernen Apologeten bestritten das und fassten den Begriff weiter, als es je von den Angreifern der Religion geschehen sei, sobald es gelte, die Religion als etwas allgemein Menschliches hinzustellen; während sie sonst sehr viel in ihn hineinzulegen wüssten. Daran ändere es nichts, wenn Pfleiderer zwar den nicht religiösen Charakter von manchen heutigen Wilden geübter angeblicher Kulthandlungen anerkenne, zugleich aber eben darin degenerirte Reste einer ursprünglichen wirklichen Religion sehe. Da die Rückbildung natürlich nicht in allen Fällen nachgewiesen werden könne, werde mit diesem Zugeständnis auf den empirischen Nachweis, dass die Religion allgemein menschlich sei, einfach verzichtet (260). Aber man sollte doch vielmehr meinen, wenn die Degeneration nur irgendwo nachgewiesen werden könnte, wäre das im Prinzip schon entscheidend. Und thatsächlich gehen doch die nachweisbaren Spuren durch die ganze Religionsgeschichte und lassen sich nach jeder Reformation in jeder Entwicklungsphase selbst bis in das Christentum von heute hinein verfolgen. Oder ist die süditalienische Form des Katholizismus, die er in dem niederen Volke angenommen hat, etwas anderes als Degeneration? Bei genauerer Einsicht in die Eigenart der fraglichen Kulte wilder Stämme stellt sich ein so merkwürdiges Zusammen von heterogenen religiösen Vorstellungen heraus, dass die degenerativen Rudera besserer Zeiten unverkennbar sind und eine andere Erklärung schlechthin versagt. Freilich kommt alles darauf an, was man unter Religion versteht, und eine zu Grunde gelegte bestimmte Formel verändert j a allerdings das Urteil, welches auf eine andre hin gefallt worden ist.
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Otto Gruppes Urteil über relig. Glauben.
Gruppe definiert: Religiöser Glaube ist Glaube an einen Zustand oder Wesen, welche zwar eigentlich ausserhalb der Sphäre menschlichen Strebens und Erreichens gedacht werden, aber auf besonderem Wege, etwa durch Opfer oder dgl., in diese Sphäre gerückt werden können. Der Glaube an Wesen oder Zustände ist gemeint, fügt er erläuternd hinzu, natürlich nicht die nach der heutigen oder irgend einer in Zukunft möglichen Erkenntnis, sondern solche, welche nach dem Glauben der Gläubigen selbst ausserhalb der Sphäre der realen Welt liegen. Der Gegensatz der angenommenen Wesen oder Zustände zu der gewöhnlichen Welt muss zu einem, wenn auch dunklen Bewusstsein kommen. Hier allein liege das Problem. Wo dies Bewusstsein fehle, könne nicht von einer Religion, sondern nur von einem falschen Induktionsschluss die Rede sein. Der Fischer, welcher wiederholt erlebt habe, dass am Tage Simonis und Judae Leute im See umkamen, und deshalb generalisiere, an diesem Tage fordere der See ein Opfer, nehme zwar auch eine Macht an, die, wenn sie existierte, nach den heutigen meteorologischen Kenntnissen ausserhalb der gewöhnlichen Weltordnung stehen würde: aber religiös sei sein Glaube erst dann, wenn er ahne, dass die Macht, die das Leben an dem bestimmten Tage verlange, von den berechenbaren Naturmächten irgendwie verschieden sei. Und selbst wenn zum Schutz der anderen ein lebendes Wesen an einem solchen Tage von einem Fischerdorfe in den See geworfen würde, wäre das nicht eher religiös, als bis sich die wenn auch dumpfe Überzeugung einstelle, dass das Hineinwerfen eines Hundes, einer Katze oder eines Menschen die gewünschte Wirkung nicht natürlich, sondern erst haben könne durch einen unbegreiflichen Vorgang im Innern jener Macht selbst. Erst dann werde jenes Hineinwerfen ein eigentliches „Opfer". Wie diese zum Zustandekommen eines wirklichen religiösen Aktes notwendige Überzeugung von der Aufhebung der natürlichen Gesetze überhaupt habe entstehen können, das sei das eigentliche Problem und das entscheidende Merkmal, an dem die Religion erkannt werde. Nun würden von Reisenden und Missionaren berichtete Akte und Meinungen, welche unter Umständen in religiöser Form aufträten, überall, wo sie aufträten, dafür angesehen, ohne es zu sein. Es seien also nicht nur da nicht religiöse Vorstellungen anzunehmen, wo sie von Berichterstattern geleugnet würden; sondern selbst da, wo sie behauptet würden, liege häufig ein Irrtum vor. So angesehen würden die Einwände von Quatrefages und Roskoff wider Lubbock hinfällig. Wie sollte es auch
Zeugen für eine allgemeinmenschliche Anlage zur Religion.
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anders sein, da die Fähigkeit, das Ich und die es umgebende äussere Welt als Einheit zusammenzufassen und diese Einheit einer anderen Welt entgegenzustellen, selbst in ihren ersten Anfangen eine gewisse Abstraktionsfähigkeit erfordere, die der Mensch nicht mitbringe, sondern erwerben müsse. Und was das Entscheidendste sei gegen die Annahme, dass die Religion allgemein menschlich sei, selbst innerhalb unzweifelhaft religiöser Völker gäbe es viele einzelne völlig irreligiöse Individuen, „einfach weil sie jene Abstraktionsfähigkeit nicht besitzen" (262). Aber wie vielen Christen selbst von heute mag diese Abstraktion sehr fern liegen: wird man ihnen deshalb die Religion absprechen? Der Bericht wird genügen, um den Schluss zu rechtfertigen, dass die so motivierte Bestreitung der Universalität der Religion keine ist ausserhalb des Bannkreises der Gruppe'schen Definition, und so über sie füglich zur Tagesordnung gegangen werden darf. In der Religion haben wir es also mit einem allgemein und nur menschlichen Datum zu thun, welches eine allgemein und nur menschliche A n l a g e z u r Religion als unerlässliche Lebensbedingung voraussetzt. 1) Im Altertum hielten die Weltweisen die Erkenntnis und Verehrung höherer Wesen für so natürlich und gleichsam so unzertrennlich von der menschlichen Natur, dass sie dieselbe nicht nur für allgemein verbreitet erklärten, sondern auch aus dieser Allgemeinheit einen Beweis für das Dasein höherer Wesen entnahmen. So Cicero Quaestiones Tusculanae I, 13: „Cur Deos esse credamus? Quod nulla gens tam fera, nemo omnium tam sit immanis, cujus mentem non imbuerit deorum opinio." De nat. deor. 1, 16, 17: intellegi necesse est, esse deos, quoniam insitas eorum vel potius innatas cognitiones habemus." Selbst Epicur hält die Vorstellungen von Göttern für angeborene. Nur die Skeptiker und die neue Akademie fragen, woher man denn wisse, dass alle Völker an Götter glauben. — „Religiös sind," erklärt Wundt, Ethik. 1886. 41, .alle diejenigen Vorstellungen und Gefühle, die auf ein ideales, den Wünschen und Forderungen des menschlichen Gemütes vollkommen entsprechendes Dasein sich beziehen." „Dass der Mensch je ohne ein solches Bild eines vollkommenen Daseins existiert habe, oder dass er dereinst auf einer fortgeschrittenen Kulturstufe desselben entbehren werde, ist eine Annahme, deren Wahrscheinlichkeit mit der Wahrscheinlichkeit einer fundamentalen Änderung der menschlichen Natur steht und fällt. So lange eine solche nicht nachgewiesen ist, bleibt die Behauptung der Existenz „religionsloser" Völker ungefähr gleichbedeutend mit der in der älteren Ethnologie zuweilen ilmgegangenen Sage von dem Vorkommen sprachloser Stämme." Aber selbst A. Comte, „Cours de philosophie positive", erklärt von der Meinung eines religionslosen Urstandes des Menschen: „Cette opinion doit nécessairement résulter d'une fausse appréciation des faits" (V 34). Alle Reiseberichte über angeblich religionslose Völker machten diesen Fehlschluss daraus, dass sie keinen organisierten Kultus, kein Priestertum fänden. Entscheidend dagegen, dass es irgendwo Stämme ohne irgend welche religiöse Gedanken gebe, sei „ce grand princip, fourni à la socio-
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§ 11: Die Natur der Religion.
§ 11. Die Natur der Religion. R e l i g i o n i s t G o t t e s e r k e n n t n i s und G o t t e s v e r e h r u n g in g e g e n s e i t i g e r B e d i n g t h e i t : w i r k s a m e G o t t e s e r k e n n t n i s . 1. Worin besteht nun die eigentümliche Natur der Religion? Was ist Religion? Keine Frage ist ventilierter und umstrittener, und doch liegt diesem Mancherlei von Antworten eine gewisse einheitliche Auffassung zu Grunde. Der Begriff, um dessen Ermittelung es sich handelt, ist, wie schon bei der Frage nach der Universalität, nicht der einer der irgendwo und irgendwann nachweisbaren Religionen, auch jetzt noch nicht etwa der christlichen, sondern der dessen, was alle Religionen der Welt irgendwie gemein haben. Es gilt, das Wort dem Sprachgebrauch gemäss so zu erklären, dass seine Anwendung überall da, wo er sie hat., verständlich wird. So fordert es C. Meiners, Hofrat und ord. Prof. der Philosophie in Göttingen, in seinem zweibändigen Werke : „Allgemeine kritische Geschichte der Religionen", Hannover 1806 von dem Geschichtschreiber der Religionen, dass sein Religionsbegriff sich ebensowohl auf falsche wie auf wahre, auf ein- wie auf vielgöttische Religionen anwenden lasse, und definiert nun seinerseits Religion als E r k e n n t n i s und V e r e h r u n g einer oder mehrerer verständiger Naturen, welche auf die Handlungen der Menschen achten und diese Handlungen bald belohnen, bald bestrafen (5). Eine blosse Erkenntnis höherer verständiger Naturen mache noch keine Religion aus. Darauf weise schon Cicero Epicur gegenüber hin, dass, wenn dieser behaupte, er ehre die ewigen und seligen Wesen um ihrer Vortrefflichkeit willen ohne Furcht und Hoffnung, an dem Wesen solcher in sich selbst versunkener Götter nichts Vortreffliches sei (denat. deor. I, c. 43, 121): „Quid enim est melius aut quid praestantius boni täte et beneficentia?" Und man wird hinzufügen dürfen, dass die epicurische Scheidung psychologisch unmöglich ist. Es bliebe so unverständlich, wie eine solche Erkenntnis entstehen, als wie sie sich im täglichen Leben „erhalten und behaupten sollte. „Quae potest esse pietas, quae sanctitas, quae religio" (c. 2)? M. Müller (nat. Rel. 51) weist dem logischen Einwand Gustav Teichmüllers „Religionsphilosophie" 1886, 16 gegen die analoge Defilogie par la biolog'ie, que toujours et présenter, à tous égards l e s m ê m e s pu successivement différer en aucun loppement et leur mode correspondant
partout l'organisme humain a dû b e s o i n s e s s e n t i e l s , qui n'ont cas, que par leur degré de dévede satisfaction" (34).
Religion: modus cognoscendi et colendi Deum.
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nition, die sich der weitesten Verbreitung unter christlichen und nicht christlichen Theologen erfreue: „Modus cognoscendi et colendi Deum" 1 ), eine Definition dürfe den zu definierenden Gegenstand nur auf e i n genus proximum, nicht auf zwei zurückführen, gegenüber darauf hin, dass auch andere Begriffe, welche zwei Seiten hätten, erst durch die Zusammenfassung dieser beiden Seiten als den Seiten eines und desselben Begriffes vollständig würden, wie etwa der der Logik selbst erst dadurch, dass wir sie als Erkenntnis und als Kunst definieren. Aber bei der Religion sind es genau genommen nicht einmal eigentlich zwei Seiten, durch deren Zusammenfassung der Begriff erst vollständig würde; sondern die Eigenart der Religion bringt es mit sich, wenn man nur den Begriff des colere nicht lediglich als äusserlichen Akt, als Händewerk und Lippendienst fasst, sondern als wesentlich innerlichen, als Herzensdienst, dass es keinen so geübten Kult Gottes gibt ohne Erkenntnis und keine Erkenntnis ohne dieses colere. Vgl. Job. 7. 17. Es sind nicht sowohl zwei Seiten, die der Zusammenfassung bedürften, sondern es ist das eine Wesen oder auch die eine Seite, die für das Auge, für den Beobachter auch seiner selbst, in zwei Erscheinungen zu Tage tritt. Religion ist beides, cognoscere und colere deum, aber nicht als ein Nebeneinander, sondern als ein In- und Miteinander, ja als ein Durcheinander beider. Erst im colere weitet und vertieft sich der Blick in das Wesen Gottes, und ein so bedingtes cognoscere ist zugleich selbst und unmittelbar der innerlichste und umfassendste Kult, für den es keine Ressortgrenzen gibt, denn Kopf und Herz sind in ihm eins. Das ist der tiefe Sinn der neuerdings viel angefochtenen und als antikheidnische Vorstellung gebrandmarkten „Betonung des Erkennens" in der vor-ritschlschen Theologie (J. Kaftan, „Brauchen wir ein neues Dogma?" 2 67), „die einen so wesentlichen Anteil an der Entstehung des alten Dogmas" gehabt habe. Es ist für die Richtigkeit unserer Auffassung entscheidend, dass thatsächlich sowohl unsere Gotteserkenntnis als auch unsere Gottesverehrung mit demselben Namen bezeichnet, Religion genannt wurden. In diesem Sprachgebrauch kommt das Bewusstsein auf das Bestimmteste zum Ausdruck, dass das eine nicht ohne das andere ist und sein kann, dass in jedem 1) Franz Buddeus, instit. theol. dogm.: Religion = agnitio et cultus seu veneratio Dei. Storr, doctr. Christ, pars theoretica: das Wesen der Religion = agnoscere et colere Deum. Wegscheider: Historisch angesehen ist die Religion modus certus numen qualecunque cognoscendi et colendi. Philosophisch eine Gemütsverfassuug auf Gott hin.
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Pa. 139, 24. Hosea 6, 6. Apg. 19, 9.
von beiden, in der Gotteserkenntnis sowohl wie in der Gottesverehrung das Ganze dessen, was das Wort Religion bezeichnet, gegeben und enthalten ist. Damit hat die Definition nicht nur eine „historische Berechtigung" (M. Müller 52), sondern eine tief innerliche, in dem Wesen der Religion selber begründete. Die ganze Eigenart der Religion findet darin ihren um so adäquateren Ausdruck, und der ganze Tiefsinn der Definition wird um so deutlicher, je mehr oder wenn man das et — cognoscendi et colendi — nicht sowohl kopulativ als epexegetisch fasst und versteht. Denn es ist nicht nur so, wie M. Müller zu ihrer Verteidigung sagt (52), „dass die Bethätigung der Religion in der Gottesverehrung und Sittlichkeit jedenfalls a n f a n g s von religiöser Erkenntnis sich nicht trennen lässt, während andererseits die religiöse Erkenntnis eben ihrer Natur nach in den m e i s t e n Fällen zu religiösen Handlungen hinführt", sondern es ist beides i m m e r so, wo und wenn die Religion ihrem eigentümlichen Charakter nach, in dem Vollsinn ihres Wesens und nicht nur als Schemen, vorhanden und da ist. 2. Schon das a. T. gebraucht ,,Erkenntnis Gottes" ßTtbN n»^ — neben rrtrp nin* Furcht Gottes, cpößog &eov, irrs» Verehrung Gottes, dovXeia, Xaxqeia, 'frorjoxda, auch gelegentlich tj-pi, so ps. 139, 24: übia» r]-n ewige Weg im Gegensatz zu aap rpn Götzendienst und rosaa äXtfdeia, nioxig — in diesem Tief- und Vollsinn von Religion. So Hosea 4, 1: „Höret, ihr Kinder Israel, des Herrn Wort" y-iNn ""Spi-D» nii-pb r n -'s via rnrp—ia-i lyauj „denn der Herr hat Ursache zu schelten, die im Lande wohnen; denn es ist keine Treue, keine Liebe, keine Erkenntnis im Lande" y-iN: tjvi'rtt n y — f w non-^Ni n»N " l ^ o . Wenn möglich, noch deutlicher und bestimmter im Vollsinn der Religion als der durchaus gleichwertige parallele Ausdruck von Liebe: Hosea 6, 6: „Denn ich habe Lust an der Liebe und nicht am Opfer; und an Erkenntnis Gottes und nicht am Brandopfer" nat-N'n Tisen n o t r o : m'rya Im n. T. findet sich neben Ausdrücken, wie odog, so schlechtweg im Sinne von christlicher Religion Apg. 19, 9. „Da aber etliche verstockt waren und nicht glaubten und übel redeten von dem Wege vor der Menge": „ x a x o X o y o v v x e g xrjv odov ¿vcomov rov nXij&ovg", ebenso v. 23: „Es erhub sich aber um dieselbige Zeit nicht eine kleine Bewegung über diesem Wege" „xagaxog ovx oXiyog TIEQI Xijg odov" und 9, 2 : „und bat ihn um Briefe gen Damaskus an die Schulen, auf dass, so er etliche dieses Weges fände" öncog lav xivag EVQU xrjg odov ovxagl'\ wie i^QRJOXEIA Jac. 1, 27,
Joh. 4. 24. Joh. 17, 3, 1. T i m . 3,
¿vaeßeia xal
16
die
äXfj'&eiq jiQoaxvveiv"
bezeichnende
Joh. 4,
139 Wendung:
„iv
nvivpimi
Das nQOOxvveiv, das colere
24.
muss selbst ein innerlicher A k t , muss mit dem cognoscere eins geworden sein, um religiöses ngoaxweiv (Joh. 4, 24).
. . . . dei TiQoaxvveiv"
hin einwandfreien Bestätigung
zu werden: „xob?
jiQoaxvvovvrag
Ja zur vollkommenen,
dieser
schlecht-
unserer Auffassung und
des
plerophorischen Tiefsinns von yiyvcoaxeiv als des erschöpfenden Beg r i f f s von Religion
dürfen
wir
endlich
auf Joh. 17, 3
verweisen.
I m Gebet fallen die Hüllen, lösen sich die Schleier, hört das Sprichund Gleichniswort auf.
In dem Verkehr mit der Menge, mit dem
Geschlecht seiner T a g e ,
mit den an die Sprache
die
immer
von
der
irdischen Umgebung
der Anschauung,
ausgeht und anhebt, ge-
wöhnten und beinahe gebundenen Menschenkindern hatte auch der Eingeborene vom Vater in Gleichnissen geredet und, um lich zu werden, reden müssen. bet sich an den h. Gott,
als
Wo
verständ-
er im hohenpriesterlichen Ge-
der Sohn
an
seinen Vater,
wendet:
da bedarfs keiner Zeichensprache, da kommt das W e s e n der Dinge zum adäquaten Ausdruck. das
da
bleibt,
das
nicht
das
wieder
R e l i g i o n ist L e b e n mit Gott, ein L e b e n ,
im Diesseits
aufhört:
beginnt
und im Jenseits besteht,
fcoij alcovtog.
Und w o es sich darum
handelt, dieses L e b e n nach Inhalt und F o r m zu nennen, in seinem Wesen
auszusprechen,
da
lautet
der
yivtbaxmai
ae TOV JUOVOV äXrj'&ivov &eov
XQIOTOV."
Wenn
n. T . selbst gibt, Heiligen Gottes
man
will,
adäquateste Ausdruck: ,,'iva xal
die Definition
änsoTeiXag
'Irjaovv
von Religion,
ov
die das
die von der massgebendsten Stelle, die von dem selbst
nicht
nur
auch nicht eigentlich formuliert,
approbiert sondern
und legitimiert,
aber
aus der eigensten Erfah-
rung bekannt, aus dem Herzen, das immer blieb in dem, was seines Vaters
ist,
cognitio.
ausgeströmt
wird:
ytyvmaxeiv,
emyvcoaig;
cognoscere,
Auch wenn die L e s a r t : erkennen müssen den Vorzug ver-
dient und behauptet, bleibt das Ergebnis für unsere F r a g e dasselbe, w i r d dadurch nichts an ihm geändert 1 ).
1) Ich möchte nicht sagen mit v. d. Goltz „Die Gemeinschaft der Heiligen". Vortrag auf der Allianzversammlung in Berlin 1893, „das altkirchliche Taufbekenntnis in seiner tiefen Einfalt und sinnigen Ordnung" eigne sich „zur begrenzenden Formel zwischen dem, was noch als christlich anerkannt werden darf," „in seinem Wortlaut nicht." „Denn für diesen Zweck enthält es teils zu wenig, weil der Ausdruck für die innerliche Seite der christlichen Heilswahrheit und Heilsordnung fehle, teils zu viel, weil in der auf uns gekommenen Gestalt Wesentliches und minder Wesentliches in den Gegenständen des Glaubens ohne Unterscheidung äusserlich neben einander gestellt ist." Aber ist denn nicht das Ganze
140
Die Probe der Definition des n. T. an anderen Religionen.
§ 13, Die Probe der Definition des n. Testam. an anderen Religionen. Die D e f i n i t i o n b e w ä h r t sich als Gattungsbeg r i f f der R e l i g i o n und b l e i b t a n w e n d b a r auf a l l e ihre Speeies. 1. Aber, wird man einwenden, das mag auf der vollkommensten Stufe religiöser Entwicklung, wie sie im Christentum gegeben ist, zutreffen: aber sollte denn nicht eine Definition erstrebt werden, die alle religiöse Lebensbewegung, die alle religiösen Lebenserscheinungen in den verschiedenen Stadien der Entwicklung, es sei fortschreitender oder etwa rückgängiger, mit berücksichtigte und irgendwie auf sie alle anwendbar sei? Freilich ist das der berechtigte Anspruch, den man an die Fixierung des Gattungsbegriffs Religion wird stellen müssen; und eben ihm meinen wir so gerecht geworden zu sein. Giebt es überhaupt einen Gattungsbegriff Religion, d. h. doch ein Gemeinsames in allen Religionen, und der Sprachgebrauch setzt das augenscheinlich voraus, indem er von der Religion bei gewissen Erscheinungen sowohl bei den Natur- wie bei den Kulturvölkern, bei Heiden, Juden und Christen spricht: so wird man von vorn herein annehmen, dass dieser Gattungsbegriff auf der christlichen als der höchsten Stufe der religiösen Entwicklung nicht nur seine vollkommenste Ausprägung finden, sondern zugleich die entscheidurch den beherrschenden Gedanken: „Ich glaube" im Tiefsinn dieses Wortes nach der Schrift, der Sache nach dasselbe, wie das yivwoxziv, g a n z ausschliesslich von der innerlichen Seite gefasst und schlechterdings einschliesslich der Ordnung nichts Aeusserliches dabei? Wer will und worauf kann es irgend ein Zeitgenosse von heute behaupten, dass die Urgemeinde das „ich glaube" in einem lediglich äusserlichen und so ganz unbiblischen, dem n. T., das doo.h eben damals auch erst sich konsolidierte, fremden, absolut fremden, j a sogar Jac. 2 bekämpften und den „Teufeln" zugeschriebenen Sinn gemeint habe? Denn wer die innerliche Seite der christlichen Heilswahrheit und Heilsordnung in diesem „feierlichen Ausdruck des gemeinchristlichen Glaubens" lind zwar seitens der bekennenden Urgemeinde vermisst u n d in der Ordnung derselben ein äusserliches Nebeneinander der Gegenstände des Glaubens ohne Unterscheidung von Wesentlichem und minder Wesentlichem sieht: wie und mit welchen Mitteln u n d Beweisgründen könnte er die gleiche äusserliche Auffassung auch der Gemeinde vom A n f a n g imputieren und es glaubhaft machen, dass auch sie, die doch, die eigentlich vermittelnde Trägerin des Evangeliums als einer Kraft Gottes, selig zu machen alle, die „daran glauben", es mit immer wachsendem Erfolge einer heidnischen, feindseligen Welt gegenüber vertrat, über die Stufe des äusserlichen Verständnisses nicht hinausgekommen oder noch richtiger so frühe und gleich von H a u s a u s auf diese herabgesunken sei?
Ohne innerlichen Impuls würde sich die ttel. nirgends behaupten.
141
dendste Probe auf die Richtigkeit seiner Fassung zu bestehen haben wird. Dass die Religion überall in einer innerlichen Gewissheit ihr eigentümliches Wesen und das treibende und erklärende Prinzip ihrer Erscheinungen hat, also im Grunde ein cognoseere, das zugleich ein colere, oder ein colere ist, das seinen religiösen Wert und Charakter lediglich als innerlicher oder doch innerlich bedingter Akt hat: muss schon aus der Macht geschlossen werden, mit der sie sich, wenn auch für unsere Überzeugung vielfach in noch so verkehrter Weise, überall durchsetzt und den Menschen unter Umständen zu Handlungen bestimmt, die ihm die grösste Entsagung kosten und die schmerzlichsten Opfer auferlegen. So die wildesten wie die gebildetsten Völker verstehen sich dazu, ohne Zwang und Drang von Aussen, in weiten Kreisen aus innerlichem Impuls, aus innerer Nötigung, die sich den widerstrebenden Affekten und Neigungen gegenüber durchsetzt. Keine äussere Autorität wäre im Stande, dies in aller Welt zu wege zu bringen. 2. Aber auch die Sprache bestätigt diesen wesentlich und entscheidend innerlichen Charakter aller Religion. Ciceros Herleitung des Wortes von relegere im Sinne von „wiederholt durchdenken" deutet schon darauf hin; aber seine Erklärung im Zusammenhang lässt gar keinen Zweifel. „Qui omnia quae ad cultum deorum pertinerent, diligenter retractareut et tamquara relegerent, sunt dicti religiosi ex relegendo, ut elegantes ex elegendo, tamquam a diligendo diligentes, ex intelligendo intelligentes : his enim in verbis omnibus inest vis legendi eadem, quae in religioso" Cic. de nat. Deor. II, 28 '). Es ist also augenscheinlich von wiederholter g e i s t i g e r Thätigkeit die Rede. Den Ausdruck cultus in der Verbindung: „ad cultum deorum" etwa nur im äusserlichen Sinne der Zeremonien zu verstehen, ist ganz unmöglich. Es ist der Begriff der „Verehrung" in dem ganzen Umfang unseres Sprachgebrauchs dieses Wortes, dem das innerliche Moment eigen1) Für die sprachliche Richtigkeit spricht die ganz sichere und regelmässige. Ableitung von Substantiven auf 10 von Verben der 3. Konjugation, so regio, contagio, oblivio und besonders legio, gleichfalls von legere. Für die Wirklichkeit dieser Herkunft von religio spricht auch der aus einem alten Gedichte citierte Vers des Nigidius Figulus, eines Zeitgenossen Ciceros, in den „noctes atticae" 4, 9 des röm. Schriftstellers Aulus Gcllius um die Mitte des 2. Jahrhunderts, der in ihnen 20 Bücher seiner Excerpte herausgegeben hat: „Religentem esse oportet religiosum nefas." Augustin de civit. dei 10, 4 macht aus dem religere ein reeligere (sc. deum, quem amiseramus).
142
t>as Wort Religion bestätigt ihren innerlichen Charakter.
tiimlich bleibt. Bezeichnend dafür und für den geistigen Charakter der Religion ist der andere Satz Ciceros Tusc. 1, 26, der sie geradezu auf die Philosophie zurückführt: „Philosophia nos primun ad deorum cultum erudivit." Aber auch ciceronianische Wortverbindungen, wie „ad officium religio duceret"; „omnera religionen f u n d i t u s tollere"; sowie die direkte Auskunft, „pietatem et religionem versari in a n i m i s " , bestätigeil das. Die Definition: religio est, quae superioris cujusdam naturae, quam divinam vocant, curam cerimoniamque affert, Cic. de inventione II 53. 161 spricht nicht dagegen, wenn nicht cura tautologisch als Synonymon von cerimonia genommen wird, sondern im Sinne von innerer Fürsorge und Liebe, in der es gebräuchlich ist. Auch steht neben ihr in demselben Buch de inventione II, 22. 66 die andere Definition: „religionem eam, quae in metu et cerimonia deorum est, appellant," wo die Furcht, wie man sie immer auch fassen mag, das innere Moment wahrt. Auch wenn der ehemalige Lehrer der lateinischen Beredtsamkeit, der erst später zur christlichen Kirche übergetreten, in Gallien Lehrer von Konstantins Sohn Crispus 312—315 n. Chr. war, Lact a n t i u s ' ) religio von religare ableitet, kann er darunter im Grunde nichts anderes verstehen als eine innere Gebundenheit an Gott, deren sich der Mensch irgendwie bewusst wird. Selbst die lautlich unhaltbare Etymologie, welche Gellius IV, 9 dem Masurius Sabinus in dessen Kommentar De indigenis zuschreibt, von relinquere, „quod propter sanctitatem aliquam remotum ac sepositum a nobis est", im Sinne von „heilig", setzt ein inneres Bewusstwerden dieser Heiligkeit voraus. 1) Divinarum institutionum lib. IV, 28: „hac conditione gignimur, ut generanti nos Deo justa et debita obsequia praebeamus; hunc solum noverimus, hunc sequamur. Hoc vinculo pietatis obstricti Deo et religati sumus, unde religio noinen cepit non, ut Cicero interpretatus est, a relegendo." Dabei beruft er sich auf das Wort des röm. Sängers der Lehren Epicurs in seinem Lehrgedicht von 6 Büchern: de rerum natura, der 52 v. Chr. freiwilligen Todes gestorben sein soll, Lucrez, „religionum se nodis solvere", und sieht eben darin eine Interpretation von „religio". Ebenso leitet der römische Grammatiker Maurus Honoratus Servius, wahrscheinlich Ende des 4. Jahrh. n. Chr., in seinem Commentar zu Vergils Aeneide 8, 349 ab. Desgleichen treten ihr Augustin (rectractionum, jener scharfen Recension seiner eigenen Werke, 1, 13; de vera religione 41, 55), Hieronymus zu Arnos c. 9 und Calov bei. Für die philologische Möglichkeit beruft man sich auf optio von optare, rebellio von rebellare. Dagegen wendet man ein, dass die Nomina auf atio, welchen religio analog sein sollte, aktive Bedeutung haben, Religion dagegen auf ein subjektives Gebundensein hinführe. Indessen wird man doch vielmehr zugeben müssen, dass in der Religion der Mensch immer irgendwie Stellung zu diesem subjektiven Gebundensein nimmt, bejahend oder verneinend, und so die aktive Bedeutung doch zu ihrem Rechte kommt.
Chiäo. Veda. Horaz unterscheidet recti eultus (recti cultus roborant pectora) neben doctrina im Sinne von Bildung1. Dagegen ist dem Chinesen seine Religion selbst doctrina: Chiäo. Unter dem Ausdruck San Chiäo fasst er die drei Religionen, die Lehre des Confucius, den Buddhismus und den Täoismus zusammen; während er im einzelnen die erste Chiäo, den zweiten Fä, das Gesetz, und den 3. Täo den Weg nennt; und auch das Christentum nennt er bald Lehre, bald Gesetz, bald Weg, aber auch schlechtweg Ching Chiäo die berühmte Lehre (M. Müller, nat. Rel. 89). Die geistige Erfassung, die innerliche Natur der Religion verleugnet sich auch in diesem Sprachgebrauch nicht. Umschreiben die Araber das, was wir Religion nennen, mit din Gehorsam oder Unterwerfung unter das Gesetz: so mag dieser Unterwerfung oft genug auch äusserlich genügt werden. Keine Religion indessen vermag sich zu halten, wenn sie sich nur äusserlich gestützt weiss. Ursprünglich mindestens und auch so lange sie noch eine Macht ist, muss diese Unterwerfung eine innerlich bedingte sein. Am meisten kommt unserer Auffassung der Ausdruck Veda im Sanskrit entgegen. So nur könnte ein Brahmane sagen, wenn er von seiner Religion sprechen wollte. Veda heisst ursprünglich Wissen und dann im Sinne der Brahmanen heiliges oder geoffenbartes Wissen 1 ). Das würde also innerlich vermitteltes Wissen sein. Es wird vermittelt durch das spezifisch religiöse Hören, daher: Sruti von sru hören. Sruti ist mit Ausschluss alles weltlichen Wissens lediglich das Wissen, das durch direkte Eingebung aus göttlicher Offenbarungsquelle geschöpft, gewonnen, vernommen worden ist. Mögen sich diese Ausdrücke indes immer nur deutlich auf die sog. objektive Religion beziehen, auf eine Zusammenstellung von Lehren, die uns vorgestellt werden, damit wir sie annehmen oder verwerfen (M. Müller, nat. Rel. 92): notorisch und unbestritten ist, dass diese Lehren auf einem andern Wege dem, der sie zuerst empfängt, vermittelt werden, als alles weltliche Wissen, und dass im Zusammenhange damit selbst für die Annahme von ihm seitens derer, denen er sie mitteilt, das lediglich leibliche Hören nicht ausreicht; und mehr bedürfen wir nicht, um den im Grunde innerlichen Charakter dieses spezifisch religiösen Wissens zu bestätigen. 1) The word Veda (meaning „knowledge") is a term applied to divine linwritten knowledge, . . . „the spirit oi' devotion permeating the human mind" or „divine spiritual knowledge" (Monier Williams. Hinduism.
1878. 17).
144
Die Upanischads.
Wie sehr den Veden die Religion ein Wissen ist, eine Erkenntnis Gottes, die aber keineswegs lediglich scientifischer oder, wenn man lieber will, weltlicher, äusserlicher Natur ist, geht auch aus einem Ausdruck der Upanishads hervor. Schopenhauer, berichtet M. Müller, „Natural Religion" 18, hielt diese Upanishads noch für den einzig wichtigen Teil des Veda, der studiert zu werden verdiene; alles übrige sei Priesterwirtschaft. Seine eigene Philosophie gründe sich auf die Upanishads, die der Trost seines Lebens gewesen seien und auch, wie er hoffe, der Trost seines Sterbens sein würden. M. Müller dagegen sieht in den Hymnen des Rgveda die Vorgeschichte der Upanishads und hält diese für das späteste Erzeugnis der vedischen Litteratur. Das historische Wachstum des indischen Geistes während des vedischen Zeitalters hat sich nach seiner Meinuug von seinen Anfängen 1 ) in den Hymnen 1) Hermann Oldenberg schildert diese so: Die vedischen Inder wohnten um 1200—1000 v. Chr. am Indus und im Penjab in Dörfern, noch nicht in Städten. Rindviehzucht, weniger Ackerbau ernährte sie. Des Schreibens unkundig erlangten sie in Priesterschulen eine bewundernswerte Gedächtniskraft. Ihre Trennung von den Iraniern liegt hinter den ältesten litterarischen Denkmälern Indiens weit zurück. Durch ihre Einwanderung und ihre Vermischung mit der dunklen Bevölkerung Indiens erschlaffte ihr Charakter in thatenlosem Geniessen, nachdem ihnen das Land nach leichtem Siege über unebenbürtige Gegner zugefallen war. Spuren dieses geistigen Erschlaffens zeigt schon das ä l t e s t e Dokument der indischen Litteratur: D i e L i e d e r des R g v e d a : Opfergesänge und -litaneien, mit denen die Priester der vedischen Arier auf tempellosem Opferplatz, an den rasenumstreuten Opferfeuern ihre Götter anriefen (Die Rel. des Veda 1894. 3). Sruti teilt mau ein: 1. Mantra. 2. Brähmana. 3. Upanishad. Mantra, der h. Text, zerfällt in 5 Samhitas oder Sammlungen: Ric oder Rgveda, Yajus — mit den beiden Unterabteilungen: Taittiriva und Väjasaneyin — Sätnan- und Atharvan-Veda. Der Rgveda mit seinen 1017 Hymnen auf die Götter, von denen manche schon von unseren arischen Vorvätern gesungen worden sein mögen, noch ehe sie in Indien sesshaft wurden, zeigt noch keine rituellen Zwecke. Der Yajurveda steht ganz unter dem Gesichtspunkt derselben. Hymnen, übrigens reichlich aus dem Rgveda, sowie Prosasprüche (yajus) setzen ein kompliziertes Opfersystem voraus. Der Samaveda, die Sammlung der bei dem Kult zu verwendenden Melodien, hat die Texte dem Rgveda entnommen. Der Atharvaveda, die jüngste Samhita, ist eine Kollektion von Zauberliedern. Der Dämonenglaube beherrscht die Gemüter. Die rgvedischen Hymnen dienen als Zaubersprüche, Übel abzuwenden oder anauwünschen. William Jones, der erste Übersetzer des Hindu-Gesetzbuches (Menüs Verordnungen) ins-Englische, f 1794 als Präsident der asiatischen Gesellschaft in Calcutta, hielt den Atharvan um seiner gegen die 3 anderen Veden sehr viel verständlicheren Sprache für unecht. Oldeuberg (18), erklärt diese Thatsache so, dass neben den Priestern die niederen Volksschichten zu Worte gekommen scheinen, aber nicht, ohne die priesterliche Kontrolle passiert zu haben. Brähmana, ein jüngerer vedischer Text, enthält in Prosa geschriebene Ritualgebote und Erläuterungen Die Upanishads endlich sind theologisch-philosophische und liturgische Traktate in Prosa und gelegentlich auch in Versen. Vgl. Monier Williams 18. „Die echten Upanishads galten den Hindus als Teile der h. Schriften und heissen Vedänta = Kern des Veda. Die euro-
Religion in den Upanishads =
Gotteserkenntnis.
145
des Rgveda bis zu seiner Vollendung in den Upanishads vollzogen. 1879 publizierte er in seinen Heiligen Büchern des Ostens" („Sacred Books of the East" vol. XV) eine Übersetzung dieser theosophischen Abhandlungen: „Upanischads translated by Max Müller." S. 260 lautet es da in der Übersetzung (20): „ . . nur dann wird das Elend ein Ende haben, wenn Gott zuerst erkannt wird." Die Erkenntnis Gottes erscheint also hier als die volle Ausgestaltung der Religion 1 ), als die Bedingung ihres vollen Siegs über alles Leid und alles Übel. Und dass dieser Erfolg nur von einer tief innerlichen Erkenntnis, die das Herz ganz beherrscht und bezwingt, erwartet werden kann, wird in der weiteren Folge dieses Gedankenganges noch ausdrücklich hinzugefügt. 23 heisst es: „AVenn diese Wahrheiten einem hochgesinnten Manne verkündet worden sind, der die h ö c h s t e H i n g e b u n g f ü r G o t t f ü h l t . . ., dann wird ihr mildes Licht weiter leuchten, dann wird es wahrlich weiter leuchten" (M. Müller, Natural religion 99). Der Ausdruck für „höchste Hingebung" ist bhakti: gläubiges Vertrauen, vertrauensvoller Glaube, im Grunde nichts anderes als päische Kritik dagegen trennt, die Brahmana's und Upanishad's von den eigentlichen Veden", weil viel jüngeren Datums als die alten Samhita's der Mantra's (Kern, Der Buddhismus. 1882. 4). Bruno Liebich kommt in seiner Schrift über den Urheber des ältesten grammatischen Systems in Indien: „Panini" 1891 aus sprachlichen Gründen zu dem Schluss, dass die Brihadaranyaka-Upanishad sicher vorpaninisch ist. Ist nun die Syntax Paninis ungefähr dieselbe, wie die der Brahmanas (47), nur dass diese noch eine kleine Anzahl von altertümlichen Formen hat, die jener fehlen: so bleibt immer noch ein Prius für die Brahmanas Panini gegenüber. Die altertümlichen Formen, die die Brahmanas noch haben, mussten erst ausser Gebrauch kommen, ehe Panini sie missen konnte. Da nun die Upanishads im weiteren Sinne zu den Brahmanas gerechnet werden, so würde diese sprachliche Untersuchung die Stelle der Upanishads in der gegebenen Reihenfolge nur bestätigen, mögen sie immer auch, wie alle Veden, mit älteren Schichten durchwachsen sein. J a das erheblich jüngere Alter der Upanishads den Veden gegenüber tritt in das hellste Lieht, wenn die altertümlichen Formen beim Verbum in den alten Brahmanas gegen 5, in den jungen etwas über 2, im Rgveda über 50 Prozent (48) verglichen mit Panini betragen. Schopenhauers Datierung der Upanishads ist damit unhaltbar, um so begreiflicher die Sympathie des Philosophen mit ihrem Inhalt. In den Upanischads tritt Yägnavalkya mit einer Autorität auf, wie kein anderer seiner Zeitgenossen. In einem Gespräch mit seiner Gattin Maitreyi über die Unsterblichkeit sagt dieser Weise: „Wie ein ins Wasser geworfenes Stück Salz sich im Wasser auflöst, so dass man es nicht mehr so, wie es war, herausholen kann, und das Wasser überall, wo man es nimmt, salzig ist: so entsteht auch dieses grosse Wesen, das unendlich, unbegrenzt und eine Masse von Erkenntnisvermögen ist, aus den Geschöpfen dieser Welt und geht wieder in ihnen auf. Nach dem Tode hat man kein Bewusstsein mehr" (Kern 7). Das ist Schopenhauers Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben und seine Nirvana-Erlösung. 1) Ebenso Jes. 11, 9. S c h m i d t , Dogmatik I.
10
146
Desgleichen im Rgveda.
die innerliche Gewissheit, das innerliche Wissen, die innerlich bedingte pleropliorische Gotteserkenntnis. Das ist Religion in den Upanishads: hingebend vertrauensvolle Gotteserkenntnis. Aber sind die Upanishads erst das letzte Produkt der vedischen Religion und bezeichnen also ihr spätestes »Stadium, dann wäre bhakti erst ein modernes Wort im Sanskrit, und sein Begriff hätte sich erst allmälich nach langem Suchen und Sinnen oder doch nach langjährigem Bestände der Religion gebildet? Es hätte also Religion gegeben und zwar in einem so zum religiösen Sinnen geneigten Geiste, wie dem indischen, ohne diesen ihr eigentümlichen und wesentlichen Sinn? Würde nicht dieses Manquo als eine Gegeninstanz gegen die Allgemeingiltigkeit eben dieses Religionsbegriffs gedeutet werden können oder gar gedeutet werden müssen? Die Forschung muss also zu den Anfängen der vedischen Litteratur zurück und dort in den Hymnen des Rgveda suchen, ob der Begriff wirklich fehlt. Und — er fehlt nicht. Rgveda I, 55, 5 heisst es: „Dann g l a u b e n die Mcnsclien an Indra, den leuchtenden, wenn er den Blitz zum Schlage schleudert." Und Rgveda I, 102, 2 lesen wir: „Sonne und Mond wandeln dahin, sie kommen und gehen, dass wir hinblicken und G l a u b e n haben mögen, o Indra" („Nat. Rel." 101). Und was heisst das, dort „glauben an Indra" und hier „Glauben" schlechtweg? Glauben an Indra? Haben die Menschen des altvedischen Zeitalters hinter dem zuckenden Blitze den schleudernden Indra gesehen? Kein leibliches Auge hat ihn erspäht. Was sie sahen, war der wolkenbedeckte Himmel, der umdüsterte Horizont; was sie hörten, war der rollende Donner, was sie empfanden, war die gewitterschwüle, drückende Luft: aber auch wenn der leuchtend zuckende Blitz das Dunkel zerriss, eine Gestalt, ein verursachendes Wesen, einen schleudernden Gott entdeckten sie nicht; mit den Sinnen nahmen sie schlechterdings nichts von ihm oder einer so deutbaren Erscheinung wahr. Aber vielleicht überlegten sie sich, solch ein hernieder fahrender Blitz müsse doch von Jemand, von einem Machthaber, von einem Gott, den sie dann Indra nannten, geschleudert worden sein? Vielleicht gelangten sie auf dem W e g e des grübelnden Nachdenkens zu dieser — Vermutung. Denn mehr als eine Vermutung hätte es doch auf diesem Wege nicht werden können. Die Reflexion konnte unter diesen Umständen, wo die sinnliche Wahrnehmung völlig im Stiche liess und schlechterdings
Die innerl. Gewissheit schliesst d. Vertrauen nicht aus, sondern ein
14t
keinen Anhalt bot, unmöglich weiter kommen, als zu einer ganz unsicheren zweifelhaften Vermutung. Nun aber heisst es nicht: Wir sehen oder gewahren den Indra; auch nicht: wir vermuten dahinter den Indra, sondern: „Dann glauben die Menschen an Indra, den leuchtenden, wenn er den Blitz zum Schlage schleudert." Glauben in diesem Zusammenhange ist also etwas anderes als wahrnehmen mit den Sinnen und so gewiss werden, auch etwas anderes als vermuten auf Grund reflektierender Betrachtung, und doch ist es ein Gewisssein, was gleichsam nur entbunden wird durch die Naturerscheinung; also ein ausdrücklich nicht äusserliches, sondern innerliches Gewisssein. In dem 2. Citat ist es nicht mehr Glaube an Indra oder an eine andere spezielle Gottheit, sondern Glaube im allgemeinen. Das Wort im ersten Citat ist crad glauben (Verbum) und im zweiten Craddhä Glauben (Subst.). Das Wort ist so alt, dass seine Etymologie nicht mehr ermittelt werden kann. Ob es von crad Herz und dhä stellen, richten herkommt, wie Darmesteter meint und M. Müller bestreitet, ist disputable. Aber vor der arischen Völkertrennung muss es bereits vorhanden gewesen sein 1 ). Also so frühe in der Geschichte des Menschengeistes gab es nachweislich einen Begriff dafür, was weder durch die Sinne bestätigt, noch durch die Vernunft erwiesen werden kann und doch eine Gewissheit von unwiderstehlicher Wirkung für den Menschen ist: ein innerliches Wissen, das ist die Religion, so weit wir sie zurück zu verfolgen vermögen, welches den Menschen wirksam bestimmt: e i n i n n e r l i c h e s d e n M e n s c h e n w i r k s a m b e s t i m m e n d e s W i s s e n . Dass es nicht unwirksam ist, gehört so zur Natur dieses Wissens, wie sein innerlicher Charakter, der diesen irgendwie, es sei zur Aktion oder zur Reaktion, bestimmenden Einfluss erst erklärt und ermöglicht. Es gibt keine Religion, die sich nicht irgendwie auswirkte und äusserte, keine ohne diesen positiv oder negativ bestimmenden Einfluss. Und dieser Einfluss geht aus von der in das Bewusstsein des Menschen getretenen Beziehung zu Gott, von einem Wissen um Gott und von Gott, das in dem innersten Mittelpunkt unseres Wesens und Lebens seinen Ort hat 2 ).
1) M. Müller, nat. Rel. 98. 2) Ähnlich Kahnis, Dogm. 1. Aufl. T. 131: „Als die Lebenswurzel aller Religion erscheint wie aus der Natur des menschlichen Geistes entspringendes Wissen von Gott verbunden mit Hingabe an denselben, welches wir Glauben nennen."
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§ 13: Die Definition und der Buddhismus.
3. Sagt man uns also neuerdings, der religiöse Glaube sei Vertrauen: so leugnen wir das nicht 1 ). Freilich ist er das. Aber damit hört er doch so wenig auf, ein Wissen, ein innerliches Wissen, eine innerliche Gewissheit zu sein, dass diese das Vertrauen erst ermöglicht, aber allerdings auch die Bethätigung des Vertrauens, die Gewissheit immer von neuein stärkt und vertieft. In der Religion coinzidieren nicht nur das intellektuelle und das ethische, das theoretische und das praktische Moment, das letztere nicht notwendig als Erscheinung, sondern nur als Bethätigung überhaupt gefasst, die möglicher Weise sich auf das eigene Innenleben, etwa die Herrschaft über uns selbst und unsere Stimmungen oder Neigungen beschränken mag, sondern sie bedingen sich gegenseitig: Modus cognoscendi et (epexegetisch) colendi Deum.
§ 13. Die Definition und (1er Buddhismus. D i e D e f i n i t i o n b e h ä l t auch dem B u d d h i s m u s g e g e n ü b e r ihr Recht. Eine R e l i g i o n ohne Gottesg e d a n k e n i s t a u c h er n i c h t . 1. Aber ein andrer Einwand gegen diesen Gattungsbegriff Religion erhebt sich. Deum? Auch wenn man darunter, wo es sich darum handelt, die verschiedenen Religionsformen in der Welt zu subsumieren, nicht den monotheistischen oder theistischen Gottesbegriff versteht, sondern nur überhaupt den Gottesgedanken, die Gottesidee, die Gottheit, mag sie nun polytheistisch, henotheistisch, monotheistisch, deistisch, theistisch oder auch pantheistisch gemeint sein, mag man sie Götter oder Gott, Schöpfer, Vater, das höchste Wesen oder den höchsten Willen nennen: der Buddhismus, wendet
1) Ja auch der Gläubige des Rgveda wusste das schon. Es ist von Interesse, den beiden von M. Müller citierten Stellen über den Gebrauch von dem Begriff im Yerbum ^rad-dhä und im Substantivum