Systematische Medienphilosophie [Reprint 2014 ed.] 9783050047720, 9783050038469

Seit Platons Schriftkritik und Aristoteles’ Poetik ist die Frage nach den Medien ein Grundthema philosophischer Reflexio

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German Pages 437 [440] Year 2005

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Systematische Medienphilosophie Herausgegeben von Mike Sandbothe und Ludwig Nagl

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Zweimonatsschrift der internationalen philosophischen Forschung

Sonderband

7

Systematische Medienphilosophie Herausgegeben von Mike Sandbothe und Ludwig Nagl

Akademie Verlag

ISBN 3-05-003846-2 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2005 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Mischka Dammaschke Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Norbert Winkler Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

INHALT

Ludwig Nagl (Wien) MEDIENPHILOSOPHIE – SYSTEMATISCH? EIN VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Mike Sandbothe (Aalborg) EINLEITUNG: WOZU SYSTEMATISCHE MEDIENPHILOSOPHIE? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII

SINNLICHE WAHRNEHMUNGSMEDIEN Götz Großklaus (Karlsruhe) MEDIENPHILOSOPHIE DES RAUMS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Ralf Beuthan (Jena) MEDIENPHILOSOPHIE DER ZEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Michael Giesecke (Erfurt) MEDIENPHILOSOPHIE DER SINNE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Barbara Becker (Paderborn) MEDIENPHILOSOPHIE DER NAHSINNE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

SEMIOTISCHE INFORMATIONS- UND KOMMUNIKATIONSMEDIEN Peter Janich (Marburg) MEDIENPHILOSOPHIE DER KOMMUNIKATION . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mathias Gutmann (Marburg)

MEDIENPHILOSOPHIE DES KÖRPERS

..............................................

83 99

Dieter Mersch (Berlin) MEDIENPHILOSOPHIE DER SPRACHE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Christian Stetter (Aachen) MEDIENPHILOSOPHIE DER SCHRIFT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Lambert Wiesing (Jena) MEDIENPHILOSOPHIE DES BILDES . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

VI

Inhalt

Matthias Vogel (Frankfurt a. M.) MEDIENPHILOSOPHIE DER MUSIK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Gabriele Klein (Hamburg) MEDIENPHILOSOPHIE DES TANZES . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Dieter Teichert (Konstanz) MEDIENPHILOSOPHIE DES THEATERS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199

TECHNISCHE VERBREITUNGS-, VERARBEITUNGS- UND SPEICHERMEDIEN Sybille Krämer (Berlin) MEDIENPHILOSOPHIE DER STIMME . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Reinhard Margreiter (Innsbruck) MEDIENPHILOSOPHIE DES BUCHDRUCKS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Bernd Stiegler (Frankfurt a. M.) MEDIENPHILOSOPHIE DER PHOTOGRAPHIE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Alexander Roesler (Frankfurt a. M.) MEDIENPHILOSOPHIE DES TELEFONS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Lorenz Engell (Weimar) MEDIENPHILOSOPHIE DES FILMS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Christian Filk (Luzern) MEDIENPHILOSOPHIE DES RADIOS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Stanley Cavell (Cambridge/Mass.) MEDIENPHILOSOPHIE DES FERNSEHENS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Lutz Ellrich (Köln) MEDIENPHILOSOPHIE DES COMPUTERS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Mark Poster (Irvine) MEDIENPHILOSOPHIE DES INTERNET . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Stefan Münker (Berlin) MEDIENPHILOSOPHIE DER VIRTUAL REALITY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

Ludwig Nagl

MEDIENPHILOSOPHIE – SYSTEMATISCH? EIN VORWORT

Der philosophische Diskurs über Realität, De-realisierungspotenzial und Begriff der Medien konfiguriert sich zur Zeit auf sehr unterschiedliche Weise – bis hin zu dem Punkt, wo auch Philosophie selbst (in der These von einem epochalen „medial turn“, der die Schriftkultur und die sie begleitenden Modi philosophischer Reflexivität relativiere) in „aufhebender“ Überwindung zu repositionieren gesucht wird1. Welche Rechtfertigung kann vor diesem Hintergrund die Rede von „systematischer“ Medienphilosophie überhaupt beanspruchen? Die Leitidee, dass Philosophie „System“ sein müsse, hatte in der neuzeitlichen Philosophie von Spinoza bis Hegel einen zentralen Stellenwert. In der Gegenwartsphilosophie ist demgegenüber – in der Regel2 – die Überzeugung leitend, dass nicht nur alle wissenschaftliche Welterklärung, sondern auch jeder philosophisch erhobene Geltungsanspruch endlich-pragmatisch konnotiert sei: d. h., dass Aussagen, die sich stimmig behaupten lassen, nur einer (im Prinzip) falsifizierbaren Theorie – einer Theorie, die sich nicht zum System schließt – zugehören können. Ausgehend von diesem geänderten Verständnis wird im vorliegenden Buch der Begriff „systematisch“ in einem vorsichtig-offenen, d. h. nicht fundamentalistisch-„herleitenden“ – weder logisch-formal, noch dialektisch, noch (letzt)begründungstheoretisch auf „closure“ bezogenen – Sinn verwendet. Einer „systematischen“ Medienphilosophie geht es demnach nicht um die „strikte Deduktion“, „Einführung“ oder „Ableitung“ divergenter Manifestationsgestalten „des Medialen“ aus einem Einheitspunkt, sondern – mit dem späten Wittgenstein gesprochen – um die „Übersicht“ (Wittgenstein 1984, § 122, S. 302) über ein reiches, differenzhaltiges („familienähnliches“) Diskursfeld: „Systematik“ meint so primär: unrestringiert-pragmatische Offenheit3 gegenüber jenen 1

2

3

Zentrale Aspekte dieser These werden im vorliegenden Band, so u. a. in Reinhard Margreiters Beitrag zur „Medienphilosophie des Buchdrucks“ vorgestellt, in dem es um die Depotenzierung und Überwindung nicht nur der „transzendentalen“, sondern auch der „linguistisch“ einsetzenden philosophischen Reflexionen durch ein neues nachgutenbergsches „Medienapriori“ geht. Dieser stark akzentuierte Neubeginn bei einem – für paradigmenkonstitutiv erachteten – Medienbegriff ist, wie z. B. Sybille Krämers Beitrag zum vorliegenden Buch zeigt, heute Gegenstand lebhafter Diskussion. Dass die Frage nach der Verbindlichkeit des Postulats, jede schlüssige Philosophie müsse intendieren, „System“ zu werden, vor dem Hintergrund zeitgenössischer Endlichkeitstheoreme nicht einfach obsolet geworden ist, dokumentiert – gegen den zeitgenössischen Trend – z. B. der Sammelband von Ludwig Nagl und Rudolf Langthaler (2000). Dieses Projekt „übersichtlicher“ Erkundung hat – in seinem anti-dogmatischen Grundduktus

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Ludwig Nagl

vielfältigen Weisen, in denen – alltäglich, wissenschaftlich und philosophisch – heute von „Medien“ und „Medialität“ geredet wird. Nichts, was in diesem Zusammenhang plausiblen Anspruch darauf erheben kann, zum Untersuchungsgegenstand zu werden, darf ausgeschlossen bleiben. „Systematische“ Medienphilosophie ist dem Reichtum der Phänomene verpflichtet. Es geht in ihr um eine umfassende (wenngleich im Blick auf zukünftige Entwicklungen unterbestimmt bleibende) Untersuchung an pluralen Realitäts- und Denkorten: z. B. um ein neues Fragen dort, wo es um die (manchmal für basal erachtete) „mediale“ Vermitteltheit aller sinnlichen Erfahrung in Raum und Zeit geht (bis hin zu den Spezifika der Resituierung solch basaler Erfahrungsmodi in den ort- und zeitsuspendierenden [Partial]Logiken des „Cyberspace“); um ein Fragen, das Leib, Kommunikation, Sprache und Schrift (und die vielen anderen semiotischen Medien wie Musik, Tanz und Theater) mit Blick auf ihren Vermittlungscharakter zum Gegenstand philosophischer Erkundung macht; und, vor allem, um die philosophische Reflexion auf die Struktur der Verbreitungs-, Verarbeitungs- und Speichermedien (von der Stimme über den Buchdruck, die Photographie, das Telefon, den Film, hin zu Radio, Fernsehen und Computer). Freilich: „Systematisch“ meint nicht allein diese erste – idealiter auf eine durchbestimmbare Serie medialer Phänomene bezogene – „Übersichtlichkeit“. Es geht, zweitens, methodologisch um die extreme Verschiedenartigkeit philosophierender Zugangsweisen zur Medialität – einen Reichtum, den es am Denkort der emergenten Medienphilosophie(n) in systematischer „Übersichtlichkeit“ zu dokumentieren gilt. Auf welch unterschiedliche Arten heute die differenten medialen „Objektbereiche“ durchleuchtet werden (phänomenologisch, spät- und postanalytisch, im Stil der Erlanger „Prototheorie“, neopragmatisch und dekonstruktiv), das fügt sich keiner linearen Methodik, die – „klassisch“ dem Konzept einer einzigen, schlüssigen Ableitung aus sicheren Prämissen verpflichtet – zwanglos „durchgehalten“ werden könnte. Vor dem Erfahrungshintergrund der Krisengeschichte neuzeitlicher Methodologie-Projekte: der Krise der „tranzendentalen“ Deduktion, der „absolut-dialektischen“ Begründung, der „logisch-empirischen“ Fundierung und der phänomenologisch-fundamentalontologischen Grundlegung, zeigt sich – was die Denk- und Erkundungsstile am Ort des Medialen betrifft – gegenwärtig ein (nur um den Preis unvertretbarer Simplifikation bändigbarer) Reichtum an methodischen Zugangsversuchen. Auch in dieser Hinsicht ist der vorliegende Band dem Prinzip einer pragmatisch offenen, nicht-restriktiven Systematik verpflichtet: Es geht den Herausgebern um die Dokumentation eines sich vielfältig formierenden neuen Diskurses, der in seiner Komplexität – und damit auch: in seinem inneren Antagonismus – vorgestellt, diskutiert und weiteren Erkundungen zugeführt werden soll: „Übersichtlichkeit“ (d. h.: Systematik, modo pragmatico redimensioniert) – scheint somit das genaue Gegenteil des (auf Herleitung aus Prinzipien abzielenden) Systemimperativs der klassischen Systemphilosophien zu sein. Diese Einschätzung ist Berührungspunkte mit zentralen Einsichten des Pragmatismus: einem Denkansatz, der seit den neunziger Jahren im internationalen Raum eine auffällige Renaissance erlebt; vgl. dazu Egginton/ Sandbothe (2004).

MEDIENPHILOSOPHIE – SYSTEMATISCH? EIN VORWORT

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insofern korrekt, als „Übersicht“ – anders als der klassische Systemimperativ – nicht mehr in einer geschlossenen System„architektur“ kulminiert. Zugleich jedoch ist eine Abgrenzung dieser Art auch irreführend, denn das post-klassisch verfasste Konzept systematischer „Übersicht“ bleibt unverzichtbar der Leitidee maximaler Argumentationsdichte verpflichtet: die Aufhebung des Herleitungs- und Einheitszwangs terminiert nämlich – dort wo die Denkerkundungen am Ort des Medialen spannend und schlüssig werden – nirgendwo im Relativismus eines „anything goes“. Die Beiträge, die der vorliegende Band versammelt, zeigen, wie lebhaft sich die junge Philosophieszene im deutschsprachigen Raum dem Begriff des Medialen widmet. Der sich formierende Diskurs über Medienphilosophie ist nirgendwo auf den argumentativen Kleinraum sich abschließender „Denkschulen“ begrenzt, die Debatte im deutschsprachigen Raum konstituiert sich in dauerhaftem Bezug auf die medientheoretischen Reflexionen in anderen europäischen Ländern, vor allem aber auch in den USA. In diesem Zusammenhang sind zwei der hier vorgelegten Arbeiten besonders hervorzuheben. Stanley Cavell, Professor Emeritus der Harvard University und einer der Pioniere der Film- und Medienphilosophie4 im spät- und postanalytischen Diskurs, analysiert in seinem Beitrag zum vorliegenden Band zentrale Elemente der Konstitutionslogik des Fernsehens. Er grenzt diese, als eine Logik des „monitoring“, von der Erfahrungsstruktur des filmischen Sehens („viewing“) kategorial ab, wobei er – in seiner Strukturanalyse dieser Differenz – unsere tiefsitzende Angst vor der Macht und der Attraktivität dieses (zugleich Distanz organisierenden, uns aber auf abgründige Weisen „einbeziehenden“) Mediums zum Gegenstand seiner Erwägungen macht. Der zweite amerikanische Autor dieses Bandes, Mark Poster, Chairperson des Department of Film and Media Studies der University of California (Irvine), widmet seinen Beitrag dem Internet. Er geht dabei vor allem dem Eindringen der neuen Informationstechnologie ins tägliche Leben nach: einer veränderten Erfahrungslage, die uns vor bisher unbekannte ethische Fragen stellt – ja die, genauerhin, eine „Unterbrechung“5 des (mit klassischen philosophischen Mitteln analysierbaren) ethischen Diskurses bewirkt: Das Internet, so Poster, organisiert eine massive Deterritorialisierung kultureller Werte, durch die das Ethische mit dem Politischen – auf neue Weisen – so verbunden wird, dass im Cyberspace Denkmodelle möglich werden, „die gleichzeitig Themen der Macht, des Guten und des Schönen aufgreifen.“6 Freilich: auch im Modus einer derartig verfassten – von Nietzsche inspirierten – Re-situierung unserer Handelnsprobleme stellt sich uns – mit Foucault gesprochen – die unverabschiedbar im Raum bleibende Frage nach denjenigen (Denk)Mitteln, durch die wir diese nunmehr medial beschleunigte „Freiheitspraxis“ als 4

5 6

Stanley Cavell hat durch seine vier Bücher zur Filmphilosophie (The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film, 1979; Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedies of Remarriage, 1981; Contesting Tears. The Melodrama of the Unknown Woman, 1996; Cities of Words, 2004) im US-amerikanischen Diskurs ganz wesentlich dazu beigetragen, das Klima für Fragen der Medienphilosophie aufzubereiten. Zu Cavells Filmphilosophie siehe Ludwig Nagl (2002, 2004); zum (wittgensteinschen) Denkhintergrund der cavellschen Medientheorie vgl. Cavell (2001). Mark Poster, „Medienphilosophie des Internet“, im vorliegenden Band, S. 377. Ebd.

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eine „reflektierte Praxis der Freiheit“7 nicht allein stimmig analysieren, sondern auch institutionell ausgestalten können. *** Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren für die gute Zusammenarbeit. Unser Dank gilt des weiteren Herrn Dr. Norbert Winkler und Herrn Alexander Gröschner. Sie haben im Auftrag von Verlag und Herausgebern wichtige Teile der redaktionellen Arbeit hilfsbereit und zuverlässig durchgeführt. Der Chefredakteur der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, Dr. Mischka Dammaschke, hat die Idee zu diesem Buch mit auf den Weg gebracht und ihre Realisierung verständnisvoll begleitet. Wir danken ihm für die freundschaftliche Kooperation.

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Ebd., S. 359.

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Literatur Cavell, Stanley (2001), Nach der Philosophie. Essays, hg. v. Nagl, Ludwig/Fischer, Kurt Rudolf, Berlin: Akademie. Egginton, William/Sandbothe, Mike (Hgg.) (2004), The Pragmatic Turn in Philosophy. Contemporary Engagements between Analytic and Continental Thought, New York: SUNY Press. Nagl, Ludwig (2002), „Stanley Cavells Philosophie des Films“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 1, 2002, S. 163-174. Nagl, Ludwig (2004), „Über Film philosophieren: Stanley Cavells Komödien- und Melodramenanalysen, in: Klein, Hans-Dieter/Schild, Wolfgang (Hgg.), Die Reflexivität des Bildes. Texte für Evelin Klein, Frankfurt a. M.: Lang, S. 63-86. Nagl, Ludwig/Langthaler, Rudolf (Hgg.) (2000), System der Philosophie? Festgabe für Hans-Dieter Klein, Frankfurt a. M.: Lang. Wittgenstein, Ludwig (1984), Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Mike Sandbothe

EINLEITUNG: WOZU SYSTEMATISCHE MEDIENPHILOSOPHIE?

Im deutschen Sprachraum hat sich die Medienphilosophie in den letzten Jahren als neues transdisziplinäres Forschungsfeld entwickelt (Fietz 1992, Hartmann 2000, Sandbothe 2001, Vogel 2001, Münker/Roesler/Sandbothe 2003, Margreiter 2004). Dessen spezifische Signatur beschreiben Christian Filk, Sven Grampp und Kay Kirchmann in ihrem einschlägigen Forschungsreferat wie folgt: „Die verstärkt seit Mitte der 1990er Jahre virulente Intonierung einer ‚Medienphilosophie‘ nimmt sich [...] als heteronomes Diskursgefüge aus, das nicht nur seiner diskursiven und wissenschaftshistorischen, sondern letztlich sogar seiner disziplinären Einordnung noch harrt“ (Filk/Grampp/Kirchmann 2004, S. 39). Die sich mit diesem Sachverhalt verbindende intellektuelle Offenheit und methodologische Beweglichkeit der neuen Forschungsformation kommt in den Beiträgen zum vorliegenden Band deutlich zum Ausdruck. Darüber hinaus verbindet die Autorinnen und Autoren das gemeinsame Interesse, die Signatur von Medienphilosophie auch innerdisziplinär weiter zu schärfen. Von den Herausgebern waren sie darum gebeten worden, „sich mit der Frage nach den Medien aus einer dezidiert philosophischen Perspektive zu befassen“ (Sandbothe/Nagl 2003). Selbstverständlich haben die zweiundzwanzig Autorinnen und Autoren, die wir für diese Aufgabe gewinnen konnten, darunter jeweils etwas anderes verstanden. Das liegt nicht allein und nicht primär daran, dass sie unterschiedliche Fächer studiert haben bzw. unterrichten. Die Frage „Was ist Philosophie?“ ist vielmehr querlaufend zu den im Band vertretenen Disziplinen (Medien- und Kommunikationswissenschaft, Bild- und Filmwissenschaft, Tanz- und Theaterwissenschaft, Philologie, Philosophie und Soziologie) sehr unterschiedlich aufgefasst und beantwortet worden. Zugleich ist zu konstatieren, dass sich bei aller Vielfalt der metaphilosophischen Optionen doch ein Bindeglied im Philosophieverständnis der Beiträgerinnen und Beiträger auffinden lässt. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass die Autorinnen und Autoren aus der Perspektive der von ihnen jeweils vertretenen Fächer und mit Blick auf die leitende Frage nach den Medien das Verhältnis des Argumentativen zum Nichtargumentativen, des Darstellbaren zum Undarstellbaren, des Kontextsensiblen zum Kontextfreien thematisieren und individuell austarieren. Indem sie dies tun, erfüllen sie für die zeitgenössische Medienforschung genau diejenige Aufgabe, die Richard Rorty einmal als „die wichtigste soziale Funktion“ (Rorty 2000, S. 40) der Philosophie bezeichnet hat. Sie besteht darin, „das Pendel in Schwung zu halten“ (ebd., S. 41), das sich zwischen dem reformatorischen Verlangen nach einer schönen Rekonstruktion oder gelungenen Neu-

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Mike Sandbothe

erfindung unserer Vokabulare und dem erhabenen Wunsch bewegt, aus diesen Vokabularen radikal auszubrechen. Sowohl das oben zitierte Forschungsreferat als auch der ein Jahr zuvor von Dieter Mersch zum Thema vorgelegte Literaturbericht (Mersch 2003) heben die diskursökonomische Balanceleistung der Medienphilosophie hervor. Unabhängig voneinander kommen die beiden Überblicksartikel zu dem Ergebnis, dass die entscheidende Leistung der neuen Forschungsformation darin bestehe, ein Korrekturpotential zur Verfügung zu stellen, mit dessen Hilfe sich die aktuelle medientheoretische Diskurslage dynamisieren lässt. Deren momentane Arretierung und spezifische Statik wird von Mersch als „ein Medialismus, ein Medienidealismus“ beschrieben, „insofern zwar in Medien das materiale Prinzip einer Konstitution von Wirklichkeit, Erkenntnis, Kommunikation, Subjektivität und dergleichen gesehen wird, es selbst sich aber einer systematischen Grundlegung verweigert“ (Mersch, ebd., S. 201). Eben diese Problematik wird mit etwas anderen Worten auch in dem Forschungsreferat von Filk/Grampp/Kirchmann markiert. Zugleich aber gehen die drei Autoren einen Schritt weiter, indem sie das „Korrekturpotential für [...] Philosophie und Medienwissenschaft [...] nach beiden Seiten hin profilieren: als ‚Wiedereinschreibung des Geistes in die Medienwissenschaft‘ und als ‚Einführung des Materiell-Technischen in die Philosophie“ (Filk/Grampp/Kirchmann 2004, S. 57). Vor dem Hintergrund dieser doppelten Vermittlungsaufgabe der Medienphilosophie haben jüngst auch Alice Lagaay und David Lauer die aktuelle Diskurslage in den Blick genommen. In der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Sammelband Medientheorien. Eine philosophische Einführung strukturieren sie das Feld der zeitgenössischen Medientheorien entlang der Frage, „wie sie das Verhältnis der Medien zum Nicht-Medialen [konzipieren]“ (Lagaay/Lauer 2004, S. 24). Diese Leitfrage spezifiziert das oben im Rekurs auf Rorty schon erwähnte Bindeglied im Philosophieverständnis, durch das auch die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Bandes miteinander vernetzt sind. Ihnen ist gemeinsam, dass sie das Verhältnis der Medien zum Nichtmedialen weder zugunsten eines kulturwissenschaftlichen „Medienapriorismus“ (Lagaay/Lauer, ebd., S. 25) noch zugunsten eines geisteswissenschaftlichen „Medienmarginalismus“ (ebd., S. 24) vereinseitigen wollen. Stattdessen geht es in den Beiträgen zur Systematischen Medienphilosophie darum, anhand der Situierung einzelner Medien im Kontext ihrer transmedialen Verflechtungsverhältnisse aufzuzeigen, wie sich die Spannung zwischen den beiden von Lagaay und Lauer erwähnten „ideelle[n] Polen“ (ebd., S. 24) produktiv austragen lässt. In seinem Vorwort hat Ludwig Nagl den systematischen Aufbau des vorliegenden Bandes zu einem Lieblingsgedanken des späten Wittgenstein in Beziehung gesetzt. Dieser besagt, dass die Bedeutung eines Wortes sein Gebrauch in der Sprache sei (Wittgenstein 1984, S. 262, Nr. 43). Sobald man diesen pragmatistisch klingenden Slogan auf „Medium“ bzw. „Medien“ anwendet, wird die metatheoretische Unterscheidung zweifelhaft, die im Fachdiskurs zwischen „Einzelmedienontologien“ (Leschke 2003, S. 73) und „generelle[n] Medientheorien“ (ebd., S. 161) gemacht wird. Methodisch liegt dieser Trennung das Vorhaben zugrunde, eine vermeintlich ‚allgemeine‘ Bedeutung des

EINLEITUNG: WOZU SYSTEMATISCHE MEDIENPHILOSOPHIE?

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Medienbegriffs unabhängig von seinen konkreten Verwendungsweisen zu analysieren. Ein solches Vorgehen erscheint aus wittgensteinscher Perspektive als kontraproduktiv. Das gleiche gilt für den komplementären Versuch, die konkreten Verwendungsweisen des Medienbegriffs losgelöst von den zwischen ihnen bestehenden Familienähnlichkeiten, d. h. außerhalb des komplexen Beziehungsgefüges zu erforschen, das die Einzelmedienbegriffe miteinander verbindet. Aus diesem Grund ist der Aufbau des vorliegenden Buchs nicht allein additiv bzw. historisch organisiert. Sein Inhaltsverzeichnis enthält darüber hinaus einen Vorschlag, wie sich das Gefüge der ausgewählten Medien systematisch strukturieren lässt. Dieser Vorschlag kommt darin zum Ausdruck, dass der Gegenstand der Systematischen Medienphilosophie in die drei folgenden Rubriken unterteilt ist: 1. Sinnliche Wahrnehmungsmedien, 2. Semiotische Informations- und Kommunikationsmedien, 3. Technische Verbreitungs-, Verarbeitungs- und Speichermedien. Mit Blick auf diese Unterteilung hat Michael Giesecke in seinem Beitrag die Frage gestellt, ob es sich dabei um einen „Vorschlag für eine Typologie der Medien“ oder um den Entwurf einer „dreidimensionale[n] Theorie des Objekts“ (Giesecke, im vorliegenden Band, S. 47) handelt. Sicherlich ließe sich die von uns im transformativen Anschluss an Luhmann (vgl. u. a. Luhmann 1997, S. 190 ff.) verwendete medienphilosophische Dreiersystematik für beide Zwecke einsetzen. Gemäß der im vorliegenden Zusammenhang bestimmenden Übersichtsfunktion jedoch dient die Gliederung in Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Verbreitungsmedien in erster Linie dem gebrauchstheoretischen Zweck, die derzeit vorherrschenden Verwendungsweisen und Zuordnungspraktiken ohne Anspruch auf Vollständigkeit in eine hypothetische Ordnung zu bringen. Die Autorinnen und Autoren haben dieses Projekt auf jeweils unterschiedliche Art und Weise aufgegriffen und umgesetzt. So befassen sich Götz Großklaus und Ralf Beuthan in ihren Beiträgen mit der Frage, wie sich Raum und Zeit als gegenstandskonstitutive Medien sinnlicher Wahrnehmung durch die historisch variierenden Verflechtungsverhältnisse beschreiben lassen, die sie kulturell mit unterschiedlichen semiotischen und technischen Medienumwelten eingehen. Im Rückgriff auf Cassirer zeigt Großklaus, wie der Raum im Lauf der Mediengeschichte von seiner mythisch-qualitativen Orientierung am Leitmedium des Leibes zunehmend (aber nie ganz) abgelöst wird. Das geschieht durch Umcodierungsprozesse, die sich unter den symbolisch prägenden Bedingungen der „epochalen (Leit)Medien Sprache (oral, narrativ), Schrift (chirographisch – typographisch) und Bild (magisch, mythisch, religiös, ästhetisch/manuelltechnisch)“ (Großklaus, im vorliegenden Band, S. 5) vollziehen. Im Anschluss an Großklaus, der in seinen Untersuchungen zur „kognitiven Kartographie“ (ebd., S. 8) so etwas wie eine „Basiskarte jeder (bisherigen) in Europa gültigen kulturellen Orientierung im Raum“ (ebd., S. 10) skizziert, geht es Beuthan um die Hinterfragung des einer solchen Karte zugrunde liegenden „Schema[s] von Innen/Außen“ (Beuthan, im vorliegenden Band, S. 28). In der Dekonstruktion dieses Schemas sieht

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Beuthan die medienphilosophisch zentrale Leistung des „Begriff[s] der Medialität“, wie er von Derrida „mit den Termini différance und Spur“ (ebd., S. 29) entwickelt worden ist. Dabei handelt es sich um eine „den funktionalen Verhältnissen“, wie sie in den Medientheorien von McLuhan bis Bolz und Kittler untersucht werden, „vorausgehende und sie ermöglichende Prozessualität“ (ebd., S. 32). Von dieser her denkend stellt Beuthan die im aktuellen Mediendiskurs weit verbreitete Voraussetzung in Frage, dass die Mediengeschichte als Abfolge epochaler Leitmedien zu konzipieren sei. Darin folgt ihm Michael Giesecke. Im Unterschied zu Beuthan jedoch stützt sich dieser zur Begründung seines mehrdimensionalen Ansatzes nicht auf quasi-transzendentale Überlegungen einer Philosophie der Medialität. Stattdessen bewegt sich die von ihm exponierte Medienphilosophie der Sinne im Kontext einer empirisch ausgerichteten Ökologie artverschiedener Systeme. Dabei handelt es sich um Information, Kommunikation und Medien als miteinander auf komplexe Weise vernetzten Objektbereichen einer zeitgemäßen Kulturwissenschaft. Aus deren Perspektive stellt sich der Mensch als ein Informations- und Kommunikationssystem dar, dessen sensorische Wahrnehmungsmedien sich gegenüber denen anderer Tiere insbesondere durch ihre Multimedialität und Synästhesie auszeichnen. Das sensible Wechselspiel unserer fünf bzw. sechs Sinne (inklusive des kinästhetischen) ist Giesecke zufolge in der europäischen Mediengeschichte durch Abspaltung und Hierarchisierung der verschiedenen Sensoren destabilisiert worden. Während in den hinduistischen Kulturen Indiens eine „Prämierung der nonverbalen leiblichen Ausdrucksformen“ (Giesecke, im vorliegenden Band, S. 55) und im Japan der Edo-Zeit die „Wahrung des Gleichgewichts zwischen Medien und Sinnen“ (ebd., S. 58) im Vordergrund gestanden habe, sei es im neuzeitlichen Europa einerseits zu einer „Kopplung von Visuellem und Akustischem“ und andererseits zu einer „Entkoppelung von Visuellem und Taktilem“ (ebd., S. 57) gekommen. Letzteres hat Giesecke zufolge zu einer „Trennung von Handeln und Wahrnehmungen“ (ebd., S. 58), ersteres zu einer bis heute wirksamen Prämierung der Fernsinne gegenüber den Nahsinnen geführt. Auf das medienästhetische Ungleichgewicht, das für moderne Industrie- und Wissenschaftskulturen charakteristisch ist, reagiert Barbara Becker in ihrem Beitrag. Dieser befasst sich mit den historisch benachteiligten, kulturell unterentwickelten und akademisch vernachlässigten Nahsinnen. Besonderes Augenmerk richtet die Autorin dabei auf den von ihr als grundlegenden „Kontaktsinn“ (Becker, im vorliegenden Band, S. 72) interpretierten Bereich der taktilen Wahrnehmung. Diesen beschreibt sie im Rückgriff auf Merleau-Ponty und Waldenfels als „pathische Sinnesmodalität“ (ebd., 73), die durch den „Chiasmus von Berührendem und Berührtem“ (ebd., S. 72) gekennzeichnet sei. Darin spiegele sich, so Becker weiter, eine zwar allen unseren Sinneserfahrungen zugrunde liegende, in der Berührung aber besonders deutlich hervortretende „Asymmetrie, die dazu führt, dass entgegen allen Intentionen der oder das Andere niemals völlig erreicht wird“ (ebd., S. 73). Indem Becker derart das „Moment des Unexplizierbaren“ (ebd., S. 65) in der menschlichen Sinneserfahrung betont, akzentuiert sie im Verhältnis der Medien zum Nichtmedialen den letztgenannten Aspekt. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass

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sie „unter Medien vorrangig jene Instanzen [fasst], die eine Distanzierung von der leiblich-sinnlichen Erfahrung der Welt implizieren“ (ebd., S. 66). Zugleich vermeidet Becker jedoch den von Lauer und Lagaay kritisierten „Medienmarginalismus“ (Lagaay/ Lauer 2004, S. 24). So führt sie am Beispiel von Photographinnen und Photographen wie Meiselas, Salgado und Nachtwey vor Augen, dass „ein spezifischer Medienumgang [...] denkbar [ist], der sich einbinden lässt in den Chiasmus von Leib und Welt“ (Becker, im vorliegenden Band, S. 78). Als verbindendes Grundthema der Systematischen Medienphilosophie wurde eingangs die Frage nach dem Verhältnis des Argumentativen zum Nichtargumentativen, des Darstellbaren zum Undarstellbaren, des Kontextsensiblen zum Kontextfreien genannt. Die vier Beiträge, die sich mit Raum, Zeit, Fern- und Nahsinnen als menschlichen Wahrnehmungsmedien befassen, sind nicht nur in der Einzellektüre sondern auch in ihrem Wechselbezug von diesem Bindeglied her interpretierbar. So wird der Pendelschwung zwischen schöner Neuerfindung und erhabener Unterwanderung des Medienvokabulars von Großklaus und Giesecke zugunsten der ersten Bewegungsrichtung gestärkt, während Beuthan und Becker ihr Schwergewicht auf den erhabenen Gegenschwung legen. Gemeinsam ist allen vier Beiträgen, dass sie die Medialität des menschlichen Selbst- und Weltbezugs von ihren sinnlichen Dimensionen her, d. h. als Aisthesis erschließen. Im Unterschied dazu akzentuieren die acht folgenden Autorinnen und Autoren, die sich mit den Informations- und Kommunikationsmedien befassen, einen anderen Aspekt im komplexen Gefüge der miteinander vernetzten Medienwelten. Im Brennpunkt ihrer Analysen steht nicht so sehr die Wahrnehmungsdimension, sondern vielmehr die zwischenmenschliche Verständigungsqualität medialer Prozesse. Was darunter zu verstehen ist, versucht Peter Janich in seinem einleitenden Beitrag zur Medienphilosophie der Kommunikation zu klären. Aus der Perspektive des von ihm mitbegründeten Methodischen Kulturalismus macht er deutlich, dass das „vorherrschende Verständnis von Kommunikation als Austausch von Informationen“ (Janich, im vorliegenden Band, S. 92) problematisch ist. Die auf Shannon und Weaver zurück gehende mathematische Modellierung des Verhältnisses von Nachrichtenquelle, Sender, Kanal, Empfänger und Nachrichtenziel sei durch die „Defekte des naiven Realismus, Formalismus und Kausalismus“ (ebd., 94) gekennzeichnet. Diese gründen Janich zufolge in dem Sachverhalt, dass das nachrichtentechnische Sender-Empfänger-Modell von einer dualen Struktur (Zeichen/Bezeichnetes – Interpretant) ausgeht und nicht von einem triangulativen Verhältnis (Zeichen/Bezeichnetes – Zeichennutzer/Sprecher – Interpretant/Hörer). In seinem nichtreduktionistischen Gegenentwurf geht es dem Methodischen Kulturalisten darum, Kommunikation von ihrer pragmatischen Funktion her als Instrument zur „Vorbereitung des Handelns, allgemeiner: der Kooperation“ (ebd., S. 90) zu rekonstruieren. Janich orientiert sich dabei am „Normalfall sprachlichen Kommunizierens“ (ebd., S. 89) und zeigt am Beispiel eines fingierten Dialogs, wie die methodische Ordnung unseres alltagssprachlichen Handelns über die Zweck-Mittel-Rationalität hinaus auf die normative Frage nach der Rechtfertigung unserer Handlungsziele verweist.

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Diesen Ansatz erweitert Mathias Gutmann in seinem Beitrag zur Medienphilosophie des Körpers. Er nutzt die Überlegungen Janichs, um auf ihrer Grundlage auch die nichtsprachlichen Kommunikationsverhältnisse zu beschreiben, in denen wir als körperliche Wesen stehen. Zu diesem Zweck grenzt er den kulturalistischen Körperbegriff von den Theorien Husserls und Plessners ab, die den menschlichen Leib substantivierend als etwas auffassen, das Individuen zugeschrieben wird. Stattdessen schlägt Gutmann vor, die Substantive Leib und Körper als Platzhalter für die adjektivische Rede von „‚körperlichen‘ oder ‚leiblichen‘ Verhältnissen“ (Gutmann, im vorliegenden Band, S. 101) zu verstehen. Diese wiederum sind dem Autor zufolge nicht im introspektiven Selbstverhältnis, sondern im Kontext „gemeinsame[r] Tätigkeit“ (ebd., S. 101), d. h. im zwischenmenschlichen Bereich alltäglichen Handelns zu situieren. Ähnlich wie Janich und Gutmann vertritt auch Dieter Mersch in seinem Beitrag ein triangulatives Konzept von Kommunikation. Im Unterschied zu den Methodischen Kulturalisten argumentiert er jedoch nicht handlungs- und gebrauchstheoretisch, sondern ereignisphilosophisch. Aus seiner Sicht ist das von Pragmatisten, Sprechakttheoretikern und Methodischen Kulturalisten verfolgte Projekt, „eine systematische Theorie des Performativen“ (Mersch, im vorliegenden Band, S. 120) zu entwickeln, zum Scheitern verurteilt. Alternativ schlägt er vor, die „systematische Undarstellbarkeit“ (ebd., S. 123) des Vollzugscharakters performativer Akte ernst zu nehmen. Für die Medienphilosophie der Sprache bedeutet das, „Sprache als Kommunikation“ (ebd., S. 124) nicht vom Sprecher, sondern vom Hörer her zu untersuchen. Damit verbindet sich bei Mersch ein Übergang „vom Denken des Medialen zum Denken des Antwortens“ (ebd.). Die pragmatische Intention des Sprechers werde durch das im Rekurs auf Lévinas zu verstehende „Gewicht des Anderen“ (ebd.) dezentriert. Das kommunikative Geschehen erhalte so „eine nichtintentionale Note“ (ebd., S. 122). Durch diese, so Mersch weiter, werde „gleichzeitig die Frage der Medialität unterlaufen und der Medienphilosophie der Sprache eine unwiderrufliche Grenze auferlegt“ (ebd.). Die vermeintliche Uneinholbarkeit des Ereignisses der Kommunikation richtet das Pendel der Philosophie an seinem erhabenen Pol aus. Es reagiert damit auf den komplementären Sachverhalt, dass Sprache und Schrift als prägende Medien der Moderne für die konzeptuelle Schönheit geschlossener Vokabulare besonders empfänglich sind. Das wird im Beitrag von Christian Stetter deutlich. Anders als Janich, Gutmann und Mersch akzentuiert dieser den Bereich der semiotischen Medien nicht primär von seiner kommunikativen Funktion her. Stattdessen geht es Stetter in erster Linie um den informativen Wert der von ihm so genannten „symbolisierende[n] Performanzen“ (Stetter, im vorliegenden Band, S. 133), die er als solche definiert, „in denen irgendwelche Bedeutung, Repräsentation oder Information erzeugt wird“ (ebd., S. 131). Als Ausgangspunkt seiner Medienphilosophie der Schrift dient dem Autor eine begrifflich strenge Unterscheidung zwischen Medien und Mitteln einerseits sowie zwischen Medium und Kompetenz andererseits. Im Unterschied zu Mittel und Zweck gelte für „Medium und Mediatisiertes“, dass diese „zusammen ein einziges Ereignis [bilden], genau eine Performanz, nicht verschiedene“ (ebd., S. 130). Das Gelingen dieser Performanz sei dabei nicht allein von den Eigenschaften des Mediums abhängig, sondern

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auch und vor allem von der Kompetenz des Mediennutzers. Aus diesem Grund habe sich die linguistische Untersuchung des Sprachmediums seit Chomsky auf die grammatische Kompetenzanalyse konzentriert. Das zu verändern sei Aufgabe einer schriftphilosophisch grundierten Sprachforschung, die sich nicht am kommunikativen Gelingen des medialen Verfahrens, sondern an diesem selbst als Prozess semiotischer Sinnerzeugung ausrichtet. In seinen Ausführungen stützt sich Stetter auf Nelson Goodmans Symboltheorie und auf Derridas Grammatologie. Beiden sei die medienphilosophische Grundeinsicht gemeinsam, dass „das abstrakteste mediale Artikulationsprinzip“ in der „Erzeugung von Zeichen aus willkürlichen Differenzen opaken Materials“ (ebd., S. 144) bestehe. Dieses Prinzip, so Stetter weiter, komme zwar erst in der Alphabetschrift zu sich selbst, sei aber bereits in der gesprochenen Sprache angelegt und gelte darüber hinaus für „jegliche[r] Art symbolisierender Performanzen“ (ebd., S. 133), also auch für ephemere und bewegte Medien wie Musik und Tanz. Die besondere Auszeichnung des persistenten und starren Mediums der Schrift bestehe jedoch darin, dass ihm im Unterschied zu den letzteren „jede genuine, auf seinen medialen Eigenschaften beruhende Nähe zur Emotionalität“ (ebd., S. 135) abgehe. Auch für Lambert Wiesing tritt die kommunikative, zwischenmenschliche und damit immer auch emotionale Dimension der Informations- und Kommunikationsmedien hinter ihre Darstellungsfunktion zurück. In seinen Überlegungen zur Medienphilosophie des Bildes unterscheidet er anthropologische, semiotische und wahrnehmungstheoretische Ansätze der zeitgenössischen Bildforschung. Diesen sei gemeinsam, dass sie die Binnenstruktur von Bildern am Leitfaden der „Dreiteilung ‚Darstellung – Dargestelltes – Darstellendes‘“ (Wiesing, im vorliegenden Band, S. 153) analysieren. Unterschiede zwischen den drei Ansätzen ergeben sich Wiesing zufolge daraus, dass sie das Phänomen des Bildes jeweils anderen Oberbegriffen zuordnen: den menschlichen Artefakten, den Zeichen bzw. den sichtbaren Gegenständen. Unentschieden bleibt der Autor hinsichtlich der Frage, ob die Medienphilosophie des Bildes als ein eigenständiger, vierter Ansatz zu verstehen ist oder nicht. Denn: „Bilder als Medien zu erforschen, ist […] solange problematisch, wie man nicht weiß, was ein Medium ist“ (ebd., S. 158). Daher beschränkt sich Wiesing darauf, die medienphilosophische Analyse als „Spezifizierung“ (ebd., S. 159) innerhalb des von ihm selbst vertretenen wahrnehmungstheoretischen Ansatzes durchzuführen. Um es nicht „bei der gleichermaßen wichtigen, aber auch allgemeinen Feststellung [zu] belassen“, dass jedes Bild „eine besondere Sichtbarkeit ist“ (ebd.), unterscheidet Wiesing vier mediale Typen reiner Sichtbarkeit: die starre Sichtbarkeit des Tafelbildes, die bewegte des Films, die manipulierte der Animation und die interaktive der Virtuellen Realität. Die Spannung, die zwischen informations- bzw. darstellungstheoretischen und dezidiert kommunikationstheoretischen Medienphilosophien besteht, wird im Beitrag von Matthias Vogel in Bezug auf die Musik weiter entfaltet. So unterscheidet der Autor zwei Sorten von Medienphilosophie der Musik. Die eine verfolgt die „Strategie einer epistemologischen Aufladung der Musik“, die andere interpretiert Musik im Rahmen einer „Analyse ästhetischer Kommunikationsprozesse“ (Vogel, im vorliegenden Band,

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S. 164). Die Grenzen des epistemologischen Paradigmas zeigt Vogel am Beispiel von Adorno und Goodman auf, die Stärken des ästhetisch-kommunikativen Modells anhand von Dewey. Das Medium der Musik dient aus Vogels Perspektive weder primär der Darstellung äußerer Sachverhalte noch allein dem Ausdruck innerer Erfahrungen. Denn „musikalische Gedanken“ (ebd., S. 163) haben darüber hinaus immer auch eine kommunikative Dimension. Das liegt daran, dass Musik – wie jedes Medium (in dem von Vogel exponierten handlungstheoretischen Sinn) – auf „transindividuelle[n] Strukturen“ (ebd., S. 175) basiert, die sich aus der sozialen Etablierung des Mediums ergeben. Unsere musikalische Erziehung ist in eine synästhetische Interaktionspraxis eingebettet, die „interpretative Kompetenzen vermittelt, indem in ihr musikalische Äußerungen mit mimischen, gestischen, tänzerischen, prosodischen, aber auch sprachlich beschriebenen Interpretationen korreliert werden“ (ebd., S. 177). Die vielfältigen Dimensionen dieses „medialen Spiels, [das] […] in frühen Formen der affektuellen Kommunikation verwurzelt ist“ (ebd., Anm. 36), kehren in ästhetisierter Gestalt im Medium des Tanzes wieder. Im Unterschied zu Sprache, Schrift und Bild handelt es sich bei diesem – so Gabriele Klein in ihrer Medienphilosophie des Tanzes – um ein „Kommunikationsmedium, [das] immer auch ein Medium kinästhetischer Wahrnehmung“ (Klein, im vorliegenden Band, S. 183) ist. Als ein solches enthalte der Tanz einerseits ein „utopisches Potenzial“ (ebd., S. 186), fungiere aber andererseits und zugleich als kulturelles Disziplinierungsinstrument. Die in dieser Doppelfunktion zum Ausdruck kommende „Ambivalenz“ (ebd., S. 185) spiegelt sich Klein zufolge in dem Sachverhalt, dass die spezifische Medialität des Tanzes erst vor dem transmedialen Hintergrund der „(un)heimlichen Allianzen zwischen Tanz und neuen […] Medien“ (ebd., S. 181) offensichtlich wurde. In den künstlerischen Formen von motion capturing und computer animated dancing habe die Informatisierung und Digitalisierung des Tanzes dessen scheinbar natürlichen Körperbezug in Frage gestellt. Ähnlich wie Klein in ihrer historischen Rekonstruktion der „Tanz-Moderne“ (ebd., S. 187) versucht, das Medium „in seinen repräsentativen und performativen Dimensionen“ (ebd.) zu erfassen, geht es auch Dieter Teichert in seiner Medienphilosophie des Theaters darum, „die Repräsentations- und Darstellungsfunktion der theatralen Zeichen“ (Teichert, im vorliegenden Band, S. 203) nicht zu verabsolutieren. Die von Aristoteles bis Hegel reichende Dominanz des Textmodells des Theaters wird zu diesem Zweck mit dem historischen Sachverhalt konfrontiert, dass die griechische Tragödie ihrem Ursprung nach kein distanziert wahrzunehmendes Kunstwerk, sondern eine interaktive Form der Teilhabe war, „die Musik und Tanz als integrale Bestandteile“ (ebd., S. 206 f.) enthielt. Aufgrund seiner „Pan-Semiotik“ (ebd., S. 203), so Teichert weiter, sei dem Theater darüber hinaus eine metamediale Dimension eigen. Als Medium, das den Zeichengebrauch anderer kultureller Systeme aufgreift und in verfremdender Form als „Zeichen für Zeichen“ (ebd., S. 202) vorführt, integriert und kritisiert das Theater die gesellschaftlich jeweils vorherrschenden Medienverhältnisse. Die acht Beiträge, die sich mit den semiotischen Informations- und Kommunikationsmedien befassen, lassen sich in drei Gruppen unterteilen. Die erste Gruppe (Janich,

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Gutmann, Mersch) akzentuiert den kommunikations- und interaktionstheoretischen, die zweite (Stetter, Wiesing) den informations- und darstellungstheoretischen Aspekt der thematischen Medien. Die Vertreter der dritten Gruppe (Vogel, Klein, Teichert) bemühen sich um eine vermittelnde Position. Die von ihnen behandelten Gegenstände Musik, Tanz und Theater werden traditionell eher zu den Künsten als zu den Medien gerechnet. Um zu zeigen, dass die eine Zuordnung die andere nicht ausschließt, arbeiten die Autorin und die beiden Autoren den kommunikationstheoretischen Zusammenhang heraus, der zwischen dem künstlerischen Ausdruck innerer Erfahrungen und der medialen Darstellung äußerer Sachverhalte besteht. Dabei wird deutlich, dass dasjenige, was aus der Perspektive einer audiovisuell geprägten Medienkultur als das Unsagbare (Sprache), das Unbeschreibliche (Schrift) oder das Unsichtbare (Bild) erscheint, häufig auf andere Medienwelten verweist, innerhalb derer es sich synästhetisch kommunizieren bzw. multimedial gestalten lässt. Damit ist der Grundgedanke formuliert, auf den auch Sybille Krämer in ihrem Beitrag zur Medienphilosophie der Stimme zusteuert. Dieser Text eröffnet die Reihe derjenigen Artikel, die sich mit den technischen Verbreitungs-, Verarbeitungs- und Speichermedien befassen. Es ist keinesfalls selbstverständlich, die Stimme als ein solches zu verstehen. Im Regelfall wird sie eher semiotisch als „Medium von Sprache und Kommunikation“ (Krämer, im vorliegenden Band, S. 222) begriffen. Darin spiegelt sich Krämer zufolge „die Marginalisierung der Lautlichkeit gegenüber der Propositionalität des Sprechens […], durch die Sinn und Sinnlichkeit, Geist und Körper hierarchisiert [...] werden“ (ebd., S. 227). Deshalb geht es der Autorin zunächst einmal darum, die Körperlichkeit der Stimme in ihrer physiologischen Realität als „Stimmapparat“ (ebd., S. 228) in Erinnerung zu rufen: „Ein durch Lungen und Bronchien geformter Luftstrom, der unsere Stimmbänder in Schwingungen versetzt und durch deren Vibration Töne erzeugt“ (ebd.). In ihrer Rekonstruktion der einschlägigen Arbeiten von Kristeva, Barthes, Mersch, Waldenfels, Meschonnic, Sample und Rotman sowie von deren Vorläufer Nietzsche versucht Krämer, die „Performanz der Stimmlichkeit“ (ebd.) in einem „theoretisch ‚schwachen‘ Sinn“ (ebd.) näher zu erschließen. Neben das bereits beschriebene Merkmal der Körperlichkeit treten dabei ihre Indexikalität, ihre Affektivität bzw. ihr Appellcharakter sowie ihre Aisthetik und ihre Epistemologie. Diese fünf „nicht-hermeneutische[n]“ (ebd., S. 229) Eigenschaften markieren Krämer zufolge die spezifische „Autonomie“ bzw. den „Eigensinn des Stimmlichen“ (ebd., S. 234). Dessen konsequente Berücksichtigung führe, so der Ausblick der Autorin, zu einem erweiterten Konzept von Medialität, in dessen Rahmen der konstitutive Bezug auf ein „Außerhalb des Mediums“ (ebd.) nicht als semiotische Repräsentation geistiger Entitäten, sondern als performative Verkörperung eines anderen Mediums begriffen wird. Die breitenwirksame Vorherrschaft der von Krämer kritisierten repräsentationalistischen Denkformen führt Reinhard Margreiter in seinem Beitrag auf die Etablierung des Buchdrucks als Massenmedium im 18. und 19. Jahrhundert zurück. Seiner Ansicht nach lassen sich sowohl die positivistische Orientierung an „der objektiven Beschaffenheit der Welt“ (Margreiter, im vorliegenden Band, S. 245) als auch die transzendentalphilo-

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sophische Ausrichtung an „einer übergeschichtlich legitimierten konstruktiven Gesetzmäßigkeit des denkenden Subjekts“ (ebd.) als Effekte einer „Hyperbolisierung buchbezogener Erkenntnis- und Wissensideologie“ (ebd.) deuten. Im Rekurs auf McLuhan, Eisenstein, Ong, Kittler, Hartmann und Giesecke zeigt der Autor des weiteren auf, wie das von ihm so genannte System der „typographische[n] Prägnanz“ (ebd., S. 242) nicht nur die moderne Philosophie, sondern auch das methodische Selbstverständnis der neuzeitlichen Wissenschaften mitgestaltet hat. Dabei handelt es sich Margreiter zufolge nicht um einen einfachen Mediendeterminismus, sondern um „ein komplexes Feld wechselseitiger Abhängigkeiten“ (ebd., S. 244), das erst „aus der Optik nachfolgender sowie vorhergehender Medien als eigenständiges Paradigma bewusst [wird]“ (ebd., S. 247). Die von Margreiter als medienphilosophische Grundformel propagierte Gleichung „Sein = Medialität“ (ebd., S. 241) wird von Bernd Stiegler in seinem Beitrag zur Medienphilosophie der Photographie problematisiert. Seiner Ansicht nach sollte die Medienforschung „ihren Gegenstand nicht zum theoretischen Modell machen“ (Stiegler, im vorliegenden Band, S. 267). Der Preis dafür sei zu hoch; er bestehe nämlich in einer Reduktion der medienhistorischen Komplexität. Das führt der Autor am Beispiel der Arbeiten von Friedrich Springorum und Vilém Flusser vor Augen. In ihren philosophischen Überlegungen zur Photographie hätten beide auf je unterschiedliche Weise ihren Gegenstand auf „das Schema von Oppositionspaaren und einfachen Ordnungen der Repräsentation“ (ebd.) reduziert. Erst Benjamin, Foucault und Roland Barthes sei es demgegenüber gelungen, die Geschichte der Photographie in ihrer inneren Vielfalt zu bezeugen. Diese bewege sich zwischen visueller Arretierung („Aura“) und intermedialem Ereignis („Chock“), zwischen semiotischer Signifikanz und spielerischer Nochnicht-Zeichenhaftigkeit. Radikaler noch als Stiegler problematisiert Alexander Roesler die von Krämer und Margreiter nur unterschiedlich umgesetzte Idee, dass die Eigendynamik und (relative) Autonomie des Technisch-Medialen philosophisch von grundlegender Bedeutung sei. Statt von den performativen Dimensionen technischer Medien auszugehen, um mit ihrer Hilfe Grundprobleme und Denkformen der Philosophie zu untersuchen, schlägt Roesler den umgekehrten Weg vor. So stellt er mit Blick auf das Telefon die Frage, „ob man in Abgrenzung und als Lehre aus den bisherigen Philosophien des Telefons eine Medienphilosophie des Telefons nicht ganz anders verstehen muss“ (Roesler, im vorliegenden Band, S. 273). Anhand einschlägiger Fachliteratur führt Roesler vor Augen, dass es sich dabei entweder überhaupt nicht um Philosophie handelt (McLuhan, Flusser) oder das Thema Telefon mehr oder weniger verfehlt wird (Ronell, Derrida). Das darin zum Ausdruck kommende „Grundproblem“ (ebd., S. 281) fasst der Autor wie folgt zusammen: „Begrifflich gibt eine technische Vorrichtung eben nicht viel her“ (ebd.). Daher gelte es, so weiter Roesler, Autoren wie Münker und Nyíri zu folgen, die keine „Philosophie über einen Apparat“ (ebd.) intendieren, sondern „eine Nuancierung in der Beantwortung traditioneller philosophischer Fragen“ (ebd.). Dass das eine das andere nicht ausschließen muss, versucht Lorenz Engell in seiner Medienphilosophie des Films zu zeigen. In einer Detailanalyse von Orson Welles’ Citi-

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zen Kane (1941) führt er vor Augen, wie „Medien und Medienprobleme selbst als – dann eben nicht mehr ausschließlich begriffliche – Aufschlüsselungen, Modelle und Reflexionen dargestellt und darin begrifflich rekonstruiert werden [können]“ (Engell, im vorliegenden Band, S. 283). Während der klassische Film und seine Avantgarde die spezifische Dynamik einer „Verräumlichung der Zeit“ und einer „Verzeitlichung des Raumes“ (ebd., S. 287), die durch die technischen Mittel der bewegten Bilder möglich werden, zunächst einfach nur umsetzten, habe mit Citizen Kane die philosophische Reflexion auf das Geschehen des Films selbst und damit die filmische Moderne im eigentlichen Sinn eingesetzt. Die medial realisierte Gedankenleistung, die Welles in seinem Film erbringt, bestehe dabei darin, „die alte Grundfrage der Film-Ontologie [...] nach [...] dem Zugriff des Films auf die Wirklichkeit [...] aus der Mitte des bewegten Bildes selbst heraus“ (ebd., S. 284) zu behandeln. Wenn freilich gilt (was Krämer und Margreiter nahe legen), dass die (von Engell auf Welles projizierte) repräsentationalistische Grundfrage nach dem Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem eng mit der Mediengeschichte von Schrift und Buchdruck verzahnt ist, gerät Engells filmische Erweiterung des Konzepts der Medienphilosophie auf der inhaltlichen Ebene in ein Problem. Dessen Grundzug hat Richard Rorty einmal in Bezug auf die dekonstruktivistische Literaturwissenschaft wie folgt formuliert: „In ihrer Extremform verleitet diese Auffassung die Literaturwissenschaftler dazu, jeden Text so anzugehen, als ‚handle‘ er von den immer gleichen alten philosophischen Gegensätzen: Zeit und Raum, Sinnliches und Intelligibles, Subjekt und Objekt, Sein und Werden, Identität und Verschiedenheit“ (Rorty, 1991, S. 143). Rortys Kritik an diesem Verfahren, die sich relativ leicht auf Engell übertragen lässt, lautet: „Gerade als wir pragmatischen, an Wittgenstein geschulten Therapeuten uns dazu beglückwünschten, der gelehrten Welt die Vorstellung ausgeredet zu haben, dass diese Gegensätze etwas ‚Tiefes‘ darstellen [...], merkten wir, dass all die liebgewordenen ‚Probleme der Philosophie‘ aus dem Lehrbuch als das verborgene Konzept unserer Lieblingsgedichte und -romane apostrophiert wurden“ (ebd.). Der vor diesem Hintergrund in den Blick kommende „Gegensatz zwischen theoretizistischen und pragmati(zisti)schen Ansätzen“ (Filk, im vorliegenden Band, S. 301) in der Medienphilosophie wird von Christian Filk in seinen Überlegungen zur Theoriegeschichte des Radios explizit gemacht. Auch Filk nimmt dabei auf Orson Welles Bezug und zwar auf dessen Hörspiel War of the Worlds (1938). Darin sei es gerade nicht darum gegangen, die Repräsentation zu repräsentieren. Stattdessen habe Welles auf der medienpragmatischen Ebene „das wirklichkeitsinszenierende Potenzial des Massenmediums Radio [...] sozusagen in Echtzeit vorgeführt“ (ebd., S. 303). Ins Politische gewendet finde sich der radiotheoretische Medienpragmatismus bei Brecht und Benjamin. Das Ziel der beiden sei es gewesen, das Radio als ein mediales Instrument zu gestalten, mit dessen Hilfe sich die politischen und sozialen Verhältnisse in Richtung einer „auf reziproker Kommunikation beruhenden Gesellschaft“ (ebd., S. 304) verändern lassen sollten. Komplementär dazu, so Filk, hätten die in der „Tradition medienkritischer Rundfunktheorien“ (ebd., S. 307) stehenden Autoren (Adorno, Anders, Arnheim, Horkheimer u. a.) aufgezeigt, wie der potentielle Kommunikationsapparat Radio historisch

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Schritt für Schritt in eine kulturindustrielle Uniformierungsmaschine transformiert worden ist. Eine ähnliche Mediendialektik zeichnet Stanley Cavell in seinen Überlegungen zur Tatsache des Fernsehens nach. Seiner Analyse zufolge gilt für den auditiven und für den televisuellen Rundfunk, „dass beide Medien Modi des Sendens und des Kontrollierens sind, d. h. Ströme simultaner Ereignisrezeption“ (Cavell, im vorliegenden Band, S. 336). Das unterscheide sie vom Film. Dessen „materielle Basis“ (ebd., S. 327) bestehe in einer „Abfolge automatischer Welt-Projektionen“ (ebd.) und folge dabei der ästhetischen Idee des „Genre als Medium“ (ebd., S. 320). Das Fernsehen sei demgegenüber stärker einer seriellen Konzeption des „Genre als Zyklus“ (ebd.) verpflichtet. Ihm gehe es auf der Ebene seiner ästhetischen Konstruktionsprinzipien nicht darum, Welt und Natur sukzessive darzustellen. Stattdessen tendiere es vielmehr dazu, deren Verlust in der seriellen Wiederkehr von Pseudo-Ereignissen anzuzeigen. Die für das Fernsehen spezifische Ambivalenz tritt Cavell zufolge insbesondere darin hervor, dass das televisionäre Kollektiverlebnis zugleich das Fehlen von Gemeinschaft und Menschlichkeit kompensiert – und zwar dadurch, „dass das, was es präsentiert, zu jeder Zeit live sein könnte“ (ebd., S. 329). Dem entspreche der strukturell grundlegende „Widerstreit“ (ebd., S. 338), der zwischen der Vergänglichkeit der einzelnen Episode und der Wiederholungsstruktur der Serie besteht. Die „Abneigung und [...] Besorgnis [...], die das Fernsehen in gebildeten Kreisen auslöst“ (ebd., S. 339) wird von Cavell als verschobene Angst davor interpretiert, „dass das, was es kontrolliert, die wachsende Unbewohnbarkeit der Welt ist, die unwiderrufliche Umweltverschmutzung“ (ebd., S. 340) Wenn sich diese Verschiebung aufheben ließe, bestehe die Möglichkeit, das Medium in Bezug auf „unsere Lähmung“ (ebd., S. 341) so zu nutzen, dass es uns dabei helfen kann, „etwas Intelligentes gegen deren Ursache auf den Weg zu bringen“ (ebd.). Zu diesem Zweck freilich, so Cavells Ausblick, müsste der Monitor sich dazu aufschwingen, „bessere Gespräche zu präsentieren, [...] nach sinnvollen Zusammenhängen und nach der Schönheit in seinen events [zu] suchen“ (ebd.). Medienpolitische Utopien dieser Art werden in Bezug auf das Fernsehen heute nur noch selten formuliert. Hinsichtlich der digitalen Medien aber haben sie Konjunktur. Damit setzen sich die drei letzten Beiträge des vorliegenden Bandes auseinander. Sie beziehen sich auf den Computer, das Internet und die Virtual Reality. Die Tendenz zur sozialphilosophischen Überhöhung der medientechnischen Digitalisierung verfolgt Lutz Ellrich in seiner Medienphilosophie des Computers zurück bis zum Kybernetikdiskurs der fünfziger und sechziger Jahre. Den weltanschaulichen Charakter und die politische Naivität einiger Äußerungen von Norbert Wiener und Max Bense konfrontiert er mit der „‚Engführung‘ der philosophischen Reflexion“ (Ellrich, im vorliegenden Band, S. 348), die sich im Umfeld der KI-Debatte vollzogen hat. Die Fokussierung auf Fragen der Computer-Geist-Analogie (Putnam, Searle, Penrose) habe zwar – ganz im Sinn von Roesler – „Licht auf schwierige Probleme der Philosophie“ (ebd., S. 350) geworfen, dabei aber „das rätselhafte Phänomen Computer“ (ebd.) nicht vielschichtig genug als „grundlegend Anderes“ (ebd., S. 343) aufgefasst.

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Das sich daraus ergebende Forschungsdesiderat versucht Ellrich mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung zu füllen. Anhand einer Befragung von „Personen, die sich intensiv und andauernd mit dem Computer beschäftigen“ (ebd., S. 354) analysiert er die Signatur der von Margreiter so genannten „telematischen Prägnanz“ (ebd.). Dabei zeige sich, dass die Computerprofis das Gerät weniger als eine ‚Geistmaschine‘ denn als einen „Motor des leiblichen Bei-sich-Seins“ (ebd., S. 356) nutzen. Der sich daraus ergebenden Frage, wie sich die von Ellrich untersuchten hybriden Kommunikationsformen unter den Bedingungen der Massennutzung des Internet ethisch und politisch auswirken, geht Mark Poster in seinem Beitrag nach. Durch die Virtualisierung von Information und Kommunikation entstehe „eine Basis für kulturelles Hinterfragen“ (Poster, im vorliegenden Band, S. 376). Die von Nietzsche noch elitär formulierte Utopie einer sich selbst deterritorialisierenden Moral lege sich daher in Zukunft als transnationale Lebensform für einen „Großteil der Weltbevölkerung“ (ebd.) nahe. Dieser gewagten Prognose liegt bei Poster die Überlegung zugrunde, dass „die Medien, in diesem Fall das Internet, [...] die moralische Umgebung [verändern]“ (ebd., S. 368). Das Besondere der digitalen Vernetzung bestehe in dem Sachverhalt, dass diese Raum und Zeit so virtualisiert, dass sich die „komfortable Trennung von Öffentlich und Privat“ (ebd.) mehr oder weniger auflöst. Die in der Moderne institutionalisierte Abspaltung des Privaten habe „es uns ermöglicht, Erfahrungen zu tolerieren, die wir eigentlich als schlecht oder sogar böse ansehen“ (ebd.). Das Öffentlichwerden dieser Erfahrungen im Netz setze daher „ein größeres Spektrum an Menschlichkeit“ (ebd.) frei. Während die traditionellen Verbreitungsmedien Buchdruck, Radio, Film und Fernsehen die Face-to-face-Kommunikation noch als nichttechnischen und nichtmedialen Raum voraussetzten und auf dieser Grundlage eine territoriale Ethik des „Gesichts“ (Lévinas) stabilisierten, sei mit der „Gesichtslosigkeit“ (ebd., S. 364) der digitalen Interaktion eine neue Form der medialen Verzahnung von Ethos und Politik notwendig geworden. Während Poster mit Blick auf die digitalen Medien einen Beitrag zur praktischen Medienphilosophie leistet, geht Stefan Münker im Schlussessay des vorliegenden Bandes der Frage nach, wie sich der Prozess der Virtualisierung aus Sicht der theoretischen Medienphilosophie darstellt. Ganz im Sinn der von Ellrich befragten Computerprofis problematisiert der Autor den von ihm so genannten „immaterialistischen Fehlschluss“ (Münker, im vorliegenden Band, S. 384). Dieser finde sich sowohl bei Medienpropheten wie Hans Moravec und Marvin Minsky als auch bei Medienskeptikern wie Jean Baudrillard und Paul Virilio. Er bestehe in der falschen Annahme, „dass der digitale Raum eine nicht-materielle Umgebung darstellt, in der wir nur gleichermaßen immateriell agieren“ (ebd.). Demgegenüber gelte es mit Kittler zu berücksichtigen, „dass Daten immer erst maschinell erzeugt und dann permanent prozessiert werden müssen“ (ebd.). Das bedeute freilich nicht, so Münker, dass sich die Medienphilosophie der Virtual Reality auf eine Umdeutung der Computertechnologie „zu einer vom Menschen grundsätzlich unabhängigen Form von Realität“ (ebd., S. 390) kapriziert. Vielmehr gelte es, die Hardware des menschlichen Körpers und die Software der humanen Nutzerinteressen medienphilosophisch ernster zu nehmen als bisher üblich.

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Mike Sandbothe

Damit wird abschließend noch einmal die diskursökonomische Balancefunktion deutlich, welche die Medienphilosophie innerhalb der aktuellen medientheoretischen Debatte erfüllt. Hinsichtlich der technischen Verbreitungs-, Verarbeitungs- und Speichermedien besteht diese Ausgleichsleistung vor allem darin, die Tendenz zur paradigmenbildenden Fixierung auf bestimmte technische Leitmedien zu hinterfragen. Diese Tendenz findet sich bei einer Vielzahl moderner Medien- und Kommunikationstheorien (Sandbothe 2003a). Indem die Systematische Medienphilosophie das komplexe Zusammenspiel der unterschiedlichen Medien und Mediensorten veranschaulicht, setzt sie auf die diskurstherapeutische Wirksamkeit der von Wittgenstein gepriesenen „Übersicht“ (vgl. Nagl, im vorliegenden Band, S. VII). Dabei handelt es sich um ein forschungsökologisches Experiment, ein wissenschaftspragmatisches work in progress, dessen Ausgang offen ist. Die Zielperspektive einer systematischen Gleichberechtigung der verschiedenen Medien und Mediensorten ist alles andere als selbstverständlich. Vielmehr kann die bewusste Orientierung am Leitmedien-Denken und das fortgesetzte Arbeiten mit medialen Hierarchien durchaus als die erfolgreichere Theoriestrategie erscheinen. So finden sich auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes interessante Versuche, dieses oder jenes Einzelmedium zum Fundament für alle anderen zu erklären; das gilt nicht nur für die verschiedenen technischen Verbreitungsmedien, sondern auch für bestimmte Wahrnehmungs- und Kommunikationsmedien. Die diskurstherapeutische Rehabilitierung kulturell verdrängter und akademisch vernachlässigter Medienwelten lässt sich demgegenüber vor allem normativ plausibilisieren (Sandbothe 2003b). Systematische Medienphilosophie erscheint dann als intellektuelles Werkzeug, das auf der Ebene der Theorie einen Beitrag zur Demokratisierung unseres Medienumgangs im 21. Jahrhundert leisten kann.

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Literatur Fietz, Rudolf (1992), Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg: Königshausen & Neumann. Filk, Christian/Grampp, Sven/Kirchmann, Kay (2004), „Was ist ‚Medienphilosophie‘ und wer braucht sie womöglich dringender: die Philosophie oder die Medienwissenschaft? Ein kritisches Forschungsreferat“, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, Bd. 29, H. 1, S. 39-65. Hartmann, Frank (2000), Medienphilosophie, Wien: Wiener Universitätsverlag. Lagaay, Alice/Lauer, David (2004), „Einleitung – Medientheorien aus philosophischer Sicht“, in: Medientheorien. Eine philosophische Einführung, hg. v. Lagaay, Alice/Lauer, David, Frankfurt a. M./New York: Campus. Leschke, Rainer (2003), Einführung in die Medientheorie, München: Fink. Luhmann, Niklas (1997), Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Margreiter, Reinhard (2004), Medienphilosophie, Lehrbrief der Universität Rostock, Rostock: Universitätsdruckerei. Mersch, Dieter (2003), „Technikapriori und Begründungsdefizit. Medienphilosophien zwischen uneingelöstem Anspruch und theoretischer Neufundierung, in: Philosophische Rundschau, Bd. 50, H. 3, S. 193-219. Münker, Stefan/Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hgg.) (2003), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a. M.: Fischer. Rorty, Richard (2000), Die Schönheit, die Erhabenheit und die Gemeinschaft der Philosophen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Rorty, Richard (1993), „Dekonstruieren und Ausweichen“, in: ders., Eine Kultur ohne Zentrum. Vier philosophische Essays, Stuttgart: Reclam, S. 104-146. Sandbothe, Mike (2001), Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internet, Weilerswist: Velbrück. Sandbothe, Mike (2003a), „Medien – Kommunikation – Kultur. Grundlagen einer pragmatischen Kulturwissenschaft“, in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 119-127. Sandbothe, Mike (2003b), „Was ist Medienphilosophie?“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, Bd. 48, H. 2, S. 195-206. Sandbothe, Mike/Nagl, Ludwig (2003), „Systematische Medienphilosophie: Ein Exposé“, Online-Publikation: http://www.sandbothe.net/226.html. Vogel, Matthias, (2001), Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wittgenstein, Ludwig (1984), Philosophische Untersuchungen, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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SINNLICHE WAHRNEHMUNGSMEDIEN

Götz Großklaus

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1. Wenn man von der Annahme ausgehen will, dass die mythische Weltansicht in „engstem Umkreis des sinnlich-räumlichen Daseins“ (Cassirer 1994, S. 112) wurzelt, erscheint es plausibel, den Körper als ein erstes Bezugssystem zu sehen, über das erste „Elemente“ einer räumlichen Orientierung ablesbar werden: Das Bild des menschlichen Leibes vermittelt die Anschauung von räumlichen Indices wie „oben“ und „unten“, „vorn“ und „hinten“, „rechts“ und „links“ – und vor allem von „innen“ und „außen“. Diese ursprüngliche Verortung des Körpers und die Bezeichnung von Unterschieden der Positionierung im Raum verbindet sich von vornherein mit der Privilegierung bestimmter „Positionen“: „oben“ (Kopf, Gesicht) vor „unten“; „vorn“ (Gesichtsfeld, Übersicht) vor „hinten“ (außerhalb des Gesichtsfeldes, Gefahr); „innen“ (Eigenes) vor „außen“ (Fremdes); „rechts“ vor „links“ scheint kulturspezifischen Bewertungen zu unterliegen. Dem mythischen Denken wird – wie Cassirer es ausdrückt – die objektive Welt erst dadurch durchsichtig und abteilbar in bestimmte Bezirke des Daseins, indem es „sie in dieser Weise analogisch auf die Verhältnisse des eigenen Leibes‚ abbildet“ (ebd.). Der mythische Raum-Entwurf übersetzt und überträgt diese „Körper-Daten“ in die symbolische Ordnung des „Ortes“: Entlang von Grenzlinien der Differenz unterscheidet die mythische Vorstellung besondere Bezirke eines von der Gruppe angeeigneten, umhegten Ortes (Dorf) von dem umgebenden Raum der „Wildnis“, der Fremde, vom Raum des Anderen; die Grenze scheidet den Sicherheit gewährenden Innenraum als Eigenraum von dem bedrohlichen Außenraum als Fremdraum. Innerhalb der umhegten Raumstelle des Dorfes kehrt die Scheidung von „innen“ und „außen“ noch einmal wieder in der Trennung des heiligen Bezirks im Zentrum und der profanen Zone an der Peripherie. So beschreibt Lévi-Strauss die Raum-Ordnung eines Bororo-Dorfes im brasilianischen Urwald, die offenbar diesem binären Grund-Raster entspricht. Die Familienhütten liegen im Kreis angeordnet an der äußeren Randzone der Peripherie, an der Grenzlinie, die den Außenraum des Urwalds vom Innenraum des Dorfes trennt; das Zentrum (Männerhaus, Tanzplatz) „dient als Bühne des zeremoniellen Lebens“, die Peripherie ist „den häuslichen Verrichtungen der Frauen vorbehalten“ (Lévi-Strauss 1969, S. 158). Zentrum und Peripherie bringen raumsymbolisch den Gegensatz von „heilig“ und „profan“ und von „männlich“ und „weiblich“ zum Ausdruck. Schließlich durchschneiden zwei senkrecht aufeinander stehende Achsen – die Ost-West-Achse und

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die Nord-Süd-Achse – das Dorf. Das Achsenkreuz befestigt und verortet einen lokalen Bezirk im kosmischen Raum – einmal über die Teilung in eine Tag- und Nachtseite (Lauf der Sonne), zum anderen über die Teilung „nach dem zu- oder abnehmenden Tage in eine Morgen- und Abendseite“ (Cassirer 1994, S. 124). Der Osten, Ort der aufgehenden Sonne, gilt als Ursprung des Lichtes und des Lebens; der Westen, Ort der sinkenden Sonne, als Reich der Toten. Das „Richtungs-Zeichen“ des Achsenkreuzes verbindet sich mit weiteren symbolischen Zuschreibungen wie etwa Licht vs. Dunkel = Geburt vs. Grab etc. Cassirer erinnert daran, dass das „gesamte System der römischen ‚Theologie‘ sich aus dieser ursprünglichen, rein örtlichen Teilung entfaltet“: Das religiöse Denken entwirft mit der Scheidung und Kreuzung der Richtungslinien, des decumanus (Ost-West) und des cardo (Nord-Süd), ein grundlegendes Koordinatenschema, das sich als übertragbar in Bereiche des rechtlichen, sozialen und staatlichen Lebens erweist (ebd.). So richten sich der Bauplan italischer Städte und die Anlage eines römischen Lagers gleichermaßen nach diesem Schema und unterscheiden im Achsenkreuz von decumanus und cardo bestimmte unterschiedlich qualifizierte Raumfelder. Grenzlinien trennen diese Felder. Schranken und Schwellen akzentuieren das qualitative Gefälle zwischen den Zonen. Übergangsriten regeln den Zugang zu besonders privilegierten heiligen Bezirken (templum) etc. Zum mythischen Raum-Entwurf und zur „mythischen Geographie“ (ebd., S. 114), zur Einhegung eines umgrenzten Ortes gehören jene Prozeduren der Scheidung und Trennung räumlicher Felder und räumlicher Richtungen, die alle der Festlegung von Achsen der „qualitativen Differenz“ (ebd., S. 107) dienen. Der ungeschiedene, unbegrenzte, unausgerichtete, un-heimliche Raum wird so zur ersten Einschreibfläche für die symbolische Schrift. Das bedeutungslose Chaos der ursprünglichen Räumlichkeit erfährt seine Be-zeichnung. Entlang der Achsen der Differenz schlägt sich jene Bedeutung nieder, die die Aneignung des fremden, ‚un-heimlichen‘ Raums ermöglicht; der fremde Raum wird zum eigenen, „heimischen“ Ort, die Einschreibung der Zeichen macht ihn kenntlich, lesbar, wiedererkennbar. Da – noch einmal in den Worten Cassirers – „jede räumliche Differenz immer auch qualitative Differenz ist und bleibt [...] wie auch jede qualitative Differenz eine Seite besitzt, nach der sie zugleich als räumlich erscheint“ (ebd.), fungiert der von der Gruppe angeeignete Raum als ein primäres Medium, das Grundelemente der mythischen Daseins-Ordnung zur Anschauung bringt. So könnte man die Liste der (körper)räumlichen Indices (oben/ unten, innen/außen etc.) von vornherein als Inventar eines Codes verstehen, der alle symbolischen Übersetzungen und Übertragungen steuert: „Innen“ = Eigenraum – Nahraum – „Kultur“-Raum – Schutzraum – Raum der Menschen etc. „Außen“ = Fremdraum – Fernraum – „Natur“-Raum (Wildnis) – Gefahrenraum – Raum der Götter, der Toten etc. Zentrum = Heiliger Raum – Herrschaftsraum (männlich) – Machtraum etc. Peripherie = Profan-Raum – Raum der Beherrschten (weiblich) – Raum der Deklassierten etc.

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„Oben“ = Raum der Götter – Raum der Herrscher – Raum der Lebenden „Unten“ = Raum der Toten – Raum des Bösen/des Verbotenen etc. „Osten“ = Raum des Lichts – Raum der Geburt – Raum des Lebens/des Tages „Westen“ = Raum des Dunklen – Raum des Todes – Raum der Nacht etc. Der Code leistet auf diese Weise die Zuordnung und Verknüpfung von materialen, (körper)räumlichen Daten und immateriellen, symbolischen „Inhalten“. Mythischen Gesellschaften garantiert dieser „starke“ Code ein sicheres Wissen über die jeweiligen Verortungen im Raum, über die jeweiligen territorialen Titel, Privilegien und Hierarchisierungen, über die jeweiligen Grenzverläufe und Schwellen-Rituale und schließlich über die jeweils besonderen Beziehungen zu „Mächten“, die außerhalb des eingehegten Eigenraums ihre „Wohnung“ und ihren „Ort“ haben – zu den Göttern, den Toten, den Fremden. Die unmittelbare und praktische Orientierung kann sich in vor-schriftlichen (oralen) Kulturen ganz oder überwiegend im Medium eines derart verschlüsselten „Raumtextes“ vollziehen. Zu beobachten aber ist, dass diese ursprünglich aus „magischer Anatomie“ und „mythischer Geographie“ (Cassirer 1994, S. 114) sich herleitenden mythischen Raum- und Welt-Entwürfe noch weit in die Epochen nach-mythischer Zeit hinein ihre symbolische Wirksamkeit entfalten – wenn auch in Abschwächung, säkularisiert und vom jeweiligen Leitmedium assimiliert. Das spätere Medium der Schrift wird die Umcodierung aller (körper)räumlichen sensorischen Reize und Daten in die abstrakte Form des graphischen Zeichens vornehmen: Zu beschreiben wird sein, welche Verluste oder Gewinne es mit sich bringen wird, wenn die Orientierung am „konkreten“ Material des Raums übergeht zu einer Orientierung am abstrakten Zeichen-„Material“ einer literalen „Raumkarte“ und schließlich an einer elektronischen „Karte“ des virtuellen oder simulativen Raums. Die Funktion des Raums (und des Körpers) als primäres Medium, als Ort der Codierung und Decodierung eines „kulturellen Textes“ geht aber nicht einfach verloren. Auch nachdem sich die Codiervorgänge vom sinnlichen Raum und vom sinnlichen Körper abgelöst haben, die Vermittlung, Veröffentlichung und Speicherung „kulturellen Sinns“ an die epochalen (Leit)Medien Sprache (oral, narrativ), Schrift (chirographisch – typographisch) und Bild (magisch, mythisch, religiös, ästhetisch/manuelltechnisch) übergegangen sind und „Raum“ und „Körper“ ihre je medienspezifische Zeichen-Transkription erfahren haben, verortet sich die säkulare Gesellschaft in vielen Fällen immer noch über die direkten „Einschreibungen“ am konkreten „Raumkörper“. So verhelfen die „alten“ – möglicherweise doch universellen – raumsprachlichen Indices innen – außen, Zentrum – Peripherie, oben – unten zur Grenzziehung im sozialen Raum, zur Eingrenzung und Ausgrenzung, zur Unterscheidung von Bereichen des Privaten und Öffentlichen im Rechtssinn, von Normzonen und Randzonen (Verbrechen, Wahnsinn, Krankheit, Tod, Armut), von Räumen des Eigenen (ethnisch, rassisch, national, religiös) und Räumen des Fremden – Anderen. Erinnert sei an die Raum-Symbolik der Himmelsrichtungen, die sich im Grundriss der (mittelalterlich) christlichen Kirche (West-Ost-Ausrichtung) erhalten hat. Überdies scheidet der Lettner als „Tempelschwelle“ den Laien- vom Priesterbereich etc.

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2. Die Ebstorfer Weltkarte (mappa mundi) aus dem 13. Jahrhundert (um 1239) stellt die Erde kreisrund dar und teilt die bekannte Ökumene nach dem sog. T-Schema auf (Warnke 1998, S. 120): „Die obere Hälfte der Welt macht Asien aus, unten links liegt Europa und unten rechts füllt Afrika das letzte Viertel aus.“ Die Darstellung ist nach Osten ausgerichtet. Der Orient liegt oben auf der Karte, dort wo auch das Haupt des Erlösers erscheint; in östlichen Gefilden (zwischen China und Indien) verortet der Kartograph zudem das Paradies. Der Gegenort zum Paradies – ein Ort der vom Heile Christi unerlösten, missgebildeten, abartigen Geschöpfe – wird an der südlichen Peripherie verzeichnet. In der Mitte, am Nabel der Welt, thront Christus – west-östlich orientiert – im himmlischen Jerusalem; Hände und Füße Christi tauchen an den Rändern auf, sein Leib erfüllt das Erdenrund (ebd., S. 121). Auf der Karte werden überdies – außerhalb des Erd- und Karten-Kreises – unterschiedlichste Texte zitiert, sowohl aus mittelalterlichen wie antiken Quellen. Diese Textfülle ist nach Warnke „als explizite Verbalisierung eines mittelalterlichen Welt-Bildes aufzufassen“. Die Ebstorfer Weltkarte bildet die „Welt“ nicht ab – in unserem modernen Sinn –, sondern imaginiert sie in mythischer Gleichsetzung von Welt und Leib (Christi). Was die Karte expliziert, sind selbstverständlich nicht Positionen im geographischen Raum, sondern allein signifikante Punkte, Linien und Felder in einem geschlossenen symbolischen Territorium. Gegenüber den frühzeitlich-unmittelbaren Raum-Körper-Einschreibungen des mythischen Denkens ist auf der mittelalterlichen Weltkarte die Codierung nach dem LeitParadigma (von Zentrum – Peripherie, innen – außen, oben – unten: im Achsenkreuz der Himmelsrichtungen) ganz an den ikonographischen und sprachlichen ZeichenApparat delegiert. Die spätere, im typographischen Kontext erfolgte Ausdifferenzierung der Zeichen-Systeme lässt sich für das synthetische Modell dieser Karte (noch) nicht nachweisen. Im Gegenteil: Sprache und Bild tragen gemeinsam zu diesem Konstrukt des Welt-Raums bei. Der mythische Raum-Code ordnet und be-zeichnet jetzt nicht mehr „Elemente“ im konkreten Raum, nutzt ihn nicht mehr als Medium der symbolischen Übertragung, sondern strukturiert und relationiert von vornherein Zeichen auf der Zeichenfläche des Bildtextes/des Textbildes. Die ikonographisch-visuelle Evidenz des Karten-Bildes hat ihr Pendant in der verbal-narrativen Authentizität der (an den 4 Zwickeln des Kartenfeldes) hineinmontierten Texte (Bibel, Alexanderroman, geographische, theologische, ethnologische, etymologische Textzitate u. a.). Evidenz und Authentizität verbürgen die symbolische Wahrheit dieses Welt-Raum-Entwurfs. Im Medium des (Karten)Bildes und im Medium des (Karten)Textes erfährt der Raumkörper/ Körperraum der Welt auf der Oberfläche des Zeichenträgers (Pergament: 3,5m x 3,6m) jetzt so etwas wie eine bimediale, simultane „Repräsentation“, die in diesem Sinne noch nicht der monomedialen, linearen Strenge der Typographie unterworfen ist. Die simultane Vergegenwärtigung der ganzen Welt im „synthetischen Modell“ (vgl. Giesecke 2002, S. 38) des Erdkreises simuliert den allgegenwärtigen Blick des Schöpfers auf sein Werk; nur im Medium des Bildes gelingt die Übersetzung dieser simultanen Schau –

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die Veranschaulichung der heilsgeschichtlichen Verortung der menschlichen Existenz zwischen den Polen des Paradiesischen, des Himmlischen und des Höllischen. Die Ebstorfer Weltkarte steht hier lediglich exemplarisch für eine Form vortypographischer Synthese im statischen Bild des Kreises, der den Raum der Welt verlässlich be- und umgrenzt und der Ökumene einen sicheren, heimatlichen Ort anwies: ein vorkopernikanischer Mittelpunkt in der Weite des kosmischen Raums. Im „Bilde“ der Linie (als Druckzeile der Schrift wie als Sehstrahl des perspektivischen Sehens) wird es zu einer folgenreichen Revolutionierung des medialen RaumzeitEntwurfs kommen.

3. Unstrittig sind die gutenbergsche Erfindung des mechanischen Buchdrucks (1448/50) und die Publikation jenes Traktates über die Malkunst (Della Pittura) von Leon Battista Alberti (1435/36), in dem eine Theorie der perspektivischen Raum-Wahrnehmung vorgelegt wird, als epochal anzusehen. Sowohl die chirographische Schriftform als auch das aperspektivische, symbolische (Kult)Bild büßen relativ rasch ihren medialen Status im Ensemble der neuen Leitmedien von Typographie und perspektivisch-„objektivem“ Bild ein. Diese Zäsurlinie von 1430/50 trennt die moderne europäische Medien-Evolution (in Tempo, Mentalität und Form) von den medialen Entwicklungen in außereuropäischen Kulturen. Mit diesem Medien-Umbruch vollzieht sich in Europa ein Wandel der kollektiven raumzeitlichen Wahrnehmung. Die symbolische Raumkarte der oral-chirographisch-kultbildlichen Epoche kann sich gegenüber der medialen Modernität des perspektivisch-rationalen und des linear-serielltypographischen Raum-Entwurfs nicht behaupten – wenngleich die „alten“ Indices (s. o.) auch in den neuen Raum-Konstrukten eine Rolle spielen werden. Eine Beschreibung des typographisch-perspektivischen Raum-Entwurfs orientiert sich am Leitfaden bestimmter Leitbegriffe, die von unterschiedlichen Autoren zur Erfassung des alphabetisch-typographischen Systems im Ganzen herausgearbeitet wurden, das sind Begriffe wie: Linearität – Serialität – Horizontalität; Sukzessivität – Zeitlichkeit – Bewegung; Auge – Blick – Ausschnitt – Rahmen etc. (McLuhan 1962, dt. 1968a; 1964, dt. 1968b; de Kerckhove 1990, dt. 1995; Havelock 1992; Ong 1982, dt. 1987; Giesecke 2002; Hüsch 2003) An Leitbegriffen wie diesen werden mediale Rahmenbedingungen einer verbalen (graphisch-visuellen) und einer ikonisch-visuellen Kartographie des typographisch-perspektivischen Zeitalters ablesbar und fassbar. Als These gilt, dass Typographie (Schrift) und Perspektive (Bild) eine entscheidende Umcodierung der vertrauten „Raumkarte“ bewirken – und zwar in Richtung einer fortschreitenden Säkularisierung der symbolischen

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Raum-Parameter (innen vs. außen; Peripherie vs. Zentrum etc.), einer zunehmenden Präzisierung, Segmentierung und Eingrenzung der Raumfelder (Innenraum vs. Außenraum etc.) und ihrer Individualisierung als spezifische „Orte“ im Raum und einer entsprechend prägnanten Kartographierung „signifikanter Örter“ im offenen, globalen Raum, schließlich in Richtung einer progressiven Verflachung und Verzeitlichung des Raums. Der hier und im Folgenden verwendete Begriff der „Raumkarte“ ist abgeleitet von den bei Roger M. Downs/David Stea (1985) eingeführten Termini der „cognitive“bzw. „mental map“: Ihr Konzept jedoch beschreibt das Verfahren, das eine Person für sich orientierungssichernd anwendet, um räumliche Informationen seiner alltäglichen Umgebung anzueignen, zu speichern, abzurufen und zu dekodieren. In einem medienphilosophischen Sinn ist „kognitive Kartographie“ als ein Verfahren zu verstehen, über das Gruppen verfügen, indem sie den jeweiligen Leitmedien (Wort – Schrift – Druck – Bild) die Aneignung, Strukturierung und Speicherung „räumlicher Daten“ anvertrauen, um am Ende eine kollektiv verbindliche, sinn- und identitätssichernde „Raumkarte“ veröffentlichen zu können. Wie könnte eine spezifisch typographisch-perspektivische „Raumkarte“ aussehen? Gehen wir davon aus, dass literarischen Texten eine gewisse exemplarische Bedeutung zukommt, und dass – wie McLuhan es ausdrückt – „das gedruckte Buch die Künstler dazu gebracht hat, alle Ausdrucksformen so gut wie möglich auf eine einfache, beschreibende und erzählende Stufe zu bringen, auf diejenige der Welt des Buches“ (McLuhan 1968a, S. 4) –, so zeigt sich, wie sehr die „linear exakte und einheitliche Anordnung der beweglichen Typen“ (ebd., S. 188) der narrativen Entfaltung von Geschehnisabläufen im Raum nach Anfang, Mitte und Ende entsprechen musste. Idealtypisch gesehen, geht die narrative Bewegung von einem fest umrissenen Punkt im Raum aus – einem besonders markierten Ort, um in der perspektivischen Fluchtlinie des Handlungsverlaufs am Ende einen finalen Zielpunkt/-ort zu erreichen (der u. U. mit dem Ausgangspunkt identisch sein kann). Die Fluchtpunkt-Perspektive ist geöffnet auf einen weiten, gleichförmig-homogenen Raum, der jedoch zerlegt erscheint in unterschiedliche Segmente, einzelne Parzellen, ausgezeichnete Stationen und „Örter“ auf der Wegstrecke zum Zielpunkt. Zwischen diesen – für den jeweiligen Protagonisten der erzählten Geschichte – thematisch werdenden Stationen vollziehen sich die signifikanten Übergänge, Passagen und Initiationen. Das einheitliche Nebeneinander von Orten im globalen Raum wird transferiert in die Übersichtlichkeit des gesonderten Nacheinanders von Orten in der Zeit. „Der alphabetische Mensch zieht die Absonderung und abgeteilte Räume dem offenen Kosmos vor“ (ebd., S. 135). Die Positionierung abgeteilter und abgesonderter Räume – als spezifische Örtlichkeit auf der Zeit- und Fluchtlinie des Weges – liefert den Grundriss einer neuen typographischen Raumkarte. Als Wegekarte und Itinerar verzeichnet sie die zeiträumlichen Abstände (Intervalle) der Wegstationen im globalen Raum: seine Zerlegung in Stationen und Intervalle, in Wegstrecken und Zielpunkte, macht ihn verfügbar, beherrschbar. Zunehmend werden dabei die ursprünglichen Distanzen zwischen „innen“ und „außen“, zwischen Eigen- und Fremdraum der Schrumpfung unterworfen. Bevor es jedoch neuzeitlich infolge aller telekommunikativen und vehicularen Beschleunigung zu Distanz-

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vernichtungen im „realen“ Raum kommt, lässt sich für die typographische Epoche zunächst die Ausdifferenzierung besonders der Pole „innen“ vs. „außen“ und „Zentrum“ vs. „Peripherie“ auf der Raumkarte beobachten – und zwar in symbolischen Explikationen wie den folgenden: Eigenraum vs. Fremdraum Kulturraum vs. Naturraum zivilisatorischer Raum vs. vor-zivilisatorischer Raum Ordnung vs. Chaos Europa vs. Nicht-Europa Ort vs. Nicht-Ort (Utopie) Ort vs. Gegen-Ort (Heterotopie) etc. Mit der Distanzvernichtung, mit dem tendenziellen Verschwinden der Zwischenräume (innen – außen) gehen auch jene Überlappungen einher, die eine Orientierung nach der „alten“ Raumkarte nicht mehr zulassen. Der Ausdifferenzierung folgt eine Entdifferenzierung; das Innen des Außen und das Außen des Innen verwirren die gewohnten Grenzziehungen. Die „typographische Kartographie“ dagegen war bemüht, Grenzlinien zu ziehen und zu markieren, Unterscheidung und Differenz zu artikulieren, bestimmte und besondere Örter im Raum abzusondern, einzugrenzen und nach Maßgabe der symbolischen Auszeichnung zu qualifizieren, sie positiv oder negativ zu konnotieren und sie als charakteristische Territorien kenntlich und sichtbar zu machen. Wenn hier von Sichtbar-Machung gesprochen wird, muss verdeutlicht werden, dass es sich hierbei um verbal codierte Raum- und Orts-„Bilder“ handelt, deren primär-visuelle Komponente lediglich in der Sichtbarkeit von Drucktypen in Zeilenanordnung besteht. Grundsätzlich übersetzt das Schriftsystem alle sensorischen Reize, alle Wahrnehmungen, Empfindungen und Handlungen etc. in verbale Zeichen-Sequenzen von unterschiedlichen Komplexitätsgraden; und grundsätzlich ist diese Form visuell-schrift-graphischer Codierung zu unterscheiden, von allen Formen visuell-ikonischer Codierung, z. B. in Bildern. Diese mediale Differenz wird verwischt, wenn behauptet wird, „das Buchdruckzeitalter habe einzig und allein die visuelle Form der Informationsgewinnung gefördert, Leser und Autoren seien in den typographischen Gattungen ausschließlich auf den Augensinn konzentriert“ (Giesecke 2002, S. 260). Das perspektivische Bild (als albertinisches Fenster) und der typographische Text (als gutenbergsche „Zeile“) leisten notwendig ganz unterschiedliche Transkriptionen des „visuellen Raums“: Sie interpretieren die Raumkarte zeichenmäßig verschieden. Die typographisch-verbale Interpretation allerdings erlangt das „Deutungs-Monopol“ – bis in die Anfänge einer neuen Karriere des Ikons als technisches Bild. Im albertinischen Fenster (finestra aperta) erscheint ein geometrisch präzise eingegrenzter Raum-Ausschnitt. Roland Barthes wird dieses Herauslösen des Bildes aus dem Wirklichkeitsfeld als aggressiven Akt des Subjekts bezeichnen, das alles, was außerhalb seiner Reichweite liege, in Bedeutungslosigkeit versinken lasse (Barthes 1985, S. 66; Hüsch 2003, S. 16).

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Das Bild-Fenster durchschneidet die Sehpyramide und vermittelt zwischen dem Auge an der Spitze des Sehkegels und der Basis, die durch „die Oberfläche des gesehenen Gegenstandes gebildet wird“ (Bätschmann/Gianfreda 2002, S. 11). Zwischen Auge und Fläche spannen sich die Sehstrahlen, die das Bild als Interface (intersegazione) (Alberti 2002, S. 84), als offen stehendes Fenster durchlaufen und es somit ein-spannen in einen illusionären Tiefenraum. Im Rekurs auf die „klassischen“ Raumparameter (innen vs. außen, vorn vs. hinten; oben vs. unten, Mitte vs. Rand etc.) etabliert das perspektivische Bild ein neues Verhältnis von Nähe und Ferne. Die Entdeckung der Raum-Tiefe und der Fluchtlinie, die Nahzonen (vorn) und Fernzonen (hinten) verknüpft, korrespondiert direkt mit der Entfaltung der Zeit-Tiefe, die Anfang und Ende in der typographisch-linear geordneten Geschichten-Erzählung umschließt. Jedes Mal geht es um Öffnungen: um Distanz-Vermessung und Abstandsgewinnung, um den Entwurf von Wegen und Strecken, von Ausgangs- und Zielpunkten, von Zwischenräumen und -zeiten. Das perspektivische Bild entwirft ein synchrones Beziehungsnetz von Mikrozonen ein und desselben Ortes im Raum, der typographische Text eine diachrone Reihe unterschiedlicher Orte im Raum; einmal (im Bild) erscheint die Zeit verräumlicht, zum anderen (im Text) der Raum verzeitlicht. Im Gegensatz zur strengen Grenz- und Schwellen-Thematisierung im mythischoralen Raum-Entwurf verfährt die säkular-typographisch-perspektivische Aneignung intervallthematisierend: Die Schwelle, die Bezirke und Zonen voneinander trennt, weitet sich zum Schwellen-Raum, der sich weghaft zwischen den Orten oder zwischen Quartieren am Ort öffnet. Um die Auflösung vom Schwellenraum im elektronischen Netz-Raum geht es augenblicklich.

4. Die Raumkarte (von der hier die Rede ist) kann als Basiskarte jeder (bisherigen) in Europa gültigen kulturellen Orientierung im Raum verstanden werden. Historische Kollektive und Kulturen machen unterschiedlich Gebrauch von dieser Karte (wie sehen die Raumkarten nicht-europäischer Kulturen aus?). Das jeweils etablierte Medien-Ensemble aktualisiert unterschiedliche Positionen des binären Daten-Rasters, das jeweils dominante Leit-Medium (Buch vs. Bild) setzt seine medienspezifische Lesart/Wahrnehmung durch. Bestimmte „raumsprachliche“ Oppositionen (wie etwa innen vs. außen, Zentrum vs. Peripherie, diesseits vs. jenseits etc.) erweisen sich für symbolische Anschlüsse als besonders geeignet (z. B. innen = das Eigene – das Private: Schutz – Sicherheit – Norm etc.; außen = das Fremde – Öffentlichkeit: der Andere/die Anderen – Unsicherheit – Normbrüche etc.). Die Raumkarte erfährt ihre unterschiedliche medienspezifische Aktualisierung in fortwährender Ausdifferenzierung der Positionen. Im Ganzen aber sanktioniert die mediale Kartographie durch die Jahrhunderte (oder Jahrtausende) die jeweilige Vermessung und Relationierung von lokalen und globalen

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Raumdaten – mit dem Ergebnis einer identitätssichernden Verortung des bewohnten/ belebten Lokalraums, sei es mythisch im Kosmos, in der Ökumene, sei es in der christlichen Heilswelt oder im nach-kopernikanischen Weltall. Erst für die Verortung im postmodernen Netz-Raum von Internet und Cyberspace scheint die Karte nicht mehr zu taugen. Sobald man die Raumkarte als „offenen Code“ sieht, als System von elementaren Oppositionen und als Vorschrift für die regelhafte Zuordnung von Bedeutungseinheiten, kommt das in Sicht, was es hier zu beschreiben gilt: Das jeweilige historisch für eine Epoche typische mediale Raum-Design bleibt auf diesen Grund-Code ebenso bezogen wie es in der Lage ist, bestimmte Zuordnungsregeln des Codes zu verändern, zu erweitern, zu restringieren etc. und damit zum Code-Wandel beizutragen. Die Medienspezifik des Raum-Designs lässt sich somit an diesem Potenzial ablesen, gültige kulturelle Übereinkünfte über die Orientierung in Räumen in bestimmten Punkten zu modifizieren oder durch neue Konventionen zu ersetzen. Gelingen kann das selbstverständlich nur im Wechsel- und Zusammenspiel mit anderen epochalen Faktoren des Wandels und der Innovation. Giesecke (2002, S. 121) nennt vier generelle Faktoren für die Wendezeit um 1500: Neue Kommunikationsformen, neue (technische) Medien; neue Weltbilder und Identitätskonzepte; neue Wahrnehmungsprogramme; neues Wissen über die Umwelt. Das von den neuen Medien (Drucktext, perspektivisches Bild, Camera obscura) vermittelte und verbreitete neue Raum-Konzept korrespondiert somit direkt mit der neuen Privilegierung des Augensinns (Bürge für Objektivität und Wahrheit), mit Öffnung und Weitung der Räume durch die Entdeckungen und das neue physikalisch-astronomische Wissen (Kolumbus, Galilei, Kopernikus). Dieses spezielle mediale Raum-Konzept (Linie – Fluchtpunkt – Perspektive – Tiefe – Horizont – Weg – Ort vs. Gegenort etc.) verbirgt seine Herkunft nicht: Es entstammt ganz dem europäischen Denken der Renaissance und blieb als dezidiert europäisches Konzept anderen Kulturen über lange Zeit fremd und nicht zugänglich. In Europa aber war ihm Nachhaltigkeit beschieden – und zwar noch weit über die Zäsurlinie von 1840 (beginnender Siegeszug des technischen Bildes) hinaus.

5. Die „alte“ Raumkarte aber verschwindet nicht einfach: Sie löst sich nach und nach auf in ihre Bestandteile, zersplittert und zerbröselt in einzeln ausdifferenzierte Positionen – so wie der Raum-Opposition „innen“ vs. „außen“, „Zentrum“ vs. „Peripherie“ noch einmal leitmotivisch Bedeutung zukommt im aufklärerischen (literarischen) Diskurs von „Ort“ und „Nicht-Ort“ (Utopie) oder im modernen (ästhetischen) Diskurs von „Ort“

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und „Gegenort“ (Heterotopie) (Foucault 1991), bis auch für diese neuzeitlich säkularisierten symbolischen Zuordnungen nach dem Muster von „profan“ vs. „heilig“ Verschleifungen sichtbar werden und Zersetzungen durch das Eindringen der Zeit in den Ort. Exemplarisch schlägt sich dieser Codierungswandel schon in einem Text aus dem Jahre 1788 nieder: Bernardin de Saint-Pierres „Paul et Virginie“ folgt zunächst ganz dem Schema von Ort (Ausgangspunkt der „schlechten“ Gesellschaft) vs. Nicht-Ort (Zielpunkt des utopisch-paradiesischen Inselortes). Nur, dass der utopische Ort (ein abgeschlossenes Tal auf der Insel) schon zu Anfang als öder, wüster und verlassener Platz vorgestellt wird, wo nur noch wenige Überreste von dem utopischen Experiment zeugen, das hier vor 20 Jahren stattgefunden hat: Die menschenleere Raumstelle zeigt sich als ein einziges Spuren-Feld (Großklaus 1993, S. 31 ff.). Hundert Jahre später entstehen die frühen Photographien menschenleerer Räume und Plätze des „alten“ Paris von Eugène Atget: Das gerade auf den Plan getretene neue Bild-Medium erfasst den Raum prototypisch als sichtbares Zeugnis des Gewesenen, als sichtbares Spuren-Feld, als „Tatort“ der Geschichte, an dem es „Beweisstücke im historischen Prozess“ (Benjamin 1976, S. 24) zu sammeln und auszuwerten gilt. Das neue Medium des technischen Bildes verändert die traditionelle Raumkarte in drei Hauptpunkten: es fügt den Zeichen-Indices (innen/außen, Mitte/Rand etc.) ein referenzielles Element hinzu; die Indices verweisen auf reale Raumbeziehungen eines realen Ortes, der seine konkrete Lichtspur auf der Bildfolie hinterlassen hat; es exponiert in der Regel einen perspektivischen Raum-Ausschnitt, eine signifikante Orts-Stelle (sei es als „Ort“ oder „Gegenort“, Innenraum oder Außenraum, Eigenraum oder Fremdraum etc.); es thematisiert den Ort als konkretes Spuren-Feld des Gewesenen: als Gedächtnisort (lieu de mémoire). Die geschichtliche Bewegung (wie sie noch im typographisch-linearen Verfahren des Drucktextes thematisch wurde) scheint im Bild-Raum der Photographie gestaut und stillgestellt. Der Raum hat die Zeit aufgesaugt und gewinnt seine Tiefe im Zeitfeld. Mit der photographischen Arretierung des Zeitflusses geht die Akkumulation von „Zeit“ an einer signifikanten Stelle im Raum – an einem dem Untergang preisgegebenen Ort – einher. In diesem Sinne entwerfen photographische Bilder immer schon so etwas wie „Chronotopien“. Es entsteht jenes immense Archiv der „Orte“, die auf unterschiedlichste Weise Ereignissen der individuellen oder kollektiven Geschichte als Schauplatz gedient haben. Historisch kommt es erstmalig zu einer derart massenhaften Bild-Aufzeichnung von partikularen Orten und Raumstellen, die auf irgendeine Weise des privaten oder öffentlichen Gedankens für würdig befunden werden. Es ist das Medium der Photographie, das „Raum“ erstmals durchgängig chronotopisch entwirft – und den unterschiedlichsten Ortschaften im stetig wachsenden externen Gedächtnis der Bilder ihren Platz anweist.

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Das neue Medium befördert die Zerlegung des homogenen Raums, die Zerstückelung der typographischen (Flucht)Linie zugunsten der Erfassung und Speicherung noch der entlegensten „Örtlichkeit“, die irgendwann ein sichtbares Bild-Zeugnis des Gewesenen abzugeben in der Lage sein wird. Die Erinnerung will zurückkehren an die Orte des vergangenen Geschehens. Die chronotopische Karte des photographischen Mediums offeriert die symbolische Wegweisung. Das gilt auch für die heterotopische Variante der Karte. Das heterotopische Raum-Bild der Photographie kehrt zurück an Orte und Räume, die im beschleunigten Prozeß der Modernisierung verlassen, aufgegeben, kolonisiert und in Resten musealisiert werden. Gegen-Bilder von Landschaftsräumen (Berge, Wälder, Heide, Moore etc.) und exotischen Regionen (Orient, Wüsten, Altertümer) entwerfen Chronotopien ungleichzeitigen Raums. Zur medienspezifischen Leistung des photographischen Mediums – inmitten eines „immer schnelleren Absturzes in eine unwiderruflich tote Vergangenheit“ (Nora 1998, S. 11), eines beschleunigten Verschwindens von Ding- und Raumwelten in der Moderne – gehört es somit, dem Gedächtnis einen wie auch immer symbolisch vermittelten „Ort“ zurückgegeben zu haben. „Es stützt sich (dabei) ganz und gar auf die deutlichste Spur, den materiellsten Überrest, das sichtbarste Bild.“ (Ebd., S. 22)

6. Das moderne technische Medium des Bildes erfährt innerhalb einer historischen Frist von ca. 90 Jahren (1840-1930) entscheidende Transformationen. Das singuläre, homogene und statische Bild der Photographie verliert seinen autonomen Status schon bald als bloßes Bewegungsphasenbild der Chrono-Photographie (Muybridge, Marey) – um wenig später in der Reihenfolge der 24 Phasenbilder pro Sekunde des neuen Films ganz zu verschwinden bzw. einzugehen in die „Einstellung“ und den „Bildkader“. Im elektronischen Bildschirm-Raster des Fernsehens müssen 13 Millionen Bildpunkte pro Sekunde aufleuchten und wieder verlöschen, um den Eindruck eines Bildes in uns zu hinterlassen. Die mediale (technische) Ausdrucksform steht in Wechselbeziehung mit der medialen Inhaltsform: So wird der jeweilige mediale Raum-Entwurf (Film, TV) immer auch bedingt sein durch diese elementaren technischen Prozesse der Bildzerlegung und -zusammensetzung. Raum-Bilder im Medium von Film und Fernsehen geraten entsprechend in diesen Sog der Auflösungen. Sie werden analog ihre Geschlossenheit, Statik und Singularität einbüßen zugunsten ständigen Wechsels der Ansichten und Anblicke, der Einstellungen und Perspektiven (Film), zugunsten einer beschleunigten Aufeinanderfolge der „Spots“ in der Raffung (Flusser 1992, S. 140) von Punkten im Sehfeld (TV). Die Zersetzung des „vertrauten“ Raum-Codes (= Raumkarte) vollzieht sich von nun an in rasch aufeinander folgenden Schritten: Der Film (als traditionell Geschichten erzählende Maschine) parzelliert den Raum in der zeitlichen Abfolge der Einzel-Einstellungen;

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Schnitt und Blende trennen unterschiedliche technisch/filmästhetische „Formen“ der Raum-Wahrnehmung – wie sie sich in der jeweiligen Bild-Einstellung niederschlägt; Die Bild-Einstellung erfasst lediglich eine momentane „Ansicht“ (Kamerablick) des Raums: einen Raum-Ausschnitt je nach Einstellungsgröße (Detail/Groß/Nah/Total etc.) und -perspektive (Aufsicht/Untersicht etc.) und nach Kamerabewegung (Fahrt/Schwenk/Zoom); In der zeitlichen Abfolge der Einstellungen wechseln somit ständig Bild-Raum-Segmente, denen ganz unterschiedliche Wahrnehmungszugänge zugrunde liegen; „Raum“ und „Ort“ werden im Medium des Films nicht mehr als „homogene Einheiten“ angetroffen, sondern immer schon als heterogene „Splitter“ und Fragmente, die erst auf der Ebene des (narrativen) Syntagmas eine mögliche Zusammensetzung erfahren; „Raum“ und „Ort“ erscheinen als Entwürfe im Zeitfeld; „Elemente“ der „alten“ Raumkarte (nah/fern, oben/unten u. a.) werden dynamisiert und temporalisiert; „Raum“ und „Ort“ werden prozessualisiert: Der Film entwirft Räume und Orte als „Ereignisse“ in der Zeit. Mit der Zertrümmerung des narrativen Syntagmas emanzipiert sich der neue Film von der Linearität der Geschehnisabläufe und von den Grenzziehungen lokaler Aktionsräume; potenziell erscheint das Zeitfenster geöffnet auf die „ganze Geschichte“ – so, wie das Raumfenster auf das „ganze globale Feld“. Die Synchron-Montage setzt „Bilder“ unterschiedlichster zeiträumlicher/raumzeitlicher Herkunft zusammen. (Für Alexander Kluge heißt das: „Durch die Montage der Bilder versuche ich, Zwischenräume zu schaffen, die nicht Bilder werden, sondern in denen ein drittes Bild entstehen kann – eine Epiphanie. Ich mache etwa eine Sequenz von Menschen in Großaufnahme und entwickle jetzt eine Totale, die dem entgegensteht. Der daraus entstehende Kontrast, der für die Zuschauer gerade noch integrierbar ist, wird zwischen diesen Bildern eine virtuelle Zeit und einen virtuellen Raum erzeugen können, in dem ein drittes Bild entsteht, das niemals zu sehen war. Das ist Montage, die gar nichts mit Addition oder Multiplikation zu tun hat, sondern damit, dass sich die beiden Bilder an der Schnittstelle zerstören.“ (Kluge 2000, S. 35)) Deleuze spricht im selben Zusammenhang von der neuen Bedeutung des Schnittes und des Intervalls, neuen Formen der Verkettung (Serie, Schichtung) (Deleuze 1991, 2, S. 354). Diese Rethematisierungen von Zwischenraum und Intervall im Medium des KunstFilms sind jedoch im Kontext eines allgemeinen telekommunikativen Schwundes der Intervalle zu sehen (Großklaus 2004, S. VI). Das audiovisuelle Medium des Fernsehens ist nun gerade dort, wo es gewissermaßen zu sich selbst kommt – in seinen Live-Formaten –, bestimmt durch die permanente Zerstörung des Intervalls, jener Raumzeit, die zwischen dem Ort des Geschehens und dem Ort der Sichtbarwerdung im Bild sich erstreckt. Das Medium entwirft keinen virtuellen Raum und keine virtuelle Zeit; es ist prinzipiell nicht an Schwellen, Passagen oder Übergängen im Sinne der „alten“ Raumkarte interessiert, sondern grundsätzlich nur an

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der Raffung von Raumpunkten und Zeitpunkten im Gegenwartsfenster. Ganz analog zum technischen Aufbau des Bildes auf dem Schirm – im Aufleuchten und Verlöschen von 13 Millionen Lichtpunkten pro Sekunde – erscheint im Gegenwartsfenster der TVNachrichten eine Masse von Sekunden-Spots, schnelle Bilder von Schauplätzen und Personen, live in Direktschaltung, in Aufzeichnung oder aus dem Archiv, die sich kurzfristig zu einem disparaten Mosaik zusammensetzen und dann wieder auseinander fallen (Großklaus 1995, S. 42 ff.). Die Flüchtigkeit des Kamerablicks, die Beschleunigung der Kamerabewegung und die kurze Verweildauer des „Bildes“ im NachrichtenFenster, der Einstellungswechsel durchgängig im 5-Sekunden-Takt sind es, die die „Substanz“ von Raum und Ort aufzehren und ausdünnen zur bloßen „szenischen Konstellation“. Zum anderen begünstigen diese Verflüchtigungen, die lokalen „Spots“ des Nachrichten-Mosaiks kurzfristig als „Punkte“ in eine „szenische Konstellation“ von globaler Extension einzubringen. Gerade aus dieser dialektischen Spannung von Lokalem und Globalem entfaltet das Medium Fernsehen über sein Leit-Format seine besondere Produktivität und seinen Eigensinn. Diese Wechselwirkung lässt sich fassen als TV-medienspezifische Form der Raumzeit-Weitung und Raumzeit-Schrumpfung: Der televisionale Prozess legt es darauf an, die (simultane) Anwesenheit von „Spots“ unterschiedlichster zeiträumlicher Herkunft und Auszeichnung (nah/fern, privat/öffentlich, eigen/fremd, vergangen/gegenwärtig etc.) im jeweiligen lokalen „Gegenwartsfenster“ der Nachrichten-Sequenz zu garantieren. Dieser Öffnung und Weitung des medialen Feldes steht die Schrumpfung dieses Feldes gegenüber, wenn wir die Akkumulation der raumzeitlichen Daten und Bilder in diesem einen Punkt der jeweiligen Gegenwart und in der flüchtigen Punktualität eines Nachrichten-Mosaiks berücksichtigen. Der Zusammenziehung der globalen Raumzeit im jeweils lokalen Nachrichten-Fenster und einer gegenwärtigen Akkumulation von „Punkten“ entspräche auf der anderen Seite die Öffnung und Weitung des TVLokal-Fensters zur ganzen „Welt“, zum raumzeitlichen Zusammenhang des Globalen. Bei diesen Prozessen der Weitung und Schrumpfung gehen die Setzungen und Differenzierungen der „alten“ Raumkarte ihrer kulturellen Orientierungsfunktionen verlustig. (An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die TV-mediale Abarbeitung der dialektischen Spannung von Lokalem und Globalem abhängig ist vom jeweiligen „lokal“regional-kulturellen Ausgangspunkt.)

7. Schon im Prozess seiner Zusammensetzung aus Millionen von Bild-Punkten auf dem Bild-Schirm erleidet das Raum-Bild seine Verzeitlichung: Der im Bild verzeitlichte Raum gerät in die „Bewegung“ seiner Dehnung und Schrumpfung – eine „Bewegung“, die bezogen bleibt auf ein Ensemble von Raum-Daten, die immer noch unmittelbar auf eine irgendwie vorfindliche Raum-Wirklichkeit – indexikalisch oder ikonisch – verweisen. Die virtuelle Realität des Cyberspace aber kann prinzipiell auf ein derartig referen-

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zielles Band zu einer konkreten Ausgangsrealität einer vorfindlichen Örtlichkeit verzichten. Während das Medium Fernsehen – in seinem Leit-Format der „Nachrichten“ – den raumzeitlichen Zusammenhang des Globalen noch in eine Folge von Bild-Spuren des Realen übersetzt und zumindest in der Leit-Opposition von „lokal“ (= nah = innen = zentral) vs. „global“ (= fern = außen = peripher) noch an die Ordnung der „alten“ Karte erinnert, scheinen derartige Positionierungen im Cyberspace nicht mehr möglich zu sein. „Cyberspace“ verweigert sich irgendeiner herkömmlichen Kartographie; er kann nur noch prozessual gedacht werden, z. B. als „wucherndes Rhizom“, das die verschiedensten Formen annehmen kann – „von der Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Knollen und Knötchen“ (Deleuze/ Guattari 1977, S. 11). Der Cyberspace weitet sich „ungerichtet“ (omnidirectionnel) (Deleuze 1991, S. 339) aus, entfaltet sich über digitale Schaltpunkte und zieht sich zusammen in „links“ und „sites“, ein rhizomatisches Wachstum, das von den „Prinzipien der Konnexion, der Heterogenität und Vielheit“ (Deleuze/Guattari 1977, S. 11 u. 13) geleitet und gesteuert wird: „Jeder beliebige Punkt eines Rhizoms [des Cyberspace] kann und muß mit jedem anderen verbunden werden.“ (Deleuze/Guattari 1977, S. 11). „Cyberspace“ – vorgestellt als Rhizom – lässt sich nur denken in dieser permanenten Ausdehnung von Punkt zu Punkt, von Knoten zu Knoten, von Netz zu Netz – einer Expansion, die niemals einer bestimmten Richtung folgt und für die es keine linear-evolutive ‚Aus-Richtung‘ geben kann. Die verkettende Wucherung des Rhizoms widerlegt die aufsteigend-hierarchische Verzweigung des porphyrischen „Kommandobaums“. Entsprechend widerruft der Cyberspace alle Konzepte einer Raumkarte, in der eindeutig die Grenzen zwischen Zonen, Bezirken und Territorien gezogen werden, signifikante Orte ausgezeichnet und symbolische Qualifizierungen vorgezeichnet sind. Selbstverständlich ist zu berücksichtigen, dass es sich bei dem Konzept des „Rhizoms“ um eine quasi-naturale Metapher handelt, die immer noch eine, wenn auch abweichende, natur-analoge Orientierung nahe legt. Fassen wir aber den Cyberspace von vornherein als digitalen Datenraum, dessen Grundbausteine Bits und Bytes sind und dessen „physisches Substrat prinzipiell nicht stofflich oder energetisch ist“ (Couchot 1993, S. 343), sondern rein numerisch-algorithmisch-abstrakt, so zeigt sich, dass dieser „Raum“ nur beschreibbar wird als „autonomer Raum“, ohne Referenz auf den Raum der reellen Welt – vollkommen außerhalb der gewohnten dimensionalen räumlichen Ordnung nach innen/außen, oben/unten, Mitte/Rand etc., jenseits überhaupt von anthropomorphen (z. B. körper-raum-analogen) Modellen (vgl. Ahrens 2003, S. 186). Der Navigator in diesem „autonomen Raum“ kann seinen Stand-Ort nach diesen Auszeichnungen und Grenzziehungen der „alten“ Karte nicht bestimmen (vgl. auch Wertheim 1999, S. 251) – weder in irgendeinem referenziellen noch in einem symbolischen Sinn. Nachdem er über eine Schnittstelle zwischen Körperraum und Datenraum in ein virtuelles Universum eingedrungen ist, weiß er nicht, ob er sich in einem fremden Außenraum oder in einem anderen Innenraum befindet, ob er sich auf eine Mitte zubewegt oder auf Ränder und Peripherien zudriftet,

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ob er seinen Eigenraum verlassen hat und einen Fremdraum schon betreten hat, ob er die Grenze zu einer verbotenen, tabuierten oder „heiligen“ Zone überschritten hat oder nicht. Dieser nicht-örtliche Raum besteht nicht aus eindeutig abgegrenzten Lokalitäten, sondern aus reinen Eventualitäten (vgl. Couchot 1993, S. 344). Die global vernetzten Dateneinheiten befinden sich im Zustand ortloser Anwesenheit und potenzieller Abrufbarkeit. Der Navigator im Cyberspace ruft seine Wege ab in einem uneindeutigunbegrenzten und unabgesonderten Netz-Raum der zahllosen Punkte, Knoten und „links“ – und sieht sich eingeschlossen in einen hybriden Raum, der sich zu erkennen gibt in wechselseitigen Durchdringungen von „Zentrum“ und „Peripherie“, von „Innen“ und „Außen“, von „Lokal“ und „Global“ etc. Der virtuelle Raum des Cyberspace löst sich von allen stabilen Orts-Identitäten, von allen Formen einer grenzsetzenden Kartographie. Der binäre Raum-Code wird zerbrochen. Der Entwurf von hybridem Raum ruht auf mehrstelligen Konstellationen, in denen die starren Gegenüberstellungen „aufgehoben“ sind: Der hybride Raum entfaltet und synthetisiert ein ganzes Ensemble wechselseitiger Bezüge, so vornehmlich das Innen des Außen, das Außen des Innen so wie das Eigene des Fremden und das Fremde des Eigenen oder das Nahe des Fernen, das Private des Öffentlichen, das Lokale des Globalen und vice versa – eine Quantelung, die man sich noch fortgesetzt denken könnte. Cyberspace als Hybrid-Raum ist somit weder „Außenraum“ noch „Globalraum“, sondern kann nur aus der Gleichzeitigkeit der Relationen verstanden werden. Alle Kreuzungen, Kontaminationen und Grenzauflösungen im hybriden Raum aber setzen die historischen Muster, Raster und Codes der alten Raumkarte immer noch voraus und bleiben angewiesen „auf den Gegenpol stabiler [räumlicher] Identitäten“ (Griem 1998, S. 221). Zu beliebigen Ausgangsräumen eröffnet der Cyberspace (rhizomatisch, digitalabstrakt-autonom, hybrid) einen synthetischen, artifiziellen Gegen-Raum. In einigen Punkten trifft die foucaultsche Beschreibung der Heterotopie auch auf diesen GegenRaum (Antitopie) zu, in weiteren Punkten gelten für den Cyberspace andere Bestimmungen. So erscheint der Cyberspace wie die Heterotopie „in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet“ (Foucault 1991, S. 68), bildet „Gegenplazierungen oder Widerlager“ und ließe sich ebenfalls als eine „tatsächlich realisierte Utopie“ (ebd., S. 68) sehen. Wenn Foucault aber diese heterotopische Realisierung in der Etablierung von „Orten außerhalb aller Orte“ – „wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ (ebd.) – erkennen möchte, so müsste für den Gegen-Raum des Cyberspace gesagt werden, dass er einen anderen Raum außerhalb aller vorhandenen Räume etabliert: einen virtuellen Raum, der gerade durch seine spezifische „Ortlosigkeit“ gekennzeichnet ist und sich jeder Verortung entzieht; gleichwohl wird man den Gegen-Raum des Cyberspace nicht einfach als imaginären Nicht-Ort (Utopie) bezeichnen wollen, sondern ihm durchaus die „Wirklichkeit“ eines konkreten, transkulturellen elektronischen Kommunikations-Feldes zusprechen. Gesehen als Variante der Heterotopie erfüllt der Cyberspace-Gegen-Raum (Antitopie) wiederum vergleichbare soziokulturelle Funktionen – öffnet sich allen möglichen

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Projektionen (Ich-Konstruktionen – Online-Persönlichkeit – Cyber-Ich – Neues Jerusalem – Weltharmonie – Raum der Freiheit und Gleichheit etc.) (Wertheim 2002, S. 279 ff. u. 313 ff.) und bietet unterschiedlichen Formen der Norm- und Krisen-Abweichung ein „weites Feld“. Als Hintergrunds-Norm unterschiedlicher räumlicher Absonderung und Gegenplatzierung in Form des „anderen Orts“ (Heterotopie), des „Gegen-Orts“ (Antitopie) und des „Nicht-Orts“ (Utopie) aber bleibt ein wie immer historisch-kulturell wohldefinierter Ausgangsort (Topos) kenntlich und der kulturellen Erinnerung zugänglich.

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Wertheim, Margarete (2002), Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raums von Dante zum Internet, München: Piper.

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„Die tote Zeit ist am Werk.“ (Derrida)

Medienphilosophie ist eine akademische Disziplin in statu nascendi. In geschichtlicher Perspektive wird man zugleich sagen können, dass sie nicht ohne eine spezifische Vorgeschichte ist. Medienphilosophie situiert sich im Gefolge einer Tradition, die grosso modo als die der nachmetaphysischen Moderne bezeichnet werden kann. Das ist eben jene Moderne, auf deren Schwelle Philosophie die Aufgabe für sich entdeckte, ihre Zeit in Gedanken zu fassen (Hegel). In besonderer Weise fühlt sich die nachmetaphysischmoderne Philosophie einem Denken verpflichtet, das entschieden seiner Zeit Rechnung trägt und sich dabei jeweils von seinen als ‚metaphysisch‘ stigmatisierten Vorgängern absetzt. So nimmt es nicht wunder, dass auch medienphilosophische Reflexionen ihre Bedeutung aus ihrer besonderen Aktualität, ja Dringlichkeit ihrer Thematik gewinnen, was unter allemal spürbaren veränderten Bedingungen der Wirklichkeit und Wirklichkeitsauffassung nicht ohne Überzeugungskraft ist. Denn unsere Zeit ist durch signifikante und weitreichende mediale Veränderungen geprägt, derart, dass die inzwischen gängige Rede vom Medienzeitalter den alltäglichen Erfahrungen kaum noch anstößig erscheinen muss. Die hier entscheidende Frage ist, ob Medienphilosophie nicht nur etwas über ihre Zeit, sondern in systematischer Hinsicht auch zum Begriff der Zeit selbst etwas beizutragen hat. Zwei Indizien sprechen für letzteres: Zum einen gilt es gerade als Kennzeichen unserer Zeit, dass die nahezu alle Lebensbereiche durchziehenden Medialisierungen in spezifischer Weise Erfahrungen von Temporalität, nämlich vor allem die der Beschleunigung (Virilio 1995) und Gleichzeitigkeit (Baudrillard 1994) evozieren. Sowohl die Erfahrungen als auch die Beschreibungen der Wirklichkeit und Wirklichkeitsveränderungen sind in besonderer Weise imprägniert von temporalen Strukturen, die zu reflektieren ein neues Licht auf den Begriff der Zeit zu werfen verspricht. Darüber hinaus ist zu sehen, dass es gleichsam ein Proprium dieser modernen Denktradition ist, aus der sich die Medienphilosophie herausgebildet hat, dem Begriff der Zeit eine besondere Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen und ihm schließlich sogar prinzipientheoretisch einen Primat einzuräumen (dabei sei nur etwa auf Bergson, Husserl und Heidegger verwiesen).1 Ein Nachdenken nicht nur über den Stand der Dinge, sondern auch über den Begriff der Zeit ist sicherlich nicht das unwichtigste Erbe, das medienphilosophi1

Zur modernen Zeitphilosophie vgl. Beuthan/Sandbothe (2004).

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Ralf Beuthan

schen Reflexionen theoriegeschichtlich mitgegeben ist. Beiden Indizien folgend – den zeitgenössischen Erfahrungen sowie dem theoriegeschichtlichen Leitmotiv – möchte ich die These vertreten, dass Medienphilosophie wesentlich auch zeittheoretische Konturen trägt. Um die These ein wenig zu pointieren: Medienphilosophie trägt gerade insofern etwas zum Zeitbegriff bei, als sie wesentlich auf den Begriff des Mediums reflektiert. Insofern nämlich die Bestimmung des Zeitbegriffs davon abhängt, wie er relationiert bzw. in welchem Begriffsfeld er ausgeführt wird, ist anzunehmen, dass eine medienphilosophische Reflexion nicht nur veränderte Zeiterfahrungen, sondern auch medienspezifische Aspekte des Zeitbegriffs hervortreten lässt. In systematischer Hinsicht wird im Folgenden zwischen Medialität und Medium unterschieden. So sehr es unmittelbar einleuchten mag, dass die Medialität als der Begriff des Mediums nicht selber ein Medium ist, so sehr mag es überraschen, dass nicht nur auf der Ebene des Mediums Zeitaspekte eine Rolle spielen, sondern in besonderer Weise im Nachdenken über Medialität. Und es ist vor allem Sache einer medienphilosophischen Reflexion, auch den letzteren Zeitaspekten sowie deren Verflechtungen nachzugehen. Ausgehend von medientheoretischen Befunden zum Verhältnis von Medien und Zeit werde ich also einerseits das Verhältnis Medium und Zeit (Abschnitt 1) und andererseits das von Medialität und Zeit (Abschnitt 2) behandeln und dann im Ausblick der Frage nach der Zeit als Medium (Abschnitt 3) nachgehen.

1. Medium und Zeit Es gehört inzwischen zum gängigen Repertoire medientheoretischer Prämissen, dass unsere Zeit-Wahrnehmung sowie unsere Vorstellung über Zeit nicht als ahistorische Größen, sondern in Korrelation (Großklaus 1995), wenn nicht sogar in Dependenz (Kittler 1990; Flusser 1996) zu sich historisch wandelnden, medialen Parametern zu betrachten sind. Der theoretische Fokus hat sich dabei gewissermaßen verschoben von einer transzendentalen Reflexion auf die Zeit als einer notwendigen Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung zur medientheoretischen Reflexion auf die Zeit als Bedingung der Wirklichkeit von Erfahrung. Damit wird die These lanciert, dass die jeweils spezifische Zeitlichkeit der Medien die „Revolutionen unserer Zeit-Wahrnehmung“ (Großklaus 1995, S. 7) bedinge. Methodisch wird dieser These Rechnung getragen, indem die verschiedenen Mediensorten eigens als solche in den Blick genommen werden und hinsichtlich ihrer spezifischen Zeitstrukturen untersucht und in einem zivilisationsgeschichtlichen Rahmen interpretiert werden. Derartige medientheoretische Sensibilisierungen für mediale Differenzen haben sich zu Recht als theoretische Standards etabliert – hinter die auch die Philosophie (jedenfalls ihrem Weltbegriffe nach) nicht zurückfallen sollte, wenn anders es ihr um das Verständnis unserer Erfahrungen und um ein sinnvolles Handeln in dieser Welt geht. Andererseits aber ist auch angesichts dieser neuen Standards die Tragweite philosophischer Reflexion nicht zu vergessen. Es ist gerade die Philosophie, die für die oft verdeckten,

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aber sehr wohl wirksamen theoretischen Einsätze sensibilisiert, die bestimmte Diskurse leiten. Und dies gilt auch für den medientheoretischen Diskurs, in dem nicht selten die These suggeriert wird, nicht nur die Zeit sei ein historisch variables, weil mediendeterminiertes Konstrukt, sondern vielmehr der Mensch überhaupt eine Funktion der Medien. Die These vom Menschen als Funktion der Medien ist – selbst unter den Bedingungen einer Krise des Humanismus, d. h. selbst dann, wenn der Mensch seine zentrale Position verloren haben sollte – nicht nur deshalb philosophisch fragwürdig, da sie etwa die biologisch-evolutiven Konstitutionsbedingungen menschlicher Existenz vollkommen unterschlägt, sondern auch deshalb, weil der Begriff des Menschen zumeist trotz seiner vordergründigen Depotenzierung ohne weitere Klärung unter der Hand der Leitbegriff bleibt, auf den hin das Medienszenario entworfen wird. – Zugleich aber verweist diese These in geschichtlicher Perspektive auf einen interessanten Punkt, der in exemplarischer Weise in einer Formulierung merklich wird, wie der folgenden: „Der Mensch existiert nur, indem er mit den technischen Apparaturen der Zeit kommuniziert“ (Hickethier 2002, S. 127). Denn ungeachtet seines Kontextes könnte der Satz nicht nur meinen, dass der Mensch mittels der Apparaturen kommuniziert, sondern auch, dass er mit den Apparaturen gleichsam wie mit einem weltumspannenden Subjekt kommuniziert, was – denkt man in dieser Richtung weiter – in dem Gedanken von einem produktiven und reflexiven medialen Hypersubjekt bzw. ‚Mediensystem‘ kulminieren möchte, das mittels des Menschen philosophisch monologisiert (vgl. Engell 2003). Interessant ist dieser Gedanke nicht, weil er richtig, sondern weil er symptomatisch ist. Für die Fragestellung zum Verhältnis von Medien und Zeit ist zunächst festzuhalten, dass die Zeit nicht nur in Korrelation zu verschiedenen Medien, sondern auch in Korrelation zu verschiedenen Medienbegriffen thematisiert wird, die jeweils mehr oder weniger explizit deutlich und in den Detailuntersuchungen (d. h. im Blick auf die verschiedenen Medien) wirksam sind. Aus der eben angedeuteten Ambiguität des Gedankens von ‚medialer Kommunikation‘ lassen sich drei Medienbegriffe mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung des damit verknüpften Gedankens vom Menschen extrapolieren, die quer zur Differenzierung in Einzelmedien und Medientypen (wie Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Speichermedien) stehen: 1. Medium als Mittel (‚Werkzeug‘), das reflexiv verbunden ist mit dem Mittelnutzer und Zwecksetzer ‚Mensch‘ (vgl. die Vorstellung, dass Menschen mittels ‚technischer Apparate‘ kommunizieren); 2. Medium als Mitte (‚Element‘), das sich im Hinblick auf bestimmte (auch nichtmenschliche Prozesse) Prozesse und Eigenschaften spezifiziert, aber dabei selber verschwindenden Charakter hat. 3. Medium als System (‚Hypersubjekt‘), das sich selbst ‚Zweck‘ ist, spezifische Strukturen produziert und sich selbst – etwa mittels des ‚Menschen‘ – reproduziert und ausdifferenziert. Zeittheoretisch relevant wird die Differenzierung des Medienbegriffs in einem Kontext, wo nicht mehr, wie innerhalb der Metaphysik, ein umfassender Naturbegriff und dessen Fundierung in einer zeitlos-ewigen Ontologie den begrifflichen Rahmen für die Zeit

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stellen, sondern dort, wo der jeweilige Bezugsrahmen und Leitbegriff ohne Verankerung in einem fundamentum inconcussum als an ihm selbst temporal gedacht werden soll (vgl. etwa Schopenhauers ‚Wille‘, Diltheys ‚Geschichte‘, ‚Sprache‘ beim späten Wittgenstein). Geschichtlich gesehen ist dies vor allem in jener nachmetaphysischen Moderne der Fall, wo zugleich ein starker Impuls zur Anthropozentrierung zu beobachten ist. Eine interessante historische Spur für die Verknüpfung von Medium und Zeit findet sich mutatis mutandis bei Marx. Dieser steht nicht nur für den Anthropozentrierungsschub in der Philosophie, sondern hier ist auch in Ansätzen eine Theorie erkennbar, mit der sich der Werkzeugbegriff – also jener erste, gewissermaßen ‚naive‘ Medienbegriff – als ein Modus der Zeit konturieren lässt. Der zeittheoretische Bezugsrahmen, der sich hier zur Bestimmung eines Medienbegriffs finden lässt, ist keine unendlich produktive und im Kern ewige Natur, sondern zunächst menschliche Arbeitszeit, d. h. die Zeit, die es braucht, um ein Produkt und mithin auch ein Werkzeug herzustellen. Das für bestimmte Zwecke hergestellte Ding, das Werkzeug, ist gleichsam ‚geronnene Zeit‘ (vgl. Marx 1975, S. 54). Die zeittheoretischen Schwierigkeiten, die sich dann bei dem Wandel des Werkzeugs zur Maschine ergeben, sind auch für heutige Verhältnisse des sog. Medienzeitalters noch nicht als erledigt zu betrachten, wo etwa die These von der „temporale[n] Entfremdung“ (vgl. Ellrich 2003, S. 58) diskutiert wird. Denn schon unter den Bedingungen des Maschinenzeitalters wird bereits jene Komplexitätssteigerung merklich, die den Werkzeugbegriff als unzureichend für die Beschreibung unserer das Weltverhältnis prägenden ‚Mittel‘ erscheinen lässt. Näher gesehen auf die Frage nach der Zeit, entdeckt Marx die Struktur temporaler Entfremdung, insofern aufgrund der Fortentwicklung der Werkzeuge zu Maschinen, die ihrerseits wieder durch Maschinen hergestellt werden, die gleichsam sinnstiftende menschliche Arbeitszeit aus dem Produktionsprozess verschwindet und ein ‚Mittel‘ entstehen lässt, das durch die „Eigenzeit der Maschine“ (ebd.) und nicht mehr durch die Arbeitszeit des Menschen definiert ist. Hier bricht bereits deutlich die Kluft auf zwischen einer durch menschliche Konstitutionsleistung definierten Zeit bzw. einer subjektgenerierten Zeit und einer desubjektivierten Maschinenzeit. Die aus den menschlichen Konstitutionsleistungen und Handlungen hergeleitete und rhythmisierte Zeit und die durch die Taktung der „entwickelte[n] Maschinerie“ (Marx 1975, S. 393) bestimmte Zeit stehen schroff gegeneinander. Innerhalb einer medienphilosophischen Perspektive, in der es weniger um Produktionsmittel als vielmehr um Medien geht, verschärft sich das Problem dieser Kluft: Medien sind nämlich letztlich nicht als Automaten auf die Seite zu stellen, so dass eine subjektive Zeit davon trennscharf abzuheben wäre, sondern sie sind wesentlich durch die Verschränkung beider Zeitformen definiert. Die Kluft zwischen Maschinenzeit oder allgemeiner: zwischen Technozeit und subjektgenerierter Zeit bestimmt den Medienbegriff – und infolgedessen die verschiedenen medienphilosophischen Ansätze. Damit ist zugleich der Ansatz einer medienphilosophischen Zeittheorie dahingehend näher zu spezifizieren, als sie (1) Zeit von medienspezifischen Prozessen her entwickelt und sich damit (2) dem Problem zu stellen hat, dass sie dabei unterschiedlich fundierte Zeitbegriffe relationieren muss. Letzteres schlägt sich in unterschiedlichen Medienbegriffen

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nieder. So kann man etwa für den Primat der technologisch indizierten Zeit optieren und eine demgegenüber defiziente oder derivative subjektive Zeit diagnostizieren, womit zugleich der dritte Medienbegriff im Sinne eines dem Subjekt vorgeschalteten Mediensystems favorisiert wird (vgl. Kittler 1990). Alternativ dazu kann man pragmatizistisch auf die Konstitutionsleistung konkreter subjektiver und intersubjektiver Vollzüge verweisen und gegenüber der Techno-Chronologie die im Mediengebrauch generierten Zeitformen stark machen (Sandbothe 2001) und wird damit zugleich den ersten Medienbegriff (der ‚Werkzeug‘-Vorstellung) favorisieren. Oder aber man versucht in einer klassischen Versöhnungsgeste die Technozeit einerseits und die aktive Zeitgenerierung und -gestaltung andererseits in der „Vorstellung einer ‚dritten‘ Zeit“ (Ellrich 2003, S. 61) zu harmonisieren und setzt dabei auf die verlockende und im Science-Fiction-Genre oft imaginierte Möglichkeit einer „Synthese aus Eigenschaften des Akteurs und der Maschine“ (ebd.). Dabei wird der zweite Medienbegriff (einer ‚verschwindenden Mitte‘) virulent, in dem die Vorstellung von Prozessen leitend ist, die zumindest prinzipiell nicht von vornherein vom Menschen her gedacht werden, womit zugleich die Vorstellung plausibel scheint, dass Prozesse, die durch menschliche Subjekte definiert sind, gleichrangig mit anderen Prozessen behandelt und mit diesen synthetisiert werden können. Auch die Thematisierung einer Wahrnehmungsschwelle, die die nicht wahrnehmbaren technischen Zeitstrukturen medial basierter Wahrnehmungen von den ästhetischen Zeitstrukturen innerhalb eines Mediengebrauchs trennt (vgl. Hickethier 2002, S. 121 ff.), zeugt von der Kluft zwischen Technozeit und subjektgenerierter Zeit. Die verbreitete Tendenz, diese Differenz einzuebnen, kommt allerdings nicht von ungefähr. In der Perspektive des zweiten (d. i. Medium als ‚Mitte‘) und vor allem in der Perspektive des dritten Medienbegriffs (d. i. Medium als ‚Mediensystem‘) legt sich der Gedanke von einer dem Subjekt vorgängigen und es funktional mit einschließenden Produktivität nahe. Damit kommt gleichsam durch die Hintertür einer die metaphysischen Geister vertreibenden Medientheorie das Metaphysikum schlechthin im Gewand des Medialen wieder herein: nämlich der Naturgedanke, der nicht zuletzt durch eben diese systematische (fundierende) Stellung und einer derartigen Produktivität gekennzeichnet war. Dadurch rückt die metaphysische Grundvorstellung einer invarianten, ewigen Natur, die auch noch die Handlungen des Subjekts in sich beschließt, in scheinbar greifbare Nähe – und somit auch die Möglichkeit, die Kluft zwischen ‚Substanz und Subjekt‘, zwischen Technozeit und Zeit als Funktion des Subjekts, als nicht prinzipielle, sondern als graduelle Differenz oder als Ableitungsverhältnis zu beschreiben. Demgegenüber ist allerdings an einer prinzipiellen Differenz festzuhalten, jedenfalls wenn man dem modernen Anliegen folgt, weder den Ewigkeitsvorstellungen nachzuhängen noch beim (Ewigkeits-)Schein einer zweiten Natur und ihrer zur Gegenwart verklärten glänzenden Oberfläche stehen zu bleiben. Wie ist diese Differenz zu denken, die – und das sei erneut betont – dem Medienbegriff keineswegs äußerlich ist? Die bloße Juxtaposition von Technozeit und subjektkonstituierter Zeit ließe noch vermuten, dass man beide zu einer ‚Synthese‘ komponieren könnte. Doch schon in dieser Hinsicht ist man genötigt, das Ausgangsbild zu

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erweitern und wird mithin unweigerlich auf eine Schwierigkeit stoßen. Denn die Vorstellung, man könnte beide Seiten, d. h. die jeweiligen Prozesse in ihrer ‚Eigenzeit‘, innerhalb eines Begriffs bzw. Gesamtprozesses koordinieren, setzt eine weitere Zeit voraus, in der beide Seiten zusammen gedacht werden können. Klassischerweise wird diese alle Prozesse integrierende und koordinierende Zeit die Weltzeit oder kosmische Zeit genannt. Die Schwierigkeit liegt aber weniger darin, dass neben den beiden genannten Zeitformen eine dritte Zeitform mitzudenken ist, sondern vielmehr darin, dass dabei auch die Problematik der Vorstellung hervortritt, die Subjektseite, die in der Welt enthalten ist, könnte sich durch die ebenfalls in der Welt enthaltenen technischen Apparatur auf die Welt beziehen, bzw. eine partikuläre Entität (Mediennutzer) könnte sich mittels einer anderen partikulären Entität (mediale Apparatur) auf die alle integrierende Entität (Welt) beziehen. Die Schwierigkeit löst sich allerdings auf, wenn man sich den in dieser Vorstellung enthaltenen systematischen Irrtum klarmacht. Die in der Juxtaposition ins Verhältnis gesetzten Seiten sind gar nicht gleichermaßen als Entitäten zu behandeln. Die auch zeittheoretisch folgenschwere Differenz, die hier zu denken ist, ist die zwischen einer materialen Apparatur (deren technische Prozesse in ihrer Zeitstruktur gesondert untersucht werden können) und einer intentionalen (nicht-gegenständlichen) Struktur, d. h. einer an ihr selbst komplexen Bezugnahme auf die Apparatur, die ebenso wenig wie ihre Zeitstruktur technisch-historisch, sondern nur philosophischsystematisch beschreibbar ist. Die besondere Problematik einer medienphilosophischen Reflexion auf die Zeit wird jetzt deutlicher: Medien – (1) relational, (2) substanziell und (3) als zweckgerichtet bzw. funktional begriffen – konfrontieren uns gewissermaßen mit einer ontologischen Hybridbildung aus Substanzialität und Intentionalität, der auf theoretischer Ebene traditioneller Weise durch eine klare kategorische Unterscheidung (vgl. Freges Sinn und Bedeutung und Husserls Epoché) begegnet wird. Die problematische Differenz gewinnt dabei den Charakter einer Dichotomie und die medienphilosophische Reflexion auf diese Differenz versteht sich nicht selten als Freilegung derselben. In Abhebung von einer phänomenologischen Zementierung dieser Dichotomie (vgl. Wiesing 2004) im Sinne einer gesondert beschreibbaren Bewusstseinsrelation einerseits und dem materiellen Gegenstand andererseits ist hier der pragmatizistische Ansatz (Sandbothe 2001) zu nennen, der in seiner antidualistischen Ausrichtung sowohl die materielle Gegenständlichkeit in einen Gebrauchszusammenhang mit einbezieht als auch die zugrunde liegende Differenz wahrt. Dem entsprechend erfährt innerhalb des pragmatizistischen Ansatzes der Werkzeugbegriff für das Medienverständnis eine gewisse Renaissance. Zeittheoretisch ist es allerdings das Verdienst der phänomenologischen Tradition, auf die tief greifende und irreduzible Bedeutung der Zeit für jeglichen Gegenstandsbezug aufmerksam gemacht zu haben. In phänomenologischer Perspektive ist die konstitutive Rolle der Zeit im Gegenstandsbezug der temporalen Struktur von Gegenständen prinzipiell vorgängig und deshalb gesondert zu behandeln. Damit stellt sich allerdings medienphilosophisch das Problem, wie bei einer kategorischen Trennung von Zeit im Kontext intentionaler Gegenstandskonstitution einerseits und Zeit als Strukturmerkmal des Gegenstandes andererseits weiter zu verfahren ist.

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Die Frage ist, ob diese Differenz – vereinfacht gesagt: die Differenz zwischen der Technozeit und der Bewusstseinszeit – ohne Dichotomisierung denkbar ist. Um die Differenz als solche nicht aus den Augen zu verlieren, mag es nützlich sein, ihre Relata noch einmal zu benennen. Wenn Medien zu verstehen sind in Relation zu einem Mediennutzer, der Medien auf etwas hin (einen Zweck) verwendet, ist es sinnvoll, die technologisch-materiale Seite der Medien als Bedingungsrahmen vom Mediennutzer als Bezugssystem zu unterscheiden. Der Bedingungsrahmen definiert die Gegebenheitsweise von etwas; das Bezugssystem ist dem gegenüber dieses, für das etwas gegeben ist. Letzteres, so die phänomenologische Grundeinsicht, ist nicht ohne eine intentionale Bezugnahme denkbar. Und für die Intentionalität ist die Zeitlichkeit wesentlich, insofern es eben etwas überhaupt als anwesend und als gegenwärtig erscheinen lässt. Die Differenz zwischen Bedingungsrahmen und Bezugssystem lässt sich mithin zeittheoretisch formulieren als die Differenz zwischen den Zeitformen, d. h. der innerhalb des Bedingungsrahmens erfahrbaren temporalen Strukturen, und der (nicht-gegenständlichen) Zeitlichkeit des Bezugssystems, ohne die überhaupt etwas als etwas nicht erscheinen könnte. Ebenso sehr wie Bedingungsrahmen und Bezugssystem sind die Zeitformen und die Zeitlichkeit jeweils irreduzibel. Doch sind sie damit grundverschieden? Dies jedenfalls legt sich aus der phänomenologischen Tradition insofern nahe, als hier eine „ursprüngliche Zeitlichkeit“ des Menschen (Heidegger) – als dem maßgebenden Bezugssystem – hervorgehoben und scharf gegen alle anderen, zumal technisch induzierten Zeitformen, die als defiziente Modi verstanden werden, abgesetzt wurde. In auffälligem Kontrast dazu steht der medientheoretische Befund von einer „interne[n] Zeitlichkeit“ (Großklaus 1994, S. 39) technischer Vorgänge, die „unser Zeitbewußtsein“ (ebd., S. 40) bestimmen. Die geschichtlich interessante Umkehrung der Blickrichtung lässt allerdings leicht übersehen, dass hier nicht nur die Vorzeichen vertauscht wurden, sondern auch ein anderer Begriff leitend ist, dem man medienphilosophisch Rechnung tragen muss: dem Begriff der Zeiterfahrung. Fokussiert man die Zeiterfahrung – und eben diese, und nicht die Zeitlichkeit intentionalen Bewusstseins, ist bei der These vom mediengeschichtlichen Wandel des Zeitbewusstseins gemeint –, dann wird man mit den temporalen Strukturen technisch induzierter Phänomene konfrontiert. Deren Erfahrung konterkariert einen theoretischen Purismus, der die Verschiedenheit von erfahrbaren Zeitformen und Zeitlichkeit zur Dichotomie forciert. Zeiterfahrung – und d. h. vor allem: die Erfahrung geschichtlich differierender Gegenwartsgestalten – widerspricht performativ der Annahme, es müsse sich bei jener Differenz um eine strikte Trennung (Dichotomie) handeln. Folgt man der medientheoretischen Thematisierung von Zeiterfahrung, so stößt man auf durchaus unterschiedliche Diagnosen. Der kritische Punkt ist dabei die Beurteilung der Gestalt, oder besser: der technisch vermittelten Gestaltung der Gegenwart. Die Frage ist nicht nur, ob sich durch den mediengeschichtlichen Wandel ein jeweils anderes Verständnis von Gegenwart einspielt, sondern ob jetzt – nach Erfindung und Verbreitung der Photographie, des Films, des Fernsehens, des Videos und nunmehr der Computertechnologie (d. h. insbesondere Internet und Simulation) – überhaupt noch von Ge-

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genwart zu sprechen ist (vgl. Großklaus’ Kritik an Lübbes These von der Gegenwartsschrumpfung (1994, S. 38)). Zugespitzt geht es darum, ob die Gegenwart unter den zeitgenössischen medialen Bedingungen zu einem flüchtigen Umschlagspunkt zwischen einer bestimmenden Vergangenheit (von eingespeisten Daten) und einer simulierten Zukunft verkommt, oder ob sie sich im Gegenteil zu einem „Gegenwartsfeld“ (Großklaus 1994, S. 40) ausdehnt (zur Diskussion dieser Opposition vgl. Ellrich 2003), oder aber – stärker normativ –, ob Gegenwart prinzipiell zugunsten eines Ereignisbegriffs (Baudrillard) zu destruieren ist. Gegenwartsschrumpfung, Gegenwartsentgrenzung oder Gegenwartssabotage – alle diese Optionen verweisen gemeinsam auf eine komplizierte Zeitlichkeitsstruktur, die das mediale Gegenwartsverständnis oszillieren lässt. Das Problem der Dichotomisierung ist indes durch die Thematisierung neuer Formen der Zeiterfahrung nicht entschieden, es wird nur dringlicher. Nicht schon die Erweiterung der Perspektive löst das Problem, denn wenn man auf die divergierenden ZeitDiagnosen sieht, wird man vielmehr von einer Forcierung der Problematik sprechen müssen. Das Problem ist erst dann lösbar, wenn gezeigt werden könnte, dass es eine in der Opposition unscheinbare, aber für die Seiten gleichwohl konstitutive Beziehung gibt. D. h. wenn gezeigt werden könnte, dass für die Zeitlichkeit des Beziehungssystems (des intentionalen Bewusstseins) die Technozeit des Bedingungsrahmens nicht schlechthin äußerlich ist. In dieser Hinsicht muss allerdings der regionalisierende und gegenstandsorientierte medientheoretische Zugang zugunsten einer systematischen Perspektive verlassen werden.

2. Medialität und Zeit Es ist leicht zu sehen, dass die Problematik der Zeit im Kontext der Medien, die Opposition zwischen Bewusstseinszeit und Technozeit dem Schema von Innen/Außen oder von Aktiv/Passiv folgt. Dass es sich dabei angesichts der wichtigen Unterscheidung zwischen dem tätigen Beziehen und der Gegenständlichkeit um eine strikte Trennung, einen Bruch handelt, und dass die Seiten mithin inkommensurabel sein könnten – diese Annahmen sind vor allem von Derrida widerlegt worden. Derrida ist hier also nicht nur zu nennen, weil er die Bedeutung medialer Parameter wie Stimme und Schrift für das Denken und die Geschichte der Philosophie geltend gemacht hat (und so entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung medienphilosophischer Fragestellungen hat), sondern vielmehr deshalb, weil er systematisch die maßgebenden Oppositionen hinterfragte und dabei einen für eine Medienphilosophie der Zeit wegweisenden Gedanken der Medialität entdeckte. Dieser Gedanke ist aus zweierlei Gründen von besonderem Interesse: Erstens werden die Konturen eines Begriffs des Medialen sichtbar, der nicht nur nicht den Aspekt der Materialität ausschließt, sondern vor allem die eigentümliche Relationalität zwischen den jeweiligen Oppositionspaaren wie etwa Außen/Innen reflektiert. Und zweitens ist dieser Begriff des Medialen wesentlich mit einem Zeitgedanken, näher: mit einem gegenüber der Tradition veränderten Gedanken der Zeit verbunden.

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Die im Zusammenhang mit dem Medialitätsgedanken neu gedachte Zeit wird von Derrida in Abhebung vom Präsentismus bzw. Gegenwartsprimat des metaphysischen und phänomenologischen Zeitdenkens formuliert. Gegen die Annahme eines rein durch die Zeitlichkeit des intentionalen Bewusstseins bestimmten Zugangs zu etwas, denkt Derrida einem Begriff von Medialität nach, der sowohl der Selbstgegenwart des Bewusstseins als auch der Gegenwart von Gegenständlichem voraus geht. Dessen philosophiegeschichtlich unscheinbare, aber gleichwohl konstitutive Bedeutung sowie das damit verbundene Zeitdenken abseits des Präsentismus, bringt Derrida lakonisch in der hier als Motto vorausgeschickten Formulierung zum Ausdruck: „Die tote Zeit ist am Werk“ (Derrida 1994, S. 119). Doch bevor die „tote Zeit“ genauer betrachtet werden kann, ist zunächst kurz der Begriff der Medialität zu skizzieren, den Derrida mit den Termini différance und Spur entwickelt hat. Der entscheidende Punkt ist, dass er mit diesen Termini die Oppositionsschemata ‚Innen/Außen‘ und ‚Aktiv/Passiv‘ unterläuft. Er ‚dekonstruiert‘ bzw. reflektiert die Gegensatzpaare im Spiegel der ihre Relation eröffnenden Mitte, d. h. im Blick auf eine „mediale Form“ (Derrida 1988, S. 34). Diese „mediale Form“ – die différance – ist durch ihre Relata nicht repräsentierbar; sie markiert ein der Relation von Innen und Außen vorausgehendes, nicht durch die entsprechenden Oppositionen erfaßbares und deshalb „rätselhafte[s] Verhältnis“ (Derrida 1994, S. 124). Der dabei zum Vorschein kommende Gedanke der Medialität ist zunächst auch als Begriff festzuhalten und nicht vorschnell hinsichtlich der assoziierten Medien zu dispensieren. Die begriffliche Struktur, die Medialität als solche, ist für alle weiteren Thematisierungen medialer Aspekte gravierend. Wichtig hinsichtlich der zeittheoretischen Fragestellung ist vor allem, dass Derrida mit diesem „rätselhafte[n] Verhältnis“ versucht, eine Struktur minimaler Identität und maximaler Alterität (vgl. Gondek 1998) zu beschreiben, womit er in den Gedanken der Medialität eine spezifische Zeitlichkeit einträgt. Denn in dem thematisierten Verhältnis werden zwar nicht einfach mit sich identische Seiten in ein dadurch definiertes Verhältnis gesetzt, aber es wird gleichwohl in der prinzipiellen Alterität ein Verhältnis gedacht, so dass hier eine durch die Alteritätsstruktur gleichsam infizierte, übergängliche, d. h. zeitliche Relation thematisch ist. Um aber die im Medialitätsgedanken verankerte Zeitlichkeit näher als „tote Zeit“ zu verstehen, ist es sinnvoll, in einem zweiten Schritt den Medienaspekt deutlicher zu machen. Zunächst ist zu sehen, dass die Temporalität der Medialität nicht ohne Räumlichkeit gedacht werden kann. Das „rätselhafte Verhältnis“, durch das die Relata, Innen und Außen, Bewusstsein und Gegenstand etc. statthaben, durch welches sie „konstituiert und zugleich disloziert“ (Derrida 1994, S. 119) werden, ist wesentlich auch „Verräumlichung“ (ebd., S. 124). Es ist durch eine Distanz bzw. eine irreduzible Intervallstruktur gekennzeichnet, durch die der Raum eröffnet wird, in dem die Relata auf- und in Beziehung treten können. Die Räumlichkeit der Intervallstruktur ist um der prinzipiellen Alterität willen nicht auf die Verzeitlichung eines Bewusstseins, das Gefüge von Retentionen und Protentionen, rückführbar, sondern geht derselben voraus. In diesem Zusammenhang der Verräumlichung spricht Derrida von der Schrift, die hier nicht als ein bedeutungsvermittelndes Medium – etwa im Sinne einer linearisierten Zeichenfolge –

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misszuverstehen ist. In Absetzung von dem üblichen Schriftverständnis nennt er diese Schrift auch „Urschrift“, mit der eben nicht etwas über ein Medium, sondern etwas über den Begriff des Mediums, über die Medialität ausgesagt wird, zu deren Kennzeichen die genannte Intervallstruktur bzw. die Verräumlichung gehört. Die „Verräumlichung als Schrift“ (Derrida 1994, S. 120) läßt nun den Doppelsinn der Rede von der „toten Zeit“ erkennen. Zum einen nämlich ist die mediale Zeit gleichsam mortalisiert, da sie durch eine dem tradierten Konzept der erfüllten (lebendigen) Subjektivitätsstruktur zuwiderlaufende Leere, einen toten Zwischenraum, gekennzeichnet ist. Neben diesem Raumaspekt kommt zweitens aber dabei noch ein spezifischer Zeitaspekt hinzu. Die mediale Zeit ist auch deshalb als ‚tot‘ zu bezeichnen, weil sie von einem Nicht-Gegenwärtigen bzw. einer „absolute[n] Vergangenheit“ (ebd., S. 116) durchzogen ist. Ein derartig Nicht-Gegenwärtiges, das weder zu vergegenwärtigen noch als vergangene Gegenwart vorzustellen ist, wird für Derrida gerade in der Schrift virulent. Denn: „Jedes Graphem ist seinem Wesen nach testamentarisch.“ (Ebd.) Und die Tragweite dieses Befundes kommt dann richtig zur Geltung, wenn man eben die Medialitätsthematik dabei im Blick behält und so sieht, dass hier nicht die Wirkung eines Mediums, sondern die Medialitätsstruktur bzw. jenes „rätselhafte Verhältnis“ gedacht wird. Deren Radikalität erhellt zuletzt, wenn man die dadurch eingeleitete Kritik an dem „Phonologismus“ der „Onto-Theo-Teleologie“ (ebd., S. 128) mit einbezieht, an deren Ende deutlich wird, dass die Medialitätsstruktur an keinem Punkt und durch kein Medium begrenzt oder außer Kraft gesetzt wäre. Das testamentarische Graphem, die auf Vergangenheit rückverweisende Schrift, lässt nicht deshalb an eine „tote Zeit“ denken, weil sie auf Vergangenheit verweist, sondern weil sie eine Struktur der Nachträglichkeit impliziert, die gar nicht an eine ursprüngliche Gegenwart gebunden ist. Sie lässt also vielmehr allenthalben nur eine sekundäre, d. h. durch den Rückbezug vermittelte ‚Gegenwart‘ erkennen – und zwar dort, wo es strukturell nur eine „absolute“, d. h. prinzipiell nicht-gegenwärtige Vergangenheit gibt. Die „tote Zeit“ meint zuletzt diesen radikalen Entzug von Gegenwart in der rückverweisenden-verräumlichenden Schrift als Medialität. Obwohl die „tote Zeit“ besonders deutlich die Verschiedenartigkeit der Zeitaspekte des Medialitätsgedankens gegenüber der Zeitproblematik in anderen Kontexten signalisiert, ist sie in anderer Hinsicht irreführend. Es mag der Eindruck entstehen, als ginge es um eine Zeit, in der nichts ‚passiert‘, eine Zeit des Stillstands unterhalb oder vor der Betriebsamkeit des Subjekts, vor den Vollzügen eines Subjektes und den Abläufen in der Welt. Eine Zeit ohne Prozess? Dies wäre widersinnig. Genau genommen müsste man sagen, es geht um eine Zeit, die den ‚Prozess macht‘, die ihre Relata „konstituiert“ und „disloziert“, die gleichsam selbst „dekonstruiert“. Näher gesehen geht es bei der „toten Zeit“ durchaus um einen Prozess bzw. um ein spezifisches Werden, welches zunächst dadurch charakterisiert ist, das es nicht dem Primat der (Selbst-)Gegenwart unter-, sondern ihm vorgeordnet ist und innerhalb der Ordnung der Gegenwart als Störung, Unterbrechung oder Zäsur merklich wird. Dass es beim Nachdenken über die Medialität um einen Zeitbegriff zu tun ist, der ein spezifisches Werden impliziert, erklärt sich vom eben angedeuteten Schriftbegriff her.

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Der eigentümliche Verweisungscharakter der Schrift – ihr testamentarisches Wesen – kommt terminologisch im Begriff der „Spur“ zur Geltung. Die „Spur“ zeigt unmittelbar einen Entzug von Anwesenheit an, auf die in einem rückverwiesen wird. Anders als beim Ausgang von den Akten eines Subjekts, wird die Spur nicht einfach als ein das Abwesende zeitigendes Subjekt gedacht, sondern ihre Nachträglichkeitsstruktur bedeutet, dass sie dem zuvor als gezeitigte, als eine „fundamentale Passivität“ (Derrida 1994, S. 116) zu denken ist: Die Spur ist gezeitigt-zeitigend. Damit wird zum einen die prinzipielle Alterität gewahrt, die nicht den Schein erzeugt, als könne sich durch das Intervall hindurch eine ihr Außen mit einschließende Selbstgegenwart als Grund behaupten (freilich ohne damit im Gegenzug zu behaupten, dass eine Vergangenheit den Glanz ihrer Gegenwart durch die folgenden Zäsuren hindurch bewahren würde, weshalb Derrida zur Abwehr dieser Vorstellung einer perfekten Gegenwart von einer „absoluten Vergangenheit“ spricht, d. h. einer Vergangenheit, abgelöst von einer Gegenwartsunterstellung). Zum anderen zeigt die „fundamentale Passivität“ an, dass die Spur zuhöchst nicht eine Struktur, sondern ein Prozess, näher der einer gezeitigten Zeitigung ist. Und dieser Prozess ist weder von seinen materialen Elementen losgelöst – im Sinne etwa einer ‚reinen‘ und ‚absoluten Bewegung des Begriffs‘ (Hegel) – zu denken, noch ist er auf eine reine, apriorische Aktivität rückführbar. Somit trägt der Prozess durchgängig die basalen Merkmale der Schrift (was nicht schon Linearität, aber Materialität einschließt) und ist von Beginn an als dieses Doppel von gezeitigter Zeitigung bestimmt: Spur ist „a priori eine geschriebene Spur“ (ebd., S. 123). Das der „toten Zeit“ eigene Werden kann ausgehend von dem durch die Spur bezeichneten Prozess der gezeitigten Zeitigung auch als Prozess eines produktiven Gedächtnisses beschrieben werden, wobei jedoch sogleich mitzudenken ist, dass dieses Gedächtnis nicht zu anthropomorphisieren bzw. einseitig als Funktion eines Subjektes misszuverstehen ist, sondern etwas über den Modus der Medialität aussagt. Gedächtnisartig ist dieser Prozess der Spur, weil sich in der Spur etwas ‚eingeprägt‘ oder ‚eingeschrieben‘ hat und zwar über eine Distanz von einschneidender Bedeutung, eine Zäsur (wie etwa den Tod eines Individuums) hinweg. Produktiv ist dieses Gedächtnis, insofern die Spur etwas als Abwesendes ‚vergegenwärtigt‘ (ein ‚Vergangenes‘ zeitigt). Die Besonderheit des produktiven Gedächtnisses, der Spur, liegt darin, dass es, wie gesehen, weder von einer ursprünglichen, vergangenen Gegenwart ausgeht – sondern in der Rückbeziehung auf die „absolute Vergangenheit“ allenthalben nur eine sekundäre Gegenwart konstituiert – noch auf eine vollkommene Gegenwart als eine zukünftige (Telos) zuläuft. Das produktive Gedächtnis bzw. die gezeitigte Zeitigung ist durch keine Gegenwart von prinzipieller Bedeutung bestimmt. Aus der Perspektive eines Gegenwartsprimats und aus der Vorstellung einer auf eine ursprünglich oder zukünftig perfekte Gegenwart hin geregelten Bewegung, stellt sich der Prozess der Spur mithin als eine ‚abweichende Bewegung‘ dar. Das produktive Gedächtnis impliziert also strukturell für das Ansinnen eines Ursprungs- oder teleologischen Denkens eine permanente Frustration. Die Frage nach der Zeit im Hinblick auf die Medialität, d. h. demjenigen Relationstypus, der den Begriff des Mediums bestimmt, ist also im Anschluss an Derrida zu-

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sammenfassend so zu beantworten: Medialität impliziert eine spezifische Zeitlichkeit, die durch den Entzug von Gegenwart und Verräumlichung gekennzeichnet ist (vgl. die „tote Zeit“). Dieser durch eine Intervallstruktur geprägten Zeitlichkeit eignet eine den funktionalen Verhältnissen (wie Medien/Mediennutzer) vorausgehende und sie ermöglichende Prozessualität der gezeitigten Zeitigung, deren prinzipielle Alteritätsstruktur jegliche Homogenisierungstendenz und Gegenwartshegemonie aufbricht (vgl. das produktive Gedächtnis). Diese für die funktionalen Verhältnisse und ihre Relata konstitutive Prozessualität nimmt sich gleichsam als eine ‚abweichende Bewegung‘ aus, die zwar alle Verhältnisse eröffnet, aber an ihr selbst nicht geschlossen werden, d. h. sich nicht zu einer statischen Struktur ausbilden kann. – Da es um einen Prozess geht, der auf keine positiven (gegebenen) Elemente reduziert oder aus ihnen generiert werden kann, dessen Zeitlichkeit weder aus einem Gegenstand noch einer natürlichen Bewegung abgeleitet ist, sondern die als eine ‚reine‘, nämlich nicht-gegenständliche Bewegung des Öffnens (Verräumlichens) und Intervallsetzens (Vorher/Nachher) zu denken ist, kann in gewisser Hinsicht – mit Deleuze – auch davon gesprochen werden, dass es sich bei dieser im Begriff des Mediums liegenden Prozessualität um die „Zeit selbst“ handelt.

3. Zeit als Medium Der medienphilosophische Zugang zu Fragen der Zeit bestimmt sich, wie gesehen, durch die Relationierung des Zeitbegriffs mit Medienbegriffen sowie mit der immanenten Prozessualität der Medialität. Demnach sind die quantitativ bestimmbaren Zeitverläufe technisch-physikalischer Medienprozesse sowie spezifische Zeiterfahrungen im Umgang mit Medien – wie etwa Gegenwartsverlust oder -expansion – systematisch zu unterscheiden von der Erfahrungen bzw. Gegenstandsbezüge ermöglichenden Zeitlichkeit der Medialität, der „toten Zeit“ (Derrida) eines produktiven Gedächtnisses bzw. der „Zeit selbst“ (Deleuze). Darüber hinaus ist aber noch eine weitere Differenzierung einzuführen. Gegenüber der durch Medien bedingten Zeiterfahrung und der den Erfahrungshorizont eröffnenden Zeitlichkeit der Medialität ist Zeit an ihr selbst als Medium thematisierbar, was nicht mit dem Vorangegangenen konfundiert werden sollte, obgleich es, wie zu sehen sein wird, begriffliche Verknüpfungen gibt. Die Vorstellung von der Zeit als Medium ist philosophiegeschichtlich nicht einschlägig, aber auch nicht widersinnig. Versteht man unter einem Medium etwas, wodurch etwas zur Erscheinung kommen kann (vgl. Kant) bzw. – stärker aktivisch – etwas, das etwas zur Erscheinung bringt bzw. offenbart, dann kann auch Zeit als ein Medium, genauer: als ein sinnliches Wahrnehmungsmedium thematisiert werden. Denn durch die Zeit können wir etwas als etwas Gegenwärtiges wahrnehmen und von Vergangenem und Zukünftigem unterscheiden bzw. etwas in seiner zeitlichen Extension auffassen; d. h. durch die Zeit ist uns ein Unterscheidungspotential gleichsam an die Hand gegeben, das Gegebenes in einer basalen Bestimmtheit greifbar werden lässt. Dabei wird Gegebenes, z. B. ein Datenagglomerat, durch ein Vorher/Nachher-Schema dimensio-

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niert und als ein Sachverhalt zugänglich. – Medienphilosophisch interessant wird es vor allem dann, wenn das Wahrnehmungsmedium Zeit nicht mehr abgekoppelt von seiner materialen Implementierung – etwa als ‚reine Form der Anschauung‘ (Kant) – gedacht wird. Reflektiert man vielmehr auf die strukturelle Verkopplung, d. h. darauf, dass das Wahrnehmungsmedium Zeit nicht nur im Bedarfsfall, sondern wesentlich in Korrelation zu anderen technisch-materialen Medien steht, so wird die Aufmerksamkeit auf eine medienspezifische Variabilität gelenkt. In diesem Zusammenhang ist besonders Merleau-Ponty zu nennen, der – freilich nicht medienphilosophisch, sondern phänomenologisch – den Aspekt der materialen Inkorporation der Zeit mit seinem Konzept einer leiblichen Zeit herausgearbeitet hat. Diesem Gedanken folgend, unter Einbeziehung der derridaschen Einsicht in die auch in der leiblichen Zeit wirksamen „toten Zeit“, wird die anfangs erwähnte DependenzThese – die Abhängigkeit der Zeitkonzeptionen vom Stand der Medien – verständlicher (vgl. Flusser 1996), da sich das Wahrnehmungsmedium Zeit in Korrelation zur geschichtlichen Entwicklung von Medien historisch variabel erweist. Vertreter der These, dass Zeit und technische Medien als Koevolution zu betrachten sind, verweisen etwa auf die Korrelation von zyklischer Zeit und Oralität oder von linearer Zeit und Schriftlichkeit. Die auffälligen Korrelationen sind allerdings nicht dahingehend misszuverstehen, dass Zeitkonzeptionen gänzlich aus dem jeweiligen Medienprimat zu deduzieren seien. Das wäre sowohl historisch als auch systematisch unplausibel: historisch, weil allenfalls von einer relativen Dominanz eines Mediums innerhalb einer Epoche gesprochen werden kann. Jede Epoche ist genau genommen durch den Gebrauch und die Verbindung einer Vielzahl von Medien gekennzeichnet und kann infolgedessen auch unter der Annahme einer Mediendependenz der Zeitvorstellung niemals nur durch eine Zeitvorstellung beschrieben werden.2 Auch systematisch wäre es falsch, die Korrelationen auf eine nur in eine Richtung gehende Dependenz zu verkürzen. Zwar mag korrelativ zu einem bestimmten Medienprimat eine bestimmte Zeitvorstellung – etwa die lineare oder die zyklische – dominierend und für ein epochenspezifisches Weltbild prägend gewesen sein, aber die jeweiligen Zeitkonzeptionen reflektieren gleichwohl notwendig mehr als eine Vorstellung. Systematisch ist vielmehr von Verflechtungen und Implikationsverhältnissen verschiedener Zeitvorstellungen auszugehen, was sich auch im metaphysischen Zeitdenken niederschlägt, insofern lineare Bewegung im Kontext eines Perfektibilitätsgedankens begriffen und mithin die lineare Zeit im Zusammenhang mit einer zyklischen und im Durchgriff auf die Gegenwart des Prinzips entwickelt worden ist. Die strukturelle Verkopplung des Wahrnehmungsmediums Zeit mit technologisch spezifizierten Medien bedingt eine sich auch historisch sedimentierende Varianz der jeweils leitenden bzw. dominierenden Zeitvorstellung. Das bedeutet aber keine Reduktion auf dieselbe, sondern vielmehr eine jeweils spezifische Neugewichtung bzw. Umkonzeptionierung verschiedener Zeitaspekte zugunsten der kontextbedingt leitenden Aspekte. Die entsprechenden Zeitkonzeptionen sind mehr als Etikettierungen des ton2

Dies gilt analog dazu auch für den Raum als sinnliches Wahrnehmungsmedium. Vgl. dazu den Beitrag von Götz Großklaus im vorliegenden Band.

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angebenden Aspektes, nämlich zeitimmanente und -transzendente Differenzierungen, die den systematischen Verflechtungen, einer Pluralität von Zeitvorstellungen und dem Zusammenhang von Raum und Zeit Rechnung tragen. Der Umstand, dass heute – zumal unter den Bedingungen des Internet – die Komplexität der Zeitaspekte sowie ihre Relation zu Raumvorstellungen geradezu zur Erfahrungssache von unmittelbarer Evidenz geworden ist (vgl. Sandbothe 2001, S. 197 ff.), verweist vielleicht weniger auf eine gänzlich andere Zeitlichkeit, als vielmehr darauf, dass die dabei unübersehbare „pragmatische Zeitsignatur“ (ebd., S. 200) im Rückblick gerne überlesen wird. Denn erst eingedenk eines Gebrauchszusammenhangs macht die medienspezifische Tönung der Zeit Sinn. Ohne eine spezifische Praxis, innerhalb deren ein Medium verwendet wird – und so überhaupt erst sinnvoll als Medium begriffen werden kann –, ist der strukturelle Zusammenhang des Mediums Zeit mit einem spezifischen Medium – ihre technologische Immersion – nicht beschreibbar. Versucht man also Zeit als Medium in den Blick zu bekommen, so ist zweierlei zu bedenken: Erstens, dass die Zeit faktisch in ein technisch-materiales Medium ‚eingetaucht‘ ist; zweitens, dass auch das technische Medium nicht als Erklärungsfundament der spezifischen zeitlichen Krümmung ausreicht, sondern wesentlich im Kontext einer spezifischen Praxis verortet ist. Die in diesem Komplex enthaltenen Termini ‚Zeit als Medium‘, ‚technisches Medium‘ (vgl. Kommunikations- und Speichermedien) und ‚Praxis‘ (Verwendungszusammenhang) sind zwar analytisch, aber nicht faktisch trennbar. – Entgegen einer Tendenz zur Hypostasierung der Medien ist daran zu erinnern, dass Medien sowohl genealogisch als auch de facto in einem Verwendungszusammenhang stehen. Dessen dynamische Relationen sind zu den Kernbestimmungen der Medien zu zählen. Um es zu pointieren: Medien sind weniger als Substanzen, sondern vielmehr von den Bewegungen her zu begreifen, die sie durchlaufen. Demgemäß ist die Frage nach der Zeit als Medium in einer erweiterten Perspektive zu sehen. Es ist vor allem zu berücksichtigen, dass die Zeit als Medium nicht etwa nur eine Konstruktion mit einer bestimmten Struktur ist, sondern dass die Zeit als Medium ein Medium für etwas ist, d. h. im Kontext einer bestimmten Intention (vgl. Vogel 2001), einer bestimmten Zwecksetzung steht. Dabei reicht es indes nicht mehr aus, die Zeit vor dem Hintergrund der klassisch aristotelischen Typik von Tätigkeiten – Handeln (praxis), Hervorbringen (poiesis), Denken (theoria) – zu differenzieren, wiewohl dies einige grundsätzliche Unterschiede verdeutlichen kann. Denn je nachdem, ob es im Gebrauch eines Mediums um Erkenntnis (Theorie) oder um Praxis oder Produktion (poiesis) geht, wird auch die Zeit unterschiedlich akzentuiert. Anders als im Kontext von Praxis, wo die Gegenwart als zukunftsoffen und veränderlich bestimmt ist, und anders als im Kontext von Produktion, wo die Gegenwart auf eine zukünftige und sich in einem Produkt vollendende Gegenwart ausgerichtet ist, ist die Zeit im Kontext von Theorie primär daraufhin bestimmt, eine gegebene, unveränderliche Gegenwart zur Erscheinung zu bringen. Eine derartige Differenzierung macht aber zugleich deutlich, dass die funktionale Einbindung des Mediums Zeit einen Gegenwartsprimat mit sich bringt. Dieser bleibt immun gegenüber dem Umstand, dass unter den Bedingungen digitaler Informationsverarbeitung die funktionalen Grenzen leicht passiert, nahezu instan-

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tan von einer Funktion zur anderen gewechselt und je nach Programm und Bedürfnis das Datenmaterial verzeitlicht werden kann. Problematisch ist der Gegenwartsprimat bei einer funktionalen Kontextualisierung des Mediums Zeit nicht, weil etwa die zugrunde liegende Zweckrationalität verwerflich wäre, sondern weil er gleichsam die Medialität, näher: die im Begriff des Mediums liegende „tote Zeit“, überblendet und deren genuinen Potenziale unbedacht lässt. Hier ist vor allem Deleuze (1991) zu nennen, der in exemplarischer Weise am Beispiel des Mediums Film die Zeitlichkeit der Medialität, die „Zeit selbst“, herausgearbeitet hat. Entgegen der nahe liegenden Annahme, dass das durch das Medium Film visuell oder audiovisuell als homogener Bewegungsablauf zur Erscheinung Gebrachte prinzipiell so zu verstehen sei, dass die Zeit nur als Medium für solche Bewegungen bestimmt und mithin auf einen Gegenwartsprimat festgelegt sei, entdeckt Deleuze eine weit darüber hinausweisende Perspektive. Der springende Punkt für die Frage nach der Zeit als Medium ist dabei folgender: Deleuze zeigt, dass in der die einfachen Funktionszusammenhänge sprengenden Dysfunktionalität die Zeit nicht mehr primär als Medium der Bewegungen ‚funktioniert‘, sondern, dass nunmehr in der ‚abweichenden Bewegung‘ die Zeit der Medialität wirksam wird. Dies impliziert zwei wichtige Aspekte, wenn man so will, einen negativen und einen positiven, philosophisch wegweisenden. Der negative Aspekt besteht darin, dass dabei die Grenze eines Gebrauchs des Mediums Zeit thematisch und im Fall des Filmrezipienten die Erfahrung der Dysfunktionalität bestimmend wird (d. h. im Medium der Zeit wird die intendierte Gegenwart sabotiert). Der positive Aspekt ist jedoch der, dass dann, wenn die Zeit als Medium dispensiert wird, die spezifische Zeit der Medialität als ein Medium sui generis hervortreten kann. Da mit Medialität bzw. der „Zeit selbst“ der Gedanke einer ‚grundlosen‘, durch Verräumlichung und Verzeitlichung gekennzeichneten Konstitution von Differenzen verbunden ist, d. h. insofern Medialität eine genuine und irreduzible Produktion von Differenzialität bedeutet, ist die „Zeit selbst“ Medium des Denkens. Sie ist es jedenfalls dann, wenn Denken mit Deleuze als das Schaffen von Begriffen gedeutet wird. Denn Denken als Begriffsschöpfung heißt vor allem, unterscheiden können. Und das Denken kann unterscheiden kraft der unabschließbaren (der Intentionalität vorgängigen und sie ermöglichenden) Produktivität der „Zeit selbst“, die unaufhörlich Unterschiede generiert, ‚zur Erscheinung bringt‘. In dieser Hinsicht kann man also sagen: Die „Zeit selbst“ ist das Medium des Denkens.

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Medien in Alltag, Philosophie und Wissenschaften Es wäre für die gegenwärtige medientheoretische Diskussion in und zwischen den Wissenschaften viel gewonnen, wenn die Beiträger klar sagten, von welchem Standpunkt aus sie ihre Aussagen formulieren möchten.1 Für den Einzelwissenschaftler sind ‚Medien‘ zunächst überkomplexe Phänomene, wie ‚Technik‘, ‚Menschen‘ oder die ‚Natur‘. Sie können in den Objektbereich vieler Disziplinen eingeordnet werden. Entsprechend gibt es zahlreiche Medientheorien, die jeweils unterschiedliche Erkenntnisse über die Phänomene zu Tage fördern. Wenn der Biochemiker ‚Botenstoffe‘ isoliert, der Sprachwissenschaftler nach den (graphischen oder phonetischen) Realisierungen seiner ‚langue‘ fragt oder der Soziologe das Problem der ‚doppelten Kontingenz sozialen Handelns‘ durch Medien wie ‚Macht‘ und ‚Vertrauen‘ zu lösen sucht, dann liegen diesen Bemühungen jeweils Modelle zugrunde, die sich letztlich aus den Makrotheorien der betreffenden Disziplinen speisen. Die Medienkonzepte sind abgeleitete Größen, sie lösen, wie Parsons und Luhmann es für die Soziologie formulierten, ‚Anschlussprobleme‘ von gebietsbestimmenden System- und Handlungstheorien. Was kann herauskommen, wenn die Wissenschaftler diese abgeleiteten Modelle: Substrate, ‚Folgeproblemlöser‘, Verstärker von Elementen/Prozessen, die im Zentrum der disziplinenkonstituierenden Theorien stehen, zum primären Gegenstand ihrer Beschäftigung machen? Im günstigen Fall entsteht eine sprachwissenschaftliche, soziologische, biochemische etc. Medientheorie, die sich ihres sekundären Charakters bewusst ist und ihre Abhängigkeiten von den Axiomen der Ursprungstheorie reflektiert und kommuniziert. In weniger produktiven Fällen werden Vater und Mutter geleugnet, und man gibt dem Säugling einen neuen Namen. In beiden Fällen entsteht leicht ein Seriositätsgefälle zwischen den Ursprungstheorien und deren Derivaten, zwischen den Kernbereichen der betreffenden Wissenschaften und den Anbauten. Dieses Imageproblem existiert auch für die Medientheorien, die als Bezugsrahmen die Kommunikationswissenschaften und deren Kommunikationstheorien wählen, wie dies in diesem Aufsatz geschieht. Es wird im öffentlichen Bewusstsein durch die Tatsa1

Obwohl ich es in der Folge noch des Öfteren betonen werde, sei schon jetzt darauf hingewiesen, dass natürlich auch diese Einschätzung der Medientheorie von einem bestimmten Standpunkt im System der Wissenschaften aus geschrieben ist: Vom Standpunkt einer kommunikationswissenschaftlichen Medientheorie.

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che gemildert, dass ein Teil der Gegenstände dieser Medientheorie auch in der Umgangssprache als ‚Massenmedien‘ identifiziert werden. So entsteht der Anschein, als ob die Kommunikationswissenschaften ihren Gegenstand ‚Medien‘ direkt auffinden könnten. Aber genauso, wie der Biologe die Lebewesen seiner Umwelt erst zu Elementen seines Objektbereichs machen muss, indem er sie etwa als „Naturkörper“ modelliert, „die Nucleinsäuren und Proteine besitzen und imstande sind, solche Moleküle selbst zu synthetisieren“ (Czihak et al. 1996, S. 1 f.), so muss auch der Kommunikationswissenschaftler die ‚Zeitungen‘, ‚Fernsehreportagen‘, ‚Interviews‘ etc. im Lichte seiner Medientheorie rekonstruieren, um sich mit ihnen wissenschaftlich auseinander setzen zu können. Dass diese Modellierung zu häufig unterbleibt und dass überhaupt der Entwicklungsstand der Medientheorie in den Kommunikationswissenschaften so unbefriedigend ist, hängt eng mit dem beschriebenen Missverständnis zusammen, diese Disziplin könnte ihren Gegenstand im Alltag unmittelbar finden und benötige hierfür keine spezielle Theorie, sondern nur die Vorurteile des Alltags oder das Expertenwissen der Professionals. Natürlich gibt es diese Alltagstheorien, und sie müssen auch von den Kommunikations- und Medienwissenschaften berücksichtigt werden – aber eben als Daten und nicht als Forschungsergebnisse. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es in Deutschland 2004 kaum noch möglich ist, in einem strikt alltagsweltlichen Sinne von ‚Medien‘ zu sprechen. Die Verwissenschaftlichung des Alltags erlaubt es jedenfalls, in praktisch allen umgangssprachlichen Verwendungen des Wortes ‚Medium‘ einzelwissenschaftliche Theoriespuren zu rekonstruieren. Wer im Alltag und in Etymologien sucht, findet sich bald in den Einzelwissenschaften wieder. Wenn ich von ‚alltäglichen Medientheorien‘ vom wissenschaftlichen Standpunkt aus spreche, dann meine ich überkomplexe Phänomene, das Chaos, welches wissenschaftlicher Systematisierung harrt. Auf der Mitte zwischen der Überkomplexität alltäglicher Medienphänomene und den einzelwissenschaftlichen Modellen liegt die Medienphilosophie. Sie hat letztlich das Ziel, sich in disziplinären Modellen aufzuheben und empirische Untersuchungen vorzubereiten. Insoweit bedeutet der Titel ‚Medienphilosophie der Sinne‘ das Eingeständnis einer unzureichenden Axiomatik der nachfolgenden kommunikations- und medienwissenschaftlichen Überlegungen. Aber genau in diesem Sinne ist der Ausdruck zeitgemäß. Die vielen Medientheorien und erst recht eine kommunikationswissenschaftliche Medientheorie befinden sich in statu nascendi. Sie sind auf weiten Strecken noch unfertig. Vor dem Hintergrund dieser Geburtswehen scheint mir auch die Suche nach einer eigenen medientheoretischen Medientheorie, sei sie nun auf philosophischem, einzelwissenschaftlichem oder auf anderem Spezifitätsniveau angesiedelt, kaum aussichtsreich und jedenfalls völlig verfrüht.2 Eine solche Theorie oder Disziplin hätte mindestens eine Typologie der Medien und deren ausreichende Exploration zur Voraussetzung. Das kann noch Jahrzehnte dauern. Bis dahin verlassen wir, sobald wir empirisch und wis2

Behandelt wird dieses Thema von verschiedenen Beiträgen im von Stefan Münker, Alexander Roesler und Mike Sandbothe herausgegebenen Band Medienphilosophie (Münker et al. 2003).

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senschaftlich arbeiten, die Ebene einer allgemeinen Medientheorie. Je nach den Fragestellungen und den disziplinären Kontexten werden wir unsere Vorstellungen des Phänomens spezifizieren. Dies soll nun mit Blick auf die Kommunikationswissenschaften geschehen, wobei die Kommunikations- und Medientheorie, die im Hintergrund steht, später skizziert wird.

Der inhomogene Objektbereich der Medien- und Kommunikationswissenschaften Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht macht es keinen Sinn, von ‚Medien‘ zu sprechen, ohne zugleich die Akteure und Kommunikatoren zu bezeichnen, als deren Umwelt diese Medien erscheinen. Medien, Kommunikatoren und die Beziehungen zwischen ihnen bilden die Untersuchungszellen dieser Disziplin. Ihr zirkulärer Zusammenhang verbietet eine Definition jedes einzelnen Elements ohne Rücksicht auf die anderen. Aus diesem Grund kann das Projekt ‚Medientheorie‘ kaum mehr als eine Schwerpunktsetzung sein, die Bezeichnung des Einstiegs in einen triadischen Zusammenhang. Eine allgemeine Medientheorie im Sinne einer Abstraktion von den verschiedenen Klassen von Kommunikatoren/Informationssystemen kann es für den Kommunikationsund Medienwissenschaftler nicht geben.3 Bestenfalls lässt sich die Aussage rechtfertigen, dass Medien Informationen konstant halten. Ich werde im Folgenden diese Überlegungen begründen und bin dazu gezwungen sogleich festzulegen, zwischen welcher Klasse von Kommunikatoren die Medien vermitteln sollen bzw. als Umwelt von welchen informationsverarbeitenden Systemen die Medien emergieren sollen. Dieser Kristallisationspunkt soll ,der Mensch‘ sein, es könnten aber auch andere Tiere, Pflanzen oder technische Systeme sein. Es geht also im Folgenden um die Rolle der Medien in der menschlichen Informationsverarbeitung und Kommunikation. Nun gilt der Mensch den neuzeitlichen Wissenschaften als überkomplexes Phänomen, das als solches nicht wissenschaftlich erfasst werden kann. Vielmehr muss seine Komplexität durch die gebietsbestimmenden Theorien der jeweiligen Disziplin so weit reduziert werden, bis einfachere ‚Objekte‘ entstehen. Ich teile die Einsicht in die Notwendigkeit methodisch kontrollierter Komplexitätsreduktion ebenso wie die Überzeugung, dass die vorfindlichen Disziplinen bzw. deren Axiome sinnvoll sind, glaube aber 3

Es ist klar, dass bei diesem Einstieg eine Trennung zwischen Kommunikations- und Medienwissenschaften im Sinne des traditionellen Verständnisses von ‚Wissenschaftsdisziplinen‘ ebenfalls sinnlos ist. Kommunikationswissenschaft und Wissenschaft von den Kommunikations- und Informationsmedien gibt es nur im Doppelpack. Genau genommen muss vom Dreierpack gesprochen werden, weil immer auch Vernetzungstheorien nötig sind.

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nicht, dass die Kommunikations- und Medienwissenschaften einen vergleichsweise ‚einfachen‘, jedenfalls homogenen Objektbereich anstreben sollten. Ihre Attraktivität beruht viel eher darauf, dass sie auch das Zusammenwirken inhomogener ‚Objekte‘, allen voran natürlich von ‚Kommunikatoren‘ und ‚Medien‘, erforschen und modellieren wollen. Die wissenschaftstheoretischen Implikationen einer Arbeit mit inhomogenen Objektbereichen und ohne eine ‚Supertheorie‘, unter die sich diese Objekte gleichermaßen subsumieren lassen, sind freilich noch kaum klar – und können auch in diesem Aufsatz nicht weiter ausgeführt werden.4 Versucht werden kann allerdings, die Grundgedanken der Ökologie als aussichtsreiche Helfer auf dem Weg zur Modellierung überkomplexer inhomogener Phänomene vorzustellen.5 Der Objektbereich der Kommunikations- und Medienwissenschaften erscheint danach als ökologisches Netzwerk artverschiedener Kommunikatoren und Medien. Zu ihrer Modellierung müssen die Erkenntnisse der traditionellen Einzelwissenschaften herangezogen werden. Die Organisationsstruktur der Kommunikations- und Medienwissenschaft gleicht eher jener von ‚Projekten‘ als von hierarchischen Institutionen.

Der Mensch als informationsverarbeitendes Ökosystem ‚Menschen‘ erscheinen ebenso wie andere Kulturen als Ökosysteme, d. h. als Vernetzungen von artverschiedenen Systemen. Diese Erkenntnis spiegelt sich u. a. in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wider, die sich mit dem Menschen befassen: Er kann z. B. als physikalisches, psychisches, biogenes, neuronales und soziales System beschrieben werden. Jede Disziplin findet ihren eigenen Objektbereich. Zwischen diesen Bereichen oder Ebenen gibt es keine hierarchische Abstufung. Alle sind gleich wichtig. Nur gemeinsam erzeugen sie jenes komplexe Phänomen, das wir ‚Mensch‘ nennen. Die Einsicht in die prinzipielle Gleichwertigkeit wird allerdings von den wenigsten Philosophen geteilt. Auf weiten Strecken lässt sich die Philosophiegeschichte danach einteilen, welches Emergenzniveau bei der Beschreibung bevorzugt wird. Die Aufgabe der Philosophen scheint es über Jahrhunderte gewesen zu sein, die eine oder andere Hierarchisierung zu legitimieren. Zumindest kann man festhalten, dass diejenigen Philosophen, die Einfluss gewannen, diesen zum Großteil dem Beitrag verdanken, den sie zur Legitimation solcher Hierarchien beisteuerten. Einschlägige Verdienste um die Psy4

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Beispielsweise wird für diesen inhomogenen Objektbereich das Axiom der Widerspruchsfreiheit (tertium non datur) nicht anwendbar sein. Damit verliert die zweiwertige Logik ihre zentrale Rolle für die Klärung der Wahrheit von Aussagen. ‚Ökologie‘ wird hier im ursprünglichen Sinne von Ernst Haeckel als ‚allgemeine Beziehungslehre‘ zwischen artgleichen und artverschiedenen Elementen verstanden. Die heute im Alltag und in der Politik übliche Verengung dieser Beziehungsvielfalt auf die System-Umwelt-Relation ist unfruchtbar.

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chologisierung hatte etwa Descartes. De La Mettrie (L’homme machine, 1748) und Paul Henri Thiry d’Holbach6 stellten den physikalischen Aspekt in den Vordergrund, JeanJacques Rousseau die biogene Sichtweise, der Mainstream im 20. Jahrhundert war die Soziologisierung, bis im letzten Viertel die Reduktion des Menschen auf neurophysiologische Systeme einsetzte (vgl. programmatisch Singer 2002). Gegenwärtig erleben wir den Aufschwung einer biochemischen Interpretation des Menschen, bei der hormonelle Informationen in den Vordergrund rücken (vgl. Pert 2001). Was auch immer die Gründe für die Suche nach einer einzigen dominanten Ebene, auf die dann alle anderen zurückgeführt werden sollen, gewesen sein mögen, es ist heute nicht mehr erforderlich, die Komplexität von Menschen oder Kulturen so weit zu reduzieren. Fokussierung der Aufmerksamkeit und Selektivität des Handelns sind unvermeidlich, aber sie brauchen nicht so weit getrieben zu werden, dass nur ein Objekt übrig bleibt. Sowohl Menschen als auch Kulturen können – im Einklang mit der kybernetischen Biosystemtheorie – als informationsverarbeitende Systeme betrachtet werden. Unter dieser Perspektive stellt sich der Mensch dann z. B. als biogenes oder psychisches System dar, das über mehrere Sensoren, mehrere Möglichkeiten, Informationen zu speichern, mehrere Instanzen, sie zu verarbeiten und zu bewerten, verfügt. Es wird durch Programme gesteuert und hat die Möglichkeit der Selbstwahrnehmung der eigenen Prozesse. Schließlich können die Informationen in vielfältigen Medien dargestellt werden. Schon wenn wir nur auf der psychischen Ebene bleiben, zeigt sich, dass der Mensch offenbar sehr komplex aufgebaut ist und jedenfalls aus mehreren informationsverarbeitenden Subsystemen besteht. Wir haben mehrere verschiedene Typen von Sensoren: Augen, Ohren usw., und diese Sensoren erzeugen jeweils auch unterschiedliche Informationstypen, die – nach Auffassung z. B. der Schule des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) – in getrennten Repräsentationssystemen gespeichert werden (vgl. Bandler/Grinder 1985; Mohl 1993, 1996). Wir sind aber nicht nur multisensoriell, sondern auch multiprozessoral. Wir besitzen verschiedene psychische Instanzen (Prozessoren), die die einmal wahrgenommenen Informationen zugleich (parallel) oder auch nacheinander (sequenziell) verarbeiten können. Alle menschliche Informationsverarbeitung ist sowohl analytisch als auch synthetisch, sowohl aktiv als auch passiv. Jeder Eindruck, jede Erfahrung drückt sich, wie verstellt auch immer, aus.7 Keine Wahrnehmung ist also ohne die Selbstveränderung des Informationssystems zu haben. Liefert ein Sinn

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„Der Mensch ist ein rein physisches Wesen; der moralische (psychische) Mensch ist nichts anderes als dieses physische Wesen, betrachtet unter einem bestimmten Gesichtspunkt“ legt d’Holbach (1960, S. 19) im 1. Kapitel seines System der Natur fest. Diese Grundüberzeugung war für Sigmund Freud die Bedingung der Möglichkeit der therapeutischen Arbeit mit dem Unbewussten. Seine Gegner, so schreibt er 1913 in seiner Schrift Totem und Tabu, hätten Recht, „wenn wir zugestehen könnten, dass es seelische Regungen gibt, welche so spurlos unterdrückt werden können, dass sie keine Resterscheinungen zurücklassen. Allein solche gibt es nicht. Die stärkste Unterdrückung muss Raum lassen für entstellte Ersatzregungen und aus ihnen folgende Reaktionen.“ (Freud 1982, S. 441)

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zu wenig oder unklare Informationen, so treten andere Sinne als Korrektiv auf.8 Wenn der Anblick nicht ausreicht, kann man die Dinge in die Hand nehmen, um sie zu ‚begreifen‘. Ähnliche Substitutions- und Ergänzungsverhältnisse gelten für die inneren Verarbeitungszentren und die Darstellung: Was nicht verstanden ist, kann gefühlsmäßig entschieden werden; gelingt eine Darstellung nicht in der Rede, kann zur Zeichnung Zuflucht genommen werden etc. Eindruck und Ausdruck des Menschen sind das Ergebnis des Zusammenwirkens der verschiedenen Arten von Sensoren, Prozessoren, Medien und Effektoren. Das nun wiederum bedeutet, dass der Mensch im Prinzip selbst schon ein Kommunikationssystem ist, eben weil er über mehrere interne Prozessoren verfügt, die miteinander interagieren können und doch selbstständig sind. Es ist also immer nur eine begrenzte Sichtweise, wenn man den Menschen als ein informationsverarbeitendes System betrachtet. Um sich seiner Komplexität mehr anzunähern, ist es zusätzlich erforderlich, ihn als ein Kommunikationssystem zu betrachten – und in dieser Hinsicht bleibt in den Wissenschaften noch viel zu tun. Im Alltag gelingt es uns allerdings problemlos, auch eine solche Perspektive einzunehmen. Wir können unseren Gegenüber differenziert betrachten, z. B. sein Verhalten unterschiedlichen psychischen Selektionszentren zuschreiben. Das zeigt sich z. B. in Äußerungen wie: „Er mag ja ein ganz kluger Kerl sein, aber irgendwie ist er doch (emotional) gehemmt!“ oder: „Diese Äußerung meint er nicht so. Da ist etwas mit ihm durchgegangen!“ Wenn wir den Menschen andererseits als ein Kommunikationssystem betrachten wollen, dann müssen wir damit rechnen, dass es bei ihm ähnlich viele Möglichkeiten der internen Vernetzung gibt, wie wir dies aus der sozialen Kommunikation auch kennen. Die Bedeutung und die Funktionen der einzelnen Prozessoren verändern sich von Person zu Person und bei der gleichen Person im Wechsel der Zeit.9 Eine ähnliche interne Differenzierung und Vernetzungskomplexität, wie wir sie auf psychischem Emergenzniveau beobachten können, finden wir auch bei den neuronalen, sozialen und anderen Subsystemen: Schon ihre Tektonik ist dezentral und polyzentrisch. Die menschliche Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und -darstellung sind sowohl insgesamt als auch auf den Ebenen der Subsysteme

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dezentral, multimedial, parallel, rückgekoppelt (selbststeuernd), d. h. kommunikativ.

„Jeder unserer Sinne übt diejenige Tätigkeit aus, zu der ihn die Natur bestimmt hat. Sie helfen sich gegenseitig, um unserer Seele, durch die Hände der Erfahrung, all diejenigen Fähigkeiten zu übermitteln, die unser Wesen ausmachen.“ (Voltaire 1818, S. 93) Im Hinblick auf den Wandel der Bewertung der Sinne ist Jakob Grimms (1848, S. 1-16) begriffsgeschichtlicher Aufsatz Die fünf Sinne aus dem Revolutionsjahr 1848 noch immer ein guter Einstieg.

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Die ökologische Betrachtung muss das Zusammenwirken der verschiedenen Subsysteme in den Vordergrund stellen. Jede Funktionsstörung einer Systemklasse bzw. eines Emergenzniveaus von Informationen: körperliche, d. h. physikalische Verletzungen; neuronale Störungen; psychische Traumata; soziale Einschränkungen usf. behindern die Nachbarsysteme und zwingen den Menschen insgesamt, eine neue Balance zu finden. Es gibt also zwischen den Systemtypen ein zirkuläres Verhältnis, und es wird vielfach kaum zu bestimmen sein, an welcher Stelle Veränderungen ihren Ausgang genommen haben. Wenn wir uns dem Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umwelt zuwenden, dann können wir beobachten, dass beliebige Umwelteinflüsse immer zugleich auf verschiedenen Systemebenen ‚wahrgenommen‘ und verarbeitet werden. Wir haben es auch auf diesem Gebiet mit massiver Parallelverarbeitung zu tun. Neuronale Erregungen führen zu chemischen Reaktionen – und umgekehrt. Beide werden von emotionalen psychischen Veränderungen begleitet, die noch einmal rational bewertet werden können und zu sozialen Reaktionen führen. Ob und wann diese Prozesse möglicherweise für einen begrenzten Zeitraum linearisiert, d. h. geordnet hintereinander geschaltet werden können, ist eine empirische Frage. Die zwischen den Vertretern der einzelnen Humanwissenschaften seit Jahrhunderten geführte Diskussion um eine generelle ‚Klärung‘ der Beziehung zwischen den Subsystemen hat für den Kommunikationswissenschaftler kaum Brisanz. Nichts treibt ihn, eine bleibende Hierarchie zwischen ‚Leib‘ und ‚Seele‘ zu konstruieren, psychische auf neuronale Prozesse zu reduzieren, Biogenes und Soziales als ein Entweder-oder-Verhältnis zu behandeln (nature or nurture). Die Kommunikation im Menschen gleicht eher Gesprächen in und zwischen großen Gruppen auf und zwischen vielen Stockwerken eines Hochhauses anstatt einem geordneten Sprecherwechsel zwischen bloß zwei Personen in einem Raum. Natürlich kann man sich fragen, wie sich psychische Strukturen in neuronalen spiegeln, aber auf der anderen Seite muss man davon ausgehen, dass die Evolution die verschiedenen Klassen von Informationen und von informationsverarbeitenden Systemen gerade deshalb hervorgebracht hat, weil die unterschiedlichen Informationsklassen irgendwann einmal überlebenswichtig gewesen sind. Wenn sie vollständig funktional äquivalent wären, hätten sie keine evolutionäre Berechtigung. Aus diesem Grund gibt es keine verlustfreie Übersetzung von Informationen eines Mediums in ein anderes. Die Anpassungsfähigkeit und Flexibilität der Menschen ergibt sich gerade daraus, dass die Vernetzungen zwischen den einzelnen Informationssystemen und die Flussrichtung der Informationen im Prinzip weitgehend variabel sind. Während sich die Einzelwissenschaften mit ihrer speziellen Sichtweise auf ein Emergenzniveau begnügen können, muss eine ökologische Kommunikationswissenschaft das (kommunikative) Zusammenwirken dieser Medien und Informationssysteme untersuchen. Sie ist aus diesem Grunde multimedial und transdisziplinär. Die Beschreibung des Zusammenwirkens dieser artverschiedenen Systeme und Medien ist freilich ein bislang kaum gelöstes Grundproblem. Theoretisch scheint es sinnvoll zu sein, als Grundbausteine jeweils nur monomediale bzw. monosensuelle Informations- und Kommunikationssysteme anzunehmen. Sie verfügen über einen Typ von Sensor, Speicher

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und Effektor. Alle komplexeren ‚Supersysteme‘ entstehen dann durch Verknüpfung solcher einfachen Systemtypen zu Ökosystemen.10

Überkomplexität und Vagheit der Medien Wenn man den Menschen als informationsbearbeitendes System betrachtet, dann entspricht sein Verhalten der Aktivität der Effektoren. Dieses Verhalten kann durch künstliche technische Hilfsmittel verstärkt und verändert werden.11 Das Verhalten des einen kann dem anderen Menschen als Informationsmedium dienen – wie die übrige belebte und unbelebte Natur auch. Menschen können ihr leibliches Verhalten wechselseitig unter bestimmten Bedingungen auch als Kommunikationsmedium betrachten – und die beobachtenden Wissenschaftler können dies auch. Die Regeln hierfür sind kulturabhängig und innerhalb einer Kultur nochmals differenziert. Aus diesem Grund benutzen Kulturen mehrere Kommunikationsbegriffe.12 Es ist deshalb sinnvoll, zwischen Informations- und Kommunikationsmedien zu unterscheiden. Informationsmedien werden mit Rücksicht auf ein informationsverarbeitendes System definiert und befinden sich in Koevolution mit einem solchen. Kommunikationsmedien lassen sich nur im Hinblick auf mindestens zwei artgleiche oder artverschiedene Kommunikatoren definieren. Ich schlage für die augenblickliche Phase der Entwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften vor, ‚Kommunikation‘ als einen voraussetzungsvollen Spezialfall von Informationsverarbeitung zu behandeln. Entsprechend ist es informationsverarbeitenden Systemen zwar möglich, nicht zu kommunizieren, sie können jedoch nicht aufhören, Informationen zu verarbeiten.13 In den neuzeitlichen Industrienationen tendiert man bspw. dazu, nur ‚Handlungen‘, also intentional gesteuertes Verhalten, als kommunikativ zu betrachten. Die Mehrheit unseres Verhaltens: Mimik, Gestik, Fortbewegungs- und Gleichgewichtsmotorik etc. wird jedoch nicht primär durch die höheren Bewusstseinsschichten gesteuert. Sprechen 10

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Mir ist klar, dass diese Entscheidung vom Standpunkt unserer europäischen Gegenwartskultur aus getroffen ist, die die Sinne und Medien maximal auseinander gerissen hat. Ob sich das Konzept auf Kulturen und Zeiten anwenden lässt, die synästhetischer und ganzheitlicher erleben und handeln, muss empirisch entschieden werden. Wie Christiane Heibach (2004, im Druck) in ihrem Aufsatz „Sprachkunst als synästhetisches Phänomen – Probleme und Fragestellungen“, am Beispiel der ästhetischen Schriften von Herder und Wagner zeigt, fällt es selbst in unserem Kulturkreis in jenen Zeiten schwer, mit analytisch trennendem Zugriff den Konzepten gerecht zu werden. Dies ist der Ansatz für Marshall McLuhans (vgl. z. B. 1964, S. 7) Theorie der Medien als „any extension of ourselves“. Die in den Kommunikations- und Medienwissenschaften immer noch übliche Suche nach einem einzigen Kommunikationsbegriff ist ebenfalls Ausdruck eines absolutistischen Hierarchisierungsbestrebens. Natürlich ist es auch möglich, die rückkopplungsarme Informationsverarbeitung als Spezialfall von Kommunikation zu begreifen.

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gilt als Prototyp solcher Handlungen. Kommunikationstheoretisch betrachtet, ist jedoch das gesamte leibliche Verhalten des Menschen sein unhintergehbares Informationsmedium sowie sein – beliebig reduzierbares – potenzielles Kommunikationsmedium. Aus dem ökologischen Ansatz folgt, dass alle menschlichen Informations- und Kommunikationsmedien mehrdeutig sind. Jedes informative Verhalten kann und jedes kommunikative Verhalten muss von anderen Menschen wahrgenommen und interpretiert werden. Es ist eine vage Umwelt, mehrdeutig und deshalb offen für viele Bedeutungszuschreibungen. Oder anders: Jede Bedeutungszuschreibung ist unvollständig oder ‚semierratisch‘, wie manche Psychologen sagen (vgl. Holzkamp 1973, S. 309 ff.).

Die Reduktion der Komplexität von Medien durch Kodifizierung Verstehen ist projektiv – aber es kann sich mit dem gemeinten Sinn decken. Ganz gleich welche Bedeutung ein Sprecher seinem Verhalten zumisst, der Zuhörer/-schauer antwortet immer auf Grund der Bedeutungen, die er selbst dem Gegenüber – als dem Medium – zuschreibt.14 Viele kulturelle Anstrengungen der Menschen gehen dahin, die Projektionsmöglichkeiten in die Medien zu reduzieren. Besondere Bedeutung erlangen in den Kulturen diejenigen Medien, deren Bedeutungsvielfalt gut zu kontrollieren ist. Dazu haben sich offenbar verschiedene Wege angeboten. Die beste Form, die Projektionsvielfalt der Menschen zu kanalisieren, ist es, die Medien künstlich, nach ausbuchstabierten Programmen zu schaffen. Was die Menschen selbst geschaffen haben, verstehen sie zumindest in dem Sinne am besten, dass sie den Entstehungsalgorithmus angeben können. Artikulierte Lautsprache, Tanzbewegungen, Werkzeuge, Bücher machen die Projektionen erwartbarer als jene in die nicht domestizierte Natur. So gesehen entspricht dem Aufschwung der Technik, der Zivilisation, eine Reduktion der Umweltkomplexität. Die Medien werden zunächst einfacher. Diese Entwicklung kippt allerdings in dem Maße und in den Bereichen, in dem bzw. in denen die Programme, die der Technik zugrunde liegen, selbst wieder unübersichtlich werden. Weil die Umwelt (einschließlich des Verhaltens unserer Mitmenschen) viele Bedeutungen besitzt und wir sie nur selektiv wahrnehmen und deuten können, sagen unsere konkreten Bedeutungszuschreibungen immer auch etwas über unsere eigenen Selektionsprogramme (Motive, Interessen, biographische Erfahrungen ...) aus. Oder anders ausgedrückt: Selektionen sind Relationierungen und diese hängen von allen beteiligten

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Dies ist die Grundüberzeugung des Symbolischen Interaktionismus: Menschen handeln auf Grund der Bedeutungen, die sie den Dingen zuschreiben.

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Polen/Relata ab.15 Mit unseren Deutungen und unserem Verhalten geben wir deshalb gleichzeitig zu verstehen, was wir nicht bemerkt haben bzw. worüber wir nicht reden wollen. Generell lässt sich menschliches Verhalten und Erleben normieren, indem es nach sozialen Regeln, die entweder habituell oder kodifiziert sind, ausgeführt wird. Das wichtigste Instrument zur Kodifizierung der Wahrnehmung ist in unseren Kulturen die Standardsprache. Je stärker das Verhalten sozial normiert und/oder sprachlich beschrieben ist, desto sicherer werden wir in der Bedeutungszuschreibung zu sozialen Medien. Nonverbales Verhalten gilt deshalb im Unterschied zur Rede und zu Schriftmedien als besonders interpretationsbedürftig. In den meisten Kulturen ist der Kode der Handschriften rigider als jener der Rede, jener der Druckschrift rigider als jener der Manuskripte. Falsch wäre jedoch die Annahme, sprachliches Verhalten sei von einer grundsätzlich anderen Qualität als das nonverbale und brauche daher nicht ‚gedeutet‘ zu werden.16 Aus medientheoretischer Perspektive liegt die Besonderheit der menschlichen Sprache – i. S. der ‚langue‘ – darin, dass sie als transmedialer Kode fungiert (vgl. dazu auch Heibach 2003, S. 24 ff.). Spätestens nach der Einführung des phonetischen Alphabets liegen der visuell wahrnehmbaren Schrift- und der hörbaren Lautsprache ähnliche Muster zugrunde. Zugleich gelten diese Muster sowohl für die Informationsverarbeitung von Individuen als auch von sozialen Gemeinschaften (psychisch und sozial). Ähnliche transmediale Gültigkeit wie die menschliche Sprache haben Zahlen und binäre Kodierungen. In kulturhistorischer Perspektive stellt sich augenblicklich die Grundfrage, ob die Mehrdeutigkeit der elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien nach dem bekannten Muster der immer stärkeren Kodifizierung der Sprache reduziert werden soll. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Standardsprache gegenwärtig die Wahrnehmungs- und Projektionsmöglichkeiten der Menschen schon in einer Weise einschränkt, die es verhindert, die kulturellen Ressourcen auszuschöpfen und neue Nischen im kulturellen Ökosystem zu entdecken. Die gesteigerte Normierung der elektronischen Medien durch das Instrument ‚langue‘ könnte sich als zu selektiv erweisen. Mindestens könnte eine andere Form von Selektivität erforderlich sein, um die Merkmalsvielfalt dieser Medien besser zu nutzen. Transmediale Kodes besitzen eben den Nachteil, dass sie die verschiedenen Medien über einen Leisten ziehen. Reizarmut oder die menschliche Reaktion auf diese, die Suche nach dem thrill, sind ja nur ein Zeichen dafür, dass die Überkomplexität der Umwelt nicht mehr wahrgenommen, sondern schon vorzeitig durch die verschiedenen Projektionsrichtlinien auf das sozial übliche – und eben langweilige – Maß zurückgeschnitten wird. 15 16

Damit sind wir beim dritten Element der eingangs eingeführten kommunikationstheoretischen Triade, eben den Relationen. Das Verstehen von sprachlichen Äußerungen oder von Texten ist ‚nur‘ ein Spezialfall von Wahrnehmung, allerdings ein recht komplexer von mehrfach hintereinander geschalteten Wahrnehmungsprozessen auf mehreren Ebenen.

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Die zweite Möglichkeit, neben und nach einer Normierung der vagen Medien und der Gleichschaltung des Verstehens, Komplexität intersubjektiv zu reduzieren, ist der Dialog.17 Stimmen die Bedeutungszuschreibungen mehrerer Menschen in Gesprächen nicht überein, können sie prinzipiell in einem nächsten Schritt korrigiert werden. Dies erweist sich aber häufig als überhaupt nicht erforderlich. Für viele soziale Zwecke ist nur ein minimales wechselseitiges Verstehen erforderlich. Mikroanalysen sozialer Kommunikation machen denn auch immer wieder deutlich, dass Kooperation trotz zahlreicher Missverständnisse und divergierender Bedeutungszuschreibungen erfolgreich ablaufen kann. Oder anders ausgedrückt: In vielen Kontexten braucht die Komplexität nicht so weit reduziert zu werden, dass eine einzige klare Alternative vorliegt. Weiteres Handeln ist möglich, obwohl die Kommunikationspartner unterschiedliche Deutungen vornehmen. Zwischen den Deutungsalternativen kann oszilliert werden. Will die Medientheorie diese zweite, dialogische Form kommunikativer Steuerung berücksichtigen, so muss sie ihr Repertoire über die eindimensionalen Modelle hinaus erweitern. Dazu gibt es schon länger zahlreiche Versuche von Wissenschaftlern: Das Zeichenmodell von Karl Bühler, das Modell der ‚4 Seiten einer Nachricht‘ von Friedemann Schulz von Thun, die Unterscheidung zwischen ‚Inhalts- und Beziehungsaspekt‘ bei Paul Watzlawick und anderen sind Versuche, die Mehrdeutigkeit der Wahrnehmungsprozesse und Kommunikationsmedien in mehrdimensionalen Modellen abzubilden. Um den Erhalt von Komplexität geht es auch Mike Sandbothe (2003, S. 258 f.) in seiner Definition von ‚Medien‘: „Wir verwenden das Wort ‚Medium‘ erstens mit Blick auf sinnliche Wahrnehmungsmedien wie Raum und Zeit, wir beziehen es zweitens auf semiotische Kommunikationsmedien wie Bild, Sprache, Schrift oder Musik; und wir gebrauchen es drittens zur Bezeichnung von technischen Verbreitungs-, Verarbeitungs- und/oder Speichermedien wie Buchdruck, Radio, Film, Fernsehen, Computer oder Internet“.18 Es wird allerdings nicht ganz klar, ob es sich hier um einen Vorschlag für eine Typologie von Medien handelt, oder ob tatsächlich jedes Phänomen, welches als ‚Medium‘ angesprochen werden kann, zugleich alle drei Bestimmungen erfüllen muss. Nur im letzteren Fall hätten wir eine dreidimensionale Theorie des Objekts. Wichtiger als die jeweils vorgeschlagenen Dimensionen ist zunächst die Tatsache, dass zunehmend mehr Autoren grundsätzlich davon ausgehen, dass Medientheorien mehrdimensional anzulegen sind.19 Die Begründungen hierfür variieren zwar, aber durchgängig liegt ein Unbehagen an hierarchischen eindimensionalen und binär schematisierenden Ansätzen zugrunde. „In der medienkulturellen Matrix geht es nicht länger um Dualisierungen“, plädiert in diesem Sinne Frank Hartmann (2003, S. 141), „der Anspruch setzt tiefer an, bei einem neuen Denken, das hybride Formen verträgt“. 17

18 19

Die Verständigung als dialogischer Prozess ist an rückkopplungsintensive Kommunikationssituationen, in der bisherigen Geschichte praktisch ausschließlich an die Face-to-face-Kommunikation, gebunden. Zur Kritik an den eindimensionalen Ansätzen vgl. auch Sandbothe (2001). Siehe die Zusammenstellung von S. J. Schmidt, der selbst häufig zwischen „Kommunikations-, Verbreitungs- und Speichermedien“ unterscheidet (z. B. 1999, S. 126).

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Für die Kommunikations- und Medienwissenschaften habe ich in dieser Absicht generell ein triadisches Denken vorgeschlagen und dieses Konzept auf verschiedene Phänomene, unter anderem auf ‚Kommunikation‘, ‚Kultur‘, ‚historische‘ u. a. ‚Prozesse‘ angewendet. Das Ergebnis sind dreidimensionale Modelle, darunter auch das Modell ‚Medien 3D‘ (vgl. Abb. 1). Ausgehend von dem zentralen Verständnis der Kommunikation als kooperativer Informationsverarbeitung, Vernetzung zwischen Kommunikatoren und Widerspiegelung zwischen Medien (Kommunikation 3D) werden drei Typen von Medien unterschieden: Informationsmedien in der epistemologischen Dimension, Vernetzungsmedien in der topologisch-netzwerktheoretischen Dimension und Spiegelungsmedien in der ontologischen Dimension.20 Abb. 1: Triadisches Medienmodell

In der deutschsprachigen Kommunikations- und Medienwissenschaft beschäftigt man sich praktisch ausschließlich mit sozialer Kommunikation und psychischer sowie sozialer Informationsverarbeitung. Die anderen Emergenzniveaus werden in den einschlägigen Einzelwissenschaften abgehandelt. Üblich ist in der Kommunikationswissenschaft des Weiteren die Konzentration auf die epistemologische Dimension. Wahrnehmung erscheint als Prozess der Bedeutungszuschreibung zu vagen Medien. Verständigung zwischen den Kommunikatoren wird an wechselseitigem Verstehen des gemeinten Sinns bzw. an der Befolgung sozialer – vor allem sprachlicher – Normen festgemacht. Es gibt aber noch weitere Ebenen und viele kulturspezifische Programme. 20

Die Unterscheidung zwischen Kommunikatoren/Prozessoren und Medien ist relativ. Jeder Kommunikator kann zudem als Medium fungieren – und tut dies auch in jedem Augenblick für irgendein kommunikatives Netzwerk. Für eine ausführliche Darstellung vgl. Giesecke (2002, S. 20 ff.), sowie die zugehörige Website ‚www.mythen-der-buchkultur-de‘, Modul ‚Kommunikation 3D‘.

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Grundsätzlich fordert das Modell ‚Medium 3D‘ dazu auf, die Medien in Abhängigkeit von entweder Prozessoren/Sensoren oder Kommunikatoren oder von den materiellen Substraten zu betrachten. Eine Betrachtung eines Mediums an sich, losgelöst von den konstitutiven Beziehungskontexten, wird der Spezifik dieses Gegenstandes nicht gerecht. Dies soll am Beispiel der epistemologischen Dimension illustriert werden.

Die Koevolution von Medien und informationsverarbeitenden Systemen Auf allen Emergenzebenen muss berücksichtigt werden, dass sich Effektoren und Sensoren, Medien und Wahrnehmungsorgane in Koevolution entwickelt haben. Sie sind aufeinander auf allen Ebenen, angefangen von der biologischen Ausstattung des Menschen, angewiesen. Jeder Mensch muss Sensoren einsetzen, die auf das Medium/Verhalten anderer abgestimmt sind. Jedem Medium „entspricht“, wie Lessing (1902, zuerst um 1780) formulierte, „ein besonderer Sinn“. Die moderne Verhaltensforschung nennt unsere Sinnesorgane eine Gestalt gewordene Theorie über jene Elemente unserer Umwelt, die für das Überleben der Art relevant sind (s. Konrad Lorenz). Man kann deshalb Medien/Umweltobjekte in der epistemologischen Dimension nicht unabhängig von den Sinnesorganen/Informationssystemen definieren: Wenn wir die Sinne von Bienen hätten, würden wir in einer anderen Welt leben. Was für ein beliebiges System informativ werden kann, hängt einerseits von der Charakteristik der Sensoren ab.21 „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken“, fasst Johann Wolfgang von Goethe diese seine Grundüberzeugung zusammen (und führte dann bald 40 Jahre in der Farbenlehre einen Kampf gegen die von Newton vertretene ontologisch-naturwissenschaftliche Gegenposition). Andererseits entwickeln sich die Sensoren in Abhängigkeit von der relevanten Umwelt der Systeme. Es ist klar, dass solche Abstimmungsprozesse in der Phylo- und Ontogenese, also der Stammes- und Individualgeschichte durch langwierige Interaktionsprozesse erfolgen. Es gibt also einen zirkulären Zusammenhang, eine Koevolution zwischen den Sinnen und der Umwelt, zwischen den Kommunikatoren und den Kommunikationsmedien. Deshalb sind Definitionen von Kommunikatoren und/oder Informationssystemen unvollständig, solange sie nicht auch die Medien spezifizieren.

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Die Beschreibung dieser Charakteristik, also etwa die Feststellung, dass Menschen i. d. R. nur Schwingungen unter 20 000 Hz und über 20 Hz hören bzw. nur Wellen zwischen 380 und 680 Nanometer sehen können, weist auf den zirkulären Zusammenhang zwischen den drei Dimensionen des Medienmodells. Zur Klärung der einen Dimension, in diesem Fall der epistemologischen, sind die Erkenntnisse der anderen Dimensionen, in diesem Beispiel der ontologischen, jeweils erforderlich.

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Solche Gedanken sind von der Koevolutionstheorie, wie sie etwa im Werk von Gregory Bateson und Humberto Maturana formuliert werden, aufgegriffen. Der Grundgedanke ist, dass die Untersuchungszelle der Evolution nicht das Individuum, sondern die Interaktion zwischen dem Individuum und der Umwelt ist.22 Beide Pole der Interaktion müssen sich ergänzen, sich in „passender Weise“ und im Gleichklang verändern. Medium und informationsverarbeitende Systeme bilden erst zusammen die Untersuchungszelle, so könnte man kommunikationstheoretisch formulieren. Aus diesem Grund ist es möglich und sinnvoll, Kommunikations- und Informationsmedien nach den Sinnen/Sensoren der verarbeitenden Prozessoren bzw. Kommunikatoren zu klassifizieren. Nimmt man die menschliche Kommunikation als Beispiel, so ergibt sich etwa die in der Abb. 2 dargestellte Unterteilung. Diese an sich nicht sonderlich aufregenden Gedanken müssten für die Kommunikationswissenschaft die Konsequenz haben, die Geschichte der Speicher- und Verbreitungsmedien grundsätzlich im Zusammenhang mit der Geschichte der Informationssysteme zu betreiben, Medien- und Sinnenwandel als zwei Seiten eines Prozesses zu begreifen. Abb. 2: Typen von Informationsmedien (epistemologische Dimension)

22

Die Koevolution von Informationssystemen wird von Maturana auch „Kopplung“ genannt. Und dieser Begriff ist für ihn gleichbedeutend mit Kommunikation. Ich bezeichne die Kopplung von Medien und Kommunikatoren untereinander auch als Spiegelung oder Resonanz (ontologischer Kommunikationsbegriff). Es geht hier um Wechselwirkung, und das Ergebnis ist immer die Schaffung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Kommunikatoren. Zur Beschreibung dieses Prozesses der Koevolution gibt es verschiedene Vorschläge. Am bekanntesten ist das Konzept der Schule des „Neurolinguistischen Programmierens“ (NLP) geworden. Sie unterscheidet zwischen den Phasen des Pacing: Anpassen an den Kommunikationspartner, Leading: Initiative ergreifen und Führen und Rapport: im Einklang mit dem Partner schwingen. (vgl. Bandler/Grinder 1985; Mohl 1993, 1996)

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Da wir über verschiedene Sinne verfügen, leben wir auch zugleich in unterschiedlichen Wirklichkeiten und können diese als Informationsmedien nutzen. Oder anders ausgedrückt: Unsere äußere Umwelt ist komplex, weil sie aus verschiedenen Wirklichkeiten besteht. Dies ist keineswegs eine Erkenntnis des modernen Konstruktivismus. Am Ende des vorigen Jahrhunderts schrieb der englische Nationalökonom Adam Smith in seinem Aufsatz On the External Senses: „Die Gegenstände des Auges und die Gegenstände des Tastsinns konstituieren zwei Welten, die sich in keiner Weise gleichen, obwohl sie wechselseitig sehr bedeutende Beziehungen (correspondance) und Verbindungen unterhalten.“ (Smith 1980, S. 150; zitiert nach Utz 1990, S. 22) Die äußere Umwelt kann weder monosensuell oder zentral – von einem neuronalen oder psychischen Zentrum – erkannt noch monomedial gespeichert und dargestellt werden. Unsere innere Welt ist komplex, weil, wie schon Herder vermutete‚ „jeder Sinn seine (eigene) Welt entziffert“ und die Ergebnisse separat abspeichert.23 Wir haben also auch in uns verschiedene Welten, die miteinander in Beziehung gesetzt werden. Schon G. E. Lessing äußerte sich dahingehend, dass sich die Sinne erst schrittweise nacheinander gebildet haben und dass es nicht zur Ausbildung der sprichwörtlichen fünf Sinne gekommen wäre, wenn dazu keine Notwendigkeit bestanden hätte (vgl. Lessing 1902). Die Überlegenheit des Menschen gegenüber anderen Kreaturen sah Herder gerade darin, dass er in diesem Anpassungsprozess mehr Sinne als die Pflanzen und die Tiere ausgebildet hat. Dies wiederum ermöglicht ihm ein tieferes Verständnis, nicht nur des Mitmenschen, sondern eben auch von Tieren und Pflanzen.24 Es wäre jedoch falsch, aus den Unterschieden zwischen Menschen und Pflanzen abzuleiten, letztere ließen sich überhaupt nicht als informationsverarbeitende Systeme begreifen. Pflanzen sind aus informationstheoretischer Sicht zwar von geringerer Komplexität als Menschen und die meisten Tierarten, aber sie sind dennoch multimedial und multiprozessoral organisiert und verarbeiten Informationen massiv parallel. Nach Art und Gattung in unterschiedlichem Umfang nutzen Pflanzen vor allem die folgenden Informationsmedien:

• • • •

physikalische und chemische Medien im primären Stoffwechsel, Licht in der Photosynthese, andere elektromagnetische Wellen (Biophotonen), Pflanzenhormone. Sowohl die Nahrungsaufnahme und -verarbeitung (primärer Stoffwechsel) als auch die Photosynthese lassen sich als Informationsfluss begreifen. Nur wenn wir dies tun, verstehen wir, warum wir aus den Pflanzen auch auf die Bodenqualität (z. B. die ph-Werte) 23 24

Vgl. z. B. Herder (1892, S. 287): „Jeder Sinn entziffert seine Welt und hat schon einen Weiser vor sich, die Art der Entzifferung zu lernen.“ Dies übersieht Ulrike Zeuch (2000, S. 164) in ihrer einschlägigen Arbeit. Herder (1892, S. 620) begründet in seiner Schrift Vom Erkennen und Empfinden die Tatsache, dass der Mensch zwar die Fliege, die Fliege aber umgekehrt den Menschen nicht verstehen könne, genau mit diesem evolutionären Vorteil der Mehrzahl der Sinne.

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und auf das Klima an den Orten schließen können, an denen diese Pflanzen wachsen. Auch wenn wir sie ausgegraben haben und isoliert vor uns sehen, „zeigen“ sie uns ihre Herkunft, geben uns Informationen über ihren Standort, dienen uns also als Informationsmedium über ihre Umwelt. Dies geht nur, wenn sie Informationen aus dieser Umwelt gespeichert haben (Gedächtnis der Pflanzen). Um die verschiedenen Informationstypen zu speichern, muss die Pflanze entsprechende Sensoren ausbilden und nutzen. Sie braucht Informationen natürlich auch, um ihr eigenes Wachstum zu steuern. Dabei nutzt sie Pflanzenhormone, die ganz ähnliche biochemische Reaktionen hervorrufen können, wie die – viel besser bekannten – tierischen Hormone. Mindestens 8 Pflanzenhormone werden mittlerweile in der Pflanzenphysiologie unterschieden. Molekularbiologische Untersuchungen zeigen, dass auch bei Pflanzen sensorische Vorgänge ablaufen, die ohne weiteres in der Empfindlichkeit an tierische Sensorik heranreichen.25 Und natürlich setzen die Signalstoffe bei Pflanzen wie bei Tieren komplexe Reaktionsketten, Signaltransduktionen, in Gang. Hier liegt ein wichtiges und expansives Forschungsfeld. Es gibt zunächst keinen Grund, einen Sinn oder einen Prozessor oder ein Medium auf Grund besonderer informationsverarbeitender Qualitäten zu bevorzugen. Erst ihr Zusammenwirken hat dem Menschen seinen evolutionären Vorteil gebracht. Erst alle Sinne zusammengenommen haben den Menschen befähigt, auf dem Globus die Nische einzunehmen, die wir jetzt ‚menschliche Kultur‘ nennen. Nur insgesamt sichern sie die menschliche Kultur. Entsprechend ist auch die ursprüngliche soziale Situation, das gemeinsame Handeln und Kommunizieren in ‚face-to-face‘ multimedial und rückkopplungsintensiv ausgelegt. Nur hier können alle Sinne und Medien usf. genutzt werden.

Prämierung und Hierarchisierung der Medien und Sinne als Motor der Kulturgeschichte Obwohl alle menschlichen Kulturen multimedial, multisensuell und massiv parallel verarbeitend angelegt waren und sind, hatten bzw. haben sie doch niemals alle Sinne und Medien gleichmäßig berücksichtigt. Vielmehr erwiesen und erweisen sich die Disproportionen in der Nutzung der Sinne und Medien als wichtigster Motor für alle kulturellen Veränderungen. Da alle Kommunikationsmedien von den Menschen wahrgenommen werden müssen, damit sie zu Instrumenten der Verständigung werden können, entspricht die Prämierung bestimmter Medien immer auch der Prämierung bestimmter menschlicher Wahrnehmungsorgane – et vice versa. Diese Disproportionen werden noch durch den selbstreferenziellen Charakter der Menschen und Kulturen verstärkt. Das kybernetische Prinzip, welches ebenfalls zum Grundbestand ökologischen Denkens gehört, besagt, dass alle informationsverarbeiten25

Ich danke Prof. Dr. Günther Scherer, Spezielle Ertragsphysiologie im Institut für Zierpflanzenbau, Universität Hannover, für die geduldigen Erklärungen zu seinem Metier. Die Schlussfolgerungen habe ich freilich allein zu verantworten.

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den Systeme die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung besitzen. Die eigenen Systemzustände müssen beobachtbar sein, damit Abweichungen von den Sollwerten erkannt und korrigiert werden können. Alle Ökosysteme sind selbstregulative Systeme. Menschen und Kulturen sowie viele andere informationsverarbeitende Ökosysteme verfügen zusätzlich über die Möglichkeit, die eigenen Programme noch einmal zu beobachten und sie zu anderen Informationen in Beziehung zu setzen: Erst dies macht selbst organisierte Veränderung von Normen, Werten und Programmen möglich.26 Umweltwahrnehmung, Selbstwahrnehmung und Reflexion sind die Haupttypen der menschlichen und kulturellen Informationsverarbeitung, die auseinander zu halten sind. Kulturen haben deshalb, übernimmt man den ökologischen Ansatz, die Fähigkeit, Bewertungen ihrer eigenen Strukturen, Medien, Informationen etc. vorzunehmen. Mehr noch: sie stehen andauernd vor der Notwendigkeit eben dieses zu tun und das Aussetzen von Bewertungen ist ein speziell zu organisierendes, mühsames Unterfangen. Jede vergleichende Mediengeschichtsschreibung steht deshalb vor der Aufgabe zu ermitteln, welche Medien, Informationen, Kommunikatoren, kurz: welche Elemente und Prozesse des Systems prämiert und welche anderen abgewertet werden. Sie steht zweitens vor der Aufgabe, die hinter diesen Selektionsprozessen stehenden Grundannahmen oder Programme zu rekonstruieren. Die verschiedenen Kulturen und historischen Epochen unterscheiden sich aus informationstheoretischer Perspektive durch die Sinne, Speichermedien, Prozessoren und Darstellungsformen, die sie bevorzugt benutzen, technisch unterstützen und reflexiv verstärken. Zum anderen unterscheiden sie sich durch die Vernetzungsformen, die sie bevorzugen und die sie als ‚Kommunikation‘ auszeichnen. Drittens unterscheiden sie sich in den Spiegelungen, die sie zwischen sich und der Natur sowie innerhalb der Kultur zwischen den verschiedenen Medien zulassen und nutzen. (Ich verfolge im Weiteren nur die informationstheoretische Perspektive i. e. S. weiter.) Das jeweils bevorzugte Sinnesorgan, die bevorzugten Prozessoren (Verstand, Glaube, Gefühl), Speicher- und Kommunikationsmedien, bestimmen auch die Theorie der Wahrnehmung, des Denkens, der Darstellung und Verständigung. Eine Aufgabe der Kommunikationsgeschichtsschreibung besteht vor diesem Hintergrund darin, durch die Zeiten zu verfolgen, was die einzelnen sozialen Gemeinschaften jeweils als Kommunikation, als Kommunikator und als Medium kultureller Verständigung anerkannt haben und welche Kriterien sie für den Erfolg dieser Verständigung entwickelt haben. Zweitens gilt es, die tragenden Legitimationen für die Hierarchisierung der Medien und Kommunikatoren, die aus dem Netzwerk erst das kommunikative System machen, zu erfassen. Es werden dabei sowohl Ideologien beschrieben, die das Bestehende legitimieren als auch solche, die Innovationen begründen. Die Behandlung der Legitimatio-

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In einfachen technischen kybernetischen Systemen, d. h. solchen, die nicht selbstlernend sind, übernimmt der Mensch typischerweise diese Steuerungsfunktion: Er verändert bspw. die Richttemperatur am Thermostat mit der Hand.

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nen bedeutet immer auch den Übergang von einer strikt medien- und kommunikationstheoretischen Betrachtung zu einer kulturellen Sicht. Die so genannten ‚einfachen‘ oder ‚oralen‘ (‚mündlichen‘) Kulturen, deren soziale Differenzierung im Wesentlichen an Abstammungslinien (Gentilordnung) orientiert ist, sind in einem besonderen Sinne multimediale Kulturen. Sie haben im Gegensatz zu dem, was durch die Bezeichnung ‚oral‘ suggeriert wird, gerade kein generelles Kommunikationsmedium ausdifferenziert und sozial prämiert – schon gar nicht die Rede. Sie nutzen vielmehr das gesamte leibliche Verhalten des Menschen, seine Arbeitstätigkeiten, den Tanz, die Tätowierungen u. v. a. m. als Kommunikationsmedien. Natürlich prämieren die einzelnen Stämme unterschiedliche Formen des körperlichen Ausdrucks. Bei dem einen Stamm ist es die Körperbemalung, bei anderen sind es Tätowierungen, Tanz, Gesang usf., die jeweils als Identitätsmerkmal besonders gepflegt werden – und denen deshalb auch besondere kommunikative Aufmerksamkeit zuteil wird. Diese diffuse Ganzheitlichkeit der frühen Kulturen wird im Fortgang der Geschichte durch vielfältige Ausdifferenzierungsprozesse der leiblichen Ausdrucksmöglichkeiten aufgebrochen. Die theoretischen Annahmen über den Gang der Mediengeschichte sollen nun an einigen historischen Beispielen veranschaulicht werden.

Prämierung und Unterdrückung von Medien im alten Ägypten Mediengeschichtliche Befunde scheinen zu belegen, dass es keine Hochkultur gegeben hat, die nicht eine klare Hierarchie zwischen den verschiedenen Informations- und Kommunikationsmedien aufgebaut hat. Dabei konnte sich keine Kultur damit begnügen, schlicht die Leistungen eines oder einiger weniger Medien in den Vordergrund zu stellen. Immer ist diese Aufwertung mit Abwertungen anderer Medien verknüpft. Ein frühes schlagendes Beispiel liefert die Verschriftlichung weiter Bereiche des kulturellen Lebens in den ägyptischen Hochkulturen. Es reichte nicht aus, visuelle Medien und schriftsprachliche Kodesysteme zu profilieren. Gleichzeitig verbot man andere konkurrierende Medien. „Liebe die Schriften und hasse den Tanz“, lehrt der ‚Oberaufseher des Amun‘ seinen Schüler Wentai, „dann wirst Du ein tüchtiger Beamter werden. Hänge Dein Herz nicht an das Vogeldickicht und wende dem Jagdwurfholz den Rücken zu. Schreibe bei Tag mit deinen Fingern und lies bei Nacht; mache Dir die Papyrusrolle und die Schreibpalette zu Brüdern: die sind angenehmer als Rauschtrank. Die Schreibkunst ist für den, der sie beherrscht, nützlicher als jedes Amt, angenehmer als Brot und Bier, als Kleider und als Salben, glückbringender als ein Erbe in Ägypten und als ein vornehmes Grab.“27 (Brunner 1957, S. 171 f.) In einer Schulhandschrift aus der 20. Dynastie heißt es: „Du Schreiber, sei nicht faul, sonst wirst Du sofort geduckt werden: Hänge Dich nicht an den Tanz, sonst wirst Du 27

Aus dem Papyrus Lansing, einer Schulhandschrift des Neuen Reiches (um 1100 v. Chr. ?).

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keinen Erfolg haben! Schreibe mit Deiner Hand und lies mit Deinem Mund und frage um Rat die, die mehr wissen als Du. [...] Man lehrt sogar einen Affen das Tanzen und richtet Pferde und Falken ab.“28 (Ebd., S. 172)

Indien und Indonesien Es ist aber keineswegs so, dass alle frühen Hochkulturen den Tanz ablehnten und die Schrift prämierten. Das wichtigste Gegenbeispiel sind die hinduistischen Kulturen Indiens. Alle kulturrelevante Information konnte, sollte und musste getanzt werden. Während die europäischen Kulturen alle Anstrengung auf die Normierung des laut- und schriftsprachlichen Kodes legten, entwickelte Indien eine Sprache des Tanzes, der leiblichen Ausdrucksformen, die ihre eigene komplizierte Lexik und Syntax besitzt (Mudras). Die Friese an den hinduistischen Tempeln mit ihren Darstellungen von Körpern in Bewegung sind ein Lexikon dieser Kultur – sie haben eine vergleichbare Funktion, wie die Bücher im alten Europa.29 Natürlich besitzen auch die hinduistischen Reiche handschriftliche Informationssysteme und die großen Epen, Mahabharata (5. Jh. v. Chr. mit älteren Vorläufern) und Ramayana (2. Jh. n. Chr.), werden – später – aufgeschrieben. Die Manuskripte dienen aber nur als Informationsmedium für Experten. Die handschriftliche Überlieferung gilt den Brahmanen als weniger zuverlässig als die mündliche.30 „Das aus Büchern erworbene und nicht von einem Lehrer empfangene Wissen hat in einer beratenden Versammlung keine Leuchtkraft, d. h. es ist nicht wirksam oder fruchtbar“, schreibt K. G. Ghurye (1950, S. 20; zitiert nach Goody et al. 1986, S. 41). Und alles Wissen gewinnt die Leuchtkraft nur durch die Person, die es mit ihren leiblichen Medien zum Ausdruck bringt. Nicht die Rede an sich und losgelöst vom Körper, so wie sie uns heute im Rundfunk entgegenkommt, wird prämiert, sondern die multimediale Aufführung, der Körper im Raum. Hauptsächliches Medium der Tradierung der großen Erzählungen – wie auch anderer Formen des kulturellen Wissens – bleibt über zweitausend Jahre der Gesang und vor allem der Tanz. Dem ist, im Gegensatz etwa zur Tradierung des Koran, auch die mündliche Weitergabe von Generation zu Generation untergeordnet. Die Prämierung der nonverbalen leiblichen Ausdrucksformen schlägt sich in vielen Bereichen des sozialen Lebens nieder, u. a. auch im Bildungswesen. So, wie in unserer Kultur der Elementarunterricht im Schreiben und Lesen erfolgte (und erfolgt), so in 28

29 30

Aus dem Papyrus Anastasi III. Der Lehrer ist ein Offizier bei der Wagentruppe und „Bote des Königs in die syrischen Länder von Sile (der ägyptischen Grenzfestung) bis Jaffa“ namens Amenemope, der Gehilfe heißt Pabas. Das wohl vollständigste Lexikon bieten die Tempel in Khajuraho, Hauptstadt der Chandella Dynastie. „Wie Platon haben die Brahmanen die schriftliche Überlieferung von Wissen immer als der mündlichen Überlieferung unterlegen angesehen, eine Ansicht, die von den Orthodoxen noch heute aufrechterhalten wird.“ (Gough 1986, S. 130)

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Indien und Indonesien im Tanz. Auf Bali ist der Tanz bis heute ein Grundschulfach mit erheblichem Sozialprestige.

Medienabsolutismus im neuzeitlichen Europa Die konsequenteste Auszeichnung eines einzigen Mediums – sowohl als Informationsals auch als gesellschaftliches Kommunikationsmedium – finden wir im Europa der Neuzeit. Hier herrschte nicht nur der absolute Monarch im politischen, sondern auch ein absolutes Medium im medialen Bereich. Und entsprechend gab es politische und mediale Untertanen. Binnen kürzester Zeit wurde das gedruckte Buch trotz Widerstände der kirchlichen Autoritäten zum Leitmedium – nicht zuletzt gestützt von der Reformation, die sich das Druckmedium für die Verbreitung ihrer Botschaften zu Nutze machte und zudem – im Gegensatz zu der an personalen Autoritäten (und damit an den leiblichen Medien) festhaltenden katholischen Kirche – die Heilige Schrift (sola scriptura) zur entscheidenden Instanz für den Glauben machte. In den 100 Jahren nach der Erfindung des Buchdrucks setzte ein komplexer gesellschaftlicher Veränderungsprozess ein, in dem sich hochnormierte Formen sozialer Informationsverarbeitung und ein geldbasiertes marktwirtschaftliches Verbreitungsnetz herausbildeten sowie ein kulturelles Selbstverständnis, das sich insbesondere auf die Demokratisierung und Verbreitung von Bildung durch das gedruckte Wort stützte (vgl. Giesecke 1991). 500 Jahre konnte sich das Buch als das „Leitmedium“ unserer Kultur halten; es schränkte die orale, an die physische Präsenz und an das Medium ‚Körper‘ gebundene Kommunikation drastisch ein. Alle neuzeitlichen Industrienationen zeichnen sich durch die Bevorzugung eines bestimmten Typs visueller Erfahrung, rationaler, linearer Informationsverarbeitungsprozesse, typographischer (symbolischer) Speichermedien und interaktionsfreier monomedialer Kommunikation aus. Sie haben also ein technisiertes Leitmedium ausdifferenziert. Technisiert wurden vor allem Prozesse und Ergebnisse psychischer Informationsverarbeitung: Sprechen, Schreiben, oder die ‚psychische Rezeption‘ von Medien: Sehen, Lesen usf. Informationsverarbeitung wird hauptsächlich als psychische Leistung und Kommunikation als Summierung von individuellen psychischen Leistungen verstanden. Dies ermöglicht es auch, die rückkopplungsarme Verbreitung von Informationen über die Massenmedien Druck, Radio und Fernsehen als paradigmatische Kommunikationssituation aufzufassen. Das 20. Jahrhundert war geprägt von der Entstehung einer Vielzahl weiterer technischer Medien, von denen mindestens eines, das Fernsehen, in manchen Kontexten als neues Leitmedium bezeichnet wird. Allen diesen Medien jedoch ist gemeinsam, dass sie die typischen Charakteristika der typographischen Massenmedien aufweisen und damit die Strukturen, die sich durch den Buchdruck entwickelt haben, spiegeln. Erst durch den Verbund von Computer und Internet besteht die Möglichkeit, diese dominanten Charakteristika der traditionellen Massenmedien zu durchbrechen.

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Um die Chance zu nutzen, alternative Optionen zu erkennen, empfiehlt sich ein Blick auf die Kulturgeschichte Japans, die in der Neuzeit einen gänzlich anderen Verlauf genommen hat.

Medienökologie im Japan der Edo-Zeit? Während der ‚Buchdruck‘ zu einer Schlüsseltechnologie der neuzeitlichen westlichen Industrienationen und zum Katalysator vielfältiger kultureller Veränderungsprozesse wurde, hat er in Japan keine vergleichbaren Auswirkungen gehabt. Er eroberte eine kleine Nische im kulturellen Kommunikationshaushalt: Zwar wurde gedruckt, und man verkaufte auch die Druckerzeugnisse, aber über Jahrhunderte blieb diese Kommunikationstechnologie eine Technologie unter anderen. Handschriften, Blockdrucke und weitere Druckverfahren koexistierten. Tanzaufführungen (Kabuki) behielten ihre gemeinschaftsbildende und kommunikative Funktion und verstärkten im 17. und 18. Jahrhundert noch ihre Bedeutung für die gesellschaftliche Kommunikation. Viele Druckerzeugnisse dienten der Transformation von Theaterereignissen. Eine Hierarchisierung der Kommunikationsformen mit der interaktionsarmen Massenkommunikation in der Spitzenstellung, wie sie Voraussetzung und Folge der Durchsetzung des Buchdrucks in Europa war, wiederholte sich im Japan der Edo-Zeit jedenfalls nicht. Grundüberzeugungen des ‚aufgeklärten‘ Europas wie jene, dass Technik und standardisiertem sprachlichem Wissen eine unvergleichliche Bedeutung für den Menschen und seine Kultur zukommen, setzen sich in Japan erst im 20. Jahrhundert durch. Sowenig die japanische Gesellschaft in den anderen Bereichen einseitig auf Technisierung setzte, siehe die praktisch vollständige Abschaffung von Feuerwaffen im 17. Jahrhundert, sowenig unterwarf sie auch die Informationsverarbeitung dem Diktat der Typographie. Die Gründe für die Zurückhaltung gegenüber der Technik sind – wie immer bei kulturellen Fakten – vielfältig. Die Konsequenzen liegen andererseits klar zu Tage: Der Zurückhaltung gegenüber der Technik (als Substitution und Verstärkung menschlicher Muskelkraft und Fingerfertigkeit) entspricht eine Aufwertung leiblicher Medien und körperlicher Geschicklichkeit. Dem Misstrauen gegenüber dem naturwissenschaftlichen entsubjektivierten Blick nach Außen, in die Fremde, in die Umwelt außerhalb der eigenen Haut korrespondiert die Kultivierung von individueller Kontemplation unter Nutzung aller inneren Sinne und die Erkundung des Selbst. Die ideologische Begründung für diese Haltung lieferten sowohl Konfuzius als auch Buddha. Während die Verschriftlichung des Lebens in der europäischen Neuzeit eher die Kopplung von Visuellem und Akustischem einerseits und die Entkopplung von Visuellem und Taktilem verstärkte, haben wir in der japanischen Kultur zumindest bis zum 19. Jahrhundert keine gravierende Schwächung der Kopplung zwischen Taktilem und Visuellem durch die Verbreitung der Schrift- und Druckmedien.31 Dies hat weit rei31

Ich danke Shiro Yukawa für die Bereitstellung und Erläuterung einschlägiger Quellen.

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chende Konsequenzen, denn die Trennung von Handeln und Wahrnehmen ist eine Grundvoraussetzung der neuzeitlichen Industrie- und Wissenschaftskultur. Grundsätzlich setzt sich in der europäischen Gesellschaft die Überzeugung fest, dass Wissen weniger aus der praktischen Tätigkeit als vielmehr aus deren Beobachtung mit den Augen erfolgt. Das Handeln stört das ruhige Beobachten. Erforderlich zum Beobachten ist die Distanz zum Beobachteten. Die japanische Kultur hat sich gegen die strikte Trennung von Handeln und Wahrnehmen bzw. des taktilen und visuellen Sinnes immer gewehrt. Insbesondere hat die Wertschätzung der Fingerfertigkeiten, z. B. des Schreibens im Sinne von ‚Malen‘ und der taktilen Sensoren, der Technisierung und der Verschriftlichung des Lebens klare Grenzen gesetzt. Die unterschiedliche Prämierung und Relationierung der Sinne prägt die Kulturen und wirkt auch selbst wieder zurück auf die Medien, insbesondere auf die gemalten und gedruckten Bilder. Dies manifestiert sich auch in der Struktur japanischer Handschriften und Drucke, die sich signifikant von der strikten Trennung von Text und Bild in den westlichen Drucken unterscheidet. Schrift und Bild fließen ineinander, die Schrift ist eher ein Teil des Bildes und diesem untergeordnet als umgekehrt. Während in Europa als Schreibwerkzeug die ‚Feder‘ (Gänsekiel, Stahlfeder, Füllfederhalter) und als Malwerkzeug der ‚Pinsel‘, also zwei unterschiedliche Medien, genutzt wurden, verwendet die japanische Kultur sowohl für die Text- als auch für die Bildproduktion den gleichen Werkzeugtyp, den Haarpinsel. Mit dem Produktionsmedium ‚Pinsel‘ dominiert das malerische, mit dem Produktionsmedium ‚Feder‘ das zeichnerische Darstellungsideal. Der medienhistorische Vergleich zwischen Europa und Japan zeigt jedenfalls eine unterschiedliche Gewichtung zwischen den verschiedenen leiblichen und technischen Kommunikations- und Informationsmedien. Insgesamt tendiert Europa zu einer Betonung der Unterschiede zwischen den Sinnen und Medien sowie zu einer stärkeren Hierarchisierung mit visuellen Informationsmedien und interaktionsarmen Kommunikationsmedien in der Spitzenstellung, während Japan stärker auf der Wahrung eines Gleichgewichts zwischen den Medien und Sinnen bestand. Die Prozesse in Japan erscheinen aus dieser Perspektive als viel näher am ökologischen Ideal des flexiblen Gleichgewichts liegend. Zahlreiche Dämpfungsfaktoren, negative Rückkopplungen standen in der Edo-Zeit einer vollständigen Technisierung schriftgestützter kultureller Informationsverarbeitung und der Prämierung des Buches als Spiegel der Kultur entgegen. Wenn der Eindruck richtig ist, dass man sich in den Industrienationen Europas für mediale, informative, kommunikative u. a. Monokulturen entschied, während Japan eine gleichgewichtigere Nutzung aller Medien und Kommunikationsformen bevorzugte, dann wären radikale Innovationsprozesse nur bei maximaler Störung der Balance von kulturellen Ökosystemen möglich. Vereinseitigung (Ausdifferenzierung einzelner Sinne und Medien, Kodifizierung und soziale Prämierung bei gleichzeitiger Abwertung anderer Medien, Technisierung) erweist sich als Triebkraft der Modernisierung Europas. Ein ausgeglichenes Ökosystem produziert zwar auch Neues. Es entstehen Nischen, in dem

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es überlebt. Aber das Gesamtsystem reguliert sich weiterhin nach den tradierten Sollwerten. Die mediale Revolution vollzog sich in Europa als symmetrische Eskalation, als Vereinseitigung der Sinne und als Durchsetzung von Monokulturen. Ausdifferenzierung visueller Informationsverarbeitung, Prämierung des gedruckten Buches als Leitmedium, Kodifizierung der Standardsprache, typographische Technisierung der Informationsverarbeitung sind zirkulär miteinander zusammenhängende, sich selbst positiv verstärkende Prozesse, die zu jener symmetrischen Eskalation führten, die wir als Innovation erleben.

Medienpolitik: Die Suche nach einem Leitmedium oder nach Medienökologie? Eine Grundfrage gegenwärtiger Medienpolitik lautet, ob unsere Kultur auch in der Zukunft auf die Hierarchisierung der Kommunikationsmedien setzen soll oder ob andere Formen gefunden werden, die Beziehung zwischen den Medien – und zwischen den Sinnen – zu gestalten. „Das leitmedienorientierte Entweder-oder-Denken schreibt“, so diagnostiziert Mike Sandbothe (2003, S. 266, Anm. 22), „eine kulturtheoretische Standardisierungsvorstellung fort, der zufolge (als homogene Komplexe konzipierte) Kulturen das Produkt von einheitlichen Kommunikationsgewohnheiten sind, die durch bestimmte Leitmedien ermöglicht oder sogar determiniert werden.“ Medienabsolutismus, die Feier eines einzelnen Mediums, seien es nun die Bücher oder die Bildschirme, hat nach Jahrhunderten der Buchkultur in Europa nichts Visionäres. Statt ‚Buchkultur‘ nun ‚digitale Kultur‘, das wäre kulturgeschichtlich nichts wirklich Neues, sondern nur ein Mehr von demselben. Es geht darum, den Wiederholungszwang zu durchbrechen und nicht wieder ein einzelnes Medium – und sei es auch so komplex wie die digitale Datenverarbeitung und das Internet – zur Wunschmaschine zu erklären. Wir können es uns nicht länger leisten, die Komplexität unserer Kultur so zu reduzieren, dass wir ein einzelnes Medium pars pro toto zum Namensgeber erklären. Die Integration weiterer technisierter Informationssysteme wird gegenwärtig zu einer Hauptaufgabe der Informationsgesellschaft. Die Vision kann dabei nicht in starrer Hierarchisierung, sondern sie muss im Zusammenwirken vieler artverschiedener Medien und Kommunikationsformen gesucht werden. Aber auch die Kennzeichnung unserer Epoche als multimedial führt nicht weiter. Alle menschlichen Kulturen sind, wie schon erwähnt, multimedial. Der Zankapfel war immer die Beziehung zwischen den Medien. Augenblicklich sind wir noch weit davon entfernt, genauer bestimmen zu können, wie diese alternative Beziehungsgestaltung ausschauen kann. Eine Vision kann das in anderen Bereichen unserer Gesellschaft schon intensiver genutzte Modell der Ökologie sein.

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Zentralkonzepte solcher medienökologischer Steuerungspolitik sind Balance, Oszillation und Fokussierung (vgl. Abb. 3). Abb. 3: Ökologische Steuerungsformen

Die Steuerung des Zusammenwirkens artverschiedener Medien Das Gegenmodell zur Standardisierung der Kodesysteme, zum Ausrufen von Leitmedien und zur starren Hierarchisierung der Beziehung zwischen den Medien ist die ökologische Balance zwischen den Medien, die Oszillation und das Fokussieren von emergenten oder antizipierten Strukturen. Das Konzept der Oszillation eignet sich auch, um die innovativen Tendenzen in den Programmen zu beschreiben, die gegenwärtig für die elektronische Informationsverarbeitung genutzt werden. Es ist nämlich nicht so, dass die Prinzipien dieser Programme völlig neu sind. Photoshop etwa und andere pixelorientierte Bildbearbeitungs- und -erzeugungsprogramme haben das Glasscheibenideal der Perspektive, wie es in der italienischen Renaissance entwickelt wurde, zur Grundlage. Das punktweise Abtasten durch eine als Sehstrahl aufgefasste visuelle Wahrnehmung lag schon als Modell der Entwicklung von Fernsehen und Fernsehkameras zugrunde. Die vektororientierten Bildprogramme (z. B. CoralDraw) nehmen die Verfahren der Zentralperspektive, die auf der euklidischen Geometrie aufbauen, auf.

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Bei Photoshop kommt hinzu, dass die Prinzipien des schichtenweisen (auch transparenten) Bildaufbaus, wie sie in der Ölmalerei – und zunächst nur in dieser – seit dem 15. Jahrhundert entwickelt wurden, perfekt genutzt werden. Das ‚Freistellen‘ (Ausschneiden) und das Betonen der ‚Umrisslinie‘ setzt perspektivische Projektionsverfahren voraus. ‚Werkzeugspitzen‘ imitieren die Stile, Hell : Dunkel- und Kontrastgraduierungen ermöglichen unter anderem die Berücksichtigung von Erkenntnissen der Farbund Verschleierungsperspektive. Die neue Darstellungssoftware technisiert insoweit Expertenprogramme einer älteren Epoche. Auch die Grundidee, sich Bewegungen als eine Abfolge von Standbildern (Momentaufnahmen) vorzustellen, hat eine lange Geschichte, die jedenfalls in Zeiten zurückreicht, in denen niemand an elektronische Medien dachte. Ihre technische Umsetzung zunächst im Film und dann in Programmen wie Premiere oder Flash bringt im Prinzip nichts Neues. Die Programme sind ohne die Zeitleisten und das sequenzielle Prozessmodell undenkbar, aber sie benötigen auch keine andere Epistemologie. Neu ist an den digitalen Verfahren das kontrollierbare Zusammenwirken der Komponenten. Und die Zusammenführung dieser Programme im elektronischen Medium erfolgt nicht durch eine starre Linearisierung und eine feste Schrittfolge, sondern sie ist flexibel und ermöglicht den raschen Wechsel zwischen den Komponenten: Die Innovation ist die Oszillationsfähigkeit, das probeweise Fokussieren mal des einen, mal des anderen Stils.32 Gerade die Beschleunigung der Oszillation, etwa in Form des Schnittwechsels in Videoclips, die Kombination von pixelorientierten Abbildungen der Umwelt (Fotorealismus) mit vektororientierten (und gerenderten) Konstruktionen in Spielfilmen (z. B. Herr der Ringe II) führt zu Phänomenen mit eigener Qualität. Zweitens verändern sich die Möglichkeiten, die technischen Medien in Kommunikationssysteme einzubauen. Sie können nun nicht mehr nur als Kommunikationsmedien in indirekten Massenkommunikationssettings, sondern auch in interaktiven Kommunikationssettings eingesetzt werden. Stichwort ist hier ‚Interaktivität‘, die Nutzung der Medien als Unterstützung des Gesprächs und anderer Formen sozialer – nicht bloß individueller! – Informationsverarbeitung. Auch diese Perspektive eröffnet sich nur, wenn wir von dem überkommenen Ideal der technisierten Medien der Massenkommunikation Abstand nehmen. Die Orientierung an der rückkopplungsarmen Massenkommunikation mit ihren isolierten Rezipienten erschwert es, die Ressourcen der neuen Medien zu erkennen. Viel eher eignet sich das Gruppengespräch als Paradigma für die Gestaltung adäquater elektronischer Medienkommunikation.33 Hier oszillieren die Rollen, es geht 32 33

Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt hinsichtlich des innovativen Potenzials neuer ästhetischer Experimente im elektronischen Medium Christiane Heibach (2003, hier insbes. S. 270 ff.). Dies übrigens auch im Hinblick auf die wirtschaftlichen und juristischen Dimensionen: Das Internet gemäß der Prinzipien des freien Marktes (Ware gegen Geld) und des Eigentums-/Urheberrechts zu gestalten, wird nur dann plausibel, wenn man die marktwirtschaftlichen Verbreitungsnetze der Buchdruckzeit als Vorbild nimmt. Dazu nötigt aber lediglich die Gewohnheit einer zu Ende gehenden Ära. In den Face-to-face-Gesprächen gelten andere ‚Währungen‘ und normalerweise wird die Kollektivierung individuellen geistigen Eigentums als Erfolgsbedingung angesehen.

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um eine Balance zwischen den Beiträgen der Teilnehmer und um die wechselnde Fokussierung von Themen. Die Orientierung an dem multimedialen Gespräch von Angesicht zu Angesicht erleichtert die Übernahme der ökologischen Vision des Zusammenwirkens artverschiedener Medien. Die kurzen Ausführungen im letzten Abschnitt mögen einen ersten Hinweis auf den Beitrag geben, den eine ökologische Medienphilosophie der Sinne für die Lösung von medienpolitischen Zukunftsaufgaben haben kann. Wenn nicht mehr die Entwicklung einzelner Sinne oder/und Medien, sondern deren bessere Vernetzung im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, gewinnen ‚Beziehungslehren‘, als deren prominenter Vertreter die Ökologie gelten muss, jedenfalls erheblich an Bedeutung.

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„Der Essay läßt sich sein Ressort nicht vorschreiben. Anstatt wissenschaftlich etwas zu leisten oder künstlerisch etwas zu schaffen, spiegelt noch seine Anstrengung die Muße des Kindlichen wider, der ohne Skrupel sich entflammt an dem, was andere schon getan haben ... Er fängt nicht mit Adam und Eva an, sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe.“ (Adorno 1981, S. 10)

1. Einleitende Bemerkungen Das Paradox, über etwas schreiben zu wollen, über das sich nur schwer etwas sagen lässt, zumindest dann, wenn man das Besondere der Nahsinne, insbesondere der Berührung skizzieren möchte, hinterlässt bei Lesern wie auch der Autorin ein Unbehagen darüber, dass der Begriff die Sache nicht hinreichend trifft. Das Gefühl, defizitär und ungenau zu bleiben, lässt sich auch nicht durch noch so kunstvolle Umschreibungen und kryptische Wortgebäude umgehen – das im Text beschriebene Moment des Unexplizierbaren, das für sinnliche Erfahrung generell, aber insbesondere für die Nahsinne gilt, spiegelt sich im folgenden Text in vielfacher Hinsicht wider. Vielleicht ist dies einer der Gründe, warum die Nahsinne innerhalb der Philosophie bislang wenig Beachtung fanden. Die Nicht-Benennbarkeit des sinnlich-leiblichen Eingetaucht-Seins in die Welt steht ja geradezu im Kontrast zur angestrebten Klarheit und Verallgemeinerbarkeit von Rationalität und Vernunft.1 Aus diesem Grund wird im Folgenden weder eine systematische noch eine historische Annäherung an die leiblich-sinnliche Welteinbettung versucht, sondern ein eher essayistischer Versuch unternommen, sich diesen Sinnen und ihrer Relevanz für medienwissenschaftliche Diskussionen multiperspektivisch zu nähern. Eine ähnliche Schwierigkeit ergibt sich, wenn man sich zu einer Klärung des je verwendeten Medienbegriffs gezwungen sieht. Die Schwierigkeit, genauer zu bestimmen, was unter Medien zu verstehen ist, findet sich auch an anderer Stelle: „Kommunikationsmedien, Wahrnehmungsmedien, technische Medien, Massenmedien, Medien der 1

Hierzu in nach wie vor unnachahmlicher Weise: Horkheimer/Adorno (2002), insbesondere das Kapitel über Kulturindustrie.

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Überlieferung usw. Nichts scheint dringender, aber nichts wäre auch fruchtloser, als definieren zu wollen, was Medien eigentlich sind.“ (Dotzler et al. 2001) Standpunkte, die Medien als „extensions of ourselves“ (McLuhan 1964, S. 7) verstehen, oder Positionen, die jede Form von Wahrnehmung bereits als medial, d. h. über unsere Sinne vermittelt, begreifen (vgl. etwa Münker in diesem Band), lassen sich kaum eindeutig voneinander abgrenzen. Ich möchte im Folgenden eine sicherlich nicht unproblematische Simplifizierung insofern vornehmen, als ich unter Medien vorrangig jene Instanzen fasse, die eine Distanzierung von der leiblich-sinnlichen Erfahrung der Welt implizieren. Dies sind Sprache, Schrift und alle technischen und kulturellen Wahrnehmungsund Kommunikationsmedien. Damit nehme ich eine andere Position als etwa Münker (in diesem Band) ein, dem zufolge die Sinne bereits als Medien zu begreifen sind, „Wirklichkeit ... [also] immer nur als mediale Konstruktion zugänglich ist.“ (Münker, im vorliegenden Band, S. 389 f.) Auf Grund dieser vielfältigen begrifflichen Probleme möchte ich daher meinen Beitrag auf eine etwas ungewöhnliche Weise beginnen, nämlich mit einem Blick auf die Alltagssprache, weil sich hier in besonderer Weise die verschiedenen Dimensionen offenbaren, die in der Folge beim Versuch, über Berührung und ansatzweise über Geschmack und Geruch zu schreiben, zur Sprache kommen werden. So zeigt sich bereits im alltäglichen Sprachgebrauch, in welcher Weise unsere kognitiven Fähigkeiten mit den Nahsinnen, dem Tastsinn und mit der Berührung, aber auch mit Geschmacks- und Geruchssinn, in Verbindung stehen. Beginnen wir mit einem Blick auf die im Beitrag vorrangig behandelte Taktilität: Wir be-„greifen“ den Sinn eines Wortes, wir haben etwas „im Griff“, wir haben einen Sachverhalt „erfasst“, etwas ist „unfassbar“, „unbegreiflich“. Offensichtlich wird bereits hier, wie elementar das Tasten und die Berührung für unsere Weltaneignung sind. Damit im Zusammenhang stehen auch Sprachwendungen des englischen und französischen Sprachraums, die auf die Bedeutung der Berührung als Verifikationsmoment verweisen: „toucher la realité du doigt“ bzw. „put to the touch“ drücken sprachlich aus, was jedem von uns in alltäglichen Zusammenhängen schon zugestoßen ist: Beim Anblick eines dekorativen Blumenbuketts im Restaurant überprüft man verstohlen tastend, ob es sich um künstliche oder natürliche Blumen handelt. Erweist sich also die Berührung als leibliche Geste, mit Hilfe derer die visuellen oder akustischen Eindrücke auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft werden? Ein weiterer Zusammenhang, der sich im Blick auf die Alltagssprache offenbart, ist die Verbindung von Emotionalität und Berührung. Wir sind von einem Ereignis, einem Bild gerührt, eine Melodie berührt uns, wir fühlen uns ge- oder betroffen, jemand ist feinfühlig. Deutlich wird hier, wie unmittelbar uns Berührungen treffen können, wie fragil wir als Berührte und Berührende werden, dass Berührungen mannigfaltige Gefühle evozieren können. In welchem Ausmaß Kommunikationsprozesse von der Berührung durchdrungen sind, zeigt sich des Weiteren am Wort Kon-Takt. Mit dem Anderen in Kontakt treten, umschreibt nicht nur den sprachlichen oder schriftlichen Austausch, sondern wesentlich auch das Berührtwerden durch den Anderen, sei es im konkreten oder mehr metaphori-

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schen Sinne. Berührungen führen auf Grund ihrer spezifisch resonierenden Struktur (Meyer-Drawe 1990) immer auch zu einer Dezentrierung der beteiligten Akteure, ein Umstand, der später noch ausführlicher dargelegt wird. Aber auch Geschmack und Geruch sind für unseren Weltzugang offensichtlich von entscheidender, innerhalb der Philosophie oft unterschätzter Bedeutung (siehe hierzu auch Mayer 1996), was sich wiederum bereits in der Alltagssprache offenbart: „Das stinkt mir“, „Ich kann ihn nicht riechen“, „Das schmeckt mir aber gar nicht“, „Mir liegt das Wort auf der Zunge“... – es ließen sich weitere Beispiele anführen, in denen die Bedeutung der so genannten Nahsinne offensichtlich wird. Geruch und Geschmack als quasi animalische Sinne erweisen sich trotz ihrer Geringschätzung seitens der Erkenntnistheorie bis heute als wichtige Sinne zur Einschätzung von bestimmten Ereignissen. Nach wie vor schnüffeln wir in animalischer Weise an Lebensmitteln, um zu entscheiden, ob diese noch genießbar sind. Immer noch dient uns der Geruch als Indikator für gefährliche Situationen (Gas- und Brandgeruch, giftige Chemikalien) wie auch der Geschmack bei der Wahrnehmung verdorbener Lebensmittel dem visuellen Wahrnehmungsvermögen bei weitem überlegen ist. Darüber hinaus sind Geruch und Geschmack wichtige Sinne der Erotik. Der Geruch einer Person kann verführerisch und betörend sein, der Geschmack des Anderen uns in Wallungen versetzen, wobei auch Ekel und Abwehr auf solche animalischen Sinnesempfindungen zurückzuführen sind. Neben der Berührung im weitesten Sinne erweisen sich demnach auch Geruch und Geschmack als elementar für die Spezifität situativer Welteinbettung, sie sind konstitutive Elemente der Schaffung einer je besonderen Atmosphäre (Böhme, G. 1995), die als oftmals implizit bleibender Hintergrund für bewusste und explizierbare Sinneswahrnehmungen und kognitive Akte fungiert (s. hierzu auch Peters 1996). Geruch und Geschmack sind zudem besonders bedeutsame Auslöser von Erinnerungen (vgl. hier auch Corbin 1996). Der Geschmack einer bestimmten Speise oder ein plötzlich auftretender Geruch können Erinnerungsfetzen aktivieren und längst verschollene innere Bilder erwecken, die lange verborgen geblieben waren. Vergessen geglaubte Ereignisse, die mit einem spezifischen Geruch oder Geschmack verbunden waren, treten plötzlich hervor und konfrontieren uns in beglückender oder auch beklemmender Weise mit längst Vergangenem. Diese in der Umgangssprache offensichtlich werdende fundamentale Bedeutung der Nahsinne wurde in der Geschichte der Philosophie kaum zur Kenntnis genommen (vgl. hierzu auch Mayer 1996). Systematisch abgewertet gegenüber dem Seh- und Hörsinn fand einerseits eine Materialisierung dieser Sinnesmodalitäten statt, indem sie als rein körperliche, fast mechanisch zu deutende Vorgänge begriffen wurden. Andererseits betrieb man eine Entsubstanzialisierung und Immaterialisierung dieser Sinne, indem sie auf eine rein geistige Ebene verlagert wurden. Mit dieser, in cartesianischer Tradition stehenden Dichotomisierung wurde aber die besondere Verschränktheit von Materialität und Geistigkeit geleugnet, die für die Sinne bzw. den Leib ganz generell typisch ist, der sowohl erlebender Leib wie materieller Körper ist, also Materialität und Geistigkeit vereint, ohne beide Dimensionen völlig zur Deckung zu bringen (vgl. hierzu vor allem Merleau-Ponty 1986).

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Wenn ich mich im Folgenden wesentlich auf das Tasten und die Berührung als Nahsinn konzentriere, dann hängt dies zum Einen damit zusammen, dass sich innerhalb der philosophischen Tradition zumindest die Phänomenologen mit dem Tastsinn auseinander gesetzt haben, während Geschmacks- und Geruchssinn generell weniger in den Blick genommen wurden. Zum anderen gewinnt gerade in jüngster Zeit der taktile Sinn (wieder) an Bedeutung, nicht nur im Kontext der Interface-Debatte innerhalb der Computerwissenschaften, sondern auch in anderen Disziplinen, wie etwa der Medizin, wo die tastende Erkundung von Krankheiten plötzlich wieder einen (wenn auch immer noch zu geringen) Stellenwert einzunehmen beginnt. Entsprechend des oben Gesagten werde ich meinen Beitrag beginnen mit zwei miteinander verwobenen Perspektiven: • Die Bedeutung des Tastens und (weniger ausgeprägt) des Riechens und Schmeckens für die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten und die Entfaltung von Wissen offen legen. • Die Relevanz von Berührung für Gefühl, Emotionalität und Engagement im Kontakt mit Dingen und Menschen aufzeigen. Die Differenzierung in Tasten und Berührung erfolgt auf der Basis einer Annahme, die sich an eine in ähnlicher Weise von Waldenfels (2002) vorgenommene Differenzierung anlehnt. Tasten wird hier als eine mit motorischen Aktivitäten gekoppelte, intentional gerichtete Aktivität gedeutet, während die Berührung eher als Geschehen begriffen wird, das passive und aktive Aspekte miteinander verschränkt.

2. Welterfahrung mittels der Nahsinne: Tasten, Riechen, Schmecken Der erste Kontakt des Menschen mit seiner Umwelt erfolgt über die Haut, die als wesentliches Organ der Berührung betrachtet werden kann (Anzieu 1992; Sechaud 1996). Babys werden täglich von ihren Eltern oder anderen Personen gestreichelt, gefüttert, gebadet, gewickelt und berührt. In dieser ersten kindlichen Entwicklungsphase besteht eine symbiotisch anmutende Verbindung zwischen dem Baby und den jeweiligen Bezugspersonen, in der das Baby durch die Berührung mit dem Anderen eng verbunden ist und sich noch nicht als Eigenes gegenüber einem Anderen begreifen kann.2 Diese frühkindliche Symbiose wird jedoch bald durchbrochen: Das Baby beginnt mit den Händen tastend seine Umwelt und sich selbst zu erforschen, es greift nach Dingen, die man ihm hinhält, es fasst nach Haaren, Händen und anderen Körperteilen der versorgenden Person, es ertastet auch den eigenen Körper und gewinnt so erste Erfahrungen über seine

2

Die Schwierigkeiten solcher Annahmen liegen in ihrem letztlich hypothetisch bleibenden Charakter.

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Umwelt und über sich selbst3. Sukzessive entwickelt sich so ein Selbst, dass sich situativ in Abgrenzung zum Anderen konturiert. Visueller Sinn, Motorik und Tastsinn sind dabei auf besondere Weise miteinander verknüpft – der abtastende Blick gewinnt durch das konkrete Greifen an Bedeutung, das Tasten ist stets mit einer bestimmten Körperbewegung verknüpft. Das Zusammenwirken der Sinne evoziert zwar vielschichtige Erfahrungen, doch sind die einzelnen Sinnesmodalitäten insofern voneinander abzugrenzen, als sie eine je eigene Wahrnehmung der Umwelt ermöglichen und durch die damit einhergehenden Selektionen eine je spezifische Wirklichkeitssicht bedingen.4 Diese multiperspektivischen Erfahrungen werden in der ontogenetischen Entwicklung sukzessive erweitert, wobei hier erneut der Blick zunächst auf das Tasten fokussiert wird. Kinder greifen nach allem, was sie in die Hände bekommen können. Sie gewinnen Kenntnis über die Beschaffenheit von Materie, indem sie mit verschiedensten Stoffen in Berührung kommen. Sie lernen unterschiedliche Qualitäten von Materialien kennen und erfahren so am eigenen Leibe, was die Attribute „heiß“, „kalt“, „hart“, „weich“ etc. bedeuten. Tastend erfährt so das Kind den Ort, an dem es sich selbst oder wo sich ein Gegenstand bzw. ein Gegenüber befindet und erfährt so jenseits der visuellen und akustischen Eindrücke, wie die Dinge, aber auch die eigene Person im Raum leiblich situiert sind. Darüber hinaus gewinnt es über die taktilen Erkundungen wesentliche Kenntnisse über Form, Gewicht, Temperatur und Oberflächenbeschaffenheit der Dinge. Kinder explorieren ihre Umwelt durch ständiges Anfassen der Dinge, auf die sie stoßen und verbinden sukzessive bestimmte erlernte Begriffe mit den leiblich erfahrenen Objekten. Diese Erfahrungen sind für die weitere kognitive Entwicklung elementar. Die spezifische Semantik von Eigenschaften wie „rau“, „poliert“ ist nur für denjenigen erfassbar, der raue und polierte Gegenstände angefasst hat. Be-Greifen und Verstehen setzen also eine tastende Welterkundung voraus. Wir müssen mit den Dingen in Kontakt treten, sie berühren, ihre Widerständigkeit erspüren, um ihre qualitativen Eigenschaften zu verstehen und um sie als je besondere Objekte zu erkennen. Wie oben schon kurz angedeutet: Tasten, Anfassen ist immer auch mit Bewegung verbunden. Das Kind nähert sich dem Objekt, das es ergreifen möchte, das Greifen selbst ist ein aktives Tun, welches neben der Sensorik, d. h. dem Fühlen und Sehen immer auch die Motorik mit einschließt. Die Sinne wirken also beim Er-Fassen eines Gegenstandes ineinander, ergänzen sich und ermöglichen ein komplexes Begreifen des Objekts, wobei sich die einzelnen Sinnesmodalitäten in ihrer spezifischen Selektivität von Wirklichkeitsentwürfen unterscheiden. Nur kurz erwähnt an dieser Stelle sei die gleichermaßen große Bedeutung von Geschmacks- und Geruchssinn für die qualitative Erkenntnis der Welt: Kinder stecken sich in ihrer frühen Entwicklung alles Greifbare in den Mund – der Mund als Organ, das sowohl taktiles wie auch schmeckendes Organ ist, erweist sich für die sinnliche Erkenntnis als ebenso zentral wie die Nase, deren sinnliche Eindrücke sich mit Berührung 3 4

Michel Serres verweist an mehreren Stellen auf die Bedeutung der Selbstberührung als konstitutives Moment der Identitätsentwicklung (vgl. Serres 1996). Ähnlich argumentiert auch Giesecke im vorliegenden Band.

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und Geschmack zu einem komplexen Eindruck vermischen. Es ist aber nicht nur so, dass in der ontogenetischen Entwicklung diese Formen sinnlicher Welterkundung von grundlegender Bedeutung für die Entfaltung kognitiver Fähigkeiten sind. Auch in späteren Jahren ist das Ertasten und das Berühren von Dingen, Materialien und Menschen ein wichtiges Erfahrungsmoment und notwendiger Bestandteil kognitiver Vorgänge. Und Gleiches gilt für das Schnuppern und Schmecken, die für die Herausbildung einer spezifischen Expertise bedeutsam bleiben können und zur wahren Meisterschaft entfaltet werden. Betrachten wir vor diesem Hintergrund verschiedene Berufsfelder, so wird diese grundlegende Bedeutung sinnlicher Welterkundung offensichtlich. Kundige Geomorphologinnen nehmen Erde in die Hand und können durch Hin- und Herreiben zwischen ihren Fingern ertasten, welche Kornverteilung (Ton und Sand) in dieser Erdprobe zu finden ist.5 Sie benutzen auch ihre Hände, um im Gestein von Gletschermoränen dem Fluss des Eises vor Tausenden von Jahren nachzuspüren. Erfahrene Ärztinnen riechen Krankheiten unabhängig von technischen Diagnoseinstrumenten, sie berühren mit ihren Händen den Körper ihrer Patienten und gewinnen so einen Eindruck von dessen Gesamtkonstitution. Wie jemand riecht und ob die Haut des Gegenübers feucht, warm, kalt oder trocken ist, kann viel aussagen und weitere diagnostische Maßnahmen beeinflussen. Erfahrene Weinkenner schmecken Nuancen bei Rotweinen heraus, die der Laie nur fassungslos und neidvoll zu Kenntnis nehmen kann. Kompetente Handwerkerinnen können auf Grund der ertasteten Beschaffenheit des jeweils verwendeten Materials einschätzen, ob bestimmte Konstruktionen tragfähig sind oder nicht bzw. mit welchen Komplikationen man möglicherweise rechnen muss. Kurzum: Es lassen sich hier eine Fülle an Berufen anführen, die wesentlich auf Erkundungen der Nahsinne basieren, dabei einerseits an kindliche Erfahrungen anknüpfend, andererseits diese aber auch berufsspezifisch vertiefend. Tast-, Geruchs- und Geschmackserfahrungen bedürfen aber gerade dann, wenn sie kognitiv bedeutsam werden, immer auch einer begrifflichen Etikettierung und Kategorisierung. Aussagen über die Beschaffenheit des ertasteten Objekts oder Materials und Einschätzungen über die daraus ableitbaren Folgen für einen konkreten Handlungsvorgang erfordern eine reflexive Distanzierung, ohne welche die sinnliche Erkundung lediglich auf den Augenblick beschränkt bliebe. Be-Greifen beschränkt sich also nicht nur auf das Tasten, das An- und Erfassen, sondern impliziert auch die Abstrahierung vom konkreten Tastvorgang sowie dessen reflexive Einbindung in das Konglomerat bislang gemachter Erfahrungen. Gleiches gilt für Geruchs- und Geschmackserfahrungen. Das begeisterte „Hmhmm, lecker“ beim Genuss einer Speise oder eines guten Weines wird einen Gourmet-Experten oder eine Weinkennerin wenig befriedigen – auch hier ist eine begriffliche Abstrahierung erforderlich, um die Geschmacks- und Geruchseindrücke zu

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Diesen Eindruck vermittelten mir zahlreiche Gespräche mit dem Kölner Geomorphologen Ernst Brunotte.

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einer über die individuelle Empfindung hinausreichenden und damit anschlussfähigen Kategorie werden zu lassen.6 Noch ein weiterer Aspekt sei hier angeführt, der vor allem auf die Bedeutung des Tastens und der Berührung verweist. Bereits Voltaire sprach von „les mains de l’expérience“, damit auf die Bedeutung des Handgreiflichen, des Greifbaren, verweisend, das aus seiner Sicht ein Indiz für die Gültigkeit von Wissen sei. Die Deutung der Berührung als Sinnesmodalität, mittels derer überprüft werden könne, inwieweit das bloß Gesehene oder Gehörte wahr oder wirklich sei, hat eine lange Geschichte. In der christlichen Tradition existiert beispielsweise die Legende von Jesus, der seinen Jüngern nach der Auferstehung erschien. Der ungläubige Thomas glaubte nicht an den bloßen Anblick, sondern verlangte Jesus berühren zu dürfen, um sich von dessen Existenz zu überzeugen (s. hierzu auch Böhme, H. 1996). Die Berührung wird bis heute immer wieder als Sinnesmodalität beschrieben, die den direkten Kontakt zu den Dingen ermöglicht und mittels derer man sich ihrer Existenz vergewissern kann. Das Ertasten und Erspüren erweist sich also auch unter diesem Gesichtspunkt als elementar für unseren Weltzugang. Was sich nicht spüren, tasten, greifen lässt, unterliegt immer der Gefahr, als Fiktion, als Täuschung, als Phantom oder als rein geistiges Produkt missdeutet zu werden. Auch hier bedarf es jedoch der distanzierten Deutung und Einordnung des Ertasteten und Gespürten, um derartige Einschätzungen überhaupt wirkungsvoll vornehmen zu können. Und ebenso dienen das Riechen und das Schmecken immer wieder der Verifikation des visuellen Eindrucks. Der verlockende Eindruck einer Mahlzeit kann – wie jeder weiß – täuschen, erst der Geruch und vor allem der Geschmack vermögen Auskunft über die Qualität zu geben und zu vollkommen anderen Eindrücken zu führen. Sinnliche Erfahrung und Reflexivität ermöglichen also erst in ihrer Verschränkung eine Form des Wissens über die Welt, das zwar wesentlich auf der sinnlichen Erkundung basiert, aber darauf sich nicht beschränken lässt. Die Distanzierung vom ertasteten, geschmeckten und gerochenen Objekt im Akt der Reflexion ist ebenso notwendige Bedingung von Kognition wie die sinnliche Erfahrung selbst. Wenn ich mich im Folgenden vorwiegend auf die Taktilität konzentriere, so möchte ich hier zunächst zusammenfassen: Riechen, Schmecken und Tasten dienen in vielfältiger Weise der Exploration der jeweiligen Umwelt und sind nicht nur für die kognitive Entwicklung relevant, sondern erweisen sich zudem als wesentliche Qualifikationsmomente beruflicher Expertise. Die Relevanz der Nahsinne, insbesondere des Tastsinns für die Entwicklung kognitiver Fähigkeiten birgt aber eine Ambivalenz in sich. Denn neben seiner Erkundungsfunktion und der ihm immanenten Enthüllungsintention birgt vor allem der Tastsinn immer auch ein Moment der Vereinnahmung des ergriffenen Objekts in sich. Die leibliche Geste des Ergreifens, die neben dem Explorationswunsch durchaus auch darauf zielt, Dinge oder Menschen „im Griff zu haben“, offenbart ein latentes Moment er6

Wobei der Versuch einer begrifflichen Explikation des Geschmeckten oder Gerochenen zu Resultaten führen kann, die ans Lächerliche grenzen – der Begriffserfindungsreichtum von Weinspezialisten ist hierfür ein amüsantes Beispiel.

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wünschter Omnipotenz bzw. potenzieller Gewalt. Das sich im Prozess des Greifens und Ertastens andeutende Streben nach Verfügbarmachung der Welt bricht sich allerdings immer wieder am Widerstand und der Eigendynamik des jeweiligen Gegenübers. Die damit einhergehende Ent-Machtung des tastenden Individuums wird im Folgenden zur Sprache kommen, indem auf den im Chiasmus (Merleau-Ponty 1986) von Berührendem und Berührtem offensichtlich werdenden „pathischen“ (Waldenfels 2002) Charakter der Taktilität eingegangen wird.

3. Emotionalität, Berührung und Kontakt Der Tastsinn ist immer auch Kontaktsinn, er impliziert Nähe, ein unmittelbares Spüren der Andersartigkeit des Anderen, dessen Widerständigkeit und Eigendynamik sich im konkreten Kontakt nicht ausblenden lässt. Diese Nähe und Unmittelbarkeit, die im Berühren und Berührtwerden zu Tage tritt, erklärt manche der Ambiguitäten, die mit der Berührung assoziiert werden und offenbart, warum in jeder Berührung die emotionale Ebene angesprochen ist. Diese Beziehung zwischen emotionaler Betroffenheit und Berührtheit wird vor allem im erotischen Kontakt offensichtlich. Barthes (s. hierzu Barthes 1984) zufolge ist die Berührung gerade im erotischen Kontext gekennzeichnet durch eine Domäne von leisen und subtilen Zeichen, angefangen mit dem abtastenden Blick, mit dem der Andere erkundet wird bis hin zur konkreten berührenden Erkundung des Körpers. Berührende und Berührte, Subjekt und Objekt fließen hier ineinander, die Grenze zwischen Ich und Du verschwimmt. Indem sich aber die Beteiligten berühren lassen, werden sie emotional berührbar, erleben sie sich gleichermaßen als fragil, durchlässig und entgrenzt –, die konkret gespürte Nähe in der Berührung löst die ohnehin nur mühsam aufrecht zu erhaltenden Ich-Grenzen zumindest situativ auf. Dies führt zu emotionalen Erschütterungen, welcher Art diese auch immer sein mögen. Das Verlangen nach symbiotischer Verschmelzung mit dem Anderen, die Auflösung der Hautgrenzen in der Berührung tritt in Gegensatz zur gleichermaßen existierenden Bedürftigkeit nach Abgrenzung, um die Verwobenheit von Ich und Du wieder aufzubrechen und das Selbst in Abgrenzung vom Anderen erneut neu zu konturieren. Berührung ist aber nicht nur in der Erotik unmittelbar mit der emotionalen Dimension verknüpft. Wenn wir mit Dingen und Menschen in Kontakt treten, werden wir berührt, nicht nur im somatischen Sinne, sondern auch auf der Ebene des Fühlens und Erlebens. Wir fühlen uns angezogen oder abgestoßen, wir suchen oder vermeiden den direkten körperlichen Kontakt, wir drücken mit Berührungen unser Verhältnis zum Anderen, unsere Befindlichkeiten aus. Dies aber geschieht nicht ohne Risiko. In der Berührung sind wir immer zugleich Berührende und Berührte. Damit aber erweist sich die vermeintliche Selbst-Sicherheit, autonome und souveräne Akteure zu sein, als Illusion. In der Berührung sind wir gleichermaßen aktiv und passiv (s. hierzu auch Meyer-Drawe 1990). Wir berühren als Akteure, werden aber gleichzeitig immer auch vom Anderen

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berührt, weil der Berührungsakt Tun und Erleiden miteinander verquickt. So zeigt sich in der Berührung im besonderen Maße, was für alle sinnlichen und reflexiven Akte gilt: Stets sind wir durchdrungen von den Ansprüchen der anderen, die unsere eigenen Wünsche und Intentionen schon beeinflusst haben, bevor wir diese überhaupt entfalten. Es existiert also in der Berührung ein stummer Kontakt mit Menschen und Dingen jenseits aller bewussten Wahrnehmung (s. hierzu auch Boehm 1986). Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die Berührung – etwa bei Waldenfels – als pathische Sinnesmodalität begriffen wird. Berührungserfahrung wird bei ihm als Form des „Widerfahrnisses“ begriffen, „als eine Erfahrung, die jemandem zustößt“ (Waldenfels 2002, S. 78). Ihm zufolge ist das Berührtsein oder Getroffensein früher als das, was wir berühren. „Entscheidend ist dabei, dass das Angerührtwerden durch Anderes dem eigenen Anrühren vorausgeht. Traditionell gesprochen besagt dies, dass die Selbstaffektion im Zuge der Fremdaffektion auftritt und ihr nicht vorausgeht“ (ebd., S. 80). Berührung ermöglicht also, dass das Selbst sich als angerührtes überhaupt erst erlebt, gleichzeitig aber schon durchtränkt ist von den hier spürbar werdenden Fremdansprüchen. Damit aber sind bereits die Nahsinne, die doch als ureigenstes zunächst erscheinen, immer schon sozialen Normierungen ausgesetzt (vgl. hierzu auch Giesecke, im vorliegenden Band, S. 37 ff.). Im Affiziertwerden von der Umwelt offenbart sich also ein pathisches Moment, das zwar allen Sinneserfahrungen zugrunde liegt, bei den Nahsinnen, vor allem aber in der Berührung in besonderer Weise zum Tragen kommt. Berührung muss vor diesem Hintergrund als Pathos, als ein Ergriffensein bzw. Ergriffenwerden gedeutet werden, das unserem Greifen und Begreifen vorausgeht. Damit aber impliziert die Berührung immer auch eine Dimension des Unberührbaren. Dies ist dadurch bedingt, dass die Überkreuzung von Berührendem und Berührtem nicht zu einer neuen Totalität führt, sondern sich das Berührte niemals völlig einverleiben lässt. Es bleibt ein uneinholbarer blinder Fleck, der in der Berührung selbst verankert ist. In jeder Berührung findet sich somit eine Asymmetrie, die dazu führt, dass entgegen allen Intentionen der oder das Andere niemals völlig erreicht wird, weil das Berührte sich dem Zugriff des Berührenden immer wieder entziehen kann. Wenn aber das Andere den Eigenintentionen gewissermaßen vorgelagert ist, dann wird die in der Tasterfahrung unterstellte oder erwünschte Dominanz des Berührenden gegenüber dem Berührten unterlaufen, da die Intention des Berührenden schon Antwort auf die Ansprüche des Berührten ist. Eigenes und Fremdes sind also in der Berührung auf besondere Weise miteinander verwoben. Die Fremdheit, die uns entgegentritt, wenn man von anderen berührt wird, tritt uns also auch im Selbstbezug entgegen, nicht nur dann, wenn wir uns als berührte und berührende Instanz erleben, sondern auch dann, wenn wir uns selbst berühren. Diese Fremdheit zeigt sich in der Widerständigkeit, die wir im Tasten verspüren. Das oder der Andere entziehen sich meinem Zugriff, lenken die Berührung in eine andere Richtung als die ursprünglich intendierte. Jeder Liebende hat bereits die Erfahrung gemacht, dass bei aller innigen Verbundenheit der Andere immer Fremder bleibt und es allenfalls in wenigen Momenten zu gelingen scheint, diese Fremdheit in der leiblichen Ver-

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schmelzung zu überwinden. Und Gleiches gilt auch für die Selbstberührung, wo das vermeintlich Eigene urplötzlich zum Fremden wird und ein innerer Spalt im Selbstbezug offensichtlich wird. Jede Berührung offenbart also nicht nur die unüberwindbare Fremdheit des Anderen (Ding oder Mensch), sondern zeigt auch, dass wir uns selbst in der Beantwortung der Ansprüche der Anderen fremd bleiben. Denn die Berührung rührt in besonderem Maße an unsere Leiblichkeit, die sich hier jenseits allen reflexiven Zugriffs ins Spiel bringt. Jede Berührung birgt somit ein „Surplus“ an Sinn in sich, eine Dimension des bloß Spürbaren, aber weder reflexiv noch begrifflich Fassbaren. Damit aber sind wir unabdingbar eingebunden in ein responsives Geschehen (siehe hierzu auch Waldenfels 1999), das uns gleichermaßen zu Agierenden wie Reagierenden macht. In der leiblichen Berührung verlieren wir also unsere im Fiktiven entworfene Stellung als autonomer Souverän. Diese Entmachtung impliziert nicht nur eine narzisstische Kränkung, sondern sie macht auch Angst. Jede Berührung geht mit einer Dezentrierung der eigenen Person einher, weil sie uns zu Re-Agierenden „degradiert“, statt uns in der Illusion von Allmächtigkeit und Kontrollbesitz verharren zu lassen. Darüber hinaus bringt sich in jeder Berührung das Leibliche eigenmächtig zum Ausdruck und entzieht sich der reflexiven Kontrolle eines souveränen Ich. Berührungen offenbaren also eine Fragilität des Selbst, die nicht immer leicht zu ertragen ist. Die auf Grund des pathischen Charakters der Berührung hier besonders offensichtlich zu Tage tretende „genuine Fernnähe“ zeugt von einem Moment des „Nicht-selbst im Selbst“ (Waldenfels 2002, S. 86), die in der Berührung spürbar wird. Entsprechend bin ich schon von mir und anderen abgelöst, wenn ich zu einem Selbst erwache. Der in der Selbst- und Fremdberührung gleichermaßen spürbare Chiasmus von Ich und Anderem verdeutlicht nicht nur, dass die im Taktilen erworbene sinnliche Erfahrung unexplizierbar bleiben muss, weil sich zwischen Ich und Anderem in der Berührung ein Spalt auftut, demzufolge ich mit dem Anderen nie ganz verschmelze, sondern dass zudem von einer genuinen Fernnähe ausgegangen werden muss, da im Selbst ein ursprünglicher Spalt, ein Moment des Nicht-Selbst im Selbst existiert. Der von Merleau-Ponty (1986) geprägte Begriff des Chiasmus markiert also nicht ein ursprüngliches Einssein von Subjekt und Objekt, das vor aller Erfahrung läge, sondern er kennzeichnet ein gerade für die Berührung charakteristisches Oszillationsfeld, in dem ein ständiges Umschlagen von Nähe in Ferne und von Ferne in Nähe in doppelter Richtung erfolgt. Diese Fernnähe, die als eine ständige Fluktuation von Anklammern und Loslassen, Kontakt und Unterbrechung begriffen werden kann, verweist so ganz generell auf die Wildheit, Polymorphie und Plurivalenz des Taktilsinns (vgl. auch Waldenfels 2002). Die hier erneut deutlich werdende Reversibilität von Subjekt und Objekt, leiblichem Individuum und Umwelt erzeugt ein unbenennbares Mehr an Sinn. Kapust verweist hier auf drei bedeutsame Aspekte dieser Reversibilität: • Das Aufbrechen und Hervorbrechen des Anderen; • die Möglichkeit der Umformung und Verwandlung einer Beziehung; • die Chance von Pluralität und Mehrseitigkeit (s. hierzu ausführlicher Kapust 2002).

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Ihr zufolge kann aus einem sich überkreuzenden Aufeinandertreffen von Subjekt und Objekt eine neue Qualität hervorgehen. Diese kann sich in einer Unterbrechung und Umwandlung vorgegebener Wege äußern und zu einer Destabilisierung verfestigter Relationen führen, wenn die Offenheit dieser Reversibilität zugelassen und ertragen wird. Fremde Momente, die in das Gegebene einbrechen und dieses übersteigern, können so zu Umbrüchen führen, wenn man sich der Fremdheit und der Widerfahrnis des Anderen auszusetzen bereit ist.

4. Berührung durch und in Medien Was bedeutet dies nun, wenn wir uns vor Augen führen, dass konkrete Tasterfahrungen und die durch das leibliche In-der-Welt-Sein unablässig stattfindenden Berührungen zu Gunsten medial vermittelter Selbst- und Weltzugänge in den Hintergrund treten? Im Folgenden – wie oben bereits angedeutet – beschränke ich mich ganz bewusst auf ein Verständnis von Medien, welches diese als Erweiterungsorgane unserer Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit begreift, wobei die leibgebundenen Sinne davon ausgeschlossen sind.7 Unter Bezugnahme auf das Medium Photographie möchte ich im Folgenden erste Überlegungen dazu präsentieren, wie sich der leiblich begründete Kontakt zur Welt und Mitwelt verändert, wenn Medien dazwischentreten. Diese Veränderung ist einerseits assoziiert mit einem Verlust. Ohne eine der Berührung unterstellte „Urnähe“ oder gar eine vorgängige Einheit von Subjekt und Objekt annehmen zu wollen, ist doch durch unsere leibliche Welteinbettung ein zumeist impliziter Kontakt mit Dingen und Menschen garantiert, der Atmosphären erzeugt und Wahrnehmungen bereits geprägt hat, bevor uns auch nur ansatzweise diese Richtungsgebung bewusst wird. Andererseits aber ermöglicht die mediale Durchbrechung dieses Kon-Takts durch Reflexion, Versprachlichung oder technologische Re-Präsentationen, Menschen, Objekte und Ereignisse überhaupt erst zur Kenntnis zu nehmen bzw. auf veränderte Weise mit ihnen in Kontakt zu treten. Medien – egal ob man sie als prothetische Erweiterungen des Körpers, als technologische Artefakte zur Konstruktion von Wirklichkeit oder als Instanzen von Kommunikation begreift – haben stets Brüche und Risse, Verdoppelungen und Verschiebungen im Verhältnis von Mensch-Umwelt bewirkt. So zeigte sich bereits im genaueren Blick auf das Phänomen der Berührung, dass auch im leiblich-sinnlichen Weltzugang ein Spalt zwischen Eigenem und Fremdem existiert und jede sinnliche Erfahrung von Brüchen und Rissen durchzogen ist. Die in manchen medienkritischen Arbeiten implizite Unterstellung einer ursprünglichen Einheit von Subjekt und Welt ist demnach immer dem Verdacht einer essenzialistisch anmutenden Fiktion ausgesetzt. 7

Dass sich die Sprache und die leiblich gebundene Schrift und Gesten hier an der Schwelle befinden, ist mir wohl bewusst.

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Im Folgenden möchte ich eine Überlegung zur Diskussion stellen, der zufolge Medien zwar einerseits zur Vertiefung dieser „Bruchlinien“ führen können, andererseits aber auch neue Formen von Erfahrung ermöglichen und eine Veränderung und Erweiterung unserer Wahrnehmung evozieren. Dementsprechend werde ich am Beispiel der sozialdokumentarischen Photoreportage und der Kriegsphotographie aufzeigen, in welcher Weise dieses Medium einerseits Berührung vermeidet und verhindert, andererseits aber ein Berührtwerden auch evozieren kann. Bilder des Grauens, Schockfotos und erschütternde Reportagen über sozial Benachteiligte sind seit langem weltweit zu sehen. Kritiker und Kritikerinnen sprechen von Ikonomanie (Anders 2000), von einer unerträglichen Bilderflut (Sontag 1999), vom Voyeurismus (Sontag 2003) der Photographen wie auch der Betrachter, der zu einer reaktiven Gleichgültigkeit und Indifferenz auf beiden Seiten führe. Ein Ästhetizismus der Bilder des Schreckens wird attackiert, der Dokumentations- und Wahrheitsanspruch der Bilder fundamental in Frage gestellt und die Legitimität derartiger Photoreportagen bezweifelt. Fotos von Kriegen, von menschlichem Leid und sozialem Elend ließen – so beispielsweise Sontag (2003) – die Betrachter letztlich unberührt, weil diese nicht in Kontakt mit dem je Dargestellten träten, sondern in einer distanziert bleibenden Betrachtung letztlich unberührt zur Kenntnis nähmen, was ihnen jeweils über das Bild präsentiert wird. Die häufig politisch und sozial engagierten Photographen solcher Bilder und Reportagen8 vertreten demgegenüber die Auffassung, dass mit Kriegsfotos und der bildlichen Dokumentation der Lebensumstände Benachteiligter die Weltöffentlichkeit überhaupt erst wach gerüttelt werden könne und Individuen durch die bildliche Darstellung des Schrecklichen angerührt würden, weil Fotos stärker als die Schrift emotionale Wirkungen hervorriefen. Der Anspruch, mittels der Photographie „den Namenlosen eine Stimme geben zu können“, wird unterstrichen, jenseits aller Einsicht in die Subjektivität des jeweiligen Blickwinkels, der in den Fotos zum Tragen kommt und etwaige Wahrheitsansprüche relativiert. Photographen als Zeitzeugen erweisen sich in dieser Perspektive weniger als Dokumentaristen, sondern als engagierte Interpreten und Autoren der Deutung von photographierten Situationen. Kann dieser Anspruch der sozial engagierten Photographen überhaupt eingelöst werden? Viele Betrachter derartiger Photographien schildern ihre momentane Erschütterung, beschreiben ihre emotionale Betroffenheit, fühlen sich von den Bildern an-gerührt. Wie aber kann man berührt sein, ohne dass man in direktem Kontakt mit den Ereignissen steht? Und welche Relevanz hat diese Form der Ergriffenheit, wie wirkt sie sich aus? Das emotionale Ge- oder Berührtsein bleibt häufig ohne längerfristige Auswirkungen. Die Betroffenheit erweist sich zumeist als ein singuläres Erlebnis, situativ begrenzt und damit letztlich folgenlos. Auf Grund der Tatsache, dass die Betrachter mit der konkreten Situation nicht konfrontiert waren, dass sie nicht in Berührung mit den Opfern traten und die spezifische Atmosphäre des je Dargestellten nicht mit allen Sinnen erleb8

Zum Beispiel die Photographen Sebastio Salgado, James Nachtwey, Susan Meiselas u. a.

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ten, bleibt die Betroffenheit oft auf den Augenblick der Wahrnehmung begrenzt. Da die Fotos nur mit den Augen, dem visuellen Fernsinn, wahrgenommen werden, rückt das im Foto jeweils Dargestellte nicht nahe an den Betrachter heran, es ergreift nicht den betrachtenden Leib, sondern kann in einer (beruhigenden) Distanz belassen werden. Bilder des Grauens werden so kaum existenziell bedrohlich noch führen sie zu Erschütterungen, die über die konkrete Wahrnehmungssituation hinausgehen und zu Aktivitäten führten, die politisch folgenreich wären. Das von Medienkritikern wie Baudrillard9, Sontag und Anders konstatierte letztlich Unberührt-Bleiben der Betrachter ist u. a. auf den oben angesprochenen Umstand zurückzuführen, dass der Kon-Takt mit dem jeweils Dargestellten medial vermittelt ist, d. h. hier nur Auge und Ohr, also die Fernsinne, angesprochen werden, die es den Betrachtern ermöglichen, die wahrgenommenen Ereignisse in der Ferne zu belassen. Der „Geruch des Grauens“, der Geschmack des Todes, die unmittelbare Berührung mit den Opfern von Krieg, Hungersnot, Folter und Gewalt ist nicht gegeben und kann auch in der Imagination in ungefährlicher Distanz gehalten werden. Dies ist wohl einer der Gründe für die vielfach beobachtbare, wirkungslose Perzeption dieser Bilder des Schreckens, die allzu rasch verdrängt oder vergessen werden. Da die Nahsinne von den Fotos allemal vermittelt angesprochen werden, nämlich über Erinnerungen, die durch die Bilder möglicherweise evoziert werden und an frühere Berührungs-, Geruchs- und Geschmackserfahrungen anschließen, tangiert das dargestellte Grauen kaum die leiblich-sinnliche Existenz des Betrachters, der allemal situativ emotional, ansonsten aber eher auf einer kognitiven Ebene den Inhalt der Bilder zur Kenntnis nimmt. Die zuvor skizzierte leiblich spürbare Fremderfahrung, die das Selbst durch die Konfrontation mit dem Anderen destabilisiert, unterbleibt. Die sich aus der Reversibilität von Eigenem und Fremdem potenziell ergebenden Überschreitungen und Umstürze finden kaum statt – bestehende Strukturen wirken durch derartige Fotos entgegen der Intention vieler Photographen eher stabilisierend und strukturverfestigend. Die Betrachter können sich im wahrsten Sinne des Wortes das im Bild dargestellte Leid der anderen „vom Leibe halten“ – die Absenz des sinnlich spürbaren Kontakts vermeidet ein existenzielles Berührt- und Erschüttertsein. Bedeutet dies nun, dass Photographien bzw. Medien generell zum Kontaktverlust von Menschen mit Dingen, Objekten oder Ereignissen führen, dass sie einen zusätzlichen Riss in der sinnlichen Erfahrung der Welt bewirken, der die Überkreuzung von Subjekt und Objekt, von Ich und Welt durchschneidet? Diese immer wieder anzutreffende Form der Medienkritik ist zwar insofern berechtigt, als sich im konkreten, wesentlich über den Leib vermittelten Berühren und Berührtwerden Dimensionen von Erfahrung entfalten, die medial nicht einholbar sind, weder über Schrift, Sprache noch über akustische oder visuelle Medien. Die durch eine Interkorporalität (s. hierzu nochmals Merleau-Ponty 1986) bedingte Einbettung in die Welt und das daraus sich ergebende pathische Moment von Erfahrung lassen sich je9

Überzeugend argumentiert in dieser Weise Baudrillard in Le Monde vom 30.8.2003, vgl. Baudrillard (2000).

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doch weder als „Urnähe“ deuten noch als eine unhintergehbare Einheit von Subjekt und Objekt. Stattdessen soll hier erneut auf das Konzept des Chiasmus verwiesen werden, welches ermöglicht, eine Überkreuzung von Berühren und Berührtwerden an die Stelle einer primordialen Einheit zu setzen. Der Chiasmus von Subjekt und Objekt zeigt nämlich bereits Spalten und Risse auf, die zu produktiven Umbrüchen verfestigter Strukturen auch durch Medien führen können. In einer solchen Perspektive wären Medien also nicht zu betrachten als zerstörende Elemente einer unterstellten Einheit von Leib und Welt, sondern sie können durch die medial thematisierten Bruchlinien der Erfahrung produktive Veränderungen evozieren. Ein spezifischer Medienumgang ist also denkbar, der sich einbinden lässt in den Chiasmus von Leib und Welt, der ein sinnliches Eintauchen, ein Berührtwerden im vermittelten Sinne vielleicht überhaupt erst möglich werden lässt. In diesem Sinne lässt sich auch Barthes’ (1980) Überlegung verstehen, der von einer potenziellen leiblichen Ergriffenheit beim Anblick eines Fotos spricht. Der von ihm als „Punktum“ bezeichnete Augenblick, wo ein Detail im Foto zu einer körperlich spürbaren schockartigen Erschütterung führt, die zu Umstürzen hergebrachter Denk- und Wahrnehmungsweisen führen kann, verweist auf das Potenzial der Photographie, den Betrachter trotz aller Distanzierung zu berühren. Kehren wir zur Illustration dieses Gedankens nochmals zum Beispiel der Kriegsphotographie zurück: Selbst harsche Medien- und Photographiekritiker verleugnen nicht, dass es einzelne Photographinnen und Photographen gibt, deren Bilder solche Wirkung haben, dass die emotionale Erschütterung und das individuelle Berührtsein über die Rezeptionssituation hinausgeht. Forscht man nach, wodurch sich diese Photographen auszeichnen, so tritt eine spezifische Form des Weltzugangs dieser Personen zu Tage. Photographen wie Meiselas, Salgado, Nachtwey u. a. begeben sich in Krisengebiete und nehmen dort nicht die oft übliche distanzierte Position des photographischen Voyeurs ein, für den die Personen und Ereignisse distanzierte Objekte bleiben. Statt dessen begeben sie sich leiblich-sinnlich in das Geschehen, setzen sich dem Geruch von verwesenden Leichen ebenso aus wie sie in Kontakt mit den Opfern treten, an ihrem Leben, ihren Nöten, ihren Ängsten teilhaben und auf diese Weise leiblich-sinnlich berührt werden. Photographen, die sich in dieser Weise einlassen, treten nicht nur selbst in Kontakt, sondern lassen sich auch in weiter gehendem Sinne berühren, verändern reaktiv ihre Absichten, indem sie den impliziten Anspruch der sie umgebenden Dinge und Menschen erspüren. Der berühmt gewordene Satz des bekannten Kriegsphotographen Capa: „Wenn dein Foto nicht gut ist, dann warst du nicht nah genug dran“10, gewinnt so eine neue Bedeutung. Denn erst dieses In-Kontakt-Treten, dieses Sich-Berühren- und SichEin-lassen auf eine Situation ermöglicht einen Blick auf die Ereignisse, der die Fotos zu ergreifenden Interpretationen eines bestimmten Ereignisses werden lässt, die auch den abgebrühtesten Betrachter nicht unberührt lassen. Das zuvor skizzierte pathische Moment der Widerfahrnis, das als typisch für die Berührung herausgestellt wurde, spiegelt sich demnach in den Fotos insofern wieder, als der Photograph nicht mehr einziger Au10

Siehe hierzu das von ARTE ausgestrahlte Filmdokument: MAGNUM, sowie Miller (1998).

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tor eines Bildes bleibt, sondern sich im Bild die Menschen und Dinge auf stumme Weise ebenso zur Sprache bringen. Auch in dieser spezifischen Form tritt das Medium zwar immer noch zwischen Betrachter und Ereignis und markiert so erneut den Spalt zwischen Subjekt und Objekt, doch ermöglicht es auf eine andersartige Weise eine Form vermittelter Berührung durch die rezeptive Teilhabe am Berührtsein des Photographen. Die Betrachter tauchen ein in das sinnliche Erleben des Photographen, der gewissermaßen stellvertretend das Wagnis eines Kontakts mit dem Fremden insofern einging, als er eine leibliche Teilhabe am Geschehen riskierte und die Rolle des distanzierten Voyeurs aufgab. Medien ermöglichen also eine Form des Berührtwerdens jenseits des konkreten Kontakts, indem sie anknüpfen an leiblich-sinnliche Erfahrungen sowohl des rezipierenden Selbst als auch des sich medial zur Sprache Bringenden (etwa des Photographen). Man riecht zwar nicht das bildlich dargestellte Grauen, doch vermag im gelungenen Foto die Imaginationskraft des Betrachters genau diese Geruchsempfindung anklingen lassen. Man berührt zwar nicht den Kopf des Sterbenden, doch vermag das Bild eine Erschütterung hervorzurufen, die im konkreten Kontakt mit einer solchen Situation evoziert würde. Die Bilder engagierter Photographen im oben genannten Sinne lassen die wenigsten unberührt. Man knüpft an die Erfahrungen desjenigen an, der an den Ereignissen mit allen Sinnen, mit seiner leiblichen Existenz partizipierte. Das Risiko, sich dem Fremden in seiner leiblichen Fragilität auszusetzen, im Fall der Kriegsphotographie sogar mit der Gefahr des Todes täglich konfrontiert zu sein, spiegelt sich in den Bildern wider und überträgt sich auf den Betrachter. Darüber hinaus deuten die Fotos solcher Photographen auch auf die ethische Dimension der Berührung hin, von der Levinas (s. hierzu auch Kapust 1999) am Beispiel des Händedrucks spricht. Im leiblichen Kontakt mit dem anderen, wie er sich in der konkreten Berührung von Kriegsopfern durch die Photographen widerspiegelt, äußert sich eine grundlegende Anerkennung desselben, die auch im Foto zum Ausdruck kommt. Wenn Susan Meiselas nach einer dreijährigen Reise durch Nicaragua eine überzeugende und anrührende Photoreportage über dieses Land präsentiert, dann drückt sich in ihren Bildern jene Form leiblichen Sich-Einlassens aus, die dem Betrachter ein Nachvollziehen dieser Teilhabe ermöglicht und ihn aus seiner distanzierten Voyeurposition hinauswirft. In diesen Fällen dient das Medium der Photographie dazu, die Betrachter in einer Weise anzurühren, die ihnen die Fragilität der eigenen Existenz bewusst macht. Damit aber können auch Photographien jene Destabilisierung individueller Positionen bewirken, wie sie sich im konkreten Berührtwerden durch den anderen entfalten. Photographien, die von der leiblich-sinnlichen Betroffenheit der Photographen zeugen, gewinnen über diese Form vermittelter Berührung ihre Legitimität gegenüber aller berechtigten Medienkritik zurück.

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SEMIOTISCHE INFORMATIONSUND KOMMUNIKATIONSMEDIEN

Peter Janich

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Einleitung Wir werden für unser Reden verantwortlich gemacht, im Alltag, in den Wissenschaften und in der Philosophie. Was wir wie und wem unter welchen Bedingungen sagen, was wir damit beabsichtigen, erreichen oder anrichten, wird uns von Anderen zugerechnet. Reden ist also Handeln – jedenfalls in einem Verständnis von „Handeln“, das seinen Ursprung und Sitz im Zusammenleben von Menschen hat. Von Handeln überhaupt zu reden, hat seinen Sinn genau darin, dass uns manches, aber nicht alles als Verdienst oder Schuld von Anderen zugerechnet wird, was diese von uns miterleben. Mit diesem, sich von anderen Handlungsbegriffen unterscheidenden Verständnis sind sprachliche Handlungen auf Handlungs- und Redegemeinschaften bezogen und betreffen das Reden als Kommunizieren. Reden als Handeln des Kommunizierens bildet einen Unterschied vor allem zum künstlich eingeengten Sprachbegriff einer analytischen Tradition, die sich gleichsam den vor einem Blatt Papier sitzenden Mathematiker oder den Naturwissenschaftler vorstellt, der monologisch einen Beweis bzw. eine zutreffende Beschreibung der naturgesetzlichen Welt sucht. Dort geht es schon von vornherein um wahrheitsfähige Aussagen, um Syntax und Semantik, allgemein um die Signifikationsfunktion der Sprache. Hier dagegen steht ihre Kommunikationsfunktion im Blickpunkt. (Allen Formalisten, Empiristen und Naturalisten im Feld von Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft ist entgegenzuhalten, dass auch sie selbst (zumindest faktisch) andere Menschen moralisch und rechtlich verpflichten und von diesen verpflichtet werden. Keine Wissenschaft oder Philosophie leistet eine Befreiung etwa aus der Rolle des Staatsbürgers in einem demokratischen Rechtsstaat oder des Mitglieds in einer Familie, Schulklasse, Universität, einem Betrieb.) Bezüglich der Grundbegriffe und Aufgaben einer Medienphilosophie der Kommunikation heißt dies, dass Reden als Handeln nicht nur betrachtet werden kann – was ohnehin niemand bestreitet –, sondern auch so betrachtet werden soll, um eine philosophische Kritik, das heißt ein expliziertes, nachvollziehbares Unterscheidungssystem für die Aspekte der Medialität von Kommunikation zu entwickeln. Es geht also nicht um die Frage, ob Reden Handeln ist, sondern was dieser Aspekt für eine Medienphilosophie austrägt. Deshalb gliedert sich der folgende Text in vier Teile: Im ersten Teil werden Grundbegriffe einer methodischen Handlungstheorie bestimmt; im zweiten Teil werden diese

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Grundbegriffe für eine Theorie der Kommunikation eingesetzt; im dritten Teil ist eine Kritik an vorherrschenden Verständnissen von Information und Kommunikation im Blick auf die technischen Medien vorzutragen; im vierten Teil sind schließlich die Aufgaben für eine methodische Medienphilosophie der Kommunikation zu benennen, um eine Orientierung im aktuellen medienphilosophischen Diskurs zu gewinnen.

1. Kleine Handlungstheorie (im Blick auf das Reden) Unter „Handeln“ soll verstanden werden, was uns andere Menschen als Verdienst oder Verschulden zurechnen. Es ist ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Einsozialisation in Handlungsgemeinschaften, Handeln vom bloßen Verhalten (im Sinne von behavior) zu unterscheiden. Niemand lobt oder tadelt ein Kind, wenn es erschrickt, stolpert, hinfällt, krank wird oder Reflexe zeigt. Dieses naturhafte Verhalten (nicht zu verwechseln mit der Wortbedeutung des deutschen „Verhalten“ im Sinne von englisch conduct, also Handlungsweisen) mag Gegenstand naturwissenschaftlicher Erforschung und Kausalerklärung sein. Aber nur für Handeln, nicht für bloßes Verhalten sind wir verantwortlich. Handeln lässt sich nach verschiedenen Aspekten differenzieren und klassifizieren. Dies soll hier nur so weit geschehen, wie es für eine Fundierung eines medienphilosophisch tragfähigen Kommunikationsbegriffs erforderlich ist. Wir lernen kinetisch, poietisch und praktisch zu handeln. Ungeachtet eines angeborenen Bewegungs- und Reaktionsrepertoires lernen wir Gehen, Laufen, Springen, Schwimmen, Skifahren, Radfahren, Autofahren, mit der Hand schreiben, mit einem Besteck essen, Musizieren usw. Diese Handlungen, für die wir selbstverständlich verantwortlich gemacht werden, mögen kinetisch heißen. Poietische Handlungen sind solche des Herstellens. Dabei ist nicht nur an den Schreiner zu denken, der einen Tisch herstellt. Schon das Ordnen oder Umordnen von Dingen, etwa von Büchern in einem Bücherschrank, ist Poiesis. Poietisches Handeln sei am Kriterium definiert, Sachverhalte in der Ding-Welt herbeizuführen, die ihrerseits für weitere (eigene oder fremde) Handlungen verwendet werden. Praktisch heißen solche Handlungen, die andere Menschen betreffen, deren Interessen tangieren, sei es im Interessenkonflikt, der durch Behinderung oder Ausschluss der Handlungsmöglichkeit des Betroffenen definiert ist, sei es im Interessenausgleich oder im Interessenverbund. Der Aspekt des Praktischen im Handeln bezieht sich aber nicht nur auf die Handlungsmöglichkeiten des Betroffenen, sondern auch auf dessen Widerfahrnisse etwa im Fall von Lob oder Tadel, von Belohnen oder Beleidigen, Beschenken oder Bestehlen. Der Kulturmensch ist zwangsläufig ein Poietiker, selbst in der bequemsten und luxurierendsten Lebensform oder bei extrem unterentwickelter Geschicklichkeit; denn die Routinehandlungen des Alltags von der Körperpflege, dem An- und Auskleiden, über die Nahrungsaufnahme bis zur Selbstbewegung in der Wohnung und auf der Straße sind

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(Kinesis und) Poiesis. Dies nachhaltig ignoriert zu haben, ist ein schweres philosophisches Erbe der griechischen Antike, die mit ihrer Bevorzugung des Zuschauers (gr.: Theoretikers) gerade einmal das Schimpfwort „Banause“ (von gr.: banausos, Handwerker) hinterlassen hat. Deshalb fehlt der abendländisch-griechischen Tradition der Blick fürs Methodische: Für den Erfolg kinetischer und poietischer Handlungen ist meistens die Reihenfolge von Teilhandlungen maßgeblich. Jeder wird zum Sprung über einen Graben erst anlaufen und dann springen, nicht umgekehrt; jeder wird die Flasche vor dem Ausgießen entkorken, die Banane vor dem Essen schälen, und sogar in den Bereichen der praktischen Handlungen werden wir immer Reihenfolgen einhalten, deren Vertauschung den Zusammenbruch zwischenmenschlicher Kommunikation und Kooperation zur Folge hätte. Im Alltagsleben völlig selbstverständlich, in den Wissenschaften hochgradig verwirrt, folgt aus dieser Bindung der Reihenfolge von Einzelhandlungen an den Handlungserfolg – gemeint sind also Reihenfolgen, die nur bei Strafe des Misserfolgs vertauscht werden können –, dass sich diese Reihenfolgen auch in das Reden abbilden. Niemand würde eine Gebrauchsanweisung, eine Bauanleitung oder ein Kochrezept schätzen, die durch Vertauschung von Vorschriften regelmäßig zum Verfehlen des einschlägigen Zwecks führten. Ebenso würde niemand im Bereich des behauptenden Redens Schilderungen akzeptieren, in denen ein hysteron-proteron vorkommt, die Kinder vor den Eltern geboren, das Hausdach vor dem Fundament gebaut und die Handlungswirkung vor der Handlungsdurchführung anzunehmen sind. Nur in den Theorien der Wissenschaften, historisch schon in der Zuschauerperspektive der platonisch verstandenen Geometrie Euklids, geht munter durcheinander, was kinetisch, poietisch und praktisch nicht sein kann: Der Punkt kommt vor der Geraden und diese vor der Ebene, die ebene Geometrie (Planimetrie) vor der Stereometrie, obwohl doch das Geschäft des Konstruierens von Figuren erst einmal die Herstellung der Zeichenebene, des Lineals und des Zirkels aus dreidimensionalen Körpern in Anspruch nimmt („voraussetzt“, wie die Leute sagen). Die folgenden Überlegungen heißen „methodisch“, weil sie einem Prinzip der methodischen Ordnung (PmO) folgen. Dies besagt nichts anderes als das Verbot, bei erfolgsabhängigen Reihenfolgen von Handlungen in deren sprachlicher Darstellung (gleich, ob im auffordernden, behauptenden oder anderen Reden) bezüglich der Reihenfolge anders zu verfahren als in der erfolgreichen Praxis. Die (relative) Rechtfertigung des PmO ist trivial. Wer Freude am Misserfolg durch Befolgen verwirrter Rezepte hat, wer unglaubwürdige Berichte oder falsche Zeugenaussagen den glaubwürdigen und wahren vorzieht, hat keinen Grund, das PmO zu respektieren. Kurz, das PmO ist ein probates Mittel für den Zweck, sinnvolle von abwegigen Vorschriften, glaubwürdige von unglaubwürdigen Berichten und nachprüfbare von dogmatischen Theorien zu unterscheiden. Die Unterscheidung kinetischer, poietischer und praktischer Handlungen betrifft eine Differenzierung von Aspekten, die zusammen, d. h. an derselben Handlung auftreten können. Wer handschriftlich einen Dankesbrief schreibt, handelt zugleich kinetisch, poietisch und praktisch.

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Bisher sind bereits Unterscheidungen benutzt worden, die ebenfalls zur Handlungstheorie zählen, wie Zweck und Mittel, Erfolg (als Erreichen des Zwecks) und Misserfolg (als Verfehlen des Zwecks). Zwecke heißen die Sachverhalte, die durch Handeln herbeigeführt, aufrechterhalten oder vermieden werden sollen. Zwecke werden als Sachverhalte durch Aussagen dargestellt. Handlungen sind Mittel, Zwecke zu erreichen. (Für einen expliziten Aufbau der handlungstheoretischen Terminologie sei hier der Kürze halber auf die Literatur (Janich 2001) verwiesen.) Unverzichtbar ist, zusätzlich zu Erfolg/Misserfolg vom Gelingen und Misslingen von Handlungen zu sprechen, weil es zu den fundamentalen Lebenserfahrungen gehört, dass auch gelungene Handlungen gelegentlich zum Misserfolg führen. Der alltagssprachliche Kalauer „Operation gelungen, Patient tot“ bietet dafür das klassische Schema. Das Gelingen und Misslingen von Handlungen bemisst sich (nämlich bei ungeregelten Handlungen) an der Handlungsintention des Akteurs oder (zusätzlich) an der Erfüllung von Regeln, wie bei Bewegungsabläufen im Sport, beim Musizieren, bei Spielen, im Handwerken und in den Künsten. Ob eine Handlung ge- oder misslungen ist, entscheidet im ersten Falle der Akteur, im zweiten Falle auch der Beobachter. Bevor die Handlungen, die pauschal unter „Kommunizieren“ zusammengefasst werden, bezüglich Verständnis und Anerkennung der Kommunikate erläutert werden können, sind weitere handlungstheoretische Unterscheidungen erforderlich. Unter einer Beteiligungshandlung ist zu verstehen, was nur unter Beteiligung eines anderen Akteurs gelingen kann. Niemand kann z. B. allein einen Wettlauf ausführen. (Wird der Wettlauf verloren, ist er gelungen, aber ein Misserfolg.) Die Liste der Beteiligungshandlungen im Bereich der Kommunikation ist schier endlos. Ein Gespräch, eine Diskussion, ein Streit, all diese durch Substantiva benannten Formen des Handelns zwischen Menschen, von den kinetischen Handlungen der Zärtlichkeit und der Aggression ganz abgesehen, sind Beteiligungshandlungen. Verschieden davon sollen Handlungen gemeinschaftlich heißen, bei denen nicht das Gelingen, sondern der Erfolg am Mitwirken anderer Akteure hängt. Wenn ein Balken zu schwer ist, um von einer Person hochgehoben zu werden, wird eine hinreichende Anzahl von Helfern zum Erfolg führen. Schon dieses Trivialbeispiel von Kinesis und Poiesis zeigt, dass und warum das Gelingen nicht zwangsläufig den Erfolg nach sich zieht. Wer eingeübt ist in Beteiligungs- und in gemeinschaftliche Handlungen, wird auch gelernt haben, bei welchen Handlungen Gelingen und Erfolg nur von ihm als dem Akteur allein abhängt; diese Handlungen mögen Individualhandlungen heißen. Für all die bisher unterschiedenen Handlungstypen gilt, dass Ge- und Misslingen sowie Erfolg und Misserfolg dem Akteur an seinen Handlungen widerfährt. Erfahrungen sind also Widerfahrnisse im Handeln. Verbindet man den Erfahrungsbegriff mit dem Gewinn von Wissen, ist der Begriff einer völlig passiven Erfahrung als selbstwidersprüchlich auszuschließen. Wem widerfährt, dass er erschrickt, stolpert, krank wird usw., verhält sich, lernt aber nichts daraus – es sei denn, er beginnt bezüglich dieser Erlebnisse zu handeln.

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Verstehen und Anerkennen, Verstanden- und Anerkanntwerden sollen im Folgenden auf Gelingen und Erfolg von Beteiligungs- und von gemeinschaftlichen Handlungen des Kommunizierens zurückgeführt werden. Dazu ist eine weitere Unterscheidung zu treffen, nämlich die von Vollzugs- und Beschreibungsperspektive gegenüber dem Handeln. Jeder Mensch weiß unverbrüchlich (bei sich selbst und bei Anderen) zu unterscheiden zwischen dem Vollzug einer Handlung und deren bloßer, sprachlicher Beschreibung, sei diese nun aus der Perspektive eines Teilnehmers an einer gemeinsamen Praxis oder aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters unternommen. Wer würde nicht den Mörder, der den Mord vollzogen hat, vom Beschreiber des Mordes, dem (an der Situation teilnehmenden) Zeugen oder dem (beobachtenden) Gerichtsreporter etwa, in allen Konsequenzen unterscheiden? Wieder ist es nicht die Lebenswelt, sondern die theoretische Distanz der Wissenschaften und der Philosophie, in denen diese zentrale Unterscheidung von Vollzug und Beschreibung abhanden kommt. Die uferlosen Debatten über Begründen und Rechtfertigen, die ja „mit irgendetwas“ anfangen müssen und deshalb angeblich auf Münchhausen-Trilemmata (Albert 1969), formalaxiomatische Theorien, unvermeidliche Definitions- und Argumentationslücken, -zirkel oder Ähnliches führen, sind Ausdruck dieser Degeneration wissenschaftlichen und philosophischen Argumentierens. Denn selbstverständlich beginnt jede Begründung einer Behauptung und jede Rechtfertigung einer Norm mit einem Handlungsvollzug. Auch Sprachhandlungen kommen nur durch Handlungsvollzüge in die Welt. Es geht also darum, an den Anfang von Begründungen und Rechtfertigungen, von Theorien und Normensystemen die geeigneten Vollzüge zu setzen. Es ist eine Grundidee des Methodischen Kulturalismus, Begründungsmodelle für Wissenschaften zu entwickeln, die in den Vollzug von Handlungen in der Lebenswelt zurückführen (Hartmann/Janich 1996). Das Programm der so genannten Prototheorien (bisher ausgearbeitet zu Physik, Chemie, Biologie, Psychologie und Informatik) (Janich 1995) mit ihrem konstitutionstheoretischen Anspruch setzt hier an. Nun ist selbstverständlich nicht zu bestreiten, dass auch das Einnehmen einer Vollzugsperspektive im Sinne eines Rückgangs auf die tatsächlichen Handlungsvollzüge eine „Perspektive“ und mithin eine Beschreibung betrifft. In einem Text etwa zur Geometriebegründung werden ja nicht selbst Zeichenebenen, Lineale und Zirkel hergestellt, sondern es wird nur darüber gesprochen. Deshalb ist der Gegensatz von Vollzugs- und Beschreibungsperspektive genauer zu bestimmen, wo dann letztere in Teilnehmer- und Beobachterperspektive zu differenzieren ist. Was ist also charakteristisch für die Vollzugsperspektive in der Handlungsbeschreibung, nachdem das Kommunizieren primär nur in der Vollzugsperspektive Gegenstand einer Reflexion werden kann? Eine Bestimmung erster Näherung lautet: Der Handlungsvollzug ist Gegenstand der Handlungsbeschreibung aus der Vollzugsperspektive. Damit ist zumindest bestimmt, dass es der singuläre Vollzug einer Handlung durch einen bestimmten Agenten zu einer bestimmten Zeit ist, um den es geht, und nicht etwa ein Handlungsschema – in der bekannten Unterscheidung von „token“ und „type“ (von Wright 1963).

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In zweiter Näherung beinhaltet die Vollzugsperspektive, dass strittige Fragen der Handlungsbeschreibung tatsächlich am Handlungsvollzug entschieden werden müssen (Dingler 1955). Niemand bestreitet, dass die Qualität einer Gebrauchsanweisung, einer Bauanleitung oder eines Kochrezepts letztlich durch Befolgen, also durch Handlungsvollzüge zu prüfen ist. Damit wird als dritter charakteristischer Zug der Vollzugs- im Unterschied zur Beschreibungsperspektive sichtbar: In der Beschreibungsperspektive lassen sich keine Handlungsanweisungen geben (auch nicht in der Teilnehmerperspektive). Anweisungen würden dabei ja nur beschrieben. Aufforderungen dagegen, die nicht etwa als Beispielsätze eines Textes diskutiert, sondern selbst als Handlungen vollzogen werden und damit an eine andere Person ergehen, durchbrechen die Grenze des Verbleibens in der Beschreibung, in der Sprache, in der Reflexion, und führen aus der Theorie heraus in die Praxis hinein: Die aufgeforderte Person kann etwa die Aufforderung sprachfrei befolgen. (Vollzogene) Aufforderungen, und damit sei das vierte Charakteristikum der Vollzugsperspektive genannt, dienen nicht nur dem Zweck, (wie im Alltag vertraut) redend eine Kooperation vorzubereiten, sondern dem Zweck der Begründung. Wenn zum Beispiel eine Theorie zur Begründung der Geometrie mit nichtsprachlichen Prozessen der Herstellung räumlicher Formen an Körpern beginnt (der schon erwähnten Herstellung von Zeichenebene und Lineal), so sind dabei die vorgeschriebenen Handlungsvollzüge nicht dem Zweck gewidmet, nun solche individuellen Objekte tatsächlich zu produzieren. Vielmehr sind die Vollzüge nur im strittigen Fall auszuführen, um nichtsprachliche Handlungen als Träger erster exemplarisch bestimmter Handlungsprädikatoren und damit erste Schritte zur Sicherung von Definitionsketten bereitzustellen. Zusammenfassend unterscheidet sich also die Vollzugs- von (jeglicher) Beschreibungsperspektive dadurch, dass die Rede über Handlungsvollzüge die ersten Schritte im Aufbau einer einschlägigen Terminologie trägt. Die Vollzugsperspektive löst damit das Anfangsproblem für Begründungen – wenigstens hinsichtlich einer Bestimmung von „Grundbegriffen“. (Über Grundsätze, „Axiome“, wird noch zu sprechen sein.) In gemeinsamer Ausführung solcher Handlungen – man denke stilisierend etwa an das Vorund Nachmachen bestimmter handwerklicher Tätigkeiten – werden die ersten Normierungsschritte einer für eben diesen Bereich des Handelns einschlägigen Terminologie bereitgestellt. Der Wirklichkeitsbezug dieses Vorgehens ist antirealistisch (im Sinne der Unabhängigkeit von einer hypostasierten, von Menschen unabhängigen Realität); er ist vielmehr pragmatisch-realistisch im Sinne eines Wirklichkeitsbezugs, in dem das Wirkliche das durch Handeln Bewirkte ist. Und dies gilt allemal für die Gegenstände des Kommunizierens.

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2. Kommunizieren als Handeln Mit diesen Unterscheidungen soll nun endlich das Kommunizieren als Handeln beschrieben werden. Zunächst einmal besteht alles, was unter Kommunizieren zusammengefasst wird, aus Beteiligungshandlungen. Nicht nur sind mindestens zwei Akteure für einen Kommunikationsprozess erforderlich, sondern sie müssen auch gleichzeitig und aufeinander gerichtet die Handlungen des Kommunizierens vollziehen bzw. zu vollziehen beabsichtigen. Dabei ist der Normalfall sprachlichen Kommunizierens zu betrachten. (Ob man auch nichtsprachliche Handlungen von Kinesis, Poiesis und Praxis dem Bereich des Kommunizierens zurechnet, ist eine nebensächliche Definitionsfrage.) Unstrittig ist, dass Kinesis und häufig auch Poiesis bei sprachlichen Handlungen des Kommunizierens beteiligt sind, etwa im Falle brieflicher Korrespondenz. Der Kürze halber soll im Rahmen dieses Aufsatzes an die Stelle einer ausgeführten Kommunikationstheorie die Erläuterung an einem einfachen Beispiel treten. Dabei soll das Wortpaar Verstehen/Anerkennen mit der üblicheren Unterscheidung von Bedeutung und Geltung sprachlicher Äußerungen verknüpft werden. Selbstverständlich greift das Beispiel nicht auf Vorentscheidungen oder Ergebnisse der analytischen Sprachphilosophie zurück, wonach Wort- und Satzbedeutungen (in einem „semantischen Holismus“) nur innerhalb ganzer Texte oder gar Sprachen geklärt werden könnten, oder wonach (in einem „bestätigungstheoretischen Holismus“) Bedeutungen niemals unabhängig von der Geltung ganzer Theorien bestimmbar seien. Vielmehr wird im Rückgriff auf alltagssprachliche Kompetenz geklärt, wie Gelingen und Erfolg eines fingierten Minimaldialogs zu bestimmen sind. Damit Bedeutung und Geltung, entsprechend Verstehen und Anerkennen getrennt behandelt werden können, besteht der fingierte Dialog allein aus Aufforderungssätzen. Wahr und falsch spielt deshalb hier keine Rolle. Freilich werden auch Aufforderungen anerkannt oder nicht. („Dialog“ heiße die folgende Kommunikation nicht im (griechisch fehlerhaften) Missverständnis von „Zwiegespräch“, sondern im Sinne einer sprachlichen Durchführung (von gr.: dia, durch) eines Gesprächs bis zu einer Entscheidung.) Eine Person A möge eine Person B nach dem Weg zum Bahnhof fragen, und B möge mit der Aufforderung antworten, einen bestimmten Weg zu gehen; unterstellt wird weiter, dass A der Aufforderung des B folgt und so den Bahnhof erreicht. Um das Problem des Verstehens von den zerredeten Problemen wissenschaftlicher und philosophischer Hermeneutiken freizuhalten, wird weiterhin unterstellt, A sei ein Ausländer, der sich im Lande des B dessen Sprache bedienen muss. A bittet B um Auskunft nach dem Weg zum Bahnhof. Dies kann nur als Beteiligungshandlung gelingen. Dazu überlegt sich A in der fremden Sprache von B, wie die Frage nach dem Weg zum Bahnhof zu formulieren ist. Der Zweck der Beteiligungshandlung von A ist also, mit der Aufforderung (sinngemäß:) „Sagen Sie mir den Weg zum Bahnhof!“ verstanden zu werden. (Eine Höflichkeitsformel wie „bitte“ wird hier der Einfachheit halber weggelassen, weil das Bitten noch einmal eine eigene sprachliche Beteiligungshandlung ist.)

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Die Beteiligungshandlung von A ist gelungen, wenn er den B (nach eigenem, d. h. des A Verständnis) mit einer verstehbaren Aufforderung angesprochen hat. Gibt etwa B darauf eine abwegige Antwort (z. B. „17 Uhr“ oder „Hermann Meyer“), so ist die Sprechhandlung von A nicht misslungen, sondern hat ihren Zweck verfehlt. B hat A missverstanden. Betrachtet man den Widerfahrnischarakter von Gelingen und Erfolg, so widerfährt es A, (1) ob ihm die (fremdsprachlich richtige) Formulierung der Aufforderung gelingt, was sozusagen unabhängig vom individuellen B und bezogen auf potenziell alle „native speakers“ der Sprache von B festzustellen ist. Dagegen widerfährt A (2) Erfolg oder Misserfolg dadurch, dass B seinerseits handelt. Im alltäglichen Beispiel völlig trivial, bezogen auf vorherrschende Kommunikations- und Informationstheorien jedoch keineswegs selbstverständlich wechselt dabei B von der Rolle des Hörers in die Rolle des Sprechers. B muss also zuerst verstehen und dann selbst, als Sprecher, die Beteiligungshandlung vollziehen, eine verständliche Antwort zu formulieren. Nun wiederholt sich das Verstehens-Spiel (aktiv) auf der Seite von A. Angenommen, B weise, begleitend zu einer Antwort, mit einer Geste in eine bestimmte Richtung (sinngemäß „Gehen Sie dort hinunter ...!“), und A reagiert sprachlos, indem er in die entgegengesetzte Richtung weggeht. Dann wird B sich überrascht fragen, ob er missverstanden wurde, womit seine Antworthandlung auch zum Misserfolg geführt hat. Im gelingenden und erfolgreichen Normalfall, der hier durchgespielt wird, um an ihm die möglichen Störungen zu reflektieren, wird A der Aufforderung von B Folge leisten. Erreicht er auf diese Weise den Bahnhof, wird A die Kommunikation mit B für gelungen und erfolgreich halten – denn zum Bahnhof zu kommen, war ja der Zweck der gesamten Kommunikation. (Hier zeigt sich die Zweckrationalität des handlungstheoretischen Ansatzes: Kommunikation wird nicht als Selbstzweck, sondern im Sinne der Vorbereitung des Handelns, allgemeiner: der Kooperation, gefasst.) Bisher wurden die Sprechakte von A und B als Beteiligungshandlungen unter den Kriterien des Gelingens und des Erfolgs betrachtet, um das Sprachverstehen zu erläutern. Dadurch ist auch erläutert, was es heißt, B habe die Bedeutung der von A verwendeten Wörter bzw. des von A geäußerten Satzes verstanden, und vice versa bei A bezüglich der Antwort von B. (Hier wird also eine Gebrauchstheorie der Bedeutung entwickelt.) Der gelingende und erfolgreiche Normalfall dieses Minimaldialogs bedarf zusätzlich der Perspektive der gemeinschaftlichen Handlung, um der Anerkennung in der geschilderten Kommunikation gerecht zu werden. Ganz im Sinne der Alltagssprache können Aufforderungen anerkannt werden, im einfachsten Falle durch (fragloses) Befolgen; aber es sind auch andere eingeübte Muster des Reagierens auf eine Aufforderung denkbar, etwa sich zu weigern usw. Fingieren wir den Fall, B weigert sich, den Weg zu nennen, (oder schickt absichtlich den armen A in die falsche Richtung). Dann ist die Aufforderung des A als gemeinschaftliche Handlung gescheitert, d. h., ihm widerfährt von B der Misserfolg, den Zweck seiner Aufforderung zu verfehlen. Misslungen ist dagegen die Aufforderung als

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gemeinschaftliche Handlung, wenn B den Sprechakt von A so versteht, dass dieser gar nicht zum Bahnhof will, sondern z. B. nur auf eine Provokation aus ist. Selbstverständlich wiederholt sich jetzt (analog dem Beteiligungshandlungs-Spiel) das Spiel der gemeinschaftlichen Handlung bezüglich der Aufforderung von B an A, einen bestimmten Weg zu gehen. Wieder im gelingenden und erfolgreichen Normalfall ist der dritte Zug (nach den Sprechhandlungen von A und B) das Befolgen der Aufforderung des B durch A. Im Erreichen des Bahnhofs schließlich wird A den Oberzweck seiner Sprachhandlung als erreicht und mithin das ganze Gespräch („Kommunikationsprozess“) als gelungen und erfolgreich beurteilen. Damit ist „kommunizieren“, das im Minimalfall zwei Agenten, zwei Sprechhandlungen und zwei Rollenwechsel einschließt, exemplarisch definiert. Hier kann das Beispiel abbrechen. Der Ansatz sollte klar sein: Auf der Sprecherseite ist das Gelingen der Beteiligungs- bzw. der gemeinschaftlichen Handlung des Redens durch Verständlichkeit und Anerkennenswürdigkeit nach den Üblichkeiten der jeweiligen Sprache bestimmt. Vom Hörer dagegen widerfährt dem Redenden Verständnis und Anerkennung durch dessen Handlungen. Dieses alles muss durch Vollzüge des Redens geschehen. Die (bezüglich des trivialen Gegenstandes) hoch komplizierte Schilderung und Analyse des Dialogs im vorliegenden Text dagegen ist in einer Beschreibungsperspektive erfolgt. Diese ist aber nur scheinbar die Perspektive eines Beobachters, denn niemand könnte die Schilderung verstehen, könnte er sich nicht selbst als Teilnehmer zumindest in die Zuhörerrolle gegenüber A und B versetzen. Mit anderen Worten, die Vertrautheit der (kulturüblichen) Aktions- und Reaktionsmuster in einem solchen alltäglichen Trivialdialog muss der Beschreiber des Dialogs schon mitbringen, um verständnisvoll folgen zu können. Es mag freilich Kulturen geben (und schon die japanische wäre ein geeigneter Kandidat), in denen sich ein solcher Dialog und insbesondere seine möglichen Störungen nicht in der geschilderten Weise abspielen würden. Abschließend lässt sich jetzt beurteilen, welchen Gewinn die handlungstheoretische Betrachtung des Redens bringt: Die unter „Kommunizieren“ zusammengefassten Handlungen des Redens und Zuhörens, des Fragens, Aufforderns, Behauptens, Bekundens, Verbindens (wie Bitten, Danken, Gratulieren, Kondolieren usw. – „Verbinden“ steht hier für die illokutionären Sprechakte im Sinne von Austin (1962), weil sie handlungstheoretisch gesehen eine Verbindung zwischen Personen herstellen, und zwar „verbindlich“) können einerseits zur Lösung der klassischen Probleme der Sprachphilosophie verwendet werden, Bedeutung und Geltung sprachlicher Äußerungen zu bestimmen, und zwar anhand von Vollzügen der tatsächlichen Sprachpraxis in der Alltagssprache. Andererseits kann jenseits von Bedeutungs- und Wahrheitstheorien (bzw. Geltungstheorien für die nichtbehauptenden Sprechakte) der Aspekt des „Gemeinsamen“ im Kommunizieren als notwendige Bedingung herausgearbeitet werden dafür, dass sprachliche Gegenstände Bedeutung und Geltung haben; und nicht zuletzt kann der Aspekt des Verantwortens angemessen berücksichtigt werden, der auch für unsere sprachlichen Handlungen de facto und zu Recht großes Gewicht hat.

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Für eine methodische Medienphilosophie kann schließlich gezeigt werden, welche Missverständnisse schon theoretischer Art die gegenwärtige fachwissenschaftliche und philosophische Debatte bestimmen. Dies soll nun im dritten Teil geschehen.

3. Technische Medien, Information und Kommunikation Das vorherrschende Verständnis von Kommunikation als Austausch von Informationen orientiert sich an einem Modell, das beherrschend ist für die „mathematische Theorie der Kommunikation“ (im Titel der deutschen Übersetzung: „der Information“) von C. Shannon und W. Weaver (1949). An ihr sind drei fundamentale Fehler zu diagnostizieren, die sich in einem zweiten Schritt auf eine Hintergrundphilosophie (die dogmatischen Beschränkungen des Logischen Empirismus) zurückverfolgen lassen. Bekanntlich ist die Kommunikations- bzw. Informationstheorie von Shannon und Weaver eine (ohne Frage höchst erfolgreiche) Lösung eines technischen Problems: Es ging um die Definition eines Maßes für die Kapazität eines (technischen) Übertragungskanals für Signalfolgen. Dafür wurde das bekannte „allgemeine Schema“ entwickelt, das aus den fünf Komponenten: (1) Nachrichtenquelle, (2) Sender, (3) Übertragungskanal (mit einem Input an Störungen), (4) Empfänger und (5) Nachrichtenziel (Synonym: Nachrichtensenke) besteht. Terminologisch gesagt gehen „Nachrichten“ von der Quelle zum Sender, wo sie zu einer „Signal“-Folge „codiert“ und ausgesandt werden, um nach (gestörtem) Durchgang durch den Übertragungskanal beim Empfänger wieder zu einer (konsequenterweise gestörten) Nachricht „decodiert“ zu werden. Im Falle ungestörter Signalübertragung vom Sender zum Empfänger besteht die Funktion des letzteren darin, mit der Decodierung die Codierung des Senders rückgängig zu machen. Für Nachricht, Signal und Störung werden keine expliziten Definitionen, sondern lediglich sehr weit gefasste Aufzählungen von Exemplaren und strukturellen Bedingungen angeboten. Man geht aber sicher nicht fehl, wenn man bei der Nachrichtenquelle und -senke an einen Sprecher und einen Hörer denkt und unter den Wörtern Sender und Empfänger im Sinne heutiger Alltagssprache Geräte versteht, etwa die jeweiligen Komponenten eines Telefons. Ungeachtet der Tatsache, wie die Autoren mit dem Definitionsproblem umgehen, Kommunikation und Information zu bestimmen, hat dieses Standardmodell drei gravierende Mängel (Janich 1998): 1. Das Schema ist monologisch und betrachtet nur den halben Durchgang eines Kommunikationsprozesses. Der Defekt dieser Halbierung liegt darin, dass ein externer Beobachter, sozusagen von einem archimedischen Standpunkt außerhalb des Systems aus, die fünf Komponenten beschreibt und zu entscheiden hat, ob der Hörer den Sprecher verstanden hat. In realen Kommunikationsprozessen (Vollzügen) jedoch müssen die Agenten selbst entscheiden, ob die Kommunikation gelungen ist und erfolgreich war. Das

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heißt, es muss genau der oben beschriebene Rollenwechsel an beiden Enden des Kommunikationsschemas stattfinden. Erkenntnistheoretisch ist das Kommunikationsmodell der klassischen Informationstheorie naiv, insofern diese ihre eigene Beobachterrolle in einem Subjekt-ObjektSchema nach klassisch-realistischem Vorbild nicht bemerkt. 2. Das Modell enthält den Fehler des Formalismus, aus der Syntax die Semantik gewinnen zu wollen. Tatsächlich wird nur das Zusammenspiel von Sender und Empfänger in einem strukturellen oder eben formalen Sinne betrachtet. Der störungsfreie Idealfall kann sich darauf beschränken, die Funktion des Empfängers im mathematischen Sinne als Umkehrfunktion der Codierungsfunktion des Senders zu definieren. Materiale oder inhaltliche Überlegungen fehlen. Dies beginnt schon bei mangelnder Sensibilität für die Tatsache, dass Bezeichnungen wie „Sender“ und „Empfänger“ erst als Folge der Technisierung, genauer der technischen Substitution menschlicher Kommunikationsleistungen, zu Bezeichnungen für elektrische oder elektronische Geräte wurden, ursprünglich aber die Rollen von Personen in einer brieflichen Korrespondenz meinten. Eine Korrespondenz ist ein Stück kommunikativer Praxis nur dann, wenn sinnvolle, verstehbare Nachrichten ausgetauscht werden. Etymologisch treffender als Nachricht wäre das Wort „Botschaft“, wonach ein menschlicher Bote (nach dem klassischen Vorbild des Läufers von Marathon) eine Botschaft überbringt: Schon in der Verschriftlichung einer Korrespondenz ist diese Leistung erfolgreich technisch substituiert. Die Pointe technischer Substitutionen bereits in der Verschriftlichung von Rede, dann des Transports von Rede durch Raum und Zeit mittels Telefon bzw. Tonträgerkonserven, ist deren spezifische Leistungsgleichheit zwischen redend ausgetauschter Botschaft und technischem Ersatz. Spezifisch ist diese Leistungsgleichheit als partielle Substitution: Wie beim Übergang vom gesprochenen Wort zur Schrift Aspekte wie Betonung, Sprechgeschwindigkeit, Stimmlage, begleitende Gestik usw. unterdrückt werden, so werden auch in technischen Substituten Aspekte des gesprochenen Wortes unterdrückt. Der Sache nach übersieht die formalistische, nur Signalstrukturen erfassende Theorie, dass aus der Syntax von Signalen keine Semantik folgen kann. Dies gilt im folgenden Sinne: Die Frage, ob eine Störung der Signalsyntax auch eine Störung der Semantik übertragener Signalfolgen nach sich zieht, kann nur der semantisch verständige Hörer entscheiden. (Im Beispiel: Ob ein verwaschener Brief oder ein verstümmelter Funkspruch, eine verwitterte Inschrift oder eine zerkratzte Schallplatte noch einen verständlichen Text transportieren, kann nur der verständige Hörer entscheiden.) Der hier begangene Fehler lässt sich sogar leicht an den im Alltag vertrauten technischen Systemen erläutern: Tatsächlich codiert ja der Sender keine Nachricht zu einer Signalfolge, sondern transformiert nur Signalfolgen in ein anderes physikalisches Medium. Das Mikrofon im Telefon bzw. im Tonbandgerät „versteht“ ja keine „Nachrichten“, sondern überträgt Schalldruckschwingungen menschlicher Rede in elektromagnetische Schwingungen. Entsprechendes gilt bei der Decodierung. (Und es wird ja heute niemand mehr das aberwitzige Programm der frühen Kyberne-

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tik oder KI-Forschung für realisierbar halten, aus der Struktur etwa der Magnetisierung eines Tonbands oder der Schallplattenrille den Sinn des gespeicherten Wortes ablesen zu wollen.) 3. Das Kommunikationsmodell der mathematischen Informationstheorie ist kausalistisch, insofern es aus der Syntax die Geltung gewinnen will. Es unterstellt einen (empirisch erforschbaren) Kausalnexus von Syntax und Pragmatik. Es muss auch im Sinne der mathematischen Kommunikations- bzw. Informationstheorie im Hörer (Nachrichtenziel) etwas passieren, um den „Effekt“, d. h. die pragmatische Wirkung der Nachricht daraufhin zu beurteilen, ob sie den Absichten der Nachrichtenquelle entspricht. Der Hörer oder Adressat muss reagieren (was von den Autoren explizit im Sinne eines kausalen Reiz-Reaktions-Schemas verstanden wird). Deshalb ist hier ein Prozess der Nachrichtenverarbeitung (beim Hörer) hinzuzunehmen. Man betrachte dazu einen Taschenrechner: Er substituiert die menschliche Leistung des Rechnens durch eine technische Realisierung festgelegter Input-OutputRelationen. Nach kausalistischer Auffassung ist es die Rechnerphysik, welche die Rechnermathematik verursacht. (Dass es sich nicht um eine bloß logisch-definitorische Relation zwischen der physikalischen Beschreibung der Rechenmaschine und der mathematischen Beschreibung von Problemlösungen handeln kann, ist leicht, aber nicht in der hier gebotenen Kürze zu zeigen.) Angenommen, der Rechner weise einen Defekt auf, der zu falschen Rechenergebnissen führt. Wären die richtigen Rechenergebnisse eine kausale Folge der richtigen Rechnerphysik, würde im Umkehrschluss ein falsches Rechenergebnis eine Falsifikation der Aussagen der Rechnerphysik logisch implizieren. Zu Recht hält jedoch niemand die Physik, mit deren Hilfe der Rechner konstruiert und gebaut ist, für widerlegt, wenn der Rechner einen Defekt hat. Ein Defekt ist vielmehr definiert durch das Verfehlen des Konstruktionszwecks. Dieser liegt, und dies ist kausalistisch verkannt, eben nicht in der Produktion irgendwelcher, sondern richtiger Rechenergebnisse – wie die menschliche Handlung des Rechnens ja auch die Produktion richtiger Ergebnisse meint. Kurz, der Zusammenhang von Rechnerphysik und Rechnermathematik besteht nur in handlungstheoretisch bestimmter Zweckrationalität: Die Rechnerphysik muss geeignete Mittel bereitstellen, den Zweck richtiger Rechenergebnisse zu realisieren. Zurückgehend auf die Informations- und Kommunikationstheorie ist zu sagen: Die Syntax des Signalübertragungssystems impliziert nicht die Pragmatik, also die Wirkungen der Nachricht eines Sprechers auf den Hörer. Vielmehr sind Gelingen und Erfolg der Anerkennung das entscheidende Kriterium, relevante von irrelevanten Störungen in den Prozessen von Codierung, Signalübermittlung und Decodierung, also „in der Syntax“ zu unterscheiden. Die Defekte des naiven Realismus, Formalismus und Kausalismus im vorherrschenden Verständnis von Information und Kommunikation sind wenig überraschend. Sie leiten sich aus der Herkunft der gesamten Auffassung ab:

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Der umfängliche Apparat von Anmerkungen und Bezugnahmen auf andere Personen im Text von Shannon und Weaver erwähnt an keiner Stelle Ch. Morris (Morris 1938). Dabei ist diese Theorie bis in die Parallelführung der entsprechenden Texte hinein die Übernahme der Semiotik, die Morris für die Encyclopedia of Unified Science des Wiener Kreises publiziert hat. Dort wird das bekannte semiotische Dreieck von Zeichen, Bezeichnetem und Interpretant (als Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem) vorgeführt und einem Interpreten zugeschrieben, der bereits radikal behavioristisch und kausalistisch erläutert wird: Ein Hund zeigt eine Reaktion (Jagen eines Eichhörnchens), wenn er an dessen Stelle das Zeichen seiner Laute (Reiz) vernimmt. Mit dieser Verschiebung auf die Maxime des Logischen Empirismus hat Morris seinerseits das semantische Dreieck von Peirce (Peirce 1983) übernommen und dabei übersehen, dass der Pragmatiker Peirce immerhin explizit fordert, dass zwei „minds“, also zwei Bewusstseinsträger an der Semiose (dem Zeichenprozess) beteiligt sein müssen – wenn auch bei Peirce fehlt, eine Kontrolle der Störungsfreiheit von Kommunikation vorzusehen, wie dies oben am Rollentausch von Sprecher und Hörer handlungstheoretisch geschehen ist.

4. Ausblick: Aufgaben einer Medienphilosophie Nachdem sich die Fachwissenschaften aus der Philosophie emanzipiert haben, ist dieser die Aufgabe der Reflexion v. a. als Nachdenken über das von den Wissenschaften Vorgedachte geblieben. Dieses Nachdenken hat traditionell theoretische und praktische Aspekte. Im hier vorgestellten Ansatz wird Kommunizieren als Handeln betrachtet und dadurch eine Verbindung von theoretischer und praktischer Perspektive hergestellt: Wo theoretisch die Kommunikation unter der Perspektive einer Zweck-Mittel-Rationalität diskutiert wird, ist praktisch die Rechtfertigung der Zwecke zu reflektieren. Mit anderen Worten: Gerade ein zweckrationales Verständnis von Kommunikation weist den Weg, Legitimationsprobleme aufzunehmen, und zwar nicht zuletzt im Verhältnis von Kommunikation und Theorie der Kommunikation. Was muss nun eine Theorie der Kommunikation leisten? Der theoretischen Seite dieser Bemühungen obliegt die Klärung von Grundbegriffen und Grundsätzen einer Kommunikationstheorie. Bezüglich der Grundbegriffe wurde oben demonstriert, wie in methodischer Ordnung bei den elementaren Formen alltagssprachlicher Kommunikation zu beginnen ist, um – in enger Verschränkung mit klassischen Fragen der Sprachphilosophie – Leistungen des sprachlichen Austausches zwischen Personen auf geklärte Begriffe zu bringen, Modi des Sprechens (wie Auffordern, Fragen, Behaupten, Verbinden, Bekunden usw.) zu identifizieren und pragmatisch durch die kulturüblichen Antworthandlungen rekonstruierend zu definieren. Die Grundsätze einer Kommunikationstheorie hängen entsprechend von den Zwecken ab, die mit der jeweiligen Theorie verfolgt werden sollen.

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So kann in der Tat unter den spezifischen Zweckbeschränkungen einer Informationsund Nachrichtentechnik die Funktion datenverarbeitender oder signalübertragender Medien (hier im Sinne von Hilfsmitteln) technikwissenschaftlich bearbeitet werden. Philosophisch spricht nichts dagegen, dies im traditionellen Sinne der mathematischen Informations- oder Kommunikationstheorie zu tun. Problematisch ist dagegen die Übertragung der im technischen Bereich gewonnenen Unterscheidungen und Grundsätze auf Gebiete, für die die Theorie nicht entwickelt wurde. Dafür gibt es aktuell zahlreiche Beispiele. Herausragend sind die Großprojekte, Informations- und Kommunikationsbegriffe auf Naturvorgänge anzuwenden. Hier ist die prinzipielle, d. h. auf Kausalerklärungen abzielende, experimentell verfahrende Vereinheitlichung kritikbedürftig, die von den kommunizierenden Röhren in der klassischen Physik über die Kommunikation mechanischer oder elektrischer Bauteile von Maschinen, die Kommunikation zwischen Organismen und Umwelt oder Organismen untereinander schließlich bis zur behavioristischen, biologistischen und naturalistischen Beschreibung menschlicher Kommunikation reicht. Kurz, die Kritik an der Naturalisierung von Information und Kommunikation, ausgehend von Theorien technischer Systeme (Nachrichtentechnik, Kybernetik, KI-Forschung, Artificial-Life-Forschung) ist eine Aufgabe einer methodischen Medienphilosophie. Legitimationsaufgaben stellen sich einer (methodischen) Medienphilosophie nicht nur auf dem Feld der Technikfolgenbeurteilung „neuer Medien“ (Sandbothe 2001). Welche Folgen die Massenverbreitung von Kommunikations- und Unterhaltungselektronik, von Internet, E-Mail, Telebanking, Teleshopping usw. hat, und welche naturwüchsigen Veränderungen das geläufige Menschenbild einerseits durch gesellschaftliche Praxen, andererseits durch die ebenfalls naturwüchsig voranschreitenden Fachwissenschaften wie Informatik, KI-Forschung, Hirnforschung, Genetik usw. erfahren, bleibt kritisch zu beobachten. Darüber hinaus gilt es aber vor allem zu bedenken, dass eine als Arbeitsteilung vielleicht noch hinzunehmende Trennung zwischen theoretischen und praktischen Fragen der Kommunikationsphilosophie nicht befürwortet werden kann. Das klassische Schema, das gerne auf die letzten 300 Jahre der Naturwissenschaften angewandt wird, empfiehlt sich für die Kommunikations- und Informationswissenschaften nicht: Die Forscher forschen zweckfrei im Feld der Grundlagen; die Techniker wenden deren Ergebnisse an und setzen sie industriell um; die Politiker regeln die sich faktisch etablierenden Praxen nach einem sich naturwüchsig einstellenden Rechtsempfinden; und wenn „alles gelaufen“ ist, treten nachträglich die Philosophen auf den Plan und diagnostizieren, welche Folgen dieser Entwicklungen bedenklich und welche ihrer Prämissen kritikbedürftig sind. Aufgabe ist es statt dessen, die Abhängigkeit der Verantwortung für technische Entwicklungen von einem adäquaten Verständnis herauszuarbeiten. Wo nachträgliche ethische Debatten zu natur- und technikwissenschaftlichen Entwicklungen und ihrer gesellschaftlichen Implementierung unterstellen, es käme auf ein adäquates theoretisches Verständnis nicht an, bleibt es bei der moralisierenden Besserwisserei ex post.

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Gerade eine neue sich etablierende Medienphilosophie hat dagegen die Aufgabe, Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik zu treiben und damit Wissenschaftskritik als Wissenschaftsphilosophie im Zusammenhang von zweckrationalem Handeln und der Rechtfertigung von Zwecken zu entwickeln. Deshalb begann dieser Aufsatz mit dem Hinweis, dass wir für unser Reden verantwortlich gemacht werden, nicht nur im täglichen Kommunizieren und nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch in der Philosophie.

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Peter Janich

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Mathias Gutmann

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Der „media turn“ scheint neben den bekannten Wenden des „lingustic“, „pragmatic“ und „culturalist turn“ eine weitere Umkehr der modernen Philosophie zu bezeichnen. Diese Wende macht sich aber bei näherem Hinsehen weder durch die Hinzunahme neuer Mittel bemerkbar, noch haben sich die Reflexionsgegenstände grundsätzlich gewandelt. Immer noch ist vom Denken, Handeln, Wahrnehmen oder Fühlen die Rede und immer noch ist eben davon (argumentierend, begründend, rechtfertigend) die Rede. Es scheint sich also eher um die Veränderung der Art und Weise zu handeln, in der von den bezeichneten Gegenständen (und zahlreichen weiteren – wie die vorliegenden Publikationen zeigen) die Rede ist. „Medium“ und „Medialität“ sind also Elemente eines bestimmten, nämlich funktionalistischen Argumentationstyps. Medien treten zum einen als Mittel auf, durch die und mit denen Menschen sich auf ihre Umgebung beziehen. Zugleich aber wird die Grundeinsicht hermeneutischer Philosophie genutzt, dass diese Bezugnahme eben auch „in“ Medien erfolgt. Zur individualistischen Perspektive der Weltkonstitution tritt immer auch der Aspekt gemeinsamer Tätigkeit, durch den und in dem sich diese individuelle Perspektive überhaupt erst artikuliert. Es wird im Weiteren eine medienphilosophische Neubeschreibung ausgewählter philosophischer Reflexionsgegenstände vorgenommen. Medienphilosophie des angestrebten Typs tritt zugleich als Medienhermeneutik auf, womit die pragmatische Ausrichtung angedeutet sei (s. Sandbothe 2001), die der klassischen Texthermeneutik ein instrumentell reflektiertes Verstehenskonzept entgegensetzt (dazu Gutmann 2003). Das Bemühen um eine begriffliche Klärung medienhermeneutischer Grundlagen schließt daher die Frage nach dem reflektierenden Umgang mit Verbreitungsmedien nicht aus; sie ist ihr allerdings kategorial vorgeordnet (dazu Janich in diesem Band), woraus sich eine doppelte Zielsetzung ergibt: 1. Zunächst soll medienphilosophisch für die eigentümliche Artikulationsbeziehung argumentiert werden, die durch und im medialen Bezug individuellen Tuns auf eine gemeinsame Tätigkeit zu Stande kommt. 2. Zugleich steht medienphilosophisch eine Neubestimmung der Rede von Vermittlung im Blick, die auf Engführungen einer, wesentlich nur am Sprechen oder Handeln (durch die Vernachlässigung der Mittelaspekte dieses Tuns) orientierten Form des Philosophierens reagiert (s. etwa Krämer in dem vorliegenden Band). Beide Vorhaben werden an einem Gegenstandspaar, nämlich Leib und Körper, durchgeführt, das auf den ersten Blick weder unmittelbar mit dem Tun des Einzelnen noch

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mit gemeinsamer Tätigkeit verbunden wird. Leib und Körper erweisen sich in der medienphilosophischen Deutung als Relate eines medialen Verhältnisses.

Grammatische Vorbemerkung Wenn vom Körper die Rede ist, so beziehen wir uns regelmäßig zunächst auf den menschlichen Körper, der gleichsam der unmittelbare, dem Einzelnen bevorzugt zugängliche Aspekt seiner Selbst wäre. Lassen wir ferner biowissenschaftliche Beschreibungen zu, so könnten wir in einem ersten Schritt sagen, der Körper bedeute die biologischen Aspekte menschlicher Existenz, dasjenige, was der Mensch mit anderen Lebewesen (Tieren) gemein hat. Als (durchaus nicht kontradiktorischer) Gegensatz zur biowissenschaftlichen Beschreibung menschlicher Existenz kann die Rede von den „sozialen“ Aspekten fungieren, sodass sich schließlich eine Natur-Kultur-Unterscheidung am Übergang von „nur körperlichen“ zu „sozialen“ Merkmalen des Menschen ausmachen ließe. Dieser Natur-Kultur-Übergang gestaltet sich argumentativ sogleich anders, wenn wir dem Körper den Leib gegenüberstellen. In diesem Fall könnten wir mit Plessner den Leib – in Anbindung an die uexküllsche Unterscheidung von Außenwelt und Umwelt – als Zentrum der Organisation von Umgebungen durch die jeweiligen Lebewesen bezeichnen. Indem das Lebewesen seine Umgebung tätig strukturiert, erarbeitet es sich zugleich „seinen“ Körper als das „In-der-Umgebung-Sein“ des Leibes. Der Leib ist dann der „lebendige Kern“, der durch den Körper die Verhältnisse zur Umgebung als seiner Umwelt herstellt und reguliert – und damit in eines sich durch dieses Tun in der Umwelt auf sich selber als Leib-Körper bezieht.1 Dem entgegen ist jedoch auch ein Bemühen auszumachen, den Leib eben nicht mit biowissenschaftlichen Bestimmungen2 zu identifizieren. Systematisch hierbei Husserl folgend, könnten wir den Leib nachgerade als dasjenige charakterisieren, was den privilegierten Zugang des Einzelnen zur Welt konstituiert – unabhängig von biologischer Beschreibung. Der Leib ist jetzt das eigentliche Konstitutionszentrum, von dem her das Subjekt als einzelnes das Wissen um diese Welt sich erwirbt – er ist der „Einlageort“ aller konstitutiven Leistungen (Husserl 1939). Der Körper gerät in diesem Konzept methodisch an die zweite Stelle. Er wird zum Ergebnis einer Beschreibung, die ihn als vermittelten Bezugspunkt des den anderen deutenden Subjektes auszeichnet. Der Körper bezöge sich mithin auf den Leib als einen Gegenstand, der unter Nutzung wissenschaftlicher Sprachstücke zu beschreiben ist. Während im ersten Fall der Bezug auf das Lebendige den Körper zu ei1 2

Plessner (1928, S. 230 ff.) für die tierliche Organisationsform und Plessner (ebd., S. 288 ff.) für die menschliche. Dies ist auch bei Plessner im weitesten Sinne zu verstehen, denn letztlich ist die Differenzierung von Leib und Körper einer (eher an Schelling als an Hegel orientierten) Naturphilosophie zuzuordnen, die der philosophischen Anthropologie, auf welcher Hermeneutik und Geisteswissenschaften aufbauen sollen, noch vorgeschaltet wird (Plessner 1928, S. 30 ff.; zur kritischen Darstellung Gutmann 2002a).

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nem naturalen Gegenstand werden lässt, ist im zweiten Fall der Leib die Grundlage dafür, von einem biologisch beschriebenen Körper als „Abstraktion“ des Leibes zu reden. Die Folgen beider Bestimmungen sind ebenso weit reichend wie gegensätzlich, denn im ersten Fall geriete die Biologie (im weitesten Sinne) in die Rolle einer Anfangsbestimmung der Rede von Körper und Leib, während im zweiten der Leib die konstitutionstheoretische Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung und damit von Wissen überhaupt bezeichnete – jeder Form von wissenschaftlicher Beschreibung also begrifflich vorgeordnet wäre. Dieser grundlegenden Differenz zum Trotz kann aber eine charakteristische Gemeinsamkeit beider Denkbewegungen festgestellt werden, der Bezug nämlich auf „Individuen“. Damit wird der Körper oder Leib zu etwas, was den Einzelnen tatsächlich zukommt – und zwar als Einzelnen. Sie sind oder haben dieses Etwas geradeso, wie sie die „Vermögen“ oder das „Können“ haben, kraft deren und dessen sie etwas können – z. B. sprechen, handeln etc. Über diese individuelle Zuschreibung scheint sich der Singular in der Rede vom Körper und vom Leib zu rechtfertigen – ja mehr noch, mit dieser Zuschreibung sind auch die Vermögen und das Können dieser Leiber oder Körper individuiert. Die Einschränkungen, die sich aus dieser, auf den ersten Blick kaum beunruhigenden Argumentation ergeben, zeigen sich, wenn die Vermögen, die das Individuum als Leib- oder Körper-Seiender oder -Habender ausmachen sollen, selber zum Gegenstand der Reflexion werden. Hier liegt eine naturalisierende Bestimmung etwa im Sinne des „Gattungswesens“ Mensch nahe, die den Einzelnen als Token des Typs Homo sapiens begreift.3 Ein Ausweg ergibt sich bei einer alternativen Deutung der grammatischen Struktur der Rede von „dem“ Leib oder „dem“ Körper. Lösen wir nämlich den Singular als generischen Singular auf und beziehen uns zunächst auf die adjektivische oder adverbiale Form, können wir Leib und Körper als substantivierende Rede von „körperlichen“ oder „leiblichen Verhältnissen“ bestimmen.4 Nun muss allerdings begrifflich die Unterscheidung zwischen „leiblich“ und „körperlich“ gemacht und zudem die Rede vom Verhältnis konkretisiert werden. Einen Hinweis können wir für beide Klärungsschritte wieder der phänomenologischen Verwendungsweise von Leib und Körper entnehmen. Sowohl bei Plessner als auch bei Husserl wurde nämlich die Rede vom Leib oder Körper nicht einfach auf „Lebewesen“ bezogen, sondern auf deren Aktivitäten. Während bei Husserl unmittelbar menschliches Tun angesprochen ist – sei es als „wahrnehmen“, „erfahren“, „denken“ o. ä. – steht hier bei Plessner die Rede vom „Leben“. Als konstitutive Kriterien des Lebendigen erscheinen solche Aktivitäten wie die Erzeugung und Sicherung der „Positionalität“ durch Produktion und Reproduktion der Körper-Mediums-Grenze, oder die Veränderung der positionalen Lebewesen-Umwelt-Relation. Einen methodischen Anfang können wir – zur Vermeidung der mit den plessnerschen Überlegungen verbundenen Biologisierung – gewinnen, indem wir uns für die Rede von „Verhältnissen“ nicht mehr nur auf das Tun und Handeln von Individuen beziehen, sondern auf gemeinsame Tätigkeit. Jedenfalls 3 4

Zur Kritik s. Gutmann (2002a), Gutmann/Weingarten (2001). Ein ähnlicher argumentativer Schachzug also wie bei Janich (1989) hinsichtlich des Raumes; zur Kritik der Substantivierung s. auch Dewey (1925).

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aber sind damit menschliche Individuen gemeint, sodass wir nicht mehr vom „Körper“ und „Leib“ dieser Individuen, sondern von deren „leiblichen“ und „körperlichen“ Verhältnissen zu reden haben. Für die Unterscheidung beider Aspekte menschlichen Tuns lässt sich auf die bemerkenswerte etymologische Nähe von „Leib“ und „life“ hinweisen (vgl. dazu Janich/Weingarten 1999). Diese Nähe legt zwar eine biologisierende Deutung nahe; eine solche lässt sich aber durch die schrittweise Einlösung der Rede vom „Verhältnis“ vermeiden.

Der Leib als Ergebnis inter-individuellen Tuns Soll „Leben“ nicht als biologische Kategorie verstanden werden, so bietet es sich an, im Rückgang auf die βίοι, die Lebensweisen von Menschen in Gemeinwesen zum Ausgang der Definition zu nehmen (Arendt 1958). Entscheidend ist dabei der Bezug nicht so sehr auf Einzelne und deren Tun, als vielmehr auf das (im Vorgriff) als „gemeinsame Tätigkeit“ zu Bezeichnende. Mit Misch ließe sich hier vom „werktätigen Lebensverkehr“ reden: „Geht man dagegen, wie wir’s, Nietzsches Hinweis folgend, taten, von dem leibhaftigen Leben aus, so ist das Erste, was bei der Verbundenheit in Betracht kommt, nicht die ideelle Beziehung von Subjekt und Objekt, sondern der reale Bezug, da die ursprüngliche Verbundenheit der Lebewesen miteinander und mit der Umwelt den ganzen Zusammenhang des Lebensverhaltens ausmacht, wie ich das darzulegen versuchte an der Gegenseitigkeit von Ausdruck und Verständnis u. s. f. im gemeinschaftlichen werktätigen Lebensverkehr. Sonach geht dem Ich das Wir voran.“ (Misch 1994, S. 259)

Die resultierenden Verhältnisse, die die Einzelnen im Vollzug des jeweiligen Tuns zueinander etablieren, sollen als inter-individuelle bezeichnet werden. Im Gegensatz zu den auf die Erkenntnisrelation bezogenen inter-subjektiven, oder die auf rechtsförmige Verhältnisse bezogenen inter-personalen Verhältnisse, sind die inter-individuellen lediglich „Anerkennungsverhältnisse“, die begrifflich noch nicht weiter bestimmt wurden. Unter dem Titel der leiblichen Verhältnisse können dann all jene Verrichtungen zusammengefasst werden, innerhalb deren und durch die sich Individuen tätig aufeinander beziehen. Fassen wir die Rede von Tätigkeiten als Anzeige gemeinsamer Tätigkeit auf, so können wir darunter die Bezeichnung von „Praxen“ verstehen, wie sie uns alltäglich im vertrauten Umgang etwa als „Häuserbau“, „Klavierspielen“ oder „Schuhmacherei“ begegnen.5 In allen diesen Praxen ist das Verhältnis, das die Individuen zueinander einnehmen, nicht unmittelbar. Da wir „Leben“ als werktätigen Lebensverkehr verstehen, werden sich vielmehr die Individuen hinsichtlich eines Dritten – nämlich der gemeinsamen Tätigkeit – zueinander in „um-zu-Motiven“ verhalten. Die Individuation der Einzelnen, d. h. die Herausbildung jener Kriterien, hinsichtlich deren wir sie als 5

Diese Beispiele sind mit Blick auf ihre einfache Struktur gewählt; für moderne Arbeitsformen ist der begriffliche Aufwand sehr viel größer.

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Individuen ansprechen, ergibt sich mithin auch nur in diesem Bezug. Ganz im Gegensatz zur grammatischen Anfangsvermutung, dass nämlich der Leib etwas ist, was ein Einzelner „haben könne“, zeigt sich uns nun also der Leib als Bezeichnung eines Verhältnisses von Individuen zueinander – und zwar ein, qua gemeinsamer Tätigkeit, vermitteltes. Unter Vermittlung wollen wir zweierlei verstehen. Zum einen ist damit der Bezug der Individuen aufeinander gemeint und zum anderen der „Selbst-Bezug“ dieser Individuen durch den je anderen auf sich. Dieser Selbstbezug soll im Weiteren als vermitteltes Selbstverhältnis bezeichnet werden. Diese Bezeichnung rechtfertigt sich dadurch, dass es sich um einen „reflexiven“ Bezug in doppelter Hinsicht handelt. Es ist „Reflexion“ sowohl im Sinne des „Sich-auf-sich-Beziehens“ qua anderem, als auch des „Sich-Spiegelns“ im anderen – und zwar beides durch das Tun am und mit dem anderen6. Wir können diese eigentümliche Doppelung mit Königs Darstellung des Mitteilens als eines „Etwas-miteinander-Teilens“ zu andeutender Klärung bringen: „Es ist der Gedanke, daß die Idee des Mitteilens der Sprache überhaupt und näher die Idee des Mitteilens in der Weise des Etwas-zu-jemanden-Sagens gar nicht im Kopf eines Einzelnen entspringen oder aufgehen kann, sondern nur im Miteinandersein und aus dem Partnersein in gemeinsamen Geschäften (wobei das Wort „Geschäft“ natürlich in recht weitem Sinn genommen werden muß). Wenn uns allererst aufgeht, daß wir und was wir bedeuten, in eben dem Augenblick, in dem uns an dem Verhalten des Anderen aufgeht, daß er versteht, daß wir und was wir bedeuten, so gilt, daß das Bedeuten (z. B. jenes Dort-drüben-äsen-eines-Rehes) nur insofern auch das ist, was wir bedeuten, als es zugleich das ist, was der Andere auffaßt als das von uns Bedeutete.“ (König 1994b, S. 533)

Das Mitteilen als ein „Etwas-miteinander-Teilen“ tritt in unserer Darstellung der Reflexion des (dem Individuum unmittelbar scheinenden) Vollzuges als Mittelgebrauch auf, in dem, an dem und durch das sich die Individuation der Einzelnen vollzieht.7

Mittel, Werkzeug, Medium Die Rede vom Mittel und den sich anschließenden Differenzierungen von Werkzeug und Medium wollen wir anhand einer Überlegung Cassirers durchführen. Demgemäß vollzieht sich alles Wissen von vornherein in je spezifischen „Bildwelten“, deren Form die „Gegenstände“ dieses Wissens bildet, hervorbringt. Dies gilt für die „unmittelbarsten“ mythischen Darstellungen der Welt, als generalisierter leiblicher Verhältnisse ebenso, wie für die Modellbildung und schließlich die reine Symbolwelt der Natur- und der Idealwissenschaften. Das Tun des Menschen kann als Anfang der Reflexion dieser symbolischen Formen bestimmt werden, insofern, als die Rekonstruktion der Bedingungen dieses Tuns aufzeigt, dass es durch diese symbolischen Formen schon je als individuelles strukturiert ist. Die spezifischen Bildwelten sind es dann auch, an denen 6 7

Exemplarisch für die Rede vom „Denken“ König (1994a); zur nicht-abbildtheoretischen Auflösung der Spiegelmetapher s. König (1937). Zur Unterscheidung von Vollzug und Reflexion s. Gutmann (2003).

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die Arbeit des Begriffs ansetzt. Und diese Arbeit geht auf die Mittel der Formen menschlicher Tätigkeit: „Die Wirklichkeit scheint für uns nicht anders, als in der Eigenart dieser Formen faßbar zu werden; aber darin liegt zugleich, daß sie sich in ihnen offenbart. Dieselben Grundfunktionen, die der Welt des Geistes ihre Bestimmtheit, ihre Prägung, ihren Charakter geben, erscheinen andererseits als ebenso viele Brechungen, die das in sich einheitliche und einzigartige Sein erfährt, sobald es vom „Subjekt“ her aufgefaßt und angeeignet wird. Die Philosophie der symbolischen Formen ist unter diesem Gesichtspunkt gesehen, nichts anderes als der Versuch, für jede von ihnen gewissermaßen den bestimmten Brechungsindex anzugeben, der ihr spezifisch und eigentümlich zukommt. Sie will die besondere Natur der verschiedenen brechenden Medien erkennen; sie will jedes von ihnen nach seiner Beschaffenheit und nach den Gesetzen seiner Struktur durchschauen. Aber, wenngleich sie sich bewußt in dieses Zwischenreich, in dieses Reich der bloßen Mittelbarkeit begibt, so scheint doch die Philosophie als Ganzes, als Lehre von der Totalität des Seins, nicht in ihm verharren zu können. Immer von neuem regt sich vielmehr der Grundtrieb des Wissens: der Trieb, das verschleierte Bild von Saïs zu enthüllen und die Wahrheit nackt und hüllenlos vor sich zu sehen.“ (Cassirer 1929, S. 3)

Das Zwischenreich der Mittelbarkeit, das zwar beständig hintergangen werden soll, das aber eben doch der vorzügliche Referent philosophischer Reflexion ist, bezeichnet jene eigentümliche Indirektheit, die sich herstellt durch den Bezug auf die Medien. Dabei verwendet Cassirer das Wort in drei Bedeutungen, denn diese Medien sind zum einen das „Zwischen“, die „Mitten“ von Subjekt und Objekt, der Relation also, die sich in der handlungstheoretischen Standardform8 als direkte Beziehung von Einzelnem und seinem Tun ergibt. Zum anderen aber bezeichnet Cassirer damit eine physikalische Metapher, die sich auf die Umgebung und ihre Eigenschaften hinsichtlich des Lichtdurchganges bezieht. So wie der Lichtstrahl beim Durchgang von einem Medium zum anderen eine Brechung erfährt, so gilt dies auch für die Reflexion dieses geistigen Bildens des Menschen in und an den symbolischen Formen, in denen und durch die sich die Wirklichkeit dem Einzelnen darstellt. Erfahrungen „macht“ demgemäß dieser Einzelne nicht unmittelbar. Es sind nicht einfach die Ergebnisse seines Tuns, sondern es ist dieses Tun in den Medien, an dem dieser Einzelne etwas erfährt. Diese Bindung des Individuellen an das Überindividuelle ergibt sich aus der dritten Wortbedeutung, der des Mittels nämlich. Es sind Mittel, durch die und mit denen der Einzelne seinen Weltzugang, sein Wissen von der Welt, seine Erfahrungen erzeugt. Und von diesen Mitteln kann ebenso wenig abgesehen werden, wie von den Medien, durch die das Licht, in der physikalischen Metapher, hindurchtritt und seine Brechungen erfährt. Nun wird von Cassirer menschliches Tun als ein Bilden im Bereich des Mittelbaren verstanden. Dieses Bilden vollzieht sich in dem Sinne in Medien, als es immer ein auf dieses „Zwischenreich“ der Zeichen und Symbolfunktion bezogenes, ein „bildendes Bilden“ ist. Die Spezifik der dabei auftretenden Mittel bestimmt daher (wie der Brechungsindex des Mediums den Lichtdurchgang) die besondere Art der Bildung, damit die besondere Art des Wissens, der Erfahrung des Einzelnen. Diese Mittel sind nicht beschränkt auf die begrifflichen Mittel des wissenschaftlichen Erkennens: 8

Damit ist die Rede bezeichnet, dergemäß „jemand etwas nach Maßgabe von Zwecken unter Nutzung von Mittel herstellt“.

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„Die Bildwelt des Mythos, die Lautgebilde der Sprache und die Zeichen, deren sich die exakte Erkenntnis bedient, bestimmen je eine eigene Dimension der Darstellung – und erst in ihrer Gesamtheit genommen konstituieren alle diese Dimensionen das Ganze des geistigen Sehraums. Man verliert den Blick für dieses Ganze, wenn man die Symbolfunktion von vornherein auf die Ebene des begrifflichen, des ‚abstrakten‘ Wissens einschränkt. Es gilt vielmehr zu erkennen, daß diese Funktion nicht einem einzelnen Stadium des theoretischen Weltbildes angehört, sondern daß sie dieses in seiner Totalität bedingt und trägt.“ (Cassirer 1929, S. 56 f.)

Die geistigen Gebilde, die Cassirer mit den drei Formen von Sprache, Mythos und (wissenschaftlicher) Erkenntnis exemplarisch benennt, sind „Bilder“ im Sinne eines Gegenstandes „mittlerer Eigentlichkeit“9. Denn erst durch sie hindurch kann das Tun des Einzelnen ausgedrückt, dargestellt und begriffen werden; ein Absehen davon wäre vergleichbar mit dem Bemühen, naturwissenschaftliche Beschreibungen zunächst unter Nutzung bestimmter Mittel herzustellen und dann in einem zweiten Schritt die erhaltenen Sachverhalte unter Absehung von diesen Mitteln, „rein als solche“ darzustellen. Ebenso wenig können wir bei der geschnitzten Holzfigur darauf verzichten, uns auf die Mittel ihrer Erstellung zu beziehen, wenn wir verstehen wollen, wie sie so zu Stande kam. Erst die Vergewisserung der Art und Weise der Hervorbringung, der dabei verwandten und zu diesem Behufe selber hergestellten Mittel, gestattet die Verbindung von dem, was da getan wird, zum Begreifen dessen, was da getan wurde. Es wird also durch die symbolischen Formen nicht nur der Bezug zwischen dem Tun des Individuums und den für es unhintergehbaren, überindividuellen Aspekten der gemeinsamen Tätigkeit (etwa in der Form der Sprache, der Technik, des Mythos etc.) hergestellt, es ist vielmehr zugleich das Zustandekommen der jeweiligen Bildungen im Blick; und zwar durch den reflexiven Bezug auf die Formen und Bildungen, auf die Werke dieser Tätigkeit: „Die Sprache scheint sich vollständig als ein System von Lautzeichen definieren und denken zu lassen – die Welt der Kunst und die des Mythos scheint sich in der Welt der besonderen, sinnlich-faßbaren Gestalten, die beide vor uns hinstellen, zu erschöpfen. Und damit ist in der Tat ein allumfassendes Medium gegeben, in welchem alle noch so verschiedenen geistigen Bildungen sich begegnen. Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Ausdruck bedient. Gelänge es, einen systematischen Überblick über die verschiedenen Richtungen dieser Art des Ausdrucks zu gewinnen – gelänge es, ihre typischen und durchgängigen Züge, sowie deren besondere Abstufungen und inneren Unterschiede aufzuweisen, so wäre damit das Ideal der ‚allgemeinen Charakteristik‘, wie Leibniz es für die Erkenntnis aufstellte, für das Ganze der symbolischen Funktion als solcher erfüllt. Wir besäßen alsdann eine Art Grammatik der symbolischen Funktion als solcher, durch welche deren besondere Ausdrücke und Idiome, wie wir sie in der Sprache und in der Kunst, im Mythos und in der Religion vor uns sehen, umfaßt und generell mitbestimmt würden.“ (Cassirer 1923, S. 18 f.)

Die Äußerungen des „Geistes“ sind es, die die Symbolfunktion „als solche“ zu bestimmen erlauben und die durch sie bestimmt werden. Die Aufgabe der Philosophie ist es, jene Reflexion menschlichen Tuns vorzunehmen und zwar nicht als inspectio mentis, sondern vielmehr in Anlehnung an Hegel als wirkliches Auseinanderlegen der Mittel und Formen dieses Tuns. Dieses Tun ist im Sinne der dritten Bedeutung des Mediums 9

Dazu König (1937).

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an spezifische Mittel gebunden. Wir können für diese Rede vom Mittel drei Bedeutungen unterscheiden, die sich nur z. T. mit der von Cassirer für die Rede vom Medium angegebenen decken. Zunächst sollen als Mittel jene (stofflichen wie nicht-stofflichen) Gegenstände gelten, mit denen Individuen ihr Tun als ein Handeln zu Zwecken organisieren. Man denke hier exemplarisch an den Schraubenzieher, die Hobelbank, aber auch den Warnruf oder allgemeiner die Aufforderung. In allen diesen Fällen geht das Mittel, das da gebraucht wird, in seinen Gebrauch auf. Das heißt, es ist in einem gewissen naiven Sinne „kontextgebunden zweckorientiert“. Mittel und Zwecke erweisen sich aber schon im ersten Klärungsschritt als Relationsbegriffe. Nun ist es unstrittig so, dass Mittel, die zu einem bestimmten Zweck gebraucht – und möglicherweise historisch dazu her- oder bereitgestellt – wurden10, sich auch zu anderen Zwecken verwenden lassen. Bezeichnen wir mit dem Gebrauch eines Mittels den „Einführungszusammenhang“ desselben11, so können wir terminologisch davon die Verwendung von Mitteln zu weiteren Zwecken als den („ursprünglichen“) Gebrauchszwecken abgrenzen. In Erweiterung der Darstellung bei Rohbeck (1993) ist der Gebrauch von Mitteln in der handlungstheoretischen Standardform wie folgt zu beschreiben: gemeinsame Tätigkeit c E(Zv)⇒M(v),Ed(v)⇒M(a),P(Z(r))/NP⇔E...12 Werden Mittel im Gebrauch auf Mittel bezogen, d. h. dienen sie zur (identischen) Reproduktion der Mittel, so wollen wir von Werkzeugen sprechen. Die Reproduktion der Mittel kann ihrerseits als Verwendung von Werkzeugen angesprochen werden, sodass eine bestimmte Verwendung von Werkzeugen als „Entwicklung“ von Mitteln zu verstehen ist. Mittel werden also als Reproduktion von Mitteln im Sinne von Werkzeugen entwickelt. In dieser Funktion gehen sie nicht in die Zwecke des Gebrauches auf. Schließlich können Werkzeuge selber zu Mitteln, nämlich zu Mitteln der Reproduktion der Gemeinwesen werden, innerhalb deren sie im Rahmen gemeinsamer Tätigkeiten als Werkzeuge fungieren. In dieser Funktion wollen wir nun von Medien reden.13 Als Medien lassen sich u. a. Sprache und Technik ansehen, also gerade jene beiden besonderen symbolischen Formen, die innerhalb des cassirerschen Konzeptes durch den doppelten Aspekt des „Hervorbringens“ wie der „Hervorbringung“ gekennzeichnet sind.

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Die Rede vom Erfinden oder Entdecken ist hier zu vermeiden, denn wir werden durch den Bezug auf gemeinsame Tätigkeiten letztlich von der Entwicklung (von Zweck-Mittel-Verhältnissen) reden; dazu Gutmann (1999). Diese Rede ist nicht historisch gemeint. Hierbei bedeutet E die Edukte nach Z(v), dem vorgesetzten Zweck, M(v) das Mittel vor und M(a) nach der Verwendung, P (Z(r)) das Produkt als realisierter Zweck, NP die Nebenprodukte. E... soll auf den Bezug der Einzelnen auf dieses Handeln hinweisen. Damit ist also im Gegensatz zu Vogel (2001) und hier Hegel folgend, ganz bewusst der Bezug auch zum Umgang mit stofflichen Gegenständen hergestellt.

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Der Leib als Anzeige vermittelter Selbstverhältnisse Wir müssen nun noch die interindividuellen Aspekte des individuellen Tuns in seiner Beziehung zur gemeinsamen Tätigkeit erläutern. Dazu wird terminologisch zwischen Tun und Handeln auf der einen Seite, zwischen gemeinsamer Tätigkeit und Arbeit auf der anderen unterschieden. Im Gegensatz zum Handeln ist das Tun nicht nach Maßgabe eines Zweck-Mittel-Schemas organisiert und artikuliert. Es liegt ihm der Sache nach „voraus“ und bezeichnet ein „umgängliches“ Wissen, das noch nicht in „Know-how“ und „Know-that“ differenziert ist. Die Rede vom Handeln hingegen weist diesen Zweck-Mittel-Bezug konstitutiv schon auf. Es ist artikuliert in Hinsicht auf die Nutzung von Etwas an Etwas als Mittel zu Zwecken. Es liegt mithin eine Form der Reflexion im Vollzug vor, denn dem handelnden Einzelnen ist angelegentlich seines Tuns die Differenzierung von „Know-that“ und „Know-how“ möglich. Tun und Handeln sind nun ihrerseits zu beziehen auf gemeinsame Tätigkeit. Unter gemeinsamer Tätigkeit können durchaus allgemeine Bezeichnungen von Praxen verstanden werden, wie sie uns exemplarisch im „Handel-Treiben“, im „Schuhe-Machen“ oder im „Klavier-Spielen“ entgegentreten. Diese Tätigkeiten werden artikuliert durch den Bezug auf das individuelle Tun und Handeln, auf die „Träger“ dieser Tätigkeit. Eine Reflexion dieser Vollzüge erbringt schließlich den Begriff der Arbeit. Hier kann als allgemeine Arbeit die Reproduktion des Gemeinwesens selber gelten. Die Mittel, die dem Individuum in seinem Handeln vorfindlich sind, werden nun nicht mehr nur als Werkzeuge reproduziert, sondern diese werden selber zu den Mitteln der Reproduktion des Gemeinwesens – und zwar im Sinne der identischen wie der nicht-identisch erweiterten Reproduktion. Die Rede von der allgemeinen Arbeit bedeutet nicht zunächst eine ökonomische Beschreibung der Tätigkeit. Vielmehr ist die ökonomische Bestimmung der Arbeit nur ein Aspekt bei der Reflexion der Reproduktion von Gemeinwesen. Wir gelangen durch den Ausgang von gemeinsamer Tätigkeit zu dem Aufweis, dass sich bei der Rede vom Handeln das Tun Einzelner auf dieses – etwa als Gebräuche – Gemeinsame bezieht. Die Zwecke und Mittel der Artikulation dieses Tuns sind dem individuellen Tun unhintergehbar. Tun als Handeln wird so zur „vermittelten“ Tätigkeit in dem Sinn des Bezuges dieses „wirklichen individuellen Tuns“ auf die vom Einzelnen verwandten Mittel. „Der Leib“ – bezogen auf die Beschreibung des Tuns – wird zur Anzeige eines „vermittelten Selbstverhältnisses“. An Stelle des Einzelnen, der in handlungstheoretischen Ansätzen den Anfang der Überlegungen ausmacht, finden wir die Rede von der „Tätigkeit“ oder – bezogen auf den Einzelnen – das „Tun“ in der Mitte eines Verhältnisses, das wir skizzenhaft wie folgt beschreiben können: gemeinsame Tätigkeit c ⇔T(M(Gegenstand-Gegenstand)) L(Indiv.-Gegenstand)⇔

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Dabei bezeichnet „M“ die Mittel, „T“ das Tun und „L“ die leiblichen Verhältnisse. Während M das „Aneinander-Wirken“ von Gegenständen bedeutet, ist „der Leib“ in Bezug auf diese gegenständliche Tätigkeit bestimmt (als „mein“ Tun nämlich). Dabei ist das Tun des Einzelnen immer auf das Tun anderer bezogen. Dies gilt in dem ganz trivialen Sinn, dass wir den Gebrauch von Mitteln in Anspruch nehmen mussten, um überhaupt erläutern zu können, was es heißt, dass da ein Einzelner handele. Der Bezug dieses Handelns auf das Tun anderer stellt sich durch und über die Mittel und deren Gebrauch her. Insofern das Tun der anderen jene Mittel bereitstellt und das Wissen, welches zu ihrem Gebrauch benötigt wird, ist es mir möglich, meine Zwecke zu realisieren. Die Beschreibung von Gegenständen als Mittel, die Beurteilung der Adäquatheit von Mitteln zu Zwecken, die ich ergreifen kann oder nicht, dies alles ist dadurch möglich, dass ich mich beständig schon in einer Umgebung befinde, in der das Tun der anderen als Handeln strukturiert wird. Damit ist das Tun des Einzelnen in das Tun der anderen nicht nur einbezogen; es wird vielmehr durch dieses qua Mittel auch strukturiert. Indem der Einzelne Mittel gebraucht, bezieht er sich also auf andere und zwar in zwei Hinsichten: 1. Qua Gebrauch der Mittel; denn dieser ist weder am Mittel (also an seiner physikalischen Struktur) abzulesen, noch einfach vorhanden, sondern in der Tätigkeit erst zu erarbeiten. 2. Qua Gegenstand, insofern er ein Mittel ist. Durch diesen Gebrauch dieser Gegenstände kommt das Erfahren als ein Wissen um die Widerständigkeiten des Gebrauches zu Stande. Indem die Einzelnen sich aufeinander in der dargestellten Form beziehen, produzieren sie etwas, nämlich Gegenstände, die sich ihrerseits auf Mittel beziehen. Auf der Ebene des Handelns liegt ein einfacher Mittelgebrauch vor, der als Erfindung oder als Reproduktion beschrieben werden kann. Auf der Ebene jedoch der gemeinsamen Tätigkeit kann dieser Vorgang als Zirkulation von Mitteln verstanden werden, wobei die Rede von der Zirkulation einen Sprachebenenwechsel andeutet, da Mittel im Gebrauch des einen in der handlungstheoretischen Standardform zum Gebrauch durch die anderen bereitgestellt werden. Unter Nutzung der oben erarbeiteten Unterscheidungen heißt das: 1. Indem die Mittel durch das Gebrauchen des einen in den Gebrauch des anderen gebracht werden, kann innerhalb der gemeinsamen Tätigkeit eine „Arbeitsteilung“ dergestalt einsetzen, dass der eine Gebrauch durch den einen, der andere durch den anderen weiterbetrieben wird. Der Gebrauch des Mittels artikuliert also gemeinsames Tun durch das Handeln der Einzelnen (M(v)). 2. Mit Bezug auf den als E(v) auftretenden Gegenstand kann wiederum eine solche Arbeitsteilung stattfinden, dass iteriert Mittel auf Mittel bezogen werden. Auch im Bereich der Edukte kommt es so zu Werkzeugen und zur Reproduktion der Mittel – als Artikulation der gemeinsamen Tätigkeit. Hier können die auf der Ebene der einzelnen als Zwecke auftretenden Sachverhalte als Mittel (und umgekehrt) gebraucht werden. Diese „Umdeutung“ ereignet sich in gemeinsamer Tätigkeit, ohne dass in-

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nerhalb des Tuns ein Zweck formuliert werden müsste, gemäß dessen einer dieses als Mittel oder als Zweck auffasst. 3. Auch der Gebrauch der Mittel und die aus der Veränderung der Gebräuche hervorgehenden Werkzeuge können in eine Arbeitsteilung dergestalt einbezogen werden, dass nicht nur Einzelne im Gerbrauch desselben Mittels Varianten des Gebrauchs erzeugen. Vielmehr kann der Gebrauch zum Gegenstand des Tuns Einzelner werden – man denke für diese nicht-identische Reproduktion der Mittel im Gebrauch (also M(a)) an die Tätigkeiten des Ingenieurs. 4. Nun ist auch der Umgang mit den Produkten in der Weise in gemeinsame Tätigkeit eingebunden, dass die Funktionen, die sich auf der Ebene des Individuums als einzelnes Handeln beschreiben ließen, sein jeweiliges Tun als „Äußerung“ seines „wirklichen individuellen Lebens“ auf mehrere und ihre Interaktionen verteilt sind. Das, was sich hinsichtlich eines Gebrauchs als Nebenprodukt ergibt, kann bezüglich eines anderen als Edukt oder gar als M(a) angesprochen werden etc. Das also, was oben aus der Perspektive des handelnden Individuums als ein Gebrauchen oder Verwenden von Mitteln zu Zwecken beschrieben wurde, zeigt sich durch Rückbezug auf gemeinsame Tätigkeit als Zirkulation. Diese Zirkulation wird artikuliert durch die jeweiligen Aspekte der Zweck-Mittel-Relation, die in diesem Sinne dem Handeln der Einzelnen „zugrunde liegt“. Dies gilt sowohl für die hier zur Erläuterung genutzten technischen Zusammenhänge wie für sprachliche, wobei dann die Mittel (etwa als „Ausdrücke“) spezifisch verschieden sind. Die Zirkulation begreift alle Aspekte der Zweck-Mittel-Relation ein. Das heißt, es zirkulieren nicht nur die M(a), sondern auch die P, E etc. Da die P auf der Ebene des Handelnden als Zwecke auftreten, können wir daher die etwas paradoxale Formulierung von der „Zirkulation der Zwecke“ wählen. Nun ist die Zirkulation nicht einfach ein Handeln; vielmehr haben wir sie, durch den Sprachebenenwechsel angezeigt, als eine „Bedingung“ für das Handeln der Einzelnen beschrieben. Die Reproduktion der Werkzeuge, die sich immer wieder als das Handeln der Einzelnen darstellen lässt, wird durch das „Vorliegen“ gemeinsamer Tätigkeit nicht nur ermöglicht. Vielmehr erzeugt die durch die Mittelverwendung strukturierte, gemeinsame Tätigkeit im Handeln die Bedingungen ihrer Reproduktion. Dieses Verhältnis von Werkzeugen und ihrer Reproduktion als Mittel der Reproduktion gemeinsamer Tätigkeit, wurde von uns oben als „Medium“ bezeichnet. Die Ausarbeitung des „Werkzeug-Aspektes“ des Mediums erweist dieses nun zudem als Anzeige eines Verhältnisses von Individuum und Gemeinwesen bzw. von individuellem Handeln und gemeinsamer Tätigkeit in Hinsicht auf die Reproduktion der Mittelverhältnisse, die diese gemeinsame Tätigkeit artikulieren. Medium ist damit ein Verhältnis von Verhältnissen. „Innerhalb“ von Medien, d. h. angelegentlich der Verwendung stofflicher oder nicht-stofflicher Mittel und Werkzeuge sowie der Reproduktion derselben, wird ein Bezug des Einzelnen qua seines Tuns nicht nur zu den Mitteln dieses Tuns und seinen Resultaten hergestellt. Es findet vielmehr auch ein Bezug auf sich selber statt. Die mediale Artikulation vollzieht sich also nicht nur hinsichtlich gemeinsamer Tätigkeit (und weiterführend auch der Arbeit) als vielmehr zugleich auch an dem Einzelnen selber – und zwar durch sein

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Handeln in Medien. Diesen Selbstbezug, der seinerseits ein vermittelter ist, wollen wir als Artikulation des Leibes – als leibliches, interindividuelles Verhältnis – in den Medien dieses Tuns und dieser Tätigkeit bezeichnen.

Der Körper als modellierende Reflexion leiblicher Verhältnisse In einem letzten Schritt können wir zum „Körper“ fortschreiten, indem wir mit der Rede von „dem Körper“ einen Sprachebenenwechsel anzeigen, nämlich den Übergang zur wissenschaftlichen Behandlung leiblicher Verhältnisse. Ganz analog zum Leib beziehen wir uns mit der adjektivischen Wendung „körperlicher“ Verhältnisse wieder auf gemeinsame Tätigkeiten. Dieser Bezug wird im Rahmen eines als „hypothetische Attribution“ bezeichneten, mehrschrittigen Verfahrens hergestellt, welches bei interindividuellen Verhältnissen einsetzt. Während aber die Artikulation dieser Verhältnisse als leiblicher im Vollzug stattfindet, besteht die Attribution körperlicher Verhältnisse in der Reflexion der leiblichen. Zunächst ist dazu eine gegenseitige Beschreibung leiblicher Verhältnisse unter Nutzung der Werkzeug-Gegenstands-Relation vorzunehmen, wobei die Symmetrie der Relation durch die Möglichkeit des Rollentausches sicherzustellen ist. Die Unterscheidung von Mittel und Werkzeug verläuft dann allerdings quer zu jener von „natürlich“ versus „künstlich“.14 Sie bezeichnet nunmehr die Art der Verwendung von Gegenständen etc., die diese als Mittel oder Werkzeuge charakterisiert. Exemplarisch betrachte man den Fall, in dem leibliches Tun vollzogen wird, also z. B. um zu heben, tragen, stemmen etc. An dieser Stelle erfolgt ein Sprachebenenwechsel zur Rede von körperlichen Verhältnissen. Hierzu wird eine technische Normsprache als Strukturierungsvorschrift genutzt. Der als Mittel beschriebene „Leib“ wird zum Werkzeug, sodass in der technischen Normsprache15 Vorschläge zur Verbesserung oder Veränderung des Einsatzes des „Körpers“ gemacht werden. Die Adäquatheit der Verwendung technischer Beschreibungssprachen wird im jeweiligen Einsatz am Erfolg der durchzuführenden Handlungen überprüfbar. Die beschriebenen leiblichen Teile lassen sich als Strukturen bezeichnen. Methodologisch handelt es sich um den Übergang von der nur metaphorischen zur modellierenden Strukturierung16 leiblicher Verhältnisse. Setzt man das Ziel der Attribution in der erfolgsorientierten Veränderung des körperlichen Einsatzes, so lassen sich in einem dritten Schritt Handlungsaufforderungen formulieren. Da 14 15

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Dazu Gutmann (1999). Die Attribution fußt also auf der modellierenden Beschreibung und Strukturierung des Leibes, als ob er etwa eine Arbeitsmaschine sei. Die Modellierung als Arbeitsmaschine ist hier nur der Einfachheit der mechanischen Verhältnisse wegen gewählt. Es lassen sich selbstverständlich auch Bezüge zu anderen Mitteln oder Werkzeugen innerhalb gemeinsamer Tätigkeit herstellen – man denke exemplarisch an die Beschreibung des Herzens als einer Pumpe oder des Gehirns als einer informationsverarbeitenden Maschine. Hierzu im Detail: Gutmann (2002b). Dazu weiterführend Gutmann/Hertler (1999).

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diese ihrerseits im leiblichen Einsatz auf den Erfolg hin überprüft werden, liegt eine hypothetische Selbstattribution vor. Wir können dieses Verfahren aber auch als hypothetische Fremdattribution nutzen, wenn wir exemplarisch den Übergang zur Strukturierung körperlicher Verhältnisse nicht-menschlicher Lebewesen machen. Dabei handelt es sich um asymmetrische Attributionen, die aber wiederum in Handlungsanweisungen einmünden und am Erfolg überprüft werden können. Selbstverständlich ist die hier nur in den Anfangsschritten vorgestellte Prozedur zu iterieren, um entweder zu immer weiter gehenden Strukturierungen körperlicher Verhältnisse auf derselben Modellgrundlage, oder zur Erweiterung der Strukturierung durch Nutzung anderer Modellformen zu gelangen. Beides ist sowohl im medizin- wie im biowissenschaftlichen Zusammenhang von systematischer Bedeutung. Während die leibliche Artikulation interindividueller Verhältnisse zu vermittelten Selbstverhältnissen im Vollzugssinn führt, ist dies bei körperlichen Verhältnissen anders. Gleichermaßen fungiert aber hier wie dort die Rede vom „Haben“ eines Leibes oder Körpers als Besitz eines Individuums uneigentlich – wiewohl sie grammatisch nahe liegt. Denn es handelt sich auch hier um ein gedoppeltes Reflexionsverhältnis. Von dem als Körper beschriebenen Leib kann der Übergang zu wissenschaftlichen Darstellungen gemacht werden, was den Geltungsbereich der resultierenden Beschreibung entsprechend einengt. Die Aussage, dass ein Einzelner „einen Körper“ habe, ist also nurmehr die metaphorische Anzeige einer attributiven Beschreibung, die ihren systematischen Ort – zumindest im Anfang – nicht in lebensweltlichen Zusammenhängen hat.

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MEDIENPHILOSOPHIE DER SPRACHE

1. Alle Themen des Medialen kulminieren in der Betrachtung von Sprache. Sprache selbst erscheint als ausgezeichneter Zugang zur Welt, darüber hinaus als bevorzugter Modus von Darstellung und Verständigung und insoweit als Medium par excellence. Sämtliche medienphilosophischen Entwürfe und Fragestellungen berühren und reiben sich am Thema der Sprache, ihrer internen Struktur und ihrer Beziehung zur Wirklichkeit. Sie gerät mithin zum Modell, zum generellen Paradigma und zugleich zum Prüfstein jeder gelingenden Medientheorie, wie diese auf der anderen Seite in der Sprache ihre schärfste Herausforderung findet. Dies mag daran liegen, dass die Sprache als privilegierter Ort kultureller Bedeutungsproduktion gilt. Seit dem linguistic turn (Rorty 1967) in der Philosophie und den Wissenschaften hat sie in Bezug auf die Konstitution des Sinns den Status eines transzendentalen Prinzips eingenommen. Jedes Verstehen, aber auch jede Repräsentation, jede Beschreibung und Bestimmung von Welt obliegt der Sprache, und zwar in der doppelten Hinsicht, dass – negativ – ohne Sprache keine Deutung von Welt und keine Verständigung über sie möglich wäre, sowie, dass – positiv – Sprache unsere Welt- und Selbstverständnisse ebenso bildet wie hervorbringt: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache,“ heißt es bündig in Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode (Gadamer 1972, S. 450). Entsprechend erweist sich die Sprache für Gadamer als „das universale Medium, in dem sich das Verstehen selber vollzieht. [...] Alles Verstehen ist Auslegen, und alles Auslegen entfaltet sich im Medium einer Sprache.“ (ebd., S. 366) Folglich wäre sie als vermittelnde und konstituierende Instanz „unhintergehbar“ (Apel 1976) wie gleichermaßen Medium aller Medien, weil die Sprache als Bedeutungsgeber jedem besonderen Medium immer schon vorausginge. Wenn also von einer Medienphilosophie der Sprache die Rede ist, bewegt man sich sofort auf dem Terrain der Transzendentalphilosophie, wenn auch einer „transformierten“ (Apel 1973). Dabei steht in deren Zentrum freilich nicht länger, wie noch bei Immanuel Kant, die Struktur der Subjektivität des Subjekts, sondern die Struktur einer universellen Sprachkompetenz und deren syntaktische, semantische und pragmatische Regeln. Einer der Ersten, der – neben Vorläufern wie Johann Gottfried Herder, Johann Georg Hamann und Wilhelm von Humboldt – eine solche sprachphilosophische Wende einleitete, war Ludwig Wittgenstein (1989) mit seinem Tractatus logico-philosophicus. Die

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abrupten Sentenzen des schmalen Buchs, das die Philosophie revolutionieren sollte, bergen nicht weniger als eine komplette Medienphilosophie der Sprache. Zwar reduzierte Wittgenstein die sprachliche Ordnung auf die logische, doch ist das Entscheidende die Entdeckung der Sprache als Medium alles Denkens und mithin auch alles Urteilens, Wissens und Deutens. Von dort aus ist der Kreis der Apriorität der Sprache stetig ausgeweitet worden: von den Grundlagen der Wissenschaften, wie sie vor allem der logische Positivismus des Wiener Kreises betrachtete, über die Fundamente des Sozialen und der Interaktion bis zur genuinen Sprachlichkeit von Psyche, Geist, Geschichte, Kunst, Ritual und Handeln. Es verwundert darum nicht, dass die verschiedensten Medientheorien in ihren Grundansätzen vom Vorbild der Sprache ausgingen. Nicht erst seit den technischen Innovationen der letzten Jahrzehnte, in Sonderheit der elektronischen und digitalen Medien, ist das Thema virulent, sondern bereits durch den Übergang von der Subjekt- bzw. Bewusstseinsphilosophie der Aufklärung zur Sprach- und Zeichenphilosophie des frühen 20. Jahrhunderts, deren Meilensteine neben Ludwig Wittgenstein Charles Sanders Peirce, Martin Heidegger und Ferdinand de Saussure setzten. Zwar formulierten diese jeweils unterschiedliche Positionen, doch konvergieren sie in der bemerkenswerten Tatsache, dass für sie Sprache nicht als passives Ausdrucksmittel eines inneren Denkens fungiert – eine Haltung, deren Einfluss noch bis ins späte 19. Jahrhundert spürbar ist und deren Überwindung mühsam durch Wilhelm von Humboldt, Wilhelm Dilthey, Gottlob Frege und Friedrich Nietzsche vorbereitet wurde. Denn galt vormals die Sprache als bloßes „Werkzeug“ (organon), das, wie es Aristoteles in seiner Schrift Peri hermeneias wirkungsmächtig postulierte, die „Abdrücke“ (pathémata) der Dinge (pragmata) in der Seele (psyché) abbilde – Aristoteles spricht von „Entsprechungen“ (homoiomata) (Aristoteles 1994, S. 3-6) –, avancierte sie umgekehrt für Wittgenstein, Peirce, Heidegger und Saussure zum entscheidenden Einfallstor, durch das wir überhaupt erst zu einem Begriff von Wirklichkeit gelangen. Dann ‚ent-deckt‘ Sprache die Struktur des Realen wie sie dessen Sinn buchstäblich ‚erspricht‘, sodass nichts existiert, was nicht bereits durchs Nadelöhr der Sprache und ihrer Bedeutungen gegangen und durch sie geprägt und umgeprägt worden ist. Entsprechend gibt es auch keine Unschuld der Wahrnehmung, die uns die Dinge unverstellt darböte, sondern es gibt zunächst nur die Sprache, durch deren Raster wir lernen, die Dinge zu unterscheiden und ihnen abgrenzbare Konturen aufzuerlegen. Erst die Sprache lässt schauen, hören, fühlen und begreifen: Die ‚Welt‘ offenbart sich als das Produkt unserer Klassifikationssysteme, unserer Einteilungen und Interpretationen; sie ist das Ergebnis sprachlicher Konstruktionen, sodass sie diesen nicht vorausgeht, sondern nachfolgt. Rückt damit die Sprache in die Rolle eines apriorischen Konstituens, haben sich alle späteren Medientheorien, die in den Medien einen ähnlich universalen Rang erblickten, darauf bezogen. Wie Sprache eröffnen Medien Zugänge zur Welt, freilich Bilder anders als Musikstücke und technische Übertragungsmedien anders als Speichermedien; sie strukturieren darüber hinaus, ebenfalls wie Sprache, Wirklichkeiten – Kommunikationssysteme wiederum anders als Architekturen oder mathematische Kalküle; und sie determinieren, gleichermaßen wie Sprache, was sie aufschließen – sie erteilen dem

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Hervorgebrachten gleich einem „Dispositiv“ ihre Prägung, ihre Form (vgl. Mersch 2002b, S. 54 ff.). Das heißt aber, dass wir es offenbar mit einer nicht zu tilgenden Zweideutigkeit zu tun bekommen: Erweist sich nämlich die Sprache als maßgeblich für das Denken des Medialen, lässt sich auf der anderen Seite die Sprache selber nicht als Medium betrachten, weil sie der Medialität des Mediums bereits voraus wäre. Ihre eigene Medialität bliebe dann entzogen. Jede Medienphilosophie der Sprache hält sich in dieser Verwirrung und verharrt auf diese Weise im systematisch Unentschiedenen. Entsprechend wäre das Verhältnis von Sprache und Medium umzukehren: nicht die Sprache ist Medium, sondern, indem es von dieser seine durchgängigen Bestimmungen empfängt, ähnelt jedes Medium einer Sprache.

2. An Sprache auffällig ist vor allem ihre Ordnung; sie bildet nach Saussure ein „System“, eine „Form“ (Saussure 1967, S. 146). Ist diese seit je auf Logik reduziert worden – eine Wahl, die eine Vorentscheidung für den Vorrang des Denkens schon getroffen hat –, kann sie semiologisch als eine symbolische Ordnung definiert werden, die das logische Präjudiz dadurch vermeidet, dass ihr Grundbegriff das Zeichen ist. Keineswegs ist diese Charakterisierung selbstverständlich, vielmehr ist sie seit Humboldt immer wieder bestritten worden (vgl. Humboldt 1968, S. 427 ff.; Grice 1957, S. 379; Stetter 1999, S. 21 ff.), doch verdankt sich der Zusammenhang von Sprache und Medium dieser Analogie mit Zeichen – ja, es lässt sich sogar behaupten, dass die Semiotik überhaupt erst die Brücke zwischen Linguistik und Medientheorie schlägt. Tatsächlich legen eine Reihe von Ähnlichkeiten die Wahlverwandtschaft zwischen Semiotik und Linguistik nahe. Denn nicht nur gleichen Worte als Elemente der Rede Zeichen als Elementen eines Zeichensystems, sondern beide – Sprache und Zeichensystem – lassen sich nach Morris (1988) in Syntax, Semantik und Pragmatik unterteilen. Für beide sind zudem die Merkmale der Lesbarkeit und der Unendlichkeit der Interpretation maßgeblich, beide genügen einer Form von Grammatik, für die gleichermaßen Wiederholbarkeit und Regelhaftigkeit kennzeichnend sind, wie ebenfalls ein Zeichen sowenig alleine und nur einmal vorkommen kann wie ein Wort oder ein Satz in der Sprache (Wittgenstein 1971, S. 105). An Zeichen fällt jedoch vor allem ihre relationale Struktur auf. Die Untersuchung der Medialität, wo sie beim Zeichen ansetzt, reduziert sich auf deren Bestimmung. Von vornherein legt sie den Fokus auf die Funktion der Repräsentation und der Referenz, deren Begriffe ein Bedeutungsproblem präjudizieren, das das klassische Schema der Ontologie in sublimierter Form beerbt und seine internen Schwierigkeiten fortschreibt (Mersch 1998, S. 14 ff.). Insbesondere ermöglicht der Zusammenschluss eine Strukturanalyse, die bereits eine Festlegung auf Semantik birgt, wie sie nicht nur die Tradition der Zeichenphilosophie überformt hat (vgl. Mersch 2002a, S. 13 ff.), sondern auch die aus ihr hervorgehende Sprach- und Medienphilosophie.

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Peirce (1967, S. 198 f.; 1970, S. 320 ff.; 1983, S. 64 ff.) hat wiederum die formale Struktur der Zeichenrelation aus der ursprünglichen Ternärität des Zeichens dechiffriert, deren Relata sich terminologisch in sign, object und interpretant gliedern. Der Medienbegriff besetzt darin die Stelle des Zeichenträgers (vgl. Roesler 2003, S. 45 ff.), dessen analogon innerhalb der Sprache die Lautstruktur bildet. Doch steht im Zentrum des peirceschen Zeichenmodells überall die Kategorie des „Interpretanten“, der den Gebrauch der Zeichen mit der Prozedur ihrer unaufhörlichen Re-Interpretation verschränkt und so aus dem Zeichenprozess ein iteratives Geschehen macht, dessen Umfang stetig wächst (Peirce 1983, S. 46). Dabei wird der Interpretant selbst als Zeichen definiert, „der ein Zeichen desselben Objekts bestimmt usf.“, was eine unendliche Rekursion einschließt, in deren Verlauf sich Sinn erst bildet (ebd., S. 64). In ähnlicher Weise wird auch der Bedeutungsprozess der Sprache vorgestellt: als unablässiges Kommunikationsgeschehen, dessen Telos ein Verstehen darstellt, das zwar nirgends ankommt, aber einem asymptotischen Prozess gleicht, der sich der Wahrheit stetig annähert. Doch bleibt auf diese Weise die Sprache selber nicht nur aufs Semantische kapriziert, sondern das Problem des Semantischen erscheint schlechthin als offene Frage, denn unentscheidbar ist, ob es sich schlüssig vom Zeichen her entziffern lässt oder umgekehrt die Zeichentheorie die Sprache immer schon voraussetzen muss, insofern der Interpretant nur vor dem Hintergrund der Sprachlichkeit des Bedeutungsvollzugs geklärt werden kann (vgl. Eco 1985). Eine Alternative zum peirceschen Zeichenbegriff bietet, fast zeitgleich entstanden, die strukturale Semiologie Saussures (1997), freilich erst in ihrer radikalisierten Version (Fehr 1997; Jäger 1975). Sie stellt das Zeichenproblem von Anfang an in den Kontext von Sprache und definiert im Unterschied zu Peirce die Semiotik linguistisch. Außerdem richtet sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf die relationale Struktur der Semiosis, sondern sie betrachtet die Sprache als ein diskretes System, worin sich zwei Ordnungen kreuzen: die lautliche Struktur der Signifikanten und die semantische Struktur der Signifikate (Saussure 1967, S. 128 ff.). Untereinander grenzen sie sich durch Differenzierung ab, sodass sich die Struktur der Sprache als oppositionelles Schema enthüllt. So spielt die Verneinung für die Konstitution jeder Formation von Sinn – sei es des menschlichen Unbewussten, der Verwandtschaftssysteme, Mythologien oder Kunst und Mode – eine fundamentale Rolle. Denn mittels Negationen bezeichnen und unterscheiden wir, grenzen etwas von etwas anderem ab, ‚de-finieren‘ wir, sodass die Sprache, zumindest in ihrer zentralen Region, als Klassifikationsraster verstanden werden kann, das durch die Operation des ‚Nicht‘ reguliert wird. Das bedeutet ebenfalls – und dies bildet den eigentlich medientheoretischen Einsatz des Strukturalismus –, dass die Sprache nicht nur dem Denken, dem Verständnis von Welt eine Ortschaft verleiht, sondern sie ebenso einteilt wie gliedert und damit das Reale einem System von Einschlüssen und Ausschlüssen unterwirft. Geht man also von der Zeichenstruktur der Sprache aus, zeigt sich ihre Medialität als ein dynamisches Netz aus Knoten und Marken ohne Fixpunkt und „transzendentales Signifikat“ (Derrida, 1974, S. 43, 86 ff.). Nicht länger erweist sich die Referenz als leitend, sondern der Algorithmus der ‚Wiederholbarkeit‘: „Nie kann ein Zeichen ein

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Ereignis sein“, heißt es deshalb bei Jacques Derrida: „Denn ein Signifikant (überhaupt) muß in seiner Form trotz aller ihn modifizierenden Unterschiedlichkeit seines empirischen Auftretens stets wieder zu erkennen sein. Er muß derselbe bleiben und als derselbe immer wiederholt werden können, trotz der Deformationen und durch sie hindurch, die das, was man empirisches Ereignis nennt, ihm notwendigerweise zufügt.“ (Derrida 1979, S. 103) Zeichen sind, wie unabhängig voneinander gleichermaßen Peirce und Saussure festgestellt haben, an „Replika“ und „Wiederholungen“ geknüpft (Peirce 1991, S. 344; Saussure 1997, S. 303 u. 417 ff.), weil sie gebraucht werden und zirkulieren müssen, sodass das Kriterium der „Iterabilität“ sich überhaupt als konstitutiv für ihre Identität zeigt (Derrida 1972, S. 378). Dabei bedingt das Prinzip der Iterabilität seine Ablösung von jedem Ursprung, jedem ‚Sender‘ oder ‚Empfänger‘ und erlaubt seine Betrachtung unabhängig von allen im Spiel befindlichen Subjekten und Kontexten: Es ist allein die Iterabilität, die die Schrift – oder besser: die genuine Skripturalität des Zeichens – zum eigentlichen Medium der Sprache avancieren lässt (Derrida 1999, S. 333 ff.). „Wir werden zu zeigen versuchen, daß es kein sprachliches Zeichen gibt, das der Schrift vorherginge“, eröffnet entsprechend programmatisch die Grammatologie (Derrida 1974, S. 29): Die Schrift selbst ist der „Ursprung der Sprache“ (ebd., S. 76 f.). Doch führt dies erneut dazu, in der Sprache das Zeichen auszuzeichnen und die Medientheorie als Zeichentheorie zu entwickeln.

3. Die Konsequenzen sind allerdings eklatant. Denn als Schrift gleicht die Sprache einer autonomen Textur, einem ‚Automaten‘: Sie funktioniert allein durch sich selbst als ein Spiel von Verweisungen, das nirgends endet – und unsere sprachlichen Prozesse, unsere Kooperationen und „Verständigungsversuche“ sind nichts anderes als Anschlüsse. Das bedeutet auch: Die Sprache fluktuiert im Gebrauch; sie erzeugt mit ihrer Kontinuierung ebenso ihre Diskontinuierung, mit der Iteration auch ihre Alteration (Derrida 1999, S. 333). Stets kann darum das Gesagte von neuem ‚zitiert‘ und weitergegeben werden, bereit, immer wieder anders ‚gelesen‘ und verstanden zu werden. Entsprechend changiert auch der Sinn: Bedeutung ist nichts, das in Form eines Lexikons feststünde, vielmehr unterliegt sie der Prozedur einer ununterbrochenen ‚Um-Schreibung‘ und Verschiebung. Die Medialität der Sprache – falls von ihr konsistent zu sprechen ist – beruht auf diesem Grundsatz ununterbrochener Differenzialität: Als Medium wäre die Sprache Schrift, als Schrift Differenz. Nichts anderes bedeutet der Neologismus différance, den Derrida (ebd., S. 40) zur Unterscheidung von gewöhnlichen Differenzen einführt: Es bezeichnet das nicht weiter bestimmbare Movens oder Agens der Differierung. Darin verbirgt sich schließlich die ganze Emphase einer Medienphilosophie der Sprache als Schrifttheorie: Denn die andere Seite der Schrift, das Andere ihrer ‚Herrenlosigkeit‘ bezeichnet das, was ebenfalls zur Konnotation des Schriftbegriffs gehört, nämlich die Aspekte der ‚Inskriptur‘, der Einschreibung, die ihre unauslöschbare Spur

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zieht. ‚Spur‘ und Schrift gehören für Derrida zusammen: Als Spur ist die Schrift ‚InSchrift‘, mithin auch Gewalt; als Iterabilität und Differenzialität gewinnt sie zugleich die Kontur eines permanenten Umsturzes, deren Möglichkeit in der Verwendung und Wiederverwendung der Zeichen selber liegt. Es gibt also Instituierungen und Destituierungen, und es gibt die Setzung, die Transposition und die „Dislozierung“, wie Derrida sagt (Derrida 1997, S. 43): Was die Schrift als Schematismus, als Ordnungskategorie zu nehmen scheint, gibt sie als Freiheit wieder zurück. Ein Weiteres kommt hinzu. Denn der Primat der Schrift und damit der Medialität des Systems vor ihrem Gebrauch, ihrer Performanz impliziert zugleich die Abweisung jeder Zeugenschaft, d. h. den Vorrang der Nichtpräsenz vor der Präsenz. Was die Sprache ‚ver-gegenwärtigt‘, ist bereits das Resultat einer Kluft, einer Differenz, die dem entspricht, was Derrida „Aufschub“, „Nachträglichkeit“ oder „ursprüngliche Verspätung“ nennt (Derrida 1987, S. 201 ff.). Ihr Format ist der Rekurs, das Zurückkommen auf, deren zugehörige Zeitform das Perfekt ist. Im diskursiven Schema sind wir je schon in einer wesentlichen Sekundarität befangen: Der einfachen Gegenwart wird ein komplettes Universum von Zeichen vorweggegangen sein, um sie ‚als‘ solche zu markieren. Mit der Schrift ist folglich bereits jene ‚Als‘-Struktur ins Spiel gekommen, die ebenso die propositionale Bestimmung wie die hermeneutische Auslegung terminiert und deren Riss die Philosophie seit je verwirrt hat (vgl. Heidegger 1976, S. 143 ff.). Denn setzt das ‚Als‘ die Differenz von ‚etwas‘ gegenüber ‚anderes‘ schon voraus – ein Problem, das schon Hegel in seiner Wissenschaft der Logik vergeblich behandelte (Hegel 1970, S. 97 ff.) –, dann muss, wie Derrida in beinahe kryptischer Manier schreibt, vom „Ersten“ als einem „Zweiten“ ausgegangen werden, d. h. von einer maßgeblichen Ursprungslosigkeit: „Es gibt die 1 und die 2, das Einfache und das Zweifache/das Double. [...] Zwei ohne eins. Eins immer [...] davon abgezogen. [...] Das Zweifache/das Double kommt vor dem Einfachen; es vervielfältigt es in einer weiteren Abfolge“, heißt es in Dissemination mit unnachahmlicher Lust an kabbalistischen Zahlenspielen (Derrida 1995, S. 213 u. 309). Das bedeutet auch: Im Medium der Sprache sind wir stets schon im Horizont des Als – nichts anderes beinhaltet im Grunde auch die eingangs zitierte Passage aus Gadamers Wahrheit und Methode –, nur dass sich aus der Perspektive der Schrift eine Struktur ergibt, die sie an die ‚Nicht-Identität‘ des Zeichens, seine fortwährende Zirkulation knüpft. Entsprechend zählt nicht der Sinn, sondern es zählen die Effekte dieser Zirkulation, die ihn konditionieren: Weniger das Was des Bedeutens entscheidet, wie ebenfalls Paul de Man (1988, S. 34) betont hat, sondern das Wie: Semantik ist das Produkt einer kontingenten Struktur, die sich durch die Zeichen und ihre Verteilung bekundet, und das Rätsel des Bedeutens entpuppt sich als deren Schattenspiel. Eben dies unterstreicht auch Gilles Deleuze in seiner Logik des Sinns – einer Schrift, die weniger vom Sinn handelt als vom Unsinn: „(D)er Sinn ist stets eine Wirkung, ein Effekt. Nicht nur eine Wirkung im kausalen Sinne; sondern eine Wirkung im Sinne einer ‚optischen Wirkung‘ [...] oder besser eines Oberflächeneffekts, Stellungseffekts, Spracheffekts. [...] Der Sinn ist niemals Prinzip oder Ursprung, er ist hergestellt. Er ist nicht zu entdecken, wieder-

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herzustellen oder neu zu verwenden; er ist durch neue Maschinerien zu produzieren.“ (Deleuze 1993, S. 96 f. et passim) Und doch wird man auf diese Weise das Mysterium des Sinns nicht los; es wird nicht einmal berührt, sondern allenfalls verschoben. Denn vorausgesetzt bleibt überall, ‚dass‘ Sinn geschieht, problematisch weiterhin, ‚was‘ Sinn gibt. Der Verweis auf eine Ordnung, auf das Gefüge differenzieller Ketten erklärt nicht die Herkunft des Sinns, sondern nur seine Konfiguration und Operationalität. Keine der philosophischen Bedeutungstheorien, die im Zentrum der verschiedenen Sprachphilosophien stehen, weder die Semiotik noch die Linguistik oder die Theorie der Schrift hat die Frage des Sinns je auf befriedigende Weise zu erklären gewusst, weil zur Begründung des Sinns stets wieder auf Sinn zurückgegriffen werden muss. Wir kommen aus dem Zirkel des Bedeutens nicht heraus – denn der Sinn „ist schelmisch“, wie Roland Barthes (1990, S. 211) treffend bemerkt hat: „Jagen Sie ihn aus dem Haus, er steigt zum Fenster wieder ein.“ So bleibt schließlich eine wesentliche Differenz zwischen Struktur und Sinn, die der Differenz zwischen Medialität und Ereignis entspricht, denn vom Sinn kann unter den Prämissen der Strukturalität der Schrift letztlich nur gesagt werden, dass er ‚Ereignis‘ ist – dass er mithin der Kluft der différance entspringt und seine Entstehungsbedingungen in der Transformation ihrer Struktur und deren Plätze findet. Das ist auch gemeint, wenn Deleuze (1993, S. 100) von der „Zirkulation des leeren Feldes“ spricht: Es handelt sich um eine genuin rhetorische Bewegung, so jedoch, dass das Ereignis der Differenz letztlich Prozessen einer fortwährenden Figuration und Defiguration entspringt. Wenn also von der Sprache als einer Schriftmaschine, einem ‚Automaten‘, die Rede ist, dann muss ergänzt werden, dass sie wesentlich als eine rhetorische Maschine funktioniert.

4. Die seit der Antike thematische Rhetorizität der Rede erfährt damit im Rahmen einer Medienphilosophie der Sprache eine Renaissance. Wurde in Bezug auf die Sprache seit je zwischen Grammatik, Dialektik und Rhetorik unterschieden, um insbesondere die Dialektik gegen die Rhetorik auszuspielen, wird nunmehr deutlich, dass die Rhetorik mit ihrem Figurenspiel am Anfang steht und dass es keine Bewegung innerhalb der Sprache gibt, die sich nicht ihrer Figuralität verdankt – wobei die strukturalistische oder poststrukturalistische Theorie im System der Figuren Metonymie und Katachrese auszeichnet (Barthes 1988, S. 85 f.; Culler 1988; De Man 1988; Lacan 1975, S. 107 f.). Alles, was sich dann überhaupt beschreiben lässt, beschränkt sich auf figurale „Allegoresen“ (De Man 1988): Die Medialität der Sprache bzw. der Schrift findet darin ihr performatives Gesetz. Folglich fällt die Performativität des Mediums mit der Performanz des Rhetorischen zusammen. Dem kommt gleich, die Medienphilosophie der Sprache zugleich als Philosophie der Rhetorik zu entfalten – doch ist damit sofort die Paradoxie gegeben, dass es einerseits keine creatio ex nihilo geben kann, andererseits aber vom Standpunkt des Performativen aus jeder Satz als Setzung eines Zeichens neu beginnt.

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„Ein Satz ‚geschieht‘“, heißt es gleichfalls bei Jean-François Lyotard (1989, S. 10): „Es gibt nur einen Satz ‚auf einmal‘ [...], nur ein einziges aktuelles ‚Mal‘.“ (Ebd., S. 227) Die These schreibt jeder Äußerung eine ‚ab-solute‘ Singularität zu, die sie ebenso von jeder anderen zu trennen scheint, wie sie den Vollzug der Rede in eine Diskontinuität verwandelt, die weder auf die Schrift noch auf eine andere Ordnung zurückweist. Angeschnitten ist damit aber jener Punkt, der in der strukturalen Semiologie und insbesondere in der Schriftkonzeption Derridas unterbelichtet bleibt: die Frage nach der Pragmatik der Rede, ihrer Handlungsstruktur. Mit ihr kommt aber ein neuer, bislang unberücksichtigter Aspekt ins Spiel: die kommunikative Seite der Sprache, ihre über den Zeichencharakter hinausweisende Praxis des Dialogs. Deren Untersuchung führt innerhalb der Sprachphilosophie insbesondere auf den Begriff des Performativen, der den Blick vom Rhetorischen zum Praktischen, von den Rätseln der Bedeutungskonstitution zu den Verwendungsweisen der Sprache und den Formen sozialer Kommunikation umlenkt. Denn keineswegs ‚gibt es‘ Bedeutungen, so wenig wie das ‚System‘ der Sprache unabhängig von ihrem Gebrauch existiert, wie sich dieser keineswegs auf Funktionen des Rhetorischen allein beschränkt, sondern der Okkasionalität der Rede und ihres Kontextes obliegt, den Szenen und Situationen des Gesprächs. Eine Medienphilosophie der Sprache hat dem Rechnung zu tragen: Sprache vollzieht sich in Verständigungen, schafft Sozialität. Waren es zunächst sozialwissenschaftliche Theorien der Interaktion wie von George Herbert Mead (2000) und Talcott Parsons (1980), die im Umkreis des Pragmatismus entstanden und sich der Struktur der Dialogizität der Sprache widmeten, ist eine systematische Theorie des Performativen vor allem im Anschluss an Wittgensteins Gebrauchstheorie durch die Sprechakttheorien von John Langshaw Austin (1972) und John R. Searle (1971) formuliert worden. Untersuchen erstere das soziale Format der Reziprozität, beschreiben letztere das Modusproblem unter den Prämissen kommunikativer Funktionen (Davidson 1994, S. 163 ff.). Dann entspringen Bedeutungen Verständigungsakten, die, einmal in die Welt gesetzt, zugleich zu sozialen Fakten gerinnen. Sprechen ist ein Handeln, das nicht nur etwas aussagt, sondern auch Verbindlichkeiten stiftet oder Folgen zeitigt, auf die sich im sozialen Geschehen berufen werden kann. Zentral ist dabei die Unterscheidung zwischen „Illokution“ und „Perlokution“, die zwei pragmatische Modi von Sprechhandlungen unterscheiden, wobei „Illokutionen“ etwas tun, indem sie etwas sagen (in saying), während „Perlokutionen“ etwas induzieren, dadurch, dass etwas gesagt wird (Austin 1972, S. 135 f.). Folglich wird mit jeder Äußerung gleichzeitig eine Bedeutung und eine Handlung gesetzt, die dem Gesagten nicht nur einen Sinn, sondern auch eine Faktizität verleiht, die die Kraft hat, soziale Konsequenzen hervorzubringen. Wir haben es also mit einer „performativ-propositionalen Doppelstruktur“ der Rede (Habermas 1971, S. 104 f.) zu tun, einem Bedeutungs- und einem Beziehungsaspekt, deren Übereinstimmung sich als konstitutiv für das Gelingen von Gesellschaftlichkeit erweist. Das Postulat zeichnet indessen die Illokution in der sprachlichen Interaktion aus (Mersch 2003b, S. 81 ff.), soweit diese, wie gleichermaßen Willard van Orman Quine (1991, S. 116) und Donald Davidson (1994, S. 161) betont haben, durch ihre „Selbst-

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bewahrheitung“, ihren „tendenziell(en) Selbsterfüllungscharakter“ gekennzeichnet ist: „Sprechhandlungen interpretieren sich selbst“, heißt es gleichfalls bei Jürgen Habermas: „Der illokutionäre Bestandteil legt in der Art eines pragmatischen Kommentars den Verwendungssinn des Gesagten fest. [...] Die in einer natürlichen Sprache ausgeführten Akte sind stets selbstbezüglich. Sie sagen zugleich, wie das Gesagte zu verwenden und wie es zu verstehen ist.“ (Habermas 1988, S. 65 u. 113) Insbesondere hat Habermas (1976) im Anschluss an die Sprechakttheorie Searles versucht, die Handlungsstruktur von Illokutionen aus konstitutiven Regeln herzuleiten, um jenes apriorische Gerüst zu rekonstruieren, das die soziale Kompetenz der Sprache allererst austrägt. Weil dabei Kommunikation im wörtlichen Verständnis bedeutet, mit einem anderen über etwas in der Welt zu sprechen, ergibt sich mit den formalen Positionen ‚Ich‘, ‚Anderer‘ und ‚Welt‘ eine dreidimensionale Geltungsbasis, die die gegenseitig einklagbaren Geltungsansprüche der „Wahrhaftigkeit“, der „normativen Richtigkeit“ und der „Wahrheit“ unmittelbar miteinander verschränken (Habermas 1981, S. 13 ff.). Kommunizieren heißt, sich in diesem Anspruchsraum zu bewegen. Er verleiht, wie Karl-Otto Apel (1976) hinzugesetzt hat, der Medialität der Rede ihr transzendentales Fundament. Es fungiert zugleich als Kriterium für die Rationalität von Verständigungen wie als regulatives Prinzip gelingender Sozialität. Erneut wird auf diese Weise jedoch eine Struktur manifest und Medialität an Strukturalität geknüpft, nunmehr präzisiert als die Struktur einer Praxis, die auf allgemeinen und notwendigen Regeln beruht – was bereits daraus erhellt, dass die habermassche Universalpragmatik und die apelsche Transzendentalpragmatik in Analogie zu Noam Chomskys (1971) Syntaxtheorie konstruiert wurden. Offenbar kommt die Medienphilosophie der Sprache nicht ohne Strukturunterstellungen aus: Ihr Format ist einer Form geschuldet, die das Innere der Sprache, sei es als Ordnung ihrer Signifikation oder als Ordnung ihrer Praxis bewohnt. Führt ersteres Präjudiz auf die Paradoxie von Singularität und Nichtsingularität des Sinns, provoziert letzteres die doppelte Schwierigkeit, einerseits weiterhin die Perspektive des Sinns zu privilegieren, andererseits das Spezifische des Performativen, den Akt als Akt gerade wieder zu verlieren (Mersch 2003a). Das gilt sowohl für die Sprechakttheorie Austins und Searles als auch für die habermassche Theorie des kommunikativen Handelns: Sämtlich erweisen sie sich als Performanz-Semantiken, die die Performativität der Performanz mangels praxistheoretischer Kategorien eigentümlich verfehlen.

5. Um dagegen der Praxis der Sprache als Vollzug, d. h. als Kommunikation gerecht zu werden, bedarf es sowohl einer angemessenen Performanztheorie, als auch einer Theorie des Dialogs jenseits ihrer Reduktion auf Illokutionen. Dazu wäre noch einmal neu anzusetzen und methodisch Akt, Vollzug und Bedeutung zu trennen. Handlungen mögen intendiert sein, doch müssen sie, was immer sie beabsichtigen, vollzogen werden,

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wobei Vollzüge keine sekundären Handlungen darstellen, sondern Handlungen erfüllen sich kraft ihres Vollzugs. Das bedeutet: Vollzüge zeigen den Existenz-Modus des Praktischen an, weshalb es genügt festzustellen, dass Handlungen vollzogen werden, nicht ‚wie‘. Sichvollziehen enthält dabei noch keine Prätention darauf, was sich jeweils vollzieht, vielmehr ist in dessen Begriff enthalten, dass das, ‚was‘ dabei zum Vorschein gelangt, nicht notwendig intentional gewollt war. Das meint auch: Im Vollzug lösen sich die Handlungen von ihren Akteuren, ereignen sich. Ihr Ereignis induziert eine Präsenz, der die affirmative Kraft des Faktischen innewohnt, sodass wir es nunmehr nicht mehr mit Negationen oder Differenzen zu tun haben, sondern mit dem Faktum der Existenz selbst (Mersch 2002c). Entsprechend wird mit dem Vollzugscharakter von Handlungen deren Setzungscharakter betont, wobei der Ausdruck der ‚Setzung‘ kein voluntatives Prinzip bezeichnet, sondern das factum est, die Realitätsseite des Handelns. Die Kategorie des Performativen wandelt damit ihre Kontur. Insbesondere betont der Rekurs auf Setzung, dass (quod) geschieht – nicht, was (quid) geschieht. Die Differenz beinhaltet erstens, dass in Ansehung des Performativen nicht die Bedeutung einer Äußerung entscheidet, sondern zunächst nur das Faktum einer Existenz, das im Augenblick der Setzung die Aussage ebenso sehr erzeugt wie durchkreuzt. Sie bezeugt zweitens, dass ‚etwas‘ am Handeln unwiederholbar bleibt. Daraus folgt: Performativität fügt sich keinem medialen Format, sondern der Setzung eignet eine Einzigartigkeit, ein Nichtzeichenhaftes im Sinne ihres ‚Ereignens‘. Gewiss schließen sich Äußerungen an andere Äußerungen sowie Handlungen an Kontexte an; aber jeder Vollzug setzt auch neu an, unterbricht den situativen Kontext, setzt sich von ihm ab. Das Ereignis der Setzung impliziert somit ein Dreifaches: Aussetzung, Absetzung und Fortsetzung. Sie enthält ebenso sehr eine Kontinuierung wie eine Diskontinuität, einen Schnitt. Wird so das Ereignismoment des Performativen betont, wird gleichzeitig die Frage der Medialität unterlaufen und der Medienphilosophie der Sprache eine unwiderrufliche Grenze auferlegt. Denn maßgeblich ist, dass das Ereignis als solches ‚unfüglich‘, d. h. auf eine nicht medial konstruierbare oder rekonstruierbare Weise auf das Bedeutungsproblem zurückschlägt und die Einheit des Sinns zerreißt. Kein Text knüpft einen kontinuierlichen logischen oder narrativen Faden, vielmehr hebt er von Abschnitt zu Abschnitt neu an, schreitet, wie Lyotard im Widerstreit formuliert hat, Satz für Satz und von Bruchstelle zu Bruchstelle fort, steht „zwischen den Sätzen auf dem Spiel“ (Lyotard 1989, S. 11). Jeder besonderen Setzung eignet zugleich der Charakter eines Sichzeigens. Die Sprache, gleich, ob sie sich als Stimme, als Schrift oder Textur manifestiert, muss sich ebenso sinnlich präsentieren, wie sie zur Geste, zum Bild werden muss. Wie immer sie sich also artikuliert, kommt ihr ein Körper, eine Materialität zu, kraft derer sie sich austrägt, vorführt oder performiert. Performativität verweist darum nicht nur auf die Handlung selbst, sondern auch auf die Modalität ihrer Vorführung, ihrer leiblichen Präsenz. Dabei konnotiert der Ausdruck ‚Sichzeigen‘ ein Doppeltes: Erstens weist er eine nichtintentionale Note auf, zweitens aber handelt es sich nicht um ein Symbolisches, mithin nichts, was sich vorderhand entziffern oder ‚lesen‘ ließe, sondern um etwas, das mitgängig bleibt: Das Ereignis der Setzung stellt sich aus, ohne im eigentlichen Sinne ‚etwas‘ zu sagen oder zu meinen. Das impliziert, dass Handlungen und

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ihre Bedeutungen durch ihre performative Struktur immer auch geschnitten werden. Ihr Schnitt lässt sich als Disparität zwischen ‚Sagen‘ und ‚Zeigen‘ dechiffrieren (Mersch 2003a), deren Differenz der Unterscheidung von Bedeutung und Symbolisierung einerseits sowie von ‚Materialität‘, ‚Präsenz‘ und ‚Ereignis‘ andererseits entspricht (Mersch 2002a). Sie enthüllt eine Kluft, einen Chiasmus, woran das Mediale bricht. Zwar ist die Sprache Medium, solange man die Zeichenperspektive privilegiert – und zwar Medium eines Sinns oder eines Verstehens gleich wie einer Kommunikation oder einer Verständigung –, doch eignet dieser ebenso sehr eine ursprüngliche Paradoxie, ein Nichtaufgehen, weil beide Seiten nie zur Deckung gebracht werden können. Folglich wissen wir nicht nur nie genau, was wir tun, wenn wir reden, wir wissen auch nie genau, was wir sagen, wenn wir sprechen, welchen Sinn das Gesprochene hat oder welche Wirkungen es auslöst. Der Gesichtspunkt ist geeignet, die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Sprache und Medialität noch einmal zu wenden. Denn was sich derart abzeichnet, ist eine Unvollständigkeit oder systematische Undarstellbarkeit. Sie weist auf einen Entzug. Ähnliches hatte auch Heidegger im Auge, wenn er in seinem Nachdenken „über“ die Sprache vom Modus des „Über“, der die Sprache bereits objektiviert und damit verstellt hat, zum Modus des „Von“ überging, der sie lediglich punktuell berührt (Heidegger 1975, S. 83 ff.). Denn jedes Sprechen „über“ die Sprache hat sie schon in Anschlag gebracht, sodass das Thematisierte mit dem Thematisierenden zusammenfällt. Entsprechend vermag die Sprache sich selbst nur nachzusprechen, was umgekehrt bedingt, dass sie jeder Theorie der Sprache notwendig schon vorweg ist (ebd., S. 242 f.). Deshalb nennt Heidegger die Sprache das „Haus des Seins“ (Heidegger 1947, S. 45): Wir bewohnen sie, ohne sie totalisieren oder von außen betrachten zu können, vielmehr zeigt sich die Sprache im Sprechen, im Vollzug und verweigert sich gleichzeitig jeglichen erschöpfenden Zugriffs. Sie ist die „Zeige“, wie Heidegger (1975, S. 253 f. u. 258 f.) auch sagt, die, indem wir sprechen, allererst zum Vorschein gelangt, dessen Sagen jedoch selbst nicht sagbar ist – ein Schluss, den ebenfalls Wittgenstein gezogen hat (1989, S. 60). Doch folgt daraus schließlich, dass die Sprache selber nicht als Medium expliziert werden kann. Gewiss gibt es mediale Aspekte, und gewiss gibt es keine Bedeutung und keine Performanz ohne das Mediale – doch ist die Sprache nicht der ‚Geber‘ ihres Ereignens. Anders formuliert: Zur Sprache gehört zum einen die Schrift, die Struktur der Semantik, der Duktus der Rede, die Präsenz die Stimme wie die Praktiken der Rhetorik und der Argumentation oder die Akte der Artikulation – aber zum anderen gehört zu ihr eine nicht enden wollende Kreativität der Brechung und Reflexion, worin sie über sich selbst und erst recht über ihre Medialität hinausschießt. Kraft dieses Überschusses ‚gibt es‘ Medienphilosophie, nicht umgekehrt.

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6. Dies führt zu einem abschließenden Ausblick. Denn bei allen Betrachtungen über die Medialität der Sprache bleibt die Stelle des Anderen merkwürdig unbesetzt: Ihm wird kein angemessener Platz eingeräumt. Wird daher im medienphilosophischen Repertoire ausschließlich von Zeichen, Marken, Strukturen oder Differenzen und Performanzen gesprochen, bleibt unklar, was uns überhaupt zur Sprache bringt – ‚Dazubringen‘ nicht verstanden im Sinne einer Absicht, eines Motivs oder Willens, sondern als die Unmöglichkeit, nicht zu sprechen. Diese Unmöglichkeit ist der Sprache immanent: Sie besteht darin, dass die Sprache ihre Herkunft im Anderen besitzt. Dies eben markiert den Primat von Alterität: Wir sprechen nicht aus uns heraus, wir intendieren nicht unsere Rede, sodass es irrig erscheint, die Sprache auf die Subjekte eines Dialogs zu reduzieren; wir verständigen uns auch nicht, weil wir etwas zu sagen hätten, sowenig, wie wir unser Gesagtes gegenseitig aufrechnen (Brandom 2000), sondern weil uns vorgängig ein Anderer anspricht, weil er – wie sich Emmanuel Levinas (1998) ausgedrückt hat – auf uns zukommt, zuspricht und um eine Antwort ersucht. Damit wäre allerdings ein fundamentaler Paradigmenwechsel angezeigt: ein Übergang vom Denken des Medialen zum Denken des Antwortens (Blanchot 1991, S. 110 ff.; Waldenfels 1994, S. 188 ff.). Das bedeutet, das Mediale allererst am Ort des Anderen entstehen zu lassen: Sinn wäre nicht die Funktion einer Referenz oder der Effekt einer Struktur, sondern das Ereignis des Zwischen, das allererst aus der Struktur des Antwortens zu fundieren wäre. Die Wendung erlaubt, insbesondere auch einen neuen Blick auf das zu werfen, was als ‚Performativität‘ exponiert wurde. Denn indem die Sprache der Antwort ‚ent-springt‘, geht ihr der Moment des ‚An-sprechens‘ bereits vorweg. Folglich beruht die Eröffnung des performativen Feldes überhaupt erst auf dem – womöglich wortlosen – ‚An-Spruch‘ des Anderen, der die Nötigung einschließt, antworten zu müssen, selbst wenn er nicht spricht, wenn er nicht einmal anwesend ist oder sich in Schweigen hüllt. Dem korrespondiert, dass wir nicht umhin können zu antworten, auch wenn wir uns weigern, seinen Anspruch entgegenzunehmen – sogar, wenn wir uns abwenden und die Augen verschließen, haben wir seinen Anruf bereits entgegengenommen und uns nicht eingelassen. Gerade in der Eisigkeit des Nicht-Antwortens, das gewiss oft unvermeidlich ist, liegt darum die Signatur einer Verletzung, wie sie nur der Sprache zufällt und die tiefer reichen kann als offene Gewalt (Butler 1998, S. 20 ff.). Heißt das nicht, das Mediale lediglich zu entkräften und stattdessen den Primat des Anderen einzusetzen? Die Verschiebung bedeutet keine Substitution, keinen Ersatz, sondern die Hinwendung zu jener Unbestimmtheit, die die intentio der Rede gleichermaßen machtlos werden lässt und die Sprache als Medium ‚ent-fremdet‘. Gerade weil die Sprache als Kommunikation beim Anderen beginnt, der Andere also ebenso zuvorkommt wie er sich als Anderer verbirgt, kann die Sprache nie vollständig in der Beschreibung ihrer Struktur oder den Gesetzen ihrer Praxis aufgehen, vielmehr wird ihr Ereignis buchstäblich vom ‚Gewicht des Anderen‘, seiner ‚Gravitation‘ heimgesucht.

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Das heißt, etwas hat uns schon hineingezogen, etwas, das sich zwar qua Medium artikuliert, dessen Artikulation sich aber nicht durchs Mediale ‚be-dingt‘, vielmehr im Akt des Responses allererst ermöglicht. Jede Äußerung erscheint in die Vorgängigkeit dieser Responsivität verortet, die gleichzeitig die unüberwindliche Vorgängigkeit des Anderen bezeugt, wie dieser als Anderer seine Identität zurückhält, um ihr das Siegel einer nicht zu heilenden Differenz aufzuprägen.

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Dieter Mersch

Christian Stetter

MEDIENPHILOSOPHIE DER SCHRIFT

1. Mittel und Medium Schrift gilt dem alltäglichen wie dem linguistischen Verständnis der Sache entweder als das persistente Resultat ephemerer Schreibhandlungen oder als das Verfahren, mittels dessen in solchen Handlungen sprachliche Information fixiert, kodiert, eben niedergeschrieben wird. Im ersteren Sinne verstehen wir Schrift als geschriebene Sprache. In letzterem Sinn sprechen wir, analog zum englischen Wort „writing“, von der Alphabetschrift oder der chinesischen Schrift. Gegenüber dem normalsprachlichen Verständnis dessen, was man ein Medium nennt, erscheint solchem Schriftverständnis die oder besser: diese oder jene Schrift als eine Technik – ein Mittel, das Medien im tradierten Sinn erst ermöglicht und das gerade deswegen selbst nicht als Medium wahrgenommen wird. Medien in diesem Sinn sind die FAZ oder der SPIEGEL, Rundfunk, Fernsehen, das Internet. Letzteres weniger in seiner Eigenschaft als Netz denn hinsichtlich der Informationen, die in ihm repräsentiert sind. Alle diese Sprachgebräuche sind mehr oder weniger unscharf. Die Wörter „Medium“ und „Medien“ dienen hier meist zu nicht mehr, als sich näherungsweise darüber zu verständigen, wovon die Rede sein soll. Das kann man dann gegebenenfalls durch die Verwendung vertrauter Namen präzisieren: die Rede ist vom SPIEGEL, von ZDF usw., um dann zur eigentlichen Sache zu kommen. Die Wörter „Medium“ oder „Medien“ dienen in solcher Verwendung ersichtlich nicht dazu zu charakterisieren, was das denn als Medium sei, wovon geredet oder geschrieben wird, der SPIEGEL oder das ZDF. Genau danach ist aber gefragt, wenn von der Medialität der Schrift die Rede sein soll. So ist zunächst der prädikative oder kategoriale Sinn der Rede von einem Medium bzw. von Medien zu klären. Hierzu bietet sich als Ansatzpunkt der vertraute Begriff des Mittels an. Das Medium verhält sich zum Mediatisierten ähnlich wie das Mittel zum Zweck. Entgegen dem alltäglichen Sprachgebrauch ist aber das Mittel nicht einfach ein Ding, z. B. ein Werkzeug, es ist vielmehr eine Handlung oder ein Verfahren, in dem dann meistens bestimmte Dinge benutzt werden, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Es ist das Mittel als solches und somit ein zeitliches Ereignis. Insofern steht es zum Zweck in einer eindeutig zeitlichen Relation: Es geht ihm voraus. Der Zweck beginnt, wenn das Mittel beendet ist. Man fängt an zu spielen, wenn die Geige gestimmt ist.

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Ist nun – um beim Beispiel zu bleiben – dieses Instrument in dem eben erläuterten Sinn ein Mittel zum Zweck? Auf den ersten Blick scheint es so: Auch das Spielen ist ein Handeln, bei dem man sich – in diesem Fall – eines technischen Apparates, eben eines Instrumentes bedient. Doch man spielt nicht, um Musik zu machen, möglicherweise, um Geld zu verdienen. Ich kann zur Geige greifen, um zu spielen oder aber, um sie jemandem zu zeigen. Aber in strengem Sinn kann ich eben nicht spielen, um zu musizieren. Das Verhältnis ist ein anderes: Man macht Musik, indem man (Geige) spielt. Das Erzeugte, die Musik, ist oder geschieht mit dem erzeugenden Verfahren, dem Spiel, gleichzeitig. Es ist sachlich wie logisch von diesem nicht abzusondern.1 Musik – klammern wir das Problem technischer Reproduktion von Musik zunächst einmal aus – impliziert semantisch wie der Sache nach Spiel. An diesem Beispiel lassen sich die wesentlichen kategorialen Unterschiede von Mittel und Medium studieren, die von verdinglichenden Redeweisen über Mittel wie Medien, vor allem über so genannte ‚technische‘ Medien oft verdeckt werden: Medium und Mediatisiertes bilden zusammen ein einziges Ereignis, genau eine Performanz, nicht verschiedene. Medium ist die Geige nur, indem sie gespielt wird. Liegt sie im Kasten oder in einer Ausstellung, so ist sie nichts als ein Instrument. Dies ist der eine Grenzwert, der den Begriff des Mediums einschachtelt. Der andere wird hier – das wird noch genauer zu betrachten sein – durch den Spieler und seine Kompetenz markiert. Auch sie gehören ja in gewisser Weise mit zum Spiel, aber eben nicht zum Verfahren als solchem. Verstehen wir also in erster Näherung unter einem Medium die Performanz einer Operation über oder in einem materiellen Substrat, einem Apparat oder auch einem Konglomerat von Dingen, sodass in dieser Performanz etwas Wahrnehmbares von bestimmter Gestalt erzeugt wird: eine Sonate, ein Tanz, ein Ruf, ein geschriebenes Wort, ein Bild. Die Beispiele zeigen, dass zwischen ephemeren und persistenten Medien zu unterscheiden ist, zwischen solchen, deren Erzeugtes mit der Performanz vorübergeht, und solchen, deren Produkt die Performanz überdauert – vielleicht sind das die beiden grundlegendsten medialen Eigenschaften von Medien. Die Schrift wäre in diesem Sinn als persistentes Medium zu begreifen, und kein beliebiges unter anderen, vielmehr als dasjenige, dessen mediale Eigenschaften die ‚technischen‘ Medien im geläufigen Sinn des Wortes zuallererst möglich gemacht haben. Zunächst ist nun, um die prekäre Zwischenstellung des Mediums zwischen Mittel und Kompetenz zu klären, die erste, phänomenologische Annäherung an den Begriff des Mediums zu präzisieren, und zwar in logischer Hinsicht. Wir bleiben beim Beispiel: Musik wird aus dem Eine-Geige-Spielen nur, wenn und insoweit dieses gelingt. Dies aber ist – das hatten wir eben schon berührt – auf das Konto der Kompetenz des Spielenden zu rechnen, nicht auf das des Mediums. Dieses, das Operieren über einem Substrat oder auch: das in Operation versetzte Substrat, ist für die Erzeugung des Mediatisierten – die Beispiele illustrieren es – zwar notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung. Das Mittel dagegen muss für den jeweiligen Zweck hinreichen, sonst ist es 1

Vgl. hierzu Krämer (1998, S. 83 f.).

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für ihn eben kein geeignetes Mittel. Notwendige Bedingung hingegen, den Zweck zu realisieren, muss das Mittel per se nicht sein – unter Umständen könnte man mit anderen Mitteln denselben Zweck erreichen. Wo diese Bedingung eingeschränkt wird, mutiert das Mittel zur Technik, im Grenzfall zur Kunst. Das Medium bleibt jedoch, wie phänomenologisch auf die zeitliche Einheit mit dem Mediatisierten, so logisch auf die notwendigen Bedingungen zu dessen Realisierung, beschränkt – man sieht, warum der Begriff so schwer zu fassen und ständig in Gefahr ist, als Mittel oder als Technik missverstanden zu werden. Das philosophische Problem, das der Begriff des Mediums aufwirft, liegt offenbar in der Paradoxie, dass das Merkmal des Gelingens, das die medial konstituierte Performanz doch auszeichnen soll, nicht ihrer Medialität zugerechnet wird, sondern der Kompetenz dessen, der sich des Mediums bedient. Dies macht das Medium so blass, lässt es hinter das Mediatisierte scheinbar spurlos zurücktreten.

2. Ein enger Begriff von Medium: symbolisierende Performanz Damit ist der Gesamtbereich so genannter „natürlicher“ Medien aus dem hier entwickelten Begriff von Medium und Medialität ausgeklammert.2 Doch ist dies vielleicht die einzige Möglichkeit, der Gefahr zu begegnen, die in dem weiten, metaphorischen Sprachgebrauch liegt, wenn wir etwa das Licht als Medium unseres Sehens bezeichnen. Dann droht sich unsere Welt des Erkennens, Handelns und Konstruierens in unendliche Verschachtelungen von Medien der verschiedensten Kategorien aufzulösen. Am Ende wäre alles Medium und Nichts. Gesucht ist daher ein plausibles Kriterium, den Problembereich zu begrenzen. Der Begriff des Mediums hat älteren Sprachgebräuchen zufolge keineswegs alle möglichen Performanzereignisse umfasst. Lediglich solche, in denen irgendwelche Bedeutung, Repräsentation oder Information erzeugt wird. Dies entspricht kategorial auch dem bis hierher entwickelten Begriff des Mediums: Darstellung ist nach Goodman stets an Performanz, weil an Inskription gebunden.3 Aber nicht jede Performanz ist Darstellung von etwas. Hierin liegt der wesentliche Grund für die Limitierung des Begriffs. Ein Medium – so können wir jetzt sagen – ist eine in Operation gesetzte Apparatur, sodass durch diese Operation etwas, nämlich eine Darstellung, von bestimmter Gestalt dargestellt wird. Medien in diesem Sinne sind, verkürzt gesprochen, symbolisierende Performanzen. Nun ist jede Darstellung per se Darstellung für jemanden oder etwas. Auch hier muss folglich der Diskussionsbereich noch weiter eingeschränkt werden. Nur solche Darstellungen sollen im Weiteren betrachtet werden, deren Korrelat bzw. Adressat Menschen sind. Damit wären – dies jedoch nur der Übersichtlichkeit halber – inter2 3

Vgl. zu einem solch umfassenden Begriff von Medium Seel (1998). Vgl. Goodman (1997, S. 140).

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ne maschinelle Repräsentationen ebenso aus der Betrachtung ausgeschlossen wie der Informationsaustausch unter beliebigen biologischen Systemen.

3. Darstellungsweisen: Repräsentation, Exemplifikation, Ausdruck Auf der Basis dieses extensional stark eingegrenzten Medienbegriffs können wir nun auf das Thema der Schrift zurückkommen. Zweifellos trifft es den normalen Sprachgebrauch ebenso wie den philosophischen Begriff von Schrift als paradigmatisches Medium, wenn man diese als ein auf Apparaturen – Papier, Pinsel, Feder, Schreibmaschine, PC, ... – gestütztes persistentes Verfahren begreift, sprachliche Inhalte visuell darzustellen. Allerdings ist auch dieser Begriff noch immer zu weit. Erstens ist zu klären, in welcher Art hier von Darstellung zu reden ist, zweitens, um welche Weisen der Gestaltung oder Formung des Dargestellten es sich in diesem Medium handelt. Die Besonderheit des Ansatzes der goodmanschen Symboltheorie besteht darin, dass sie genau diese beiden Fragen miteinander kombiniert.4 Als abstraktes Modell von Darstellung, sei sie pikturaler, verbaler oder sonstiger Art, wählt sie den logischen Begriff der Denotation, der Relation zwischen einem Prädikat und den Objekten, die „unter es fallen“, genauer gesagt: auf die das Prädikat bezogen wird. So kann ein Porträt einen bestimmten Politiker darstellen, ein Satz einen Sachverhalt usw. Mit entsprechenden Erweiterungen des Begriffs des Prädikats – Etikett, Zeichen, Symbolschema, ... – vermag dieses Modell Sprache ebenso wie das Bild oder andere Medien zu umfassen. Nun ist Denotation eine asymmetrische Relation. Ihre Inverse ist die Exemplifikation: Besitz plus wiederum Bezugnahme, die sich so als das Zentrum dieser Symboltheorie erweist, ein Referieren, welches diesmal von einem Objekt ausgehend auf eine Eigenschaft verweist, die das Objekt besitzt. Nimmt man nun die Metaphern-Varianten des Modells hinzu – metaphorische Repräsentation und Exemplifikation –, so reicht dieses „minimalistische“ Modell von Darstellung gerade wegen seiner kruden Extensionalität, wegen seines Verzichts auf jede vorgängige intensionale Deutung hin, alle denkbaren Weisen von Darstellung zu erfassen: Ausdruck ist metaphorische Exemplifikation. Um Modi des Darstellens zu fassen, geht auch Goodman von einer Unterscheidung von ephemeren und persistenten Darstellungsweisen aus,5 wobei allerdings die ephemeren im Hintergrund bleiben. Sein Interesse gilt ganz und gar den persistenten und darum reproduzierbaren Darstellungsweisen, und hieraus wiederum einem besonderen Typus von Schrift: Notationssystemen. Deren Paradigma ist die Partitur der „klassischen“ Musikepoche von Monteverdi bis Schostakowitsch. Notationssysteme teilen grundlegende 4 5

Auf den Zusammenhang dieser beiden Problemaspekte hat Goodman eigens hingewiesen; vgl. Goodman (1997, S. 97). Allerdings verwendet er diese Termini nicht. Der Sache nach sind sie aber in seinem Ansatz vorhanden.

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Eigenschaften des Pikturalen – Visualität und Starrheit bzw. Persistenz der Darstellung – mit solchen des Verbalen: Ihre Charaktere sind Typen und lassen sich darum in einer Syntax organisieren. Daher sind sie es, die einen Übergang von einphasigen zu zweiphasigen Künsten ermöglichen: In der Aufführung einer Partitur kommen persistente, dem Pikturalen verwandte, und ephemere, der oralen Sprache verwandte, weil bewegte und syntaktisch organisierte Darstellung zusammen.6 Und wenn Bilder in einer Ausstellung unter einem bestimmten Rahmenthema organisiert werden, so kann man darin durchaus auch eine zweiphasige Darstellungsweise erblicken: Das Arrangement erzeugt ja eine Syntax der Exponate, die diesen selbst nicht inhärent war und die von Fall zu Fall verändert, variiert, zerstört und gänzlich neu gestaltet werden kann – dies ist der Fall bei einer ganz und gar unformalen, weil untypisierbaren, einer rein semantisch motivierten Syntax, dem puren Grenzbegriff einer solchen –, und damit doch zugleich den Übergang zu einem Bereich, in dem formale Syntaxen möglich werden. An Notationssystemen hat Goodman daher die Möglichkeit gesehen, eine technische Sprache zu entwickeln, in der sich die grundlegenden medialen Eigenschaften des Bildes ebenso logisch fassen lassen wie die von Sprache, Schrift, Musik, Tanz, kurz: von jeglicher Art symbolisierender Performanzen.7 Auf der Basis einer Beschreibung der syntaktischen und semantischen Eigenschaften von Darstellungen lassen sich dann deren weitere Eigenschaften in einer offenen Reihe von Oppositionen fassen. Zuvor ist aber noch eine zweite grundlegende Eigenschaft symbolischer Darstellungen festzuhalten, die der Unterscheidung ephemer – persistent ähnlich ist und die wie diese, zu den medialen Eigenschaften der betreffenden Performanzen zu rechnen ist: die Unterscheidung nämlich von symbolischen Ereignissen, die auf einen Typ referieren – Goodman nennt sie Inskriptionen oder Marken8 – und nicht typisierten oder typisierbaren Darstellungen, wie etwa Bildern. Der grundlegende Unterschied besteht darin, dass typisierte oder typisierbare Darstellungen, Repräsentationen oder Zeichen ein Artikulationssystem als Bezugssystem voraussetzen, nicht typisierte oder typisierbare nicht. Doch dies heißt nicht, dass diese Differenz unüberbrückbar wäre. Irgendwo geht der Bereich des Nicht-Typisierbaren in den des Typisierbaren über. So liegt auch diese Unterscheidung als eine der Grundkoordinaten des Medialen den Oppositionen zugrunde, mit denen auf deskriptiver Ebene Modi des Darstellens und damit zugleich auch Symbol- oder Zeichenkategorien und ganze Bereiche von Repräsentationen zu unterscheiden sind. Schon ein flüchtiger Blick auf einschlägige Diskussionen erbringt Unterscheidungen wie

6 7

8

Vgl. hierzu Stetter (2003). Vgl. Goodman (1997, Kap. IV). Basis dieser Notationstheorie bilden die syntaktischen und semantischen Eigenschaften eines Notationssystems: (1) die syntaktischen Erfordernisse der Disjunktheit der Charaktere bzw. Typen und die der effektiven Differenziertheit der Inskriptionen; (2) die semantischen Erfordernisse der Eindeutigkeit (Nichtambiguität) jedes Typs und wiederum der semantischen Disjunktheit der Charaktere und der effektiven Differenziertheit der Inskriptionen. Vgl. Goodman (1997, S. 128).

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starr – bewegt: Bild, Schrift, ... – orale Sprache, Musik, ...; nicht multipel – multipel: orale Sprache, Theateraufführung, ... – Schrift, Film, ..., natürlich – konventionell: Bild, Mimik, ... – Sprache, Notationssysteme, ...; regelhaft – analogisch: Grammatik, ... – Metapher, ...; analogisch – digital: Han ze, ... – Alphabet, ...; diagrammatisch – voll: Skala, ... – Photographie, ...; usw.

Alle diese Oppositionen beziehen sich auf Eigenschaften von Performanzen, die nicht Eigenschaften der jeweiligen Kompetenz sind, welche über den betreffenden Verfahren operiert. Sie beziehen sich auf interne Eigenschaften der Verfahren selbst. Hier sind wir am Kern dessen angelangt, was Medialität ausmacht. Man sieht, wie sich von hier aus die Frage ganz neu stellen musste, was Kompetenz ist. Damit wird sich auch die Frage der Neutralität des Mediums gegenüber dem mediatisierten Inhalt klar fassen und entscheiden lassen. Gegen Luhmanns These der Neutralität des Mediums hatte – wie schon erwähnt – Sybille Krämer im Anschluss an Freud und McLuhan die Auffassung vertreten, dass sich an der Botschaft „die Spur des Mediums“ bewahre.9 Die Botschaft muss, so lässt sich diese Metapher vielleicht übersetzen, Eigenschaften aufweisen, die nicht ihr zuzuschreiben sind, sondern dem Medium, in dem sie erzeugt und übertragen wurde. An der Schrift lässt sich dies in besonderer Klarheit studieren.

4. Allgemeine mediale Eigenschaften von Graphismen Zunächst wäre nun zu fragen, worin die Besonderheiten bestehen, die die Darstellungsweisen von Graphismen von denen anderer Medien unterscheiden. Die oben schon erwähnte Unterscheidung ephemerer von persistenten Medien bewährt sich hier. Jeder Graphismus stellt nur insofern etwas dar, als er als das persistente Resultat eines ephemeren graphischen Akts oder einer solchen Handlung aufgefasst wird. Die Handlung stellt selbst nicht dar – im Unterschied etwa zum Sprechakt –, erst das Resultat. Dies hat zum einen Auswirkungen auf die Organisation der Referenzhandlungen, die dem verbliebenen starren Symbolschema einen Sinn geben, indem sie ihm Bezugnahmegebiete und Erfüllungsgegenstände suchen, mithin auf die Logik des Interpretationsprozesses. Herr des Verfahrens ist hier der Interpret, nicht der „Graphiker“, und ist der Graphismus syntaktisch ‚dicht‘ – weist er also eine ins Infinite gehende Differenziertheit der Syntaktik10 der unterschiedlichen Marken auf, die ihn insgesamt bilden –, so grenzt diese Herrschaft an Willkür: Keine Regel setzt ihr eine Grenze. 9 10

Vgl. Krämer (1998, S. 78 ff.). Zweifellos ist auch ein Bild, sieht man von dem Grenzfall „Monochrom“ einmal ab, aus verschiedensten Formen zusammengesetzt. Manche sprechen daher auch von der Syntax von Bildern. Ich möchte den Terminus „Syntax“ für die Fälle reservieren, wo eine solche Zusammensetzung auf ein Artikulationsschema von Typen bezogen werden kann. Daher spreche ich hier von der Syntaktik von Graphismen.

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Dem korrespondiert auf eigentümliche Weise, dass dem Graphismus als starrem Medium mangels einer Gestik, Rhythmik, mangels Klang oder Agogik in engerem Sinn – Eigenschaften sich bewegender Medien – jede genuine, auf seinen medialen Eigenschaften beruhende Nähe zur Emotionalität abgeht, das Gefühl jedenfalls anders anspricht als orale Sprache oder Musik. Das Gesicht ist ein „kalter“ Sinn. Wo wir von der Rhythmik oder Agogik eines Bildes sprechen, etwa mit Blick auf ein Gemälde van Goghs oder Picassos, so versuchen wir damit seinen Ausdruck zu fassen, verwenden die Ausdrücke „Rhythmik“ oder „Agogik“ metaphorisch. Die Ästhetik von Graphismen ist somit – wie deren Logik – eine kategorial andere als die ephemerer, motorischer Medien. Gleichzeitig wird deutlich, warum die Medialität von Medien so schwer zu fassen ist: Wenn wir ein Bild betrachten, betrachten wir eben ein Bild und hören nicht Musik. Das Bild-Sein des Bildes ist dabei für den Betrachter die Voraussetzung des Geschäfts. Als solches kommt es nicht in den Blick. Das Interesse lenkt sich auf die Brille nur dann, wenn sie verschmutzt ist. Medien sind also Medien für uns. Ihre Medialität erweist sich ebenso als Menge von Eigenschaften unseres Wahrnehmungs- und Handlungsraumes wie als Eigenschaft der Medien selbst. So ermöglicht Medialität Intentionalität.11 Graphismen exemplifizieren, so ließe sich mit Goodman zusammenfassen, eben solche Eigenschaften, die sie von anderen Medien, ephemeren, von persistenten, aber motorischen, und von vielen möglicherweise ganz anderen Medienkategorien unterscheiden, von denen wir keinen hinreichend scharfen Begriff haben. Aber Bilderschriften sind keine Bilder, sie sind typisiert. Das bis hierher gewonnene Inventar an Unterscheidungen reicht nicht aus zu erfassen, was Schrift, als Medium betrachtet, ist.

4.1

Schrift im engeren Sinn: Darstellungsweisen

Die verschiedenen Weisen des Darstellens hängen von den unterschiedlichen Weisen ab, in denen ein Symbolschema auf Bezugnahmegebiet und Erfüllungsgegenstand bezogen wird. Fragen wir also in diesem Sinne, was eine „Graphik“ wie (i) STOPP oder (ii) と oder (iii) 止12 zu einem Symbol macht. Stellt man die Frage so, so werden alle Antworten, die aus dem gewohnten Umgang mit der Alphabetschrift kommen, von vornherein ausgeblendet. Darstellen heißt hier in erster Instanz nicht Repräsentation, sondern Exemplifikation, Bezugnahme auf eine Eigenschaft, die das darstellende Symbol selbst besitzt,13 und zwar in verschiedenen Hinsichten: Erstens exemplifiziert jede der drei Inskriptionen (i), (ii) und (iii) genau einen Typ, den Typ „Stopp“, den Typ „と“ und den Typ „止“, weil wir die betreffende „Graphik“ 11 12 13

Vgl. Seel (1998). (ii): das Hiragana to, das zur Darstellung der oralen Silbe „to“ verwendet wird, (iii) das Kanji mit der Bedeutung ‚stopp‘, ‚halt‘ o. ä., gelesen als „shi“ oder „to“. Vgl. Goodman (1997, S. 59 ff.).

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so lesen, d. h. auf ein Artikulationsschema beziehen: ein orthographisches Wörterbuch14, ein Verzeichnis von Hiragana oder ein Verzeichnis von Kanji. Welche besondere Inskription wir hier wählen, um den Typ zu repräsentieren, ist gleichgültig. Jede – um beim ersten Beispiel zu bleiben – erfüllt den Zweck, solange wir bei einer halbwegs verbreiteten Inskriptionsvariante bleiben. Eine erste Bezugnahme geht also auf mehr oder weniger typische Weisen auf Inskriptionen, und da kommen nun ganz unterschiedliche Artikulationsschemata ins Spiel oder in Betracht, in denen die Inskription den Typ exemplarisch darstellt: Im ersten Fall z. B. zwar hinsichtlich des Artikulationsschemas Buchstabenfolge, nicht jedoch hinsichtlich des Schemas Groß- und Kleinschreibung. Im zweiten Fall hinsichtlich bestimmter kalligraphischer und typographischer Standards, die für Hiragana gelten, und im dritten wiederum hinsichtlich solcher, denen die Schreibung von Kanji unterliegt. Was den Typ zum Typ macht, hängt also von Standards der Verwendungsweisen von Inskriptionen ab, von orthographischen, typographischen, kalligraphischen und anderen Besonderheiten. Diese Standards mögen im Duden oder in Kalligraphie-Lehrwerken festgehalten sein. In letzter Instanz existieren sie als Knowing-how der betreffenden literalen Gesellschaften.15 Hier haben wir einen ersten systematischen Hinweis darauf, inwiefern mediale Eigenschaften Eigenschaften unseres Wahrnehmungs- und Handlungsraumes sind. Zweitens exemplifiziert jede dieser Inskriptionen in jeder ihrer Verwendungen in der Regel eine bestimmte syntaktische Verknüpfung, denn sie werden meist im Verbund mit anderen Zeichen desselben Systems verwendet. Jede ihrer kontextuellen Inskriptionen exemplifiziert nun ihrerseits je eine Weise, in der sie verwendet werden kann. Der Typ ist so, extensional betrachtet, nichts anderes als eine durch Beispiele angedeutete Menge von Verwendungsmöglichkeiten. Man sieht hier in einem, wie Syntax im engeren Sinn einerseits auf der Möglichkeit aufruht, Zeichentypen zu bilden, und wie dies wiederum nicht abgelöst werden kann von Performanzen. Diese sind als solche von einer Kompetenz geleitet, welche in ihrem Kern eine ästhetische sein muss: Sie muss die Ähnlichkeiten in den verschiedenen Verwendungsweisen sehen. Eine Syntax „haben“ nur Inskriptionen, denn nur solche werden effektiv verwendet. Der Typ als solcher existiert nur als Artikulationsschema, verhält sich zur Inskription wie das WörterbuchLemma zum kontextuell verwendeten Wort. Doch dass die Inskription neben ihrem Typ gleichzeitig eine bestimmte Verwendungsweise und damit einen ‚möglichen‘ Kontext exemplifiziert, dies erst macht eine Syntax im engeren Sinn möglich. Drittens exemplifiziert jede dieser Inskriptionen in jeder ihrer Verwendungen entweder für sich oder im syntaktischen Verbund mit anderen Inskriptionen derselben Ordnung eine Weise der Referenz auf ein Bezugnahmegebiet. Dies erst macht aus den oben dargestellten Inskriptionen (ii) bis (iii) Wörter bestimmter Sprachen, denen wir in tradi14

15

So wie das Alphabet, die Menge {a, A, b, B, ..., z, Z}, selbst ein Artikulationsschema ist, anhand welchem wir eine etwas undeutlich geratene Inskription d etwa als d identifizieren, so ist ein orthographisches Wörterbuch ein Artikulationsschema, anhand dessen wir die Wörter unserer Schriftsprache als Wörter unserer Schriftsprache identifizieren. Dieses Schema kann, wie man sieht, andere enthalten. Vgl. hierzu Stetter (1991) und (1997, Kap. 1).

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tioneller Redeweise eine „Bedeutung“ zusprechen. Auf diesen drei Weisen der Exemplifikation und nur hierauf beruht ihr Status als Wörter einer bestimmten Sprache, gleich, ob es sich um Wörter der oralen oder der Schriftsprache handelt.16 Im Fall einer literalisierten Person kommt nun eine vierte Bezugnahme ins Spiel: nämlich die Abbildung des je verwendeten oralen oder literalen Wortes auf die je korrespondierende literale beziehungsweise orale Sprache. Bei nicht Literalisierten entfällt natürlich die Bezugnahme auf die Schriftsprache. Betrachten wir nun den einen Grenzfall, in dem das literale auf das orale Wort bezogen wird und nicht umgekehrt, so ergibt sich hier in der Tat eine systematische Weise, in der das geschriebene Wort etwas nicht exemplifiziert, sondern repräsentiert,17 nämlich eine Menge von ‚Lesarten‘: die Menge dessen, was man herkömmlich „Aussprachen“ des betreffenden Wortes nennt. Für die Funktionsweise der Schrift intentione prima ist jedoch – wie sich gezeigt hat – diese repräsentative Darstellungsweise sekundär. Funktional primär für jede Schrift sind dagegen die ersten drei Funktionen: die exemplikative Darstellung des jeweiligen Typs, eine spezifische syntaktische Verwendung und eine spezifische semantische Referenz. Es sind diese drei exemplifizierenden Bezugnahme-Weisen, die aus einer Menge von Schrift-Schemata allmählich eine Schrift-Sprache machen. Gerade im Bereich der Alphabetschrift fällt es bis heute schwer, dies zu verstehen. Zu verbreitet ist hier immer noch der Mythos vom Alphabet als einer „Lautschrift“, d. h. der Gedanke, die graphischen Zeichen müssten erst ins Medium des Oralen übersetzt werden, um Bedeutung zu gewinnen. Doch es genügt, auf einige bekannte Fakten zu verweisen, um zu sehen, dass er zu kurz greift: Schon in der neueren Geschichte der Kanji gibt es Belege dafür, dass neue Zeichen gebildet wurden, für die es im zeitgenössischen oralen Japanisch keinerlei Entsprechung gab. Ende des 19. Jahrhunderts standen japanische Philologen und Philosophen bei der Übertragung von Texten europäischer Philosophie ins Japanische immer wieder vor dem Problem, für Begriffe der metaphysischen Tradition – Sein, Wesen, Vernunft ... – aus Kombinationen verfügbarer Kanji neue Zeichen bilden zu müssen, da analoge Begriffe im zeitgenössischen Japanisch nicht zur Verfügung standen. Diese neuen Zeichen konnte man dann zwar durchaus lesen, ohne jedoch diese neuen Begriffe unmittelbar in die orale Sprache übertragen zu können.18 Der zweite signifikante, hier einschlägige Fall ist das Schreiben von Computerprogrammen. Es setzt eine digitalisierte Schrift voraus. Doch der Zweck eines in einer solchen Schrift verfassten Textes besteht nicht darin, in orale Sprache übersetzt, sondern darin, von einer Maschine gelesen zu werden. Und das Knowing-how eines Programmierers zeichnet sich dadurch aus, dass er die Strukturen sieht, die er erzeugt, dass er 16 17

18

Für Elemente der Gebärdensprache gilt Analoges. Allerdings ist der Begriff des Wortes nicht ohne weiteres auf diese übertragbar. Die individuelle Verwendung des Wortes wird natürlich in den meisten Fällen auch etwas repräsentieren, z. B. diesen Vorgang hier, über den wir gerade sprechen. Doch dabei handelt es sich nicht um eine Eigenschaft, die dem Medium eignet, sondern um ein Resultat der betreffenden Verwendung. Vgl. hierzu etwa Mori (1998).

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sie im zweidimensionalen Medium dieser Schrift erkennt und entwirft, nicht darin, dass er sich den Text erst einmal im Deutschen oder Englischen entwerfen würde, um ihn dann in sein Symbolsystem zu übersetzen. Im Medium dieser Schrift eröffnet er einen, bewegt sich in einem Denkraum, der jenseits der oralen Sprache zu verorten ist, in einem Raum, dessen Syntax auf den medialen Eigenschaften der Visualität, der Starre und eben der Digitalität beruht, eine Syntax, die man „liest“ wie ein Komponist seine Partitur.19 Hier zeigt sich ein autochthoner Zug der Schrift, den sie dem Graphismus verdankt, der sie doch bei aller Unterordnung unter bzw. Anpassung an die orale Sprache stets geblieben ist.

4.2

Artikulation und Typisierung

Die Deutung, die Chomsky dem tradierten Begriff der Grammatik gegeben hat, und die damit verbundene Verbannung der Performanz aus dem Gebiet gediegener linguistischer Forschungsgegenstände hat der Linguistik Jahrzehnte lang den Blick verstellt für das, was Artikulationsschemata sind. In einer generativen Grammatik erscheinen sie als Konjunkte von Kategorien: S → NP + VP, der Satz besteht aus Subjekt und Prädikat. Der Ausdruck „NP + VP“ steht hier für ein Schema der Satzbildung. Was aber macht effektiv das einzelne Schriftschema – a, e, ..., m, n, ..., der, die, das, ..., DET + N, NP + VP, … – zu einem solchen? Nicht einfach die Tatsache, dass es in einer Ersetzungsregel als Konstituente einer übergeordneten Domäne erscheint.20 Dass eine Figur wie „b“ als ein Artikulationsschema verwendet wird, ergibt sich erst daraus, dass sie in Performanzen P’, P’’, P’’’, ... mehr oder weniger regelmäßig im Unterschied zu anderen Figuren eines bestimmten Repertoires RP verwendet wird, etwa „d“, „B“, „p“ usw. Dies nun nicht beliebig, sondern hinsichtlich bestimmter Kriterien, die wir in ihrer Beurteilung an sie als Figur heranzutragen gelernt haben, unter denen wir sie also regelmäßig betrachten: Das b unterscheidet sich vom d durch eine Drehung um die Längsachse, das m vom n durch einen „Haken“ mehr usw. Für jede dieser von „b“ unterschiedenen Figuren „d“, „B“, „p“ usw. gilt aber relativ zu P’, P’’, P’’’, ... wie relativ zu RP dasselbe. Erst dies macht aus der Menge {b, d, B, p, ...} ein Repertoire. Dieses, RP, kann man so seinerseits als ein Artikulationsschema auffassen, das für eine Menge von Performanzen {P’, P’’, P’’’, ...} in bestimmten Hinsichten gilt. Es macht die Inskription „b“ also zum b, dass wir sie als ‚typisch‘ an- und wieder erkennen, indem wir sie von allen anderen Figuren unterscheiden lernen, die insgesamt „das“ Alphabet bilden. Dieses ist also eine Sammlung von Typen, in der jeder für sich arbiträr zu sein scheint, die aber ihre Unterschiede sämtlich aus einem begrenzten Repertoire von Ele19

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Sybille Krämer hat schon früh zu Recht darauf hingewiesen, dass man die Funktion der Schrift nicht auf Kommunikation beschränken kann, ja dass manche Schriftsysteme ausschließlich kognitive Funktionen erfüllen. Vgl. hierzu Krämer (1988) und (1996). Ich bezeichne als Domäne das Linkselement einer Ersetzungsregel. Deren Rechtselemente bilden die Konstituenten dieser Domäne. In „A → B + C“ sind somit B und C Konstituenten von A, A die Domäne von B und C.

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menten gestalten: beim Alphabet aus Kreis, Halbkreis und Geraden. Jeder Typ exemplifiziert für sich also eine im Rahmen des Artikulationsschemas nicht nur ‚mögliche‘, sondern in seiner Differenz zu allen übrigen Typen funktionale Lösung.21 Doch ist andererseits der Typ nur in seinen Inskriptionen gegeben. Typen bilden sich also – in dem hier betrachteten Bereich symbolischer Performanzen –, indem man eine Inskription – aus welchen Gründen auch immer – als Muster nimmt für die Erzeugung ähnlicher anderer. Jeder sprachliche Typ ist also in erster Instanz analogisch gebildet, und er existiert nur relativ zu einem Artikulationsschema, wie auch immer man sich dieses denken mag, ob als interne Grammatik, als externes Regelwerk oder auch einfach als Knowing-how von Sprechern ihrer jeweiligen Sprache. Dies ist der entscheidende Zusammenhang: Jede Performanz P* wird in ihrer spezifischen Gestalt durch die ‚kompetente‘ Bezugnahme auf eine Menge von Artikulationsschemata R’, R’’, ... geprägt. Andererseits gilt, dass jedes Artikulationsschema nur relativ zu Performanzen als solches aufgebaut werden kann, indem eben eine Inskription als Muster für andere genommen wird. Zum Schluss läuft alles auf den Vergleich von Performanzen hinaus. Die Kompetenz, die hierfür erfordert ist, besteht nicht darin, der Entwicklung der jeweiligen Performanz Punkt für Punkt ihre Form vorzuschreiben. Sie besteht vielmehr darin, das Ähnliche in verschiedenen Performanzausschnitten PA’, PA’’, PA’’’, ... relativ zu Differenzen zu anderen Ausschnitten PB’, PB’’, PB’’’, ... zu sehen. Sehen, unterscheiden, identifizieren kann man etwas immer nur, sofern es uns medial „gegeben“ ist. Man wird der Bedeutung, die Derridas phänomenologischer „Grammatologie“ in diesem Zusammenhang zukommt, vielleicht am ehesten gerecht, wenn man sie als den Versuch begreift, die „ursprüngliche“ Handlung oder besser den elementaren Vorgang zu verstehen, mit der die erste Spur gesetzt wird, auf dem jedes Unterscheiden und Identifizieren aufruht. Auch ein solches Spur-Setzen ist nur in einem Medium möglich, in einem mit einer Apparatur welcher Art auch immer operierenden Verfahren. Wie man sieht, ist es auf dieser ersten Ebene mit dem Begriff eines Mediums geradezu identisch: Schreiben ist mit Derrida als die „Temporalisation eines Erlebten“ zu begreifen: „Die unerhörte Differenz zwischen dem Erscheinenden und dem Erscheinen (zwischen der „Welt“ und dem „Erlebten“) ist die Bedingung für alle anderen Differenzen, alle anderen Spuren, sie ist selbst schon eine Spur ...“22 Das „Unerhörte“, das Derrida hier beschreibt, ist, in unsere Sprache übersetzt, der Umschlag des ephemeren medialen Vollzugs in die Persistenz, wo und wie immer diese „eingeschrieben“ sein möchte: ob als Muster, als Typ oder als Artikulationsschema.

21 22

Zum Beispiel haben die Ober- und Unterlängen der Minuskeln ihre Funktion in der optischen Gliederung des Schriftbildes. Vgl. Derrida (1974, S. 113 f.), dazu Stetter (1997, S. 293 ff.).

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5. Das Problem der Spur Das Rätsel der Spur liegt demnach genau darin, dass die Formung der medialen Eigenschaften im Rahmen der oben beschriebenen Oppositionen von ephemer : persistent und analog : digital usw. die Voraussetzung dafür ist, in der jeweiligen Performanz überhaupt etwas Bestimmtes zu artikulieren. Die Markierung eines Unterschieds in einem Bild ist bis auf den einen Grenzfall, dass dieses in einem digitalen Schema erzeugt wird, per se stets die Markierung eines Unterschieds-im-Analogen, die Markierung eines Unterschieds in einem in Alphabetschrift geschriebenen Text per se eine Markierungim-Digitalen, die Markierung eines Unterschieds in der oralen Sprache eine Markierung-im-Bewegten usw. Es erfordert somit stets eine besondere Abstraktionsleistung, von der Ebene der Symbolartikulation auf die der diese fundierenden medialen Eigenschaften zu gelangen. Das – mit Krämer zu sprechen – für die gegebene Spur Charakteristische ist, mit anderen Worten, das Besondere, das die Eigenschaften des Mediums, in welches diese Spur eingeschrieben wurde, von denen anderer Medien unterscheidet. Jäger hat in neueren Arbeiten zum Konzept der Transitivität23 diese Metapher aufgegriffen und ihr einen über Krämers Überlegungen wohl hinausgehende Deutung gegeben. Mit Peirce könnte man deren Grundgedanken etwa folgendermaßen umschreiben: Was uns als erste Erkenntnis von etwas erscheint, ist je schon durch Zeichen, Indizes, wenn man so will: Spuren von etwas vermittelt, ist insbesondere durch die Informationen verarbeitenden Prozesse unserer Sinne und neuronalen Organisation hindurchgegangen. Und Erkenntnis-für-uns kann dieses uns so oder so Gegebene nur dadurch werden, dass es in uns verständliche Zeichen gefasst wird, namentlich in Ausdrücke unserer Sprache, auf die wir uns dann, diese interpretierend, beziehen können. Schon der für uns „erste“ Akt, etwas uns etwa sinnlich Gegebenes, ein plötzlich in uns entstehendes Gefühl beispielsweise, sprachlich zu fassen, ihm einen Namen in unserer Sprache zu geben, wäre damit schon als eine Art von Transkription zu begreifen, wobei hier nun der Bereich der Medien erweitert ist, über dem eine Transkriptionsoperation vollzogen wird: Nicht mehr nur von Schrift zu Schrift oder von oraler Sprache zu Schrift, sondern als Übertragung aus beliebigen symbolischen Medien in Sprache oder Schrift oder auch, in umgekehrter Perspektive, als Übertragung aus Sprache oder Schrift ins Bild. Hier ist ein tiefes philosophisches Problem berührt. Platon hat es im Theaitetos ins Zentrum seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen gestellt:24 Fassen kann das Auge nur, was seiner Beschaffenheit entspricht, was ihm analog ist. Dem Wahrgenommenen muss ein Wahrnehmbares entsprechen: dass wir Rotes sehen können, ist analytisch nicht davon abzutrennen, dass Rot eine für uns ‚mögliche‘ Farbwahrnehmung ist. Transkription ist, auf unser Problem übertragen, nur dort möglich, wo es ein Minimum an Entsprechungen zwischen dem zu transkribierenden Material und dem Transkript gibt. Wo wären aber diese zu suchen, oder worin wäre, anders gefragt, die Übersetzungsleis23 24

Vgl. Jäger (2002). Vgl. Platon (1990), Theaitetos, 153d ff.

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tung fundiert, auf der ein transkriptiver Akt beruht? Einen Hinweis darauf könnte der hier schon öfter gestreifte Zusammenhang von Syntax und Semantik geben. Auch er muss ja im Licht der Symboltheorie, die diesen Überlegungen zugrunde liegen, neu bedacht werden. Syntax wie Semantik werden in der nachsaussureschen Linguistik als Dimensionen der Beschreibung der „langue“, des Sprachsystems, begriffen. Wir haben aber gesehen, dass jede Syntax in Bezugnahmeleistungen von Inskriptionen auf Inskriptionen, d. h. in Performanzakten begründet sein muss. Die Frage ist, wie sich von dort her der Begriff einer Systemsyntax entwickeln lässt. Syntaktische Formen gelten im Sprachspiel der modernen Linguistik als ‚arbiträre‘ Formen im Sinne Saussures.25 Studiert man das Problem jedoch am Fall einer extrem reduzierten Sprache, etwa der von Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen I, 8 beschriebenen „primitiven“ Sprache, die neben dem Vokabular der „Sprache (2)“ – Würfel, Säule, Platte, Balken26 – Zahlwörter a, b, c, d, ..., die deiktischen Ausdrücke dorthin und dieses und schließlich Farbmuster ■ □ ◙ ◘ enthält und insofern im Unterschied zur Sprache (2) schon eine rudimentäre Syntax aufweist,27 so ergeben sich sofort eine Reihe von Korrespondenzen zwischen der Syntax und der Semantik dieser Sprache.28 Es zeigt sich, dass die syntaktischen Regeln auf formale Begriffe dieser Semantik abbildbar sind. Dass der Quantor d zwar wie in „d-Platte-dorthin“ mit den Nominatoren „Würfel“, „Platte“ usw. verbunden werden kann, nicht aber mit den deiktischen Ausdrücken „dieses“ oder „dorthin“, hängt mit den unterschiedlichen Typen von Extensionen zusammen, die diesen Wörtern in ihrer Anwendung auf das Bezugnahmegebiet gegeben werden: die Extension von „Würfel“ oder „Platte“ ist eine Klasse, deshalb kann hier quantifiziert werden, die von „dieses“ oder „dorthin“ dagegen nicht, denn mit diesen Wörtern trifft man keine Unterscheidungen, sie sind keine Prädikatoren. Also kann man eine Syntax-Regel dieser Sprache wie PH → Q + N29 als semantisch fundiertes Artikulationsschema auffassen, das als Schema ähnlicher Ausdrücke verwendet werden kann, das mithin der Kompetenz, die den konkreten Performanzakt zu vollziehen hat, als Muster vorgegeben ist. Die syntaktischen Formen einer Sprache, ja alle von der Linguistik beschriebenen systematischen Eigenschaften von Sprachen oder auch ‚der‘ Sprache, erweisen sich in solcher Perspektive als genau das, was wir oben als ‚mediale‘ Eigenschaften beschrieben hatten. Sie sind nicht einfach technische Mittel, denn sie werden im Verfahren, performativ, dem Mediatisieren – dem je erzeugten Ausdruck – eingeprägt, und sie gehen andererseits nicht auf das Konto der die Performanz leitenden Kompetenz. Damit lässt sich nun der Metapher der Spur eine diese zugleich bestätigende wie präzisierende Deutung geben: Wenn ein syntaktisches Artikulationsschema wie „PH → Q + N“ sich als Schematisierung eines formalsemantischen Zusammenhangs zwischen Quantor und Prädikator begreifen lässt – verallgemeinert: wenn ein syntaktisches Arti25 26 27 28 29

Vgl. hierzu Stetter (1997, Kap. 4). PU I, 2. Es lassen sich in dieser Sprache Ausdrücke wie „d-■-Platte-dorthin“ oder „dieses-dorthin“ bilden. Vgl. hierzu Stetter (1997, S. 546 ff.). PH = Phrase, Q = Quantor, N = Nomen.

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kulationsschema Asyn die Schematisierung einer formalsemantischen Funktion Fsem ist, dann bewahrt sich die Spur dieser Funktion Fsem in jeder Instantiierung von Asyn. Was Wilhelm von Humboldt als die dem grammatischen Bau einer jeden Sprache inhärente besondere Weltansicht beschrieben hat, die Perspektive, unter welcher wir, in dieser Sprache uns bewegend, unser Denken und sprachliches Handeln artikulieren, kann man so als die spezifische Formung begreifen, das dieses Denken in der Performanz durch den Gebrauch der jeweils verwendeten syntaktischen, morphologischen, phonologischen oder graphematischen Artikulationsschemata erfährt. Als Ausschnitt bestimmter medialer Eigenschaften der oder einer Sprache betrachtet ist die Syntax dann auch nicht mehr ein unbegreifliches Unikat, Resultat eines mysteriösen Evolutionssprungs, als das sie aus der Perspektive der Nativismus-Hypothese Chomskys erscheinen muss, sondern sie steht in einer Reihe mit analogen Eigenschaften anderer symbolischer Darstellungsweisen – Geste, Gebärde, Tanz, Musik, ... Bild, Notationen, ... – mit denen sie manches gemeinsam hat und sich von ihnen in Hinsichten unterscheidet, die sie dann eben zur Syntax dieser oder jener Sprache oder dieser oder jener Schrift machen. Selbst zur typenlosen Syntaktik des Bildes gibt es noch eine Reihe von Entsprechungen. Um dies zu sehen, braucht man lediglich die Evolution der Schrift von frühesten uns überlieferten Graphismen und Bilderschriften bis hin zum Computerprogramm durchzugehen.30 Jedes digitale Artikulationsschema – darauf hat Goodman aufmerksam gemacht – wird von beliebig vielen analogen impliziert.31 Nicht das einzelne Bild, die einzelne Inskription ist für sich digital oder analog, vielmehr erst das Bild oder die Inskription relativ zu einem bestimmten Artikulationsschema. Die Buchstabenfolgen i + n oder d + a + s sind digital relativ zum Alphabet, die Wörter in oder das relativ zum Artikulationsschema orthographisches Wörterbuch des Deutschen usw. Aber das Alphabet kann man sich eingeschlossen denken in eine offene Zusammenstellung von Schrifttypen, die uns historisch bekannt geworden sind: lateinische, griechische, kyrillische, arabische, koreanische usw., diese Zusammenstellung wiederum ergänzt durch Kursivvarianten, diakritische Varianten oder andere. Bezogen auf ein solches umfassenderes Schema wäre nun auch die einfache Buchstabenfolge i + n keineswegs mehr digital.32 Der Grenzfall ist in jedem Fall ein Schema, das gegen kein anderes mehr auf Digitalität hin geprüft werden kann. Dieser Fall ist gegeben etwa bei einem Bild, das ohne eine vorgängige Skizze, also spontan auf eine grob strukturierte Leinwand mit grobem Pinsel und dickflüssigen Farben gemalt wird. Hier gibt es, so darf man annehmen, kein Gliederungsschema und schon gar keine syntaktischen Typen. Dennoch kann selbst ein solches durchgängig ‚dichtes‘ Bild durch Tilgungsoperationen auf ein digitales Schema projiziert werden. Jede Digitalkamera verfährt so.

30 31 32

Vgl. hierzu Leroi-Gourhan (1984). Vgl. Goodman/Elgin (1989, S. 169 ff.). Denn es wäre möglicherweise nicht mehr effektiv entscheidbar, ob i nicht zum Typ I oder zu einem anderen Typ I’ gehört.

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Die der Botschaft eingegrabene Spur ist, so könnte man resümieren, das Gepräge, das die Eigenschaften des Mediums der Form des Mediatisierten gibt. Dies gilt selbst für nicht mehr typisierbare Eigenschaften wie die Beschaffenheit einer Leinwand oder eines Pinsels, aber auch für ganz und gar digitale Eigenschaften, auf denen z. B. der ‚Schnitt‘ eines Films beruht.33 Das Studium von Systemeigenschaften einer Sprache befasst sich somit mit einem spezifischen Ausschnitt von deren medialen Eigenschaften. Solange wir bei dem eingegrenzten Bereich von Medien bleiben, den wir hier betrachtet haben, solange lassen sich – wie wir gesehen hatten – deren ‚mediale‘ Eigenschaften34 als Exteriorisierungen anthropologischer Funktionen begreifen, also als Evolutionsprodukte. Das Artikulationsschema {A, B, C, …, Z} ist ebenso Resultat gelungener Rückkopplung von Phonismus und Graphismus wie die Menge der mit ihm verbundenen diakritischen Zeichen {¨, ~, ¸, …} eine Sammlung von Spuren der Anpassung der je zuvor erreichten Problemlösung, die jede Verschriftung einer Sprache darstellt, an ein neues Koordinationsproblem.35 Jeder Literalisierungsprozess ist daher mehr als „nur“ lesen und schreiben lernen. Er ist in einem die Übertragung des auf dem Niveau der Ethnie erreichten Problemlösungsniveaus auf die Ebene des Individuums36 wie gleichzeitig die Prägung der individuellen literalen Kompetenz dadurch, dass ihr mit der medialen Apparatur, über der sie zu operieren lernt, bestimmte Formen vorgegeben sind, in denen sie sich lernen muss zu bewegen, mögen sie nun diagrammatisch sein wie {a, b, c, …} oder ‚voll‘ wie {上, 下, 丙, 中, 五, 儧, …}.37 So könnte es in der Tat sein, dass die Evolution eines bestimmten, nämlich auf digitalen Schemata beruhenden Schrifttyps zur Ausprägung eines intellektuellen Typus beiträgt, dessen Kernkompetenz auf der Fähigkeit beruht, mit Formen phantasievoll umzugehen, die dem Diagrammatischen nahe sind. Hier würde sich nun – sehe ich dies recht – die medientheoretische Analyse dem von Ludwig Jäger umschriebenen Typus von Spur nähern. Dies sei abschließend an einem Beispiel wenigstens angedeutet, in dem die Digitalität der Alphabetschrift eine herausragende Rolle spielt, und paradoxerweise eine Rolle per analogiam: Als Grundbegriff der modernen Syntax, auf dem jede Phrasenbildung in einer natürlichen Sprache beruht, gilt die Relation von ‚Kopf‘ und ‚Mitspielern‘, in der klassischen Grammatik bekannt unter dem Sonderfall der Rektion. Diese Relation ist eine asymmetrische syntagmatische Relation, und sie wird in einer syntaktischen Beschreibung als je eindeutige Relation unterstellt. Steht also ein Kopf Ki zu Mitspielern Mj und Mk in syn33 34

35 36 37

Die Schnittfolge ist dagegen in der Regel analog. Jedes Medium hat natürlich beliebig viele andere Eigenschaften: Viele Filme sind z. B. langweilig oder teuer in der Produktion. Aber weder die eine noch die andere Eigenschaft kann dem betreffenden Film qua Medium zugeschrieben werden. Das Griechische ist von Phönizischen her verschriftet worden, das Altfränkische vom Mittellateinischen her usw. Vgl. Leroi-Gouhan (1984, S. 273 ff.). In Hiragana geschriebene Wörter dürften hier einen mittleren Platz zwischen Wörtern in Alphabetschrift und Kanji halten.

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tagmatischer Beziehung, so ist Ki R Mj ≠ Ki R Mk und dasselbe gilt für die inversen Relationen. Die traditionelle Grammatik hat hier mit Begriffen wie Genitiv-, Dativ- und Akkusativ-Objekt das Ähnliche solcher Relationen hervorgehoben. In dieser Perspektive gewinnt nun gerade das Nichtidentische Interesse. Denn wenn die Kopf-MitspielerRelation grundsätzlich asymmetrisch ist und es keine solchen Relationen gibt, von denen zwei gleich wären, dann bedeutet dies im Licht unserer Überlegungen, dass wir unterstellen, dass die Syntax auch oraler Sprachen digital organisiert ist. Dafür gibt es auf der Ebene phänomenaler Objektbeschreibung keine Anhaltspunkte. Wir können diese Theorie nur an alphabetschriftlich transkribiertem Material ansatzweise durch empirische Belege stützen. Doch scheint das Faktum, dass sich eines der ältesten Lehrstücke schon der antiken Grammatiker auch als deskriptives Schema in modernen Syntaxtheorien behauptet hat, wenn auch in transkribiertem Gewand, doch als Indiz dafür begriffen werden kann, dass es sich bei diesem Schema um ein „fruchtbares“ Schema in dem Sinne handelt, dass es uns ein relevantes Funktionsschema der Syntax natürlicher Sprachen sichtbar macht. Und da sich das deskriptive Schema selbst einer bestimmten medialen Transkription der oralen Sprache verdankt – das hatten wir gesehen –, kann man in ihm nicht nur die Spur der Transkriptionslogik sehen, die das digitale Artikulationsschema des Alphabets allmählich als Grenzfall vieler analoger Schemata ausgesondert hatte, sondern darüber hinaus auch als Spur der zu transkribierenden Sache selbst: dass auch unsere formalen Schrift-Grammatiken uns ein Bild der oralen Sprache liefern, das in dieser selbst seine Gründe – das eben seine Spuren in dieser hat. Die Digitalität des Alphabets – Spur der Möglichkeiten von Typenbildung, die in den Artikulationssystemen der oralen Sprache ausgebildet waren. Hier hat die Evolution der Alphabetschrift den Grenzfall von Typenbildung zum Grundprinzip dieses Schrifttypus ausgebildet, der sozusagen antipodisch der Fülle pikturaler Syntaktik gegenübersteht. Dies weist die Alphabetschrift als eine späte Entwicklung aus, die auf den Resultaten von Transkriptionen oraler Sprache durch Bilderschriften, Logographien, Silbenschriften aufruht. Dass sie in diesem Sinne ein „spätes“ Resultat der Evolution ist, heißt auf der anderen Seite, dass erst in ihr das abstrakteste mediale Artikulationsprinzip von Sprache erfasst wurde: die Erzeugung von Zeichen aus willkürlichen Differenzen opaken Materials, das jenseits alles Semiotischen zu verorten ist. Hier hat Saussures Arbitraritätsprinzip seine Wurzeln. Und Derridas „differance“ lässt sich aus solcher Perspektive begreifen als Resultat der Übertragung dieses „Ursprungs“ der Linguistik auf das in jeder Hinsicht infinite Gebiet analoger, sich bewegender Fülle. Man muss – gerade von einem logischen Standpunkt her – die Gratwanderung bewundern, in der es Derrida gelungen ist, diese archê des Beginns aller Typisierung zu fassen. Der „nachrangige“ Rang der Alphabetschrift in dieser Reihe von Transkriptionen von Artikulationsschemata oraler Sprache – fixiert in der singulären Eigenschaft des Digitalen – ist es dann allerdings auch, der diesem Spätling der Evolution einen einzigartigen Rang unter allen Transkriptionen eingeräumt hat. Diese bis ins Methodische und Technische hineinreichende Routinisierung der Übertragung analoger Information in digita-

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lisierte Form hat die Bedingungen geschaffen, die notwendig waren, die „neuen“, auf elektronischer Datenverarbeitung beruhenden Medien zu schaffen.

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Lambert Wiesing

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Nach Aristoteles lassen sich Begriffe durch den nächst höheren Oberbegriff und das spezifische Unterscheidungsmerkmal bestimmen. Obwohl dieser traditionelle Gedanke vom genus proximum und der differentia specifica nicht dem neuesten Stand einer modernen Definitionstheorie entspricht, lässt er sich ausgesprochen gut verwenden, um mittels seiner innerhalb der gegenwärtigen Philosophie des Bildes die dominanten Richtungen idealtypisch zu beschreiben. Denn es ist ja keineswegs so, dass zu jedem Ding immer nur ein genus proximum gegeben sein muss; für jedes Ding lassen sich mehrere Gattungen finden. Oft ist strittig, um was für ein allgemeines Phänomen es sich bei einem konkreten Ding handelt – und genau dies scheint sich in der gegenwärtigen Bildphilosophie zu bestätigen und innerhalb dieser zu verschiedenen Richtungen zu führen. Die konkurrierenden Arten der Bildphilosophie unterscheiden sich jedenfalls nicht zuletzt dadurch, dass sie Bilder jeweils als Gegenstände verschiedener Gattungen behandeln. Man kann auch sagen: Über das genus proximum des Bildes gehen die Meinungen auseinander. Zumindest lassen sich ein anthropologischer, semiotischer und wahrnehmungstheoretischer Ansatz innerhalb der Bildphilosophie differenzieren, wenn man die Hauptthesen dieser Ansätze in einer ‚aristotelisierenden‘ Form parallelisiert:1 Für den anthropologischen Ansatz sind Bilder zuerst einmal Artefakte des Menschen; die Gattung der vom Menschen hergestellten Dinge ist das genus proximum. Doch offensichtlich sind nicht alle Artefakte immer Bilder. Unter den vielen Artefakten sind Bilder besondere Dinge, denn zu ihrer Herstellung bedarf der Mensch spezifisch menschlicher Fähigkeiten, weshalb die Bildwissenschaft als Kunde vom Menschen verstanden und betrieben werden sollte. Der semiotische Ansatz stellt hingegen das Bild vor einen anderen Hintergrund: Bilder sind zuerst einmal notwendigerweise Zeichen. Aber wiederum gilt, dass sie unter den vielen Zeichen eine besondere Art des Zeichens sind, weshalb aus dieser Sicht die innersemiotische Besonderheit des Bildes das genuine Forschungsinteresse der Philosophie des Bildes sein sollte. Demgegenüber baut der wahrnehmungstheoretische Ansatz auf dem Gedanken auf, dass alle Bilder zuerst einmal sichtbare Gegenstände sind. Auch hier verlangt das notwendige Merkmal des Bildes nach einer Ergänzung durch ein hinreichendes Merkmal. Unter den vielen sichtba1

Bisher findet sich zumeist eine Einteilung der bildwissenschaftlichen Studien in die semiotische (oder sprachanalytische) und die wahrnehmungstheoretische (oder phänomenologische) Richtung; so zum Beispiel bei Klaus Sachs-Hombach (2001, S. 16 ff.) und Oliver R. Scholz (2000, S. 667 ff.).

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Lambert Wiesing

ren Gegenständen sind die Bilder in ihrer Sichtbarkeit von allen anderen sichtbaren Dingen unterscheidbar. Deshalb gilt es aus der Sicht des wahrnehmungstheoretischen Ansatzes, dass eine Philosophie des Bildes die Sichtbarkeit des Bildes beschreibt.

Der anthropologische Ansatz Ein paradigmatischer Eindruck von dem besonderen Anliegen und den Stärken des anthropologischen Ansatzes innerhalb der Philosophie des Bildes lässt sich durch Hans Jonas’ mittlerweile klassischen Aufsatz Die Freiheit des Bildens: Homo pictor und die differentia des Menschen von 1961 gewinnen. Jonas baut seine Argumentation auf dem Gedanken auf, dass ein Bild ein Artefakt ist, welches ausschließlich Menschen herzustellen in der Lage sind. Sollte ein Bild gefunden werden, darf mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass dieses von Menschen hergestellt wurde. Nun mag das Bild nicht das einzige Produkt sein, dessen Herstellung man ausschließlich Menschen zutraut; das ist aber auch nicht das Argument von Jonas. Die besondere philosophische Relevanz der menschlichen Fähigkeit zur Bildproduktion wird erst dann ersichtlich, wenn man den Blick von den konkreten Bildern weg und hin zu den prinzipiellen „Bedingungen der Möglichkeit des Bildmachens“ (Jonas 1987, S. 35) lenkt. Man kann etwas überspitzt sagen: Jonas wendet sich dem Bild nicht zu, weil er sich für Bilder irgendeiner Art interessiert, sondern weil er wissen möchte: „Welche Eigenschaften sind in einem Subjekte erfordert für das Machen oder Auffassen von Bildern?“ (Ebd., S. 33) Doch auch selbst diese Frage gibt nicht das eigentliche Interesse wieder. Auch für die Eigenschaften im Subjekt, die eine Bildproduktion ermöglichen, interessiert sich der anthropologische Ansatz nach Jonas nicht etwa, weil diese die Eigenschaften sind, die eine Bildproduktion ermöglichen. Der Grund ist vielmehr, dass diese Eigenschaften mit anderen Eigenschaften identifiziert werden. Jonas spricht den subjektiven Voraussetzungen zur Ermöglichung von Bildproduktionen eine anthropologische Bedeutung zu – und genau in dieser Hinsicht ist er bis heute prototypisch für den anthropologischen Ansatz innerhalb der Bildwissenschaft. Danach sind die Bedingungen der Möglichkeit von Bildproduktion identisch mit den Bedingungen der Möglichkeit des bewussten, menschlichen Daseins. Man hat folgenden Argumentationsschritt vor sich: Bilder werden zuerst darauf hin untersucht, welche transzendentalen Voraussetzungen zur Nutzung des Bildmediums notwendig sind. Wenn diese an den Bildern erkannt worden sind, dann hat man hierin nichts anderes als die anthropologischen Voraussetzungen für das menschliche In-der-Welt-Sein gefunden. Die Bedingungen der Möglichkeit zur Bildproduktion jeglicher Art sieht Jonas in der Fähigkeit des Menschen zur Vorstellungsbildung. Nur ein Subjekt mit Vorstellungen kann auch Darstellungen erzeugen. Zum Herstellen eines Bildes bedarf es der Fähigkeit zur mentalen Bildlichkeit: der Einbildungskraft. Zweifelsohne handelt es sich hierbei – und dies sieht Jonas durchaus – nur um eine notwendige und keineswegs hinreichende Bedingung: „Bilder müssen schließlich hergestellt, nicht nur konzipiert werden. Ihr

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äußeres Dasein als Ergebnis menschlicher Tätigkeit offenbart daher auch einen physischen Aspekt der Macht, die im Bildvermögen wirksam ist: die Art Gewalt, die der Mensch über seinen Körper hat“ (ebd., S. 40). Hier kann man Jonas nur beipflichten: Auch ein handwerkliches Können ist zweifelsohne zur Bildproduktion notwendig: „nur so kann die Vor-stellung zur Dar-stellung fortschreiten“ (ebd.). Doch entscheidend bleibt die Voraussetzung, die dem handwerklichen Können vorausgehen muss und die Basis bildet, ohne die kein handwerkliches Können greifen könnte. Denn genau diese notwendige Voraussetzung lässt sich als die grundlegende Fähigkeit zur Abstraktion und Vorstellungsbildung interpretieren, als die Fähigkeit, sich von der eigenen wahrnehmbaren Daseinssituation eine Vorstellung bilden zu können. Sobald sich ein Bewusstsein von Welt und Dasein ausbildet, muss der Mensch von der Welt zurücktreten, das heißt, er muss die Welt als etwas wahrnehmen, das der Wahrnehmende selbst nicht ist: „Das Sehen bereits enthielt ein Zurücktreten von der Andringlichkeit der Umwelt und verschaffte die Freiheit distanzierten Überblickes. Ein Zurücktreten zweiter Ordnung liegt vor, wenn Erscheinung als Erscheinung ergriffen“ wird (ebd., S. 38). Es ist gerade diese These vom Zurücktreten durch Bewusstsein, die keineswegs spezifisch für die Bildphilosophie von Hans Jonas ist, sondern sich eher wie ein roter Faden durch anthropologisch argumentierende Bildtheorien zieht, das heißt in Bildtheorien vorkommt, die dem Bild die Rolle zusprechen, die Bedingungen des menschlichen Daseins oder gar des Bewusstseins zu zeigen. Zumindest findet sich diese Grundannahme auch bei Vilém Flusser und bei Jean-Paul Sartre, und zwar in einer Weise, die sich gut mit Jonas vergleichen lässt. Ähnlich wie Hans Jonas baut auch Vilém Flusser seine Bildtheorie auf der Überzeugung auf, dass die spezifisch menschliche Tätigkeit nicht das Sprechen, sondern die Fähigkeit zur Bildproduktion ist. Man kann sogar sagen, dass in diesem Zusammenhang sich Flusser erstaunlich gleich lautend wie Jonas äußert: „Zuerst sei die erste bildermachende Geste betrachtet. Als Beispiel dafür kann das Bild des Ponys an der Höhlenwand von Peche-Merle dienen. Wenn man versucht, die Geste solch eines frühen Bildermachers nachzuvollziehen, dann wird man etwa das folgende sagen: Er ist von einem Pony zurückgetreten, hat es sich angeschaut, hat dann das derart flüchtig Ersehene an der Felswand festgehalten. [...] Die grundsätzliche Frage ist, wohin man vom Pony zurücktritt. Man könnte meinen, es genüge, einige Schritte zurück vom Pony zu machen und in einen etwas davon entfernteren Ort (zum Beispiel auf einen Hügel) zu treten. Wir wissen jedoch aus Erfahrung, daß diese Schilderung nicht völlig zutrifft. Um sich ein Bild vom Pony zu machen, muß man sich zugleich auch irgendwie in sich selbst zurückziehen. Dieser seltsame Un-ort, in den man dabei tritt und aus dem hinaus man sich Bilder macht, ist in dieser Tradition mit Namen wie ‚Subjektivität‘ oder ‚Existenz‘ bezeichnet worden. Etwa so: ‚Einbildungskraft‘ ist die eigenartige Fähigkeit, von der gegenständlichen Welt in die eigene Subjektivität zurückzutreten“ (Flusser 1990, S. 116). Es ist genau diese Bedeutung der Einbildungskraft (man spricht auch von Vorstellungskraft oder Imagination), welche vor Jonas und Flusser kaum jemand anders genauer als Jean-Paul Sartre in seiner großen Studie Das Imaginäre von 1940 herausgearbeitet hat. Aus dieser Perspektive kommt dem phänomenologischen Denken Sartres eine entscheidende Vorreiterrolle für den anthropologischen

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Ansatz zu. Denn es ist Sartre, der die Frage, was „die Bedingungen der Möglichkeit eines Bewußtseins im allgemeinen“ (Sartre 1980, S. 280) sind, in einer Philosophie des Bildes stellt: „Die Vorstellungskraft ist keine empirische und zusätzliche Fähigkeit des Bewußtseins, sie ist das ganze Bewußtsein, insoweit es seine Freiheit realisiert; jede konkrete und reale Situation des Bewußtseins in der Welt geht mit dem Imaginären schwanger, insofern sie sich immer als ein Überschreiten des Realen darbietet“ (ebd., S. 289). Auch Sartre arbeitet ähnlich wie Jonas und Flusser mit einer Distanzierungsmetapher: „Damit ein Bewußtsein vorstellen kann, muß es sich der Welt durch sein Wesen selbst entziehen, von sich aus einen Abstand zur Welt einnehmen können“ (ebd., S. 286). Der „Abstand zur Welt“ entspricht bei Jonas und Flusser dem Zurücktreten: „das Reale also auf Distanz halten“ (ebd.). Wer von der Welt nicht zurücktreten kann, ist für Sartre in der Welt wie eine Sache „festgeleimt“; wer dieses bildliche Zurücktreten nicht kann, kann nicht in der Weise eines Menschen in der Welt sein, sondern hat nur „Ein-Weltstück-Sein“ (ebd., S. 285): „Wenn überhaupt ein Bewußtsein denkbar wäre, das nicht vorstellte, müßte man es verstehen als im Seienden unablösbar festgeleimt und ohne Möglichkeit, etwas anderes als das Seiende zu erfassen“ (ebd., S. 290). Kurzum: „Es ist ebenso absurd, ein Bewußtsein zu denken, das nicht vorstellte, wie ein Bewußtsein, das nicht das cogito vollziehen könnte“ (ebd., S. 292). Die Beispiele von Jonas, Flusser und Sartre stehen zwar nicht in gleicher Weise, aber doch gleichermaßen für den zentralen Grundgedanken einer jeden anthropologischen Bildtheorie: Die bildliche Vorstellung ist nicht nur die Bedingung einer bestimmten Tätigkeit von Menschen, eben des Bildmachens, sondern in der Fähigkeit des Bildmachens gilt es, eine Bedingung der Möglichkeit von Bewusstsein und menschlichen Daseins zu sehen. Systematisch lässt sich dieser Schlüsselgedanke auch anders formulieren: Die Rede von inneren und äußeren Bildern, von Bildern im Geiste und Bildern an der Wand ist keine Äquivokation. In inneren und äußeren Bildern ist gleichermaßen ein Bewusstsein von etwas, das nicht anwesend ist, angesprochen. Wer sich einen Film anschaut, hat als Betrachter ein Bewusstsein von einer nicht anwesenden Wirklichkeit, so wie derjenige, der sich eine Situation in der Vorstellung ausmalt. Aus diesem Grund können Bilder an der Wand für den anthropologischen Ansatz nicht von den Bildern im Geiste getrennt betrachtet werden – dies ist zumindest die Konsequenz, welche insbesondere Hans Belting zum Hauptgedanken seiner Bild-Anthropologie von 2001 macht: „Der Bildbegriff, wenn man ihn an seiner Wurzel packt, rechtfertigt sich letztlich nur als ein anthropologischer Begriff. Er lässt sich nicht von dem Doppelsinn trennen, den wir ihm geben, wenn wir ebenso von mentalen sprechen wie von den Artefakten der künstlerischen und technischen Bildproduktion. Die Interaktion zwischen Imagination und Bild-Technologie ist daher von Hause aus ein anthropologisches Thema“ (Belting 2001, Klappentext). Damit hat Belting in der Tat eine weitere spezifische These für den anthropologischen Ansatz entfaltet: Er zeigt in sehr überzeugender Weise, dass sich der anthropologische Standpunkt programmatisch gegen eine Unterscheidung der Gruppe von Bildern in „die mentalen und die physischen Bilder“ (Belting 2001, S. 20) wenden muss. Dieser „Dualismus“ (ebd.) von zwei grundlegenden Bildarten sei nur eine künstliche Konstruktion, die sich im Umgang mit Bildern nicht aufrecht halten lässt, da beide

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Formen der Bildlichkeit „vieldeutig aufeinander bezogen“ (ebd.) sind. Womit Belting meint: Keine Betrachtung eines äußeren Bildes kommt ohne die Mitwirkung von „Erinnerung und Vorstellung“ (ebd., S. 213) aus. Doch Belting geht noch weiter. In seiner Auslegung dieses Gedankens tritt er dafür ein, dass der eigentliche „Ort der Bilder“ keineswegs – wie man vielleicht meinen könnte – das Museum, die Wand oder das Kino, sondern einzig und allein eben „der Mensch“ (ebd., S. 57) sei. Aus keinem anderen Grund gilt es, die Wissenschaft, welche sich bisher mit Bildern befasst hat, nämlich die Kunstgeschichte, durch Anthropologie abzulösen. Das Bild wird weder erforscht, weil es ein Kunstwerk ist, noch weil es ein Bild ist, sondern weil es hilft, Fragen zu beantworten, die eigentlich in eine ganz andere Wissenschaft gehören, nämlich in die Anthropologie: „Die Anthropologie beerbt damit die Enquete jener Kunstgeschichte, die das 19. Jahrhundert im Gefühl eines Verlustes geschichtlicher und künstlerischer Kontinuität erfunden hatte“ (ebd., S. 65).

Der zeichentheoretische Ansatz Der zeichentheoretische Ansatz innerhalb der Bildphilosophie lässt sich kaum an einem anderen Ort besser kennen lernen als in Nelson Goodmans Languages of Art von 1969. In aller Klarheit ist hier der Schlüsselgedanke einer dezidiert semiotischen Bildtheorie entworfen und durchgeführt – einschließlich der für diesen Ansatz typischen These, dass das Bildmedium keiner eigenständigen Philosophie bedarf, denn die Probleme einer Philosophie des Bildes sind für diesen Standpunkt von nicht so besonderer Art, dass sie die Gründung einer eigenen philosophischen Teildisziplin rechtfertigen könnten. Eine ausgearbeitete Sprachphilosophie ist ausreichend. Mit einer solchen lassen sich für Goodman die Fragen der allgemeinen Bildwissenschaft beantworten. Aus genau diesem Grund bezeichnet Goodman Languages of Art nicht als Bildtheorie, sondern als eine „allgemeine Symboltheorie“ (Goodman 1995, S. 9). Diese Argumentation, dass die allgemeine Bildwissenschaft eine Teildisziplin einer allgemeinen Sprachwissenschaft ist, baut auf der Annahme auf, dass Bilder notwendigerweise Zeichen sind. Oder anders gesagt: Ein Gegenstand, der kein Zeichen ist, kann kein Bild sein. Die Besonderheit des Bildes ist demnach ausschließlich innersemiotischer Art – ein Gedanke, der sich auch schon beim Vater der modernen Semiotik, Charles Sanders Peirce, in aller wünschenswerten Deutlichkeit finden lässt. Für Peirce ist „Ikon“ ein Begriff, der sich auf einer Stufe mit den Begriffen „Index“ und „Symbol“ befindet, welche insgesamt die drei denkbaren Arten eines Zeichens beschreiben. Bilder existieren in der zeichentheoretischen Bildphilosophie ausschließlich als eine besondere Form des Zeichens.2 Das heißt aber nicht, dass innerhalb dieser Richtung der Bildphilosophie die Meinungen nicht auseinander gehen können. Insbesondere bezüglich der Frage, worin die innersemiotische Besonderheit des Bildes besteht, ist keineswegs ein 2

Zum semiotischen Bildbegriff bei Peirce siehe Ludwig Nagl (1992, S. 21-60).

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Konsens gegeben. Peirce tritt dafür ein, dass sich ein Ikon von Symbolen und Indices durch die Ähnlichkeit des Ikons mit dem Bezeichneten bestimmen lässt. Hingegen Goodman, der den Symbol- und Zeichenbegriff synonym verwendet, macht sich dafür stark, dass Bilder gerade nicht mittels der Ähnlichkeit von anderen Formen des Symbolisierens unterschieden werden können: „Tatsache ist, daß ein Bild, um einen Gegenstand repräsentieren zu können, ein Symbol für ihn sein, für ihn stehen, auf ihn Bezug nehmen muß; und daß kein Grad von Ähnlichkeit hinreicht, um die erforderliche Beziehung der Bezugnahme herzustellen. Ähnlichkeit ist für Bezugnahme auch nicht notwendig; fast alles kann für fast alles andere stehen. Ein Bild, das einen Gegenstand repräsentiert – ebenso wie eine Passage, die ihn beschreibt –, nimmt auf ihn Bezug und, genauer noch: denotiert ihn. Denotation ist der Kern der Repräsentation und unabhängig von Ähnlichkeit“ (Goodman 1995, S. 17). Wenn man diesen Gedanken ernst nimmt, dann führt dies dazu, dass Bilder auf Grund von gelernten Konventionen und nicht auf Grund einer sichtbaren Ähnlichkeit Bilder derjenigen Dinge sind, von denen sie Bilder sind.3 Zeichentheoretische Philosophien des Bildes mögen sich in der Tat bei der Frage nach der Ähnlichkeit des Bildes unterscheiden, doch die Ansicht, dass Bilder überhaupt Zeichen sind, ist innerhalb dieser Richtung gänzlich unstrittig. Die Basis des zeichentheoretischen Ansatzes ist eine Transformation eines klassischen Gedankens in die Sprache der Semiotik. Gemeint ist eine Unterscheidung, welche sich in nahezu jeder Bildphilosophie findet und von Hans Jonas folgendermaßen auf den Punkt gebracht wurde: „Das Dargestellte, die Darstellung und das Darstellende sind verschiedene Schichten in der ontologischen Struktur des Bildes“ (Jonas 1987, S. 32). Ob man diese Struktur wie Jonas als eine ontologische verstehen muss, ist letztlich unerheblich. Entscheidend ist, dass in der präzisen Rede über Bilder zwischen der Darstellung, dem Darstellenden und dem Dargestellten differenziert werden muss und dass sich diesbezüglich die verschiedenen Ansätze in der Philosophie des Bildes einig sind und erst bei der Auslegung dieser Dreiteilung zu unterschiedlichen Ansichten gelangen. Es ist daher sinnvoll, sich die semiotische Interpretation dieser Dreiteilung näher anzuschauen. Wenn man ein Bild an der Wand hängen hat, dann lässt sich an diesem Bild ein darstellender Bildträger bestimmen. Dieser besteht zum Beispiel aus Papier oder Leinwand und Ölfarbe. Das darstellende Material eines Bildes ist physikalisch beschreibbar. Doch ein Bild besteht nicht nur aus den Aspekten, die sich physikalisch bestimmen und beschreiben lassen. Ein Gegenstand ist nur dann ein Bild, wenn er nicht nur ein platter Gegenstand an einer Wand, sondern auch eine Darstellung ist. Der Darstellungsaspekt des Bildes lässt sich vom darstellenden Material klar unterscheiden, denn die Darstellung ist – wie Jonas treffend sagt – „herausgehoben aus dem Kausalverkehr der Dinge“ (ebd.). Ein Bild, welches in materieller Hinsicht vielleicht aus Photopapier besteht, ist in anderer Hinsicht eine Darstellung von einem Haus; man hat es mit dem Bild eines Hauses zu tun. Diese Darstellung des Hauses wird insofern nicht älter als das gezeigte 3

Goodmans Kritik an der Ähnlichkeit des Bildes ist auch aus einer zeichentheoretischen Sicht nicht unumstritten; siehe dazu Klaus Rehkämper (2002).

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Haus nicht älter wird, auch wenn der Bildträger sehr wohl wie jeder andere physikalische Gegenstand in Raum und Zeit älter wird. Jemand, der sich ein Bild von der Seite anschaut, schaut sich nicht die Darstellung von der Seite an; obwohl Licht auf ein Bild fällt, wird nicht der im Bild gezeigte Gegenstand beleuchtet. Dies sind gleichermaßen einfache wie entscheidende Kriterien zur Bestimmung einer Darstellung. Neben dem darstellenden Bildträger und der im Bild gegebenen Darstellung gilt es den dritten Aspekt des Bildes zu beachten: das Dargestellte – womit der reale Gegenstand gemeint ist, auf den sich einige Betrachter von Bildern mittels des Bildes beziehen. Die Interpretation dieser Dreiteilung aus semiotischer Sicht ist eindeutig: Die Dreiteilung ‚Darstellendes – Darstellung – Dargestelltes‘ entspricht den drei bekannten Aspekten eines jeden Zeichens. Aus der Semiotik ist die Dreiteilung unter anderem Namen bekannt. Dort nennt man den Bildträger eben Zeichenträger, Token oder auch Signifikant; gemeint ist stets dasselbe. Das, was die sichtbare Darstellung im Bild ist, entspricht dem, was man bei einem Zeichen seinen Inhalt, Sinn, Designat oder auch seine Intension nennt. Gemeint sind in allen Fällen die Eigenschaften, welche von einem Zeichen oder eben von einem Bild bestimmt werden. Mittels dieser im Zeichen benannten Eigenschaften besteht die Möglichkeit, sich auf ein konkretes Objekt in der physischen Welt zu beziehen. Bekanntlich kann man sich mittels der Benennung oder eben der Darstellung unterschiedlicher Eigenschaften auf dasselbe Objekt beziehen. Dieses Objekt, auch Referenz, Bedeutung oder Extension genannt, muss keineswegs real existierend sein. Das Phänomen, dass es Darstellungen fiktiver Dinge gibt, ist von vielen Zeichen, die Sinn, aber keine Bedeutung haben, bekannt. Kurzum: Der semiotische Ansatz sieht in der Dreiteilung ‚Darstellendes – Darstellung – Dargestelltes‘ nichts anderes als die für Bilder spezifische Erscheinungsweise der Differenzierung von ‚Zeichenträger – Intension – Extension‘. Die Analogie dieser beiden Dreiteilungen legt diesen Gedanken nahe – doch was nahe liegt, ist nicht unbedingt richtig. Erneut hat man einen Fall, indem es gilt aufzupassen, nicht voreilig aus einer Analogie eine falsche Identität zu machen. In der Tat ist ein Gegenstand allein dadurch ein Zeichen, dass ihm ein Inhalt, ein Sinn oder eine Bedeutung zugewiesen wird. Diesbezüglich lässt sich Klaus Sachs-Hombach nur zustimmen: „Ein Gegenstand ist ein Zeichen schon dadurch, dass wir ihm einen Inhalt bzw. eine Bedeutung zuweisen“ (Sachs-Hombach 2001, S. 18). Doch genau das ist eben nicht die Lösung, sondern das Problem: Muss man einem Bild einen Inhalt oder eine Bedeutung zuweisen? Muss man die Darstellung als Inhalt interpretieren? Ist das, was ein Bild darstellt, allein dadurch, dass das Bild dieses darstellt, der Inhalt eines Zeichens? Hat man dadurch, dass man auf einer Fläche eine Darstellung sieht, dieser Fläche schon einen Sinn zugewiesen? Wenn dies so wäre, wären Bilder immer Zeichen.

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Der wahrnehmungstheoretische Ansatz Einen besonders klaren Eindruck von der wahrnehmungstheoretischen Gegenposition erhält man durch die Bildphilosophien von Konrad Fiedler und Edmund Husserl. Ihre beiden Schlüsselbegriffe sind zwei nicht-semiotische Versuche, die Frage ‚Was ist eine Darstellung, das Darstellende und das Dargestellte?‘ zu beantworten. Wie zu erwarten war, ist das Besondere ihrer Antwort nicht bei der Erklärung dessen zu finden, was das Darstellende und das Dargestellte ist. In der Tat kann man sagen, dass diesbezüglich zwischen den verschiedenen Ansätzen innerhalb der Bildwissenschaft nur terminologische Unterschiede bestehen. Die von Husserl geprägte Terminologie nennt das darstellende Material „Bildträger“ und das reale Objekt, auf welches sich ein Bild beziehen kann, „Bildsujet“. Entscheidend ist sein Vorschlag, wie die im Bild sichtbar erscheinende Darstellung genannt werden sollte: Husserl spricht von „Bildobjekt“ (Husserl 1980, S. 19) – und dies ist ein dezidiert antisemiotischer Gegenbegriff. Husserl interpretiert die Darstellung im Bild nicht als eine Form von Sinn oder Inhalt, sondern als eine Art Objekt, eben als ein Bildobjekt. Dies geschieht, weil er der Darstellung in einem Bild einen besonderen ontologischen Status geben will: Er beschreibt die Darstellung als einen im Bild sichtbar werdenden, besonderen Gegenstand. Der Grund für diese Deutung ist gleichermaßen einfach wie überzeugend: Das Bildobjekt kann man sehen, hingegen Sinn und Inhalt kann man nicht sehen, denn der Sinn eines Zeichens ist eine Regel, wie man sich mit dem Zeichen auf etwas beziehen kann. Regeln können nicht sichtbar sein. Deshalb ist für Husserl eine bildliche Darstellung nicht eine Form von symbolisiertem Sinn, sondern eine Form von artifiziellem Zeigen einer besonderen Sache. Diese Idee vom Zeigen mittels Bildern zieht sich wie ein roter Faden durch die phänomenologische Bildwissenschaft. Besonders deutlich hat diese Perspektive Jean-Paul Sartre in seinem Aufsatz Was ist Literatur? von 1948 auf den Punkt gebracht: „Der Maler will keine Zeichen auf seine Leinwand malen, er will ein Ding schaffen. [...] Es liegt ihm also ganz fern, Farben und Töne als eine Sprache anzusehen. [...] Aber wenn nun der Maler, werden Sie sagen, Häuser macht? Genau, er macht welche, das heißt, er schafft ein imaginäres Haus auf der Leinwand und nicht ein Zeichen von einem Haus.“ (Sartre 1981, S. 14 f.) Wer ein Bild herstellt, schafft nicht ein Zeichen, sondern eine besondere Art von Gegenstand: ein Bildobjekt, ein imaginäres Haus – oder wie Fiedler sagen würde: Er schafft ein nur sichtbares Haus, einen Gegenstand aus reiner Sichtbarkeit. Denn kein Vertreter einer wahrnehmungstheoretischen Position würde die abwegige Meinung vertreten, dass zwischen dem Präsentieren einer realen Sache (zum Beispiel in einem Schaufenster oder auf einem Tablett) und dem Präsentieren eines Bildobjektes in einem Bild kein Unterschied bestehen würde. Bilder sind keine Fenster, aber ihre besondere Weise des Zeigens lässt sich doch durch Vergleiche mit anderen Weisen des Zeigens näher beschreiben. Im Gegensatz zu Schaufenstern präsentieren Bilder Dinge, die keine realen Dinge sind, da man die im Bild sichtbaren Dinge ausschließlich sehen kann. Fiedlers Rede von der reinen Sichtbarkeit ist eine Beschreibung der beson-

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deren Art von Objektsein – er spricht von der „Form des Seins“ (Fiedler 1991, S. 189) –, welche das Bildobjekt auszeichnet: Es handelt sich notwendigerweise um ein Objekt, welches ausschließlich sichtbar ist. Der Begriff „rein“ bedeutet hier soviel wie, dass das Bildobjekt ‚ausschließlich‘ und ‚nur‘ sichtbar ist; ‚rein‘ ist wie bei Kant das Gegenteil zu ‚anhängend‘. Die Sichtbarkeit einer bildlich dargestellten Sache hängt nicht einer Substanz an, welche auch durch andere Sinne wahrgenommen werden könnte. Das, was man auf dem Bild sieht, hat keine materielle Substanz. Aus diesem Grund ist für Sartre das Herstellen eines Bildes ein Vorgang, den man als Entkörperlichen beschreiben kann. Fiedler nennt das gleiche einen Vorgang des Isolierens. Die reine Sichtbarkeit entsteht durch Isolation einer anhängenden Sichtbarkeit, und genau so baut sich die entkörperlichte Sichtbarkeit von etwas ohne Anwesenheit auf. Man könnte auch mit Fritz Heider sagen, dass Bildobjekte „falsche Einheiten“ (Heider 1926, S. 119) sind. Denn es wird im Bild etwas als eine Einheit gesehen, was nicht materiell oder kausal bedingt eine Einheit ist. Das Gemeinsame ist deutlich: Bilder werden in dieser wahrnehmungstheoretischen Tradition als ein Werkzeug verstanden, mit dem sich eine besondere Art von Gegenstand herstellen lässt, welcher nur unterschiedlich angesprochen wird: nämlich als Bildobjekte, imaginäre Dinge, reine Sichtbarkeiten oder falsche Einheiten. Die Differenz zwischen dem zeichen- und dem wahrnehmungstheoretischen Ansatz entsteht aus der unterschiedlichen Deutung der unstrittigen Differenzierung von Darstellung, Darstellendem und Dargestelltem. Der semiotische Ansatz interpretiert diese Dreiteilung als die Unterscheidung von: 1. Darstellendes = Zeichenträger, 2. Darstellung = Sinn oder Inhalt, 3. Dargestelltes = Bedeutung oder Referenz. Der wahrnehmungstheoretische Ansatz interpretiert die Dreiteilung als die Unterscheidung von: 1. Darstellendes = Bildträger, 2. Darstellung = Bildobjekt oder imaginärer Gegenstand oder reine Sichtbarkeit, 3. Dargestelltes = Bildsujet. Man erkennt an dieser Gegenüberstellung den wesentlichen Unterschied zwischen dem wahrnehmungs- und zeichentheoretischen Ansatz: Nicht die Frage nach der Ähnlichkeit des Bildes trennt diese Ansätze. Diese Frage wird selbst innerhalb der sprachanalytischen Strömung konträr diskutiert (Rehkämper 2002). Es geht darum, dass sich der semiotische und der wahrnehmungstheoretische Ansatz gegenseitig vorwerfen, einen fundamentalen Kategorienfehler zu begehen: Sie werfen sich vor, die Darstellung mit etwas gleichzusetzen, was sie nicht ist. Da das Gleichsetzen des Nichtgleichen eine Metapher ist, kann man sagen, dass sie sich gegenseitig ein Verstricktsein in Metaphern vorwerfen: „Wenn etwa Sartre von imaginären Häusern spricht, die der Maler schafft, so scheint er mir damit in metaphorischer Rede nichts anderes als den Inhalt oder die Bedeutung des Bildes anzugeben“ (Sachs-Hombach 2001, S. 18). Hingegen ein Phänomenologe würde sagen: Die Gleichsetzung der erscheinenden Darstellung mit einem symbolisierten Inhalt ist ein Gleichsetzen des Nicht-Gleichen und daher ein metaphorischer Akt, welcher die triadische Struktur des Zeichens mit der triadischen Struktur des Bildes identifiziert. Diese metaphorische Rede vom Inhalt eines Bildes wird besonders deutlich, wenn man sich der Rezeptionsform des Bildes zuwendet.

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Sowohl mit der Deutung der Darstellung als Bildobjekt als auch mit der Deutung der Darstellung als Inhalt ist jeweils eine Festlegung verbunden, wie die Darstellung rezipiert wird. Für Goodman ist die Art der Bildrezeption in jedem Fall ein Lesen: „Perspektivisch gemalte Bilder müssen wie alle anderen gelesen werden; und die Fähigkeit zu lesen muß erworben werden“ (Goodman 1995, S. 25). Wenn das Bild einen Sinn hat und auf etwas Bezug nimmt, ist es in der Tat angemessen, die Rezeption des Bildes als ein Lesen des Bildes zu beschreiben; wenn hingegen das Bild nur ein Bildobjekt präsentiert, dann ist es ganz abwegig anzunehmen, dass Bilder gelesen werden, denn Bildobjekte werden nicht gelesen, sondern gesehen; Schaufenster werden auch nicht gelesen, sondern angeschaut. So ergibt sich der Unterschied, dass für den wahrnehmungstheoretischen Ansatz Bilder gesehen, für den semiotischen Ansatz hingegen gelesen werden. Beide Arten des Umgangs sind kategorial verschieden. Im Fall des Lesens hat man es mit dem Folgen einer Regel zu tun, im Fall des Sehens hat man es mit einem sinnlichen Gegenwartsbewusstsein von etwas zu tun. Dieses Etwas ist im Fall des Sehens auf Bilder keineswegs ein realer Gegenstand, sondern eben ein imaginärer Gegenstand, eine falsche Einheit, welche auch als solche präsent ist. Denn der Betrachter eines Bildes sieht, dass er ein Bild von etwas und nicht die Sache selbst sieht. Damit wird der entscheidende Punkt in der Argumentation deutlich; es geht nicht um den zweiten Teil, sondern um den ersten Teil der schon zitierten Meinung von Goodman: „Tatsache ist, daß ein Bild, um einen Gegenstand repräsentieren zu können, ein Symbol für ihn sein, für ihn stehen, auf ihn Bezug nehmen muß; und daß kein Grad von Ähnlichkeit hinreicht, um die erforderliche Beziehung der Bezugnahme herzustellen.“ (Ebd., S. 17) Dass kein Grad von Ähnlichkeit hinreicht, um die erforderliche Beziehung der Bezugnahme herzustellen, ist selbstverständlich, wurde aber wahrscheinlich auch niemals von jemandem behauptet. Die Frage ist nur, ob ein Bild immer eine Repräsentation und damit eine Bezugnahme sein muss. Unstrittig ist: Nur weil zwei Dinge für einen Betrachter eine wahrnehmbare Ähnlichkeit besitzen, müssen diese Dinge nicht in einer Bezugnahme stehen. Goodman zieht aus dieser Einsicht die Schlussfolgerung, dass deshalb die Ähnlichkeit für Bilder nicht wichtig sein kann. Diesen Schluss kann er aber nur ziehen, da er ferner annimmt, dass Bilder eine Bezugnahme haben. Mit dieser zweiten Prämisse ist sein Schluss in der Tat richtig, doch die zweite Prämisse, dass Bilder immer auf etwas Bezug nehmen, ist keineswegs überzeugend. Dass der Gedanke einer notwendigen Bezugnahme durch Bilder aufgegeben werden kann, zeichnet den wahrnehmungstheoretischen Ansatz aus. Etwas bildlich zu zeigen, heißt demnach eben gerade nicht, dass mit dem Bild auf etwas Bezug genommen wird, sondern dass etwas präsentiert wird. Es wird etwas sichtbar gemacht und nicht mehr. Es besteht die Möglichkeit, dass mit dem Bild etwas Sichtbares hergestellt wird, was mit etwas anderem Ähnlichkeit hat. Aber wie Goodman selbst sagt, was Ähnlichkeit hat, muss sich nicht aufeinander beziehen. Bilder können etwas zeigen und präsentieren; denn auch auf Bildern kann der Betrachter durch Hinsehen Eigenschaften des Bildobjektes kennen lernen. Wenn man sich auf einem Bild ein Haus anschaut, dann sieht man ein Bildobjekt, bei dem man zum Beispiel zählen kann, wie viele Fenster dieses falsche Haus aus reiner Sichtbarkeit hat, weil man an dem bildlich gezeigtem Haus die Anzahl der Fenster se-

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hen kann. Erst wenn gesagt wird, d. h. erst wenn dem Bildobjekt der Sinn zugewiesen wird, dass dieses Bildobjekt sich auf das Haus bezieht, mit dem das Bildobjekt Ähnlichkeit hat, wird ein Bild zu einem Zeichen. Wenn man am Bildobjekt die Fenster zählt, um zu erfahren, wie viele Fenster ein reales Haus irgendwo hat, verwendet man das Bild semiotisch. Wenn man die Fenster zählt, um zu wissen, wie viele Fenster das dargestellte Haus als falsche Einheit hat, dann bezieht man sich auf gar nichts. Die semiotische Beziehung ist immer erst eine nachträgliche Nutzung des Bildobjektes.

Der medienphilosophische Ansatz Für die Philosophie des Bildes ergibt sich aus dem Gesagten eine doppelte Perspektive: Auf der einen Seite zeigen die dargestellten anthropologischen, semiotischen und wahrnehmungstheoretischen Ansätze, dass die Frage nach den spezifischen medialen Eigenschaften des Bildes innerhalb der akademischen Philosophie durchaus bearbeitet wird. Denn alle drei Richtungen bemühen sich darum, dem Bild in allen seinen Erscheinungsformen gerecht zu werden; man hat es jeweils mit einer speziellen Form der Medienphilosophie des Bildes zu tun. Aus dieser Perspektive wäre die noch nicht etablierte Formulierung „Medienphilosophie des Bildes“ ein Terminus für philosophische Arbeiten, die schon etabliert waren, als weder von Bildwissenschaft, Medienwissenschaft noch Medienphilosophie die Rede war. Dies würde bedeuten, der Begriff „Medienphilosophie des Bildes“ wäre eher ein neuer Begriff für eine sich ausbreitende, bekannte Tätigkeit innerhalb der Philosophie. Der Sache nach gab es die Medienphilosophie des Bildes schon immer in der Philosophie des Bildes. Doch auf der anderen Seite zeigen die dargestellten Ansätze aber auch, dass der Medienbegriff relativ leicht noch eine bei weitem gewichtigere Rolle für die Philosophie des Bildes erhalten könnte. Dies scheint allerdings noch nicht sehr ausgearbeitet zu sein und mehr den Charakter eines möglichen Programms zu haben. Denn wenn es stimmt, dass sich die bekannten Ansätze innerhalb der Philosophie des Bildes insbesondere dadurch unterscheiden, dass sie das Bild unter ein jeweils anderes genus proximum stellen, dann wäre der Gedanke nahe liegend, in einer Medienphilosophie des Bildes den Begriff des Mediums in die Funktion des genus proximum zum Bildbegriff zu setzen. Würde man diesen Schritt gehen, dann würde die Formulierung ‚Medienphilosophie des Bildes‘ nicht nur ein Titel für bekannte philosophische Reflexionen über den medialen Status von Bildern sein, sondern dann enthielte dieser Terminus eher die Aufforderung, das Bild als Medium zu verstehen. ‚Medienphilosophie des Bildes‘ wäre dann nicht ein Oberbegriff zu den anthropologischen, semiotischen und wahrnehmungstheoretischen Versuchen, sondern die Medienphilosophie wäre selbst auf einer Ebene mit diesen Versuchen. Die Medienphilosophie des Bildes wäre dann ein Versuch, der in Konkurrenz zu den drei bekannten Ansätzen auftreten müsste, weil er sich von dem Gedanken leiten ließe: Jedes Bild ist ein Medium, aber nicht jedes Medium ist ein Bild, und deshalb gilt es, die spezifische Differenz des Bildes zu den nicht-bildlichen Medien zu bestimmen.

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Eine Philosophie des Bildes, welche in dieser Weise Bilder erforschte, wäre in einem doppelten Sinne eine Medienphilosophie des Bildes: Denn sie wäre nicht nur eine Medienphilosophie des Bildes, weil sie mit philosophischen Reflexionen ein bestimmtes Medium, eben die Bilder, thematisiert, sondern sie würde gleichzeitig auch noch eine Medienphilosophie des Bildes sein, welche zur Erforschung des Bildes einen medial turn vollzieht.4 Man sieht an dieser Stelle, dass die Formulierung „das Bild als ein Medium erforschen“, die zur Beschreibung der Aufgabenstellung der Medienphilosophie des Bildes dient, zweideutig ist. Eine solche Formulierung kann zum einen besagen, dass man sich um die Eigenschaften bemüht, die Bilder haben, weil sie Bilder sind. Dann geht es also um die Eigenschaften, die allen Bildern zukommen und die daher als Eigenschaften des Mediums angesprochen werden können. In diesem Sinne sind eben die anthropologischen, semiotischen und wahrnehmungstheoretischen Ansätze eine Form von praktizierter Medienphilosophie. Die Philosophie des Bildes ist in diesem Sinne automatisch eine Art der Vollzugsform von Medienphilosophie, denn mit Bildern ist ein Medium thematisiert. Doch die Formulierung „das Bild als ein Medium erforschen“ kann aber auch besagen, dass man sich um die Eigenschaften bemüht, die Bilder haben, weil sie Medien sind. Eine Philosophie des Bildes wäre dann noch nicht automatisch eine Erscheinungsform von Medienphilosophie, weil man von der Medienphilosophie nicht nur ein bestimmtes Thema, sondern auch noch eine bestimmte Art der Argumentation erwarten würde, nämlich dass der linguistic oder pictorial turn durch einen medial turn substituiert wird. Man würde hier erwarten, dass Medienphilosophie immer auch medienanalytische Philosophie wäre. Das Problem dieses radikal medienanalytischen Ansatzes liegt damit allerdings auch schon auf der Hand: Wenn man einen Gegenstand erforscht, indem man ihn zuerst einmal einer größeren Klasse von Gegenständen zuordnet, wie zum Beispiel den Artefakten, den Zeichen oder dem Sichtbaren, dann ist es von außerordentlicher Wichtigkeit, dass diese größere Klasse relativ eindeutig bestimmt ist, dass man eben weiß, was ein Artefakt, ein Zeichen oder etwas Sichtbares ist. Sprachanalytische Philosophie lebt nicht zuletzt von den Ergebnissen der Sprachphilosophie. Genau diese Perspektive und Sicherheit bietet der Medienbegriff zumindest im Moment noch nicht. Bilder als Medien zu erforschen, ist deshalb solange problematisch, wie man nicht weiß, was ein Medium ist. Vielleicht erklärt dies, wieso sich für diese vierte, durchaus denkbare und sicherlich radikalste Form einer Medienphilosophie des Bildes noch keine Musterbeispiele etabliert zu haben scheinen.

Medienphilosophie des Bildes Auch wenn es im Moment kaum einen Hinweis dafür gibt, dass sich der medienphilosophische Ansatz auf der gleichen kategorialen Ebene wie der anthropologische, wahrnehmungstheoretische oder semiotische Ansatz wird etablieren können, besagt dies 4

Zur Diskussion des medial turn siehe Münker/Roesler/Sandbothe (2003).

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nicht, dass nicht doch die Idee einer dezidiert medienphilosophischen Erforschung des Bildes verfolgt werden würde. Diese Perspektive findet sich allerdings auf einer anderen Ebene, nämlich nicht als Alternative zu den vorhandenen Ansätzen, sondern als Spezifizierung innerhalb der genannten Ansätze. Die Frage nach den Medien wird bildphilosophisch genau dann relevant, wenn man es nicht bei der gleichermaßen wichtigen, aber auch allgemeinen Feststellung belassen will, dass jedes Bild ein besonderes Artefakt, ein besonderes Zeichen oder eine besondere Sichtbarkeit ist. Es stellt sich in der Tat die Aufgabe einer Binnendifferenzierung mittels Bildmedien. Beispiele für diese Arbeit an einer Medienphilosophie des Bildes lassen sich zumindest im semiotischen und im wahrnehmungstheoretischen Ansatz finden. Für den semiotischen Ansatz und dessen medienphilosophische Spezifizierung dürfte nicht zuletzt Christian Metz’ Semiologie des Films von 1972 ein Musterbeispiel sein. Der Grundgedanke von Metz besteht darin, dass durch das Filmmedium Bilder möglich werden, welche durch dieses Medium bedingt unhintergehbar besondere semiotische Eigenschaften aufweisen. Das Medium erzeugt so eine Klasse von bildlichen Zeichen sui generis. Die Semiotik erforscht spätestens ab dieser Arbeit nicht mehr nur konkrete Zeichen oder konkrete Filme, sondern ein bildliches Medium. In einem ähnlichen Sinne medienphilosophisch argumentieren auch Vertreter des verbreiteten Gedankens, dass die Photographie ein besonderes semiotisches Medium ist, weil sich in ihm ausschließlich Bilder erzeugen lassen, die Spuren sind. Die Photographie ist ein Medium, welches immer nur Zeichen erlaubt, die gleichzeitig Bilder und Spuren sind. Denn das, wovon ein Foto ein Foto ist, ist immer auch eine der Ursachen dafür, dass das Foto ein Bild von diesem ist. Oder mit Peirce gesprochen: Eine Photographie ist immer gleichzeitig sowohl ein Ikon wie auch ein Index; und diese Gleichzeitigkeit ist eine semiotische Eigenschaft – aber nicht eine semiotische Eigenschaft einer konkreten Photographie, sondern des Mediums. Das Prinzip einer medienphilosophischen Binnendifferenzierung findet sich auch in dem phänomenologischen Ansatz, wenn man nicht sogar sagen will, dass in der Arbeit an diesem Gedanken geradezu die Hauptaufgabe einer Phänomenologie des Bildes gesehen wird. Phänomenologisch betrachtet unterscheidet sich die reine Sichtbarkeit des Bildes eben nicht nur von der anhängenden Sichtbarkeit eines realen Gegenstandes, sondern darüber hinaus lassen sich durch Medien innerhalb der reinen Sichtbarkeit des Bildes Typen der reinen Sichtbarkeit bestimmen. Das Bemerkenswerte ist, dass die Typen reiner bildlicher Sichtbarkeit, die sich überhaupt denken lassen, mit der Entwicklung neuer Bildmedien korrespondieren. Man hat es immer dann mit einem neuen Bildmedium zu tun, wenn dieses Medium die Wirklichkeit einer neuen Form reiner Sichtbarkeit ermöglicht. Es lassen sich vier Typen der reinen Sichtbarkeit denken und damit auch vier Bildmedien bestimmen.5 Erstens – die starre Sichtbarkeit des Tafelbildes: Ob sich das Bildobjekt im Bild bewegt oder nicht bewegt, ist eine Eigenschaft, welche ausschließlich durch das Medium, welches zur Bildproduktion verwendet wird, bestimmt wird. Insofern sind aus phäno5

Siehe hierzu Wiesing (1997, S. 172 ff.).

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menologischer Sicht die Bildmedien, welche zu Standbildern führen, letztlich derselben Art. Sie erlauben ausschließlich, einen Gegenstand zu zeigen, der sich nicht verändert. Aus dieser medialen Eigenschaft leiten sich deutliche pragmatische Unterschiede und spezifische Vorzüge der einzelnen Bildmedien ab: Das Medium, das eine andere Art von reiner Sichtbarkeit ermöglicht, kann zu grundsätzlich anderen Handlungen als Werkzeug verwendet werden. Nur mit einem Tafelbild lässt sich das flüchtige Aussehen einer Sache festhalten und damit sowohl zur kontemplativen wie auch erforschenden Betrachtung präsentieren. Zweitens – die bewegte Sichtbarkeit des Films: Der Film ist ein Bildmedium sui generis, weil es die bewegte reine Sichtbarkeit ermöglicht. Bei einem Film ist das gezeigte Bildobjekt in Veränderung, und zwar in einer besonderen Veränderung: nämlich in einer Veränderung, die sich immer wieder erneut betrachten lässt. Ein Film konserviert den Ablauf von Veränderungen, weshalb man sagen kann: Genauso wie man auf einem Tafelbild immer wieder dieselbe Sache sehen kann, kann man in einem Film immer wieder dieselben Veränderungen, Vorgänge und Prozesse sehen. Die Bewegungen im Film laufen fixiert und determiniert ab; der Zuschauer hat keinen Zugriff auf die Bewegung und ihren Verlauf. Will man andere Bewegungen und Ereignisse sehen, muss man einen anderen Film sehen. Aus diesem Grund ist der Film ein unersetzliches Werkzeug, wenn es um die Konservierung von Verläufen und die Darstellung von Entwicklungen geht, sei es zum Zweck der Narration oder der Dokumentation dieser Vorgänge. Drittens – die manipulierbare Sichtbarkeit der Animation: Die Neuartigkeit der digitalen Medien besteht darin, dass sie einen Gegenstand aus reiner Sichtbarkeit generieren können, der sich über ein Interface vom Betrachter manipulieren und frei variieren lässt. Zweifelsohne findet diese Freiheit immer innerhalb der Grenzen der verwendeten Softund Hardware statt. Doch prinzipiell besteht die Möglichkeit einer beliebigen Veränderung des Bildobjektes. Damit kommt es zu einem neuartigen Typus von Bildobjekt, nämlich zu dem Bildobjekt, welches nicht festgelegte Bewegungen und Metamorphosen vollzieht. Mit der Animation lässt sich weder dokumentieren noch ein Sachverhalt festhalten. Die Bewegungsmöglichkeit des Bildobjektes gleicht sich vielmehr der eines Phantasieobjekts an; das Bildobjekt wird zu einem Gegenstand, der vom Betrachter willentlich gesteuert wird. Er bekommt so eine Modelliermasse ohne physikalische Masse. Viertens – die interaktive Sichtbarkeit der Virtuellen Realität: Eine Interaktion mit Bildobjekten ist nur dann möglich, wenn diese Verhaltenseigenschaften und Dispositionen haben, d. h., wenn die Sache, mit der im Bild gehandelt wird, selbst Gesetzen unterliegt, obwohl es sich um ein Bildobjekt aus reiner Sichtbarkeit handelt. Doch nur mit einem widerständigen Ding lässt sich handeln. Diese vierte denkbare Form der reinen Sichtbarkeit, nämlich die Sichtbarkeit, welcher künstlich eine Physik anhängt, ist genau die Form der Sichtbarkeit, welche in der digitalen Simulation verwirklicht wird. Wie im Fall des Films und der Animation werden neuartige Bilder möglich, weil in der Simulation eine der vier denkbaren Formen der reinen Sichtbarkeit verwirklicht wird. Erneut erhält der Mensch so durch ein Medium ein Werkzeug an die Hand, das Handlungen ermöglicht, die ohne die Verwendung von interaktiven Bildobjekten unmöglich wären:

MEDIENPHILOSOPHIE DES BILDES

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Die Interaktion mit Bildobjekten erlaubt eine Naturwissenschaft ohne Naturbeobachtung.6 Letzteres scheint in der Tat der Schritt zu sein, der in seiner Bedeutung für die Menschheit nicht überschätzt werden kann. Dadurch, dass sich ein simulierter Gegenstand nach Gesetzen verhält, wird aus dem Bildobjekt, welches physikalisch nicht existiert, dennoch ein Gegenstand der Physik: Das Bildobjekt wird zum virtuellen Gegenstand.

6

Siehe hierzu Wiesing (2000, S. 9-42).

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Literatur Belting, Hans (2001), Bild-Anthropologie, München: Fink. Fiedler, Konrad (1991), „Vom Ursprung der künstlerischen Tätigkeit“ (1887), in: Konrad Fiedler, Schriften zur Kunst, Bd. I, hg. v. G. Boehm, München: Fink, S. 111-220. Flusser, Vilém (1990), „Eine neue Einbildungskraft“, in: Bohn, Volker (1990), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 115-126. Goodman, Nelson (1995), Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie (1969), Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heider, Fritz (1926), „Ding und Medium“, in: Symposium 2, S. 109-157. Husserl, Edmund (1980), Phantasie, Bildbewußtsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlaß (1898-1925), Husserliana, Bd. XXIII, hg. v. E. Marbach, Den Haag/Boston/London: Nijhoff. Jonas, Hans (1987), „Die Freiheit des Bildes“ (1961), in: ders. (1987), Zwischen Nichts und Ewigkeit. Zur Lehre vom Menschen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S. 26-43. Metz, Christian (1972), Semiologie des Films, München: Fink. Münker, Stefan/Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hgg.) (2003), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a. M.: Fischer. Nagl, Ludwig (1992), Charles Sanders Peirce, Frankfurt a. M.: Campus. Rehkämper, Klaus (2002), Bilder, Ähnlichkeit und Perspektive. Auf dem Weg zu einer neuen Theorie der bildhaften Repräsentation, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag. Sartre, Jean-Paul (1980), Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft (1940), Reinbek: Rowohlt. Sartre, Jean-Paul (1981), Was ist Literatur? (1948), hg. u. übersetzt v. T. König, Reinbek: Rowohlt. Sachs-Hombach, Klaus (2001), Bildbegriff und Bildwissenschaft, Saarbrücken: Verlag St. Johann. Scholz, Oliver R. (2000), „Bild“, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, hg. v. Karlheinz Barck, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 618-669. Wiesing, Lambert (1997), Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, Reinbek: Rowohlt. Wiesing, Lambert (2000), Phänomene im Bild, München: Fink.

Matthias Vogel

MEDIENPHILOSOPHIE DER MUSIK

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Einleitung Der Versuch, zu verstehen, was Musik ist und welche Rolle sie für uns spielt, hat der Philosophie notorische Schwierigkeiten bereitet. Das scheint unter anderem daran zu liegen, dass es nicht leicht ist, ein theoretisches Verständnis der Musik zu entwickeln, das unsere relevanten Intuitionen zu integrieren vermag. Denn wir betrachten Musik nicht nur als etwas, das wir sinnlich wahrnehmen können und das eine Wirkung auf uns hat, sondern auch als etwas, das einen Gehalt aufweist, den wir verstehen können, etwa indem wir verstehen, was ein Musikstück ausdrückt oder darstellt. Aber es ist weder klar, ob musikalischer Gehalt auf Expression oder Repräsentation beschränkt ist, noch ist klar, welcher Art die Gehalte überhaupt sind, die wir erfassen, wenn wir Musik verstehen. Denn zu unseren Intuitionen gehört gleichfalls die Vorstellung, dass das, was mit musikalischen Mitteln artikuliert werden kann, nicht mit sprachlichen Mitteln auszudrücken ist. Anton Webern bringt diesen Aspekt auf den Punkt, wenn er sagt: „Was ist denn die Musik? – Die Musik ist Sprache. Ein Mensch will in dieser Sprache Gedanken ausdrücken; aber nicht Gedanken, die sich in Begriffe umsetzen lassen, sondern musikalische Gedanken.“2 Was aber sind musikalische Gedanken, etwa im Unterschied zu sprachlichen? Was zeichnet musikalisches Verstehen aus? Ich glaube, dass wir dies am besten erläutern können, wenn wir die Musik als ein Medium verstehen und einen anderen Weg einschlagen als den, das Verstehen musikalischer Gedanken in Analogie zum Verstehen sprachlicher Gedanken zu analysieren – auch wenn es, zumal nach einem Jahrhundert erfolgreicher Sprachphilosophie, nahe liegen mag, die Ähnlichkeiten zwischen Musik und Sprache zu betonen, zum Beispiel mit Blick auf die Hörbarkeit, die Sequenzialität und die Dimension der Schriftlichkeit bzw. Notation, die sich in einigen Kulturen findet. Denn obwohl sich Analogien zwischen Silben- und Tonvorräten aufdrängen und 1

2

Ich danke Christian Ofenbauer sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern am gemeinsamen Kolloquium „Grundbegriffe der Musiktheorie“ der Universität Mozarteum und der Universität Salzburg für die engagierte Diskussion einiger der hier vertretenen Thesen. Gerson Reuter danke ich für wertvolle Hinweise. Webern (1932/33, S. 46). Weberns Diktum hat zahlreiche Vorläufer, darunter Eduard Hanslicks nicht minder prägnante Formulierung: „[Musik] ist eine Sprache, die wir sprechen und verstehen, jedoch zu übersetzen nicht im Stande sind.“ (Hanslick 1854, S. 35)

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sich „Themen“ und „Sätze“ in Musik und Sprache finden, die Anlass sein mögen, in musikalischen Werken grammatische und syntaktische Strukturen zu suchen,3 führen alle diese Ähnlichkeiten und Analogien meines Erachtens im Wesentlichen in die Irre. Ich möchte daher plausibel machen, dass diese Analogien genau so lange attraktiv sind, wie uns kein theoretisches Konzept zur Verfügung steht, mit dessen Hilfe sich Musik und Sprache aus einer einheitlichen Perspektive rekonstruieren lassen. Genau diese Perspektive soll ein Medienbegriff stiften, der hinreichend allgemein ist, um verschiedene Artikulationsformen zu umfassen, und dabei zugleich hinreichend genau bestimmt ist, um nicht in Ermangelung einer klaren Kontur unbrauchbar zu werden. Während der Medienbegriff in der technologiezentrierten McLuhan-Tradition auf Grund seiner Uferlosigkeit zerfällt und in der systemtheoretischen Tradition (Parsons, Luhmann, Habermas) an seiner theoretischen Heterogenität leidet,4 hat John Dewey in seinem 1934 erschienenen Buch Kunst als Erfahrung einen Medienbegriff eingeführt, der es auf Grund seiner handlungstheoretischen Anlage erlaubt, die grundbegrifflichen Probleme anderer Medienkonzepte zu vermeiden, und darüber hinaus den Vorteil aufweist, im Mittelpunkt einer Analyse ästhetischer Kommunikationsprozesse zu stehen. Im Anschluss an Deweys erfahrungsästhetische Überlegungen lässt sich dann ein Medienbegriff entwickeln, mit dem sich das Verstehen von Musik erläutern lässt, ohne dabei auf entstellende Analogien zur Sprache zurückzugreifen und Zuflucht in der Poesie der Aporien und vagen Affinitäten suchen zu müssen. Bevor ich jedoch die Umrisse eines solchen Medienbegriffs skizziere, möchte ich Elemente zweier einflussreicher Theorien kritisch rekonstruieren, die mit der Intuition ernst machen, dass Musik etwas ist, zu dem wir ein verstehendes Verhältnis einnehmen können: die Theorien Nelson Goodmans und Theodor W. Adornos. In beiden Theorien spielen die Begriffe der Wahrheit und der Erkenntnis eine zentrale Rolle, insofern beide das Verstehen von (musikalischen) Kunstwerken an die Vorstellung binden, dass wir das Erkenntnispotenzial (musikalischer) Werke erschließen. Ich möchte demgegenüber zeigen, dass sich die beiden Theorien Analogien bedienen, die letztlich das Spezifische musikalischen Verstehens nicht erfassen können, weil die Strategie einer epistemologischen Aufladung der Musik nur aus einer Perspektive greift, in der musikalische Werke mit begrifflichen Mitteln als Symptome kognitiver Strukturen interpretiert werden, über die wir auch unabhängig von Musik verfügen (können).5 Konkret: Am Beispiel Goodmans möchte ich zunächst zeigen, dass Strategien einer unmittelbaren Semantisierung von Musik zu kurz greifen, um musikalische Bedeutung als Bedeutung sui generis zu verstehen. Während Goodmans symboltheoretisches Verständnis der Musik eher die Rolle einer Negativfolie für meine These spielt, dass Musik ein genuines Medium neben der Sprache ist, lassen sich Adornos Überlegungen als Ausdruck einer Strategie der 3 4 5

Vgl. Lehrdahl/Jackendoff (1983). Vgl. dazu Vogel (2001, S. 114-136; 2003, S. 108-115). Ich differenziere in den folgenden Abschnitten die ziemlich schematische Kritik an wahrheitsästhetischen Konzeptionen, die ich in Vogel (2002, S. 306 f.) skizziert habe. Dabei ist mir bewusst, dass der Umfang des vorliegenden Aufsatzes einer angemessenen Auseinandersetzung mit den Theorien Goodmans und Adornos erneut ziemlich enge Grenzen setzt.

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vermittelten Semantisierung verstehen, die mit dem Begriff des musikalischen Materials zugleich Motive ins Spiel bringen, die im Quellgebiet medienphilosophischen Denkens liegen. Denn anders als Goodmans Bemühungen, die Musik kurzerhand in den Fundus unserer Darstellungsmittel zu integrieren, stellt Adornos Begriff des Materials trotz der zahlreichen Schwierigkeiten, die mit seiner Einbettung in ein wahrheitsästhetisches Verständnis der Kunst verbunden sind, theoretische Ressourcen zur Verfügung, die sich bei geeigneter Rekonstruktion für unser Verständnis von Musik als produktiv erweisen.

Goodmans symboltheoretische Konzeption der Musik „Exemplifikation durch Kunstwerke ist wie Probennehmen aus dem Meer.“6

In Nelson Goodman finden wir einen prominenten Anwalt für die These, dass sich uns die Rolle, die Musik in unserem Leben spielt, nur erschließt, wenn wir unser Verhältnis zur Musik als ein aktives Verstehen konzipieren. Nicht passive Kontemplation, nicht die Versenkung in zwecklosen Gegenständen, nicht die Suche nach sinnlichem Vergnügen, nicht das emphatische Mitempfinden von Emotionen – oder deren kathartische Therapie7 – sind spezifisch für unseren Umgang mit ästhetischen Phänomenen, sondern vielmehr die aktive Interpretation symbolischer Gebilde, die meist auf eine andere Weise für etwas stehen als beispielsweise sprachliche Sätze. Musikalische Werke bedeuten etwas, das wir interpretierend erschließen, weil sie etwas symbolisieren. ‚Etwas symbolisieren‘ heißt, auf ‚etwas Bezug zu nehmen‘, und dies ist auf zwei Weisen möglich: (1) In Form der Denotation, die eine zweistellige semantische Relation darstellt (formal: (D(s,x)), in der sich ein Symbol (s) auf etwas anderes (x) so bezieht, dass s x beschreibt, x bezeichnet oder auf x zutrifft. Unter den Denotationsbeziehungen finden sich: (a) Linguistische Denotationen, darunter Beschreibungen, die artikulierte, disjunktive und differenzierte Symbolschemata voraussetzen, und (b) repräsentationale Denotationen, beispielsweise pikturale und diagrammatische, die oft mit syntaktisch und semantisch dichten Mitteln operieren, d. h. potenziell unendlich viele Symbole bereitstellen bzw. kleinste semantische Unterschiede artikulieren können. (2) In Form der Exemplifikation, die eine zweistellige semantische Relation (formal: (E(x,e)) darstellt, in der etwas (x) auf eine Eigenschaft (e) zeigt, die ihrerseits durch ein Label denotiert werden kann. Zwei Formen der Exemplifikation können unterschieden werden:

6 7

Goodman/Elgin (1988, S. 38 f.). Vgl. Goodman (1967/68, S. 569 ff.).

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(a) Die buchstäbliche Exemplifikation, bei der x auf Eigenschaften hinweist oder zeigt, die x selbst zukommen, wie beispielsweise eine Stoffprobe auf eine bestimmte Musterung (e), und (b) die metaphorische Exemplifikation, bei der x auf Eigenschaften hinweist, die x metaphorisch zukommen, wie beispielsweise einer Geste „Zerbrechlichkeit“ oder „Traurigkeit“ einem Musikstück. Mit Blick auf die Musik erscheint nun insbesondere die Exemplifikationsrelation attraktiv zu sein, denn einerseits sind in der Musik denotative Beziehungen wie Beschreibungen, Prädikationen oder Benennungen extrem selten, andererseits scheint mit dem Exemplifikationskonzept eine fruchtbare theoretische Alternative zu jenen hoffnungslos verworrenen Strategien ins Spiel zu kommen, die Bedeutung von Musik über Ähnlichkeits-, Imitations- oder Widerspiegelungsbeziehungen zu erläutern versuchen.8 Um ein Musikstück zu verstehen, müssen wir es als ein Artefakt begreifen, das symbolisiert, und wir müssen in weitgehender Ermangelung denotativer Symbole diejenigen Symbole identifizieren, die exemplifizieren. „Exemplifikation ist eine wesentliche Form der Symbolisierung in den Künsten. Ein musikalisches Werk könnte einige seiner harmonischen, melodischen und rhythmischen Eigenschaften exemplifizieren [...]. Um ein Werk verstehen zu können, müssen wir nicht wissen, welche Eigenschaften es gerade besitzt, sondern welche von ihnen es exemplifiziert.“9 Nehmen wir einmal an, wir könnten die Eigenschaften, die ein Musikstück besitzt, und diejenigen, die es exemplifiziert, unterscheiden – was heißt es dann, Musik anhand dieser Exemplifikationsbeziehungen zu verstehen? Es muss, so denke ich, heißen, dass wir das Musikstück als etwas betrachten, das mit Blick auf bestimmte Eigenschaften die Rolle einer Probe übernimmt, die unsere Aufmerksamkeit auf diese Eigenschaften lenkt: Im Falle der buchstäblichen Exemplifikation auf Eigenschaften, die das Musikstück hat, und im Falle der metaphorischen auf Eigenschaften, die dem Musikstück metaphorisch zukommen. Doch dass eine Eigenschaft des Werkes die Rolle einer Probe spielt, bedeutet nur, dass sie dies gemäß unserer Interpretationen tut, die eben bestimmte Eigenschaften des Werkes als exemplifizierend herausgreifen. Damit würden wir aber im Prinzip lediglich eine Auskunft über unseren kognitiven Umgang mit dem Musikstück geben, denn wir sagen nur, welche seiner zahlreichen Eigenschaften wir als Proben verstehen. Auch wenn man Goodmans Intuition teilt, dass Musik eine kognitive Rolle für uns spielt, scheint seine Rekonstruktion ein szientistisch verzerrtes Bild des Musikverstehens zu entwerfen. Deutlich werden müsste jedenfalls, dass wir den Gehalt der Musikstücke hören und nicht dadurch erfassen, dass wir gewisse Eigenschaften, die ein Musikstück buchstäblich oder metaphorisch exemplifiziert, herausgreifen und als Proben, 8 9

Diese letztere Diagnose teile ich mit Simone Mahrenholz, vgl. (2000, S. 60). Goodman/Elgin (1988, S. 36), vgl. auch Goodman (1976, S. 62-77). Ein Musikstück zu verstehen, ist für Goodman daher eine Tätigkeit, die wir am besten in Analogie zur wissenschaftlichen Erforschung der Welt verstehen und so verwundert es nicht, dass Goodman die Ästhetik ohne Wenn und Aber als eine Unterdisziplin der Erkenntnistheorie betrachtet.

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Anspielungen oder Ausdrucksformen von Prädikaten sehen, über die wir unabhängig von dem Musikstück verfügen. Denn dann würde es nichts geben, was sich nicht auch mit nicht-musikalischen Mitteln artikulieren ließe – und die Intuition der Unübersetzbarkeit musikalischer Gedanken geriete ins Wanken. Doch damit ist der Schwierigkeiten längst kein Ende: Goodman selbst macht immer wieder darauf aufmerksam, dass Dingen oder Sachverhalten Eigenschaften nicht unabhängig von einem Beschreibungskontext zukommen. Wenn das richtig ist und es vorderhand keinen Grund dafür gibt, dass die Zahl der Beschreibungskontexte eines Gegenstands endlich ist, dann können wir sagen, dass jeder Gegenstand unendlich viele Eigenschaften haben kann bzw., um Goodmans Nominalismus Rechnung zu tragen, dass auf jeden Gegenstand unendlich viele Prädikate angewendet werden können. Wenn das jedoch der Fall ist, ist nicht zu sehen, warum nicht jeder beliebige Gegenstand jede ihm im Kontext eines Beschreibungssystems zugeschriebene Eigenschaft exemplifizieren können soll. Kurzum: Die Exemplifikationsbeziehung ist abhängig von Kontexten oder Beschreibungssystemen und damit abhängig von der Sprache. Goodmans Standardbeispiel zur Einführung der Exemplifikationsbeziehung lenkt von diesem Zusammenhang auf elegante Weise ab. Denn die Stoffprobe, die in den Räumen eines Schneiderladens nicht ihre Größe, sondern die Farbe des Stoffes, seine haptische Beschaffenheit und das Material exemplifiziert, tut dies auf Grund des pragmatischen Kontextes, in dem ein Schneider auf die relevanten textilen Eigenschaften zeigen möchte. Natürlich könnte die Probe auch ihre Atomstruktur, ihre Entflammbarkeit oder ihren Geschmack exemplifizieren und genau das täte sie wahrscheinlich auch, würde sie in einem materialwissenschaftlichen Labor oder einer Versuchsküche als Probe dienen. Die pragmatischen Kontexte, in denen sie als Probe fungiert, sind nun aber ihrerseits durch Absichten und Überzeugungen derjenigen Personen beschreibbar, die diese Kontexte im Vollzug ihrer Arbeit etwa als Materialprüferinnen oder Versuchsköche reproduzieren. Was aber wäre der entsprechende Standardkontext, in dem Musikstücke oder Kunstwerke allgemein stehen? Welche ihrer Eigenschaften sind die relevanten? Man geht vielleicht zu weit, wenn man sagt, Kunstwerke seien für Goodman nur komplex strukturierte Beispiele ohne spezifischen Kontext,10 und könnte in dubio pro Goodman vermuten, dass der Standardkontext eines musikalischen Werkes der seiner ästhetischen Wahrnehmung ist. Aber selbst wenn der Standardkontext musikalischer Werke der der ästhetischen Rezeption wäre, dieser Kontext jedoch zugleich als unvereinbar mit der Einschränkung auf bestimmte Eigenschaften gilt, kann ein Musikstück unter einer Interpretation jede beliebige Eigenschaft metaphorisch exemplifizieren, die es nicht buchstäblich exemplifiziert. Es droht mit anderen Worten ein Beliebigkeitsproblem: Weil die Exemplifikation keine intrinsische Eigenschaft von Musikstücken ist, sondern sich einem Kontext verdankt, hängt die Bedeutung eines Musikstücks vollkommen vom Kontext seiner Interpretation ab. Im Lichte der Intuition der Unabschließbarkeit ästhetischer Verstehensprozesse und angesichts der Tatsache, dass wir mit einer Pluralität ästhetischer Interpretationen rechnen, wiegt dieses Problem vielleicht nicht besonders schwer; 10

Vgl. Seel (1985, S. 270).

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fraglich ist jedoch, ob wir mit Goodman überhaupt zarte Bedingungen für angemessene Interpretationen auszeichnen könnten. Denn wenn Interpretationen eines Musikstücks miteinander konkurrieren, dann können wir so lange keinen in der Struktur des Musikstücks verankerten Maßstab ihrer Bewertung angeben, wie wir die Bedeutung eines Kunstwerks lediglich durch eine Konjunktion von Sätzen artikulieren, die die unterstellten (metaphorischen) Exemplifikationsbeziehungen auflistet. Was uns fehlt, ist eine Integration der Exemplifikationen zu einem komplexen Zusammenhang.11 Doch darüber sagt Goodman nahezu nichts. Da Goodman die für die Musik wichtige Dimension des Ausdrucks mit Hilfe der metaphorischen Exemplifikation rekonstruiert, will ich abschließend auf einen weiteren schwierigen Punkt hinweisen, der Konsequenzen für das Verhältnis von Musik und Sprache hat. Natürlich kann man über den Begriff der Metapher trefflich streiten und so auch jene Explikation ablehnen, die ich im Anschluss an Davidson für überzeugend halte. Was man meines Erachtens nicht so leicht von der Hand weisen kann, ist, dass die Metapher eine sprachliche Einrichtung ist. Davidson hat bekanntlich vorgeschlagen, Metaphern durch folgende Eigenschaften auszuzeichnen:12 (a) Die sprachlichen Ausdrücke, die eine Metapher bilden, bedeuten in ihrer metaphorischen Verwendung genau das, was sie auch im Kontext ihrer nichtmetaphorischen Verwendung bedeuten. (b) Das Spezifische einer Metapher zeigt sich daher im spezifischen Gebrauch von Ausdrücken und nicht auf der Ebene der Bedeutung von Ausdrücken. Dieser phantasievolle Gebrauch, der Prädikate, die in einem Kontext A etabliert sind, in einen Kontext B verpflanzt, setzt ihre gewöhnliche, alltägliche Bedeutung voraus. (c) Dabei besteht die Leistung einer Metapher darin, uns zu veranlassen, nach Eigenschaften zu suchen, die wir (im Kontext B) normalerweise nicht sehen; sie hat also eine nahezu deiktische, unsere Wahrnehmung strukturierende Funktion. (d) Sätze, die mit Hilfe von (lebendigen, nicht etablierten) Metaphern gebildet werden, sind meist falsch, und gerade die eklatante Falschheit der Sätze inspiriert uns, ihnen eine andere Funktion zuzuschreiben, als die, etwas zutreffend zu beschreiben, zu klassifizieren usw. Nun ist klar, dass Eigenschaften wie die gewöhnliche Bedeutung (als Produkt landläufiger Interpretationen), insbesondere aber die Falschheit von metaphorischen Sätzen, Eigenschaften sind, die Metaphern nur als sprachlichen Ausdrucksmitteln zukommen. 11 12

Vgl. ebd., S. 295. Vgl. Davidson (1978), vgl. zu (d) auch Roger Scruton (1997, S. 90). Scruton schließt sich dieser Analyse der Metapher an, behauptet aber, die Unterscheidung zwischen akustischen und musikalischen Ereignissen hänge von der metaphorischen Beschreibung der Erfahrung von Musik ab. Allerdings nennt Scruton als Beispiele solcher Beschreibungen nur Ausdrücke wie „hoher“ Ton, „aufsteigende“ Linie u. ä., die man, wenn man sie überhaupt als Metaphern betrachten will, als tote Metaphern betrachten muss. Ich sehe jedenfalls nicht, welche Aspektwahrnehmung von dieser vermeintlichen Metaphorik abhängt, schließlich kann man auch „hoch“ verschuldet sein, und niemand würde hier von einer metaphorischen Wendung reden.

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Mit Blick auf Goodmans Rekonstruktion des Ausdrucks heißt dies aber, dass das Verstehen von Musikstücken dort, wo sich dieses Verstehen auf das Identifizieren metaphorischer Exemplifikationsbeziehungen stützt, von den sprachlichen Kompetenzen der Interpreten abhängig ist. Das scheint mir einigermaßen abstrus zu sein, denn dass wir ein Musikstück etwa als Ausdruck von Melancholie erfahren, hängt nicht primär von einer sprachlichen Interpretation des Musikstücks ab, sondern von einer Weise des Erfahrens – und die Rekonstruktion der expressiven Dimension von Musik müsste dieses Erfahren im Rückgriff auf die musikalische Struktur erläutern. Kurzum: Die Eingliederung der Musik in die Welt der symbolischen Phänomene ist gerade nicht in der Lage, etwas über die spezifische Form zu sagen, in der sich musikalisches Verstehen vollzieht. Gehalte, die sich musikalisch artikulieren lassen, müssten sich demnach im Prinzip auch mit anderen symbolischen Mittel ausdrücken lassen und wären gerade keine genuin musikalischen. Goodman kann nicht erklären, wie die Bedeutung musikalischer Werke mit ihren musikalischen Strukturen zusammenhängt, denn – darauf hat Roger Scruton aufmerksam gemacht – ein Musikstück könnte traurig sein, und es könnte Traurigkeit (metaphorisch) exemplifizieren, selbst wenn die musikalische Struktur nichts mit der Exemplifikation zu tun hat.13 Weil die Bedeutung eines Musikstücks von seiner Interpretation abhängt, jeder Gegenstand unter einer Beschreibung aber beliebige Eigenschaften (metaphorisch) exemplifizieren kann, ist nicht zu sehen, wie sich mit Goodman Kriterien spezifisch musikalischen Verstehens auszeichnen lassen sollen.14

13 14

Vgl. Scruton (1997, S. 157). Auch Mahrenholz, die sich in Musik und Erkenntnis (2000) dezidiert der Aufgabe gestellt hat, Goodmans Symboltheorie für die Musikologie fruchtbar zu machen, schürt den Verdacht, dass Musikhören nur als eine Form unter anderen verstanden wird, in der man Erfahrungen machen kann, die das Verhältnis zwischen Subjekt und Welt thematisieren. Sie schreibt: „Es gibt andere Wege als musikalische, dies [ein Offenbaren eines Mehr an (raumzeitlicher Präsenz), Gegenwärtigkeit, an Kontakt mit Sein usw.] zu erreichen, Meditation, Drogen, (Ver-)lieben, Fasten, ein Naturerlebnis, eine intellektuelle Offenbarung, ein (An-)Blick.“ (S. 127) Letztlich können wir aber in diesem Rahmen wohl nur sagen, dass Musik dann Anlass gibt, solche Erfahrungen zu machen, wenn wir einen bestimmten Aufmerksamkeitsmodus einnehmen, der für Musik in keiner Weise spezifisch ist. Alles, was Mahrenholz über die spezifisch zeitliche Dimension der Musik sagt, kann für die Erfahrung beliebiger Prozesse geltend gemacht werden, und sie selbst liefert ein Beispiel dafür, wenn sie Musikhören mit dem Baden im Meer vergleicht. Musikalische Prozesse können zwar prozessuale Eigenschaften exemplifizieren, aber das können alle Prozesse – und das kann auch Nichtprozessuales, weil ja unsere Interpretationen festlegen, was etwas (gegebenenfalls metaphorisch) exemplifiziert.

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Adornos wahrheitsästhetische Konzeption der Musik „Musik ist eine sich selbst und den Erkennenden verhüllte Weise von Erkenntnis.“15

Wie kaum ein Zweiter hat Adorno Gewicht auf die Feststellung gelegt, dass wir einen adäquaten Umgang mit musikalischen Kunstwerken verfehlen, wenn wir sie als bloße Mittel der Beeinflussung unserer Stimmungen betrachten. Und er hat in allen leichten Formen der musikalischen Rezeption nahezu eine Entweihung, einen Verfall gewittert, der uns einer wichtigen Form des Erkennens beraubt. Folgen wir Adorno, so sind musikalische Kunstwerke Rätsel, deren Verständnis eine besondere interpretative Anstrengung erforderlich machen – eine Anstrengung, in deren Vollzug wir nach der „Wahrheit“ des musikalischen Werks suchen müssen. Dass Adornos Texte sich selbst den Charakter des Rätselhaften geben und geradezu zwanghaft klare Auskünfte verweigern, macht es ebenso schwer, sie zu verstehen, wie es leicht ist, sie wegen ihres bewusstseinsphilosophischen Jargons zur Lektüre für Adorno-Philologen zu stempeln. Wenn es, wie ich glaube, in diesen Texten jedoch etwas zu entdecken gibt, so muss man Übersetzungen dafür finden und darf nicht vor der von Adorno gefundenen Form erstarren. Mit dem Begriff des (musikalischen) Materials hat Adorno ein theoretisches Konzept eingeführt, das in mancherlei Hinsicht als Vorläufer eines allgemeinen Medienbegriffs verstanden werden kann. Denn Material ästhetischer Produktion ist, „womit die Künstler schalten: was an Worten, Farben, Klängen, bis hinauf zu Verbindungen jeglicher Art bis zu je entwickelten Verfahrensweisen fürs Ganze ihnen sich darbietet: insofern können auch Formen Material werden, also alles ihnen Gegenübertretende, worüber sie zu entscheiden haben.“16 Dabei betont Adorno, dass das Material nicht einfach etwas natürlich Gegebenes ist, sondern etwas durch die geschichtliche Arbeit von Künstlern zuallererst Produziertes. Musikalisches Material ist etwas, dass es außerhalb eines sozialen Kontextes musikalischer Produktion gar nicht gibt. Material ist kein Naturrohstoff oder Werkstoff,17 dessen natürliche Eigenschaften der Tonsetzer „im Geiste alter Handwerkserfahrung“18 klug zu verwenden weiß, sondern etwas, das eher den Status einer sozialen Entität19 hat. Seine spezifisch musikalischen Eigenschaften, ebenso wie seine allgemeine Eigenschaft, als Material zu dienen, sind nicht intrinsischer, sondern beobachterrelativer Natur. Musikalisches Material wird etwas dadurch, dass Komponisten oder Rezipienten es als musikalisches Material betrachten oder behandeln. Die Eigenschaften des Materials sind bestimmt durch die Verwendungsweisen, durch die Perspektiven, die Komponisten in der Geschichte der Musik auf es eingenommen haben. Weil diese Zuschreibung aber nicht bloß subjektiv ist, sondern im Kontext einer geteilten sozialen Praxis stattfindet, sind jene Eigenschaften „objektive“ oder – wie man wohl 15 16 17 18 19

Adorno (1956, S. 645). Adorno (1970, S. 222). Hindemith (1937, S. 16). Ebd., S. 17. Vgl. Searle (1995).

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besser sagen sollte – intersubjektiv zugeschriebene beobachterrelative Eigenschaften. In genau diesem Sinne ist musikalisches Material „sedimentierter Geist“:20 Es ist das, was in einem historischen Prozess der intersubjektiven Zuschreibung beobachterrelativer Eigenschaften tradiert wird, und darin ist es „geschichtlich durch und durch“.21 Dass das musikalische Material den Künstlern wie etwas Objektives gegenübersteht, verdankt sich der Tatsache, dass Künstler in einem Prozess der Einsozialisation in die musikalischen Praktiken mit eben jenen Fähigkeiten ausgestattet werden, die tradierte Musik in Perspektiven wahrzunehmen, die ihnen qua jener Sozialisation zur zweiten Natur geworden sind. Absolvieren wir diese Sozialisation, dann gewinnen bestimmte akustische Ereignisse jene Eigenschaften für uns, die sie zu musikalischen machen. Von diesen können wir dann nicht mehr beliebig absehen – ebenso wenig wie es uns kaum gelingt, die geometrische Figur A nicht als den Buchstaben A zu lesen. So jedenfalls verstehe ich Adornos etwas dunkle Formulierung: „Die Forderungen, die vom Material ans Subjekt ergehen, rühren vielmehr davon her, daß das ‚Material‘ selber sedimentierter Geist, ein gesellschaftlich, durchs Bewußtsein von Menschen hindurch Präformiertes ist. Als ihrer selbst vergessene, vormalige Subjektivität hat solcher objektive Geist des Materials seine eigenen Bewegungsgesetze.“22 Im Kern läuft mein Rekonstruktionsvorschlag zunächst einmal darauf hinaus, das marxistische Bewusstsein von der Gemachtheit der sozialen Umstände in einer pragmatistischen Perspektive zu reformulieren und folgende Übersetzung vorzuschlagen: Musikalisches Material ist das, womit Komponisten interagieren, wenn sie komponieren. Da das Material nicht geschichtsloser natürlicher Werkstoff ist, sondern als Teil einer sozialen Praxis einen historischen Index trägt, der den jeweiligen Stand seiner Entwicklung anzeigt, können Komponisten, die relevante Kunstwerke schaffen wollen, diesen Stand nicht ignorieren, sondern müssen sich mit den kompositorischen Problemen auseinander setzen, die für das jeweils realisierte Entwicklungsniveau des Materials spezifisch sind. Der Materialbegriff bildet jedoch nur eine der Säulen für Adornos Konzeption des Verstehens musikalischer Werke. Denn: „Verstanden werden Kunstwerke erst, wo ihre Erfahrung die Alternative wahr oder unwahr erreicht oder, als deren Vorstufe, die von richtig und falsch. Kritik tritt nicht äußerlich zur ästhetischen Erfahrung zu, sondern ist ihr immanent.“23 Es ist klar, dass sich die Rede von der Wahrheit eines Kunstwerks oder eines Musikstücks nicht verständlich machen lässt, wenn wir hier Wahrheitsbegriffe unterstellen, wie sie zur Erläuterung der Wahrheit von deskriptiven Sätzen herangezogen werden. Denn natürlich haben musikalische Werke in Ermangelung einer prädikativen Struktur keine Wahrheitsbedingungen, die im Bestehen oder Nichtbestehen von Sachverhalten liegen, die durch das Werk „beschrieben“ werden. Was aber heißt es dann, ein Kunst20 21 22 23

Adorno (1949, S. 39). Adorno (1970, S. 223). Adorno (1949, S. 39). Adorno (1970, S. 515).

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werk wahr zu nennen? Um Adornos Rede von wahren Kunstwerken zu rekonstruieren, muss man auf Hegels Begriff der Wahrheit zurückgreifen, denn für Hegel ist Wahrheit eine Eigenschaft, die nicht nur Sätzen, sondern auch nichtsprachlichen Gegenständen zukommen kann. In Abgrenzung vom gewöhnlichen Wahrheitsbegriff bedeutet „Wahrheit“ für Hegel im „philosophischen Sinn [...] Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst.“24 Diese tautologisch anmutende Bestimmung, die Folge einer in Begriffen der Identität gefassten Prädikationstheorie ist, erläutert Hegel im Rückgriff auf Verwendungsweisen des Wahrheitsprädikats in umgangssprachlichen Wendungen wie: „Er ist ein wahrer Freund.“ In solchen Wendungen bringen wir zum Ausdruck, dass jemand sich so verhält, wie wir es von einem Freund erwarten: Jemand erfüllt die Kriterien, die den Begriff des Freundes definieren. Auf diese Weise gewinnen wir ein Modell dafür, wie nichtsprachlichen Gegenständen „Wahrheit“ zu- oder abgesprochen werden kann. Mit Blick auf Musik könnten wir dann sagen: Ein Musikstück M ist wahr genau dann, wenn M seinem Begriff entspricht, was nichts anderes heißt, als dass es seine kompositorische Idee erfüllt.25 Allerdings muss diese Bestimmung, sozusagen auf halbem Wege zu Kant, dahingehend korrigiert werden, dass der Begriff kein dem Musikstück vorgängiger ist, sondern aus der Analyse der spezifischen Strukturen des Stücks selbst gewonnen werden muss.26 Im Rahmen einer solchen Analyse muss der „Wahrheitsgehalt“ von Musikstücken identifiziert werden, indem wir identifizieren, „was darüber entscheidet, ob sie wahr sind oder nicht“.27 Wir müssen mit anderen Worten diejenigen Kriterien begrifflich artikulieren, als deren hypothetische Erfüllung wir das Kunstwerk zu verstehen suchen. In einem weiteren, allerdings nur analytisch zu unterscheidenden Schritt, den Adorno Kritik nennt, können wir dann darüber entscheiden, ob ein Kunstwerk seinen eigenen Kriterien entspricht. Fasst man diese etwas atemlosen Überlegungen zusammen, können wir nun in Verschränkung mit Max Paddisons eindrucksvoller Studie28 sagen: Ein Musikstück M zu verstehen heißt, (a) über eine immanente Analyse von M zu verfügen, die sich an der normativen Idee der inneren Stimmigkeit orientiert und in deren Perspektive untersucht, in welchem Verhältnis die Verwendung kompositorischer Mittel zur Realisierung einer kompo24 25

26

27 28

Hegel (1830, S. 86; vgl. auch S. 323). Diese Überlegung birgt einige Schwierigkeiten, denn die Erfüllungsrelation ist ja gerade so beschaffen, dass offene Sätze mit Hilfe genereller Termini (etwa dem Prädikat „ein wahrer Freund sein“) gebildet werden und durch alle x erfüllt werden, die die entsprechenden Kriterien erfüllen. Adorno hat jedoch so etwas wie ein nicht-subsumptives Prädikat vor Augen, das nur auf einen Gegenstand zutreffen kann und insofern eher den Charakter eines (benjaminschen) Namens hat. Dann aber ist fraglich, wie sich das erkenntnistheoretische Ideal, das hinter diesem Gedanken steht, mit der Idee von Kritik versöhnen lässt. Vgl. Kant (1790, B 160 f., B 185). Ich muss die Frage offen lassen, ob ein solcher hegelscher Begriff auch nichtsprachlich sein könnte; vgl. dazu Adorno (1970, S. 136 f.). Können wir aus nichtsprachlichen Begriffen keinen Sinn machen, impliziert Adornos Konzeption – wie Goodmans – eine Abhängigkeit des Musikverstehens von sprachlichen Kompetenzen der Hörer. Adorno (1970, S. 197). Paddison (1993, S. 60 ff.).

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sitorischen Idee steht, und so eine Erfüllungsrelation zu bestimmen, die den nichtbegrifflichen Wahrheitsgehalt eines Werkes begrifflich artikuliert. „Wahr“ auf dieser Ebene der Analyse sind Werke, die ihren Wahrheitsgehalt realisieren, „unwahr sind nur die mißlungenen“ Werke.29 Die immanente Analyse bildet den Kern ästhetischen Verstehens, insofern sie sich an den spezifischen Strukturen des Werks orientiert, gleichzeitig stellt sie aber nur die erste Ebene eines umfassenden Verstehensprozesses dar, da ja weder das Werk noch die kompositorische Idee im luftleeren Raum stehen. Ein Musikstück M im umfassenden Sinne zu verstehen, schließt daher über (a) hinaus ein, (b) über eine ideologiekritische Analyse von M zu verfügen, die die Besonderheit, die das Kunstwerk in der immanent-analytischen Perspektive der ästhetischen Autonomie auszeichnet, daraufhin befragt, (i) wie sich der soziale Kontext im musikalischen Material niederschlägt, (ii) wie sich M zu den gesellschaftlichen Verwertungszusammenhängen verhält, und dabei M daraufhin untersucht, welches Bewusstsein M von diesen seine Autonomie und Besonderheit beschränkenden, allgemeinen Faktoren artikuliert. „Wahr“ ist M auf dieser Ebene, wenn es ein angemessenes Bewusstsein seiner (potenziellen) Ideologizität artikuliert; und (c) über eine historisch-philosophische Interpretation von M zu verfügen, die jene Potenziale zu Tage fördert, in denen M über seine Bestimmung durch die historisch-sozialen Faktoren hinausgeht, und die den Konflikt, in dem M auf Grund dieser partiellen Heteronomie mit dem Ideal der Autonomie steht, artikuliert und damit auf die Möglichkeit der Überwindung des Konflikts verweist. „Wahr“ ist M auf dieser Ebene, wenn es authentisch ist, indem es mit seinen Mitteln den Konflikt angemessen bearbeitet. Natürlich kann man sich angesichts dieser Rekonstruktion fragen, ob es sinnvoll ist, Phänomene wie Stimmigkeit, ideologiekritisches Bewusstsein und Authentizität mit Hilfe des Wahrheitsbegriffs zu adressieren, und man muss sich fragen, ob es sich bei diesen Phänomenen tatsächlich um intrinsische Eigenschaften der Werke handelt oder um Eigenschaften, die ihnen nur im Rahmen sehr voraussetzungsreicher Interpretationen zugeschrieben werden. Mit Blick auf das Musikverstehen werfen derart anspruchsvolle Kriterien für das Musikverstehen, die kaum ohne musikologische und soziologische Kompetenzen, aber auch nicht ohne (philosophie-)historische Kenntnisse30 zu erfüllen sind, jedenfalls die Frage auf, ob hier nicht eine Ebene des Verstehens angepeilt wird, die man ohne Übertreibung eine wissenschaftliche nennen könnte. Fraglich ist darüber hinaus aber auch, ob diese ausdifferenzierten kritischen Perspektiven der ästhetischen Erfahrung tatsächlich „immanent“ sind – und wie die Kriterien für das Verstehen insbesondere mit der Ebene der sinnlichen Erfahrung eines Kunstwerkes zusam29 30

Adorno (1970, S. 196). Vielleicht nicht zufällig jene Kompetenzen, über die Adorno verfügte.

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menhängen. Wenn man das Erfassen expressiver Qualitäten eines Kunstwerks als eine Form des Verstehens betrachtet, das sich nicht erst über die Analyse der Faktur eines Werkes einstellt, dann wird sichtbar, dass die Fokussierung auf das analytische Verstehen eine Leerstelle hinterlässt. So betont Adorno im Zusammenhang von Überlegungen zur Ausdrucksdimension zwar, dass ästhetischer Ausdruck die Transformation von „Regungen“ in transsubjektive Form – mithin Artikulation in integriertem Material – voraussetze. Aber wie sich das Verstehen des Ausdrucks vollzieht, bleibt seltsam blass.31 Als Fazit lässt sich festhalten, dass uns sowohl Goodman als auch Adorno zwar theoretische Mittel bereitstellen, die es erlauben, Aspekte des Verstehens von Musik zu erläutern, beide dabei aber semantische Beziehungen in den Vordergrund stellen, die das Spezifische des Musikverstehens nicht in der Form der Interpretation, sondern im Gegenstand der Interpretation lokalisieren. Zwar stiftet Adornos Materialkonzept einen theoretischen Rahmen, der Strukturen des musikalischen Werkes erschließt, seine Inanspruchnahme für die wahrheitszentrierte Konzeption des Verstehens ordnet diese Perspektive einem begrifflichen Verstehen jedoch so unter, dass das Material nicht primär als Gegenstand eines verstehenden Erfahrens auftritt, sondern als Gegenstand der Analyse. Als Ausweg aus dieser meines Erachtens unbefriedigenden Situation bietet sich nun ein Medienbegriff an, mit dessen Hilfe wir bestimmte Sets von Eigenschaften auszeichnen können, die notwendig in einer Interpretation eines Werkes als ein musikalisches Werk Berücksichtigung erfahren müssen. Eine Interpretation in diesem Sinne zielt auf etwas, das ich kompositionale Identität eines Musikstücks nenne,32 zeichnet darüber hinaus aber eine Reihe von Eigenschaften aus, die ihm als musikalisches Phänomen zukommen, das in einer bestimmten kulturellen Praxis einen Platz hat. Die Eigenschaften, auf die wir in diesem Kontext zurückgreifen, sind mediale Eigenschaften, und ich werde später erläutern, was das heißt. Zunächst einmal möchte ich einen dafür geeigneten Begriff des Mediums einführen, der auf Überlegungen von John Dewey zurückgeht.

Deweys kommunikationstheoretische Wende in der Erfahrungsästhetik Deweys Überlegungen zum Musikverstehen und zur Rolle von Musik wirken gegenüber dem explorativen Verständnis Goodmans und angesichts Adornos Versuch, die Wahrheit der Kunstwerke durch philosophische Reflexion zu dechiffrieren, wie eine große Depotenzierung. Denn Dewey orientiert sich in seiner Analyse zunächst einmal an einem Verständnis von Musik als etwas, das wir sinnlich wahrnehmen, und er stellt diese sinnliche Erfahrung in den Kontext einer kommunikativen Situation: Musikali31 32

Vgl. Adorno (1970, S. 170-173). Vgl. dazu ausführlich Vogel (2001, S. 197 f. u. 201); vgl. auch Davies (1994, S. 325).

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sche Werke sind Artefakte, die Gegenstände der Erfahrung sind und dabei eine vermittelnde Rolle zwischen Produzenten und Rezipienten spielen. Dabei unterstellt Dewey den Produzenten, sich bei der Produktion eines Musikstücks an dessen Rezeption durch andere zu orientieren, indem sie die Produktion an Erfahrungen ausrichten, die sie selbst im Prozess der Hervorbringung des Musikstücks mit dem Stück machen. Die Rezipienten hingegen nehmen eine Perspektive auf das Musikstück ein, die unterstellt, dass es in der Absicht des Künstlers lag, das Musikstück als einen Gegenstand der Erfahrung zu produzieren und der Rezeption zugänglich zu machen. Warum sollte diese Konstellation aber als ein Fall von Kommunikation zählen, denn schließlich sind doch sowohl die Erfahrungen der Produzenten als auch die der Rezipienten gänzlich individuell? Was verbürgt eigentlich, dass diese Erfahrungen überhaupt etwas miteinander zu tun haben? Wenn ich recht sehe, lautet Deweys Antwort: die Tatsache, dass das Musikstück mit Hilfe eines Mediums komponiert wurde. Ein Medium ist Dewey zufolge33 etwas genau dann, wenn es intentional gebraucht wird, wenn es dabei in expressiver, mitteilender Absicht verwendet wird und konstitutiv in die Akte oder Produkte eingeht, zu deren Erzeugung es jemand verwendet, und zwar insofern als es die Hervorbringung von Ausdrucksakten bzw. Produkten erlaubt, die öffentlich wahrnehmbar sind und für deren Rezipienten Gegenstände einer zusammenhängenden Erfahrung werden können. Dabei nimmt Dewey an, dass Medien im Rahmen einer stabilen performativen Praxis oder durch explizite konstitutive Regeln in einer Gemeinschaft etabliert werden. Weil ein Musikstück mit Hilfe eines Mediums gebildet wird und das Medium Musik im Kontext einer Kultur ein Ausdrucksmittel darstellt, das transindividuelle Strukturen hat, kann Dewey hoffen, dass die Erfahrung des Produzenten und die interpretierende Erfahrung des Rezipienten Eigenschaften des Musikstücks integrieren, die es qua sozialer Etablierung des Mediums für beide hat. Mit dieser Analyse kommt nun erstmals eine Dimension des Musikverstehens in den Blick, die zum einen nicht von sprachlichen, quasi-wissenschaftlichen Kompetenzen oder den Fähigkeiten eines umfassend gebildeten Kritikers abhängig ist, zum anderen aber auch nicht den Irrweg beschreitet, das Verstehen eines Musikstücks als das Erschließen der (Ausdrucks-)Intentionen seines Produzenten misszuverstehen.34 Da ein Musikstück auf Grund seiner medialen Eigenschaften auf eine sozial etablierte Weise strukturiert ist, können Rezipienten es entlang dieser Eigenschaften erfahren. Sie müssen dazu nicht in der Lage sein, diejenigen Eigenschaften begrifflich zu identifizieren, die dem Musikstück als Musikstück im Sinne Goodmans buchstäblich zukommen, sondern sie können das Musikstück nachvollziehen. Aber was genau heißt hier „nachvollziehen“?

33 34

Ich orientiere mich hier an der Rekonstruktion, die ich in Vogel (2001, S. 141-154) vorgelegt habe; vgl. dazu Dewey (1934, S. 78, 229, 234, 285, 335 u. 387). Vgl. dazu Vogel (2001, S. 170).

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Musik als Medium Um diesen Punkt weiter vertiefen zu können, müssen wir über Deweys Überlegungen hinausgehen, denn Deweys Hinweis auf die Entstehung einer Erfahrung im Sinne einer integrierten Episode bleibt bei weitem zu unspezifisch. Wenn wir versuchen, eine bestimmte basale Ebene des Verstehens von Musik im Sinne eines Nachvollzuges zu analysieren, dann sagen wir, dass das Verstehen an eine Tätigkeit des Rezipienten gebunden ist, für die es Erfolgsbedingungen gibt. Um diese Tätigkeit des Rezipienten, die gut mit Deweys aktivischem Verständnis der ästhetischen Erfahrung harmoniert, genauer zu beschreiben, können wir beispielsweise sagen, dass die Rezipienten das Musikstück innerlich „mitsingen“. Damit ist gemeint, dass sie diejenigen medialen Elemente, die für das Musikstück spezifisch sind, auf eine imaginative Weise selbst produzieren können. Ohne im Stande zu sein, Intervalle, Rhythmen oder Tempi begrifflich zu identifizieren, können sie als Angehörige einer musikalischen Kultur die Musik, die sie hören, aus jenen Elementen synthetisieren, aus denen sie besteht. Sie hören Musik nicht als akustisches Ereignis, sondern als einen musikalischen Prozess, der aus Elementen zusammengesetzt ist, die sie selbst im Prinzip oder imaginativ produzieren können. Genauso wie es uns kaum noch gelingt, die geometrische Figur „AN“ nicht als aus dem ersten und vierzehnten Buchstaben des Alphabets zusammengesetzt zu sehen, so gelingt es uns kaum, eine unserer musikalischen Kultur entstammende Melodie nicht als aus Tönen zusammengesetzt zu hören. Die Tatsache, dass der Nachvollzug eines Musikstücks eine Tätigkeit ist, gibt uns einen wichtigen Hinweis darauf, was für Medien überhaupt spezifisch ist. Denn wir können Medien allgemein als Mengen von Tätigkeitstypen begreifen und so den Nukleus einer handlungstheoretischen Theorie der Medien anlegen, der sich nicht in den Äquivokationen und Inkohärenzen der systemtheoretischen oder technikzentrierten Medienkonzeptionen verheddert. Wir können dann sagen: Ein Medium ist eine Menge von tradierbaren Tätigkeitstypen, deren Instantiierungen öffentlich zugängliche, sinnlich wahrnehmbare Gegenstände oder Ereignisse hervorbringen, die durch bestimmte beobachterrelative Eigenschaften ausgezeichnet sind. Wenden wir diese allgemeine Charakterisierung von Medien auf das Medium Musik an, so ergibt sich: Das Medium Musik ist beschreibbar als eine Menge von Tätigkeitstypen, wie: ein F singen, ein B singen, einen Ton mit der halben Dauer eines Taktes singen usw. Wenn wir eine Sequenz dieser typisierten Tätigkeiten vollziehen, dann erzeugen wir dabei öffentlich zugängliche, sinnlich wahrnehmbare Ereignisse, die für uns nicht durch ihre physikalischen Eigenschaften (Frequenz, Amplitude, zeitliche Abfolge usf.), sondern durch ihre musikalischen Eigenschaften wie Tonhöhe, Lautstärke, Tempo und Rhythmus charakterisiert sind.35 Mit Hilfe dieser Überlegungen lässt sich nun erklären, wie wir die musikalischen Eigenschaften, die einem Musikstück in Goodmans Sinne 35

Eine vollständige (?) und formale Definition des Medienbegriffs findet sich in Vogel (2003, S. 131), für eine detaillierte Entwicklung des Begriffs siehe Vogel (2001, S. 165-226).

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buchstäblich zukommen, von irgendwelchen anderen Eigenschaften, die ihm auch zukommen mögen, unterscheiden können, denn die musikalischen Eigenschaften sind diejenigen beobachterrelativen Eigenschaften, die für die mediale Konfiguration spezifisch sind, die das Musikstück verkörpert. Verstehen in diesem Sinne heißt, sich erfolgreich auf die kompositionale Identität des Musikstücks im – von den musikalischen Handlungsalternativen aufgespannten – Möglichkeitsraum eines Mediums beziehen zu können. Allerdings haben wir bisher nur eine Ebene des Musikverstehens erläutert, die beim Verstehen einer sprachlichen Äußerung in etwa dem Korrekt-nachsprechen-Können dieser Äußerung entspricht. Anders formuliert: Wir haben die Ebene der semantischen Interpretation noch nicht erreicht. Um dorthin zu gelangen, muss man sich der Tatsache erinnern, dass wir das Singen nicht erlernen, wie wir Rechnen lernen. Denn unsere musikalische Erziehung, d. h. unsere Sozialisation in eine mediale Praxis, ist in eine Interaktionspraxis eingebettet, die auf eine exemplarische Weise auch interpretative Kompetenzen vermittelt, indem in ihr musikalische Äußerungen mit mimischen, gestischen, tänzerischen, prosodischen, aber auch sprachlich beschriebenen Interpretationen korreliert werden. Erwachsene singen ein behäbiges Lied und begleiten den Gesang mit walrossartigen Bewegungen; und sie verwenden als Mitglieder einer expressiven Kultur mediale Mittel, um bei (ihren) Kindern Effekte zu erzeugen, die diese Mittel gewöhnlich bei ihnen selbst hervorrufen. Parallel zur Tradierung der Kompetenzen, die uns befähigen, mediale Konstellationen aus medialen Elementen zusammenzusetzen, werden in Kulturen Interpretationskompetenzen vermittelt, die durch die exemplarische Verwendung medialer Konstellationen in interpretativen Situationen tradiert werden.36 Die Bedeutung, die musikalische Werke in dieser Hinsicht gewinnen, steht in der Kontinuität zur Interpretativität dieser exemplarischen Situationen und ist, insofern sie erfahrungsförmig ist, zwar sprachlich beschreibbar, aber nicht in Sprache übersetzbar. Wir können nun die webernsche Intuition einholen und an der Vorstellung festhalten, dass Musik verstehbar, aber nicht übersetzbar ist. Denn Musik erlaubt, wie andere Medien auch, eine spezifische Verknüpfung zwischen transindividuellen, intrinsisch bedeutungslosen Strukturen und individuellen, aber kulturell adjustierten Weisen des Erfahrens. Auf diese Weise ist die kompositionale Identität einer medialen Konstellation nicht bloß formal bestimmt, sondern gewinnt im geschichtlich-sozialen Kontext intersubjektiv zugänglichen Gehalt. In genau dieser Hinsicht nimmt der Begriff des Mediums etwas auf, das Adorno mit dem Materialbegriff adressiert hat: Die Vorstellung, dass musikalische Artikulation der Anstrengung bedarf, subjektive Vorstellungen und

36

Diese Vorstellung ist natürlich mit Wittgensteins Idee der Sozialisation in ein Sprachspiel verwandt, das in eine Lebensform, d. h. in ein Gefüge praktischen Tuns eingebettet ist: vgl. Wittgenstein (1958, §§ 7, 23). In der Perspektive der hiesigen Überlegungen bildet das Sprachspiel allerdings nur eine Form des medialen Spiels, wobei wir den Prozess der Sozialisation zudem nicht primär als „Abrichtung“ (ebd., § 5) auffassen müssen, weil das mediale Spiel in frühen Formen der affektuellen Kommunikation verwurzelt ist und auf diese Weise eine Grundlage in unserer natürlichen gattungsspezifischen Ausstattung hat. Vgl. dazu Vogel (2001, S. 242-253).

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Erfahrungen auf die Form eines transindividuellen Ausdrucksmittels zu bringen.37 Über diesen instrumentellen Charakter des Materials hinaus macht der Medienbegriff aber auch sichtbar, dass man musikalische Gedanken nicht außerhalb des musikalischen Mediums denken kann und das Medium insofern konstitutiv für musikalische Gedanken ist. Denn einen musikalischen Gedanken zu denken, heißt, die Performation einer musikalischen medialen Konstellation zu imaginieren. Ohne ästhetische Phänomene auf kommunikative zu reduzieren, können wir einen grundlegenden Aspekt des Musikverstehens erläutern, wenn wir Musik als Gegenstand einer medial strukturierten Erfahrung betrachten.

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Vgl. dazu Sziborsky (1979, S. 19 u. 70-75).

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Erst seit kurzem kämpft die Medienphilosophie um einen Platz in Philosophie und Medienwissenschaft (vgl. Vogel 2001; Sandbothe 2001) und schon sind die Positionen äußerst kontrovers: Von den einen wird sie bereits als eine Totgeburt abgeschrieben (vgl. Esposito 2003), von den anderen als eine vorübergehende Sache deklariert (vgl. Seel 2003), während Dritte sie als eine Möglichkeit zu einer radikalen Umwälzung der abendländischen Philosophie ansehen (vgl. Fietz 1992; Hartmann 2000), und dies, obwohl noch längst nicht klar umrissen oder gar erwiesen ist, was Medienphilosophie eigentlich sein soll und leisten kann (vgl. Filk et al. 2004). Auf dieser doch recht instabilen Grundlage eine Verbindung zwischen Medienphilosophie und Tanz herzustellen, ist mehr als ein heikles Unternehmen. Dies umso mehr, als der Tanz selbst ein äußerst komplexes Phänomen ist, das sich als eine Synthese aus verschiedenen Medien beschreiben lässt: aus den Beziehungen zwischen Raum und Zeit – in diesem Sammelband als sinnliche Wahrnehmungsmedien ausgewiesen – und dem Körper, hier als semiotisches Informations- und Kommunikationsmedium bezeichnet. Zudem kann die Tanzforschung im Unterschied zu anderen Kunstwissenschaften bislang weder auf eine Philosophie noch auf eine Medientheorie des Tanzes – geschweige denn auf eine Medienphilosophie – verweisen. Während philosophische Aspekte in der Tanzforschung äußerst selten behandelt wurden,1 liegen seit wenigen Jahren vereinzelt Publikationen vor, die am Beispiel einzelner Choreographen, des digitalisierten Tanzes oder auch anhand der Bildmedien Film, Video und Photographie das Verhältnis von Tanz und Medien beleuchten (vgl. Rosiny 1999; Leeker 2001; Klein/Zipprich 2002; Leeker/Dinkla 2002; Evert 2003; Klein 2003). In diesen Arbeiten sind vor allem die (un)heimlichen Allianzen (vgl. Klein 2003, S. 7-17) zwischen Tanz und neuen, also digitalisierten Medien oder Bildmedien wie Film und Video diskutiert worden. Erst diese Debatte über das Verhältnis zwischen Tanz und Bildmedien machte die Medialität des Tanzes selbst offensichtlich und mit ihr die Notwendigkeit einer medientheoretischen Fundierung der Tanzforschung. Es wird eine der zukünftigen Aufgaben der Tanzforschung sein, diese zu entwickeln. Die weitgehende Abwesenheit einer Philosophie wie auch einer Medientheorie des Tanzes lässt sich auf verschiedene Ursachen zurückführen: Zum einen beruht sie darauf, dass Tanz als ein Körpermedium sich nicht in den klassischen akademischen Ka1

Vereinzelt haben Autoren wie Paul Valéry philosophische Überlegungen zum Tanz formuliert. Eine „Philosophie des Tanzes“ hat Kaethe Trettin 1978 vorgelegt (vgl. Trettin 1978).

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non der Geistes- oder Naturwissenschaften einordnen ließ, Tanzforschung dementsprechend in nur wenigen Ländern als akademische Disziplin etabliert ist und sich tanztheoretische Diskurse folglich nur sehr langsam entwickeln konnten. So kann die Tatsache, dass auch in Deutschland etwa zeitgleich mit Beginn des 21. Jahrhunderts Professuren und Lehrstühle für Tanzforschung und -wissenschaft eingerichtet wurden, durchaus als Ausdruck einer strukturellen Hierarchie zwischen den verschiedenen Informations- und Kommunikationsmedien in westlichen Kulturen angesehen werden.2 Die allmähliche universitäre Institutionalisierung der Tanzforschung in Zeiten des ‚cultural‘ und ‚performative turn‘ lässt sich aber auch als Symbol einer neuen hierarchischen Ordnung zwischen den Sprach- und Schriftmedien auf der einen und den Bild- und Körpermedien auf der anderen Seite deuten, was durchaus zukünftig ein größeres Interesse an Tanz seitens der Philosophie und der Medienwissenschaft bewirken könnte. Neben den institutionellen Bedingungen der Tanzwissenschaft auf dem akademischen Feld beruht vor allem die medientheoretische Abstinenz der Tanzforschung auf einem für die Tanzmoderne charakteristischen Diskursmuster, das Tanz per se als eine Kritik an der Moderne verstand und versteht und ihn, entsprechend des historischen Kontextes, als natürlich oder authentisch, als ehrlich oder echt begreift. Aus dieser Perspektive erscheint Tanz als essenziell, als Ausdruck und Bedeutungsträger an sich. Seine scheinbar natürliche, an den Körper und an subjektiv wahrnehmbare Sinnlichkeit gebundene Medialität konnte aus dieser Perspektive nicht wahrgenommen werden. Auf Grund des Status quo der Medienphilosophie auf der einen Seite und des Standes der Tanzforschung auf der anderen Seite ist dieser Text der Versuch einer ersten, zwangsläufig bruchstückhaften Annäherung an das Verhältnis von Medienphilosophie und Tanz. In einem ersten Schritt wird die Medialität des Tanzes skizziert. Dabei ist die Überlegung zentral, dass Tanz als Medium nicht ohne ein weiteres Medium, den Körper, seine Wirksamkeit entfalten kann. Im Unterschied zu Sprache, Schrift und Bild sind Tanz und Körper Medien, die in konkreten Raum-Zeit-Bezügen als singuläre, unwiederholbare Ereignisse wirksam werden. Deshalb soll in einem zweiten Schritt anhand der Geschichte des Tanzes in der Moderne die historische Grammatik des Mediums Tanz sowie deren enge Verbundenheit mit historischen Körper-Konzepten und damit die soziale und kulturelle Rahmung des Mediums Körper in der tänzerischen Praxis veranschaulicht werden. Um die soziale Wirksamkeit des Mediums Tanz als Vermittler von Bedeutung zu beschreiben, so sollte deutlich werden, bedarf es kultur- und sozialhistorischer Kontextualisierungen.

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Wie Michael Giesecke in seinem Aufsatz in diesem Sammelband aufzeigt, ist die Dominanz der Schriftmedien und visuellen Medien gegenüber dem Körpermedium Tanz und deren soziale Institutionalisierung ein Kennzeichen aller Hochkulturen, mit der Moderne wird diese Hierarchie allerdings unter dem Leitwort der Vernunft neu etabliert.

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Tanz als Medium Der Begriff Tanz meint immer zweierlei: Regelwerk und Performanz oder anders ausgedrückt: Sprache und Sprechen, historische Grammatik und performative Praxis. Als Regelwerk ist Tanz eine Art kulturelles Archiv und als solches selbst schon intermedial, da es nur über andere Medien wie Notationsschrift, Bild oder den Körper des Tänzers erinnert werden kann. Deshalb ist Tanz wie der Körper – im Unterschied zu Sprache, Schrift und Bild – ein performatives Medium. Tanz ist ein flüchtiges Medium. Im Unterschied zum Buchdruck, zu den neuen Medien, der Sprache, der Schrift oder zum Bild ist Tanz – wie die Musik und das Theater – kein Speichermedium. Tanz existiert nur im Augenblick der Darstellung, im Akt der Aufführung. Nur als verkörperte Form, als Praxis, kann der Tanz seine mediale Wirksamkeit entfalten. Tanz ist primär ein Kommunikationsmedium, aber immer auch ein Medium kinästhetischer Wahrnehmung. Das lateinische Wort Medium meint Mitte, Mittelpunkt, ist also ein topologischer Begriff, der die Bedingung der Möglichkeit von Vermittlung bezeichnet. Aber Medium meint auch Mittel, d. h. Werkzeug, Instrument, mit dem und durch das etwas vermittelt wird. Dieser kommunikative und informative Aspekt des Begriffs Medium ist relevant für den Tanz: Tanz ist – wie Sprache, Schrift oder Musik – ein Medium der Mitteilung und der Informationsweitergabe. Wir nehmen Tanz als Form und nicht als Medium wahr, das heißt, unser Blick richtet sich darauf, was Tanz vermittelt und wie dies geschieht. In der Formensprache des Tanzes meinen wir Sinn oder Bedeutung, ‚Inhalt‘ oder ‚Aussage‘ zu erkennen. Da Tanz im Akt der Aufführung als Form und nicht als Medium wahrgenommen wird, ist die Erkenntnis der Medialität des Tanzes auf andere Medien angewiesen. Sybille Krämer vertritt die These, dass Intermedialität eine epistemische Bedingung von Medienerkenntnis ist (vgl. Krämer 2003), und diese Annahme gilt besonders für den Tanz: Erst wenn der Tanz in ein anderes Medium übertragen wird, als Notation verschriftlicht oder in Film, Video, Fotografie oder digital verbildlicht wird, kann er als Medium, d. h. als Regelwerk, als „historisches Apriori“ (Bolz 1990, S. 112) der Organisation von rhythmischen Formen, körperlichen Gesten und Bewegungsfiguren sichtbar werden. Als Kommunikationsmedium ist Tanz immer auch ein Medium des Sprechens und Verstehens. Die Sprache des Tanzes, sein Regelwerk, folgt einer anderen Logik als die gesprochene Sprache. Denn der Tanz, egal welcher Art, beruht immer auf Prinzipien der Wechselwirkung wie Führen – Folgen, Spannung – Entspannung. Er entfaltet sich nicht im Entweder-oder, sondern im ‚Dazwischen‘. Auf Grund dessen verweist Tanz auf eine andere Sprachordnung, die nicht nach einer Ausschließlichkeitslogik organisiert ist. „It provides a means of representing a mode of being wherein mind and body are not separable; wherein the body does not move towards a final, singular rationality and wherein the subject is no longer the individual, boundaried, liberal humanist ‚self‘“ (Pini 1997, S. 111-129). Wie das Sprechen (vgl. Krämer in dem vorliegenden Band) ist

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das Tanzen ein körpergebundener Vorgang, der sich nur prozessual und über die Bewegung des ihn erzeugenden Körpers beschreiben lässt. Medien sind Vermittler von Bedeutungen. Bedeutungsvermittlung erfolgt im Tanz über die Wahrnehmung der tänzerischen Form. Wenn auch die Tanzgeschichtsschreibung den Tanz einmal im Ausdruckstanz als bedeutungsschweren, aber formlosen Tanz, den „postmodern dance“ hingegen beispielsweise als einen formalen, aber bedeutungsleeren Tanz kennzeichnet, so liegt gerade die kulturstiftende Funktion des Mediums Tanz darin, über die Form Bedeutung zu vermitteln und auf diese Weise dem Zuschauer einen ‚Inhalt‘ zugänglich zu machen. Dies heißt auch, dass der Tanz nur im Zusammenhang mit Akteuren oder Kommunikatoren in Erscheinung tritt. Im Unterschied zu Schrift und Bild beruht der Tanz auf der unabdingbaren Verzahnung von Autor und Text, von Darsteller und Darstellung, von Produzent und Produkt. Das Medium Tanz existiert nicht an sich, sondern es ist immer in einen kommunikativen Prozess verwickelt, tritt als Vermittler zwischen zwei Polen auf, dem Darstellenden und dem Zuschauenden – und diese müssen gleichzeitig anwesend sein. Diese für den Tanz als Zeitkunst charakteristische Kopräsenz der Kommunikatoren wird erst durch einen intermedialen Transfer aufgegeben, also dann, wenn der Tanz in einem anderen Medium, in Film, Video oder digitalisiert in Erscheinung tritt. Aber selbst wenn auch hier eine für den Tanz untypische Trennung von Autor und Text entsteht, kann der Tanz in der Intermedialität nur über Verkörperung wirksam werden. Denn erst durch das Abspielen der bewegten Bilder in Film oder Video wird das Medium Tanz sichtbar, indem es als Form wahrgenommen wird. Der Tanz erzeugt und vermittelt Bedeutung auf eine besondere Weise, ist doch im Tanz der Prozess der Bedeutungsherstellung und -vermittlung an ein scheinbar natürliches Medium gebunden: den Körper und die Sinne. Wie die Sinne ist der Körper ein Wahrnehmungsmedium, aber auch und vor allem das Darstellungsmedium des Tanzes. Erst der Körper und die Sinne machen es möglich, dass der Tanz ein Kommunikationsmedium sein kann. Die Medialität des Tanzes beruht im Wesentlichen auf diesen ‚primären‘ Medien des Körpers und der Sinne, die, wie Phänomenologen wie Merleau-Ponty oder Schmitz beispielsweise deutlich gemacht haben, in basaler Weise den Zugang des Menschen zur Welt bestimmen. Dies ist allerdings nicht im kantschen Sinne zu verstehen, wonach eine amorphe Sinneswahrnehmung erst im Nachhinein durch Anschauung und Vernunft geordnet und gedeutet werden müsse (vgl. Margreiter 2003, S. 157 ff.). Vielmehr belegt die Geschichtlichkeit der Körperwahrnehmung, Körperdeutungen und Körperdiskurse, dass die individuelle körperliche Wahrnehmung historisch kontextualisiert, kulturell kodiert und sprachlich normiert ist. Sowohl die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Tanz wie auch die Wahrnehmung des Tanzes durch den Zuschauer sind demnach keineswegs amorph, sondern immer schon durch kulturelle Codes und das jeweilige Wissen um die sprachliche Struktur des Tanzes mit Bedeutung versehen. Der Tanzkörper ist aber keineswegs nur als ein natürliches, primäres Medium anzusehen, wie dies mitunter die Medientheorie dem Körper und den Sinnen unterstellt. Als Darstellungsmedium ist der Körper vielmehr doppeldeutig: er ist zugleich ein natürli-

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ches und ein technisches Medium. Anders ausgedrückt: Der Tanzkörper wird gerade dann als natürlich wahrgenommen, wenn und weil er Kultur- und Tanztechniken perfekt erlernt hat und sie dementsprechend ausführen kann. Tanzformen, Figuren und Gesten sind dem Körper nicht qua Natur eigen. Er hat sie als Technik erlernt und abgespeichert – und gerade diese Fähigkeiten des Lernens und Erinnerns unterscheiden den Körper vom Tanz. Denn anders als der flüchtige Tanz ist der Körper ein Speichermedium. Er verfügt über eine Art Gedächtnis. Hat der Körper Formen und Techniken einmal erlernt und abgespeichert, kann er sie, um es mit Pierre Bourdieu zu sagen, über den ‚sens pratique‘ abrufen und wieder zu tänzerischer Praxis werden lassen. Als Speichermedium tänzerischer Formen ist der Körper, neben den Schrift- und Bildmedien, ein weiteres Medium, das dem Tanz eine Geschichtlichkeit verleiht. Der Körper vermag die historischen Formen und Techniken des Tanzes zu speichern und zu erinnern und damit Bedingungen für die Erkenntnis des Mediums Tanz bereitzustellen. Auf Grund der Doppeldeutigkeit des Körpers als natürliches und technisches Medium kann der Medienbegriff selbst dann, wenn es um sog. natürliche Medien geht, nicht ontologisch oder essenziell verwendet werden. Denn selbst als Medium individueller Wahrnehmung ist der Körper immer sozial und kulturell hergestellt. Erst als sozial produzierter und kulturell kodierter Körper kann er zu einem generativen Prinzip werden, das den Tanz zu einer „vermittelnden Figur“ (vgl. Krämer 2003, S. 79), einer „Schaltstelle“ oder einem „Dazwischen“ (vgl. Roesler 2003, S. 40 ff.) im kulturellen Prozess der Produktion von Bedeutung macht. Insofern ist eine Medientheorie des Tanzes immer auch verwiesen auf eine historische Genese von Körperkonzepten und die sozialen und kulturellen Rahmungen von Körperperformanzen. Es wäre aber verkürzt, nur den humanen Körper als Medium von Wahrnehmung und Darstellung tänzerischer Formen anzusehen. Gerade der sich seit den 1990er Jahren etablierende digitale Tanz zeigt, dass auch virtuelle Körper Wahrnehmungs- und Darstellungsmedien sein können. Nicht nur das: Ausgehend von der an McLuhan angelehnten, in der Medientheorie mittlerweile äußerst kontrovers diskutierten Annahme, dass Medien künstliche Ausweitungen des Menschen seien, dienen digitale Körper als neuer erweiterter Horizont für die Entwicklung tänzerischer Formen. Medien vermitteln und prägen Bedeutung, sie übertragen etwas, was – wie Form, Sinn, Bedeutung oder Inhalt – sich selbst nicht vermitteln kann. Anders ausgedrückt: Ohne Medium gibt es keine Bedeutung. Das Medium Tanz vermittelt Bedeutung im Prozess der Verkörperung. In dem raum-zeitlichen und damit einzigartigen und flüchtigen Vorgang der Verkörperung von tänzerischen Formen und Techniken wird Bedeutung zugleich neu geprägt. Der Tanz stellt zwar die Bedeutung nicht her, aber in der Aufführung verändert sie sich ständig: Ein Tanz ist immer anders, da erst die Darbietung, der performative Akt der Verkörperung den Tanz kommunizierbar macht. Der Tanz verweist unmittelbar auf den Körper, d. h. sowohl auf das jeweilige Körperkonzept wie auf den Körper als Darstellungsmedium. Die Bindung des Tanzes an den Körper macht den Tanz zugleich zu einem konservierenden und subversiven Medium. Diese Ambivalenz des Tanzes ist ein Effekt der Geschichte des Körpers in einer

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sich zivilisierenden, disziplinierenden und medialisierenden Moderne. Und diese liest sich aus zivilisations- und modernitätskritischer Perspektive so: Affektgeladenheit wich einer nahezu lückenlos scheinenden Kontrolle des Affekthaushaltes (vgl. Elias 2001), sinnenhafte Erfahrung wurde das Opfer zweckrationaler Handlungsvollzüge (vgl. Habermas 2001). Die digitalen Medien haben das Verschwinden des Körpers nochmals beschleunigt und die Grenzen zwischen humanen und künstlichen Körpern verschwinden lassen. Technik- und medienkritischen Debatten zufolge liegt eine besondere Aufgabe und Fähigkeit des Tanzes darin, dem zivilisationsgeschichtlich verdrängten, über Disziplinierungstechniken geschundenen und nunmehr virtuell sich transformierenden humanen Körper wieder zur Sprache zu verhelfen. Hierin liegt demnach sein subversives und utopisches Potenzial. Der Tanz erscheint aus dieser Perspektive, wie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Lebensreform-, Gymnastik- und Ausdruckstanzbewegung, als viel versprechende Alternative zur zunehmenden Technisierung der Welt, als das Medium der Selbstfindung. Er gilt als der materiell greifbare ‚Ort‘, an dem das Subjekt sich seines Selbst vergewissern kann. Auf der anderen Seite ist aber gerade der so geschundene, historisch verdrängte Körper das Darstellungsmedium des Tanzes. Der Tanz, so ließe sich demnach auch schlussfolgern, ist das Medium, über das Sozialdisziplin, kulturelle Konvention und Körpertechnik quasi tänzelnd wahrgenommen, erlernt und ausgeübt wird. Der Tanz ist also immer ambivalent: Er kann als Konventionen konservierendes und transformierendes Medium wirksam sein. Entscheidend sind der sozialhistorische Kontext sowie die Form, in der der Tanz in Erscheinung tritt. Während beispielsweise Goethe in Die Leiden des jungen Werther den Walzer noch als einen revolutionären Tanz kennzeichnen konnte, da er für die damalige Zeit unvorstellbar erotisch, schnell und berauschend war, hat sich der Walzer in der Moderne zu einem konventionalisierten Standardtanz gewandelt. Aber: ‚Walzen‘ kann nach wie vor auch ein Trancetanz sein und zwar beispielsweise dann, wenn das konventionalisierende und disziplinierende geschlechtsspezifische Muster von Führen und Folgen aufgegeben wird. Der Körper ist nicht nur das Darstellungsmedium des Tanzes, sondern auch das Ausdrucksmedium des Tänzers und dies, erinnernd an Plessners Theorem der „Ex-Zentrischen Positionalität“ (vgl. Plessner 1982), als Körper-Sein und Körper-Haben, als Agens und Instrument. Denn der Tänzer gestaltet den Tanz mit seinem Körper, aber im Tanz ist er auch Körper. „Nicht ich mache den Tanz, sondern der Tanz macht mich“, sagte einst die Ausdruckstänzerin Mary Wigman (vgl. Wigman 1986). Aus dieser Doppelfunktion heraus ‚spricht‘ der tanzende Körper von einer bestimmten historischen und kulturellen Position aus, er artikuliert die Subjektivität des Tanzenden. Über die tänzerische Form stellt sich zugleich das Verhältnis des Tanzenden zur historischen Grammatik des Tanzes her. Von daher geben Tänze über weit mehr Auskunft als über den einzelnen Tanz selbst. Tänze stellen spezifische Lesarten des Verhältnisses von Körper und Kultur, von Individuum und Gemeinschaft, von körperlichem Rhythmus und kulturellem Raum bereit. Aus der Perspektive des Tanzes macht es wenig Sinn, Körper essenziell, singulär oder statisch zu begreifen. Der Tanz erfordert vielmehr einen Begriff vom Körper, der

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diesen als soziales und kulturelles Konstrukt und als Praxis, als Konzept und als Verkörperung, und das heißt: in seinen repräsentativen und performativen Dimensionen, erfasst. Er veranschaulicht zudem, dass Körper in Figurationen, d. h. – dem Figurationsbegriff von Norbert Elias folgend – als dynamisch und interagierend und damit relational zu Raum und Zeit betrachtet werden sollten. Denn: Raum und Zeit sind Wahrnehmungsmedien des Körpers. Das Verhältnis von Körper, Raum und Zeit lässt sich als ein dynamisches Spannungsgefüge beschreiben. Dynamik meint in der Raum- und Bewegungslehre Rudolf von Labans das Verhältnis von Zeit und Kraft (vgl. Laban 1991). Demnach thematisiert der Tanz Spannungswechsel und Energiedifferenzen. Er konkretisiert sich in der Art und Weise, wie der Körper das komplexe Geflecht von subjektivem Zeitempfinden und objektiven Zeitstrukturen, von räumlichem Erleben und dem Einsatz von physischer Kraft in dynamische Formen umsetzt. Wie der Körper ist auch der Raum weniger als eine substanzielle, sondern eher als relationale Kategorie zu beschreiben: Räume sind nicht nur materiell gegeben, sondern entstehen als Handlungs- und Aktionsräume in und durch Bewegung. Räume, ob soziale oder kulturelle, urbane oder Landschaftsräume, stehen von daher immer im Verhältnis zu den Körpern und dem kinesphärischen Raum, jenem Raum, den der Körper mit seinen Gliedmaßen umschreiben kann. Die spezifische Dynamik von Körpererfahrung, kultureller Zeit und sozialem Raum reflektiert die Tanzkunst der Moderne. Sie thematisiert die Konstitution des modernen Subjektes über das Medium des Körpers in der raum-zeitlichen Darstellung im Tanz. In der Tanzkunst der Moderne ist der Körper im doppelten Sinne das zentrale Medium des Tanzes: er ist zugleich Vermittelndes und Vermitteltes, sowohl Medium wie Objekt der Darstellung. Es ist diese Doppelfunktion des Körpers, die den Tanz zu einer besonderen Kunst macht und ihn als Wegbereiter einer performativen Kultur ausweist. Dies lässt sich gut an den sozialen und kulturellen ‚Bruchstellen‘ des 20. Jahrhunderts darstellen, die vor allem zu Beginn des Jahrhunderts, in den 1960er und 1970er Jahren und schließlich in den 1990er Jahren auftraten. Diese Bruchstellen markieren nicht nur Krisen in dem „Projekt der Moderne“ (Habermas) und in den Diskursen um das moderne Subjekt, sondern sie weisen auch auf historische Veränderungen der Körperkonzepte, der Darstellungstechniken des Körpers und der Wahrnehmungsformen des Tanzes hin. Die soziale Wirksamkeit des Mediums Tanz als Bedeutungsträger wird, so soll das Folgende zeigen, nur im Kontext dieser komplexen sozialen und kulturellen Veränderungen sichtbar.

Tanz-Moderne Der Begriff der Tanzmoderne ist ebenso schillernd und uneindeutig wie der der Moderne und wird wie dieser sowohl als epochaler wie als normativer Begriff benutzt. Wird die soziale Moderne bereits mit der Neuzeit und den damit einhergehenden sozialen und geistigen Umwälzungen in Verbindung gebracht, so setzt die ästhetische Moderne im

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Tanz erst um die Wende zum 20. Jahrhundert ein. Meilensteine waren die „Balletts Russes“, die zu einer ästhetischen Modernisierung des klassischen Tanzes einen besonderen Beitrag leisteten, und vor allem der ‚neue‘ Tanz, der in die Tanzgeschichte als moderner Tanz oder „modern dance“ eingehen sollte. Dass der Ausdruckstanz sich als der moderne Tanz einführte, liegt auch im Selbstverständnis des Begriffs der Moderne begründet.

Tanz als stilisierte Natur: der klassische Tanz Bereits die gesellschaftliche Moderne etablierte sich fortschrittsgläubig als prinzipiell offen und kontingent. An die Stelle bisheriger religiöser Heilsgewissheiten und Sinnbezüge setzte die Moderne die kritisch-krisenhafte Struktur des modernen Subjekts, dessen Konstitution im Zuge der Verflüssigung fester Sinnbezüge immer wieder in Frage gestellt wurde und wird. Die Tanzmoderne reflektiert und ästhetisiert die Problematik der gesellschaftlichen Moderne und dies auf zweierlei Weisen: So liest sich der Beitrag des klassischen Tanzes zur Tanzmoderne weniger als ein epochaler Einschnitt, sondern eher als ein permanent fortschreitender Prozess der Modernisierung, in dessen Verlauf der Tanz verschiedene Entwürfe eines stilisierten Naturbegriffs in Szene setzte. Dieser Prozess beginnt mit Nijinsky und den „Balletts Russes“, führt über George Balanchine, John Cranko und John Neumeier bis hin zu William Forsythe. Dieser Strang der Tanzmoderne definiert sich nicht in Abgrenzung zur Tradition, sondern als ein Erneuerungsprozess derselben. Modernisierung lässt sich im Tanz als ein Vorgang beschreiben, der von der Symbolisierung des Körpers als stilisierte Natur und der Entsubjektivierung des Tänzers im klassischen Ballett zu einer Neudefinition des Körpers als Kunstfigur führt, wie ihn das moderne oder auch postmoderne Ballett in Szene setzt. In Hinblick auf das Körper-Konzept bezeichnet Modernisierung im Tanz einen beständigen Prozess, der von der Stabilisierung des Torsos und der Zentralisierung der Körperachsen im klassischen Tanz, über die Destabilisierung im modernen Ballett zu einer Dekonstruktion des Körperkonzeptes im Sinne einer Auflösung der Zentralachse zu Gunsten einer beliebigen Vervielfältigung der Körperachsen und des Verlusts eines einzigen Körperzentrums führt, wie sie William Forsythe vorgeführt hat.

Tanz als Medium individueller Freiheit: der moderne Tanz Im Unterschied zu diesem beständigen Modernisierungsprozess im klassischen Tanz versteht sich der Ausdruckstanz der 1920er Jahre, der sich selbst als moderner Tanz definiert hat, als eine neue, mit der Tradition brechende und sie überwindende Kunst. Dieses epochale Verständnis von Moderne, das sich von der Idee einer beständigen Dialektik von Tradition und Moderne abwendet, konkretisiert sich im modernen Tanz in einer radikalen Umdeutung des Tanzkörpers: Der moderne Tanz entzog den Körper

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dem stilisierten Natur-Diskurs des klassischen Tanzes und erklärte ihn zur ‚wahren‘ Natur und damit zum Medium der Freiheit, zum Ort der Utopie. Nicht mehr ein stilisierter und in seiner Bewegungssprache fixierter Tanzkörper, wie ihn das Ballett idealisierte, sollte nunmehr das Darstellungsmedium des Tanzes sein. Nein, der Körper des Ausdruckstanzes wurde im Kontext eines für den zeitgenössischen kulturpessimistischen Diskurs typischen zivilisations- und technikfeindlichen Naturbegriffs ideologisiert, der sich zugleich auch jeder Form der Verkünstelung versperrte. Nicht mehr nur Instrument, sondern Agens sollte der Körper nun sein, in dessen ‚Innerem‘ Wahrheit und Echtheit vermutet wurden. Die Sprache des Körpers und seine Kodierungen wurden als offen und variabel, als subjektiv und authentisch und deshalb auch als mehrdeutig begriffen. Mit dem neuen Diskurs um den Körper wurde auch das Tänzersubjekt nicht mehr nur als eine Kunstfigur inszeniert, sondern zugleich als Kunstfigur und Persönlichkeit in Szene gesetzt. Im Ausdruckstanz erschien der Körper als Vermittler zwischen subjektiver Erfahrungswelt und objektivierter Außenwelt. Den Körper als Medium einzusetzen bedeutete hier, ihn als Sprachorgan innerer subjektiver Welten in Szene zu setzen. Nicht zufällig avancierte deshalb der Solotanz zu der zentralen Darstellungsform des modernen Tanzes, ist doch mit ihm die Thematisierung und Inszenierung des Subjektiven am eindeutigsten möglich. Und nicht zufällig waren es – beispielsweise mit Isadora Duncan und Mary Wigman – Frauen, die das Solo am Ausgangspunkt des modernen Tanzes etablierten, war es doch im Solo am leichtesten möglich, sich aus dem bürgerlichen Diskurs um Weiblichkeit zu lösen und sich selbst – oder besser: das Selbst – zu tanzen und sich als Subjekt in Szene zu setzen. Den Körper als einen Ort der Utopie zu denken, bedeutete auch, den Tanz als ein Medium zu nutzen, das die Ideologie dieses wahren, durch Technik und Zivilisation, durch Normen und Konventionen gefährdeten authentischen Ich transportiert und es in Einklang mit dem kosmischen Ganzen zur Entfaltung bringen kann. Und genau in der Frage der Konstitution des Subjekts war der moderne Tanz, wie so manche Bewegungen in der ästhetischen Moderne, äußerst widersprüchlich, trug doch eben jene Art der Modernisierung des Tanzkörpers und des Tänzersubjekts antimoderne Züge, indem es den Körper als natürlich-authentisch und das Tänzer-Subjekt in Beziehung zu irrationalen Welten des kosmischen Ganzen dachte. Die Neu-Symbolisierung des Tanzkörpers provozierte einen Wandel der Tanzsprache. Die Pioniere des Ausdruckstanzes entwickelten Tanztechniken, die grundsätzlich andere Zentren, Schwerpunkte und Achsen im Körper definierten als sie das klassische Ballett kannte. Beispielsweise Isadora Duncan verlagerte den Körperschwerpunkt in den Solarplexus und Doris Humphrey entwickelte Techniken wie Fall und Recovery, die ein Spiel mit Energie und Schwerkraft des Körpers erlaubten. Zudem provozierte die Neudeutung des Tanzkörpers auch eine Verlagerung der kommunikativen Funktionen des Mediums Tanz. Auf Kosten der referenziellen Funktion des Tanzes, die in der Darstellung von Figuren, Handlungen, Beziehungen und Situationen besteht und die im klassischen Tanz dominierend war, rückt mit dem modernen Tanz die performative Funktion des Tanzes zunehmend in den Vordergrund. Während, so Erika Fischer-Lichte (vgl. Fischer-Lichte 1998), im Theater der westlichen Kultur bis weit in die 50er Jahre

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hinein die referenzielle Funktion vor der performativen Funktion dominierte, verlagerten sich also in der Tanzmoderne die Schwerpunkte bereits zu Beginn des Jahrhunderts. Ermöglicht wurde dies zum einen durch die neue Technik und Darstellungsform der Improvisation, die den augenblicklichen und spontanen Vollzug von körperlichen Aktionen und symbolischen Handlungen in den Mittelpunkt stellte. Zum anderen geschah dies durch die prinzipielle Möglichkeit einer Neu- und Mehrfachkodierung des Körpers. Beides, Improvisation und die potenzielle Offenheit der körperlichen Kodierungen provozierten zudem einen Paradigmenwechsel im Tanz. Mit dem modernen Tanz ging eine Entdeckung des Zuschauers einher, die sich parallel auch im Theater vollzog. Das Theater, so betonte Georg Fuchs bereits 1909, sei ein „dramatisches Erlebnis“, denn es sei „doch tatsächlich der Zuschauer ..., in dem sich das dramatische Kunstwerk erst erzeugt, indem es erlebt wird – und in jedem einzelnen Zuschauer anders erlebt wird. Das dramatische Kunstwerk entstehe weder auf der Bühne noch gar im Buche, sondern es entsteht in jedem Augenblick neu, in welchem es als räumlich-zeitlich bedingte Bewegungsform erlebt wird“ (Fuchs 1909, S. 95). Lange vor der Performancekunst der 1960er Jahre schuf der moderne Tanz eine neue Kommunikationsform. Er verlagerte die Bedeutungszuweisung auf die Zuschauer, weil der Tanz als eine Zeitkunst, als eine ‚Augenblicks-Kunst‘ nur in dem Moment existiert, in dem er vorgeführt wird. Diese Augenblicklichkeit gilt vor allem für jene Choreographien, für die keine Libretti oder Notationsschriften vorliegen und die, wie der moderne Tanz, nur mit großer Mühe rekonstruiert werden können. Indem der Tanz als Vermittler individueller und subjektiver Botschaften verstanden wurde, veränderte sich das Verhältnis zwischen Darsteller und Zuschauer. Das Körper-Konzept des modernen Tanzes provozierte ein Zuschauerverhalten, das darin besteht, Bedeutung in den neuen individuellen Sprechweisen des Tanzes zu erkennen und damit intersubjektiv verstehbar zu machen.

Tanz als Gesellschaftskritik: das Tanztheater Die Verlagerung von einer internen Kommunikation auf der Bühne zu einer externen Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauern forcierte die Tanzavantgarde der 1970er Jahre. Damit einher ging auch eine Veränderung der Darstellungsfunktion des Körpers, die wiederum im Kontext des gesellschaftlichen und ästhetischen Diskurses der Moderne stand. Bereits in den 1960er Jahren zeichnete sich eine erneute Krise in der sozialen und ästhetischen Moderne ab. Während der kultur- und sozialkritische Diskurs die Folgewirkungen von Rationalisierung und Technisierung, von Spätkapitalismus und Vereinsamung auf die alltäglichen Lebens- und Erfahrungswelten zum Thema machte, begann der philosophische Diskurs das Projekt der Moderne selbst in Frage zu stellen, indem er dessen Geltungsansprüche wie Wahrheit, Allgemeingültigkeit und vernunftgeleitete

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Aufklärung kritisch durchleuchtete, was bekanntlich in den 1980er Jahren in der Debatte um die Postmoderne mündete. Die Tanzmoderne reflektierte die Folgewirkungen und Grundlagen der Spät-Moderne auf der Ebene des Körpers und dies wiederum in zweierlei Weisen: Während sich der sog. „postmodern dance“, der in den 1960er Jahren mit der Judson-Church-Bewegung um Lucinda Childs und Steve Paxton in New York City ausgelöst wurde, eher an den philosophisch inspirierten Diskurs anlehnte und den Tanz-Körper der Moderne zu entsymbolisieren trachtete, wies das vor allem im deutschsprachigen Raum sich etablierende Tanztheater dem Tanz-Körper eine neue Bedeutung zu, indem es seine alltäglichen Deformierungen präsentierte und ihn als Angriffsfläche gesellschaftlicher Macht vorführte. Im Unterschied zum frühen modernen Tanz ging und geht es im Tanztheater nicht um eine Kommunikation zwischen innerer und äußerer Natur, zwischen Chaotisch-Unbewusstem und kosmischem Ganzen, sondern um das Verhältnis von Individuen und gesellschaftlicher Macht. Der Körper ist dementsprechend nicht mehr Medium der Darstellung innerer Erfahrung und Ort der Utopie, sondern wird selbst als Ziel der Macht vorgeführt und als Angriffsfläche sozialer Gewalt in Szene gesetzt. Das KörperKonzept, das der spezifischen Ästhetik des Tanztheaters zugrunde liegt, stellt diesen somit durchweg als etwas gesellschaftlich Geformtes und Sozialisiertes vor. Mit dieser Zurschaustellung von alltäglichen Körperwelten veränderte das Tanztheater fundamental die Wahrnehmungen von Tanzkunst und Tänzer-Subjekt. Mit der Zusammenfügung von Tanzkunst und Alltagsbewegungen rückte der Tänzer als Kunstfigur in den Hintergrund zu Gunsten der Subjektivität des Tänzers, die nicht nur konstitutiv wurde für die Dramaturgie und Choreografie3, sondern auch zum Thema des Stückes selbst avancierte. Und gerade indem die Subjektivität der Tänzer in den Mittelpunkt rückte, verlor sich die Inszenierung sozialer Macht nicht in einem eindimensionalen Opfer-Diskurs, sondern ihr war auch immer ein Moment von Subversion und Widerständigkeit beigegeben. Pina Bausch lässt sich hier sicherlich als eins der herausragendsten Beispiele für die Inszenierung einer Dialektik von Körperdisziplinierung und Körperlust anführen. Indem das Tanztheater die Krise des Subjekts in der Spätmoderne, die sich in Individualisierung und sozialer Isolierung zeigt, am Körper in Szene setzte und mit dem alltäglichen Körper, seinen Gesten, Mimiken und Bewegungen zu spielen begann, wurde es wegweisend für einen Richtungswechsel im Theater hin zu dessen performativer Funktion. Bereits in den 1960er Jahren hatte Peter Zadek die Entkörperlichung und Entsinnlichung des Theaters angeprangert, indem er „die große Masse der deutschen Schauspieler für Oratoren hielt, die sich durch ihren Körper gestört fühlten. Sie stehen am liebsten hölzern auf einer sonst leeren Bühne und deklamieren. Die Seele ist für sie das Wesentliche nicht der Körper“ (Canaris 1979, S. 31). Aber es sollte neben der Performance-Kunst vor allem das Tanztheater sein, das dem Schauspiel neue Impulse gab, die bis heute, zum Beispiel im Theater Christoph Marthalers, wirksam sind. 3

So ist gerade bei jenen Tanzensembles, in denen Choreograph und Tänzer gemeinsam das Stück entwickelt haben, die Frage der Autorschaft äußerst umstritten.

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Tanz-Moderne als reflexive Moderne Wird im Tanztheater der Körper als gesellschaftlich ge- bzw. verformt vorgestellt, so beruht der etwa gleichzeitig sich etablierende amerikanische „postmodern dance“ auf einem vollständig anderen Körper-Konzept und schreibt damit dem Medium Tanz eine andere Bedeutung zu: Der Körper gilt nicht mehr primär als Ausdrucksmedium von Subjektivität, einer inneren Natur oder als Objekt der Macht. Vielmehr wird hier der physische Körper mit seinen Bewegungsmöglichkeiten und -grenzen selbst zum Thema. Auf diese Weise vollzieht der nachmoderne Tanz eine Trennung zwischen Subjekt und Körper, zwischen Kunstfigur und Subjektivität, deren Zusammenführung noch das Thema des modernen Tanzes gewesen war. Mit dieser Transformation von einem Körperkonzept, das den Körper als Medium von ‚Inhalten‘ versteht, zu einem Körperkonzept, das die körperliche Physis selbst ins Zentrum rückt, weicht die bedeutungsreiche Symbolsprache des Tanzes einer abstrakten Zeichensprache. Mit ihr verändert sich die Kommunikationsfunktion des Tanzes und auch die Wahrnehmung des Tänzers. Die Aufgabe der Zuschauer konnte fortan nicht mehr darin bestehen, nach einer intendierten Bedeutung zu suchen und die in dem Tanz-Stück formulierten Botschaften zu entschlüsseln. Vielmehr verlangt das Körper-Konzept des nachmodernen Tanzes ein Zuschauerverhalten, das die im Augenblick ablaufenden Aktionen als Material zu betrachten und die Art ihres Vollzugs zu beobachten vermag. Bedeutungszuweisung richtet sich hier nicht so sehr auf die Entschlüsselung der vermeintlichen Intentionen des Tanzproduzenten, sondern auf die Relevanz, die dem Tanz im Kontext der eigenen Lebens-, Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt zukommt. Diese Transformation der traditionell am Sender-Empfängermodell orientierten Hierarchie des Encoding/Decoding zu Gunsten des letzteren bewirkte eine Verlagerung der medialen Funktion des Tanzes von der Bedeutungsvermittlung zur -herstellung in der Rezeption, ein Vorgang, der etwa zeitgleich beispielsweise in den Theorien von Roland Barthes und den „British Cultural Studies“ reflektiert wurde.

Der Körper als Physis – Tanz als Energie In den 1970er Jahren beginnt der sog. „postmoderne Tanz“ mit Hilfe neuer Körpertechniken, wie z. B. der „contact improvisation“, die Körperkommunikation durch ein Spiel mit der Schwerkraft der Körper herstellt, die physischen Möglichkeiten des Körpers zu erkunden. Historischer Ausgangspunkt dieser Suche war Merce Cunninghams Bemühen um die Transzendenz von Subjektivität im Tanz und die daraus resultierende Suche nach der ‚reinen Bewegung‘. Fortgeführt wurde dieser Ansatz von Bewegungsforschern wie beispielsweise Steve Paxton, (Mit)Begründer der „contact improvisation“, der sich der Aufgabe widmete, dem Körper selbst einen Subjektcharakter zuzuweisen und ihn sprechen zu lassen.

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Mit den Bewegungsmöglichkeiten des Körpers hat sich auch William Forsythe befasst. Ausgehend von der Tradition des klassischen Tanzes entwickelte er eine Tanztechnik, die auf der Grundlage der Raumharmonielehre von Rudolf von Laban eine Dezentralisierung der Achsen vorsieht und damit das auf ein Zentrum ausgerichtete Körperkonzept des modernen Tanzes fragmentiert. Damit führte Forsythe ein dekonstruktivistisches Körperkonzept in die Tanzkunst ein, dass im pop(ulären) Tanz bereits Anfang der 1980er Jahre durch die HipHop-Kultur im Breakdance auf der Straße praktiziert wurde (vgl. Klein/Friedrich 2003). Dass Körpererkundung auch Körperverausgabung bedeuten kann, zeigte in den 1980er Jahren als erstes die kanadische Gruppe „Lalala Human Steps“, die bis zum Umfallen und bis zu dem Abbrechen der Choreographie die Leistungsmöglichkeiten und -grenzen der körperlichen Physis in Szene setzte. „LaLaLa Human Steps“ wurden Vorbild für viele akrobatische Experimente, die von den Tänzern Kraftanstrengungen abforderten, die Sportlern und Ravern (vgl. Klein 2004) vergleichbar sind, die sich in den neuen Extremsportarten tummeln oder an tagelangen Raves teilnehmen und hier der Lust an einer physischen Grenzerfahrung frönen. Die Revolution der Geschwindigkeit, von Paul Virilio als herausragendes Merkmal der Moderne gekennzeichnet, hat den in seinen sinnlichen Fähigkeiten überreizten Menschen produziert – der auf physische Verausgabung angelegte Tanz ist hier kein Gegenpol, sondern eher Vorreiter. Auch an diesem Beispiel lassen sich die engen Verbindungen und historischen Parallelen von Tanzkunst und Modetänzen wie in diesem Fall Techno-Tanz diskutieren, die die gesamte Geschichte der Tanzmoderne begleiten und sich in den Körper-Konzepten der jeweiligen Tänze und in der Thematisierung von Individualität und Subjektivität im Tanz niederschlagen.

Der Körper als Zeichen – Tanz als Performance Mit der Erkundung der Körperphysis ist nicht nur die Entsubjektivierung des Tänzers, sondern auch die Ent-Symbolisierung des Körpers verbunden. In dem Stück von Jérôme Bel mit dem Titel Jérôme Bel aus dem Jahre 1995 zieht eine unbekleidete Tänzerin an verschiedenen Stellen sich förmlich ihre Haut vom Leib und verformt auf diese Weise ihre Körperoberfläche. Ein ebenfalls unbekleideter Tänzer zeigt seine Leberflecken vor und stellt mit einem Stift Verbindungslinien zwischen ihnen her. Der Körper wird zum Bild, zu einer Art Zeichenfläche. Erst in dem Moment, wo der Körper beschriftet wird, wie beispielsweise wenn die Tänzerin mit einem roten Lippenstift ‚Christian Dior‘ auf ihr Bein schreibt oder wenn in dem Stück Körper (2000) von Sasha Waltz zwei Tänzerinnen sich gegenseitig Zahlen auf den nackten Ober-Körper kleben und damit den Waren-Wert des weiblichen Körpers oder einzelner Körperteile in Szene setzen, wird der Körper kulturell kodiert – und das heißt in diesem Kontext auch gleichzeitig vergeschlechtlicht. Das hier stattfindende Spiel mit den (geschlechter)symbolischen Besetzungen des Körpers zeichnet den Prozess der kulturellen Kodierung nach. Gerade Sasha Waltz’

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Stück Körper treibt dieses Spiel auf postmoderne Art: indem es beliebig die kulturellen Kodierungen zitiert, die der Körper im Laufe der Tanzmoderne erhielt. Symbolbildungen des Körpers zu reflektieren und die Möglichkeit von Mehrfachkodierungen aufzuzeigen, radikalisiert zugleich das Verhältnis von Bühne und Zuschauer, die nunmehr aufgefordert sind, nach eigenen Bedeutungskontexten zu suchen und ihre gewohnten Bedeutungszuweisungen in Frage zu stellen.

Informatisierung und Entmaterialisierung des Körpers – Tanz intermedial Es ist eine junge Entwicklung in der Geschichte des Tanzes, dass die Erkundung der Körperphysis im nachmodernen Tanz auch unabhängig von den humanen Körpern erfolgt – wie dies zum Beispiel bei dem Programm ‚Life Forms‘, das Merce Cunningham benutzt, der Fall ist. Hier findet ein Spiel mit den in der Tanzmoderne bislang so klar gezogenen Grenzen zwischen digitalisierten und humanen Körpern, gedacht als Synonyme von virtuellen und natürlichen Körpern, statt. Der computeranimierte Tanz provoziert eine Entmaterialisierung des Körpers, indem einerseits virtuelle Körper zu Vorbildern tänzerischer Bewegungsabläufe humaner Körper werden. Auf der anderen Seite wird der Körper des Tänzers auf seinen Informationsgehalt reduziert, wie dies beispielsweise bei der digitalen Technik des ‚motion capturing‘ der Fall ist. Das im digitalisierten Tanz stattfindende ästhetische Spiel mit den Grenzen von humanen und virtuellen Körpern thematisiert die eher medieneuphorische These, der zufolge der humane Körper durch Medientechnologien nicht zum Verschwinden gebracht werde, sondern ganz im Gegenteil, eher eine Extension durch computeranimierte Maschinen und in virtuelle Räume erfahre. Der Computer wird zur Körperprothese und der Tanz zu einem Medium, das auf Grund seiner Körperbezogenheit die auch in Bio- und Gentechnologie zur Diskussion stehenden Schnittstellen von Humanem und Virtuellem sehr gut in Szene setzen kann. Die Entsubjektivierung des Tänzers im nachmodernen Tanz, so ließe sich dieses Zusammenwirken von Tanz und Medien kulturkritisch deuten, bildete dafür die Voraussetzung. Bei dieser Art der digitalen Erforschung des Körpers stellen Technik und tänzerische Ästhetik keinen Gegensatz mehr dar. Ganz im Gegenteil: Erst ein von subjektiver Erfahrung abstrahierendes Körper-Konzept führt zu einem Zusammenspiel von digitaler Technologie und tänzerischer Ästhetik. Mit dem Transfer des Tanzes in ein anderes digitales Medium hat sich die Beziehung zwischen Körper und Tanz und die kommunikative Funktion des Tanzes selbst fundamental gewandelt: Indem der Tanz nicht mehr auf den Körper als ‚natürliches‘ Darstellungsmedium verwiesen ist, treten technische Dimensionen in den Vordergrund und mit ihnen wird zugleich der Blick von der Subjektivität des Tänzers auf das choreographische Konzept gelenkt.

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Tanztheorie und Medienphilosophie: Ein Ausblick Das Medium Tanz ist das ‚historische Apriori‘ von Tanzformen und Tanzstilen. Vermittelt werden diese über den Körper, dessen Konzepte – wie gezeigt wurde – allein in der Geschichte des Tanzes der Moderne einigen historischen Wandlungen unterlagen. Die Körper-Konzepte des nachmodernen Tanzes beruhen nicht auf den an die cartesianische Denktradition erinnernden Begriffspaaren Sein und Schein, Wirklichkeit und Fiktion, Authentizität und Künstlichkeit, wie sie noch der Diskurs kennzeichnete, in dem der moderne Tanz stand. Auch sind sie nicht von dessen Natürlichkeits- und Ganzheitsdiskurs geprägt, der von der Frage geleitet war, was der menschliche Körper sei und der sich in der Suche nach dem Gattungskörper niederschlug. Vielmehr korrespondiert die ästhetische Praxis des nachmodernen Tanzes mit einem Wissenschaftsdiskurs, der bisherige Gewissheiten über das Humane zu dekonstruieren versucht. Poststrukturalistische Thesen des fragmentierten Subjekts, der ‚zerstückelten‘ Körper, der flexiblen Identitäten fragen nach der diskursiven Herstellung des Humanen im Kontext einer globalisierten und medialisierten Moderne und thematisieren dessen Übergang in der Informationsgesellschaft in den Zustand der Transhumanität. Analog reflektiert der nachmoderne Tanz die Grundlagen der Tanzmoderne, indem er die Frage nach der Subjektivität und Individualität der Tänzer stellt und die Rolle des Körpers als Darstellungs- und Ausdrucksmedium von Subjektivität radikal in Frage stellt. Modernitätstheoretisch gewendet ließe sich die These vertreten, dass die Entsymbolisierung des Körpers und die Entsubjektivierung des Tänzers die Voraussetzung für den Tanz als Medium von Transhumanität bildeten. Allerdings wäre es falsch, diese Entwicklungen als einen epochalen Einschnitt in die Tanzmoderne zu begreifen und den nachmodernen Tanz als die neue, die Prinzipien der Tanzmoderne überwindende Avantgarde auszuweisen. Vielmehr scheint die Avantgarde des Tanzes, wenn dieser Begriff überhaupt noch Sinn macht, derzeit denjenigen Tanz zu repräsentieren, der einen Weg beschreibt, der für die „reflexive Moderne“ (Beck) typisch ist: nämlich die Grundlagen der Moderne zu befragen und neu zu gestalten. Das schlägt sich im ‚Konzepttanz‘ nieder, der durch Choreographen wie etwa Jérôme Bel oder Xavier Le Roy vorgestellt wurde, und sich auf der Ebene des Körperdiskurses nachzeichnen lässt. Relevant ist dieser Körperdiskurs für eine Medientheorie des Tanzes deshalb, weil er zeigt, dass Körper-Konzepte im Tanz nicht Ordnungsmuster sind, die im Nachhinein von der Tanzforschung entwickelt und auf die Tanzentwicklung angelegt werden, sondern als ein genuiner Bestandteil der jeweiligen Tanzpraxis und -ästhetik verstanden werden müssen. Die heute anzutreffende gleichzeitige Existenz verschiedener Körper-Konzepte und unterschiedlicher Tanzformen verweist schließlich auf die Frage, von welchem Körper die Rede ist: Nicht mehr nur der humane Körper der Moderne, sondern auch der virtuelle und der imaginäre, nicht mehr nur der symbolische, sondern auch der informatisierte Körper sind Darstellungsmedien des Tanzes.

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Unabhängig aber von den verschiedenen Körperkonzepten ist die körperliche Präsenz des Tänzers das Charakteristikum des Tanzes als einer Zeit- und Raumkunst geblieben. Der Informatisierung und Entmaterialisierung des Körpers im Videotanz und virtualisierten Tanz steht also die Präsenz des Körpers gegenüber, die nur im Augenblick und über den Tänzer subjektiv herzustellen ist. Diese Polarität weist den Tanz als ein Medium aus, das als performative Körperkunst traditionell und innovativ, konservierend und transformierend wirken kann. Genau diese Ambivalenz der beiden Formen von Kritik an der Moderne macht das Medium Tanz auch zu einem aufregenden und für medien-, kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Debatten anregenden Forschungsgegenstand. Das Projekt ‚Medienphilosophie‘ könnte hierbei eine wichtige Rolle als interdisziplinäres Diskursfeld einnehmen und innovativ wirken: Denn das Beispiel Tanz verdeutlicht zum Ersten die Notwendigkeit einer Einschreibung des Körpers in die Philosophie und Medienwissenschaft. Damit wäre das angezeigt, was Filk, Grampp und Kirchmann als eine Erweiterung der Philosophie von einer „rein ‚theoretizistischen‘ Fokussierung auf gleichsam ‚körperlose‘ Rationalitätsprozesse“ (Filk et al. 2004) bezeichnen. Der Medienwissenschaft wiederum würde eine Medienphilosophie den Blick auf das Medium Tanz erweitern helfen, indem sie den Tanz nicht unter dem Aspekt seiner technischen Materialität betrachtet, sondern ihn als ein an Körperkommunikation ausgerichtetes Mittel von individuellen und kollektiven Handlungs-, Wahrnehmungs- und Erkenntnisformen zu begreifen versucht. Für eine Theorie des Tanzes ist zum Zweiten das Verständnis der Medialität des Körpers und seiner materiell-technischen Bedingungen und historischen Erscheinungsformen von besonderer Wichtigkeit. Eine medienphilosophische Perspektive könnte anschaulich machen, dass auch im Tanz Geistigkeit, Körperlichkeit und Medialität sich nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig bedingen und wechselseitig hervorbringen.

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Dieter Teichert

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Was man von einem Unternehmen, das als ‚Medienphilosophie‘ auftritt, erwarten kann, ist ziemlich unklar. Die bereits mit dem ersten Element des Kompositums ‚Medienphilosophie‘ verbundene Vieldeutigkeit und Vagheit wird durch die Verbindung mit dem Terminus ‚Philosophie‘ vermutlich eher gesteigert als vermindert. Eine allgemeine Medienphilosophie oder eine auf einen bestimmten Phänomenbereich spezialisierte Medienphilosophie, z. B. des Theaters, könnte als systematische Theorie konzipiert sein, die vergleichsweise starke Anforderungen hinsichtlich der theoretischen Standards erhebt, sie mag aber auch als ‚lockere‘ Reflexion über ‚interessante‘ Phänomene vorgetragen werden und einen essayistischen Stil kultivieren. Die folgenden Überlegungen schlagen den Mittelweg zwischen diesen Extremen ein. Sie sind als Beiträge zu einer Medienphilosophie des Theaters konzipiert, die keine philosophische Kolonialherrschaft über die empirische Medienwissenschaft propagiert und nicht vorhat, die definitive philosophische Fundamentaltheorie zu formulieren. Sie werden aber auch nicht einem unverbindlichen Feuilletonismus huldigen, dessen höchster Wert der Geistesblitz ist. Einer der Gründe für die Distanz zum Versuch einer starken, systematischen Grundlagentheorie ist die Überzeugung, dass der Medienbegriff nicht abschließend und klar definierbar ist, sondern als ein Oberbegriff für eine Vielzahl von Konzepten fungiert, die nicht durch den Bezug auf ein gemeinsames Merkmal vereinigt, sondern im wittgensteinschen Sinn durch Familienähnlichkeit verbunden sind (vgl. Sandbothe 2003). Im Folgenden bemühe ich mich darum zu zeigen, dass eine solche Konzeption keinen Verzicht auf begriffliche Klarheit und Deutlichkeit beinhaltet. Eine Medienphilosophie des Theaters, die mir sinnvoll erscheint, verwendet die philosophischen Instrumente der Begriffsanalyse und Begriffsgeschichte, der Untersuchung diachroner Veränderungen von Mediensystemen. Im Zuge eines solchen Vorgehens können grundlegende Bedingungen benannt und die Vielfalt der Zugangsweisen zum Medium Theater verdeutlicht werden. Der philosophische Blick auf das Theater erfasst dabei nicht nur Phänomene, die auch in den Untersuchungen der Theater- und Medienwissenschaftler behandelt werden, er wird das Medium im übergreifenden Rahmen einer Sozial- und Kulturphilosophie situieren und seine Funktion im Gefüge aller innerhalb einer Kultur gebrauchten Medien reflektieren. In diesem Zusammenhang ist eine Dimension der philosophischen Beschäftigung von besonderer Bedeutung: diejenige der Kritik und normativen Beurtei1

C. Dutt, F. Mongin und M. Sandbothe danke ich für konstruktive Kritik und Anregungen.

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lung der Medienpraxis. Diese normativ-kritische Dimension einer Philosophie der Medien stellt sich mit besonderer Brisanz nicht so sehr hinsichtlich des ‚alten‘ Mediums Theater dar, sondern angesichts der so genannten Neuen Medien, deren Funktionen in der Gegenwartskultur mit starken kommerziellen Interessen und außerordentlich tief greifenden sozialen/politischen Konsequenzen verknüpft sind (vgl. dazu Sandbothe 2001, 2003). Die folgenden Ausführungen klammern diese Problematik aus und konzentrieren sich auf die Darstellung von grundlegenden Fragestellungen und die Erläuterung unverzichtbarer Begriffe, um zentrale Punkte einer Medienphilosophie des Theaters vorzustellen.

1. ‚Medium‘ und ‚Theater‘ Vom Theater als Medium zu sprechen ist unüblich. Meist wird der Terminus ‚Medium‘ in seiner Pluralform als lose Sammelbezeichnung für elektronische Kommunikationseinrichtungen (Fernsehen, Mobiltelefon, PC/Internet, Telefax etc.) gebraucht. Diese ‚Neuen Medien‘ werden den älteren Medien (Codex, Printmedien: Zeitung, Buch u. a.) gegenübergestellt. In beiden Fällen handelt es sich um Artefakte, welche die Versendung, Verbreitung, Vervielfältigung von Information und/oder die interaktive interpersonelle Kommunikation ermöglichen. Der Ausdruck ‚Medium‘ kommt aus dem Lateinischen, wo das Substantiv ‚Medium‘ die Bedeutungen ‚die Mitte‘, ‚der Mittelpunkt‘ oder ‚das Mittel‘ aufweisen kann. Während die Singularform im heutigen deutschen Sprachgebrauch meist mit der Bedeutung ‚vermittelndes Element‘ verwendet wird, ist die häufigere Pluralbildung ‚die Medien‘ als Sammelbegriff für Kommunikationstechniken und die in diesem Rahmen genutzten Artefakte gängig. Die Abgrenzung des Medienbegriffs von den Begriffen ‚Zeichen‘, ‚Code‘ und ‚Kanal‘ ist dabei häufig unklar (Schulte-Sasse 2002). Insoweit als kommunizierende Personen fähig sind, konventionelle Bedeutungsvereinbarungen zu treffen, kann Beliebiges als Zeichen fungieren. Diese Universalität der Kompetenz zum Zeichengebrauch und zur Verständigung ist grundlegend für Kommunikations- und Zeichentheorien. Die These, dass die Sprache – verstanden als das Repertoire der Zeichen einer ‚natürlichen‘ Sprache – das Primärmedium der Kommunikation ist, erscheint insoweit plausibel als die Vereinbarung einer willkürlichen Zeichenbedeutung auch im Fall nicht-linguistischer Zeichen meist mit Hilfe der Wortsprache geschieht. Es gibt kein äußerliches und allgemein gültiges Merkmal, durch das sich Gegenstände und Zeichen unterscheiden. Vielmehr können Gegenstände prinzipiell als bedeutungsvoll aufgefasst werden, ohne damit als kommunikative Zeichen spezifiziert zu sein (Signifikation versus Kommunikation). Wenn man sagt, Medien sind die Mittel der Kommunikation, so bezieht man sich also nicht auf einen bestimmten Gegenstandsbereich, sondern auf die Fähigkeiten und Akte kommunizierender Wesen. Diese elementare Feststellung führt zu der – oft ignorierten – Einsicht, dass Klassifikationen und Beschreibungen von Zeichenrepertoires immer in Relation auf eine Gruppe von Zei-

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chengebrauchern gültig sind. Entscheidend sind die Funktionen und Regeln, die den Umgang mit den als Zeichen fungierenden Gegenständen bestimmen. Die Medienbegriffe umspannen ein außerordentlich weites Spektrum (vgl. Posner 1986). Dieses reicht von (1) den ‚klassischen‘ Sinnen, den entsprechenden Organen (Auge, Ohr, Nase, Geschmack, Haut) und den ihnen zuzuordnenden (zeichenförmigen) Wahrnehmungsobjekten über (2) die physikalisch beschreibbaren Verbindungswege zwischen Zeichenproduzenten und Rezipienten (Übertragung optischer Wellen durch elektromagnetische Felder, Übertragung akustischer Wellen durch leitfähige Körper etc.) und über (3) die technischen Instrumente und Apparate, mittels derer die Kontaktmaterie zur Zeichenproduktion präpariert oder verändert wird (Inskriptionen mit Tinte und Feder auf Pergament/Papier, Filmkamera, Projektor und Projektionsleinwand etc.) zu (4) den Institutionen, welche die unterschiedlichen Mittel zum Ziel der Erzeugung von Zeichenprozessen regeln (Galerien, Museen, Bibliotheken, Theater, Schulen). Schließlich beinhaltet dieses Spektrum auch (5) die Konzeption des Mediums als Bestandteil eines durch den Zweck der zu übermittelnden Botschaft fixierbaren Zeichensystems (z. B. Unterscheidungen von Textsorten: Nachricht, Kommentar, Erzählung etc.) sowie (6) die Codierung der Botschaft im Sinn der für die Produktion (Encodierung) und Rezeption (Decodierung) vorgesehenen Regeln. Der eine Pol dieses Spektrums wird gebildet durch (i) die Körperorgane, die Sinnesreize aufnehmen, (ii) die Instrumente, welche die Wahrnehmungsaktivitäten verändern oder ausweiten (Mikroskop, Teleskop, Brille, Opernglas, Hörrohr, Hörgerät, Megaphon, Lautsprecher, Verstärker etc.), oder (iii) die Artefakte, die leibliche Sinnesorgane ersetzen. Den entgegengesetzten Pol bilden technische und/oder institutionsförmige Übertragungs- und Speicherformen von Informationen und Mitteilungen (Archivalien, Dokumente, Datenträger, technische Apparaturen etc.). Für eine Klärung des Zusammenhangs der Begriffe des Mediums, des Zeichens, des Kanals und des Codes ist die Konzeption hilfreich, die Roman Jakobson 1960 formulierte: das Zusammenwirken von sechs Elementen (Sender, Botschaft, Empfänger, Kontext/Referent, Kontakt/Kanal, Code) ist so gestaltet, dass ein Sender eine Botschaft über einen Gegenstand (Referent) mittels eines Codes formuliert. Die codierte Botschaft wird über den Kanal an den Empfänger geschickt. Der Empfänger bezieht die Botschaft auf den Referenten, insofern er denselben Code beherrscht wie der Sender. Hinsichtlich der Differenzierung von ‚Kanal‘, ‚Zeichen‘ und ‚Code‘ ist zu beachten, dass in einem Kanal – beispielsweise dem akustischen Kanal – Zeichen unterschiedlicher Art ‚gesendet‘ werden können, sowohl phonetische linguistische Zeichen als auch paralinguistische (Zischen, Brummen, Ächzen etc.) und musikalische Zeichen. Ein Code ist im Wesentlichen als ein System von Substitutionsregeln aufzufassen, das es erlaubt, ein Signifikat durch unterschiedliche, in einer geregelten Beziehung stehende Signifikanten zu bezeichnen und die Signifikanten dementsprechend auszutauschen. Entscheidend ist dabei die (idealisierende) Forderung, dass die Bedeutung oder der Kommunikationsinhalt bei der Verwendung unterschiedlicher Codes unverändert bleibt. Um den Zusammenhang der Begriffe ‚Medium‘ und ‚Theater‘ zu klären, ist es sinnvoll, diejenigen Theorien heranzuziehen, die das Theater als eine Kommunikationsform

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beschreiben, welche sich unter spezifischen Bedingungen unterschiedlicher Zeichenrepertoires bedient.

2. Theater als Zeichensystem Theater entsteht, wenn mindestens zwei Personen zusammenkommen und die unterschiedenen Funktionen des Darstellers/Schauspielers und des Zuschauers übernehmen. Die Funktion des Schauspielers A ist dadurch definiert, dass er in seinem Agieren eine andere Person P („Hamlet“, „Antigone“) oder einen Gegenstand G („den Wind“, „das galoppierende Pferd“, „die Liebe“, „den Tod“) darstellt, während ihm mindestens ein Zuschauer Z zusieht.2 Theorien des Theaters entfalten den Zusammenhang von (1) Darsteller, (2) Art und Gehalt der Aktionen des Darstellers und (3) Zuschauer mit unterschiedlichen Mitteln und divergierenden Zielsetzungen. Die Theatersemiotik widmet sich der Erfassung der Zeichen, Repräsentationsmittel und -modi, die das Theater konstituieren. Dabei ist wesentlich, dass die Darstellungsfunktion des Theaters durch die Bezugnahme auf die Zeichen unterschiedlicher kultureller Teilsysteme erfüllt wird. Die Zeichen des Theaters sind (zu einem erheblichen Teil) Zeichen für Zeichen: Wenn der Schauspieler A die Rolle des Vaters spielt, der seine Tochter umarmt, dann umarmt der Schauspieler A nicht einfach die Schauspielerin B. A verwendet kinesische und linguistische Zeichen, die auf andere Zeichen verweisen mittels derer in nicht-theatralen Kontexten Begrüßungen zwischen Vater und Tochter vollzogen werden können. Aus sprechakttheoretischer Perspektive wird die Situation des Theaters durch Hinweis auf Modifikationen der illokutionären Rolle von Äußerungen bestimmt.3 Der Ausdruck ‚kinesische Zeichen‘ bezieht sich auf Zeichen, die durch Bewegungen (gr.: kinesis) des Gesichts (mimische Zeichen), des Körpers – insbesondere der Hände – ohne Positionswechsel (gestische Zeichen) oder der Position des Körpers im Raum (proxemische Zeichen) produziert werden. Insoweit diese Charakterisierung zutrifft, ist das Theater ein sekundäres Zeichensystem, das die Zeichenrepertoires anderer kultureller Systeme aufgreift. Das Theater reproduziert und gebraucht die Zeichen dieser Systeme nicht einfach. Es zeigt den Gebrauch und führt ihn vor. Der Zuschauer versteht die Darstellungen der Schauspieler, wenn er den Bezug der theatralen Zeichen auf die Zeichen anderer kultureller Teilsysteme nachvollzieht. Das schließt nicht aus, dass das Theater sich auch von einer Repräsentationsfunktion seiner Zeichen lösen oder genuine Zeichen produzieren kann – etwa 2

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Das entspricht annähernd der Definition von E. Fischer-Lichte: „[D]er Schauspieler ist nur insofern Schauspieler und nicht einfach die Person A, B oder C, als er einen anderen als sich selbst, nämlich den X, Y oder Z darstellt, als er eine Rolle spielt. Theater, reduziert auf seine minimalen Voraussetzungen, bedarf also einer Person A, welche X repräsentiert, während S zuschaut.“ (Fischer-Lichte I, 1988, S. 16) Dementsprechend ist die Äußerung „Ich verspreche Dir, ich werde morgen kommen!“ des Schauspielers A zu B auf der Bühne kein Versprechen, das A hier gibt (Searle 1979).

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einen bestimmten Stil des Sprechens (Deklamation), der metrischen Strukturierung oder des Gesangs.4 Die Tradition des westlich-europäischen Theaters ist – von Ausnahmen abgesehen – durch die Repräsentations- und Darstellungsfunktion der theatralen Zeichen dominiert. Gegen die Bestimmung der theatralen Zeichen als Zeichen von Zeichen kann der Einwand erhoben werden, dass auch andere Bereiche wie Lyrik, Malerei oder Musik Zeichen gebrauchen, deren Bedeutung durch den Verweis auf andere Zeichen hervortritt. An diesem Punkt ist eine Differenz des Theaters zu den anderen Künsten zu beachten: Wenn die Musik Zeichen verwendet, die als Zeichen von Zeichen bestimmt werden können, so ist sie dabei auf das Repertoire des musikalischen Codes angewiesen. Ein einfacher Fall ist die Bezugnahme einer Komposition auf ein bestimmtes Musikstück, indem z. B. dessen Melodie gebraucht wird (J. Brahms, Haydn-Variationen; transponierter Bach-Choral in A. Bergs Violinkonzert). Zudem gibt es Fälle der Bezugnahme musikalischer Zeichen auf nicht-musikalische Zeichen, darunter fallen metaphorische Darstellungen: Die Instrumentalmusik stellt eine Klage, einen Affekt (Sehnsucht, Wut) oder ein Gewitter (z. B. Beethovens Pastorale) dar, wobei nicht die Ausdrucksmittel der menschlichen Stimme oder das Geräusch von Donner und Regen realisiert sind, sondern metaphorisch durch die musikalischen Zeichen exemplifiziert werden. Schließlich werden mitunter akustische Zeichen (natürliche oder technisch produzierte Geräusche) verwendet, die nicht unter die spezielle Gruppe musikalischer Töne fallen. In jedem Fall ist die Musik auf akustische Zeichen beschränkt. Anders stellt sich die Lage der Dinge im Fall des Theaters dar: Es ist nicht auf ein bestimmtes Zeichenrepertoire festgelegt und kann auf unbegrenzt viele Zeichenarten zurückgreifen. Die Pan-Semiotik des Theaters zeigt sich darin, dass ein Schauspieler, der den sich auf einen Stuhl setzenden X darstellt, sich zum einen auf einen Stuhl setzen kann,5 zum anderen kann der Schauspieler aber prinzipiell jeden beliebigen geeigneten Gegenstand (z. B. eine Holzkiste) verwenden, um mit ihm den Stuhl zu bezeichnen, auf den sich die von ihm dargestellte Figur setzt. Das ist eine Technik, die das Stegreiftheater oder Brechts mit den Konventionen des Illusionstheaters brechendes Konzept des offenen Theaters betonen. Dabei kann durch den Schauspieler A selbst die Kommunikationsform des Theaters 4

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Dabei ist der Fall, dass das Theater eine ihm exklusiv zugehörige Form der Artikulation, Metrik und des Gesangs verwendet, zu unterscheiden von Fällen, in denen das Theater sich einer Sprechweise, Metrik und Gesangsart bedient, die auch in anderen Zusammenhängen (Lyrik, Oratorium etc.) gebraucht wird. Es klänge etwas merkwürdig, wenn man sagte, der Schauspieler setze sich auf ein theatrales Zeichen. Tatsächlich ist es aber richtig zu sagen, dass der materielle Gegenstand – der Stuhl auf der Bühne – als ein Zeichen fungiert, das dieselben Eigenschaften aufweist wie das Bezeichnete. „... die theatralischen Zeichen [vermögen] grundsätzlich in materieller Hinsicht dieselben Zeichen zu sein wie diejenigen, die sie bedeuten sollen: ein linguistisches Zeichen kann ein linguistisches, ein gestisches ein gestisches, ein Zeichen der äußeren Erscheinung ein Zeichen der äußeren Erscheinung, ein architektonisches Zeichen ein architektonisches, ein musikalisches ein musikalisches Zeichen bedeuten. Jedes beliebige, in einer Kultur als Zeichen fungierende Objekt vermag ohne jegliche materielle Veränderung als theatralisches Zeichen für dasjenige Zeichen, das es darstellt, zu fungieren ...“ (Fischer-Lichte I, 1988, S. 181)

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kommentiert werden, indem er etwa sagt: „Diese Kiste ist der Stuhl auf den sich X setzt, als er müde nach Hause zurückkehrt.“ Die Formen der Distanzierung oder Reflexion auf das theatralisch Dargestellte sind vielfältig und können höchst unterschiedliche Funktionen erfüllen. Aus der Zeit vor der Konjunktur experimenteller Theaterpraxis im 20. Jahrhundert sind bereits Formen der Präsentation des Theaters im Theater bekannt: in Shakespeares Hamlet oder Ludwig Tiecks Gestiefeltem Kater. Die grundsätzliche Trennung der Funktionen von Schauspieler, Rolle und Publikum wird in diesen Fällen nicht aufgebrochen. Das experimentelle Theater radikalisiert diese Strategien und hebt die traditionellen Funktionen von Schauspieler und Zuschauer partiell auf. Im Gegensatz zu den durch Aufzeichnungsapparaturen und Speichertechniken konstituierten elektronischen Medien des Films und Fernsehens ist das Theater ein Medium der ‚Face-to-face-Kommunikation‘. Nicht nur die Schauspieler auf der Bühne kommunizieren direkt miteinander, die Beziehung zwischen Schauspielern und Zuschauern ist ebenfalls als eine der direkten Kommunikation zu betrachten. Beide befinden sich gleichzeitig am gleichen Ort. Diese Kopräsenz ist eine notwendige Bedingung der Situation und Interaktivität des Theaters. Die Tatsache, dass die Kommunikation zwischen Schauspielern und Zuschauer sich meist als Einweg-Kommunikation darstellt, schließt die prinzipielle Möglichkeit einer Interaktion mit den Zuschauern nicht aus. Am Beispiel der Zuschauer des Kindertheaters – das heißt, der nicht mit dem Handlungsmuster ‚einer Theateraufführung zuschauen‘ vertrauten Rezipienten – wird durch Abweichung deutlich, was die Rolle des Zuschauers üblicherweise spezifiziert: Die Kinder im Zuschauerraum warnen die schöne Prinzessin auf der Bühne durch Rufe vor dem hinter dem Sessel versteckten Bösewicht. Sie intervenieren und interagieren mit den durch die Schauspieler dargestellten Figuren des Dramas. Der mit den Konventionen der Bühne vertraute Zuschauer vergisst nicht die Differenz zwischen Schauspieler und dargestellter Person. Er beschränkt seine aktive Interaktion mit den Schauspielern in der Regel auf die Kundgabe von Anerkennung (Applaus) oder Missfallen (Buh-Rufe) am Ende der Aufführung. Dennoch ist das Theater interaktiv, denn prinzipiell besteht jederzeit die Möglichkeit, dass die Zuschauer auf die Schauspieler reagieren.6 Bei Theaterformen wie dem Improvisationstheater oder dem Kabarett stellt die explizite Interaktion mit den Zuschauern bisweilen eine beachtenswerte Komponente dar.

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Auch in anderen Richtungen kann die Kommunikation verlaufen: William Christie unterbrach nach dem 2. Akt einer Aufführung von Rameaus Les Indes galantes den Applaus des Publikums der Züricher Oper und sagte, er wünschte, der Zuschauer, dessen Mobiltelefon während einer piano-Passage penetrant geklingelt hatte, wäre von seinen Sitznachbarn in Stücke gerissen worden (17.5.2003). Das hätte allerdings die Aufführung noch mehr gestört.

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3. Theater als Text Die traditionelle Theoriebildung war nahezu vollständig durch die Begriffe des TEXTS und des KUNSTWERKS dominiert.7 Die Orientierung an diesen beiden Begriffen hat sowohl außerordentlich differenzierte Begriffsbildungen ermöglicht, die immer wieder unmittelbar mit der Produktion von Dramentexten verbunden waren, als auch verhindert, dass die nicht-literarischen Aspekte des Mediums ‚Theater‘ für die Begriffsbildung zentral wurden. Das in der Tradition äußerst wirkungsvolle Modell des Theaters als Text geht im Wesentlichen auf die Poetik des Aristoteles zurück. Bei Aristoteles spielt der Begriff der mimesis (Nachahmung/Darstellung) eine zentrale Rolle. Bei den unterschiedlichen Dichtungsgattungen (Epos, Tragödie, Komödie, Dithyrambendichtung) handelt es sich um Darstellungen/Nachahmungen, die sich hinsichtlich der Gegenstände, der Mittel (Sprache, Bilder, Töne) und der Art der Nachahmung unterscheiden. Aristoteles definiert die Tragödie als „... mimesis (Nachahmung, Darstellung) einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – mimesis von Handelnden und nicht durch Bericht, die eleos (Mitleid, Jammer) und phobos (Furcht, Schaudern) hervorruft und hierdurch eine katharsis (Reinigung) von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“8 Die Frage, welche Art von Handlung Gegenstand der mimesis wird, erörtert Aristoteles im Zusammenhang mit dem Begriff des mythos (Poetik, 1450a 4). Unter mythos ist hier die Darstellung von Handlungen zu verstehen. Das tragische Schauspiel entsteht durch die Art der Zusammenfügung der Handlungen (ebd., 1450a 16). Die Konstruktion des Handlungsgefüges ist die zentrale Aufgabe des tragischen Dichters. Aristoteles bezeichnet den mythos als die Basis (arche) und Seele (psyche) der Tragödie (ebd., 1450a 40). Ein guter mythos „... darf nicht vom Unglück ins Glück, sondern er muß vielmehr vom Glück ins Unglück umschlagen, nicht wegen der Gemeinheit, sondern wegen eines großen Fehlers (hamartia) ...“ der zentralen Figur der Tragödie (ebd., 1453a 13 ff.). Aristoteles formuliert eine WIRKUNGSÄSTHETIK: Die angestrebte Wirkung auf die Zuschauer bestimmt die Struktur des tragischen Dramas. Der Zuschauer empfindet eleos (Mitleid, Jammer) und phobos (Furcht, Schaudern) „... und hierdurch [erfährt er] eine katharsis (Reinigung) von derartigen Erregungszuständen“.9 7

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Bei Hegel erreicht die Konzeption des Theaters als Kunstform ihren Höhepunkt: „Das Drama muß, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden“ (1970, Bd. XV, S. 473). Aristoteles, Poetik, 1449b 24-28, zitiert mit leichter Veränderung nach der Übersetzung von M. Fuhrmann, Aristoteles (1996, S. 19). Seit Lessing ist die Übersetzung von eleos durch ‚Mitleid‘ und phobos durch ‚Furcht‘ im Deutschen üblich. Diese Übersetzung wird kritisiert, da sie in eine falsche Richtung lenke: ‚Jammer‘ und ‚Schaudern‘ seien bessere Übersetzungen, weil sie die durchaus körperlich-physiologischen Aspekte der benannten elementare Affekte im Blick haben. ‚Mitleid‘ wäre zu schwach, zu verinnerlicht, zu sublimiert: eleos meint einen sich in körperlichem Ausagieren zeigenden Zustand:

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Gerade in Anbetracht der Betonung der affektiven Reaktion der Zuschauer bei der Aufführung des Dramas ist allerdings eine Bemerkung des Aristoteles zunächst unverständlich. Diese Bemerkung ist grundlegend für das durch den literarischen Text dominierte Theaterkonzept: „Die Inszenierung vermag zwar die Zuschauer zu ergreifen; sie ist jedoch das Kunstloseste und hat am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun. Denn die Wirkung der Tragödie kommt auch ohne Aufführung und Schauspieler zustande. Außerdem ist für die Verwirklichung der Inszenierung die Kunst des Kostümbildners wichtiger als die der Dichter.“ (Ebd., 1450b 16-21) Hier erscheint Aristoteles geradezu als Theaterverächter, wenn auch als Freund der Dichter. Die Überlegung, die hinter dieser Sicht der Dinge steht, wird deutlich, wenn Aristoteles später ausführt: „Nun kann das Schauderhafte und Jammervolle durch die Inszenierung, es kann aber auch durch die Zusammenfügung der Geschehnisse selbst bedingt sein, was das Bessere ist und den besseren Dichter zeigt. Denn die Handlung muß so zusammengefügt sein, daß jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern und Jammer empfindet.“ (Ebd., 1453b 1 ff.) Trotz der Anerkennung der affektiven Wirkung szenischer Momente ist für Aristoteles die rationale Auffassung des Handlungszusammenhangs und der mit ihr verbundenen Affekte das allein entscheidende Moment: Der Leser bzw. Zuhörer des Vorlesers kann durchaus das Wesentliche des Dramas erfassen. Der Nachvollzug der Logik der Handlungskonstruktion erlaubt mit Einbeziehung der Emotionen ein vollkommenes Verständnis des Dramas. Die Auffassung des Aristoteles ist weit mehr als eine idiosynkratische Geschmacksäußerung. Sie steht im Zusammenhang mit dem Übergang von einer durch Mündlichkeit dominierten Kultur zu einer zunehmend durch Schriftlichkeit geprägten Lebensform. Dabei spielt die spezifische kulturelle Funktion des Theaters in der klassischen Zeit eine wichtige Rolle. Das Theater stand in unmittelbarem Zusammenhang mit religiösen und rituellen Praktiken sowie den Festen der polis einschließlich der ihnen zugehörigen Wettkämpfe.10 Die griechischen Tragödien waren nicht Kunstwerke oder Schauspiele des Sprechtheaters im Sinne der Neuzeit, sondern Aufführungen, die Musik

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Schreie, lautes Klagen, Stöhnen, Ächzen; vgl. Lessing (1967, S. 416-435); Teichert (1991, S. 42 f.); Fuhrmann (1992, S. 92-110). Ein strittiger Punkt ist die Frage, wie man verstehen soll, dass ein Zuschauer, der grauenerregende Ereignisse auf der Bühne dargestellt sieht, durch die Erfahrung des Dramas von Jammer- und Schauderzuständen gereinigt wird. In diesem Zusammenhang ist an zwei Kontexte der Rede von einer katharsis zu erinnern: (1) Zum einen an die religiösen Vorstellungen von einem (moralischen) Makel, einer Befleckung und seiner Beseitigung (Tilgung, Sühnung, Auslöschung) durch rituelle Reinigung; (2) zum anderen an medizinische Vorstellungen von der Ausscheidung toxischer Stoffe. Die religiös-rituelle Konzeption kann in ethische und moralphilosophische Modelle transformiert werden. Die Detailfragen der Aristoteles-Forschung können hier nicht erörtert werden. Wichtig für die Theorie des Theaters ist in jedem Fall, dass Aristoteles das Drama im Zusammenhang mit der Erregung von Emotionen und Affekten des Zuschauers sieht und diesen Zusammenhang als zentral beurteilt. Blume (1978); Neubecker (1977); Parker (1996); Pickard-Cambridge (1988); Robertson (1992); Wiles (2000).

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und Tanz als integrale Bestandteile enthielten (vgl. die Bedeutung von chorós: Tänzerschar). Das musikalische Element war fundamental und prägte insbesondere die Lieder des Chores. Die aristotelische Poetik abstrahiert mit ihrer auf den geschriebenen und vorgelesenen Text konzentrierten Auffassung von allen diesen Aspekten der Theaterpraxis. Mit außerordentlicher Einseitigkeit wird die intellektuelle Stringenz der Handlungsfügung betont. Bei dieser Einseitigkeit handelt es sich nicht um die Unfähigkeit, die nichtliterarischen Aspekte des Theaters zu erfassen, sondern um die Überzeugung, dass die stringente Handlungsführung die Grundlage eines guten Dramas ist. Die gut gefügte Handlung vermag alles zu erreichen, was die Tragödie anstrebt. Das ist der entscheidende Punkt für Aristoteles. Wenn der Handlungszusammenhang dem Rezipienten in Form einer gelungenen szenischen Darbietung präsentiert wird, so lässt sich das auch von einem aristotelischen Standpunkt aus durchaus würdigen. Aber die nicht-sprachlichen Mittel des Theaters können niemals die gute Handlungsführung ersetzen oder über die Mängel einer Konstruktion des ‚plots‘ hinwegtäuschen. Das Modell des Aristoteles ist also keines der Verschriftlichung des Theaters, sondern eines der Stringenz des mythos.11 Dieses lässt sich dann bruchlos in ein Modell des Theaters überführen, das ganz auf den dramatischen Text zentriert ist und das „Lesedrama“ ermöglicht. Tatsächlich hat die Auffassung des Theaters als Textgattung – insbesondere im Rahmen der Lehre von den drei ‚Naturformen‘ der Poesie (Lyrik, Epos, Drama) – die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Theater für lange Zeit bestimmt.12 Eine Folge dieser Ausrichtung besteht darin, dass Theaterformen ohne Wortsprache (Pantomime, Tanz) in den Bereichen, in denen sie nicht als Darstellungen handelnder Menschen aufzufassen sind, überhaupt nicht berücksichtigt werden können.

4. Theater als Kunstform Im Folgenden werde ich die Konzeptionen Hans-Georg Gadamers und Nelson Goodmans ansprechen, um zwei markante Positionen vorzustellen, in denen das Theater als Kunstform behandelt wird.13 Gadamer erinnert mit Nachdruck daran, dass die Aufführung die genuine Erscheinungsform des dramatischen Kunstwerks ist.14 Er identifiziert das Kunstwerk nicht mit 11

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Das poetologische Konzept des mythos bei Aristoteles ist mit seiner Akzentuierung einer kohärenten und dichten Handlungsführung von den heute gebräuchlichen Mythos-Begriffen zu unterscheiden. Goethe (III, 1959, S. 480-482); zur Geschichte des Dreierschemas vgl. Szondi (1974, S. 9-56). Dabei übergehe ich gezwungenermaßen eine ganze Reihe bedeutender Beiträge zur Theorie des Theaters (Diderot 1982; Lessing 1967; Schiller 1962; Goethe 1959; Hegel 1970; Nietzsche 1988; Artaud 1964; Brecht 1970, 1971, 1984) sowie zahlreiche poetologische Reflexionen von Dramenautoren, vgl. hierzu Carlson (1984). Eigentümlich ist, dass Gadamer zwar auf Aristoteles Bezug nimmt, aber den Widerspruch seiner eigenen Auffassung zur aristotelischen Bagatellisierung der Aufführung nicht behandelt; Gada-

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dem Dramen-Text. Zwar hält er an traditionellen Konzeptionen des Kunstwerks fest, befreit sich aber von einer vollständig durch den literarischen Text beherrschten Sichtweise.15 Die „Aufführung“ wird als die eigentliche Erscheinungsform des dramatischen Kunstwerks gewürdigt. Sie ist kein sekundäres Moment, das als bloße Reproduktion des Textes und dessen Anreicherung mit den (tendenziell verzichtbaren) Mitteln der Bühne zu begreifen ist. Im Gegenteil: Die Erfahrungsform der öffentlichen Aufführung als einer gemeinsamen Teilhabe von Zuschauern und Schauspielern an einer „Erscheinung von Sinn“ wird nachdrücklich herausgehoben.16 Das Theater wird bei Gadamer mit Bezug auf das Paradigma ‚Tragödie‘ maßgeblich als eine Form der Erkenntnis präsentiert, einer Erkenntnis, die als Einsicht in Grundstrukturen der menschlichen Praxis und ihrer Konflikte spezifiziert ist. Das Theater ist ein Reflexionsmedium, ein Medium der Entfaltung praktischer Rationalität.17 Wenn Gadamer das Theater maßgeblich mittels der KATEGORIE DES EREIGNISSES bestimmt, so bedeutet dies eine markante Absetzung von der traditionellen Konzeption des (geschlossenen) Werks, das maßgeblich durch den literarischen Text konstituiert ist. Das Theater, das sich als „(live) performance“ begreift, stellt eine wesentliche Strömung innovativer und anti-traditionalistischer Kunst der Avantgarde des 20. Jahrhunderts dar. Gadamer geht freilich nicht den weiteren Schritt, das Theater vom Text und von der Repräsentationsfunktion ganz zu lösen, wie dies mit großer Vehemenz z. B. bei A. Artaud geschieht. Nelson Goodman (1976) berücksichtigt das Theater im Rahmen einer allgemeinen Theorie der Zeichen. Mit seinem ‚kontinentalen‘ Kollegen verbindet Goodman die These, dass die Künste Erkenntnis vermitteln. Die Ausführung der These erfolgt bei beiden

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mer (I, 1999, S. 122 ff., 133-139); die Liquidierung des Theaters durch den Dramentext, die Aristoteles zu vollziehen scheint, hat immer wieder Kritik und Widerspruch provoziert; vgl. beispielsweise Georg Simmel: „... das Schauspiel ist nicht eine Reproduktion des Dramas, wie ein Dreifarbendruck ein Gemälde reproduziert, sondern ist als Kunstleistung eine ganz und gar selbständige Schöpfung. Indem es das Drama als Inhalt in die Formen dieser selbständigen Kunst aufnimmt, scheint die Darbietung des Schauspielers gänzlich aus seiner Produktivität und Individualität hervorzugehen.“ (Simmel 2002, S. 432) In diesem Zusammenhang sind Gadamers Begriffe des Spiels der ‚totalen Vermittlung‘, der ‚ästhetischen Nichtunterscheidung‘ wichtige Korrektive verengter Begriffe des Kunstwerks. Für eine weiter gehende Betrachtung dieser Theoriestücke vgl. Teichert (1991, S. 32-52; 2003). Dies steht in sachlichem Zusammenhang mit Gadamers Revalorisierung des Kontextbezugs ästhetischer Erfahrung, die er durch den Hinweis auf die Bedeutung des Okkasionellen und Dekorativen vornimmt: „Jede Aufführung ist ein Ereignis, aber nicht ein Ereignis, das als ein eigenes dem dichterischen Werke gegenüber oder zur Seite träte – das Werk selbst ist es, das sich in dem Ereignis der Aufführung ereignet. Es ist sein Wesen, derart ‚okkasionell‘ zu sein, daß die Gelegenheit der Aufführung es zum Sprechen bringt und herauskommen läßt, was in ihm ist.“ (Gadamer I, 1999, S. 152). Gegen Ästhetizismus und Erlebnisästhetik setzt Gadamer den Hinweis auf die Einbettung der Kunst in die Lebenspraxis wie sie exemplarisch im Zusammenhang mit Festen verbunden ist (vgl. dazu den Aufsatz von 1974 „Die Aktualität des Schönen. Kunst als Spiel, Symbol und Fest“, in: Gadamer (VIII, 1999, S. 94-142)). In Teichert (1996) werden Gadamers Ausführungen mit der ebenfalls eine Dimension der praktischen Rationalität entfaltenden Konzeption der Tragödie bei Martha C. Nussbaum (1989) konfrontiert.

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allerdings mit gänzlich unterschiedlichen Mitteln. Für Goodman ist die Unterscheidung von allographischen und autographischen Zeichensystemen sowie zwischen einstufigen und zweistufigen Künsten grundlegend. Ein Zeichensystem ist autographisch, wenn eine exakte Reproduktion eines Zeichens nicht als gleich bedeutend mit dem ursprünglichen Zeichen gilt (Goodman 1976, S. 113). Unterschriften unter Urkunden zählen in diesem Sinn als autograph. Für den Bereich der autographen Zeichensysteme sind die Begriffe des Originals und der Fälschung anwendbar. Hinsichtlich allographer Objekte ist diese begriffliche Unterscheidung gegenstandslos: Eine korrekte Ausgabe des Notentextes der Mondscheinsonate ist in genau der gleichen Weise eine Ausgabe der Mondscheinsonate wie dies in allen anderen korrekten Textausgaben der Fall ist. Das Drama stellt sich nach Goodman als Fall einer zweistufigen allographischen Kunst dar: Der Text legt die konstitutiven Identitätsbedingungen des Dramas durch den Wortlaut der von Schauspielern gesprochenen Worte und durch die Regieanweisungen fest. Jede Aufführung, die in Übereinstimmung mit diesen Anweisungen steht, zählt als Aufführung des Werks. Dies zu behaupten, bedeutet nicht, den Unterschied von gelungenen und misslungenen Aufführungen einzuebnen. Es dient lediglich dem Zweck, den Bereich dessen einzugrenzen, was als Aufführung des Werks zählt. Goodmans Theorie beansprucht nicht, mit diesen auf das Grundsätzliche eingeschränkten Bemerkungen, eine umfassende Theorie des Theaters zu geben. Seine Überlegungen zum Tanz und zu Konzeptionen einer Tanznotation machen deutlich, dass neben den linguistischen Zeichen das gesamte Zeichenrepertoire des Theaters zu beachten ist. Im Bereich des durch keine exakte Notation festgelegten Bühnengeschehens entfalten sich die verschiedenartigen Auffassungen und Potenziale von Regie und Akteuren, wobei sich Formen des Improvisations- und Tanztheaters sowie des experimentellen Theaters von der Zweistufigkeit und Abhängigkeit eines die Aufführung bestimmenden Texts ganz loslösen können.

5. Semiotik, Kulturwissenschaft, Soziologie: Vom Theater zur Theatralität Goodmans grundbegriffliche Überlegungen zeigen konzeptionelle Parallelen mit den semiotischen Theorien, die seit Ende der 1960er Jahre ausgearbeitet wurden. Die Blütezeit dieser Forschungsrichtung fällt zusammen mit der Zeit der Konjunktur von Strukturalismus, Linguistik und Semiotik. Ziel der Arbeiten von Keir Elam (1980), Erika Fischer-Lichte (1988), Gilles Girard et al. (1978), Tadeusz Kowzan (1975), Marco De Marinis (1992) und Patrice Pavis (1988) ist es, eine Theorie des Theaters als Zeichensystem zu formulieren. Dabei wurden unterschiedliche Teilsysteme der Theatersprache beschrieben. Aber es gelang nicht, eine einheitliche Konzeption eines minimalen syntaktischen und semantischen Elements zu finden, auf dessen Basis sich sämtliche bedeutungstragenden theatralen Zeichen konstituieren lassen. Das Projekt einer gleicher-

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maßen strengen, vollständigen wie allgemeingültigen, d. h. auf sämtliche Erscheinungsformen des Theaters zutreffenden, Theorie wurde inzwischen aufgegeben. Die Forschung bezieht sich wieder stärker auf einzelne Theaterformen, auf die intermedialen Beziehungen zwischen Theater, Literatur, bildender Kunst und anderen Medien, auf die kulturgeschichtlichen Verhältnisse und die Funktionen des Theaters in bestimmten sozialen Systemen. Dabei treten die höchst unterschiedlichen Positionen des Theaters innerhalb der unterschiedlichen Mediensysteme von Gesellschaften zu Tage. Offensichtlich ist die Stellung des Theaters in der heutigen westlich-europäischen Kultur eine vollkommen andere als zu Zeiten des klassischen attischen Theaters. Dies trifft auch auf das klassische Theater der aristokratischen Kultur im Frankreich des 17. Jahrhunderts oder die nachrevolutionäre, bürgerliche Bühne des 19. Jahrhunderts zu. Der Kontrast zu dem antiken Paradigma des Theaters – dem klassischen attischen Theater – ist denkbar krass: Das Theater des 5. Jahrhunderts v. Chr. stellt eine bedeutende Versammlungsform der Gesellschaft dar, in der sich politische, religiös-rituelle und soziale (einschließlich affektiv-emotionaler) Funktionen verbinden. Der Wettkampfaspekt der Dramenaufführungen und ihre Stellung im Mittelpunkt des wichtigsten Fests der Stadtgemeinschaft markieren eine Relevanz des Theaters, der in nachantiken Zeiten nichts Vergleichbares an die Seite gestellt werden kann. Die Identität der attischen Gesellschaft ist zu einem erheblichen Teil durch die Institution des Theaters als Ort der Versammlung der Bürger konstituiert, ein Ort, der im Rahmen des Kultes eine Verbindung zwischen dem Bereich des Sakralen und dem Bereich des Profanen herstellt. Dabei wird auf eigentümliche Weise eine kollektive Aneignung von Tradition vollzogen, die auch die Möglichkeit zu Kritik und Abgrenzung bietet. Die im Drama reproduzierten und variierten Mythen erinnern oft an eine bereits dem antiken Publikum fremd gewordene Welt heroischer Figuren und der ihre Geschicke bestimmenden Götter. In dieser Fremdheit können archetypische Konstellationen der Handlungswelt dargestellt werden, in denen die Zuschauer sich selbst und ihre Handlungswelt wiedererkennen. Die Ambivalenz von Fremdheit und Wiedererkennen sowie die intensiven Emotionen, die im Rahmen der kollektiven Rezeption entstehen, gehören zur singulären Eigenart dieser Theaterform. Zu bedenken ist dabei, dass ein großer Teil des Publikums im klassischen Athen die Vorführungen auch deshalb kenntnisreich beurteilen konnte, weil sehr viele Bürger als Chorsänger aktiv an den Aufführungen beteiligt waren. In der Gegenwart werden Konstitution von Öffentlichkeit und Partizipation an der politischen Gemeinschaft in anderen Formen und in anderen Medien, nämlich vorwiegend in den Massenmedien, vollzogen. Das Theater gehört zu jenen Kunstformen, die von der durch Walter Benjamin (1974) diagnostizierten Konjunktur der technischen Reproduzierbarkeit von Artefakten und vom Bedeutungsverlust auratischer Kunst massiv betroffen sind. Die Konkurrenz zwischen dem alten Medium Theater und dem neueren Medium des Films und seiner sozialen Institution, des Kinos, sind besonders prägnant. Immer wieder wird die Frage gestellt, ob das Theater im heutigen Mediensystem überhaupt noch eine genuine Funktion besitzt und wie es sich angesichts der Fülle und Vielfalt von Medienangeboten behaupten kann. Ökonomische und kulturpolitische Aspekte spielen dabei eine zentrale Rolle. Dass das Theater eine genuine Form der Kom-

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munikation ausbildet, zeigen nicht nur die experimentellen Formen von Theaterpraxis. Deren Vitalität verdankt sich auch den im Vergleich mit dem Film geringeren finanziellen und apparativen Voraussetzungen. Die Kreativität des Theaters als Medium sekundärer Zeichen vermag gerade auch auf die neueren Medien Bezug zu nehmen. Wie auch immer die Alltags- und Handlungswelt einer Kultur beschaffen ist, das Theater ist fähig, die jeweils prägenden Medien und Zeichen zu integrieren, zu kritisieren und in der verfremdenden Darstellung der Bühne in neuem Licht erscheinen zu lassen. Die in Brechts Theaterkonzept wirksame verfremdende und als solche kritische Darstellungsweise des Theaters besitzt ein Potenzial, das andere Medien – wie etwa der Film – zwar ebenfalls aufgreifen können, das sich aber unverwechselbar in der Kopräsenz von Schauspielern und Zuschauern entfaltet (Brecht 1970, 1971, 1984). Angesichts einer oft behaupteten „Krise“ des Theaters im Gesamtsystem der Medien verdient das Konzept „Theatralität“ besondere Aufmerksamkeit (Larue 1995; Schramm 1996; Fischer-Lichte/Pflug 2000; Fischer-Lichte et al. 2001a, 2001b). Dabei ist nicht primär an (1) die direkte Übernahme von Theateraufführungen durch Neue Medien (Rundfunkübertragungen/-aufzeichnungen von Opernaufführungen, Verfilmung einer Oper für das Kino, Fernsehaufzeichnung einer Opernübertragung oder Studioproduktion) oder (2) die Verwendung von theatralen Zeichen und Darstellungsformen z. B. im Kino oder im Fernsehen zu denken, sondern (3) in einem weiteren Sinn an die Konstitution von Kommunikationsinhalten und die Gestaltung von Lebenssituationen mit Hilfe theatraler Elemente. Die Stichworte ‚Inszenierung‘, ‚Auftritt‘, ‚Aufführung‘ oder ‚(live) performance‘ sind dabei wegweisend insofern, als sie den gesamten Bereich öffentlicher Auftritte (von politischen Akteuren) bis hin zum Feld der Stilisierung der Lebensführung durch Werbung, Mode, Freizeitaktivitäten (Sport u. a.) und Inneneinrichtung abdecken. ‚Theatralität‘ bezeichnet einen Modus der Wahrnehmung und des auf diesen Modus ausgerichteten Verhaltens, das auch ohne direkten Kontakt zur sozialen Institution des Theaters vorzufinden ist. In diesen Bereich gehören: Urteilsverkündungen durch das Gericht, Hochzeiten und Begräbnisse, Vereidigungen und Sportveranstaltungen, Hinrichtungen und Ordensverleihungen, Siegerehrungen, Talkshows, öffentliche Vertragsunterzeichnungen, Pressekonferenzen und parlamentarische Debatten. Theatralität bezieht sich auf öffentliche Kommunikation und deren Form („Inszenierung“) insbesondere bei Festen, Prozessionen, Paraden, Ritualen, also zeremoniell geregelten Abläufen. Diese können sowohl durch die Formen des Theaters als eigenständigem Medium mitkonstituiert sein als auch in Lebensformen auftreten, die keine spezielle Institution des Theaters im Sinn des darstellenden Spiels der Schauspieler auf der Bühne kennen. In der Alltags- und Bildungssprache wird das mit dem Stichwort „Theatralität“ bezeichnete Wechselverhältnis von Theater und Alltagswelt durch die Metapher von der Welt als Bühne (theatrum mundi), vom Leben als Theaterspiel deutlich.18 18

Als einer der ältesten Belege für die Theater-Metapher gilt Platons Formel von der Komödie und der Tragödie des Lebens (Platon 1981, Philebos 50b). Markant ist insbesondere die stoische Verwendung dieser Metapher (Seneca 1995, Ad Lucilium epistulae morales 77, 20; 80, 7; 94, 1; vgl.

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Die frühe Neuzeit verwendet „theatrum“ sehr oft als Buchtitel. Die neue Technik des Buchdrucks einschließlich der Reproduktionsverfahren des Holzschnitts und Kupferstichs führt zu einer Vielfalt von textuellen und bildnerischen Darbietungen von Objekten, die in ihrer ‚barocken‘ Fülle etwas vom Festcharakter der theatralischen Präsentation übernehmen.19

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auch Cicero (1984, De officiis I 107 u. 115); Epiktet (1984, Enchiridion, 17); Marc Aurel (2001, Ad se ipsum, XI, 6), da sie eine Strategie der Selbstdistanzierung trägt, mittels derer sich das Individuum seine charakterlichen Eigentümlichkeiten als akzidentelle Modifikationen seiner Vernunftnatur vor Augen führt. Zur Metapher des „theatrum mundi“ s. Curtius 1978, S. 148-154; González García 1996. Neben der metaphorischen Rede von der Welt als Theater/Bühne ist bis ins 19. Jahrhundert hinein ein Gebrauch des Nomens „Theater“ verbreitet, dem die weite Bedeutung von „Schauplatz“ zugrunde liegt. Dieser Sprachgebrauch schließt an die etymologische Herkunft von theatron an, das einen ‚Platz, von dem aus man beobachtet‘ bezeichnet. Hegel schreibt oft in dieser Weise: „Cäsar [...] eröffnete einen neuen Schauplatz, er gründete das Theater, das jetzt der Mittelpunkt der Weltgeschichte werden sollte [...]“ (Hegel 1970, Bd. XII, S. 378; derselbe Gebrauch: I, S. 501; I, S. 551; XII, S. 28; XII, S. 142; XII, S. 342). Foucaults Sprachgebrauch scheint zwischen der alten Bedeutung ‚Schauplatz‘ und der Bühnenmetapher zu schwanken: „Pendant ces vingt ou trente dernières années […] [i]l y a eu sans doute des théâtres bien plus bruyantes: psychanalyse, marxisme, linguistique, ethnologie.“ (Foucault 1994, S. 763) Einige Beispiele: Johann Philipp Abelinus, Theatrum Europaeum [...] (1662-1734); Christian van Adrichem, Theatrvm Terrae Sanctae Et Biblicarvm Historiarvm: cum tabulis geographicis aere expressis [...] (1593); Johann Heinrich Alsted, Theatrum scholasticum : In quo consiliarius philosophicus proponit et exponit. (1620); Vincentius Bellovacensis, Specvlvm qvadrvplex: natvrale, doctrinale, morale, historiale : in quo totius naturae historia, omnium scientiarum encyclopaedia, moralis philosophiae thesaurus, temporum & actionum humanarum theatrum amplissimum exhibetur [...] (1624); Laurens Beyerlinck, Magnum theatrum vitae humanae [...] (1631); Pierre Boaistuau, Theatrum Mundi Et Speculum Vitae Humanae, Das ist: Schauwplatz der Welt: Vnnd Spiegel des gantzen Menschlichen Lebens: Darinnen von Elend vnd Armutseligkeit deß Menschen, durch alle vn[d] jede Alter vnd Stände Menschliches Lebens, gehandelt wird. Mit angehencktem sonderbarem Tracttätlein [!], Von Fürtrefflichkeit vnd Würde deß Menschen : Allerley Standes Personen Nutzlich vnd Nothendig zu lesen (1609); Jean Bodin, Vniversae Natvrae Theatrvm : In Qvo Rervm Omnivm effectrices causae & fines quinque libris discutiuntur (1596); Jean Jacques Boissard, Theatrvm Vitae Humanae (1596); Marcus Zuerius Boxhorn, Theatrum Sive Hollandiae Comitatus Et Urbium Nova Descriptio (1632); Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum, Oder Historisch- und Politischer Schau-Platz Aller Ceremonien, Welche bey Päbst- und Käyser-, auch Königlichen Wahlen und Crönungen […] (1719-1720); Jan Jansson, Theatrum exhibens illustriores principesque Germaniae superioris civitates (1657); Jacob Leupold, Theatrum Machinarvm (1724); Abraham Ortelius, Theatrum orbis terrarum (1570); Nicolaus Raimarus, Chronotheatron: Sev Theatrvm Temporis: Annorvm Videlicet 4000 (1597); Adriaan van Roomen, Parvvm Theatrvm Vrbivm siue Vrbivm Praecipvarvm Totivs Orbis Brevis & methodica Descriptio (1608); Abraham Saur, Theatrum urbium: warhafftige Contrafeytung und summarische Beschreibung vast aller vornehmen und namhafftigen Stätten, Schlössern und Klöster (1595); Wilhelm Strateman, Theatrum metaphysicum in quo [...] exhibentur definitiones, divisiones, observationes, objectiones, distinctiones, et canones metaphysici [...] (1658); Matthäus Tympe, Theatrvm historicvm: continens vindictas divinas, et praemia Christianarum virtutum, ex gravissimis Graecis, Latinis, sacris ac profanis historicis, per locos communes iuxta alphabeti seriem dispositum [...] (1614); ders., Admirandvm Vindictae Divinae Theatrvm : Ex Non Proletariis Ac Capite Censis, Sed Primae Classis Et Gravissimis

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Philosophen haben sich sowohl in der Perspektive der Kultur- und Kunstphilosophie/Ästhetik als auch im Kontext der Anthropologie und Psychologie intensiv mit dem Theater befasst. Im zweiten Fall steht das Interesse an den anthropologischen und ‚naturalen‘ Wurzeln des Theaters im Vordergrund: Fragen nach der Bedeutung von Nachahmungs- und Darstellungsverhalten, der Genese von Emotionen und ihrer Kommunikation. Ein weiteres Interesse richtet sich auf den Zusammenhang von Theater und praktischer Philosophie bzw. Handlungstheorie. Das Theater reflektiert die soziale Welt des Handelns. Theater bildet diese Handlungswelt nicht nur ab, sondern zeigt anhand exemplarischer Verwendungsweisen diejenigen sprachlichen und begrifflichen Unterscheidungen auf, die handelnde Personen verwenden und durch die sie ihr Verhalten wechselseitig verstehen und interpretieren. Für das Begriffswort „Person“ wurde über lange Zeit eine – aus linguistischer Sicht nicht haltbare – etymologische Herleitung angegeben, die auf das lateinische Wort für die Gesichtsmaske persona verweist (vgl. Teichert 1999, S. 91 ff.). ‚Per-sonare‘ wurde aufgefasst als das Tönen/Klingen (sonare) der Stimme durch (per) die Gesichtsmaske des Schauspielers hindurch. Unbestritten ist, dass die Bezeichnung für die Maske des Schauspielers ‚persona‘ seit dem 1. Jh. v. Chr. gebraucht wird, um den Charakter, den sozialen Status oder eine Rolle im öffentlichen Leben zu bezeichnen. Der Personbegriff, der in der Neuzeit zur zentralen Kategorie aufrückt, mit der die im ethischen Sinn autonomen Handlungssubjekte ausgezeichnet werden, hat selbst eine indirekte Verbindung zum Theater. Diese liegt nicht auf der Ebene der Etymologie, sondern hat eine sachliche Basis. Das Individuum in der Rolle des ethischen Subjekts ist ein Wesen, das sein Handeln mit Selbstbeobachtung, Selbstkontrolle, im Bewusstsein möglicher Beobachtung und Beurteilung durch Zuschauer und in Kooperation mit anderen Individuen ausführt. Jede Partizipation an einer durch Werte und Handlungsregeln geformten Gemeinschaft impliziert Selbstdistanzierung, Übernahme der Perspektive der Anderen hinsichtlich der eigenen Wünsche, Pläne, Handlungsimpulse. Diese Distanzierung ist in der Unterscheidung von Schauspieler und Rolle in eine extreme Form getrieben. Die Differenz von Schauspieler und Rolle stellt den Kern der philosophischen Brisanz des Theaters dar. Jedes Handeln, bei dem der Handelnde mögliche Konsequenzen der beabsichtigten Handlung erwägt und die Handlung vom Standpunkt des Anderen aus betrachtet, kann als Aktualisierung des Theatermodells gefasst werden. Der Handelnde wird in der Reflexion zum Zuschauer seiner selbst, so wie er in jedem alltäglichen Handlungsvollzug ein Darsteller seiner selbst in den Augen der Anderen ist. Diese Nähe von Theater und Handlungstheorie sollte aber nicht dazu verleiten, das Subjekt grundsätzlich als autonomes oder moralisches Subjekt zu verstehen. Das Theater desavouiert beständig die Konzeption eines autonomen und souveränen Individuums, das seine eigene Rolle bestimmt und freiwillig auf sich nimmt. Sowohl die tragische als auch die komische PerGraecis, Latinis, Sacris ac profanis historicis, In Gratiam Concionatorvm, Ludimagistrorum, atq[ue] adeo vniuersiexercitus Mineruae, (phrasi auctorum seruata) collectum (1611); Theodor Zwinger, Theatrvm Hvmanae Vitae, I-IXXX, (1586); ders., Theatrvm sapientiae coelestis ex Joh. Calvini ‚Institutione chriatiaenae religionis‘ […] (1652); Zacharias Zwantzig, Theatrum praecedentiae oder eines Theils illustrer Rangstreit, andern Theils illustre Rangordnung, I-II, (1706).

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spektive des Theaters zeigen die Täuschungsanfälligkeit, Vorläufigkeit und die sowohl glückhaften wie auch verhängnisvollen Kontingenzen, in denen handelnde Personen gefangen sind. Damit stellt das Theatermodell eine Vielzahl von Rollenmodellen vor, in deren Licht die Zuschauer ihre eigene Welt betrachten können. Dass Sozialphilosophie, Soziologie und Psychologie den Rollenbegriff wiederholt zu einem Grundbegriff der Theoriebildung gemacht haben, bestätigt die fundamentale Bedeutung der in ihm enthaltenen Bestimmungen.20

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Goffmann (1969); Popitz (1972); Dahrendorf (1977); Griese (1977); Jauss (1979); Plessner (X, 1980: „Soziale Rolle und menschliche Natur“, S. 227-240). Löwith (1981) und Rapp (1993) u. a. akzentuieren die Bedeutung der Rolle für die Welt des Sozialen. Dass dabei auch die Ebene der Institutionen beachtet werden kann und nicht nur die (kleine) Welt individuellen Handelns, zeigen Konzeptionen, die von Institutionen als gefestigten Strukturen von Rollenerwartungen und Statusbeziehungen ausgehen.

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Dieter Teichert

TECHNISCHE VERBREITUNGS-, VERARBEITUNGSUND SPEICHERMEDIEN

Sybille Krämer

MEDIENPHILOSOPHIE DER STIMME

„Die Stimme, die in und mit der Sprache zum Sprechen geworden ist, ist nicht die Sprache.“ Michael Wimmer (2002, S. 103)

Gibt es ein Medienapriori? Im Nachgang zu Kants kritischer Wende entstanden moderne und zeitgenössische Versionen epistemologischer Umwendungen, die unter dem Namen ‚linguistic turn‘ (Wittgenstein, Austin) und ‚semiotic/symbolic turn‘ (Peirce, Cassirer) ihre Wirksamkeit entfalteten.1 Was läge nun näher, als einen ‚medial turn‘ zu diagnostizieren,2 der die Idee einer Konstitution von Erfahrung durch etwas, das der Erfahrung nicht zugänglich ist und also ihr vorausgeht, aufnimmt, jedoch medientheoretisch reformuliert? Medialität wäre dann im Sinne eines Apriori zu rekonstruieren, und die philosophische Nobilitierung der Reflexion von Medien als eine genuine Form von ‚Medienphilosophie‘ wäre damit auf eine elegante Weise auf den Weg gebracht.3 Diesen Weg eines Medienapriori wollen wir nicht einschlagen.4 Wir möchten vielmehr eine Sensibilität des philosophischen Diskurses für Fragen und Probleme, die sich im Umgang mit Medien stellen, in einer Weise anregen und schaffen, welche Medien nicht zu Platzhaltern eines Programms macht, das innerhalb der – transzendental orientierten – Philosophie wohl etabliert ist und über eine respektable Tradition verfügt. Worin diese Distanz gegenüber dem durchaus einleuchtenden Ansatz, Medien zu Konstitutionsbedingungen unseres Wahrnehmens, Erfahrens, Denkens und Kommunizierens zu erklären, begründet ist, bedarf einer komplexen Argumentation; und diese kann hier nicht geleistet werden. Gleichwohl seien Gründe unserer Skepsis gegenüber jedweder Form des Medienapriorismus zumindest angedeutet. Gesetzt den Fall, es gibt ein Außerhalb von Medien, und zwar aus dem einfachen Grund, weil das, ‚was ein Medium ist‘, überhaupt nur durch seine Relation zu und in 1 2 3

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Es gibt dann noch den ‚cognitive‘ und den ‚iconic turn‘. So der Titel der Ausgabe ‚Medial Turn‘ des Medienjournals Nr. 1, 1999. So spricht Margreiter (1999, S. 17) vom „Medien-Apriori“ und fasst „Medialität“ als „die adäquate Neubestimmung des ‚Transzendentalen‘ (womit Kant den apriorischen Konstruktionscharakter des Denkens bezeichnete)“; vgl. auch Margreiters Beitrag in dem vorliegenden Band. Diesem Impuls gegen einen Apriorismus in der Medientheorie folgt auch Mersch (im Druck), vgl. auch den Beitrag von Dieter Mersch in dem vorliegenden Band.

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Differenz von einem ihm Äußerlichen bestimmt werden kann. Nehmen wir des Weiteren an, dass als paradigmatischer Fall und ‚Urszene‘ dieser (Ver-)Fassung des Medialen der Bote gelten kann, insofern dieser nicht mit eigener, vielmehr mit ‚fremder‘ Stimme spricht. Dann liegt die Besonderheit von Medien gerade in ihrer Heteronomie.5 Dabei verstehen wir unter ‚Heteronomie‘ – im Unterschied zur ‚Autonomie‘ – den Sachverhalt, dass Medien in dem, was sie leisten, nicht selbst organisiert sind, sondern einem ‚fremden Gesetz‘, einer äußerlichen Vorgabe und Auflage folgen.6 Falls nun die Begriffsarchitektur einer Medientheorie in Richtung auf ‚Heteronomie‘ weist, falls also der Begriff ‚Medium‘ ohne die Annahme eines Außerhalb des Mediums gar nicht bestimmbar ist, dann liegt es auch auf der Hand, dass Medien nicht zugleich geeignete Kandidaten sein können, um die Stelle eines ‚Unhintergehbaren‘, ‚Vorgängigen‘ und ‚Letztbegründenden‘ zu besetzen. Wenn nun im Lichte einer heteronom orientierten Medientheorie die Stimme als Medium von Sprache und Kommunikation betrachtet wird, zeichnet sich tatsächlich so etwas wie eine Leitfrage ab: Kann die Reflexion der Stimme als ein sprachliches Medium etwas an Kommunikation und Sprache zu Tage fördern, was ohne das Denken der Stimmlichkeit sich an Sprache und Kommunikation nicht zeigt? Die folgenden Überlegungen versuchen darauf eine Antwort zu finden. Doch mit der Antwort – so viel sei vorweggenommen – wird sich herausstellen: Bedeutung und Wirkung der Stimme verdanken sich gerade dem Umstand, dass die Stimme mehr und anderes ist als ein Medium für etwas.

1. Sprache und Kommunikation ohne Stimmlichkeit: zum intellektualistischen Sprachkonzept Das ist ein merkwürdiges Phänomen: Einerseits ist die sprachkritische Wende in der Philosophie verknüpft mit einem ‚Pragmatisierungsschub‘, der nicht einfach ‚die Sprache‘, vielmehr das Sprechen, den Sprechakt, die Kommunikation, kurzum: den Sprachgebrauch zum Gravitationszentrum werden lässt. Doch die Sprache, welche die Philosophie in ihren Reflexionen Gestalt gewinnen lässt, bleibt andererseits eine lautlose Sprache.7 Stimmlichkeit und Stimme sind kein philosophisches Sujet. Und selbst in Derridas Phonozentrismusvorwurf, in seiner Verschwisterung von logosorientierter

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Ausführlichere Überlegungen dazu: Krämer (im Druck). Von der ‚Heteronomie des Boten‘ spricht Capurro (2001); Levinas (1983, S. 214) spricht im Zusammenhang der Erfahrung eines „absolut Äußeren“, welche für Spuren charakteristisch ist, von einer „heteronomen Erfahrung“. Eine bemerkenswerte Ausnahme ist Friedrich Nietzsche, auf den wir zurückkommen werden. In der zeitgenössischen Philosophie sind es vor allem Phänomenologen, die sich der Stimme zuwenden: Don Ihde (1971) und Bernhard Waldenfels (1994a, 1994b, 1999).

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Metaphysik mit der phoné, können wir noch den Widerhall eines Misstrauens gegenüber der Stimme vernehmen.8 Allerdings ist die Randständigkeit der lautlich-auditiven Gegebenheitsweise der Sprache keineswegs auf die Philosophie beschränkt.9 Auch in der Sprachwissenschaft selbst, ob nun in Gestalt ihres Gründervaters Saussure, der den Sprachlaut als hörbares Ereignis aus der Linguistik ausschloss10, oder in Form ihrer zeitgenössischen Weiterbildung zur kognitiven Linguistik, die die hirnphysiologisch instantiierte, also die unhörbare Sprache zum Untersuchungsobjekt macht: Es ist die stumme, es ist eine entkörperte Sprache, die zum Gegenstand wird.11 Für die Philosophie gibt es für diese Neutralisierung der Lautlichkeit einen nahe liegenden Grund: Die sprachkritische Wende favorisiert die Orientierung am Sprechen nicht nur, weil der Sprechakt durch Regelbeschreibung rationalisierbar ist, sondern auch und vor allem, weil der Sprachgebrauch selbst als Springquelle von Rationalität und Vernunft gedeutet wird.12 Für die universalpragmatische Kommunikationstheorie ist die Kommunikation eben deshalb Keimzelle unseres Selbst- und Fremdverhältnisses, weil nur im Sprechhandeln wir uns in unserem Tun wie entkörperte Personen verhalten können, die – aller individuellen Unterschiede entkleidet – als Personifizierungen von Geltungsansprüchen auftreten und im Diskurs nicht (mehr) mit Macht, Gewalt oder Charisma, sondern allein kraft des besseren Arguments – also vernünftig – streiten. In diesem argumentativen Streit, der die Urszene der philosophischen Idee von Kommunikation ausmacht, hat die Stimme kein Gewicht. Wir wollen diese hier nur flüchtig skizzierte Auffassung das logosorientierte13 bzw. das intellektualistische Sprachkonzept nennen.14 Wenn wir also erwarten, durch eine Reflexion der Lautlichkeit des Sprechens neue Akzente zu setzen, so ist diese Erwartung nun konkretisierbar: Wir hoffen im Denken der Stimmlichkeit auf Sachverhalte zu stoßen, die zu einer Korrektur am intellektualistischen Sprachbild führen können. Ein solches Nachdenken muss allerdings nicht am Nullpunkt einsetzen. Vielmehr gibt es zeitgenössische, philosophische und nicht-philosophische Ansätze, in denen die Stimmlichkeit implizit oder explizit zum Thema wird und deren gemeinsames Band darin besteht, Elemente im Sprachgebrauch hervortreten zu lassen, die über den Kamm eines intellektualistischen Sprachkonzeptes nicht zu 8

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Allerdings hat Alice Lagaay (im Druck) eine Deutung Jacques Derridas vorgelegt, bei der Derridas Philosophie dazu einlade, „die Stimme selbst als Spur (,differenzielle Schwingung‘) und damit als Verkörperung der differance zu denken.“ Vgl. Dolar (2002). „Übrigens ist es unmöglich, daß der Laut an sich, der nur ein materielles Element ist, der Sprache angehören könnte. Er ist für sie nur etwas Sekundäres, ein Stoff, mit dem sie umgeht.“ Saussure (1967, S. 141). Vgl. dazu Jäger (1994). Jedenfalls gilt dies für Apel (1986) und Habermas (1984): Vernünftigkeit wird zu einer Präsupposition der Rede. Dieser Begriff geht auf Apel (1986) zurück. Entfaltet wird dies in Krämer (2001, S. 95 ff.).

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scheren sind. Es geht um Julia Kristeva, Roland Barthes, Dieter Mersch, Bernhard Waldenfels, Henri Meschonnic, Colin Sample und Brian Rotman.

2. ‚Stimmen‘ über die Stimme Für JULIA KRISTEVA wurzelt das Sprachgeschehen im Wechselverhältnis einer präsymbolischen Dimension, in der sich komplexe, gleichwohl unbestimmte Triebregungen noch vor allem Ausdruck artikulieren und die sie ‚das Semiotische‘ nennt, sowie einer auf Repräsentation, Referenz und das Thetische gerichteten Dimension, die sie als ‚das Symbolische‘ kennzeichnet. Das Semiotische nun ist dem Musikalischen und dem Stimmlichen assoziiert. So „duldet“ das Semiotische „keine andere Analogie als den Rhythmus von Stimme und Geste.“ (Kristeva 1978, S. 37) Jedes Zeichensystem ist sowohl ‚semiotisch‘ wie ‚symbolisch‘ verfasst. Und das gilt erst recht für die Sprache: „Beide Modalitäten sind vom Prozeß der Sinngebung, durch den sich Sprache konstituiert, nicht zu trennen.“ (Ebd., S. 35) Allerdings sind in diesem Wechselverhältnis diese Modalitäten nicht gleichberechtigt: Einerseits ist „die semiotische Funktionsweise Bedingung des Symbolischen“ (ebd., S. 78), zum anderen „muß das Semiotische als Negativität definiert werden, die in das Symbolische eingeschleust wird und seine Ordnung verletzt.“ (Ebd., S. 94 f.) Kristeva charakterisiert diese Negativität auch als ‚Überschreitung‘ und ‚Übertretung‘. Während bei Julia Kristeva die Bezugnahme auf die Stimme noch eine vage, eher unausgearbeitete Assoziation bleibt, wendet ROLAND BARTHES eine zu Kristevas Begriffsschema analoge Unterscheidung auf die Erklärung der Stimme selbst an, mit Hilfe der Begriffe ‚Genogesang‘ und ‚Phänogesang‘.15 Barthes versteht unter ‚Genogesang‘ dasjenige an der Stimme, das „nichts mit der Kommunikation, der Darstellung (von Gefühlen) und dem Ausdruck zu tun hat“, dafür aber eine Art „signifikantes Spiel“ ist. (Barthes 1990, S. 272) Hier geht es um Volumen, Körnigkeit, um Rauheit, also um die Physis der Stimme; ‚Physis‘ hier verstanden als „die Art und Weise, wie die Stimme im Körper sitzt – oder wie der Körper in der Stimme sitzt.“ (Ebd., S. 284) Zum ‚Phänogesang‘ nun zählt all das, was zur Struktur, zum Kode, zum Regelwerk von Sprache gehört, also der Kommunikation, dem Ausdruck und der Darstellung dient. Phänogesang und Genogesang verhalten sich dann zueinander wie Gesetz und Spiel, wie Sinn und Sinnlichkeit, wie Signifikat und Signifikanz, wie ein Kode und seine Subversion. Wechselverhältnis und Widerstreit dieser Dimensionen der Stimme zeigen sich an der Sprachäußerung in der Differenz von „Artikulation“ und „Aussprache“ (ebd., S. 283): Während die ‚Artikulation‘ sich um die Klarheit des Sinns im Ausdruck bemüht, damit eine nahezu gleiche Lautstärke jedem Konsonanten zubilligen will und zugleich sich zu einer „Kunst der Ausdruckswirkung“ (ebd.) kodifizieren lässt, ist die ‚Aussprache‘ stets 15

Es geht hier insbesondere um die in Barthes (1990) publizierten Texte, (1) „Die Rauheit der Stimme“, S. 269-278; (2) „Die Musik, die Stimme, die Sprache“, S. 279-285.

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singulär, unabhängig fixierter Kodes. Sie verschleift Konsonanten, verleiht jeder Silbe eine einmalige Signifikanz in genau dieser einen partikulären Äußerung.16 Es ist diese Dimension des ‚Genogesangs‘, welche bewirkt, dass für Barthes die Stimmenwahrnehmung immer ein affektiver Prozess ist:17 Eine Stimme zu hören, zieht unweigerlich eine Bewertung (Evaluation) nach sich; es gibt also keine neutrale Stimme. Im Anschluss an Roland Barthes, für den die Stimme nicht nur signifikant ist, vielmehr alle semiotisch regulierbare Signifikanz aufbrechen lässt, rekonstruiert DIETER MERSCH die Stimme als dasjenige, an dem sich die Rückseite aller Semiosis zeigt und sich Bahn bricht, was in semiotischen Begrifflichkeiten nicht mehr beschreibbar ist.18 Ähnlich Kristeva charakterisiert er das, was sich einer symbolischen Ordnung widersetzt, in Termini der ‚Negativität‘.19 Mersch nimmt die Perspektive einer performativen Aisthesis ein: Als leibhaftiger Manifestation des Sprechenden ist dem Laut eine Ereignishaftigkeit und Singularität eigen, welche das Modell des zeichengebundenen Sprechhandelns in drei Richtungen überschreitet. Einmal birgt die Einmaligkeit und Präsenz der Stimme etwas Unwiederholbares und Unwiederbringliches. Da umgekehrt das Zeichen geradezu durch Wiederholbarkeit definiert ist, liegt in der Einzigartigkeit des stimmlichen Ereignisses etwas, das in seiner bezeichnenden Funktion nicht aufgehen kann. Zum anderen entfaltet sich im Fluxus des Sprechens eine „Eigenmächtigkeit des Lautes“, der mit seiner „Unfüglichkeit und Unverfügbarkeit … die Rede verstört“.20 Wie Paul Zumthor (1988, S. 709) schon feststellte: Die Rede ist nicht nur Vollstreckerin des Sprachsystems und unserer Ausdrucksintentionen, sondern handelt diesen, in ihrer ganzen leibgebundenen Körperlichkeit, sehr oft zuwider. So gibt sich der Sprecher, indem er seine Stimme, seinen Körper und nicht nur seine Gedanken hören lässt, tatsächlich preis: er setzt sich aus, er entblößt und zeigt sich – und das auf eine Weise, die sich seiner kontrollierten und beherrschten Intentionalität entzieht. Was dabei geschieht – und hiermit sind wir bei dem dritten Aspekt der Überschreitung diskursiver Semiosis in der Lautlichkeit –, ist, dass, indem der Sprecher seine von ihm vollständig kontrollierbare Intentionalität einbüßt, er zugleich den Anderen, den Angesprochenen affiziert: Die Stimmlichkeit ist das Medium einer elementaren Struktur von Responsivität, in der sich die Irreduzibilität und Andersheit des Anderen zeigt, werde diese nun als Verlockung oder Verrohung erfahren. In der Perspektive dieser Responsivität nähert sich BERNHARD WALDENFELS dem Stimmlichen.21 Es ist ein „Grundphänomen der akustischen Modalität“ von einer „re16

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„Die Artikulation, sagte er (Barthes bezieht sich hier auf den Sänger Panzera, S.K.), ist die Vortäuschung und der Feind der Aussprache; man muß aussprechen, keineswegs artikulieren ..., denn die Artikulation negiert das Legato; sie will jedem Konsonanten die gleiche Lautstärke verleihen, wo doch in einem musikalischen Text kein Konsonant mit dem anderen identisch ist: Anstatt einem an sich und ein für allemal vorliegenden olympischen Code der Phoneme zu entspringen, muß jede Silbe in die allgemeine Bedeutung des Satzes eingefaßt werden.“ (Barthes 1990, S. 283) Darauf hat Kolesch (1999, S. 119) mit Nachdruck verwiesen. Mersch (2000, 2001, S. 100-125). Exemplarisch Mersch (im Druck). Mersch (2001, S. 90). Waldenfels (1994a, 1994b, 1999).

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zeptiv-produktiven Zweiseitigkeit“ zu sein (Waldenfels 1994b, S. 492). Indem ich als Sprecher zugleich Hörer meiner Stimme bin, nistet sich in die gehörte Stimme ein Moment der Fremdheit ein, wie es in der Kommunikation mit dem Anderen immer schon wirksam wird. Soweit wir die Stimme als Verlautbarung von Sprache deuten, sind wir in einem „pragmatischen Schlummer“ (ebd., S. 494) befangen: Wir erwarten dann zu hören, was wir schon wissen oder zu wissen meinen. Doch die Fremdheit des Stimmlichen besteht gerade darin, dass eine Stimme nichts kundgibt und nichts aussagt, kurzum: „Die Stimme zeigt überhaupt nichts.“ (Ebd.) Einzig die Erfahrung der von aller Programmatik und Referenz losgelösten absoluten Musik bietet eine Möglichkeit, diese durch ihre Ausdrucksfunktion nicht länger an die ‚Maske des Gesichts‘ gebundene Musikalität im Stimmlichen zu begreifen. So lässt die Stimme das „Verschwiegene im Gesagten“, also das „Lautlose in der gehörten Verlautbarung“ wirksam werden und „markiert (sie) den Punkt, wo Hören nicht mit verstehendem und auslegbarem Hören zusammenfällt.“ (Ebd.) In Waldenfels’ phänomenologischer Perspektive verkörpert die Stimme das, was in der Bezeichnungs- und Ausdrucksfunktion der Sprache gerade nicht aufgeht. Die Stimme ist das Sprachliche, losgelöst vom Dienst an Zeichen und Kommunikation. Waldenfels’ Idee, dass die aus aller Bezeichnungsfunktion entlassene Musik zum Vorbild für das Verständnis der Wirkung der Stimme in der Sprache werden kann, nähert sich aus ganz anderer Richtung HENRI MESCHONNIC an, wenn er den Begriff des Rhythmus als fundamentale sprachtheoretische, mithin semantische Kategorie rehabilitiert.22 Sein Ziel ist die Auflösung der selbstverständlichen Verschwisterung von Sprache mit semiotischer Diskursivität. Dem Rhythmusbegriff fällt dabei eine Schlüsselfunktion zu: Platon hatte einst die vorsokratische Unterscheidung zwischen Rhythmus als Organisation von Bewegung und Schema als Organisation des Statischen aufgenommen und mit der Trias von Proportion, Anordnung und Maß so verknüpft, dass der Rhythmus es erlaubte, die kontinuierliche Bewegung von Musik und Tanz der diskontinuierlichen Organisationsform des Sprachlichen anzupassen.23 Der Rhythmus galt fortan als ein numerisches Schema, das der Sinndimension des Sprechens völlig entfremdet war. Im Gegenzug zu dieser den Rhythmus diskreditierenden Tradition versteht Meschonnic unter „Rhythmus“ die „Organisation des Kontinuierlichen in der Sprache“. (Meschonnic 1997, S. 615). Und in dieser Eigenschaft – hier allerdings würden sich die Wege von Waldenfels und Meschonnic trennen – bekommt der Rhythmus eine elementare, bedeutungsbildende Funktion, indem er zum Ausdruck der Bewegung des Subjekts in der Rede wird und beiträgt zu der je einmaligen Gestaltung von Sinn in einer konkreten Äußerung. Dieser Doppelcharakter sprachlicher Semantik, in der das Kontinuierliche und Diskontinuierliche, das Analoge und das Diskrete sich verschränken, begegnet uns wieder in COLIN SAMPLES sprachphilosophischem Ansatz. Für Sample spielen im Sprachgebrauch zwei Bedeutungsstränge zusammen, die er die ‚semiotische‘ und die ‚mimeti22 23

Meschonnic (1982, 1997). Vgl. dazu Benveniste (1951).

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sche‘ Bedeutungsfunktion nennt. Mit dem Semiotischen verbindet er Diskursivität, Arbitrarität und Konventionalität des Sprachlichen; mit dem Mimetischen aber Expressivität, Wahrnehmbarkeit, Kinästhesie und die Körperlichkeit im Sprachgebrauch. Die zuletzt genannten Attribute bilden für ihn die „physiognomische Dimension der Sprache“. (Sample 1996, S. 114) Zu dieser physiognomischen Dimension gehört auch der Klang der Worte. Der Bedeutungsgehalt des Mimetischen ist dem Feld des Affektiven zugehörig. Das Medium dieser affektiven Semantik ist der Körper und sie ist phylo- und ontogenetisch primär: Schon Kleinkinder zeigen ab dem 13. Monat die Fähigkeit zu dieser Art von Kommunikation.24 Die mimetische Dimension verkörpert für Sample eine präsymbolische, präpropositionale Form des Kommunizierens, doch – und darauf kommt es ihm an – dem materiellen Substratum der vollentwickelten, diskursiven Sprache bleiben Mimik, Gestik, Körperhaltung, sowie Intensität, Klangfarbe und Rhythmus der Stimme indispensierbar eingeschrieben. Dass das mit der Stimme verbundene Geschehen signifikant wird, weil es mit einer charakteristischen Art von Bewegung verknüpft ist, welche zugleich ein Band stiftet zwischen Gebärde und Laut, nimmt BRIAN ROTMAN an. Die Rede geht aus der Bewegung des Körpers hervor: Erst das prozessierende Zusammenspiel von Lippe, Zunge, Kiefer, Stimmritze, Stimmbänder, Kehlkopf, Brust, Lunge und Zwerchfell bringt das Sprechen hervor. Rotman unterscheidet nun zwei Bewegungssysteme: Unter dem ‚phonemischen‘ System versteht er die schnelle Vibration und Artikulation von Mund und Zunge, durch welche Laute und Wortketten gebildet werden. Das ‚prosodische System‘ wird bestimmt von den langsameren Wellenbewegungen und Pulsschlägen zentriert in Kehlkopf und Lunge, durch welche Ton, Akzent und Rhythmus entstehen. Das Prosodische – dies ähnelt Samples Idee des Mimetischen – steht dem nahe, wie Gebärde und Geste durch bildhafte, visuelle Signale etwas zu verstehen geben. Das Sagen und das Zeigen, das Diskursive und das Bildliche wirken also zusammen in der Kommunikation.25 Rotmans Anliegen ist es, nachzuforschen, wie die kulturgeschichtliche Dazwischenkunft des Alphabets das Analogische in der Sprache, also das, was mit Gebärde, Ikonizität und Prosodie zu tun hat, dem Diskursiven an der Sprache unterordnet, indem Affekt, Tonfall, Akzent und Rhythmus durch die phonetische Schrift gerade nicht notiert werden.26 Die Marginalisierung der Lautlichkeit gegenüber der Propositionalität des Sprechens, die Rotman als einen kulturtechnischen Effekt der Alphabetisierung rekonstruiert, wird zu einer Bruchlinie, durch die Sinn und Sinnlichkeit, Geist und Körper hierarchisiert und in Differenz zueinander gesetzt werden.

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Vgl. Dornes (1993, S. 41). Dass unsere Form von Sprachlichkeit sich nicht einfach der Evolution der akustischen Signalgebung verdankt, sondern vieles dafür spricht, dass die Lautsprache sich aus der Gebärdensprache entwickelt hat, wird heute durch empirische Forschungen zunehmend bestätigt: Armstrong et al. (1995); Corballis (1999); McNeill (1992). Allerdings schafft das Alphabet zugleich ein schriftliches Gegenstück zum Prosodisch-Gestischen und das ist „Rhetorik, Figuration und Stil“ (Rotman 2001, S. 33).

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3. Zur Performanz der Lautlichkeit Treten wir nun zurück von diesem Panorama unterschiedlicher Ansätze: Im Kern zielen alle hier rezipierten Positionen auf die Einsicht in eine Zweidimensionalität unseres Sprachgebrauchs: Kristeva unterscheidet das Semiotische und das Symbolische als Modalitäten von Sinngebung; Barthes differenziert zwischen kodifizierter Artikulation und singulärer Aussprache; Mersch entfaltet das Widerspiel von intentionalem Zeichengebrauch und der unverfügbaren Eigenmächtigkeit des Stimmlichen; Waldenfels grenzt die weder im Sagen noch im Zeigen aufgehende Stimme ab von den pragmatischen Verweisungsbezügen der Sprache; Meschonnic unterscheidet bei der sprachlichen Bedeutungsgebung zwischen der diskreten, diskontinuierlichen Struktur des Gesprochenen und der kontinuierlichen Bewegung konkreter Äußerungen; Sample bezeichnet diese Differenz als Unterschied zwischen der semiotischen und der mimetischen Bedeutungsfunktion und Rotman schließlich trennt zwischen dem phonemischen und dem prosodischen System des Sprechens. Für alle diese Ansätze ist die Stimme nicht einfach Instrument, Organon oder auch Medium des Sprechens. Vielmehr birgt jedweder Sprachgebrauch eine ‚physiognomische Dimension‘, die in der Stimmlichkeit exemplarisch zur Geltung kommt und ein spannungsreiches Verhältnis eingeht zur propositionalen, referenziellen, arbiträren Dimension des Sprachlichen. Versuchen wir nun im Ausgang von den Attributen der Stimme, diese ‚somatische‘ Dimension näher zu erschließen. Wir wollen sie die ‚Performanz der Stimmlichkeit‘ nennen. Und wir verstehen ‚Performanz‘ hier in einem theoretisch ‚schwachen‘ Sinne als Inbegriff von Merkmalen, die sich auf den raum-zeitlich situierten Vollzug beziehen.27 Auf die folgenden Merkmale kommt es uns an: (1) Körperlichkeit: Die Lautlichkeit der Sprache ist verbunden mit der Körpergebundenheit des Sprechens. „Leblose Dinge haben keine Stimme“ stellt Aristoteles fest.28 In der Verlautbarung wird unser Körper zum ‚Stimmapparat‘: Ein durch Lungen und Bronchien geformter Luftstrom, der unsere Stimmbänder in Schwingungen versetzt und durch deren Vibration Töne erzeugt. Die Stimme verdankt sich einer elementaren Motorik des Körpers, ist weniger Gegenstand und Zustand, sondern Bewegung und Prozessualität. Der Ort der Stimme ist die Aktivität des sie erzeugenden Leibes. Doch die Sprachlaute hören auf, unmittelbare Körperattribute zu sein: „Die Körpertöne werden unabhängige Tonkörper“ (Wimmer 2002, S. 103). Der Laut hat keinen Ort. Wie Waldenfels (1994b, S. 490) vermerkt: „Töne und Geräusche werden nie seßhaft.“ Auch in diesem Sinne eignet der Stimme eine Körperlichkeit, die Bewegung ist ganz und gar: Das Gegebensein des Lautes ist sein ‚Verschwunden-Sein‘, seine Anwesenheit ist nur Durchgang zu seiner Abwesenheit. Die

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Zur Unterscheidung zwischen einem schwachen, starken und radikalen Performanzkonzept: Krämer/Stahlhut (2001, S. 55). Aristoteles (1947, S. 81); Mersch (2000, S. 79) wählt dieses Zitat als Motto.

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Materialität des Akustischen ist Fluxus und Fluidum, mithin: Ereignishaftigkeit par excellence. (2) Indexikalität: Wo auch immer im Spektrum zwischen Schrei und artikuliertem Wort die Stimme zu Gehör kommt, zeugen Klangfarbe, Intensität, Rhythmus, Tonlage und Lautstärke von der Verfassung des Körpers, der zum Organon der Verlautbarung wird.29 Die Stimme zeigt die Gestimmtheit; sie ist expressiv: Die gesprochene Äußerung wird zu einem immer auch singulären Ausdruck: eine Singularität, die sich speist aus den nicht-intendierten und nur beschränkt kontrollierbaren Ausdruckswirkungen, durch welche die Stimme gesellschaftliche, regionale, körperund geschlechtsspezifische sowie situationsbedingte Gegebenheiten indexikalisch zur Geltung bringt. Die Stimme ist immer auch Spur. Ihr eignet eine Signifikanz des Sinnlichen, eine nicht-hermeneutische Bedeutungshaltigkeit, die der Modalität des Zeigens näher steht als dem Sagen. Eine sublime Verwandtschaft zu Gebärde und Mimik wird hier wirksam. Das Akustische und das Visuelle im Sprechgeschehen verkörpern eine nichtdiskursive Dimension im Sprachgebrauch, der immer Sagen und Zeigen zugleich ist. Vor allem aber: die Stimme zeigt auch da, wo sie schweigt. Wenn also die Stimme zur Spur wird, so überschreitet sie damit auch die ihr eigene Indexikalität, das also, was an ihr Verweis ist. Der Stimme des anderen, vielleicht auch unserer eigenen Stimme, sofern wir diese beobachtend hören, ist eine irreduzible Fremdheit eigen30, die sich der Hermeneutik des Verstehens wie der Konsensualität einer kommunikativ zu erringenden Einstimmigkeit sperrt. (3) Affektivität und Appellcharakter: Insofern die Stimme ein Appell ist an das Gehörtwerden, ist sie eine unmittelbare Bezugnahme auf den Anderen. Mit den Worten von Doris Kolesch (2004 im Druck): „Sie ist Anspruch, Appell und Gabe in einem“. Der kategorische Appell, der von der Stimme ausgeht, wird im ‚Anruf‘, der mit dem Läuten des Telefons eine lebensweltliche Situation „durchbohrt“, alltäglich erfahrbar.31 Und was im Säuglingsschrei kulminiert: Dass eine Stimme Fürsorge evoziert oder – so sie nicht verstummt – nervlich zerrüttet, das gilt für jedwede menschliche Verlautbarung. Die Stimme kann anziehen oder abstoßen, sie kann binden oder entzweien: stets eignet ihr eine Wirkung, die berührt.32 So zeugt die Stimmlichkeit der Kommunikation von einer basalen Form appellativer und affektiver Bezugnahme auf den Anderen, vor aller diskursiven Auseinandersetzung um Geltungsansprüche: Hier erfahren wir Macht und Ohnmacht im Angesicht des Anderen. Die Lautlichkeit im Sprechen ist mit dem ihm eigenen Begehren, aber auch Abstoßen und Distanzieren des Anderen eine elementare Form nicht-reziproker Intersubjektivität. 29

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Mit diesem Umstand spielt Edgar Allan Poe, wenn er den unter Hypnose hingeschiedenen Valdemar in seiner Erzählung Der Fall Valdemar wiederholen lässt: „Ich bin tot“. Dazu Rivière (2002). Hier können wir Levinas (1983, S. 209 ff.) Verbindung zwischen ‚Spur‘ und dem ‚Fremden‘ aufgreifen. Vgl. dazu Flusser (1991, S. 233 ff.). Der „Ton dringt ein, ohne Abstand“, sagt Plessner (1980, S. 344).

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(4) Aisthesis: Die Aktivität der Stimme vollzieht sich in der bipolaren Struktur eines Ereignisses und seiner Wahrnehmung, im sinnlichen Wechselverhältnis von Sprechen und Hören. Sie kann – in dieser Perspektive – mit den Begrifflichkeiten von Ausdruck, Bedeutung und Sinn angemessen nicht (mehr) erfasst werden. In der Stimme überschreitet nicht nur das Sprachlich-Diskursive, sondern das SymbolischZeichenhafte überhaupt. Ihre sinnliche Präsenz geht in der Funktion der Repräsentation und Indexikalität nicht auf. In einer gewissen Hinsicht gibt die Stimme überhaupt nichts kund, widersetzt sich dem, was als zeichenhafter Vollzug schematisierbar ist. Die Aisthesis der Stimme ist immer auch eine Transgression des Semiotischen. (5) Epistemologie der Stimme: Wenn die Dazwischenkunft der alphabetischen Schrift – wie Rotman vermutet – das Zeigen vom Sagen trennt und diesem subordiniert, sodass also Sprache fortan in ‚rein‘ diskursiven Begriffen unter Absehung der ikonischen, der analogischen Aspekte der kommunikativen Sprachlichkeit beschrieben wird, so nimmt dieses Konzept von Sprache und Kommunikation notwendig skripturale Züge an. Die Sprache ‚phonemisiert‘ sich kraft der durch die Kulturtechnik des Alphabets bewirkten Abspaltung vom Prosodischen. Das Phonem allerdings erweist sich dann als ein Epiphänomen des Graphems.33 Als Folge dieser Diskursivierung von Kommunikation durch die Schrift, wird die Sprache überhaupt erst zu jenem tragenden Einzelmedium der Verständigung, an dem gemessen die nicht-diskursiven Aspekte des Kommunizierens randständig werden. An dieser Stelle nun lohnt ein Blick zurück. Die Einsicht in eine konstitutive Zweidimensionalität im Sprechen, die das gemeinsame Band der hier rezipierten Autoren bildet, ist nicht neu. Ansätze zu einer philosophischen Analyse und Reflexion dieser ‚physiognomischen Dimension‘ im Sprachgebrauch, wenn man so will: zu einer performativen Betrachtung der Sprachlichkeit ‚avant la lettre‘, finden sich schon bei Friedrich Nietzsche.34

4. Nietzsche: Die Dualität der Sprache als Bild (‚Mundgeberde‘) und Musik (‚Ton‘) Die Pointe der Überlegungen Nietzsches besteht für uns darin, dass die gewöhnlich als kunsttheoretische Unterscheidung rezipierten Begriffe des Apollinischen und Dionysischen bei Nietzsche sich ursprünglich aus der Charakterisierung zweier Dimensionen innerhalb des Sprachlichen ergaben. Für Nietzsche ist die Tonalität des Sprechens fundamental. „Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Worten gesprochen wird, kurz 33 34

Mehr dazu in: Krämer (1999, 2003a). Aufschlussreiche Überlegungen dazu bei: Caduff (1997); Fietz (1992).

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die Musik hinter den Worten.“35 Nietzsche unterscheidet zwei Modalitäten der Sprache, die Gebärdensprache und die Tonsprache. Allerdings meint diese Unterscheidung – anders als der Wortlaut es suggeriert – nicht die Differenz zwischen Gestik und Stimme. Vielmehr geht es um eine Doppelung, die im gesprochenen Wort selbst wirksam wird und die Nietzsche in der Zweiheit von Bild und Musik vorgebildet sieht. Zur „Mundgeberde“36, also der Gebärdensymbolik, die dem Register des Bildlichen zuzuschlagen ist, rechnet Nietzsche Konsonanten und Vokale37, in ihrer Eigenschaft bloße Stellungen der Sprechorgane zu sein, also aufgefasst ohne Tonalität und Klang. Die so verstandene Gebärdensprache ist der Ort, an dem die Diskursivität der sprachlichen Symbolik erzeugt wird. Der Ton dagegen verkörpert die „Strebungen des Willens“, in ihm äußert sich Lust und Unlust. Erst aus dem Zusammenspiel von Gebärde und Tonalität geht für Nietzsche die Lautsprache hervor. Sie ist also die Verschränkung des Bildlichen und des Musikalischen im Sprechen selbst und wird damit zur Keimzelle jener Unterscheidung, die er dann als kunsttheoretisches Begriffsschema ‚dionysisch‘ und ‚apollinisch‘ ausbuchstabiert: Nietzsche betont, dass ihm Tonsprache und Gebärdensprache zum Vorbild werden, für Unterscheidbarkeit und Zusammenspiel der dionysisch-apollinischen Künste (Nietzsche 1980, KSA 7, S. 360).38 Das ‚Apollinische‘ ist verstanden als eine distanzsetzende, grenzziehende Energie, die mit Maß und Ratio zugleich Individualität stiftet und mit dem Bildlichen assoziiert ist. Das ‚Dionysische‘ wird begriffen als eine Grenzen überschreitende exzessive Energie, die Distanzen überspringt, Gemeinschaftlichkeit machtvoll evoziert und mit dem Musikalischen assoziiert ist. Nietzsche verbindet also keinen Ausschließlichkeitsanspruch mit diesen Prinzipien, sondern zielt auf deren Verschränkung. So, wie im Sprechen Gebärde und Ton zusammenwirken, so fallen auch künstlerische Phänomene nicht entweder unter das Apollinische oder das Dionysische. Vielmehr macht das komplexe Verhältnis beider erst aus, was Sprache und was Kunst jeweils ist. Damit platziert Nietzsche die Sprache im heterogenen Spannungsfeld von Bild und Musik, von Ratio und Macht, von Begriff und Verführung. Allerdings nimmt Nietzsche doch eine Gewichtung vor zwischen diesen heterogenen Dimensionen: „Die innigste und häufigste Verschmelzung von einer Art Geberdensymbolik und dem Ton nennt man Sprache. Im Wort wird durch den Ton und seinen Fall, die Stärke und den Rhythmus seines Erklingens das Wesen der Dinge symbolisiert, durch die Mundgeberde die begleitende Vorstellung, das Bild, die Erscheinung des We-

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Nietzsche fährt fort: „… die Leidenschaft hinter dieser Musik, die Person hinter dieser Leidenschaft, alles das also, was nicht geschrieben werden kann.“ (1956, Fragment 508, S. 190) Nietzsche (1980, KSA 1, S. 576). Das Vokal-Konsonant-Verhältnis überblendet Rivière (2002, S. 119) noch einmal mit dem Verhältnis zwischen mündlich-schriftlich. Auch: „… so gewiß nämlich der einzelne Ton, dem Bild gegenüber bereits dionysisch und das einzelne Bild, somit dem Begriff und das Wort, der Musik gegenüber apollinisch ist.“ (1980, KSA 7, S. 379)

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sens.“39 Indem Nietzsche das Verhältnis von Ton und Gebärde in den Termini von Wesen und Erscheinung beschreibt, zeichnet sich ab, dass dieses Verhältnis nicht symmetrisch ist. Der „Tonuntergrund“ der Sprache wird – mit den Worten von Corina Caduff (1997, S. 48) – zum „alleinigen und universellen Ursprungsort“.

5. Die apollinische Transformation der Sprache durch das Alphabet Auf der Folie von Nietzsches Reflexionen über die Klanglichkeit des Sprechens, können wir noch einmal zurückkommen zu der von uns aufgeworfenen Frage nach der ‚Epistemologie der Stimme‘. Kann die ‚Alphabetisierung‘ des Sprechens durch die Schrift als ein Vorgang begriffen werden, bei dem die apollinischen Züge im Sprachgebrauch dominant, deren dionysische Aspekte jedoch zurückgedrängt werden? Die Kunstpraxis der altgriechischen musiké vollzog sich noch als Einheit von Musik, Sprache und Tanz, gestiftet durch das Bindeglied des Rhythmus als Ordnung einer Bewegung in der Zeit.40 Mit Aristoteles nun stabilisiert sich eine begriffliche Trias zur Kennzeichnung des Akustischen, die zwischen psophos (sonus: Schall, Geräusch), phoné (vox: Sprachlaut, Stimme) und phtongos (sonus musicus: Ton) deutlich unterscheidet.41 Welche Rolle also spielt bei der Terminologisierung des Unterschieds von Sprache und Musik das phonetische Alphabet mit seinem durch die griechische Erfindung von Buchstaben für Vokale verknüpften Anspruch, die (ganze) mündliche Sprache in nicht weiter zerlegbare ‚bedeutungslose‘ Elemente aufzuspalten, aus deren Kombination erst sprachlicher Ausdruck entsteht? Tatsächlich scheint die Geburt der semiotischen Diskursivität der Sprache sich dem ‚Geist‘ der alphabetischen Schrift zu verdanken. Denn diese destilliert die Kommunikation, entkleidet das Sprechen seiner dionysischen Tonalität und kristallisiert es apollinisch zum (Schrift-)Bild: so wird ‚die Sprache‘ zur beobachtbaren Entität und zum autonomen Zeichen-System. Metasprachliche Reflexionen – sei es in Philosophie oder Sprachwissenschaft – werden auf diese Weise überhaupt erst möglich. Ist aber die Sprache als ein der Kommunikation wie dem Denken dienendes Bezeichnungssystem erst einmal etabliert, dann kann auch die Stimme neben der Schrift als ein instantiierendes Medium der Sprache ‚entdeckt‘ werden. Die Praxis der Verlautierung schriftlicher Äußerungen macht diese Auffassung stets aufs Neue plausibel. Die Idee, dass die Stimme ein Medium der Sprache sei, erweist sich somit – epistemologisch gesehen – als ein Effekt der Verschriftung von Kommunikation.

39 40 41

Nietzsche (1980, KSA 1, S. 575). Zur musiké s.: Georgiades (1958, S. 41-48); ders. (1985, S. 188 f.); Koller (1963, S. 5-16); Caduff (1997, S. 37). Vgl. dazu Riethmüller (1988, S. 56).

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6. Ist also die Stimme ein Medium? Kehren wir nun zu unserer Ausgangsfrage zurück. Kann die Betrachtung der Stimme als ein Medium der Sprache etwas zu Tage fördern, dass sich ohne diese ‚mediale Perspektive‘ nicht zeigt? Wir wollen auf diese Frage in mehreren Schritten antworten: (1) Der erste Schritt ist ein deutliches ‚Ja‘. Das, was Gestalt annimmt im Nachdenken über die Stimmlichkeit des Sprechens, ist die Nichtreduzierbarkeit unserer Sprachlichkeit auf Diskursivität. Das ist ein durchaus bemerkenswertes Ergebnis, wenn wir bedenken, wie sehr die Identifizierung von ‚Sprache‘ mit dem Diskursiven, also mit dem, was nicht ‚Bild‘ ist, spätestens seit Lessings kanonisch gewordener Unterscheidung von sukzessiv organisierter Wortkunst, welche spricht, und simultan verfasster Bildkunst, welche zeigt, sich zum Topos unserer Geistesgeschichte verdichtet hat (Lessing, § XVI, S. 245 f.). Gerade die Lautlichkeit ist zeitliche Sukzession durch und durch und birgt doch Aspekte, die dem Zeigen und der aisthetischen Präsenz näher stehen als dem Sagen und der diskursiven Repräsentation. Und noch in einer weiteren Hinsicht ist unsere Frage zu bejahen. Denn die Einsicht in die Grenzen der Diskursivität im Sprachgebrauch wird ergänzt durch die radikalere Einsicht in die Grenzen der Semiotizität unseres Sprechens. Hier geht es nicht mehr um den Unterschied von Sagen und Zeigen, vielmehr um den Anspruch, dass die Sprache als ein Zeichensystem, mithin als eine symbolische Form zu begreifen sei. Doch in dieser seiner Symbolizität, in seinem Zeichencharakter geht das Sprechen nicht auf: Was in der Stimme wirksam wird, ist immer auch mehr als der Ausdruck von etwas. Die Bedeutung der Stimme ist auf eine – auch indexikalisch und pragmatisch erweiterte – Semantik nicht beschränkbar. Doch unsere Ausgangsfrage zielte nicht auf die Stimme per se, sondern fragt nach der Rolle einer medienphilosophischen Betrachtung der Stimme. Und an dieser Stelle wird die Antwort komplizierter. (2) Betrachten wir also die Stimme als Medium und zwar in jener methodologischen Perspektive, die von einer prinzipiellen Heteronomie des Medialen ausgeht. Dann ist es nahe liegend anzunehmen, dass die Stimme das Medium der Sprache sei; ‚Sprache‘ hier verstanden als eine durch syntaktische, semantische und pragmatische Regeln beschreibbare Entität, über welche die Sprecher in Gestalt ihrer Sprachkompetenz individuell – wenn auch unterschiedlich – verfügen und von der sie in Kommunikationssituationen dann Gebrauch machen. Die Stimme zeigte sich dann – neben der Schrift – als ein mögliches Medium der raum-zeitlichen Instantiierung bzw. Realisierung von Sprache. Damit wäre die Rolle der Stimme als Medium – wir bewegen uns dabei immer noch in den Bahnen des intellektualistischen Sprachbildes – der Rolle des materiellen Zeichenträgers angenähert und in dieser ihrer Signifikantenfunktion auch der Logik der Type-token-Relation subordinierbar: Die artikulierte Verlautbarung verhält sich dann zur Sprache wie eine einzelne konkrete Marke zum universellen Typus. In der Logik dieser Perspektive, die zwischen

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universellem Schema und seiner partikularen Instantiierung trennt,42 können wir tatsächlich sagen: Die Lautlichkeit ist ein Medium der Performanz von Sprache und Kommunikation. (3) Allerdings: wo Performanz ist, da geht es um Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Körperlichkeit, Materialität, Ereignis, Präsenz: kurzum, es geht um Aisthesis. Doch in der Aisthesis des Stimmlichen tritt Sprachlichkeit in einer Weise in Erscheinung, die mit dem logosorientierten Konzept von Sprache gar nicht übereinkommt. Es ist an diesem Punkt, an dem das Stimmliche eine Eigendynamik, eine ‚Autonomie‘ entfaltet, die mit der Heteronomie, der Fremdbestimmung seines medialen ‚Auftrages‘ zugleich auch bricht. Denn in der Aisthesis des Sprechens sind Attribute angelegt, die von einem weder durch Diskursivität, noch durch Semiotizität, aber auch nicht durch Medialität kolonialisierbaren Eigensinn des Stimmlichen zeugen. An der Sprachlichkeit, die im Horizont dieses aisthetischen Eigensinns des Lautlichen Kontur gewinnt, treten ‚dionysische‘ Züge zu Tage, welche dann mit dem Auftreten eines anderen sprachlichen Mediums, der alphabetischen Schrift, wiederum marginalisiert werden. Das intellektualistische Sprachkonzept, das wir nun auch als ein ‚apollinisches Sprachbild‘ kennzeichnen können und das von einer raum-, zeit- und medienindifferenten Form von Sprache und Kommunikation als universellen Gegebenheiten ausgeht, erweist sich dann nicht einfach als fiktiv, vielmehr als eine Projektion, deren Projektionsregeln die Spuren alphabetischer Transkribierung des Sprechens tragen. (4) Damit kommen wir zu einem merkwürdigen Ergebnis: Es liegt in der Konsequenz einer medienphilosophischen Reflexion der Stimme, den Mediencharakter der Stimme zu relativieren. Doch kraft dieser Relativierung ist es nun die Schrift, die als Medium der Sprache hervortritt.43 Was bedeutet eine solche Verschiebung? Ist das ‚Äußerliche‘, das wir mit dem methodologischen Ansatz der Heteronomie auch für die Stimme beanspruchen, gar nicht die Sprache, sondern die Schrift, also wiederum ein anderes Medium? Kann dann vom Medium des Lautes sinnvoll – und auch in trivialer Weise – nur (noch) gesprochen werden, wenn die Stimme dabei Geschriebenes zur Verlautbarung bringt? Die Stimme also zum Medium der Performanz eines schriftlichen Ausdrucks wird? Und sich damit, in Anlehnung an Wimmer (2002, S. 104), „die Sprache in die Stimme eingeschrieben hat“? Und was heißt dies für die Idee eines Einzelmediums, welche doch zur organisierenden Struktur des vorliegenden Bandes wird? Gesetzt den Fall, die Nicht-Souveränität des Mediums liegt gar nicht darin, ein Außerhalb des Mediums im Sinne von etwas Geistigem, Immateriellem, Informationellem zu übertragen und zu vermitteln, sondern schlicht darin, ‚ein anderes Medium‘ zu verkörpern, sodass also das ‚Außerhalb des Mediums‘ tatsächlich und immer nur: ein anderes Medium wäre? Gibt es ‚die Sprache‘ also immer nur als lautlich, schriftlich, telefonisch, elektronisch usw. verkörperte Sprache? Führt uns eine medienphilosophische Betrachtung der Sprache auf die Einsicht, 42 43

Wir haben diese Perspektive an anderer Stelle als ein Zwei-Welten-Modell gekennzeichnet. Vgl. dazu auch den Beitrag von Christian Stetter in dem vorliegenden Band.

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dass ‚die Sprache‘ eine begriffliche, theoretische Entität ist und dass es also ‚die‘ Sprache als Phänomen gar nicht gibt? Oder, methodologisch(er) gefasst: Führt uns eine medienphilosophisch inspirierte Reflexion zu der Einsicht, dass Phänomene reicher sind als Begriffe und dass zu diesen Begriffen eben auch der Begriff ‚Medium‘ gehört?

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Sybille Krämer

Reinhard Margreiter

MEDIENPHILOSOPHIE DES BUCHDRUCKS

1. Medien, Buchdruck und Philosophie. Typographie im intermedialen Kontext. „Sein“ als Medialität. Eine „Medienphilosophie des Buchdrucks“ existiert bislang nur in fragmentarischen Gestalten, in den Reflexionsmomenten, welche die medientheoretischen und medienwissenschaftlichen Untersuchungen begleiten oder als beiläufige Fragen von der Fachphilosophie hergestellt werden. Es geht um die philosophische Behandlung eines Einzelmediums, das historisch und systematisch in den Kontext einer Mehrzahl von Medien – einer diachronen Abfolge von Leitmedien (Oralität und Chirographie im Vorfeld, Neue Medien und Telematik im Nachfeld) sowie einer synchronen Medienkonstellation – einzuordnen ist. Typographie steht also in – und ist nur verständlich aus – einem intermedialen Kontext, und daher ist Buchdruckphilosophie unter eine allgemeine Medienphilosophie zu subsumieren. Sie hat die Aufgabe, analoge Strukturen von allgemeiner und typographischer Medialität – also eine differentia specifica – herauszuarbeiten. Dem Begriff der Analogie (= Gleichzeitigkeit von Identität und Differenz) Rechnung tragend, müssen neben Parallelen und Ähnlichkeiten auch Unterschiede und Abweichungen phänomenologisch entdeckt, begrifflich fixiert, kategorial geordnet, systematisch dargestellt und auf ihre Möglichkeitsbedingungen hin reflektiert werden. Wer von Buchdruck- und Medienphilosophie spricht, hat einzuräumen, dass im allgemeinen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch zwar einigermaßen klare Vorstellungen darüber herrschen, was unter Buchdruck zu verstehen sei – Gutenbergs Erfindung, mit beweglichen Lettern Druckwerke zu erzeugen –, dass es aber keine allgemein verbindlichen Definitionen von „Medium“ und „Philosophie“ gibt. Ich verwende die beiden Ausdrücke wie folgt: Der Begriff des Mediums wird (a) in einem weiten, (b) in einem engen Sinn gebraucht: (a) meint jede Art von Vermittlung zwischen Mensch und Realität, beginnt schon mit unseren fünf Sinnen und umfasst auch die Welt der Technik und Artefakte, z. B. Werkzeuge und Waffen, Wohnung und Kleidung, Fortbewegungsmittel und Geld; (b) hingegen meint körperlich-organische sowie apparativ-technische Funktionen und Leistungen, über die wir inhaltliche Botschaften speichern und mitteilen: also Informations- und Kommunikationsmedien. Es sind dies neben Mimik/Gestik und Oralität (als noch körperlich-organischen Medien) die „äußerlichen“ – aus der Unmittelbarkeit von Leiblichkeit und lebensweltlicher Situation ausgelagerten – Technologien von Schrift und Buchdruck, Film und Fernsehen, Computer und Internet. De-

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ren systematische Beschreibung und Erklärung, sofern dabei eine kohärente und konsistente Begrifflichkeit verwendet wird, bezeichne ich als Medientheorie. Wird diese auf Begründetheit, Stringenz und Kohärenz hin eigens reflektiert, entsteht philosophische Qualität im Sinne eines Grundlagen- und Methodendiskurses: also Medienphilosophie. Unter diese fällt aber auch die Untersuchung historischer Philosophie- und Wissenschaftskonzeptionen bezüglich deren medialer Voraussetzungen und Implikationen. Nun wird allerdings der Begriff Philosophie – in landläufiger Rede, in den einzelwissenschaftlichen Sondersprachen und sogar unter Fachphilosophen – keineswegs einheitlich verwendet, was in der Diskussion über die legitime Gestalt, die Möglichkeiten und Grenzen einer Medienphilosophie z. T. zu Missverständnissen und jedenfalls zu differierenden Urteilen führt (vgl. Münker et al. 2003). Oft finden wir die Ausdrücke Medientheorie und Medienphilosophie synonym gebraucht, da Theorie und Metatheorie, Begriffsverwendung und -reflexion in vielen einschlägigen Texten eng miteinander verschränkt und nur rekonstruktiv voneinander zu trennen sind. Doch gibt es ein Set von Fragestellungen und Problemfiguren, die gewissermaßen diskursübergreifend als „philosophisch“ gelten dürfen, da sie sich leitmotivisch durch jene von der Antike bis zur Gegenwart reichende Tradition hinziehen, die gemeinhin unter dem Titel „Philosophie“ firmiert. Es handelt sich um Fragen z. B. nach der Begründetheit und logischen Verknüpfung von Aussagen oder nach dem Verhältnis von Realität und Intellekt, von Erfahrung und Spekulation, von Denken und Handeln. Wer die Medienthematik mit derartigen Fragen verbindet, betreibt – in jeweils näher zu bestimmender und zu qualifizierender Weise – Medienphilosophie. Einer der Streitpunkte in der Diskussion um ein tragbares Konzept von Medienphilosophie besteht darin, ob diese immanent aus dem Begriff des Mediums und/oder der Medienpraxis zu entwickeln sei – ohne Rücksicht auf den fachphilosophischen Diskurs –, oder ob von Letzterem her fachphilosophische Fragen an das Thema Medien gestellt werden sollen. Bei der ersten Option lässt sich von „naturwüchsiger“ oder „genuiner“ Medienphilosophie sprechen, bei der zweiten Option von einer Bereichs- oder Bindestrich-Philosophie. Beide Ansätze haben m. E. eine gewisse Legitimität und können einander ergänzen. Darüber hinaus sehe ich aber noch eine weitere Möglichkeit von Medienphilosophie, die darin besteht, diese als zeitgemäße Form einer prima philosophia zu betreiben (vgl. Margreiter 2003). Ich will diese dritte Option kurz erläutern. Zentrales Motiv der philosophischen Tradition ist – hier gebe ich Heidegger Recht – das Problem des „Seins“. Sein ist ein Relationsbegriff, der die Dimensionen Wirklichkeit, Denken und Handeln komprimiert und kurzschließt, jedoch andererseits die Ausdifferenzierung in Disziplinen wie Ontologie, Logik, Ethik usw. erlaubt. Die Disziplinen bleiben aber an den Grundbegriff des Seins – d. h. an dessen Relationalität (= an das identisch-differente „Grundverhältnis“ besagter Dimensionen) – rückgebunden, wobei diese Rückbindung stets neu zu erinnern bzw. herzustellen ist. Das „Grundverhältnis“ erfährt im Verlauf der Philosophiegeschichte eine Reihe von Reaktualisierungen und Reformulierungen. Mit den Änderungen von Kultur und Lebenswelt ändern sich Wahrnehmungs-, Sprach- und Denkgewohnheiten, weshalb es keine statische philosophia perennis gibt und geben kann, wohl aber eine

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Kontinuität im Gestus des Fragens. So handelt es sich beim Vernunft- und Geistbegriff (nous/logos) um eine epochale Entdeckung der Griechen, die bis heute mehrmals grundlegend uminterpretiert wurde. Der „linguistic turn“ transformierte den Geistbegriff in die Sprache, während ihn der „semiotic turn“ oder „symbolic turn“ auf die Ebene der Zeichen/Symbole verlagerte. Der – heute in Ansätzen beobachtbare – „media turn“ schließlich setzt Sein mit Medialität gleich. Die Thesen, dass Wirklichkeit über Denken, Denken über Sprache, Sprache über Zeichen und Zeichen über Medien vermittelt seien, bilden eine Kette philosophischer Entdeckungen, die – aufeinander aufbauend – „Sein“ als Grundverhältnis zunehmend adäquater in den Blick bringen. Der jüngste dieser „turns“, der media turn (vgl. Weber 1999), kommt zu der Einsicht, dass wir über Medien – sinnlich-körperliche und technisch-apparative Medien – wahrnehmen und fühlen, denken und urteilen, sprechen und symbolisieren, dass wir also unter medialen Bedingungen Realität erfahren und mit Realität umgehen. Medialität, auch wenn sie in ihren konkreten Formen und Gestalten historisch wandelbar ist, erscheint als überzeitliche Grundverfassung menschlichen Daseins (mit Heidegger zu sprechen: als Existenzial). Die Formel „Sein = Medialität“ ist eine neue – und, wie all ihre geschichtlichen Vorgänger, vorläufige – Gestalt der prima philosophia. Diese bezeichnet eine formale Grundorientierung, die das „Grundverhältnis“ von Wirklichkeit, Denken und Handeln fokussiert. Solch formale Überlegungen sind, sollen sie nicht „leer“ bleiben, stets mit Inhalten zu verknüpfen (beim „media turn“ heißt das: mit Untersuchungen darüber, wie Medien Wirklichkeit, Denken und Handeln bedingen). Welche konkreten Medien zu welchen Zeiten und in welcher Weise wirksam sind, ist Thema „historischer“ und „regionaler“ Arbeiten. Erst gemeinsam mit solch „sekundären“ (= inhaltlichen) Untersuchungen machen die „primären“ (= formalen) Überlegungen überhaupt Sinn (d. h. die hier gebrauchten Bezeichnungen „primär“ und „sekundär“ stehen zueinander in keinem hierarchischen Verhältnis und sind nicht wertend gemeint). Ein derart „sekundäres“ Thema ist der Buchdruck, jene vom frühkapitalistischen Europa ausgehende, vom 15. bis ins 20. Jahrhundert als „Leitmedium“ fungierende Medientechnologie, die den neuzeitlich-europäischen Kulturtypus erheblich mitgeformt hat – Gewohnheiten, Selbstverständlichkeiten, Erwartungen und Utopien – und heute, da der multimediale und vernetzte Computer zum Leitmedium wurde, zwar keineswegs „tot“ ist, aber in der nunmehrigen Medienkonstellation eine veränderte (und offenkundig verminderte) Rolle spielt.

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2. Typographische Prägnanz. Neuzeitliche Philosophie und Wissenschaft als Unternehmen des Buchdrucks. Von besonderem Interesse für eine philosophische und wissenschaftshistorische Betrachtung des Buchdrucks ist die These, die europäisch-neuzeitliche Philosophie und Wissenschaft sei durch die Technik der Typographie und deren soziale und kulturelle Konsequenzen entscheidend geprägt und in gewisser Weise erst ermöglicht worden. Nur im Hinblick auf die materiellen (= technischen und kulturellen/sozialen/politischen/ ökonomischen) Bedingungen des Buchdrucks ließen sich – so die Folgerung – begriffliche, theoretische und methodische Grundentscheidungen des neuzeitlich-modernen Denkens verstehen. Die These klingt auf Anhieb spekulativ, kann aber durch umfangreiches Beobachtungsmaterial empirisch erhärtet werden. Die rationalistische und empiristische Philosophie seit dem 17. Jahrhundert, insbesondere die Systemphilosophie eines Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant und Hegel ist bei näherer Betrachtung, wie in vielerlei Hinsicht gezeigt werden kann, ohne Buchdruck kaum denkbar. Es handelt sich um einen Typus von Philosophie, der entscheidend von der antiken, mittelalterlichen und Renaissancephilosophie abweicht und Maßstäbe an Wahrheit und Erkenntnis heranträgt, die vordem unbekannt oder nur ansatzweise geläufig waren. Zu diesen Neuerungen, die eine – der Begriff wird noch zu erläutern sein – „typographische Prägnanz“ verraten, gehört das kartesische clare et distincte als methodische Grundforderung sowie das auf Vollständigkeit, Übersichtlichkeit, Hierarchie und logische Stringenz gerichtete neuzeitliche Theoriestreben. Weiter gehört dazu eine Synthese von radikalisierter Abstraktion und „gezähmter“, an drucktechnischen Bildern orientierter Anschaulichkeit. Auch kommt es zu einer neuen, durch systematische (Selbst-)Reflexion ausgewiesenen Sach-, Informations- und Autor-Identität (Stichwort: Subjektivität). Parallel zur Entwicklung der Zentralperspektive in der Malerei erfolgt eine Umschichtung der bislang tradierten, d. h. unter oralen und chirographischen Bedingungen entwickelten Ordnung und Bewertung der Sinne. Es kommt zu einer Verengung der Sinnlichkeit – sowie, weiterführend, der gesamten Intellektualität – und zu einem Vorrang des mathematisch präzisierten Gesichtssinns (Stichwort: Visualisierung). Für die aufstrebenden (Natur-)Wissenschaften fungiert der neuzeitlich-typographische Typus von Philosophie als Methoden leitende und Grundlagen klärende Wissenschaftstheorie, die normativ festlegt, wie „richtig“ zu denken, was „streng“ unter Wissenschaft zu verstehen und wie diese zu betreiben sei. Der Unterschied zwischen Philosophie/Wissenschaft vor und nach Erfindung des Buchdrucks wird deutlich, wenn wir auf Antike und Mittelalter zurück blicken. Eine mythenfreie Wissenschaft und Philosophie, die logisch argumentiert und sich – in einem zweiten Schritt – mit möglichst vorurteilsloser Empirie verbindet, gilt gemeinhin als „Erfindung“ der Griechen, als deren singuläre, von keiner anderen Kultur in vergleichbarer Weise erbrachte Leistung. In ihrem griechischen Ursprung sind Philosophie

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und Wissenschaft ein und dasselbe, da es um ein identisches Anliegen geht: den Versuch einer Trennung von episteme und doxa, von wirklichem, überprüfbarem Wissen und bloßem Meinen/Glauben. Um episteme zu erreichen, postuliert man eine Methode, die zuerst (in der Vorsokratik und bei Platon) auf einer rein spekulativen Ebene gesucht und später (bei Aristoteles und im Hellenismus) auf empirisches Terrain ausgedehnt wird. Durch Vertiefung in empirische Stofffülle verselbstständigen sich die Einzelwissenschaften, sodass die Diskurse „Wissenschaft(en) und Philosophie“ auseinander treten. Allerdings ist bis heute ein ständiges Spiel von Sich-Entfernen und neuerlichem Sich-Nähern zu beobachten. Dabei wird die aristotelische Idee einer prima philosophia (= die Reflexion darüber, was jeder Erfahrung und jedem Denken als Voraussetzung zugrunde liege) mehrfach verworfen, wieder aufgegriffen und unterschiedlich konzeptualisiert. Konventionelle Deutungsversuche des griechischen Schritts „vom Mythos zum Logos“ begnügen sich mit einer bloßen Dass-Erklärung, mit einer Bezugnahme auf die angebliche Genialität der Griechen oder mit sozioökonomischen Erklärungen, die richtig sein mögen, aber unvollständig sind. Der Altphilologe Eric A. HAVELOCK macht hingegen seit den 1960er Jahren – in einer Reihe einschlägiger Arbeiten über Homer, Hesiod, die Vorsokratiker und Platon (z. B. Havelock 1982) – den entscheidenden, bislang ausgeblendeten Faktor namhaft: die Mediensituation im antiken Griechenland. Havelock weist nach, dass das auf vierundzwanzig Lautzeichen beschränkte und erstmals vollvokalische griechische Alphabet eine Kulturrevolution und einen Mentalitätsbruch auslöste, die Philosophie und Wissenschaft entstehen ließen. Die Schrift – sie bedeutet erstmals Auslagerung von Wissen aus dem Körper und aus der konkreten lebensweltlichen Situation des Sprechens/Hörens – ermöglicht u. a. eine enorme Quantifizierung des Wissens, dessen Systematisierung, Selbst-Identität und genauere Abrufbarkeit, die Distanznahme des Schreibers/Lesers gegenüber dem Text und damit EntEmotionalisierung, Dekontextualisierung und Kritik. Abstraktes, begrifflich-theoretisches Denken – das im Kontext der Oralität nur in marginalen Ansätzen (z. B. Weisheitssprüche) existiert – sei, so Havelock, erst durch eine schnell und leicht lernbare und verwendbare Schrift entfaltbar geworden. Es handelt sich um mediale Errungenschaften, die später durch den Buchdruck gesteigert und verstärkt werden, allerdings in einer Radikalität und Intensität, dass von einem „Quantensprung“ – also einer qualitativen Änderung der Medialität – gesprochen werden kann. Der Buchdruck ist mehr als eine bloß technisch verbesserte und beschleunigte Schrift. Das serienweise identisch produzierte Buch und die typographische Buchseite ermöglichen ein qualitativ neues Lesen, dessen Korrelate die moderne Subjektund Methodengewissheit sind, aber auch der Systemgedanke (= die z. B. schon durch Inhaltsverzeichnisse ausgedrückte Übersichtlichkeit und hierarchische Organisation von Materialfülle) sowie das Vertrauen auf abstrakte Gesetzmäßigkeiten und universelle Regeln in Sein und Denken. Wir haben es mit Methodenansprüchen und Denkfiguren zu tun, die vor dem Buchdruck noch nicht (oder nur in sehr bescheidenen Ansätzen) nachzuweisen sind, mit und nach der gutenbergschen Erfindung aber zunehmend machtvoller in Erscheinung treten und – aus einem zeitlichen Miteinander wäre noch

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keine Kausalabhängigkeit zu schließen – strukturell in vielerlei Hinsicht der Buchdrucktechnik entsprechen. Diese Entsprechungen müssen keineswegs monokausal gedeutet werden, sie stellen eher ein komplexes Feld wechselseitiger Abhängigkeiten und Stimulierungen dar. Es ist somit nicht spekulative Willkür, sondern eine empirisch gut gestützte These, wenn wir davon ausgehen, Entstehung und erste Schritte von Philosophie und Wissenschaften seien an das chirographische Medium, ihre neuzeitliche Weiterentwicklung und Veränderung hingegen an den Buchdruck gebunden. Bestimmte Leitmedien und Medienkonstellationen sind offenkundig für neue Diskurse bzw. für Paradigmenwechsel verantwortlich. Eine orale Kultur bringt nachweislich Priester, Sänger und Weise hervor, aber – wie die ethnologische Medienforschung zeigt – keine Philosophen und Wissenschaftler. Oralität und abstraktes, begrifflich-theoretisches Denken schließen einander weitgehend aus. Eine chirographische Kultur hingegen lässt zwar Philosophie und Wissenschaft zu, diese erreichen aber nicht die Standards an Systematik und Präzision, die in einer typographischen Kultur möglich und verbindlich werden. (Wobei anzumerken ist, dass jede Medienrevolution neben Fortschritten auch Rückschritte impliziert. Für solche Rückschritte hat bereits die Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts ein feines Ohr entwickelt. Die Grenzen eines Mediums erweisen sich immer auch – was freilich weder hermetisch noch deterministisch zu verstehen ist – als die Grenzen einer Welt. Und Husserls, Heideggers und Adornos Einwände gegen die Abstraktionswut, Lebensferne und Entfremdung des Mainstreams der modernen Philosophie und Wissenschaft lassen sich als Kritik am typographischen Medium lesen.) Im Zusammenhang damit, dass Medien Denktypen konstituieren, spricht Walter J. ONG von „Noetik“ (Ong 1982). Zielführender erscheint mir, im Anschluss an den cassirerschen Begriff der „symbolischen Prägnanz“ (Cassirer 1929, S. 235) den Begriff mediale Prägnanz in die Diskussion zu bringen. Gemeint ist die jeweilige, unverwechselbare Art und Weise, wie eine bestimmte Medialität unsere Wahrnehmung und deren – nicht nur kognitive, sondern auch emotive und volitive – Verarbeitung in spezifische, unverwechselbare Bahnen lenkt. Solche Prägnanz bezieht sich auf eine jeweilige – medienbedingte – fundamentale Weichenstellung für die Erfahrung von „Sein“ bzw. des Grundverhältnisses von Wirklichkeit, Denken und Handeln. Mediale Prägnanz konstituiert ein Paradigma, ein durch ein Leitmedium dominiertes System mehrerer neben-, mitund gegeneinander wirkender Medien. Hinsichtlich konkreter Leitmedien geht es dann um mimisch-gestische, oral-auditive, literale bzw. chirographische, typographische und telematische Prägnanz. Jede mediale Prägnanz scheint – gerade im Zusammenhang mit ihrer Konstitutionsleistung – auch Nährboden für übertriebene und unrealistische Vorstellungen zu sein. Reflexionen auf ein Medium beziehen sich auf reale Anwendungsmöglichkeiten, produzieren nicht selten aber auch einen Interpretationsüberschuss. Man kann dann von einer Medien-Ideologie sprechen als einem Set von Hoffnungen, Utopien und Illusionen (vgl. Giesecke 2002). Als Beispiel dafür mag die „Ideologie des Buches“ dienen. Das (zuerst handgeschriebene, später gedruckte) Buch – der spätantike Kodex, dessen Blätter gebunden und zwischen zwei Deckel platziert werden – ist eine Gestalt der Speiche-

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rung von Information, die dazu verführt, nicht nur an eine hohe Konzentration, sondern auch an eine Totalität, Abgeschlossenheit und Endgültigkeit des Wissens zu glauben. Die „heiligen“ Bücher der so genannten Buch- und Offenbarungsreligionen repräsentieren den Geist solcher Verführung, der sich im Mittelalter, da Glauben und Wissen eng geführt werden, auch auf Bücher der Magie und der Wissenschaften überträgt. Hans BLUMENBERG hat die vielfältige Kulturwirksamkeit der Buchmetapher in Mittelalter und früher Neuzeit im Einzelnen untersucht (Blumenberg 1981). Im fortgeschrittenen Buchdruckzeitalter (18. und 19. Jahrhundert) kommt es zur Radikalisierung einer bereits chirographisch angelegten Tendenz: zur Hyperbolisierung buchbezogener Erkenntnis- und Wissensideologie. Es ist die von der französischen Aufklärung in Angriff genommene – von Hegel in die deutsche Systemphilosophie übertragene – Idee der Enzyklopädie als der „vollständigen Bibliothek“: die Utopie und Illusion des mehrbändig niedergelegten, abgeschlossenen und nicht mehr revidierbaren Wissens. Beansprucht werden sichere Wissensgrundlagen und -ergebnisse, also eine „Wahrheit“, die der objektiven Beschaffenheit der Welt (das ist die positivistische Variante) und/oder einer übergeschichtlich legitimierten konstruktiven Gesetzmäßigkeit des denkenden Subjekts (das ist die transzendentalphilosophische Variante) entsprechen soll. Dieser typographisch-enzyklopädische Wissens-, Wissenschafts- und Wahrheitsanspruch wird gegenwärtig – angesichts der durch die Neuen Medien veränderten Wahrnehmungs- und Denkpraxis – weitgehend abgelehnt und zu Recht als Ideologem des verflossenen Gutenberg-Zeitalters betrachtet. Seit Ende des 19. Jahrhunderts registrieren wir eine zunehmend schärfer werdende erkenntnistheoretische Zurückweisung des klassisch-realistischen Anspruchs auf Wahrheit, indem diese – z. B. bei Nietzsche und Mauthner – als Widerspruch in sich selbst dargestellt oder – bei Nelson GOODMAN – zu Gunsten einer pragmatischen Konzeption des „Passens“ beiseite geschoben wird. Versteht man unter „Philosophie“ – wie Norbert BOLZ im Anschluss an Baudrillard – das altväterliche Beharren auf diesem Wahrheitsanspruch, dann bedeuten das Ende der Buchdruckkultur und deren Ablösung durch die Neuen Medien auch „Tod“ und „Ende“ der Philosophie (vgl. Bolz/Nida-Rümelin 1998). Ich halte eine solche Einschätzung für unzutreffend, da Philosophie nicht auf realistisches Wahrheitsstreben einzuengen ist, auch wenn dies historisch eins der zentralen – heute aber weitgehend „abgearbeiteten“ – philosophischen Motive gewesen sein mag. Die Rede vom „Tod“ der Philosophie sollte ersetzt werden durch die Rede von deren tief greifender – durch den Bruch zwischen Typographie und Neuen Medien notwendig gewordener – Revision und Transformation. Unterschiedliche Medien bedingen unterschiedliche Konzeptionen von Wahrheit und Methode, Erkennbarkeit und Wirklichkeit. Indem sich die mediale Verfasstheit einer Kultur und Lebenswelt ändert, ändert sich auch diese Kultur und Lebenswelt selbst und ändert sich das Denken mit all seinen Parametern, Fokussierungen und Ausblendungen, seinen Erwartungen und Hoffnungen, seiner Selbsteinschätzung, seinen Zielen und Methoden. Der offensichtlich lange und von vielen als schmerzlich empfundene (post)moderne Abschied der Philosophie und Wissenschaftstheorie vom klassischen Rationalismus und Positivismus – die Verabschiedung der „Metaerzählungen“, die Relativierung des begrifflich-theoretischen Den-

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kens, die Schwerpunktverschiebung von „harten“ auf „weiche“ Theorien, der pragmatistische und konstruktivistische Grundzug, das anti-kausalistische Interesse für Vernetzung, Kontingenz und rekursive Schleifen: all das steht in der Konsequenz einer neuen, nunmehr telematisch geprägten Medialität. Einer Medienphilosophie des Buchdrucks muss es zum einen um historische Rekonstruktionen – um die Fragen: Was war der Buchdruck? Wie prägte er die vergangene Philosophie und Wissenschaft? – gehen, zum anderen um die aktuelle, systematisch zu beantwortende Frage: Inwieweit wirken die typographischen Denkmuster weiter, welche Metamorphosen vollziehen sie und welche Rolle spielen sie heute und in Zukunft? Der registrierbare Gestaltwandel von Philosophie und Wissenschaften korreliert eng mit einem entsprechenden Medialitätswandel, und diese Korrelation ist medienphilosophisch sowohl zu beschreiben als auch normativ zu bewerten.

3. Materialien zu einer Philosophie des Buchdrucks: McLuhan, Eisenstein, Ong, Kittler, Hartmann, Giesecke Bei den Autoren, die sich bislang um eine Phänomenologie, Analyse und Theorie des Buchdrucks verdient gemacht haben und auf die heute jede Medienphilosophie des Buchdrucks Bezug nehmen muss, handelt es sich vornehmlich um Fachwissenschaftler aus den Disziplinen Sprach-, Literatur- und Geschichtswissenschaft. Medientheoretische und -philosophische Aspekte gehen in ihren Publikationen meist Hand in Hand. Ich nenne im Folgenden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – ein paar Motive und Zielsetzungen, die in den Arbeiten dieser Autoren verfolgt werden und als „Buchdruckphilosopheme“ bzw. als Bausteine für eine künftige Buchdruckphilosophie relevant sein dürften. Dabei fokussiere ich insbesondere die Frage nach einer angemessenen medienwissenschaftlichen Methodologie. Buchdruckphilosophie ist als genetivus obiectivus et subiectivus zu verstehen: zum einen als ein Denken, das sich intentional auf den Gegenstand Buchdruck richtet, und zum anderen als Inbegriff jener Theorien und Philosophien, die historisch Ausdruck und Konsequenz technischer, sozialer und politischer Buchdruck-Bedingungen sind. Beide Perspektiven ergänzen einander und bilden einen hermeneutischen Zirkel, der – sofern ausreichend reflektiert – kein logischer Zirkel ist, sondern eine „Rhemata“ produzierende hermeneutische „Spirale“, die sich durch das Wechselspiel gegenseitig motivierender Empirie und Spekulation auszeichnet. Da heutige Kultur und heutiges Denken zwar noch immer in gewisser Weise, aber keinesfalls mehr ausschließlich im Bannkreis typographischer Prägnanz angesiedelt sind, ergeben sich dieser gegenüber durchaus Möglichkeiten eines Quer- und Weiterdenkens. Gerade von den „Brüchen“ und „Rändern“ eines medialen Paradigmas, von den Übergängen zwischen unterschiedlichen Paradigmen, also von der „Störung“ eines Paradigmas her lässt sich die spezielle

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Gestalt einer Medialität am besten wahrnehmen, untersuchen und beurteilen. Dies ist eine Einsicht, die wir vor allem Marshall MCLUHAN verdanken (McLuhan 1962, 1964), der allgemein als Inaugurator sowohl der Buchdrucktheorie als auch der modernen Medientheorie angesehen wird. Wie kommen, fragt McLuhan, sowohl im typographischen Kontext als auch im Kontext der Neuen Medien Wissen und Erkennen zustande, und wie erfolgt – als deren basale Ebene – Wahrnehmung und ihre Weiterverarbeitung? In welcher Weise kann – insgesamt und unter Einzelaspekten – das Leitmedium einer Epoche als eine Art historisch-relatives Apriori der Wirklichkeits- und Erkenntnisorientierung aufgefasst werden? Welche kulturellen und lebensweltlichen, politischen und militärischen, gesellschaftlichen und religiösen, künstlerischen und wissenschaftlichen Konsequenzen verbinden sich mit einem derartigen Apriori? Welchen Gesamtzusammenhang – im Sinne einer „Galaxis“ (d. h. eines verzweigten Denktypus, einer komplexen Sozialgestalt und Lebensform) – bilden besagte Konsequenzen? Und inwiefern wird der Buchdruck nicht „aus sich selbst“ heraus, sondern vielmehr aus der Optik nachfolgender sowie vorhergehender Medien als eigenständiges Paradigma bewusst, greifbar und analysierbar? Ausgangspunkt für McLuhans Antworten auf diesen Fragenkomplex ist seine Annahme eines epochalen Übergangs von der Typographie zur Elektronik (= ein Begriff, der sich auf die bis ca. 1960 entwickelten Neuen Medien bezieht, aber auch schon wichtige Charakteristika der Telematik antizipiert), eines Übergangs von der „GutenbergGalaxis“ – so seine bekannte Formelprägung – zur „Marconi-Galaxis“. Für McLuhan ist das Buchdruckdenken gekennzeichnet durch konsequentes Streben nach Systematik, kausaler Notwendigkeit, Hierarchie, Eindeutigkeit und Abgeschlossenheit, während die Neuen Medien – die im 19. Jahrhundert mit Rotationspresse, Telegraph, Telefon, Grammophon, Photographie und (Stumm-)Film beginnen und sich im 20. Jahrhundert mit Funk, Radio, Ton- und Farbfilm, Fernsehen und Computer fortsetzen – solche Erwartungen und Ideale zunehmend in Frage stellen. An die Stelle der typographischen Werte und Normen treten freie und kontingente Assoziation, Mehrdeutigkeit, Rekursivität und Offenheit. McLuhan bezeichnet die dem Wirklichkeits- und Handlungsbild der Neuen Medien entsprechende Methode als – der „linearen Methode“ der Typographik entgegen zu setzende – „Mosaikmethode“ und charakterisiert sie ähnlich, wie später DELEUZE/GUATTARI das postmoderne Denken als „rhizomatisches“ Denken erläutert haben (Deleuze/Guattari 1976). Mit einem solchen Wandel der Methode verbindet sich für McLuhan auch eine Revolution in der Ordnung und Bewertung der Sinne. War das chirographische Zeitalter – als Zeitalter des Vortrags, der Rhetorik und des Laut-Lesens – noch stark oral bestimmt und änderte sich dies im typographischen Zeitalter in Richtung einer radikalen und nahezu ausschließlichen Visualisierung, so stelle, meint McLuhan, die Elektronik nunmehr erneut – allerdings technisch ausgelagert (= „sekundär“) – eine multimediale Situation her und verstärke insbesondere die auditive und taktile Dimension der Erfahrung. Eben dadurch würden die visuellen, hierarchischen und begrifflich-theoretischen Normvorstellungen der bisherigen, typographisch geprägten Philosophie und Wissenschaften obsolet.

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Dass ein solcher Wandel und eine solche Umschichtung in den kulturellen Gewohnheiten – z. T. auch in wissenschaftlicher Praxis und philosophischem Diskurs – stattgefunden haben und weiterhin stattfinden, ist kaum zu bestreiten. Poststrukturalistisches und postanalytisches Denken gehen durchaus in diese Richtung. Dennoch ist McLuhans Mosaikmethode, die er auch in seinen eigenen Arbeiten unmittelbar anwendet, in der medientheoretischen Diskussion nach wie vor ein Stein des Anstoßes. In der Tat wirken – wie häufig eingewendet wurde – manche Behauptungen McLuhans allzu spontan, unabgesichert, unsystematisch und sogar, vergleicht man die Textstellen miteinander, widersprüchlich. Ist nun der konzeptionelle Wildwuchs, den wir im Werk McLuhans vorfinden und der streckenweise an postmodernes „anything goes“ erinnert, mittlerweile die einzig übrig gebliebene Möglichkeit, Realität zu denken, oder handelt es sich um einen vermeidbaren Fehlgriff? Ein so formuliertes Entweder-oder ist sicherlich zurückzuweisen. Einerseits müssen wir einräumen, dass McLuhan seine Ablehnung typographischer Maßstäbe allzu rigoros und schematisch vornimmt, andererseits sollten wir den konstitutiv anarchischen und kontingenten Boden der Lebenswelt, auf welchem Theoreme über Wirklichkeit und Erkennen entstehen und auf den sie sich rückbeziehen, in seiner Fragwürdigkeit und Abgründigkeit akzeptieren. Es ist jener Abgrund, den Adorno mit dem Begriff der unaufhebbaren „Negativität“ und Nietzsche mit der Formel des unauslotbaren „Lebens“ umschreibt. Der kartesische Traum von einem fundamentum inconcussum des Wissens scheint historisch ausgeträumt zu sein. Wissenschaftsphilosophen wie Ludwig FLECK oder Oswald SCHWEMMER haben darauf aufmerksam gemacht, auf welch tönernen Füßen das Wissenschafts- und Selbstverständnis der positivistischen und analytischen Wissenschaftstheorie beruht (Schwemmer 1990). Die konkrete Praxis der Wissenschaften ist erheblich spontaner und chaotischer, als ihre (Selbst-)Stilisierung zugibt. Behauptungen wie, man würde stets streng methodisch vorgehen, nur ausreichend geklärte Begriffe verwenden und durchgängig mit bestens begründeten Theorien arbeiten, erweisen sich im Hinblick darauf, wie Wissenschaftler – nicht nur Geistes-, sondern auch Naturwissenschaftler – tatsächlich vorgehen und zu Ergebnissen kommen, als (Selbst-) Missverständnis bzw. uneingelöste und uneinlösbare Programmatik. Entsprechendes gilt für „harte“ bzw. „szientistische“ (Selbst-)Stilisierungen von Philosophie. Daher ist in der Beurteilung der mcluhanschen Mosaikmethode wohl ein Mittelweg von halber Akzeptanz und halber Distanzierung angebracht. Es bleibt jedoch McLuhans Verdienst, das medienwissenschaftliche Methodenproblem klar gesehen und deutlich benannt zu haben. Außerdem liefert sein Werk eine Fülle von Einzelbeobachtungen und spekulativen Optionen, die für eine vergleichsweise systematischer und begründeter vorgehen wollende Medientheorie und -philosophie als Materialsammlung nutzbar bleiben. Jedoch ist zu McLuhans These, alle typographischen Maßstäbe und Ordnungsvorstellungen seien heute ungültig geworden, zweifellos eine klare Gegenposition zu beziehen. Es kann nicht um eine völlige Negation, es muss vielmehr um eine Begrenzung, Einschränkung und Relativierung der „harten“ typographischen Denkmuster gehen. Diese sind weitgehend in „weiche“ Versionen zu transformieren. „Harte“ Philosophie und Wissenschaft ergeben nach wie vor Sinn bei eingeschränkten Fragestellungen

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und Untersuchungen. Sie sind aber nicht Norm, sondern Grenzfall eines insgesamt – angesichts der telematischen Medienbedingungen den Normalfall und das Grundmuster darstellenden – weichen, offenen, assoziativen und pragmatischen Denkens. Aber McLuhan ist schon längst zum Klassiker geworden und nur noch eingeschränkt ein unmittelbarer Referenzautor für die medienphilosophische Diskussion der Gegenwart. Die Historikerin Elizabeth L. EISENSTEIN hat manche Übertreibungen und vorschnelle Generalisierungen McLuhans korrigiert und dennoch – mit theorieskeptischer, streng auf Fakten und Quellen bedachter Haltung – McLuhans zentrale Thesen bestätigt: dass es sich beim medialen Umbruch des 15. und 16. Jahrhunderts um eine wirkliche Revolution handelt, die die Grundmuster des Denkens veränderte, sich insbesondere auf die Entwicklung von Kunst, Religion (Stichwort: Reformation), Wissenschaften und Naturverständnis auswirkte und dennoch in der wissenschaftlichen Community erst ansatzweise zur Kenntnis genommen wird (Eisenstein 1983). Der Literaturwissenschaftler W. J. ONG gibt im 5. Kapitel seines Buches Orality and Literacy einen systematisch gehaltenen Überblick über die bis Anfang der 1980er Jahre erfolgte Buchdruckdiskussion (Ong 1982). Er betont den zu extremer Visualisierung hinführenden typographischen „Sinnenwandel“ und setzt sich insbesondere mit dem buchdruckbezogenen Wandel der Raumvorstellung auseinander. Der typographische Raum, sagt Ong, sei gekennzeichnet durch Betonung der Oberfläche und durch das handlungsleitende Motiv, ihn durch Buchstaben, Zahlen und (Druck-) Bilder zu gestalten. Die Buch(druck)seite gebe das Vorbild ab für die paradigmatische neuzeitlich-moderne Auffassung von Raum als homogener, technisch manipulierbarer und beherrschbarer Projektionsfläche. Für den „materialistisch“ argumentierenden Literaturwissenschaftler Friedrich KITTLER situieren sich im „Aufschreibesystem 1800“ Höhepunkt und Vollendung in der Entwicklung des Buchdruckdenkens (Kittler 1995). Kittlers „Materialismus“ verbindet medientechnologische, politisch-soziologische und psychoanalytische Perspektiven, mit denen er ein unkonventionelles Bild jener Epoche zeichnet, für die sich ältere Etikettierungen wie „Deutsche Klassik“, „Romantik“ und „humboldtsche Bildungsidee“ eingebürgert haben. Zu keinem anderen Zeitpunkt – weder davor noch danach – hätten Buchwissen und Buchorientierung eine derart dominante und nahezu ausschließliche Rolle gespielt. In minuziösen literarhistorischen Analysen weist Kittler nach, wie extrem, aber auch in welch feine Verästelungen hinein sich Denken und Empfinden um 1800 auf Typographie beziehen. Und er zeigt, wie die posttypographischen Medien – er spricht vom „Aufschreibesystem 1900“ – diese Fixierung später schrittweise aufgeben. Die Philosophie behandelt Kittler nur am Rande. HEGEL repräsentiert für ihn das Aufschreibesystem 1800, während NIETZSCHES Auseinandersetzung mit dem Thema Schreibmaschine (ebd., S. 293 ff.) dem Aufschreibesystem 1900 zugeordnet wird. Wie sich die Philosophiegeschichte insgesamt medial verstehen und rekonstruieren lässt, demonstriert der Philosoph Frank HARTMANN in seinem bemerkenswerten Buch Medienphilosophie, das eine Reihe neuerer Philosophen und Strömungen unter medienrelevanten Aspekten darstellt (Hartmann 2000). In unserem Zusammenhang sind vor allem die Kapitel 2 und 3 von Interesse, in denen der Autor am Beispiel von DES-

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CARTES und KANT zwei Stufen in der Entwicklung typographiebezogener Subjektivität und Autorschaft herausarbeitet. Rekonstruktionen, wie Hartmann sie präsentiert, im Detail noch zu ergänzen, zu vertiefen und diese Bemühungen auf weitere philosophiehistorische Beispielfälle auszudehnen, zeichnet sich gegenwärtig als ein langwieriges und umfangreiches, aber lohnendes medienphilosophisches Arbeitsprogramm ab. Ein besonders wichtiger Referenzautor für eine gegenwärtige und künftige Buchdruckphilosophie ist schließlich der Literatur-, Sprach- und Kommunikationswissenschaftler Michael GIESECKE, dessen Arbeiten (Giesecke 1994, 2002) inhaltlich und methodisch gleichermaßen interessant sind: inhaltlich, weil sie eine bisher unübertroffene, nahezu unerschöpfliche Materialfülle verarbeiten, und methodisch, weil diese Materialfülle durch die Anwendung eines – an Luhmann orientierten – systemtheoretischen Modells erfolgreich organisiert und in klare, überschaubare Ordnungen gebracht wird. Was der Autor in parallel angelegten, einander ergänzenden Studien – medientechnologisch und soziologisch, ökonomisch und kunstwissenschaftlich, religions- und wissenschaftshistorisch, rezeptionsästhetisch und philosophisch – als „Typographeum“ beschreibt, ergibt ein hochkomplexes, aber durchaus stringentes Bild der frühneuzeitlich-typographischen Kultur und Lebenswelt. Vielfalt und interne Vernetzungen der Gutenberg-Galaxis des 15. und 16. Jahrhunderts kommen synchron und diachron zur Darstellung, und Giesecke verweist immer wieder vergleichend und kontrastierend auf prä- und posttypographische Strukturen sowie auf medienkonstellative Grenzen und Übergänge.

4. Medien- und Buchdruckphilosophie als Anschlussleistung an traditionelle philosophische Disziplinen Wie jeder anderen „regionalen“ Medienphilosophie muss es auch der Buchdruckphilosophie um eine Reihe spezifisch philosophischer Anliegen gehen: (1) um eine Darstellung und Analyse der erkenntnistheoretischen Grundlagen sowie der besonderen Struktur und Funktionalität typographischen Denkens, (2) um eine Klärung der in den Medienwissenschaften und Medientheorien verwendeten Begriffe, (3) um kritische Theorienrekonstruktion, (4) um eine – deskriptiv belehrte, aber naturalistische Fehlschlüsse vermeidende – Normen(re)konstruktion typographischen Handelns, (5) um eine Phänomenologie spezifisch typographischer Wirklichkeitsentwürfe, (6) um Ideologiekritik und (7) um eine – vornehmlich aus gegenwärtiger, d. h. telematischer Perspektive erfolgende – Gesamt-Rückschau auf den „typographischen Menschen“ und die „typographische Kultur“. Die vier berühmten Fragen, die Kant als Kernbestand philosophischen Räsonnierens betrachtet – die drei Fragen nach den Möglichkeiten des Wissens, Glaubens und Hoffens sowie die Frage nach dem Menschen –, sind in dem angeführten Problemkatalog zur Gänze enthalten. Selbstverständlich wird der Problem-

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katalog auch in den Kontext der aktuellen Theoretizismus-Pragmatismus-Debatte (vgl. Sandbothe 2001) zu stellen und diesbezüglich zu diskutieren sein. Der Buchdruckphilosophie geht es sowohl um Exemplifizierungen von Medienphilosophie an einem bestimmten Medium – dem Buchdruck – als auch um spezielle Anschlussleistungen an traditionelle philosophische Disziplinen wie Erkenntnis- und Grundlagentheorie, Begriffsanalyse und Logik, Handlungstheorie und Ethik, Ontologie und Ideologiekritik, Anthropologie und Kulturphilosophie. Es geht um eine Reformulierung und Neufassung dieser Disziplinen unter dem Gesichtspunkt von Medialität bzw. Typographie. Da die genannten Disziplinen von jeher mit unterschiedlichen Methoden und in unterschiedlichen Ordnungen und Kombinationen betrieben werden, ist eine derartige Vielfalt auch für die Medien- und Buchdruckphilosophie einzufordern. Es erscheint daher weder möglich noch sinnvoll, den angeführten Aufgabenkatalog in eine einzige umfassende Konzeption einzugießen und/oder die Durchführung einem Autor zuzumuten. Gefragt sind vielmehr Gleichzeitigkeit und Parallelität unterschiedlicher Konzeptualisierungen und Methoden, eine Arbeitsteilung nicht nur zwischen fachphilosophischen Spezialisten verschiedenster Ausrichtung, sondern auch zwischen Fachphilosophen und philosophierenden Medienwissenschaftlern. Freilich ist bei den Fachphilosophen das Interesse an der Medienthematik derzeit noch eher gering, während szenenbewegte Medientheoretiker allzu oft spekulative Ikarusflüge unternehmen und empirisch arbeitende Medienwissenschaftler zuweilen selbstgenügsam in einem naiven Erkenntnisrealismus befangen bleiben. Von allen Seiten her ist somit Innovations- und Diskussionsbereitschaft erforderlich, wenn über das Thema Medien allgemein und das Thema Buchdruck im Besonderen ein erkenntnisfördernder Diskurs erfolgen soll.

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Reinhard Margreiter

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Obwohl die Photographie nun seit mehr als 150 Jahren existiert, haben ihr Philosophen bisher kaum Beachtung geschenkt. Die wenigen vorliegenden Bemerkungen (denn von Büchern zu sprechen, wäre bereits eine Übertreibung) sind entweder – wie etwa bei Peirce,1 Wittgenstein2 oder Adorno3 – Bemühungen, das neue technische Medium in breiter angelegte philosophische oder kulturkritische Projekte zu integrieren, oder – im Falle von Foucault,4 Derrida,5 Cavell6 oder Deleuze,7 die der Photographie immerhin Aufsätze oder Teile von Büchern gewidmet haben – alles in allem okkasionelle Publikationen. Auch in den Werken Nietzsches,8 Schopenhauers9 oder Diltheys10 nimmt die Photographie einen marginalen Raum ein. Ausnahmen machen allenfalls in der Philosophie eher randständige Theoretiker wie Walter Benjamin,11 Siegfried Kracauer12 oder Roland Barthes13 und – mit explizit philosophischem Anspruch, der bereits im Titel deutlich wird – Friedrich Springorum14 und Vilém Flusser.15 Die beiden Letztgenannten haben in einem Abstand von über 50 Jahren der Philosophie der Photographie jeweils ein Buch gewidmet, wobei beide Projekte unterschiedlicher kaum ausfallen könnten. Diese beiden Bücher sind meiner Kenntnis nach die ein1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

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Vgl. Peirce (2000, Bd. 1, S. 193, 221 f., 249, 341 u. 414; Bd. 2, S. 322). Vgl. Wittgenstein (2001, S. 71, 486, 1012, 1020, 1037, 1043 u. 1057). Vgl. Adorno/Horkheimer (1997), (zur Photographie dort S. 170 f., 186 f. u. 310). Vgl. auch Adorno (1997). Vgl. Foucault (2002). Vgl. Plissart/Derrida (1985), Derrida (2000). Vgl. Cavell (1983). Vgl. den gelegentlichen Verweis auf die Photographie in: Deleuze (1989, 1991). Vgl. Nietzsche (1980, 25 [164], S. 57 f.; 25 [184], S. 63). Vgl. Schopenhauer (1986 Bde. IV, V; Bd. IV, S. 151 f. u. 530). Zum Stereoskop vgl. auch ders. (1972, S. 15). Dazu Crary (1996, S. 25, 78, 81-85, 87-93, 98 u. 142). Vgl. Dilthey (1938, S. 282). Vgl. Benjamin (2002a, b). Auch im Passagenwerk finden sich verstreut Anmerkungen zur Photographie wie auch in weiteren Texten Benjamins. Vgl. dazu allgemein: Krauss, Rolf H. (1998) (dort auch weitere Literaturangaben). Vgl. Kracauer (1971, S. 15 f., 56 ff. u. 62 ff.; 1979). Kracauers Text stammt bereits aus dem Jahr 1927. Vgl. dazu Mülder (1985, S. 72-77 u. 96-98). Von Kracauer stammen drei weitere kürzere Texte zur Photographie, die die Argumentation dieses Aufsatzes wieder aufnehmen. Vgl. insbesondere: Kracauer (1990a, b). Zum Themenkomplex allgemein Barnouw (1994). Vgl. Barthes (1985). Springorum (1930). Flusser (1983).

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zigen, die sich explizit am Entwurf einer Philosophie der Photographie versucht haben. Ob sie diesen Anspruch zu Recht erheben können, steht mehr als nur dahin. Gleichwohl können sie als ein erster Annäherungsversuch herangezogen werden, um dem Entwurf einer Philosophie der Photographie deutlichere Konturen zu verleihen. Eine weitere Präzisierung soll mit Hilfe zweier Theorien erfolgen, die eine begriffliche und philosophische Annäherung an das Phänomen der Photographie über die Photographiegeschichte unternehmen: Walter Benjamins Kleine Geschichte der Photographie und Michel Foucaults diskursanalytische Skizze Die photogene Malerei. Den Abschluss bildet Roland Barthes’ Buch Die helle Kammer, bei dem die Anleihen bei phänomenologischen und semiologischen Begriffen in vermeintlichem Widerspruch zu seiner These stehen, dass die Photographie „nicht in den philosophischen Diskurs überführt werden kann.“16

1. Zwischen Wesensschau und Apokalypse. Friedrich Springorum und Vilém Flussers Bestimmungen einer Philosophie der Photographie Friedrich Springorum, der durch Bildbände insbesondere der Alpenregion bekannt geworden ist, als Theoretiker ansonsten aber nicht in Erscheinung trat, publizierte 1930 ein kleines Buch, das heute nur noch in wenigen Exemplaren existiert, mit dem Titel Der Gegenstand der Photographie. Eine philosophische Studie. Vilém Flussers 53 Jahre später publiziertes Buch Für eine Philosophie der Fotografie hat mit dem Springorums nur den Umfang von knapp 80 Seiten gemeinsam; ansonsten hat sich das philosophische Projekt radikal verändert. Flussers Philosophie der Photographie bestimmt sich im Rahmen von anthropologischen Fragestellungen und eines breit angelegten kulturund medientheoretischen Entwurfs, in dem die Photographie erst vor der Folie von mehreren tausend Jahren Menschheitsgeschichte die ihr gebührende Stellung erhält. Springorum ist hier um ein vielfaches bescheidener und auch der Versuch, eine philosophische Begrifflichkeit zu verwenden und sich um eine begriffliche Klärung des Phänomens der Photographie zu bemühen, ist ihm nicht abzusprechen. Ihm geht es darum, den spezifischen Gegenstand der Photographie herauszuarbeiten, der sich von der menschlichen Wahrnehmung ebenso unterscheiden soll wie von der Malerei und den Bildenden Künsten. So unterscheidet er – bei gleichzeitiger expliziter Ausblendung erkenntnistheoretischer Fragestellungen – zwischen einem visuellen und einem optischen Gegenstand, wobei der zweite nur den optischen Vorgang auf der Netzhaut bezeichnet, während der erste als Gegenstand der Anschauung mit Bewusstsein durchsetzt ist und daher im Gebiet der Ästhetik, der Kritik und der ästhetischen Begriffe angesiedelt werden kann. Unter ästhetischer Vollkommenheit versteht Springorum nun „eine in 16

Barthes (1985, S. 12).

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der Anschauung mögliche Offenbarung des ästhetischen Wesens eines Gegenstandes als seines ästhetischen Wesens.“17 Wir haben es also – und dies durchaus in Einklang mit Theorien der (photographischen) Ästhetik der Zeit18 – mit der Vollkommenheit und der Wesensschau zu tun, die der Kunst und der Photographie als Aufgabe mit auf den Weg gegeben sind. Da „das Reich des geformten visuellen Gegenstandes die gesamte sichtbare ‚schöne‘ Welt“19 ist, wird es Aufgabe sein, zu zeigen, in welcher Weise die vollkommenen Gegenstände der sichtbaren ‚schönen‘ Welt in das Reich der Ästhetik überführt werden können und welche spezifische Funktion der Photographie hierbei zukommt. Springorum geht es dabei um eine „reine Photographie“, die im Gegensatz zu Amateuraufnahmen, die von Springorum als „naive Photographie“20 bezeichnet werden, und zu „Zweckbildern“, d. h. Presse- und Dokumentationsphotographien, das „Wesen“ der Photographie ausmacht und ihr Programm realisiert. Ihre Möglichkeit soll gezeigt werden und mit ihr das Spezifikum eines photographischen Gegenstandes. Die Photographie, so Springorum, hat eine Vorstellung des „Abbildwerten“ und „Abbildmöglichen“ entwickelt, die sowohl durch eine neue – historisch keineswegs selbstverständliche – Einstellung gegenüber der Außenwelt bestimmt ist als auch durch eine Strukturierungsleistung gegenüber dem Mannigfaltigen der Wirklichkeit, das sich auf Grund seiner Fülle dem movens des Aufbewahrens, Zusammenfassens und Deutens widersetzt. „Photographie“, so formuliert er, „ist eine mit Hilfe der Anschauung erreichte, bewußt fixierte und konservierte Abgrenzung gegen das Mannigfaltige.“21 Diese Leistung der Photographie fasse erheblich präziser das Programm der Photographie als die ihr zugeschriebene Abbild- oder Kopierfunktion.22 Allerdings wird der Gegenstand nicht aufgegeben, im Gegenteil: Die Photographie könne durch die „objektive und dienende Rolle“ der Bedeutung des Gegenstandes und der ihm innewohnenden Vollkommenheit eher gerecht werden als die „herrschende und subjektive“ Malerei, die den unübersehbaren Stempel des Künstlers trägt.23 Springorum grenzt die Photographie auch gegen das Auge ab, das sich durch die Fähigkeit zu „simultaner Vielfältigkeit“ auszeichnet, da es das Bild eines jeden Gegenstandes durch die Bewegung des Körpers aus verschiedenen Einzelansichten zusammensetzt und so „spontan mannigfaltig Unverbundenes zu Verbundenem“24 synthetisieren kann. Daher sei der eigentliche Gegenstand der Photographie eben seine Beziehung zum Gegenstand, dessen Schönheit diese wie keine andere Form der Kunst einfangen könne: „Der photographische Gegenstand ist eine Art Relation.“25 Die Photographie zeichnet sich dadurch aus, dass sie wie keine andere Form der Mimesis die Vollkommenheit des Gegenstandes, die sich durch eine Entsprechung von 17 18 19 20 21 22 23 24 25

Springorum (1930, S. 11). Vgl. hierzu die umfassende Darstellung der Debatten des 19. Jahrhunderts in: Stiegler (2001). Springorum (1930, S. 13). Ebd., S. 15. Ebd., S. 21. Vgl. ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 31. Ebd., S. 39. Ebd., S. 80.

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Sein und Sollen26 manifestiert und eine Form voraussetzt, wiederzugeben in der Lage ist: Die Photographie kann „die dem Gegenstande immanenten Schönheiten und Vollkommenheiten [sic !] in stärkerem Maße zur anschaulichen Offenbarung bringen, als das weder durch das Auge noch durch die Malerei geschehen kann.“27 Funktion der Photographie ist in dieser Deutungsperspektive – und unter den spezifischen photographischen Bedingungen von „Transportabilität, Nahraum und Übersetzung in die Fläche“28 – eine anschaulich-intellektuell-formale Strukturierung der Wirklichkeit, die die Idealität des einzelnen Gegenstandes qua Komposition und Form in Bilder und somit in den Bereich der Kultur überführt. Wenn Edwin Hoernle 1931 in der linken Zeitschrift Der Arbeiter-Fotograf den Formalismus der Überlegungen Springorums attackiert,29 so trifft er damit durchaus etwas Richtiges. Springorums „philosophische“ Bestimmung des Gegenstands der Photographie beschränkt sich im Grunde genommen auf eine Postulierung einer photographischen Wesensschau, die die formale Komposition der Photographie mit dem Wesen des Dargestellten gleichsetzt und als geistiges Wesen proklamiert. Eine Philosophie der Photographie, die die Photographie als „treuen Spiegel des reinen Geistes“30 begreift, unterscheidet sich in nichts von den zahlreichen ästhetischen Theorien der Zeit, die über eine ähnliche theoretische Anlage verfügen – außer durch ihren Gegenstand: die Photographie. Sie erscheint in den ästhetischen Debatten des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nur am Rande und in der Regel als Gegenbeispiel zur Bildenden Kunst.31 Vilém Flussers Bestimmungen einer Philosophie der Photographie sind ungleich weitreichender: Für ihn gewinnt das Projekt einer Philosophie der Photographie erst im Kontext der radikalen Veränderungen der gegenwärtigen Gesellschaft seine Konturen, die ihre Wurzeln im Paläolithikum haben. Flusser unterscheidet drei Phasen der Kultur, die – in der gebotenen Abbreviatur – auf die Formeln der Vorgeschichte, der Geschichte und der Nachgeschichte gebracht werden können. Jede der drei kulturellen Grundsatzformeln wird mit unterschiedlichen Repräsentationsformen auf einen medientheoretischen Nenner gebracht: Die Phase der mythisch-magischen Vorgeschichte auf die der Bilder, diejenige der Geschichte auf die Entwicklung der Schrift und schließlich die Phase der Nachgeschichte auf die technischen Bilder, von denen eines – und zugleich das dezisive – die Photographie ist.32 Eine jede Entwicklung der Repräsentationsformen, so will es die Theorie, reagiert auf Krisen der Kultur: In der magischen Ordnung der Bilder wandelt sich die Vorstellung der Welt, die durch diese ermöglicht werden sollte, in Verstellung und schlägt in Vergessen um. Imagination wird zur Halluzination. Die Erfindung der Schrift reagiert auf diese Bildkrise der Vorgeschichte und codiert die 26 27 28 29 30 31 32

Ebd., S. 8. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Hoernle (1931). Springorum (1930, S. 83). Vgl. explizit die Belege in: Plumpe (1990, S. 15-52). Diese Etappen finden sich durchweg in den Texten Flussers. Vgl. zusammenfassend: Flusser (1985, S. 10-15).

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magische Zeit der Bilder in eine lineare der Schriftzeichen um. Aber auch dieser Epoche der Geschichte, die 2000 v. Chr. einsetzt und bis ins 19. Jahrhundert reicht, ist keine Dauer beschieden. Inmitten einer erneuten Kulturkrise, in der Kunst, Wissenschaft und Politik auseinander brechen, tritt nun die Photographie als erste Form der technischen Bilder auf den Plan, und mit ihr verwandelt sich die Ordnung der Geschichte in Nachgeschichte. Der Rang der Photographie kann dabei kaum überschätzt werden: „Die Erfindung der Photographie ist ein ebenso bedeutendes Ereignis wie es die Erfindung der Schrift war.“33 Und bei der Photographie und ihrer philosophischen Analyse geht es um nichts geringeres als um den Kampf zwischen Mensch und Maschine, der aus der Perspektive der Apokalypse betrachtet werden will, denn, so Flusser, nur innerhalb dieses „apokalyptischen Gesichtswinkel(s) [...] gewinnt das Problem der Fotografie die ihm gebührenden Konturen.“34 Mit diesem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Medientheorie gewinnt die Erfindung der Photographie mit einem Mal die Bedeutung einer Krise der Kultur, deren Einsatz die Freiheit des Menschengeschlechts ist. Auf den ersten Blick ist die Photographie nichts anderes als „programmierte Magie“,35 bei der die magische Qualität der Bilder nun auf die Seite des Apparats abgewandert ist, der Bilder des „ewig sich drehenden Gedächtnisses der Gesellschaft“36 produziert. Die Photographie ist für Flusser durch die Struktur des Apparats festgelegt, dessen Programm von vornherein Grenzen und Möglichkeiten bestimmt, und den Photographen, der nicht mehr als ein „Funktionär“ ist, auf ein „Kombinationsspiel mit den Kategorien des Apparats“ reduziert. Da „die Kamera [...] zu Hardware geronnenes kalkulatorisches Denken“37 ist, sind auch Photographien „zu Sachverhalten verschlüsselte Begriffe“ geworden,38 die im Programm bereits festgelegt wurden. Die Anleihen bei der mythischen Vorgeschichte, die nicht nur in der Magie der Bilder, sondern auch in der pirschenden Geste des paläolithischen wie photographischen Jägers fröhliche Urständ feiern, verwandeln sich nun in einen magischen Zirkel des Funktionierens, der die Photographie als Emblem einer Gesellschaft begreift, in der die technischen Bilder als „feedback-Programm“ die Gesellschaft als solche „in Würfel, in Spielsteine, in Funktionäre automatisch umprogrammieren.“39 Geschichte schlägt in Mythos zurück.40 In diesem Kampf des Menschen mit der Maschine, die über alle kulturellen Symbolisationsformen und somit über die Kultur insgesamt entscheidet, ist für die Philosophie eine besondere Aufgabe vorgesehen: Sie „hat die Aufgabe, über diese Möglichkeit der Freiheit [...] in einer von Apparaten beherrschten Welt nachzudenken“41 und die Möglich33 34 35 36 37 38 39 40

41

Ders. (1983, S. 16). Ebd., S. 19; vgl. auch S. 73 f. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd., S. 30. Ebd., S. 44. Ebd., S. 63. Flusser variiert ein geschichtsphilosophisches Schema, das in der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno entworfen wurde und dort für die Photographie nur einen Platz im Rahmen der diagnostizierten Kulturindustrie vorsah. Flusser (1983, S. 74).

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keit, „gegen den Apparat zu spielen“,42 auszuloten. Wie Springorum sieht Flusser die „reine Photographie“, die hier als experimentelle Photographie bestimmt wird, als eigentliche Photographie an, da nur sie es unternimmt, mit dem Apparat gegen diesen zu spielen.43 Flussers Philosophie der Photographie bedient sich philosophischer Versatzstücke und Begriffe, um in kulturanthropologischer Perspektive eine „philosophische“ Menschheitsgeschichte zu erzählen, die vom Paläolithikum bis zur Gegenwart reicht, mehrere Jahrtausende Menschheitsgeschichte auf drei Begriffe reduziert und der Photographie die Aufgabe des Kampfes der Menschen gegen die Maschinen zuweist, der Camerons Terminator und dem Messias redivivus Neo in Matrix deutlich besser zu Gesicht stehen und von ihnen im Übrigen auch effizienter wie subtiler bewältigt werden. Jede der einzelnen Etappen der apokalyptischen Deutung Flussers krankt an einer Hybris des Deutungswillens, die komplexe Phänomene auf simple begriffliche Raster reduziert und beliebig mit mythisch-magisch-computierend-kalkulierenden Schemata operiert. Während Springorum für die Photographie eine überzeitliche Wesensschau proklamiert, skizziert Flusser eine apokalyptische Kurzform der Menschheitsgeschichte, in der die Photographie den Trompetenstoß des Engels übernimmt und die Menschheit zur Umkehr aufruft. Springorums wie Flussers theoretischem Ansatz kommt allerdings durchaus Exemplarität zu. Während Springorum pars pro toto für eine populär-akademisch-schöngeistige ästhetische Theorie steht, die deutlich hinter den theoretischen Vorgaben etwa Kants oder Hegels zurückbleibt, repräsentiert Flusser eine Geste des Philosophierens, die in der Hochzeit der allgemeinen Medientheorie durchaus verbreitet war und bis heute nicht ganz verschwunden ist.

2. Zwischen Aura, heilsamer Entfremdung und dem Fest der androgynen Bilder: Walter Benjamin und Michel Foucault „Die Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen“,44 ja, diejenige Disziplin, deren Aufgabe gerade „in der Erschaffung der Begriffe besteht“.45 So bestimmen Gilles Deleuze und Félix Guattari die Aufgabe der Philosophie. Die beiden bislang dargestellten Ansätze einer Philosophie der Photographie sind allerdings weit davon entfernt, spezifische Begriffe für das kultur- wie medienhistorische Phänomen der Photographie geliefert zu haben. Während Springorum die Begriffe einer überaus traditionellen Ästhetik bemüht, um die Photographie in die Schemata einer essenzi42 43 44 45

Ebd., S. 73. Es mag instruktiv sein zu erfahren, welcher Form der Photographie Flusser eine solche Möglichkeit zuschrieb. Vgl. hierzu: Müller-Pohle (1983), Flusser (1989, bes. S. 17). Deleuze/Guattari (2000, S. 6). Ebd., S. 9.

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alistischen Deutung zu integrieren, jongliert Flusser mit einer ganzen Reihe von philosophischen Begriffen, die einer durchaus bereits vorhandenen theoretischen Differenzierung entkleidet und in Schlagworte einer kultur- und medienkritischen Analyse umfunktioniert werden, in der die Photographie eine Etappe in der jahrtausendealten Menschheitsgeschiche darstellt. Daher soll ein zweiter Anlauf unternommen werden, um eine Philosophie der Photographie zu umreißen. Nun stehen mit Benjamin und Foucault diejenigen Versuche im Mittelpunkt, die ausgehend vom konkreten historischen Material der Photographiegeschichte eine theoretische Bestimmung unternommen haben und anhand einer historischen Reflexion über die Photographie ihre Begriffe entwickeln. Allerdings wird sich auch hier zeigen, dass die Bewertung der verschiedenen Etappen der Photographiegeschichte höchst unterschiedlich ausfällt. Während Benjamin besonders der Frühzeit und der Avantgardephotographie ein besonderes Augenmerk schenkt, die professionelle und piktorialistische Photographie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dagegen scharf kritisiert, ist es genau diese Phase, in der Foucault die spezifische Errungenschaft der Photographie ansiedelt. Walter Benjamins kanonischer Aufsatz Kleine Geschichte der Photographie unternimmt 1931, also inmitten des photographischen wie photographietheoretischen Aufbruchs der Avantgarde (und zeitgleich mit Springorum), eine kritische Analyse des beinahe abgeschlossenen ersten Jahrhunderts der Photographiegeschichte und entwickelt hier, wie auch in weiteren Aufsätzen, wie etwa Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit oder dem zweiten Pariser Brief, eine Reihe von Begriffen, die die Photographietheorie über Jahrzehnte hinweg bestimmen sollten.46 Wir finden hier das „optisch-Unbewußte“ ebenso wie das Konzept der „Aura“ oder das des unbewussten bzw. mit Bewusstsein durchwirkten Raumes, das der „heilsamen Entfremdung“ oder des „Chocks“. Benjamins Text unternimmt, ausgehend vom Phänomen der Photographie, eine kritische Analyse der Kultur des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts und liefert zugleich Begriffe, die zu kulturwissenschaftlichen Standards geworden sind.47 Für Benjamins Deutung der Photographie ist die Erfahrung einer kulturellen Krise konstitutiv. Benjamin erfasst seine eigene historische Situation als Umbruchsituation, zu deren theoretischer Durchdringung die Photographie in seinen Augen entscheidende Hinweise geben kann. Vom Erzähler- bis zum Kunstwerk-Aufsatz ist die Bestimmung der eigenen Gegenwart als Krise – als Krise der Erzählung, der Erfahrung, der Tradition oder der Wahrnehmung – ein durchgängiger Topos der theoretisch-historischen Erkundungen. Im Mittelpunkt seiner Analysen steht dabei durchweg die Ausbildung neuer Kommunikationsmodelle, für die neue Formen der Beziehung zwischen Text und Bild zentral sind, wie sie in der Photographie und im Film, der illustrierten Presse, aber auch in der Montagetechnik des zeitgenössischen Romans erprobt werden. Der Photographie kommt hierbei eine entscheidende Bedeutung zu, da sich, wie Ben46 47

Zur Rezeption vgl. Krauss, Rolf H. (1998, S. 81-118) sowie die Nachweise in: Markner/Weber (1993). Vgl. hierzu exemplarisch die Lektüre des Kunstwerk-Aufsatzes von Hillis Miller (1993).

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jamin in einer Rezension von Gisèle Freunds Buch La Photographie en France au dixneuvième siècle formuliert, die Frage stellt, „ob nicht durch die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe.“48 Benjamin unterscheidet zwischen verschiedenen Phasen der Photographiegeschichte, die man grosso modo in eine Frühzeit, die durch das Konzept der Aura charakterisiert wird, eine Verfallszeit der quasi-industriellen Massenproduktion von Photographien und der so genannten bildmäßigen Photographie der Jahrhundertwende und eine neue Phase, in der die Photographie zu einer größeren Analysierbarkeit und zugleich zu einer möglichen Annäherung an die Wirklichkeit beiträgt, unterteilen kann. Mit der Photographie setzt sich insgesamt ein neues Modell von Kunst durch, das bereits in der Anlage durch die Reproduktion bestimmt ist und ein mythisch-magisches, im Ritual fundiertes ablöst. Dieses hatte noch in der Frühzeit der Photographie Geltung, was von Benjamin insbesondere am Beispiel der – im Übrigen nicht reproduzierbaren – Daguerreotypien ausgeführt wird. Im Gegensatz zu Flusser, der in der Photographie gerade ein neues magisches Bild entstehen sah, das an die mythische Vorgeschichte und den paläolithischen Jäger anknüpfte, stellt für Benjamin die Photographie einen entscheidenden Einschnitt dar, der mit einer auratischen (magischen) Kunst bricht, den Sinn für das Gleichartige schärft, die Distanz zu den Dingen wie auch zu den Kunstwerken aufhebt und eine größere Analysierbarkeit sämtlicher Phänomene ermöglicht. Distanz, Dauer, Ferne, Einmaligkeit – alle diese Bestimmungen werden von Benjamin in seinem Begriff der Aura („einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag“,49 wie es im Photographie-Aufsatz heißt) verdichtet – werden abgelöst durch Nähe, Chock, Reproduzierbarkeit, Gleichartigkeit, Punktualität. Gleichwohl entwirft Benjamins Deutung der Photographiegeschichte kein Verfallstheorem und nimmt auch keine apokalyptische Perspektive ein, sondern versucht vielmehr, mögliche Reaktionsformen auf die Krise der kulturellen Repräsentation zu entwickeln und die eigene historische Situation in Begriffe zu fassen. Der Photographie kommt hierbei eine herausragende Rolle zu, da sie als erste der Kunstwerke im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit auf beiden Seiten des historischen Umbruchs angesiedelt ist und die Photographiegeschichte eine durch die Aura wie eine durch die Reproduktion bestimmte Kunst gleichermaßen umfasst. Benjamins überaus wirkmächtigen Begriffe werden daher explizit am Beispiel der Photographie entwickelt und deuten die Photographie als ein ambivalentes historisches wie philosophisches Phänomen, dessen begriffliche Bestimmung der historischen Veränderung des Mediums wie der Wahrnehmung Rechnung zu tragen hat und dabei auch sozialhistorische Fragen nicht ausklammert. Benjamins Theorie der Photographie ist gleichsam das Positiv der radikal pessimistischen Deutung, die Horkheimer und Adorno im Kulturindustriekapitel von Dialektik der Aufklärung entworfen haben, und das durchaus Parallelen zur apokalyptischen Perspektive Flussers aufweist.50 So ist die in der Werbung verwendbare Pho48 49 50

Benjamin (1972, S. 542). Benjamin (2002a, S. 309). Der Aura-Begriff kann hier nicht in der gebotenen Differenzierung dargestellt werden. Vgl. dazu die umfassende Darstellung bei Stoessl (1983) und Fürnkäs (2000). Eine Zwischenposition bezieht Siegfried Kracauer in seinen frühen Texten zur Photographie. In seinem letzten, postum erschienenen Buch Geschichte – Vor den letzten Dingen kehrt er aller-

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tographie für Horkheimer und Adorno Zeichen des „Reklamecharakters der Kultur“, deren deutlichster Ausdruck der „Montagecharakter der Kulturindustrie“ ist, in der Photographie und Information, Wort und Bild gleichermaßen zu ablösbaren und ihrem Sinnzusammenhang entfremdeten Einzelmomenten werden, die einzig auf die „Überwältigung des als zerstreut oder widerstrebend vorgestellten Kunden“ zielen: „Technik wird zur Psychotechnik, zum Verfahren der Menschenbehandlung“.51 Michel Foucault dagegen konstatiert in einem Text, der in durchaus programmatischer Weise eine Art Diskursgeschichte der Photographie entwirft, für die bei Benjamin karge Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der Jahrhundertwende ein Bilderfest.52 Sein Befund und seine Deutung sind dabei durchaus überraschend, beobachten sie doch weder, wie man bei ihm hätte vermuten können, Strukturen der Repräsentation noch Dispositive der Macht. Vielmehr konstatiert Foucault für die Zeit zwischen 1860 und 188053 – also genau für diejenige Phase der Photographiegeschichte, die Benjamin äußerst kritisch beurteilt – eine „neue Begeisterung für Bilder“. Was ihn offensichtlich an der Photographie dieser Zeit nicht nur interessiert, sondern sogar fasziniert, ist der fließende Übergang zwischen Malerei und Photographie oder genauer die Tatsache, dass durch die Photographie das gesamte Ensemble des Regimes der Bilder in Bewegung geraten ist. Foucault beobachtet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „Freiheit der Übertragung, der Verschiebung, der Transformationen, der Ähnlichkeiten und des Anscheins, der Reproduktion, der Verdoppelung und der Fälschung.“54 Auch nicht die fraglos zu diagnostizierende diskursive Abgrenzung der Malerei von der Photographie, von der zahlreiche ästhetische Texte des 19. Jahrhunderts beredt Zeugnis ablegen, ist für ihn entscheidend, sondern vielmehr der Übergang, die Grenzüberschreitung, die Transgression zwischen Malerei und Photographie. Und so nimmt es kaum Wunder, dass auch die von ihm verwendeten Metaphern alsbald neben der Wanderung, der Verkleidung, Verschiebung und Verkehrung auch den Schmuggler ins Spiel bringen. Es sind die Schmuggler, die mehr oder weniger heimlich mit Photographien im Gepäck das Reich der Malerei betreten und von dort mit weiteren geschmuggelten Bildern in das der Photographie zurückkehren, die für Foucault den visuellen „Spielen des 19. Jahrhunderts“ ihre Würze gegeben haben. Was ihn fasziniert, sind die, so seine Formulierung, „androgynen Bilder“, die „schönen Hermaphroditen aus Klischee [gemeint ist der photographische Abzug, B.S.] und Leinwand“.55 Diese Interferenz zwi-

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dings seine Theorie vollständig um und kommt zu einer nahezu entgegengesetzten Deutung der Photographie. Vgl. die Nachweise in Anm. 12. Adorno/Horkheimer (1997, S. 187). Foucault (2002). Fromanger, dessen Ausstellung Anlass der Publikation Foucaults war, gehörte wie Foucault der G. I. P. an und arbeitete bei seinen Bildern auch mit Motiven, die sich direkt auf sein politisches Engagement bezogen. Vgl. hierzu die Analyse von Holert (2003). Zu Foucault vgl. auch Stiegler (2004). Die zeitliche Zuschreibung wird von Foucault eher offen gehalten: Mal spricht er von der Zeit zwischen 1860 und 1880, dann wiederum führt er Beispiele der Jahrhundertwende an und verweist auch auf Photographen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Foucault (2002, S. 871). Ebd., S. 871.

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schen Malerei und Photographie, die man heute mit dem Begriff der Intermedialität belegen würde, zeigt sich in einer Reihe von Verfahren, die die Grenzen zwischen Malerei und Photographie fließend machen, da Maler Photographien für ihre Arbeiten ebenso zugrunde legen wie Photographen dezidiert auf Techniken der Malerei (Kolorierung, gemalte Hintergründe etc.) zurückgreifen. Was ist aber an diesen – alles in allem eher banalen – Grenzüberschreitungen bemerkenswert? Für Foucault sind sie das sichtbare Zeichen eines Bilderfestes, eines freien Spiels der Bilder, das für das ausgehende 19. Jahrhundert charakteristisch sei, dann aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschwinde. Dies liegt nach Foucault zum einen an der technischen Trennung von Aufnahme und Abzug, der nunmehr an ein Labor delegiert wird, und zum anderen an der Nüchternheit der Kunst, die ein Verschwinden des Bildes, eine bildlose Kunst proklamiert. Während das technische Auseinanderfallen von Aufnahme und Herstellung des Bildes den Photographen der Möglichkeit beraubt, bis zum letzten Moment Herr der Bilder zu bleiben, Einfluss auf ihr Entstehen zu haben und mit ihnen spielen zu können, führt die ästhetische Neuorientierung hin zu einer bildlosen Kunst zu einer Disqualifizierung des Bildes einerseits und zu einem neuen Status der Bilder andererseits: Bilder sind von nun an Zeichen und daher als Sprache zu lesen. Beide Bewegungen führen zu einer Auslieferung an neue politische wie kommerzielle Bilder, über die wir keine Macht mehr haben. Wie sieht der Blick zurück aus? „Wie“, so fragt Foucault, „kann man zu dieser Verrücktheit und zu dieser ungewöhnlichen Freiheit zurückfinden, die zeitgleich mit der Geburt der Photographie aufkam?“56 Das Fest der photographischen Bilder am Ende des 19. Jahrhunderts zeichnet sich dadurch aus, dass es sich allen Zuschreibungen widersetzt, sich den Kategorien der Autorschaft, der Identität und der fest abgegrenzten Unterscheidung der Künste entzieht und vielmehr eine „offene, gemeinschaftliche Praxis des Bildes“ war – eine Praxis „an der gemeinsamen Grenze von Malerei und Photographie“.57 Auf der einen Seite waren diese Bilder dem Realismus verpflichtet und stellten einen „geschärften und ernüchterten Bezug auf das Wirkliche“ und eine „Treue zu den Dingen“ dar; auf der anderen Seite fand parallel dazu eine „Gleitbewegung von Bildern“ statt, die sich um Grenzen nicht kümmerte und ein Wechselspiel der Übertragungen und Verschiebungen inszenierte. Die Photographie ist, so könnte man beide Momente zusammenfassen, ein offenes Spiel von Bildern der Realität, ein freies Spiel mit den Bildern der Realität, die Malern wie Photographen zur Verfügung stehen. Das Fest der Bilder im 19. Jahrhundert inszeniert Wirklichkeit als ein offenes, unbegrenztes und, so zumindest Foucaults Vorstellung, ungeregeltes und ohne Beschränkung frei zugängliches Bilderspiel. Dieses Spiel der Bilder ist durchaus vergleichbar mit dem emphatischen Hinweis Foucaults in Les mots et les choses und einigen Aufsätzen zur Literatur58 auf Schriftsteller, wie etwa Blanchot, Mallarmé, Klossowski oder Roussel, die ein Spiel von Ähnlichkeiten und Simulakren, Verdoppelungen und Identitäten, eines 56 57 58

Ebd., S. 873. Ebd., S. 875. Vgl. hierzu Foucault (2003).

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„être brut du langage“ inszenierten. Die Photographie, so könnte man formulieren, hat es unter gleichen Vorzeichen mit dem „l’être brut de l’image“ zu tun, mit Bildern, die – zumindest in der Anfangszeit – (noch) nicht Zeichen sind. Die Photographie übernimmt dabei die Funktion eines Übertragungsmediums, das eine Vielzahl von Übertragungsoperationen ermöglicht und garantiert (die Übertragung der sichtbaren, dinglichen Wirklichkeit in ein Bild; die Übertragung dieses technischen Bildes in die Kunst; die Übertragung zwischen verschiedenen Bildern untereinander und schließlich die Übertragung von einem individuellen Bild zu einer kollektiven Praxis, bei der die Kategorien von Werk, Autor und der Einheit der Kunstform aufgehoben werden). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind aber „die Festspiele vorbei“. „Die Malerei [...] hat es unternommen, das Bild zu zerstören, freilich nicht, ohne zu behaupten, daß sie sich davon befreien würde. Und griesgrämige Diskurse haben uns gelehrt, daß man den Kreis der Ähnlichkeiten dem Ausschnitt des Zeichens, dem Lauf der Simulakra die Ordnung der Syntagmen, der verrückten Flucht des Imaginären das graue Reich des Symbolischen vorzuziehen habe.“59 An die Stelle des Bildes tritt die Schrift, an die des Übergangs zwischen Malerei und Photographie die des abgegrenzten Reichs der einzelnen Bereiche der Kunst, an die der realitätsgesättigten Bilder die Langeweile eines geordneten Reichs der Zeichen. Erst die Pop-Art und der Hyperrealismus docken wieder „an die endlose Zirkulation der Bilder“ an, nun aber unter einem anderen Vorzeichen. Es handelt sich nun nicht um eine Rückkehr zur bildlichen Darstellung der Wirklichkeit oder um eine Wiederentdeckung des Objekts, sondern um die Wiedergabe eines Bildes. Im Gegensatz zur Photographie des 19. Jahrhunderts, der es durchweg um ein Erkennen des Gegenstands, des Dings in der Gestalt des Bildes ging, fangen die Bilder der PopArt eben nur Bilder, nicht aber die Dinge ein. Im neuen großen Bilderbad sind die Gegenstände bereits aufgelöst, verschwunden.60

59 60

Ebd., S. 875 f. Dies ist zugleich der historische Einsatzpunkt der Bilder Fromangers, deren Ausstellung Anlass des Textes Foucaults war. Fromangers Bilder beruhen wiederum auf einem Verfahren, das Photographie und Malerei miteinander verbindet: Ausgehend von einer beliebigen Photographie, einem Zufallsphoto, das Fromanger in seinem Atelier auf die Leinwand projiziert, beginnt die Arbeit am Bild. Mit Hilfe der reproduzierbaren, zufälligen und dadurch zugleich unersetzlichen Photographie entsteht das, was Foucault „Photo-Diapositiv-Projektion-Malerei“ nennt: eine allmähliche Überarbeitung des Ausgangsbildes, das sich sukzessive in eine „Bilderschleuder“ verwandelt und unaufhörlich weitere Bilder hervorbringt. Das fertige Bild ist dementsprechend auch seinerseits ein Übergang, ein Ort des Transits, des Vorbeiziehens von weiteren Bildern, ein offenes Feld, „un lieu de passage“. Wiederum sind es dieselben Kategorien, denen wir bereits in der Frühzeit der Photographie begegnet sind, nun aber eingetreten in ein Bilderspiel ohne Bezug auf eine andere sichtbare und durch sie abgebildete Realität, in ein Bilderspiel als einzige visuelle Realität, als sichtbare Manifestation des Faktums, dass „alle Welt ins Spiel der Zeichen eintritt und damit zu spielen beginnt.“ Soweit die foucaultsche Skizze der Photographiegeschichte als exemplarische Geschichte des Bildes in der Moderne.

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3. Zwischen Trauma und Emanation des Referenten. Roland Barthes In Roland Barthes’ Die helle Kammer wird die Photographie wiederum zu einer Zäsur in der Geschichte der Menschheit und wiederum zu einer Zäsur mit anderen Vorzeichen: „Das Auftreten der Photographie [...] schafft die Zäsur, die die Geschichte der Welt spaltet.“61 Mit der Photographie, so Barthes, ist die Evidenz der Vergangenheit, die Gewissheit der Geschichte über jeden Zweifel erhaben, da die Photographie „eine Beglaubigung von Präsenz“ darstellt: „Die Photographie ist, wörtlich verstanden, eine Emanation des Referenten. Von einem realen Objekt sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; die Dauer der Übertragung zählt wenig; die Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns. Eine Art Nabelschnur verbindet den Körper des photographischen Gegenstandes mit meinem Blick: das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium, eine Haut, die ich mit diesem oder jenen teile, die einmal photographiert worden ist.“62 Roland Barthes’ überaus emphatische Bestimmung der Photographie, die, bei gleicher Anleihe an die antike Theorie der Sehhäutchen, dereinst Honoré de Balzac noch hatte befürchten lassen, er würde durch die Photographie einen Teil seines körperlichen Wesens einbüßen,63 knüpft unmittelbar an die ersten theoretisch-deskriptiven Bestimmungen des neuen Mediums gegen Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an. „Diese Lichtzeichnungen oder Abdrücke jeder Schattennuancierung der Gegenstände“, schrieb etwa 1839 der Berichterstatter des Hamburger Correspondenten, „sind in sich selbst so vollkommen, wie man sie in einer gewöhnlichen Darstellung durch Pinsel oder Griffel nie erreichen kann; sie sind die Natur und der Gegenstand selbst, soweit es im Bilde möglich ist.“64 Die Photographie als Simulakrum des Gegenstandes, ja, als der Gegenstand selbst, der durch Lichtfäden in das Bild hinübergewandert sei, ist ein Topos der frühen Texte zur Photographie. Umso erstaunlicher ist es, ihm nach fast 150 Jahren Photographie und Photographietheorie ungebrochen bei Barthes wieder zu begegnen. Barthes’ letztes Buch ist keineswegs sein einziger Beitrag zur Photographietheorie. Während in Die helle Kammer, der auch eine Widmung an Sartres Das Imaginäre vorangestellt ist,65 Anleihen an phänomenologische Termini dominieren, entwerfen einige kürzere Texte66 – und hier vor allem die beiden Aufsätze Le message photographi61 62 63 64

65 66

Barthes (1985, S. 97). Ebd., S. 90 f. Vgl. dazu Nadar (1979, S. 978); Krauss, Rosalind (1998). [Hamburger] Correspondent, 29.11.1839, zit. nach: Kempe (1976, S. 12 f.). Weitere Dokumente zur Geschichte der Daguerreotypie finden sich in den Ausstellungskatalogen: Silber und Salz, Köln/Heidelberg: Edition Braus, und In unnachahmlicher Treue, Köln 1979; sowie in: Baier (1980). Sartre wird im Übrigen – mit explizitem Bezug auf die Photographie – auch an einer Stelle zitiert; vgl. Barthes (1985, S. 28 f.). Vgl. etwa den Abschnitt über Schockphotos: Barthes (1993a), sowie die beiden Interviews in: ders. (2002, S. 380-389).

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que67 von 1961 und Rhétorique de l’image68 von 1964 – eine zeichentheoretische Theorie der Photographie, die explizit an semiotische bzw. semiologische Theorien anknüpfen.69 Barthes assoziiert dabei in durchaus überraschender Weise eine zeichentheoretische Deutung – also gerade auf dem Boden jenes Reichs der Zeichen, das nach Foucault das Ende des Bilderfests der Photographie einläutet – und die ersten, noch theoretisch weitgehend ungebrochenen und tastenden Deutungen der Photographie, verbindet Zeichentheorie und eine möglichst unmittelbare persönliche Wahrnehmung und Erfahrung. In den frühen Texten erscheint die Photographie als eine „message sans code“,70 die sich eben durch diese besondere Zeichenstruktur einer jeden Beschreibung entzieht, da diese die Photographien wiederum mit einer „message connoté“ versehen und ins Reich der Signifikation heimholen würde. „Heißt das, daß eine reine Denotation, ein Diesseits der Sprache möglich sei? Wenn es existiert, so mag dies vielleicht nicht auf der Ebene dessen sein, was man umgangssprachlich als das Unbedeutende, das Neutrale [le neutre], das Objektive bezeichnet, sondern vielmehr im Gegenteil auf der Ebene der im strengen Sinn traumatischen Bilder: Das Trauma – das ist genau das, was die Sprache suspendiert und die Signifikation blockiert.“71 Die traumatische Erfahrung des Todes seiner Mutter steht auch am Anfang seiner theoretisch-narrativen72 Annäherung an die Photographie und die – im Buch nicht abgebildete – Photographie der Mutter bildet am Anfang des zweiten Teils des Buches den Ausgangspunkt für Barthes’ Bestimmung des „Wesens der Photographie“.73 Die ontologische Fragestellung – Barthes spricht an zahlreichen Stellen explizit von Ontologie74 – ist für Barthes’ Text ebenso konstitutiv wie eine phänomenologische Orientierung. Beide finden ihre Grenzen allerdings in der zentralen Bedeutung des Affekts und der Kontingenz, die seine Deutung der Photographie maßgeblich prägen, sich aber, so Barthes, einer ontologischen wie philosophischen Bestimmung entziehen. Gleichwohl finden sich seine frühen theoretischen Bestimmungen nun in anderer Form wieder: In Die helle Kammer erscheinen sie in Gestalt der Unterscheidung zwischen „punctum“ und „studium“. Während „studium“ die Herangehensweise an die Photographie via kulturelle Daten, Verstehen, „Intra-Wissen“75 bezeichnet, steht das „punctum“ für „das 67 68 69

70 71 72 73

74 75

Barthes (1993b). Barthes (1983). Und somit auch an theoretische Bestimmungen etwa von Charles Sanders Peirce, vgl. Anm. 1. Zur Rezeption von Peirce in der Photographietheorie vgl. explizit Dubois (1998, S. 30, 39, 49, 53 ff., 63 ff. 73 f., 78 f. u. 86). Barthes (1993b, S. 940). Ebd., S. 947 f. [Meine Übersetzung, B.S.] Die Bedeutung der Narration wird auch in den Arbeiten zu Barthes zu Recht hervorgehoben. Vgl. hierzu explizit Wolf (2002, S. 89 f.). Die psychoanalytischen Voraussetzungen der Theoriebildung stehen auch im Mittelpunkt der Deutung von Margaret Iversen, die Barthes’ Die helle Kammer in unmittelbarem Bezug zur Theorie Lacans (und auch in Nähe zu Benjamin) liest. Vgl. Iversen (2002). Zur Frage der Ontologie der Photographie vgl. neben dem bereits zitierten Aufsatz von Cavell (1983) auch Bazin (1983). Barthes (1985, S. 38).

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Zufällige an ihr [der Photographie, B.S.], das mich besticht.“76 Und in expliziter Übernahme der älteren Unterscheidung: „Das studium ist letztlich immer codiert, das punctum ist es nicht.“77 Barthes’ narrativ-theoretische Ontologie der Photographie versucht, in der Betrachtung von Photographien jene subjektive Evidenz theoretisch-begrifflich zu verorten, die für ihn den eigentlichen affektiven Gehalt des Blicks ausmacht. Dieser kann nicht in den Bildern gesucht werden, ist immer ein Surplus, denn: „Was auch immer ein Photo dem Auge zeigt und wie immer es gestaltet sein mag, es ist doch allemal unsichtbar: es ist nicht das Photo, das man sieht.“78 Das punctum ist nun genau jene radikal subjektive Verankerung im Bild, die den affektiven Konnex zwischen Bild und Betrachter herstellt: Das punctum ist „immer eine Zutat: es ist das, was ich dem Photo hinzufüge und was dennoch da ist.“79 Dessen Evidenz entspricht in der barthesschen „mathesis singularis“80 der subjektiven Seite der Ontologie der Photographie. Ihm entspricht auf der objektiven Seite die Evidenz des „Es-ist-so-gewesen“, der „notwendig realen Sache“,81 die für die Photographie gleichermaßen konstitutiv ist. Hiermit tritt nun ein neues punctum auf den Plan: die Zeit – die notwendig vergangene Zeit, die bei Barthes als Gespenst, Tod oder Trauer erscheint. Beide werden bei Barthes – und das macht zugleich die Pointe seiner Argumentation aus – in einer Bewegung verbunden, die „Realität und Vergangenheit“,82 das Reale und das Lebendige,83 „das Vergangene und das Wirkliche“84 und das Subjektive und das Objektive verzahnt: in einer „Verschränkung von Wirklichkeit (‚Es-ist-so-gewesen‘)85 und Wahrheit (‚Das-ist-es‘); sie wird Feststellung und Ausruf in einem; sie führt das Abbild bis an jenen verrückten Punkt, wo der Affekt [...] das Sein verbürgt.“86 Da sich die Photographie nicht über das Studium, d. h. die kulturell codierte Seite seines „Wesens“ mitteilt, sondern einzig über ihre affektive Seite, die zugleich ihr subjektives wie objektives Wesen ausmacht, finden nur in einer momentanen, punktuellen und singulären Begegnung beide Momente von Evidenz zueinander. Die Photographie ist gerade „als Beglaubigung von Präsenz“87 radikal kontingent. Sie ist Wirklichkeit als Zufall, Zufall als Wirklichkeit. Und gerade als Kontingenz und Singularität entzieht sie sich einem philosophischem Zugriff, der immer nur auf Evidenz pochen, sie aber nicht theoretisch einholen kann. Die Philosophie der Photographie verwandelt sich bei Barthes in eine philosophische Narration, die 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

Ebd., S. 36. Ebd., S. 60. Ebd., S. 14. Ebd., S. 65. Ebd., S. 16. Im Kontext der Photographie der Mutter spricht Barthes von der „unmöglichen Wissenschaft vom einzigartigen Wesen“. (Ebd., S. 81) Ebd., S. 86. Ebd. Vgl. ebd., S. 89. Ebd., S. 93. „Der Name des Noemas der Photographie sei also: ‚Es-ist-so-gewesen‘ oder auch: das Unveränderliche.“ (Ebd., S. 87) Ebd., S. 124. Ebd., S. 97.

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auf dem Boden und mit den Begriffen der Phänomenologie und Semiotik diese Evidenz nur postulieren und darstellen, nicht aber begründen kann.

Postskriptum Von August Strindberg, der auch als Schriftsteller Zeit seines Lebens mit Photographien experimentierte,88 gibt es einen kleinen Text, der mit Photographie und Philosophie überschrieben ist.89 Dort ist der Photograph zugleich Philosoph, muss aber seine philosophische Einstellung zur Welt nach einem auf den ersten Blick entbehrungsreichen Urlaubsaufenthalt grundlegend ändern. Während seine Sicht der Welt sich bis dahin am Modell des photographischen Negativs orientierte, nach dem die „Welt verkehrt“ sei, und sich das Positive in sein Negativ verkehre, muss er nach seinen Urlaubserfahrungen dieses Bild korrigieren. Was dort auf den ersten Blick negativ erschien (ein beschwerlicher Fußweg, braunes Wasser mit scharfem Geschmack, „Steingrund mit Schlamm“ statt dem erwarteten Badestrand), erweist sich als Therapeutikum: „Die Steine haben meine Füße massiert; der Schlamm hat mir ein Schlammbad gegen den Rheumatismus gegeben; die leichte Kost hat meine Leber geheilt“ und das „braune Quellwasser enthielt Eisen, gerade was ich brauchte.“90 Doch eine weitere Korrektur steht noch aus: Sein von ihm ob seiner derben Art missachteter Kompagnon hält ihm vor, dass er einfach Schatten in Licht verwandele und sich so seine Weltsicht zwar wieder in eine Ordnung überführen lasse, er aber gleichwohl eine genaue Beobachtung und Einschätzung seiner unmittelbaren Umgebung verfehle. Sie könne sich nicht in das einfache Schema von Oppositionen übersetzen lassen – was er an einem schönen Beispiel, bei dem der Funktionalismus der Zweckhaftigkeit an die Stelle der Ordnung von Position und Negation tritt, demonstriert: „Ich rauche Tabak, um die Luft von giftigen Dämpfen zu reinigen; ich trinke abends Bier, um nicht dem Whisky zu verfallen; und ich schiebe das Messer in den Mund, um mich nicht mit der Gabel zu stechen.“91 Am Ende meines stark gerafften Versuchs, die verschiedenen theoretischen Ansätze einer Philosophie der Photographie in ihrer jeweiligen Tragweite zu skizzieren, liest sich Strindbergs Text wie ein Plädoyer für das, was bereits gezeigt wurde: Eine Philosophie der Photographie sollte ihren Gegenstand nicht zum theoretischen Modell machen. Springorums Entwurf einer Philosophie der Photographie konnte auf Grund einer stark schematischen – schwarz-weißen – Ausrichtung ebenso wenig überzeugen wie Flussers ebenso schematische Skizze der Menschheitsgeschichte von den Jägern und Sammlern der Steinzeit bis zur Gegenwart. Hier wie dort bleibt von der Photographie nur das Schema von Oppositionspaaren und einfachen Ordnungen der Repräsentation übrig. Dem entgegen unternehmen Benjamins und Foucaults Versuche einer theoreti88 89 90 91

Vgl. dazu Stiegler (2003). Strindberg (1918). Ebd., S. 51. Ebd., S. 52.

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schen Annäherung an das Phänomen der Photographie eine zugleich begriffliche wie historische Klärung, die zudem die Photographie im Kontext gesellschaftlicher, ästhetischer und medientechnischer Veränderungen verorten. Eine Philosophie der Photographie gewinnt erst in diesem Kontext ihre Konturen, und das, was am Phänomen der Photographie deutlich wird, weist über sie hinaus und hat mehr als nur einen heuristischen Wert für eine breiter angelegte Medienphilosophie. Diese Entwürfe einer Philosophie der Photographie können gerade auf Grund ihrer Begriffsprägungen wie auch der Genauigkeit und des Materialreichtums ihrer historischen Beobachtungen für eine allgemeiner ansetzende Medienphilosophie nutzbar gemacht werden. Der Versuch, neue Begriffe zu prägen, und der explizite Rekurs auf das historische Material gehen hier Hand in Hand. Medienphilosophie ist, so verstanden, eine historische Medienphilosophie in dem Sinne, dass die Begriffe, Konzepte und Theorien in der Auseinandersetzung mit der Medien-, Sozial- und Kunstgeschichte entwickelt werden. Roland Barthes’ letztes Buch kann als – vielleicht letzter bedeutender und zugleich gescheiterter – Versuch gelesen werden, eine „lebensweltliche“, phänomenologische Beschreibung der Photographie und ihrer ästhetischen wie affektiven Erfahrung sowohl mit der Geschichte der Photographie und ihrer Theorie als auch mit der begrifflichen wie analytischen Schärfe der philosophischen Theoriebildung zusammenzubringen. Barthes’ emphatisches wie melancholisches Pochen auf einen Affekt, „der das Sein verbürgt“, ist dabei zugleich das Eingeständnis der Inkompatibilität dieser verschiedenen Bereiche. Ein Versuch, diese Bereiche theoretisch wie historisch, „phänomenologisch“ wie im medialen und gesellschaftlichen Kontext eingebunden zusammenzuführen, steht noch aus. Theoriehistorisch betrachtet setzen hier eine Reihe von neueren theoretischen Entwürfen ein, die mit gelegentlichen Anleihen bei der Philosophie die Photographie in größeren mediengeschichtlichen und -technischen, diskursiven und theoretischen Zusammenhängen verorten. Die Photographie erscheint nun mal als Indikator (Crary, Krauss), mal als Ausdruck (Busch, Sontag) und auch gelegentlich als medientechnisch induzierter Grund (Bolz, Kittler) von Veränderungen der Wahrnehmung, der historisch-semantischen Codierung verschiedener gesellschaftlicher und kultureller Repräsentationsformen oder schlicht der Gesellschaft als solcher. Alle diese Entwürfe schreiben in anderer Weise die Schwierigkeiten fort, in die die verschiedenen Skizzen einer Philosophie der Photographie geraten sind. Eine künftige Medienphilosophie der Photographie wird ohne eine theoriegeschichtliche Perspektive nicht auskommen können und muss zugleich über sie hinausgehen.

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Alexander Roesler

MEDIENPHILOSOPHIE DES TELEFONS

1. Einleitung Das Telefon ist das unauffälligste unter den modernen technischen Medien. Vielleicht ist es deshalb nur selten in den Blick der Philosophen oder Medientheoretiker geraten. Vielleicht ist daran aber auch sein vollkommenes Aufgehen in der Benutzung schuld. Das Telefon ist so verwoben in unsere alltägliche Praxis, dass es als bedenkenswerter Gegenstand höchstens dort auffällt, wo wir unbedingt telefonieren müssen und kein Apparat zur Hand ist. Seit dem Aufkommen und der weiten Verbreitung des Mobiltelefons ist das jedoch eine höchst seltene Situation. Das Telefon ist jedoch nicht nur unauffällig, es wird als Mobiltelefon in Zukunft auch verschwinden beziehungsweise in einem transportablen Mini-Computer aufgehen, der eine Vielzahl von Möglichkeiten bündelt: vom Organizer über eine Schreibmaschine bis hin zum Surfen im Internet, zu Fax-, Bild- oder sonstigem Datenversand. Telefonieren, wie wir es heute noch nennen, wird lediglich eine der vielen Funktionen eines Geräts darstellen. Als Apparat wird das Telefon in diesem Gerät vielleicht nur noch daran zu erkennen sein, dass es technische Möglichkeiten bereithält, hineinzusprechen und herauszuhören. Ansonsten wird das Telefon der Zukunft seine Individualität aufgeben. Unabhängig von diesem Befund muss man sich jedoch grundsätzlich fragen, von welcher Art eine Philosophie des Telefons sein kann und in welcher Form man sie überhaupt antrifft. Die Tatsache, dass es bisher so wenige Philosophien des Telefons gegeben hat, könnte auch daran liegen, dass Philosophie und Telefon sich nicht so leicht in Zusammenhang bringen lassen. Diese Schwierigkeit zeigt sich gerade bei der Frage, welche Texte als mehr oder weniger bisher ausgearbeitete Philosophien des Telefons überhaupt in Betracht kommen. Denn bei der folgenden Darstellung verschiedener Ansätze lässt sich durchaus zweifeln, inwieweit es sich um Philosophie handelt und nicht nur um gewisse theoretische Betrachtungen feuilletonistischer oder essayistischer Natur. Eine Darstellung der Medienphilosophie des Telefons wird also auch zu berücksichtigen haben, welcher Philosophiebegriff bisher in Anschlag gebracht worden ist, und ob er zu einer Philosophie des Telefons geführt hat, die ihrem Namen gerecht wird – oder ob man in Abgrenzung und als Lehre aus den bisherigen Philosophien des Telefons eine Medienphilosophie des Telefons nicht ganz anders verstehen muss.

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2. Philosophien des Telefons Geht man von der Entwicklung des Telefonapparates aus, dann könnte es erst seit rund 150 Jahren eine Philosophie des Telefons geben. Zu diesem Apparat haben sich dann gelegentlich auch Philosophen geäußert, meist äußerst knapp und in metaphorischer Art oder mit der Absicht, einen philosophischen Gedanken zu illustrieren und dadurch zu verdeutlichen. Beispielhaft seien hier genannt Friedrich Nietzsche in der Genealogie der Moral (Nietzsche 1988, S. 346), Georg Simmel in der Philosophie des Geldes (Simmel 1989, S. 671 u. 680), Charles Sanders Peirce in den Collected Papers (z. B. C.P. 8.144), Walter Benjamin in der Berliner Kindheit (Benjamin 1991, S. 242 f.), Roland Barthes in Fragmente einer Sprache der Liebe (Barthes 1984, S. 97 ff.). Wenn das Telefon nicht als Beispiel oder Bild in einer philosophischen Argumentation verwendet wird, dann handelt es sich zumeist um Bemerkungen literarischer oder essayistischer Art. Es wird daher weiter unten zu fragen sein, von welchem Zugang aus man überhaupt eine Philosophie des Telefons erreichen kann und inwieweit der Apparat dabei eine Rolle spielt. Die nun folgende Darstellung bereits formulierter Philosophien des Telefons geht daher zunächst unsystematisch vor und orientiert sich an dem, was man unkritisch Philosophien des Telefons nennt, teils, weil die Betrachtungen theoretischer Art sind, teils, weil der Autor als Philosoph oder Medienphilosoph gilt.

Marshall McLuhan In seinem 1964 erschienenen Buch Understanding Media entwickelt Marshall McLuhan eine Medientheorie, die auf der Überlegung aufbaut, dass Medien „Ausweitungen unseres Körpers in den Raum hinaus“ seien (McLuhan 1994, S. 15), und zwar so weit gehend, dass nicht nur der Körper, sondern ebenso die Sinne „ausgeweitet“ werden. Medien stellen also eine Art Prothese oder Werkzeug dar, welches die Funktionen des menschlichen Körpers und seine sinnlichen Fähigkeiten über den gewohnten Raum hinaus technisch verstärkt oder verlängert. Von dieser Basis aus stellt McLuhan im Kapitel „Tönendes Erz oder Klingelndes Sinnbild“ folgende These auf: „Mit dem Telefon kommt es zu einer Ausweitung des Gehörs und der Stimme, die eine Art außersinnliche Wahrnehmung darstellt“ (ebd., S. 403). Diese Behauptung wird dann mehr oder weniger erläutert, indem er in loser Verknüpfung Beobachtungen über die Wirkungen des Telefons in Kultur und Gesellschaft aneinander reiht. Als allgemeinere Aussagen dazu nennt er z. B. die Macht des Telefons, jedes Unternehmen zu dezentralisieren, sowie die Unmöglichkeit, sich beim Telefonieren etwas bildlich vorzustellen. Dies läge daran, dass das Telefon die volle Anteilnahme der gesamten Person erfordere, dass es „die aktive Beteiligung unserer Sinne und Fähigkeiten verlangt. [...] Weil das Telefon ein sehr schwaches Hörbild vermittelt, verstärken und vervollständigen wir es durch den Einsatz aller anderen Sinne“ (ebd., S. 407). Damit ist das Telefon in McLuhans Terminologie ein „kühles“ Medium,

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weil es „detailarm“ ist, „weil das Ohr nur eine dürftige Summe von Informationen bekommt“ (ebd., S. 44 f.). Ferner verlange das Telefon „mit der ganzen Kraft der elektrischen Polarität nach einem Partner“ (ebd., S. 407) und wolle nicht als Kulisse dienen, seine Form bestehe in gemeinsamer Beteiligung. Außerdem wirke das Telefon auf die Hierarchien in Unternehmen: „Der pyramidenförmige Aufbau der Arbeitsteilung und -anleitung und der übertragenen Vollmachten verträgt die Schnelligkeit der telefonischen Geschwindigkeit nicht, mit der jede hierarchische Form umgangen und die Gesamtperson erfaßt wird“ (ebd., S. 412). Wenn nun die nach Instanzen gestufte Autorität durch das Telefon nicht wirke, dann deshalb, weil hier nur die Autorität des Wissens wirke: „Übertragene Autorität ist linear, visuell und hierarchisch. Die Autorität des Wissens ist nicht linear und nicht visuell und umfassend“ (ebd., S. 414). Da es in einer elektrischen Struktur keine Peripherie gebe, sei also nur ein Dialog zwischen Zentren und zwischen Gleichberechtigten möglich. Die pyramidal aufgebaute Befehlsgewalt ziele daher ins Leere. McLuhans Ausführungen über das Telefon sind eher kulturkritischer Art. Er sucht nicht den systematischen Zusammenhang, beschäftigt sich nicht mit Begriffen und ihren Implikationen, sondern folgt der Hauptfrage, welche Wirkungen das Telefon hervorruft, und lässt sich dabei zu Aperçus und Gedanken allgemeinerer Art anregen. Ein auch nur leichterer philosophischer Anspruch lässt sich nicht bei ihm finden, doch verfolgt er ihn sicher auch nicht.

Vilém Flusser In seinem Buch Gesten. Versuch einer Phänomenologie von 1991 behandelt Vilém Flusser u. a. „Die Geste des Telefonierens“. Ziel der gesamten Arbeit ist die Darlegung der These, „daß ‚Gestimmtheit‘ die symbolische Darstellung von Stimmungen durch Gesten ist“ (Flusser 1991, S. 12), wobei Flusser eine Geste als „eine Bewegung des Körpers oder eines mit ihm verbundenen Werkzeugs, für die es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt“ versteht (ebd., S. 8). Gestimmtheit, so Flusser, „löst die Stimmungen aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus und läßt sie ästhetisch (formal) werden – in Form von Gesten“ (ebd., S. 14). Ohne nun genauer auf dieses anfängliche Konzept zurückzukommen, macht sich Flusser im 16. Kapitel eher allgemeine Gedanken zum Telefon, das im Verhältnis zu anderen diskursiven Massenmedien „einen archaischen und paläotechnischen Charakter“ (ebd., S. 183) bewahrt habe. Die Funktion des Telefons müsse man von zwei Seiten aus in den Blick nehmen, von der Seite des Anrufers wie von derjenigen des Angerufenen. Je nachdem, von welcher Seite man das Telefon betrachte, präsentiere es sich als ein völlig anderes Phänomen. Für den Anrufer sei das Telefon ein Werkzeug, um dialogische Kommunikation hervorzurufen, für den Angerufenen handele es sich um das Eindringen in dessen Lebenswelt.

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Von der Seite des Anrufers aus beginnt das Telefonieren mit dem Wählen einer Nummer, die in zwei Speichern gelagert sei, im Gehirn und im Telefonbuch. „Das beweist, wie archaisch das Telefon ist: Es wäre wirkungsvoller, die Nummern im Telefon selbst zu speichern, wie es allerdings beim Minitel mittlerweile versucht wird“ (ebd., S. 184). Die Nummerierung nun sei ein Code ohne jegliche Redundanz, denn nur die richtig gewählte Nummernfolge führt zum gewünschten Gesprächspartner. Bevor man jedoch wähle, gebe es „Toncodes“, die von Land zu Land schwanken können und die z. B. akustisch anzeigen würden, ob die Leitung frei sei oder besetzt usw. „Die Toncodes haben oft einen stärkeren anthropomorphen Charakter als die visuellen: sie sind ‚Stimmen‘. Der Ton, den man in der Akustik des Telefons hört, ist spöttisch, und am schlimmsten ist, daß es sich dabei nicht um einen ontologischen Irrtum handelt, denn tatsächlich ist ja der Spott eine Verdinglichung des anderen, und tatsächlich verwandelt ja das Rauschen des Telefons den enttäuschten Allmächtigen in ein Fragment des schlecht installierten Telefonnetzes“ (ebd., S. 186). Wenn sich nun sogar das Fräulein vom Amt dazuschalte, dann „kommt es zu einem Dialog zwischen Stimme und dem Anrufer, zu dem es in der menschlichen Geschichte und in den anderen Medien keine Parallele gibt. Der Anrufer nennt Nummern, bittet, gerät in Zorn, erniedrigt sich, lügt, wogegen die Stimme mechanisch und geduldig Nummern wiederholt – oft genug falsche Nummern – und ohne Vorankündigung verstummt. Die menschliche Stimme ist also viel weniger menschlich als die Toncodes, denn ihre mechanische Höflichkeit ist noch spöttischer“ (ebd., S. 187). Für den Angerufenen gibt es nach Flusser vier Typen des Eindringens durch Läuten: 1) Man wartet ungeduldig auf den Anruf und das Läuten ruft eine Anspannung hervor, 2) das Läuten unterbricht die Konzentration, 3) man entspannt sich gerade und empfindet das Läuten als Aggression, und 4) ist das Läuten Bestandteil der Lebenswelt, z. B. in einem Büro. Diese vier Typen entsprächen theologischen Kategorien. Das Telefongespräch nun weise immer eine dialogische Spannung auf, die durch die jeweilige Situation der Gesprächspartner bedingt wäre. Dies führe zu einer gegenseitigen Anerkennung dieser Spannung, denn beide Partner versetzten sich an die Stelle des anderen. Diese Anerkennung gehe dem Dialog voraus und werde durch die Struktur des Telefonierens als Anspruch erzwungen. Beim Gespräch dann sei das Telefon als Medium immer gegenwärtig, was den Dialog unbefriedigend mache. Die technische Struktur des Telefonnetzes erlaube eine Geste, „die kein anderes dialogisches Medium gestattet: Man kann dem anderen das Wort abschneiden, indem man den Hörer auflegt“ (ebd., S. 190). Dies sei eine neue und unausgeschöpfte Geste. Flussers Ausführungen über das Telefonieren als Geste sind wie diejenigen McLuhans eher kulturkritischer oder essayistischer denn philosophischer Art. Obwohl er von „Phänomenologie“ spricht, lässt sich bei ihm kein husserlsches Vorgehen feststellen, sodass sein Buch auch nicht als Versuch einer philosophischen Herangehensweise im Sinne der traditionellen Phänomenologie zu verstehen ist. Seine Gedanken über das Telefon sind sehr stark von dem technischen Stand der damaligen Apparate und des Telefonnetzes bestimmt, sodass sie heute eher veraltet erscheinen. Der Zusammenhang mit dem

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Projekt der Gestimmtheit, wie es im ersten Kapitel dargelegt wird, ist nicht immer ganz ersichtlich, sodass ein systematischer Zug nicht deutlich wird. Dennoch ist der Anspruch größer, wie man dem Anhang entnehmen kann. Dort spricht Flusser von einer allgemeinen interdisziplinären Theorie der Gesten, die er anstrebe, und die noch der Kommunikationstheorie übergeordnet wäre. Er knüpft dann an diese Theorie der Gesten weitere philosophische Termini, die damit in Zusammenhang stünden, wie z. B. Freiheit, die er in einer leicht heideggerisierenden Stelle folgendermaßen einbringt: „Geste ist eine Bewegung, durch die sich eine Freiheit ausdrückt, um den Gestikulierenden vor anderen zu enthüllen oder zu verhüllen“ (ebd., S. 221). Aber auch zur Geschichtsphilosophie unterhält seine allgemeine Theorie der Gesten Verbindungen: „Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß in einem spezifischen Sinn ‚Allgemeine Theorie der Gesten‘ und ‚Geschichtsphilosophie‘ synonym sind. Wenn Geste als Ausdruck einer Freiheit definiert wurde, als aktives In-der-Welt-Sein, dann ist die Summe der Gesten Geschichte (res gestae). Umgekehrt läßt sich ja die Geschichtsphilosophie als allgemeine Theorie der Taten (das heißt eben Gesten) definieren“ (ebd., S. 230). Abgesehen davon, dass seine allgemeine Theorie der Gesten nicht ausformuliert vorliegt, ist dieser Zusammenhang nicht schlüssig argumentiert. Aus seinen Betrachtungen zum Telefon wird dadurch noch keine Medienphilosophie des Telefons, die eine Betonung auf „Philosophie“ trägt.

Avital Ronell Einen explizit philosophischen Anspruch formuliert Avital Ronell mit ihrem Buch The Telephone Book. Technology, Schizophrenia, Electric Speech von 1989. Der Dekonstruktion verpflichtet, ist dieses Buch auch vom Druckbild her ungewöhnlich, denn die Schrift ist nicht durchgängig im normalen Blocksatz gesetzt, sondern variiert in Art, Größe, Zeilenfall und der Verwendung von Sonderzeichen. Äußerlich ist es in Anlehnung an ein amerikanisches Telefonbuch gestaltet, die Fußnoten sind z. B. am Ende als eine Art „Gelbe Seiten“ zusammengefasst. Damit soll der Umstand nachvollzogen werden, dass es beim Telefonieren immer einen „electronic flow“ gibt, auch wenn dieser nicht gekennzeichnet ist: „The Telephone Book releases the effect of an electronic-libidinal flow using typography to mark the initiation of utterances“ (Ronell 1989, S. XV). Weil es der Dekonstruktion verpflichtet ist, lässt sich dieses Buch auch nicht zusammenfassen und etwa auf Thesen bringen. Wie bei diesem philosophischen Verfahren üblich, handelt es sich eher um Lektüren verschiedener Texte, die miteinander in Beziehung gesetzt werden, oft über Analogien, Metaphern oder Bilder. Der dominante Ausdruck, der hierbei im Zentrum steht, ist natürlich das Telefon. Es fungiert als Synekdoche für Technologie ganz allgemein, steht für das Sprechen, für Sprache, das Wortfeld von „Hören“ usw. Diese unterschiedlichen Aspekte und Assoziationen werden dann in die Lektüre bestimmter Texte eingebracht, wobei auch in der kommentierenden Begrifflichkeit immer wieder Ausdrücke aus dem Umfeld von „Telefon“ und „Telefonieren“ verwendet werden, oft ebenfalls in rein metaphorischem Gebrauch.

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Zu Beginn wird z. B. das SPIEGEL-Interview von Heidegger, in dem er erzählt, dass der Sektionsleiter der SA, Baumann, ihn in seinem Büro anrief, in Verbindung gesetzt mit dem „Ruf des Gewissens“ und der Thematisierung der Schuld aus Sein und Zeit. Anlässlich weiterer Heidegger-Texte, wie z. B. Die Frage nach der Technik oder Was heißt Denken?, kommt Ronell auf die Verbindung von „Dasein“ und „Schuldigsein“, indem sie u. a. Texte von Christopher Fynsk, Samuel Weber und Mikkel Borch-Jakobson einbezieht. Es folgt eine Auseinandersetzung mit der Carte Postale von Jacques Derrida, mit Sigmund Freud, und schließlich mit schizophrenem Sprechen und Texten von C. G. Jung. Ein weiteres Thema ist die Natur der Sprache, erörtert an Texten von Ronald Laing und Martin Heidegger. In der zweiten Hälfte des Buchs rücken dann die Autobiographie von Thomas A. Watson in den Mittelpunkt, dem Gefährten von Alexander Graham Bell – offizieller Erfinder des Telefons –, sowie dessen Schrift The Mechanism of Speech, um dann am Ende mit einigen Seiten über Helen Keller und Bell zu schließen. Über eine Philosophie des Telefons erfährt man in diesem Buch nicht viel. Es dient vielmehr als Anlass, über verschiedene Texte und deren mögliche Zusammenhänge zu schreiben, indem Begriffe aus dem Umfeld des Telefons als Metaphern, Assoziationsanfänge usw. benutzt werden. Das zentrale Thema ist genau nicht das Telefon, sondern die Sprache, schizophrenes Sprechen und immer wieder Heidegger und seine zentralen Begriffe. Die Philosophie kommt hier durch die behandelten Texte ins Spiel und vielleicht durch das dekonstruktive Vorgehen, nicht aber dadurch, dass eine genuine Philosophie des Telefons entworfen wird. Der Apparat tritt hinter die philosophischen Texte zurück und dient lediglich als metaphorischer Stichwortgeber für Interpretationen und Verschaltungen der in der Dekonstruktion üblich gewordenen Texte.

Jacques Derrida Obwohl Derrida in dem zweibändigen Buch La carte postale (Derrida 1982, 1987) in beinahe erzählerischer Weise über Schreiben, Senden, Adressieren usw. philosophiert, taucht das Telefon explizit erst in dem Essay Das andere Kap auf, und zwar dort, wo es um Europa und die Frage nach der Demokratie geht. Einmal spricht er ihm eine antitotalitäre Wirkung zu: „Wie wir wissen, sind totalitäre Regime außerstande, wirksam gegen ein inneres Telefonsystem zu kämpfen, sobald dessen Dichte eine gewisse Schwelle überschreitet; es entzieht sich dann der Kontrolle. Keine ‚moderne‘ Gesellschaft (Modernsein ist für Totalitarismus ein Gebot) kann lange Zeit darauf verzichten, mit der Entwicklung der technisch-wirtschaftlichen-wissenschaftlichen Leistungen des Telephons fortzufahren – und also die Erweiterung jener ‚demokratischen‘ Durchgangsstätten zu betreiben, die geeignet sind, ihre eigene Zerstörung herbeizuführen. Für den Totalitarismus verwandelt sich das Telephon so in die unsichtbare Andeutung und in die gebieterische Anordnung seines Zusammenbruchs“ (Derrida 1992, S. 34). Ein andermal ist das Telefon ein besonderer Apparat zur Bildung der öffentlichen Meinung:

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„Das Telephon verhindert die Festlegung einer Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten; vorausgesetzt, eine solche scharfe Grenze hat sich je ziehen lassen. Es leitet die Bildung einer öffentlichen Meinung dort ein, wo diese nicht mit den üblichen Bedingungen der Öffentlichkeit rechnen kann: mit einer gedruckten Presse oder mündlich vermittelten Nachrichten, mit einem wie immer auch verfaßten Verlagswesen“ (ebd., S. 34). Beide Diagnosen halte ich für falsch. Totalitäre Regimes sind sehr wohl in der Lage, das Telefonsystem zu überwachen und in Schranken zu halten, in der ehemaligen DDR genauso wie heute in China. Und das hat nichts mit der Dichte des Systems zu tun, denn moderne Abhörsysteme erleichtern die Überwachung, indem sie z. B. automatisch auf bestimmte Schlüsselwörter reagieren. Auch die Festlegung der Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen wird durch das Telefon nicht verhindert; im Gegenteil, das Telefon ist ein Apparat für das Privat- oder Einzelgespräch und in keiner Weise öffentlichkeitstauglich. Öffentlichkeit als Gegenteil von Privatheit kommt nur beim Abhören zum Tragen, und alle demokratischen Bestrebungen gehen dahin, den Schutz der Privatsphäre zu garantieren. Dass Derrida das Telefon insgesamt so falsch einschätzt, hängt mit seiner Philosophie zusammen, und zwar mit seinem besonderen Verständnis des Verhältnisses von Signifikat und Signifikant. Denn er versteht die öffentliche Meinung als ungreifbar: „Wie soll man hier die öffentliche Meinung identifizieren? Gibt es sie, kann man sagen, daß sie eine Stätte hat, an der sie sich bildet, an der die Bildung einer öffentlichen Meinung stattfindet oder statthat? Wo erscheint die öffentliche Meinung, wo bietet sie sich als solche dem Blick dar?“ (ebd., S. 83). Diese Charakterisierung entspricht der Charakterisierung des Signifikats, das ohne Signifikant nicht greifbar ist, denn die öffentliche Meinung kann „ohne ein bestimmtes Medium kein Lebenszeichen von sich geben und am hellichten Tag erscheinen“ (ebd.). Weil er nun Medium mit Signifikant und öffentliche Meinung mit Signifikat gleichsetzt, entgeht ihm das Spezifische des Telefons. Die entscheidende Pointe seiner Philosophie war ja, dass – egal auf welche Weise der Signifikant materialisiert ist – die Bedingungen der Sinnproduktion überall die gleichen sind und daher das Medium Lautsprache nicht gegenüber dem Medium Schrift bevorzugt werden könne. Wenn er nun die öffentliche Meinung in ihrem Verhältnis zu Medien denkt wie das Verhältnis von Signifikat zu Signifikant, dann liegt seine eigene Philosophie unausgesprochen zugrunde und lenkt seinen Blick von der Verschiedenartigkeit der Medien ab. Deshalb entgeht ihm das Spezifische des Telefons (vgl. Roesler 2000, S. 158). Derridas Anmerkungen zum Telefon sind sporadischer und nicht ausgearbeiteter Art. Obwohl er klassische philosophische Begriffe mit dem Telefon in Verbindung bringt, kann man von einer Philosophie des Telefons nicht sprechen, abgesehen davon, dass er m. E. das Telefon in seiner Wirkung gründlich überschätzt.

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3. Welcher Philosophiebegriff liegt hier zugrunde? Eines der Probleme einer Philosophie des Telefons liegt darin, dass der hierbei in Anschlag zu bringende Begriff von Philosophie unklar ist. Am ehesten wäre vielleicht noch die Phänomenologie für diese Aufgabe geeignet, allerdings im traditionellen Verständnis von Husserl. Dieser bestimmt sie als „Wesensschauung“, die nichts mit Wahrnehmung zu tun hat, mit Erfahrung oder empirischer Verallgemeinerung, sondern an den Phänomenen etwas zu fassen versucht, was nichts mit ihrer „Natur“ zu tun hat: „Sind die Phänomene als solche keine Natur, so haben sie ein in unmittelbarem Schauen faßbares, und adäquat faßbares Wesen. Alle Aussagen, die Phänomene durch direkte Begriffe beschreiben, tun es, soweit sie gültig sind, durch Wesensbegriffe, also durch begriffliche Wortbedeutungen, die sich in Wesensschauung einlösen lassen müssen“ (Husserl 1965, S. 38). Eine Phänomenologie des Telefons erschiene damit möglich, die das „Wesen“ des Telefons mittels „Wesensbegriffen“ zu bestimmen sucht. Diese Herangehensweise ist jedoch durch den allgemeinen Verdacht gegen jede Metaphysik im 20. Jahrhundert in Misskredit geraten. Eine Rede vom „Wesen des Telefons“ würde heutzutage niemand mehr führen wollen, unabhängig von der Frage, wie ergiebig sie philosophisch überhaupt sein könnte. Dass es bisher keinen Versuch einer Phänomenologie des Telefons gegeben hat, mag ein Zeichen dafür sein, dass niemand dieser Philosophie hier einen Erkenntnisgewinn zusprechen mag – und das Beispiel Flusser ist nur ein weiteres Indiz dafür, denn er verwendet den Begriff „Phänomenologie“ undefiniert und die Methode, wenn man überhaupt von Methode sprechen will, nicht im Sinne Husserls. Die Phänomenologie dient also nicht als Grundlage einer Philosophie des Telefons. Weitere philosophische Richtungen und Methoden scheiden ebenfalls aus: Ein sprachanalytischer Ansatz z. B. müsste sich auf die Grammatik des Wortes „telefonieren“ beschränken und wäre folglich wenig ergiebig. Ein dekonstruktiver Ansatz hätte es mit philosophischen Texten zu tun, welche vom Telefon handeln, aber da es hier kaum Material gibt, wären die Bemühungen schnell am Ende. Es sei denn, man betrachtet den Ansatz von Avital Ronell als dekonstruktive Philosophie des Telefons, doch genau hier zeigt sich, dass der Gegenstand gar nicht das Telefon ist, sondern die Sprache, die Technik, die Kommunikation usw. Es geht also nur metaphorisch um das Telefon, es dient als Ausgangspunkt, um dann gleich bei den Fragen zu landen, die schon immer die Fragen der Philosophie sind. Auch bei anderen philosophischen Richtungen ließen sich Bedenken leicht geltend machen. Keine wird mit ihren Mitteln und Methoden das Telefon so in den Blick bekommen, dass man zu Recht von einer Philosophie des Telefons wird sprechen können. Warum?

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4. Das grundsätzliche Problem einer Philosophie des Telefons Die Philosophie hat es nie mit dem Konkreten, sondern immer mit dem Abstrakten zu tun. Sie beschäftigt sich – egal in welcher methodischen Ausprägung – mit Begriffen, die notwendig abstrakt sind, und der Analyse begrifflicher Verhältnisse: Wie sie richtig zu bestimmen sind, welche Implikationen aus ihnen folgen, welche Festlegungen und welche Behauptungen. Das Telefon als Apparat ist jedoch ein Konkretes, sein Begriff läuft auf eine Definition heraus, die schon vom Apparat so weit distanziert ist, dass sie lediglich eine besondere Kommunikationssituation beschreibt. Was an dieser dann philosophisch interessant ist, hat nur noch mittelbar mit dem Telefon zu tun. Das sieht man sehr deutlich an den aufgeführten Beispielen für Philosophien des Telefons: Letztlich sind es immer andere Themen als das Telefon, die hierbei philosophisch eine Rolle spielen: Kommunikation, Sprache, Technik, Mündlichkeit, Öffentlichkeit. Das Telefon dient als Ausgangspunkt und wird schnell zurückgelassen, weil man vom Konkreten zum Abstrakten voranschreitet und der Apparat damit in den Hintergrund tritt. Begrifflich gibt eine technische Vorrichtung eben nicht viel her. Aber mit Begriffen hat es die Philosophie zu tun. Das ist das Grundproblem einer Philosophie des Telefons.

5. Medienphilosophie des Telefons Trotz dieses Problems ist eine Medienphilosophie des Telefons möglich. Diese zieht die Lehre aus den genannten Philosophien des Telefons und rückt nicht den Apparat in das Zentrum, um von diesem dann thematisch abzuweichen, sondern geht umgekehrt von den klassischen philosophischen Themen aus und schaut, inwiefern die Bedingungen, die eine technische Vorrichtung wie das Telefon ermöglicht, auf diese Themen zurückwirkt. Eine solche Umkehr der Perspektive wäre die Einlösung eines medienphilosophischen Verständnisses, dem es „um die alten philosophischen Fragen in ‚medialer‘ Perspektive“ (Roesler 2003, S. 38) geht. Beispiele für ein solches Vorgehen lassen sich bei Münker (2000) finden, der sich mit dem Begriff der „Virtualität“ auseinander setzt und dabei die besondere Weise der Virtualität, die das Telefon als Apparat ermöglicht, ins Zentrum seiner Ausführungen rückt, oder bei Nyíri (2002), der über Bildbedeutung im Zusammenhang mit den Möglichkeiten des Mobiltelefons nachdenkt. Insgesamt laufen solche medienphilosophischen Versuche jedoch nicht auf eine Philosophie des Telefons als Philosophie über einen Apparat hinaus, sondern auf eine Nuancierung in der Beantwortung traditioneller philosophischer Fragen, Themen und Begriffe. Das Telefon ist dann der Anlass, neue oder erweiterte Gesichtspunkte in die Analysen aufzunehmen, aber es ist nicht Gegenstand einer Philosophie, einer „Philosophie des Telefons“.

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Literatur Barthes, Roland (1984), Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Benjamin, Walter (1991), Berliner Kindheit um neunzehnhundert, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. IV/I, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1982 und 1987), Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und Jenseits, 2 Bde., Berlin: Brinkmann und Bose. Derrida, Jacques (1992), Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Flusser, Vilém (1991), Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf/Bensheim Bollmann. Husserl, Edmund (1965), Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt a. M.: Klostermann. McLuhan, Marshall (1994), Die magischen Kanäle. Understanding media, Dresden/Basel: Verlag der Kunst. Münker, Stefan (2000), „Vermittelte Stimmen, elektrische Welten. Anmerkungen zur Frühgeschichte des Virtuellen“, in: ders./Roesler, Alexander (Hgg.), Telefonbuch, a. a. O., S. 185-198. Nietzsche, Friedrich (1988), Genealogie der Moral, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 5, München: dtv. Nyíri, Kristóf (Hg.) (2002), Allzeit zuhanden: Gemeinschaft und Erkenntnis im Mobilzeitalter, Wien: Passagen. Peirce, Charles Sanders, Collected Papers of Charles Sanders Peirce, Bde. I-VI, hg. v. Charles Harsthorne u. Paul Weiss, Cambridge (Mass.) 1931-1935: Harvard University Press, Bde. VII u. VIII, hg. v. Arthur W. Burks, Cambridge (Mass.) 1958: Harvard University Press. Die Zitation erfolgt wie bei Peirce üblich mit der Nennung des Bandes und dann des entsprechenden Paragraphen. Roesler, Alexander (2000), „Das Telefon in der Philosophie. Sokrates, Heidegger, Derrida“, in: Münker, Stefan/ders. (Hgg.), Telefonbuch. Beiträge zur Kulturgeschichte des Telefons, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 142-160. Roesler, Alexander (2003), „Medienphilosophie und Zeichentheorie“, in: Münker, Stefan/ders./Sandbothe, Mike (Hgg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a. M.: Fischer, S. 34-52. Ronell, Avital (1989), The Telephone Book. Technology, Schizophrenia, Electric Speech, Lincoln: University of Nebraska Press. Simmel, Georg (1989), Philosophie des Geldes, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 6, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Lorenz Engell

MEDIENPHILOSOPHIE DES FILMS

Der Anspruch, eine systematische Philosophie der Medien zu erarbeiten, muss sich der Erwartung stellen, es werde hier in philosophischer Weise und in philosophischen Begriffen über die Medien gesprochen. Die Systematik verlangt dabei, dass die philosophische Rede über die Medien die jeweiligen Spezifika jedes Einzelnen der behandelten Medien herausarbeitet und ihnen gerecht wird. Dazu gehört insbesondere die Klärung der Grundbegriffe, die für das jeweilige Medium von entscheidender Wichtigkeit sind. Während die Medientheorie über ihren Gegenstand, also das jeweilige Medium, das sie behandelt, in begrifflichen Modellierungen spricht, befragt und begründet die Medienphilosophie diese Begriffe selbst. Dadurch verändert Medienphilosophie letztlich, und sei es noch so vermittelt, die Wirklichkeit der Medien mindestens in ihrem Verständnis und ihren Begriffen. Diese Form der medienphilosophischen Begriffsarbeit jedoch, so zentral, unentbehrlich und wichtig sie ist, kann durch einen zusätzlichen Aspekt Ergänzung finden. Philosophisch können Medien und Medienprobleme nicht nur begrifflich aufgeschlossen, modelliert und reflektiert werden. Vielmehr können Medien und Medienprobleme selbst als – dann eben nicht mehr ausschließlich begriffliche – Aufschlüsselungen, Modelle und Reflexionen dargestellt und darin begrifflich rekonstruiert werden. Das scheint stets da sinnversprechend zu sein, wo Medien auf sich selbst zurückkommen, sich reflektieren, wo sie ihre eigenen Bedingungen und Möglichkeiten auf ihre Weise bedenken, ihre Sinnbezüge thematisieren und ihre Folgen abschätzen. Besonders aussichtsreich gestaltet sich diese Untersuchungsrichtung, wenn Medien sich über ihr eigenes Veränderungspotenzial konzipieren und diese Konzepte zugleich die Medien der Veränderungen sind, die sie bewirken. Gerade das nun trifft, wie wir zeigen wollen, auf den Film in hohem Maße zu. Gerade der Film – und das mag bereits eines seiner Spezifika als Medium sein – ist philosophisch daher möglicherweise in diesem zweiten Sinne äußerst ergiebig. Deshalb werden wir uns im Folgenden genau darauf konzentrieren. Wenn wir also den Untersuchungsgang der systematischen Medienphilosophie an dieser Stelle ein wenig ausweiten, dann verzichten wir darauf, vorab die Grundbegriffe der Filmtheorie zu klären oder bereitstehende philosophische Grundbegriffe an das Medium anzulegen. Dieser Verzicht fällt umso leichter, als gerade für den Film diese Arbeiten bereits in hoher Qualität und auch in erstaunlicher Quantität vorliegen. Die wichtigsten, einflussreichsten filmphilosophischen Ansätze in diesem Sinne sind Epstein (1975); Cavell (1971); Deleuze (1989, 1991); Sobchak (1992). Sehr brauchbare Übersichten über die Philosophie des Films

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und ihre Entwicklung finden sich u. a. in Freeland/Wartenberg (1995); im Themenheft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (1995); bei Nagl (1999, S. 7-34) und Château (2003) sowie in Liebsch (2004) und Nagl/Waniek/Mayr (2004). Die geradezu beeindruckende Konjunktur, die das Thema „Film-Philosophie“ behauptet, wird auch daran deutlich, dass allein zwei elektronische Periodika sich ausschließlich der aktuellen filmphilosophischen Diskussion widmen (http://www.filmosophy.org sowie http://www. film-philosophy.com). Kurz, die systematische medienphilosophische Bearbeitung des Films hat längst begonnen und ist weit gediehen. Darauf können wir uns verlassen. Nur deshalb können wir uns erlauben, mit einem in dem oben genannten Sinne erweiterten Verständnis von Medienphilosophie an den Film heranzugehen. Wenn wir also ein bestimmtes filmphilosophisches Problem erörtern, dann handelt es sich dabei um eine Frage, die der Film sich selbst stellt und die sich auch nur mit dem Film stellt. Als paradigmatischer Fall sei hier ein besonders gut eingeführtes Beispiel ausgewählt, nämlich das berühmte „Rosebud“-Problem aus Orson Welles Film Citizen Kane (USA 1941). Es betrifft die alte Grundfrage der Film-Ontologie, die Frage nach dem filmischen Gegenstandsbezug, nach der Gegebenheit der Objekte im Film und dem Zugriff des Films auf die Wirklichkeit; aber es behandelt sie nicht von außen, von gefügten Begriffen aus, sondern aus der Mitte des bewegten Bildes selbst heraus. Wir werden so unmittelbar in die Philosophie des Films als dessen eigene Denkbewegung hineingezogen. Wir beginnen, in den Konzepten des Films mit dem Film zu denken und zu philosophieren und sie dabei – natürlich: das hier ist ein Buch – in schriftliche Rede zu transformieren, statt von vornherein in den allzu rasch bereitstehenden Begriffen einer vorgefundenen Philosophie oder gar Theorie über den Film nachzudenken. Wir fragen damit auch weniger, was Philosophie des Films ist als vielmehr, was sie werden könnte, was der Film als philosophisches Instrument, als seine eigene Philosophie eigentlich verändert. Wir tun dies, weil diese Frage nach dem Werden – beispielsweise, wie hier, nach der Genese des filmischen Gegenstands – genau die Hauptfrage einer Philosophie des Films sein könnte; wir erlauben ihr so, sich selbst vorzustellen.

1. Zimmer mit Aussicht Das „Rosebud“-Problem ist angesiedelt im Verhältnis zwischen dem Filmbild und seinem Gegenstand, zwischen dem Film-Denken und seiner Wirklichkeit, oder allgemeiner, zwischen dem Denken und den Objekten. Es beginnt deshalb schon hier, an meinem Schreibtisch. Vor einiger Zeit bin ich nämlich umgezogen. Lag mein Arbeitszimmer in der vorigen Wohnung im Souterrain und fiel der Blick aus dem Fenster auf einen mit Feldsteinen gemauerten und mit Blumen bepflanzten Lichtgraben, so habe ich jetzt im zweiten Stockwerk einen Balkon vor mir und eine Aussicht. Gespannt darauf, ob mir die Arbeit unter den neuen Bedingungen leichter oder schwerer oder einfach anders von

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der Hand gehen würde, stieß ich auf einen Gedanken Georg Christoph Lichtenbergs. Lichtenberg notiert in einem seiner Aphorismen: „Ich habe allezeit von einer Stube größere Begriffe gehabt als der gewöhnliche Teil der Menschen. Ein großer Teil unserer Ideen hängt von ihrer Lage ab, und man kann sie für eine Art von zweitem Körper ansehen.“ (Lichtenberg 1958, S. 102)

Unsere Ideen, so Lichtenberg, sind konditioniert, abhängig von äußeren Bedingungen. Sie sind demnach weder unbedingt im Sinne Ewiger Wahrheiten, noch sind sie individuell beliebig. Die Ideen und Gedanken sind vielmehr in einem Körper verfasst, der Raum greift; und der Zustand, die Befindlichkeit dieses Körpers, wird mit dem Gedachten offenbar in Beziehung stehen. Lichtenberg stellt sich dabei aber einen erweiterten Körper vor und erweiterte Umräume; das Zimmer, das den Körper umgibt, wirkt ebenfalls auf unser Denken ein, und nicht nur das, sondern auch der wiederum weitere Umraum, in dem nunmehr das Zimmer eine bestimmbare Lage einnimmt.

Lage des Denkens Wenn Lichtenberg Recht hat, dann gibt es also einen Zusammenhang zwischen dem Raum des Denkens – und zwar als einem ganz physisch und real gedachten Raum: der Raum, in dem gedacht wird – und dem Denken selbst. Es gäbe dann eine Befindlichkeit der Gedanken. Stube und Oberstübchen hingen zusammen. Nicht nur die möglichen, besser: die wahrscheinlichen körperlichen Bewegungen und die Blicke würden durch das Zimmer, durch den Raum und seine Eigenschaften, nahe gelegt. Bestimmte physische Räume würden dann, je nach Lage, zu bestimmten Gedanken führen, sie nahe legen oder wahrscheinlich machen. Unter „Lage“ kann dann sowohl die relative Position des Raums, der „Stube“ Lichtenbergs, in einem größeren Umraum, das Haus, die Stadt usw., verstanden werden als wohl auch die Lage im Inneren der „Stube“, Anordnungen der Möbel, Licht- und Sichtverhältnisse und vieles mehr, kurz: die Disposition. Dieses raumgreifende wie -gebende Bedingungsgefüge würde dann die Grundlage dessen ausmachen, was in einem Raum gedacht werden kann oder wahrscheinlich gedacht werden wird. In diesem Sinne hätte jeder Raum, etwa ein Zimmer mit Aussicht, seine eigene Gedankenwelt.

Kino und Film Vom klassischen Zeitalter Lichtenbergs unterscheidet sich die arbeitsteilige und funktional differenzierte Moderne dadurch, dass sie die Konditionierung des Denkens durch die Lage der Räume, der äußeren oder zweiten Körper, in denen dieses Denken sich vollzieht, systematisch exploriert und experimentell erforscht. Sie generiert zahlreiche neue, besondere Räume, die sich jeweils durch hoch markante, artifizielle Lagen auszeichnen. Die akzidenziellen Dispositionen werden in der Moderne systematisch zu Dispositiven verdichtet (vgl. Baudry 1970, 1975; vgl. auch Deleuze 1991). Oftmals auf

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traditionellen Verhältnissen aufbauend, erhalten Bibliotheken und Hörsäle, Küchen und Kabinette, Laboratorien und Observatorien, Gefängnisse und Kasernen, Ateliers und Museen, Theater, Varietees und Panoramen, Fabriken, Galerien, Waren- und Gewächshäuser je spezifische und reproduzierbare Raumordnungen. Und selbst wenn in all diesen Fällen die Konditionierung der Gedanken immer noch eher beiläufig geschehen sollte, so bildet doch das frühe 20. Jahrhundert mit dem Kino einen Sonderraum aus, in dem es um nichts anderes geht als die Einwirkung der „Lage“ auf die Gedankenarbeit. In dem Maße, wie das Kino zu einem konturierten Dispositiv heranwächst, also eine charakteristische Lage nach innen und außen ausbildet, erarbeitet es auch seine eigene Gedanken- oder Ideenwelt, die in diesem Sonderraum wahrscheinlich gemacht wird. Die Denkwelt des Kinos besteht also in seinen Lagen, seinen Ideen und ihrem Zusammenhang – im hier entfalteten Sinne des Ermöglichungs- und Bedingungsgefüges, das sie für das Denken darstellen. Die begriffliche Beschreibung dieser Denkwelt ist dann die Theorie des Kinos. Zu den Besonderheiten des kinematographischen Raums, zum Kino als „Stube der Ideen“, aber zählt zentral und unverzichtbar eine charakteristische Verdoppelung der Raumstruktur, denn das Kino gehört wie Theater, Panorama und Museum zu jenen Sonderräumen, in die wir hineingehen, um wiederum in einen anderen Raum hineinzusehen, an einem anderen Raum imaginär teilzuhaben. Das Kino kombiniert gleichsam die Eigenschaften der beiden Arbeitszimmer, von denen oben die Rede war. Es ist zugleich Souterrain, abgeschlossener, weitgehend ummauerter und überwiegend als Innenraum wahrnehmbarer Sonderbereich, in den man hinein- und hinuntersteigt (ein Schuft, wer hier an Platons Höhle denkt), und andererseits Aussichtsraum, der den Blick nach außen lenkt, ihn an einen unvermutet weiten, fesselnden Außenhorizont verweist. In der einen Stube befindlich, schauen wir in eine andere hinein; und wir schauen nicht nur hinein, wir nehmen in jeder Hinsicht Anteil an ihr, versetzen uns durch vielerlei Übernahme von Perspektiven in sie hinein, während wir dazu gebracht werden, die erste Stube, das Kino, möglichst zu vergessen, sobald das Licht ausgeht (vgl. Oudart 1969). Dieser zweite Raum, der einerseits innerhalb des ersten fungiert, andererseits ihn weit übersteigt, kennt vollständig eigene Lagen. Deshalb muss der filmische Raum vom kinematographischen Raum scharf unterschieden werden. Und selbstverständlich gilt für den filmischen Raum dasselbe, was auch für den kinematographischen Raum galt: auch er ist eine Konditionierung der Gedanken, auch er setzt das Denken unter Bedingungen, auch er ist ein eigener – dann schon dritter – Körper der Ideen und bildet eine eigene Denkwelt aus, die Denkwelt des Films. Sie wiederum beschreibt vielgestaltig die Theorie des Films.

Raum und Zeit Der filmische Raum hat jedoch eine charakteristische Eigenschaft, die ihn von allen vergleichbaren Aussichtsräumen – Museen, Panoramen – unterscheidet, gar nicht zu reden von den Kinos, den Arbeitszimmern und sonstigen „Stuben“, Ober- und Außenstübchen, in denen das Denken sich abspielt. Der filmische Raum ist wandelbar, flexi-

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bel, variabel, beweglich; genauer und radikaler: der filmische Raum ist die Wandelbarkeit des Raumes selbst. Diese besondere filmische Ineinssetzung des Raums mit seiner eigenen Veränderlichkeit artikuliert sich primär in der Beweglichkeit der Kamera wie in der Kombinierbarkeit wechselnder Bildausschnitte in der Montage. Also ist die Bedingung, die der filmische Raum für das Denken darstellt, der unausgesetzte Wandel eben dieser Bedingungen selbst. Mit dem unausgesetzten Wandel wird dem Raum ein Merkmal hinzugefügt, das bislang genau nicht den Raum, sondern die Zeit kennzeichnete. Umgekehrt wird ihm sein Abgrenzungsmerkmal gegenüber der Zeit, die – relative – Invarianz, entzogen. Waren Raum und Zeit außerhalb des Kinos immer klar voneinander zu unterscheiden, so sind sie es nun nicht mehr. Eine immer noch überraschende Definition von Raum und Zeit, die Niklas Luhmann vorgeschlagen hat, kann das vertiefen (Luhmann 1995, S. 181): Raum sei, so Luhmann, die Möglichkeit der Objekte, ihre Stellen zu verlassen; Zeit dagegen der Zwang der Stellen, ihre Objekte zu verlassen. Für den filmischen Raum gilt dann, dass er zunächst noch viel mehr Raum ist als jeder andere Bildraum vor ihm, weil er erstmals den Objekten im Bildraum gestattet, ihre Stellen in eben jenem Bildraum zu verlassen. Sobald aber die Kamera beweglich ist, sind es nicht mehr nur die Objekte, die sich innerhalb des Bildes an andere Stellen bewegen können, sondern es sind nunmehr auch die Raumstellen selbst, etwa filmisch markierte Raumstellen wie Blickpunkt und Focus, die ihre Objekte verlassen können. Und umgekehrt werden die Objekte in der Montage dem Zwang unterworfen, ihre Stellen aufzugeben um anderen, die an ihrer Stelle sichtbar werden, Platz zu machen. Raum- und Zeitmerkmale durchdringen einander. Der Filmtheorie ist dies nicht verborgen geblieben. Sehr früh hat etwa Béla Balázs darauf aufmerksam gemacht (Balázs 2001, S. 49 ff. u. 84-95), und an zentraler Stelle wird die Verräumlichung der Zeit und die Verzeitlichung des Raumes als entscheidendes Charakteristikum des Films von Erwin Panofsky beschrieben (Panofsky 1998, S. 43 ff.). Entscheidend für den Film als Denkraum ist mithin, dass es im Film einen stabilen Denkraum nicht mehr gibt. Der Wechsel der Bedingungen, die das Denken prägen und denen es sich aussetzen muss, ist die Bedingung, unter die der Film das Denken setzt. Der lichtenbergsche Ideenkörper des Films ist ein beweglicher Körper, ein organischer, beweglicher und auch entwicklungsfähiger Körper eher als ein unbelebter. Die filmische Stube lebt.

Klassischer Film versus Klassische Avantgarde Der klassische Film und sein Komplement, der klassische Avantgarde-Film, haben sich je auf ihre Weise genau damit auseinander gesetzt und darüber definiert, wie der fließende Raum des Films einerseits und die filmische Denkbewegung andererseits zusammengeschlossen werden können. Die wichtigsten Exponenten beider Strömungen lassen hier an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Sowohl David W. Griffith wie auch Sergej Eisenstein ging es explizit um die Eroberung filmischer Denkräume durch Flexibilisierung, Prozessualisierung oder Verzeitlichung des Denkens, und beiden

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schien die Konditionierung des Denkens durch den flexiblen filmischen Bildraum in der Kamerabewegung, in der Veränderung des Bildausschnitts und in der Montage der Bewegungsrichtungen der Königsweg zu diesem Ziel zu sein. Griffith etwa entdeckte, dass eine einmal eingeschlagene Bewegung, beispielsweise die einer handelnden Figur (aber durchaus auch eines beweglichen Objekts, eines fahrenden Zuges beispielsweise), gedanklich weiter kontinuiert wird, auch wenn sie keineswegs kontinuierlich verläuft und keineswegs ununterbrochen zu sehen ist (vgl. Jesionowsky 1987). Sie endet im Allgemeinen erst, wenn ihre Beendigung gezeigt wird. So kann eine filmische Einstellung, die die Bewegung eines Objekts zeigt – eine Figur durchquert das Bild von links nach rechts – als Anweisung verstanden werden, diese Bewegung gedanklich zu konstruieren, fortzusetzen oder anzunehmen. Sie ist weniger eine Darstellung der Bewegung. Die schließlich zu festen Formen und Konventionen geronnenen Denkfiguren Griffiths, deren Logik immer eine Handlungs- und damit eine Raumlogik blieben, stellten dann den verbindlichen Formenkanon für den illusionistischen Erzählfilm Hollywoodscher Prägung. In seinen Experimenten mit der eingeschnittenen Großaufnahme des Gesichts handelnder Figuren hoffte Griffith sogar, die Gedanken dieser Figuren wenn schon nicht sichtbar, so doch evozierbar, also wiederum in Gedanken nachvollziehbar machen zu können. Das erinnert bereits sehr an den Avantgarde-Film, an das berühmte KuleschowExperiment, bei dem ein und demselben Gesichtsausdruck je nach Montagezusammenhang drei verschiedene Dispositionen, nämlich Hunger, Wollust und Güte, zugeschrieben wurden. Eisenstein wiederum hoffte, mit den Mitteln der Montage den Denkprozess in einen ganz spezifischen Verlauf, eben eine definierte, strikte Form bannen zu können, der ihm seiner Natur nach entsprach. Dieser Verlauf war für Eisenstein letztlich mit den Gesetzen der hegel-marxschen Dialektik identisch (Eisenstein 1929, 1939). Die Kombination von Bewegungen zu Gegenläufigkeiten, zum Ineinanderfließen und zur Produktion neuer Divergenzen, dient bei Eisenstein weniger der Darstellung äußerer Vorkommnisse als der Konditionierung der Denkbewegung im Sinne der Dialektik. Der Film kann in seinen Augen dann dazu beitragen, den dialektischen Prozess als Grundgesetz auch der Gesellschafts- und Geschichtsbewegung sichtbar und eben dadurch denkbar zu machen.

Vom klassischen Denken zur modernen Philosophie Der Denkraum, die Denkwelt des Films, ist aber noch nicht, genau so wenig wie seine theoretische Aufschlüsselung, die Philosophie des Films. Dem klassischen Film wie der klassischen Avantgarde ging es um die Erkenntnis, dass der filmische Raum zur Konditionierung des Denkens gehört, dass die Wandlungsfähigkeit des filmischen Raumes sein Charakteristikum ausmacht und dass schließlich dadurch das Denken selbst zur Beweglichkeit gebracht werden könne, und zwar auf ganz bestimmten, eben filmtypischen Bahnen. Der Wandel des Raums im Film wurde als Konditionierung des Denkens, als In-Bewegung-Setzen eingeführt. Die Ideen, die auf diese Weise entwickelt

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wurden, waren ihrerseits aber keineswegs filmische oder gar filmspezifische Ideen. Weder die raumgreifende Logik der Handlung noch die zeitgreifende Dialektik gründen sich auf den Film. Von Philosophie aber kann, in Unterscheidung zur bloßen Denktätigkeit, erst die Rede sein, wenn das Denken sich mit sich selber befasst, wenn es seine eigenen Voraussetzungen und Bedingungen klärt, seine Verfahren und Verläufe bedenkt und schließlich seine Folgen und möglichen Fortsetzungen abschätzt. Die Philosophie des Films setzt also mit der Reflexion des Film-Denkens auf seine eigenen Möglichkeiten und Bedingungen ein, und das heißt präzise mit der Entstehung, Ausbildung und Fortentwicklung des modernen Films. Der philosophische Film ist der moderne Film. Der moderne Film nämlich bewegt das Denken nicht nur dazu, auf dafür vorgesehenen Bahnen ständig neuen, wandelbaren Bedingungen zu begegnen, sondern er sorgt auch dafür, dass sich das filmische Denken dabei selbst begegnet, indem in reflexiver Weise genau diese Konditionierungen und Ermöglichungen selbst denkbar gemacht werden. Die Denkbewegungen, die ein klassischer Film anstößt, werden hier ihrerseits überdacht oder wenigstens überdenkbar gemacht. Der moderne Film begreift seine Denkwelt als Wandel – und das heißt: als Reflexion – seiner Denkwelt, und genau in dieser Reflexivität wird er philosophisch.

2. Filmgeschichte und Filmprozess Der Umschwung vom klassischen zum modernen Film und damit vom Denkraum des Films zum Film als philosophischem Raum vollzieht sich auf zwei Ebenen. Er wird zum einen in der historischen Entwicklung des Films wirksam und trennt hier zwei Epochen. Auch wenn dieser Umschwung grob auf die Mitte des 20. Jahrhunderts datiert werden kann, ist klar, dass er sich lange vorbereitet, einen gewissen Durchsetzungszeitraum beansprucht und auch erst langsam abklingt. Zudem etabliert sich der moderne Film nicht anstelle, sondern neben dem klassischen Film, der nach wie vor in wechselnden Formationen und Figurationen weiter und sogar weiter marktbeherrschend produziert wird. Zudem entwickelt auch der moderne Film sich in verschiedenen Phasen und bildet Differenzierungen aus. Auf der anderen Ebene jedoch vollzieht sich der Übergang vom Film-Denken zur Film-Philosophie immer wieder aufs Neue in den Filmen selbst, im Verlauf des Prozesses, der ein Film ist. Zahllose Filme tragen ihn immer wieder und immer wieder neu vor. Der Übergang vom Denken des Wandels im Film zum Film als Wandel des Denkens (und damit als Philosophie) vollzieht sich markant in Orson Welles’ Film Citizen Kane. Er fungiert unstreitig in beiden Entwicklungslinien, der binnenfilmischen und der filmhistorischen. Er wird von zahlreichen Kritikern, Theoretikern und Historikern des Films als ein Meilenstein in der Filmentwicklung und namentlich in der Herausbildung des

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modernen Films angesehen; darunter sind so grundverschiedene wie Jerzy Toeplitz (Toeplitz 1979, S. 129 ff.), André Bazin (Bazin 1958, S. 73 u. 76 f. et passim.) und Gilles Deleuze (Deleuze 1989/1991, Bd. 2, S. 148 ff.). Youssef Ishagpour (2001) nennt ihn sogar die „kopernikanische Wende“ des Films. Hier aber soll die zweite Entwicklungslinie im Vordergrund stehen, die Transformation, der Citizen Kane das Film-Denken unterzieht, indem er es auf sich selbst zurückbezieht und dadurch seinerseits als Transformationsprozess sowie den Film als Medium kenntlich macht.

Vergangenheit und Zukunft Citizen Kane erzählt, wie erinnerlich, von dem letztlich vergeblichen Versuch des Zeitungsreporters Thompson, das Leben des erfolgreichen Medienmagnaten und gescheiterten Politikers Charles Foster Kane zu rekonstruieren und den in einer frühkindlichen Traumatisierung zu vermutenden Schlüssel zu dessen eigenwilliger und schließlich bösartiger Charakter- und Verhaltensstruktur zu finden. Die Recherche Thompsons führt ihn zu verschiedenen Quellen und Zeugen, deren Aussagen in umfangreichen Rückblenden dargestellt werden. Am Ende aber entgeht Thompson der entscheidende Hinweis auf den Kinderschlitten mit Namen „Rosebud“, dem Kanes letzter Gedanke, sein letztes Wort, gegolten haben sollen. Thompson, der die ganze Zeit über nach „Rosebud“ gesucht hat, verfehlt das Objekt seiner Suche. Eben das ist das „Rosebud“Problem. Stilistisch und filmästhetisch ist Citizen Kane wie eine Summe des Filmschaffens seiner Zeit zu lesen (Buchka 1977, S. 55-67; Mulvey 1992; Weise 1996, S. 38-49). Er verwendet und perfektioniert die Tiefenschärfe des Bildes und die ausgedehnte Kamerafahrt, die der französische poetische Realismus entwickelt hatte; er zitiert die verschobenen Kamerawinkel und schattenreichen Ausleuchtungen des Film Noir, aber auch die schattenlose Lichtführung des klassischen amerikanischen Erzählkinos; er lehnt sich bisweilen an die Montageexperimente der sowjetischen Avantgarde an, verlässt sich aber auch auf die von Griffith herkommende fließende Raummontage, die er in genialen elliptischen Verfahren maßlos beschleunigt, ohne dass sie, wie bei Griffith selbst phasenweise geschehen, praktisch kollabiert; er verbindet chronologische und a-chronologische Erzählmomente und integriert Wochenschauästhetik, Radio- und Werbetonfall sowie Operndekorationen und Schlagzeilentypographien in seinen Film. Citizen Kane bietet also einen guten Teil des gesamten Formenkanons des Films seiner Zeit auf und ergänzt ihn um Formen, die anderen Medien entstammen. Citizen Kane enthält zahlreiche markante, meist metonymische Hinweise auf sich selbst. So ist der Palast „Xanadu“, den der alternde Kane sich errichten lässt und in dem er sich mit seiner riesenhaften, aber völlig unstrukturierten und unzusammenhängenden Sammlung an wild zusammengerafften Kunstgegenständen umgibt, ein Bild für das stilistische Sammelsurium von Citizen Kane selbst. Zugleich wird das Problem des Gegenstandsbezugs darin zusammenfassend exponiert. Das gigantische Puzzlespiel, an dem Kanes Frau sitzt, ist das Sinnbild für Thompsons Versuch, die verschiedenen As-

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pekte der Persönlichkeit und der Entwicklung Kanes zu einem einheitlichen Bild zusammenzusetzen. Das Thema der Medienprominenz, zentrales Anliegen des Films, verkörperte in Hollywood damals niemand so sehr wie sein Regisseur Orson Welles selbst, der den Kane auch spielt. Wenn schließlich Kane das Opfer derselben Öffentlichkeit wird, die er selbst geschaffen hat, dann bekommt sogar die Rückbezüglichkeit des Films ein rückbezügliches Bild im Film.

Gleichzeitigkeit des Verschiedenen An den Ausgangspunkt zurückkehrend ist die Raumdisposition in Citizen Kane näher zu untersuchen. Am deutlichsten lässt sich der Wandel vom Denkraum des Wandels im Film zum Film als Wandel des Denkraums anhand der Verwendung der Tiefenschärfe des Bildes in Citizen Kane beobachten (siehe dazu Bazin 1958, S. 73-80; Mulvey 1992; Weise 1996). Dieses Verfahren macht es möglich, dass wir in zwei in der Bildtiefe hintereinander liegende Räume zugleich hineinschauen können, die beide in gleicher Weise fokussiert werden. Die dafür vielleicht berühmteste Einstellung des Films zeigt die ärmliche Wohnstube des kaneschen Elternhauses und zugleich und ebenfalls in voller Bildschärfe den Blick durch das Fenster in der hinteren Wand und hinaus in den Schnee, in dem der junge Charles Foster Kane mit seinem Schlitten spielt. Die Szene hat Schlüsselfunktion, aber das Verfahren kehrt auch in anderen Sequenzen des Films mehrfach wieder. Sie zeigt eine Lage, die ihrerseits aus zwei verschiedenen Lagen besteht, ganz so, wie wir das oben für das Kino schon festgehalten hatten. Beide sind auch aufeinander bezogen, ohne dass wir allerdings sicher sagen könnten, wie. Es ist noch nicht einmal klar, ob das Geschehen draußen lediglich Hintergrundgeschehen, oder ob nicht vielmehr die Stubenszene bloße vordergründige Rahmung für das eigentliche Geschehen draußen ist. Beide Vorgänge können auch nicht, wie das bei einem Gemälde oder einer Photographie der Fall wäre, in Ruhe nacheinander gelesen und dann zu einem geschlossenen Gesamteindruck zusammengezogen werden; da beide gleichermaßen bewegt sind, in der Zeit parallel verfließen – und nur deshalb –, müssen beide Bewegungen unhintergehbar simultan begriffen werden. Diese Gleichzeitigkeit ist nicht nur eine des Verschiedenen, sondern auch des eigentlich Ungleichzeitigen (vgl. hierzu Deleuze 1989/1991). Das Spiel des Kindes im Schnee geht gerade – und für immer – zu Ende, während drinnen die Zukunft des Kindes besiegelt wird. Eine Bewegung verläuft von hier aus in die Vergangenheit, die andere in die Zukunft. Auch darin verweist wieder das einzelne Bild des Films auf den Film im Ganzen. Auch Citizen Kane nämlich verläuft, wie die zitierte Einstellung, zugleich in beide Zeitrichtungen. Als Erzählung von Thompsons Recherche zieht er von der Gegenwart, beginnend mit Kanes Tod, in die Vergangenheit zu seiner Kindheit; als Erzählung vom Leben Kanes verläuft er umgekehrt. Im Bild des brennenden Schlittens „Rosebud“ am Schluss werden beide Verläufe wieder in einem Bildraum zusammengefügt, ohne jedoch ineinander zu münden. Die so entstehende offene Kreisbewegung wird vielfach wieder aufgenommen, etwa zwischen den beiden Gesprächen, die Thompson mit Kanes

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Frau führt, einmal gleich zu Beginn und dann wieder am Schluss seiner Recherchen. In die erste führt die Kamera durch eine enorm lange Fahrt in die Bildtiefe hinein und hinunter durch das Glasdach in den Raum, aus der zweiten führt die Komplementärbewegung wieder hinauf und hinaus.

Innen und Außen Begreifen wir die Räume des Films zugleich als Zeiträume, so spaltet sich der normalerweise einheitlich konzipierte Zeitraum des Bildes hier in zwei Aspekte auf, die nicht mehr integrierbar sind. Ihre Divergenz durchzieht den Film bis zum Schluss und bleibt auch am Ende offen gehalten; mehr noch, sie wird als nicht mehr schließbar erkannt; allerdings um den Preis der Paradoxie, dass wir, die Zuschauer, diesen Schluss als nicht möglichen dennoch und an Thompson vorbei zu sehen bekommen müssen. Und was für den Zeitraum gilt, das trifft auch für den – ohnehin filmisch-flexiblen – Denkraum zu. Wir befinden uns in dieser Szene in einem Dispositiv, das den Raum aufspannenden Gegensatz von Innen und Außen zwar noch kennt und auch zeigt, ihn aber unterläuft. Wir werden an Innen und Außen zugleich verwiesen. Das Verhältnis zwischen Innen(bild) und Außen(bild) ist selbst ein Bild geworden. Die Dichotomie von Innen und Außen ist besonders für den von Griffith herkommenden klassischen Erzählfilm stets erkenntnisleitend und erzeugt eine an Raum und Handlung orientierte binäre, dichotomische Logik von Aktion und Passion, von Individuum und Umwelt, von Gut und Böse, von vorher und nachher. Deleuze verdichtet diese dichotomische Filmlogik zum Konzept des „Aktionsbildes“ (ebd., Bd. 1, S. 193240). In Welles’ tiefenscharfen Bildern aber verschiebt sich die Aufmerksamkeit auf deren jeweiliges Zugleich. Welles’ Bildraum konzentriert sich auf die höchst flüchtige Berührung zwischen dem Gegensätzlichen, und das heißt schließlich, auf die Beschaffenheit des Bildraums selbst, aus dessen Wandlungsfähigkeit und Beweglichkeit diese Differenz durch Kamerabewegung und Montage immer erst generiert wird. Denn gezeigt wird jetzt nicht mehr der Gegensatz der Räume, sondern ihr Übergang ineinander, ihre Genese, der Punkt, an dem der eine in den anderen umschlägt. Im klassischen Formenschema des Films verschwindet dieser Umschlag zwischen den Bildern im Umschnitt. Bei Welles wird er selbst Bild. Der Denkraum ist jetzt nicht mehr derjenige des Bildes, sondern derjenige der Transformation und der Transition; und diese Transition ist fortan das Bild. Darin wirkt die tiefenscharfe Einstellung in Citizen Kane erneut wie eine rekursive Form, die zugleich die Form des ganzen Films enthält. Der verzeitlichte Raum und die verräumlichte Zeit des klassischen Films werden hier noch einmal transformiert. Und was für den Raum gilt, gilt auch für andere verfestigte Denkschemata, beispielsweise für die personale Identität; ein Schema, das mit dem „ersten Körper“ und seiner Erfahrung als Bild zusammenhängt. Die Identität des Kane, obschon nicht bezweifelbar, wird für Thompson dennoch nicht transparent. Sie bleibt ein bewegliches Bild-Konstrukt, dessen Teile nicht zusammenpassen und in Sonderheit in der Zeit und mit der Zeit variieren. Jedes dieser Teile mag in sich schlüssig sein, als

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abgeschlossene Form erzählbar oder darstellbar wie in den Rückblenden, aber ein Gesamtzusammenhang, ein Fluchtpunkt, der die divergierenden Teilaspekte gleichsam perspektivisch integrieren würde, ergibt sich daraus für Thompson letztlich nicht.

Ding und Medium Das gilt aber letztlich nicht nur für die Formschemata von Raum, Zeit und personaler Identität, es gilt vielmehr für das Objektschema ganz allgemein. Eben dies ist das „Rosebud“-Problem, die zugleich abstrakteste wie konkreteste, nämlich an ein spezifisches, erfahrbares Objekt gebundene Fassung der Transformation. Die Erkenntnis des Objekts – die Identität Kanes, das Ursprungstrauma der Vergangenheit, die Bedeutung des Wortes „Rosebud“ – ist in Citizen Kane an die nicht reduzierbare Vielheit und Diversität der Erkenntnisse über das Objekt gebunden. Das erkannte und begriffene, das vorgestellte und dargestellte Objekt ist immer das, was als jenseits aller Vorstellung und jenseits des Begriffs liegendes vorgestellt und begriffen wird. Das filmische Objekt, so will es Welles’ Film, ist deshalb keine fest gefügte Form, kein Ding, sondern im Gegenteil dasjenige, was die Vielheit der Repräsentationen, der Formen, in denen es sich darstellt und von denen es daher, da es nur als filmisch dargestelltes möglich ist, abhängt, dennoch erst ermöglicht. Das Objekt des Films ist, so gesehen, immer schon ein Medium, Sammelplatz, Möglichkeits- und Bedingungshorizont einer Vielzahl wandelbarer Bilder des Objekts (vgl. Heider 1926; vgl. dazu auch Brauns 2002, S. 9-20). Das gilt für alle Ebenen des Films und alle seine Objektbereiche, von den gegenständlichen Requisiten bis zu den erzählten Geschichten. Der Film „hat“ in diesem Sinne kein Objekt, aber er generiert es in einem Vorgang, in dem er sich dem, was er generiert, immer weiter annähert, um es am Ende doch, und notwendigerweise, zu verfehlen. Die geschieht notwendigerweise, weil er ansonsten mit seinem Objekt verschmelzen, selbst dieses Objekt werden würde. Nur weil er es nicht erreicht, ist das Objekt das Objekt, ist „Rosebud“ überhaupt möglich, nämlich als Paradox, als filmisch repräsentierte Unverfügbarkeit des Objekts für die filmische Repräsentation. Diese Offenheit des filmischen Objekts als Prozess aber wird erst dann erkennbar, wenn die Formen, in denen das Objekt sich darstellt, eben im Wandel, in Diversität und Inkommensurabilität begriffen sind und keineswegs zu einer geschlossenen Gesamtform integriert werden können. Das Verschwinden des zentralen, konvergenten Objekts wird in Citizen Kane exemplarisch anhand zweier Bilder durchgeführt, der wohl berühmtesten und meist zitierten des Films. Das erste Bild in der Auftaktsequenz zeigt das Zerschellen der Glaskugel, in deren Inneren eine kleine Hütte im Schnee zu sehen ist. Sie entgleitet der Hand des sterbenden Kane und ist dann durch den Film hindurch immer wieder in seiner Umgebung zu sehen. Das zweite Bild ist das Verbrennen des Schlittens am Schluss des Films, das nur wir bemerken, nicht aber Thompson. Damit hat die Suchbewegung Thompsons ihr Ziel verfehlt; sie kann abgebrochen, aber niemals beendet werden.

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Objekt als Gegenstand Citizen Kane reflektiert das filmische Objekt, wie gesehen, als ausschließlich in der filmischen Repräsentation gegebenes Objekt, das aber so gegeben wird, dass es als unabhängig von der Repräsentation, ihr äußerlich und vorgängig anzunehmen ist. Das filmische Objekt erschöpft sich, so will es Citizen Kane, nicht in der Repräsentation, obwohl es ausschließlich durch Repräsentation gegeben ist. Es geht in seiner Darstellung nicht auf. Das filmische Objekt ist als filmisches ein in stetem Werden begriffenes, als Objekt jedoch ein Seiendes, Stabiles, das gerade deshalb in seiner filmischen Repräsentation nicht aufgehen kann. Es bleibt daher widerständig, Gegen-Stand des Films. Genau dies aber vermag der Film nur um den Preis einer Verkürzung aufzuzeigen, indem er nämlich – wie hier am Schluss – plötzlich einen Ebenenwechsel vollzieht und uns als Zuschauer etwas sehen lässt, was die bis dahin perspektivgebende Figur nicht sieht, nämlich den brennenden Schlitten „Rosebud“. Die Widerständigkeit des Gegenstands kann nur reflektiert werden, wenn sie im Film artikuliert, in den Film hineingenommen wird – hier in die Nicht-Wahrnehmung durch Thompson. In den Begriffen von Charles Sanders Peirce gefasst, reflektiert Citizen Kane damit auf den Status des semiotischen Objektbezugs überhaupt, und das heißt denjenigen aller Repräsentation, aller Wahrnehmung, Vorstellung und Reflexion der Objekte (vgl. Vandenbunder 1997; Hoensch 1980). Wie Peirces Semiotik, so trifft auch Welles’ Film eine Unterscheidung zwischen dem unmittelbaren oder internen Objekt eines Zeichens und seinem externen oder dynamischen Objekt (Peirce 1906, 1908; vgl. dazu Bense 1976; Walther 1979, S. 90 ff.; Nagl 1992, S. 36-39; Roesler 2003). Das unmittelbare Objekt ist das in der Repräsentation gegebene, das dynamische hingegen das der Repräsentation gegenüber äußerliche und widerständige Objekt, das zwar nur über Repräsentation überhaupt gegeben ist, aber dennoch von ihr als von ihr unabhängig projiziert wird. Das dynamische Objekt kann – und wird – Gegenstand zahlreicher numerisch, begrifflich und ästhetisch verschiedener, divergenter Repräsentationen sein, die jedoch eben in ihrem Bezug auf das dynamische Objekt konvergieren, jedenfalls in einem hinreichenden Maß, um sie als Repräsentationen dieses Objekts zu verwenden. Und genau dieser Bezug wird von Citizen Kane in seiner Konvergenz als kritisch erarbeitet. Als ein komplexes Zeichengebilde repräsentiert Citizen Kane seine dynamischen Objekte so, dass zugleich eben diese Repräsentation des dynamischen Objekts thematisiert wird. Er repräsentiert die Repräsentation, oder noch genauer: er repräsentiert sich selbst als Realität des Objektbezugs. Und darin wiederum thematisiert er – in bewegten opto-akustischen Bildern – eine der Grundfragen der Film-Ontologie seit Anbeginn der philosophischen Filmtheorie (vgl. hierzu Bazin 1958 und Cavell 1971).

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Denken der Wirklichkeit Der Bezug des Zeichens – hier also des Filmbilds, je nach Komplexitätsstufe der filmischen Einstellung, der Sequenz, eines Films im Ganzen – zu seinem Gegenstand als dynamischem Objekt kennt nach Peirce bekanntlich drei Stufen oder Varianten, nämlich die iconische, die indexikalische und die symbolische Realisationsform (C. S. Peirce, „Neue Elemente“, in: Mersch 1998, S. 37-56; vgl. dazu Eco 1977, S. 138-147; Walther 1979, S. 62-70; Nagl 1992, S. 42-52). Wie leicht zu zeigen ist, thematisiert Citizen Kane alle drei Qualitäten des Films. Das Besondere daran ist nicht, dass iconische, indexikalische und symbolische Repräsentationsverfahren vorkommen, denn das ist in jedem Film möglich und wird vermutlich auch anzutreffen sein. Das Besondere ist vielmehr, dass Iconizität oder Analogie, Indexikalität oder Kausalität und Symbolizität oder Konventionalität in Absetzung voneinander als drei Modi der Bezugnahme thematisiert werden und zwar in verschiedenen Bildern und Ebenen des Films. So können etwa die Tiefenschärfe, die Plansequenz und die Kamerafahrt ebenso wie die zirkulären Konstruktionen als filmische Repräsentation der Analogie gelesen werden. Die elliptische Montage, Bildmotive wie die wachsenden Zeitungsstapel, die den wachsenden Erfolg der kaneschen Zeitung ablesbar machen, aber auch die narrative Gesamtanlage des Films mit ihrer Bewegung hin zu einem vermuteten Ursprungsereignis, können als Thematisierung der Indexikalität und Kausalität angesehen werden. Schließlich begreift Citizen Kane das Problem der Konventionalität – abgesehen von den zahlreichen einschlägigen Einzelmotiven wie dem ritualisierten Frühstücksverhalten des Ehepaares Kane – etwa darin, dass er, wie gesehen, nahezu alle wichtigen Stil- und Darstellungskonventionen des zeitgenössischen Films durchdekliniert. Schließlich zieht er die weitreichendste aller filmischen Konventionen in Zweifel, nämlich die Übereinkunft, jenseits des Repräsentamen, jenseits des filmischen Bildes ein gegenstandfestes Objekt vorauszusetzen. So stellt Citizen Kane zweifellos die Geschichte des Zeitungszaren dar und die Rekonstruktion dieser Geschichte als Recherche eines Journalisten. Aber der Film tut dies so, dass all dies unter einem bestimmten Zugriff geschieht, unter den Citizen Kane die von ihm repräsentierte Wirklichkeit setzt, und dieser Zugriff ist die Frage nach dem Objektbezug oder, anders formuliert, nach der Wirklichkeit des filmischen Bildes. Citizen Kane ist ein Film, der nicht nur von der Suche nach der Wirklichkeit erzählt, sondern dessen filmische Wirklichkeit selbst die Suche nach der filmischen Wirklichkeit ist. In den Termini, die oben benutzt wurden, um die Philosophie des Films zu charakterisieren, vollzieht Citizen Kane damit den Übergang vom filmischen Denken der Wirklichkeit zur Wirklichkeit des filmischen Denkens.

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Zurück auf Anfang Der Bezug auf das repräsentierte Objekt ist natürlich nur ein einziger von denkbar vielen Problemaspekten des Films und des filmischen Denkens. Es kann im Film nicht nur um den Bezug zur Wirklichkeit gehen, sondern genau so sehr um die Dimensionen des Möglichen und des Notwendigen und ihre verschiedenen Komplexions- und Übergangsverhältnisse. Es geht auch um seine Materialität, es geht um seine Bedeutungskonstitution, die in zahlreichen Zwischenphasen und Zwischenschritten verläuft. Das ist zu weit, um es hier auszuführen und mehr, als ein einziger Film bearbeiten kann. Citizen Kane ist jedenfalls dadurch zu kennzeichnen, dass er den Aspekt des filmischen Wirklichkeitsbezugs filmisch durchdenkt. Andere moderne Filme behandeln andere Aspekte, stellen ihre Welt unter einen anderen Zugriff. Mit ihnen steht ein Film wie Citizen Kane natürlich in einem Zusammenhang, mit ihnen ist er in einem Entwicklungsprozess des filmischen Denkens und der Philosophie des Films verbunden. Quer dazu aber gibt es, so ist mit Peirce anzusetzen, ein anderes Kontinuum der Zeichen, in dem die Genese eines Gedankens verläuft. Sie verknüpft über zahlreiche Zwischenformen die ästhetische Materialität mit dem hier besonders diskutierten Bezug auf ein äußeres, dynamisches Objekt und schließlich mit dem Prozess der Bedeutungs- und der Sinngebung. Ein und derselbe ununterbrochene Vorgang durchzieht die wahrnehmbaren, materiellen Qualitäten der Anschauung, die äußeren Objekte der Vorstellung und der Darstellung und schließlich die sinngebenden Gedanken, ja sogar Denkgesetze und die daran anschließenden Handlungsgewohnheiten. Mit Peirce ist deshalb davon auszugehen, dass das, was wir gängigerweise „unser Bewusstsein“ nennen, erstens selbst ein zeichenhaftes Gebilde ist, zweitens und vor allem aber Teil, Phase eines umfassenden Prozesses, in dem Realität sich unausgesetzt selbst repräsentiert, thematisiert, um sich selbst zu verändern, zu transformieren (Peirce 1868; vgl. auch Nagl 1992). Dieser Prozess ist das Denken. „Unser“ Denken ist keineswegs der Raum, in dem er sich bevorzugt vollzieht, sondern vielmehr einer der Räume, die er durchzieht, die er miteinander verbindet und die er beständig verändert. Sie alle haben am Denken in dem Maße Anteil, in dem sie sich verändern können, denn das Denken macht keinen zwingenden Unterschied zwischen Innen- und Außenräumen. Die Entwicklung des Films und das Studium seiner Medienphilosophie kann das lehren. Genau wie ein Film den Raum nicht beherbergt, sondern zahlreiche Räume durchquert, durchzieht, montiert, transformiert, dynamisiert und schließlich selbst diese Transformation ist, so durchzieht auch das Denken zahlreiche Räume, transformiert sie dabei und bringt sich hervor. „Unser eigenes“ Denken ist lediglich einer dieser Räume. Der Film ist ein anderer, das Kino wieder ein anderer, und schließlich ist auch das Arbeitszimmer, in dem wir über die Philosophie des Films nachsinnen, einer dieser Räume und seine Lage wird, im Souterrain nicht weniger als im Obergeschoss, so oder so an unseren Gedanken mitwirken.

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„Now we encounter a paradox. Radio brings greater variety into the lives of men, and yet at the same time tends to standardize and to stereotype mental life.“ (Hadley Cantril/Gordon W. Allport 1986, S. 22)

1. „Denn das Radio ist mittlerweile ein vernachlässigtes Forschungsobjekt – vergleicht man das Interesse an ihm mit dem Forschungs- und Diskussionsinteresse, das das Fernsehen oder der Computer gegenwärtig auf sich ziehen.“ (Kreuzer 1997, S. 239) – Der Einschätzung Helmut Kreuzers kann man nur zustimmen. Das gilt umso mehr, wenn man bestrebt ist, das in Rede stehende auditive Medium, der Terminus ‚Radio‘ kommt erst nach 1945 in „Mode“ (Diederichs 2001, S. 219), historisch-systematisch zu situieren, und das nicht zuletzt im Sinne einer – wie auch immer zu antizipierenden – Lesart von ‚Medienphilosophie‘. Die Voraussetzungen für ein solches Unterfangen nehmen sich alles andere als günstig aus, weil das Radio heute als Folge eines über Jahrzehnte hinweg signifikant gewandelten Mediennutzungsverhaltens (Berg/Kiefer 1992; Berg/ Kiefer 1996; Lindner-Braun 1998) mit dem wenig schmeichelhaften Etikett eines ‚Stand-by‘- oder ‚Nebenbei‘-Mediums versehen ist. Einen problemorientierten Zugriff auf unser Thema, einer Medienphilosophie des Radios im deutschsprachigen Raum, gewährt der in den 1990er Jahren begonnene Diskurs des so genannten ‚Kulturalitätsparadigmas‘. Unter der Chiffre ‚Kulturalität‘ (Frühwald et al. 1991; Böhme/Matussek/Müller 2000) vollzieht sich eine Umschreibung der überkommenen Geisteswissenschaften zu ‚Kulturwissenschaften‘. Im Kontext der traditionellen geisteswissenschaftlichen Prämissen wird der Status von ‚Medien‘ hinsichtlich Epistemologie, Perzeption, Performanz, Imagination und Effekt sowohl unter synchronen als auch unter diachronen Aspekten zunehmend als prekär begriffen. Dieser Befund zieht eine gegenläufige Bewegung nach sich: Auf der einen Seite erfährt das mediale Moment eine beachtliche Aufwertung, mehr noch: es gerät sogar zum Reflexionshorizont einer jedweden gesellschaftlichen, kulturellen Selbstverortung (Luhmann 1997; Schmidt 2000); auf der anderen Seite stürzt die ungebrochene Konjunktur

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medienfokussierter Forschungs- und Wissenschaftsdiskurse (Güdler 1996) die solchermaßen benannten Kommunikations- und Medienwissenschaften in eine Definitions-, Legitimations- und Identitätsmisere. Just der Umstand, dass ‚Mediales‘ und/oder ‚Medialität‘ in der Zwischenzeit zum paradigmatischen Topos in mannigfaltigen Disziplinen und Diskursen avanciert sind, suspendiert allen voran die historisch-ästhetisch orientierte Medienwissenschaft (mehr als die empirisch-funktional versierte Kommunikationswissenschaft) von ihrem ‚Frontposten‘ als avantgardistische Disziplin – so ein gern gepflegtes Selbstverständnis. Zuvor vielerorts um die Legitimität ihres Gegenstandsbereiches ringend und diesen den hergebrachten Zuständigkeitsansprüchen der etablierten Disziplinen mühsam abtrotzend, sieht sich die Medienwissenschaft nunmehr – als zumindest teilautonomisiert – wiederum in Frage gestellt: Im Zuge des oft zitierten ‚medial turn‘ der Kulturwissenschaften (Weber 1999) sind aufs Neue korrespondierende Zuständigkeitsbereiche auszuhandeln und Alleinvertretungsansprüche zu begründen. Und im Zusammenhang mit jenen kurrenten inter- und intradisziplinären Evolutions- und Ausdifferenzierungsprozessen (Leonhard et al. 1999/2001/2002) wird – neben anderen – auch Medienphilosophie auf die Agenda der sich reformierenden kulturwissenschaftlichen Diskurse gesetzt.

2. Prinzipialiter stellt sich die Frage: Gibt es überhaupt Medienphilosophie, gar eine hier unterstellte systematische Medienphilosophie, innerhalb derer ein jedes Medium – wie der Hörfunk – seinen ihm gebührenden Platz zugewiesen bekommt? Redet eine philosophische Orientierung auf je einzelne Medien, wie Kritiker zu bedenken geben könnten, nicht einer fatalen Rückwendung das Wort? Soll heißen: Macht man sich dadurch nicht qua analogia eben jene reduktionistischen Argumentationsmodi singulärer Medientheorien zu Eigen, die ihren Bedeutungsüberschuss zu einem Medium unter Negierung kontextueller Referenzen zu behaupten suchen? Und gehen damit nicht in letzter Konsequenz Ansätze einer reflexiven Mediensystematisierung verloren, die gerade Dependenz-, Zirkulations- und Konkurrenzrelationen von Medien sowie ihre Integration in historisch sedimentierte Medienkonfigurationen untersuchen? Wie leicht zu gewärtigen, ist die Gefahr groß, den latenten Verwerfungen eines solch ambitionierten Vorhabens anheim zu fallen. Doch die Herausgeber der vorliegenden ‚Systematischen Medienphilosophie‘ sind sich der versteckten Fallstricke der Problematik durchaus bewusst, denn ihr genuines Erkenntnisinteresse konzentriert sich auf eine Medienphilosophie mit mehreren Dimensionen des Medialen. Nach Sandbothe (2001, S. 12; Sandbothe/Nagl 2003) soll Medienphilosophie mit systematischem Anspruch – die Nähe zu den luhmannschen Medienbegriffen (Luhmann 1997) liegt auf der Hand – Zusammenhänge erfassen zwischen folgenden Komplexen: • sinnlichen Wahrnehmungsmedien (wie Raum, Zeit und die fünf Sinne);

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semiotischen Kommunikationsmedien (wie Bild, Sprache, Schrift und Musik) sowie • technischen Verbreitungsmedien (wie Stimme, Buchdruck, Radio, Film, Fernsehen, Computer und Internet). Allerdings ist Sandbothes und Nagls Sicht der Dinge bei weitem nicht als kanonisch vorauszusetzen. Denn auf diesem neuen epistemischen Feld, das in den vergangenen Jahren eine stetig wachsende Anteilnahme erfuhr, herrscht unter den Kombattanten gleichwohl verhältnismäßig wenig Konsens bezüglich Objekt, Methodik, Intention und Tradition der mit dem Terminus „Medienphilosophie“ markierten Wissensbestände und Forschungsrichtungen. Eine gewisse Einhelligkeit besteht nur insoweit, als dass es sich bei der Medienphilosophie nicht um die Bezeichnung für eine akzeptierte und institutionalisierte akademische (Sub-)Disziplin der zeitgenössischen Philosophie (‚Schulphilosophie‘) handelt. Die forciert seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre virulente Intonierung einer Medienphilosophie nimmt sich prima facie als heteronomes Diskursgefüge aus, das seiner wissenschaftshistorischen Einordnung noch entgegensieht. In der Tat ist die Zuweisung der Medienphilosophie zu eher medienwissenschaftlichen oder zu eher philosophischen Geltungsbereichen keineswegs eindeutig ausgemacht. Zwar ist einerseits zu goutieren, dass Medienphilosophie grosso modo durch Repräsentanten der Medien- und Kulturwissenschaft(en) initiiert und lanciert wurde, doch widerstreitet andererseits eine allzu leichtfertige Inventarisierung des Phänomens unter die Ausdifferenzierungstendenzen der selbst ja noch jungen akademischen Medienwissenschaft(en) dem (Selbst-)Verständnis des Gros der als medienphilosophisch zu klassifizierenden Beiträge. Kurrente Diskutanten (Fietz 1992; Hartmann 2000; Sandbothe 2001; Vogel 2001; Seel 2002; Münker/Roesler/Sandbothe 2003) verfechten Medienphilosophie vornehmlich als einen dezidierten Interdiskurs zwischen den beiden genannten Disziplinen (Filk/Grampp/ Kirchmann 2004). Bei allen Divergenzen herrscht jedoch weit gehende Einmütigkeit darüber, dass das Paradigma Medienphilosophie der Medienwissenschaft stärker als der Philosophie bei der Bestimmung und vor allem bei der begrifflichen Klärung ihres Gegenstandes von Nutzen sein könnte. Für die Fachphilosophie wird vom neuen Interdiskurs primär eine Rejustierung ihrer eigenen Traditionsbestände erwartet, die noch einmal vor Augen führt, dass und in welchem Ausmaße die philosophische Reflexion immer schon Medienreflexion impliziert hat. Aus dem Spektrum medienphilosophischer Dispositionen lassen sich vor allem zwei zentrale dichotome Argumentationsstränge destillieren, die eine gewisse Heuristik für das gesamte Diskursfeld abgeben: • Gegensatz zwischen der These einer evolutionär ausgerichteten Kontinuität einerseits und der These einer grundlegenden Neuinitiierung der Philosophie durch Medienphilosophie andererseits sowie • Gegensatz zwischen theoretizistischen und pragmati(zisti)schen Ansätzen, mithin zwischen einem eher reflexiven und einem eher empirisch-pragmatischen Selbstverständnis des Philosophierens.

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Bei den meisten Beiträgen in der aktuellen Debatte handelt es sich um Konzepte, die sich zuvörderst unter das Label einer allgemeinen Medienphilosophie subsumieren lassen. Durch das Attribut ‚allgemein‘ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich um Aussagen grundlegender Art handelt, die – mehr oder minder – Gültigkeit für den gesamten Gegenstandsbereich einer Medienphilosophie sui generis für sich reklamieren (können). Vermag man diesem Zwischenfazit beizupflichten, drängt sich die Frage auf, ob und gegebenenfalls inwiefern diese auch auf eine spezielle Medienphilosophie, wie eine des Hörfunks, zutreffen (oder nicht). Ließen sich Erkenntnisse oder zumindest gewisse Teile davon auf unser Fallbeispiel transponieren und applizieren, so würden wir dadurch eine Reihe von Wegmarken für die medienphilosophische Diskussion des Radios an die Hand bekommen. Um mögliche medienphilosophische Indizes – mit systematisierender Orientierung – zu diskursivieren, werden im Folgenden ausgewählte Positionen, die von den 1920er Jahren bis an die Schwelle des 21. Jahrhunderts reichen und für eine Medienphilosophie des Radios als relevant zu erachten sind, zielorientiert (re)konstruiert und für die aktuelle Diskussion fruchtbar gemacht. In Anbetracht des unterentwickelten Forschungsstandes im Bereich einer Medienphilosophie des Hörfunks, ganz zu schweigen von einer mit systematischen Vorzeichen, hat man sich in den konzeptuellen Ansprüchen zu bescheiden und wird sich fürs Erste mit explorativen Hinweisen auf eine systematische Medienphilosophie des Radios begnügen müssen. Diesem Zwecke dienen die bereits oben eingeführten Unterscheidungen zwischen sinnlichen Wahrnehmungs-, semiotischen Kommunikations- und technischen Verbreitungsmedien als untersuchungsleitende Kategorien. Damit die drei Mediensorten systematisch miteinander in Diskurs gesetzt werden können, empfiehlt es sich, ein gesteigertes Augenmerk auf intermediale Relationen und Arrangements zu richten.

3. Das sozialpsychologische Großexperiment mit dem Radio aus der Frühphase seiner Kulturgeschichte mandatiert – kantisch gewendet – die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit medienkonstituierender Wirklichkeit(en) im Fokus sinnlicher Wahrnehmungsmedien. Im Jahre 1938, zur Hochzeit des American Broadcasting, evoziert die Ausstrahlung des danach berühmt gewordenen Hörspiels War of the Worlds nach der Romanvorlage Herbert G. Wells’ und in der Regie Orson Welles’ (Wells 1996) eine bis dato nicht vorstellbare medieninduzierte Panik und Hysterie in den Vereinigten Staaten. Welles’ Invasion vom Mars gerät zu einer, so Herbert Marshall McLuhan später, „klare[n] Demonstration der allumfassenden, totalen Faszination des tönenden Leitbildes im Radio“ (McLuhan 1992, S. 343). In einer hörspielspezifischen Dramaturgie (Unterbrechungen, Live-Berichterstattung, Reportage, Statements, Kommentare usf.) spielen die Produzenten bewusst mit den Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit (Faulstich 1981).

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Die (An-)Spannung löst sich erst, als Welles im Abgang die Veranstaltung als Halloween-Scherz zu erkennen gibt. Das wirklichkeitskonstruierende oder besser das wirklichkeitsinszenierende Potenzial des Massenmediums Radio wird sozusagen in Echtzeit vorgeführt. Erscheint hier das Problem von Medienwirklichkeit(en) in erfahrungskonstituierenden Begriffen der sinnlichen Wahrnehmungsmedien von Raum und Zeit sowie des Hörens, so verweist es aber gerade durch die Performanz des massenparalysierenden Ereignisses auf einen tiefer liegenden, fundamentalen medienphilosophischen Zusammenhang, der selbstredend nicht allein auf das Radio zutrifft. Abstrahiert lässt sich im Rekurs auf Immanuel Kant (1983, S. 97-98) konstatieren: Einzig und allein in der Sinnlichkeit sind dem Menschen zwar Gegenstände gegeben, doch das bloße Sich-Einstellen von Gedanken ist noch keine Erkenntnis. Es bedarf dazu jener Begriffe, mittels derer sinnliche Empfindungen nach Regeln des Denkens zusammengefügt und geordnet werden. In epistemologischer Quintessenz heißt das: Den Konnex von Anschauungen und Begriffen hat man zu erfassen, um die ‚Wahrheit‘ medialer Erscheinungen realisieren zu können. – Man mag es als eine grausame Ironie des Schicksals interpretieren, dass wenige Jahre nach War of the Worlds, 1941, Rundfunkmeldungen über den Angriff Japans auf Pearl Harbor im Umkehrschluss als fiktionales Szenario gewertet werden. Die Möglichkeit, die Wirklichkeit oder die Gesellschaft medial zu verändern, grundlegend umzuwälzen – wenn auch in einem völlig anderen Sinne –, ist Gegenstand der nur wenige, zum Teil fragmentarische Texte umfassenden „Radiotheorie“ Bertolt Brechts (Brecht 1967a) aus der Zeit von 1927 bis 1932. Der Dramatiker adaptiert den Impetus der Avantgarde, der „die konventionelle Kunst erstmals in ihrer sozialen Existenz als institutionalisierte Kommunikationskonvention sichtbar gemacht hatte“ (Plumpe 1993, S. 95) und transferiert diesen in ein auf dem historischen Materialismus beziehungsweise Sozialismus basierendes Medienkonzept. Als Argumentationsgrundlage dient Brecht (in unserer Terminologie) ein als vorbildlich erklärter Perspektivenwechsel technischer Verbreitungsmedien: vom Epischen Theater zum Rundfunk mit implementiertem Rückkanal – ein Gedanke, den wenig später Walter Benjamin aufgreifen und publizistisch vertreten wird: „Die Formen des epischen Theaters entsprechen den neuen technischen Formen, dem Kino sowie dem Rundfunk. Es steht auf der Höhe der Zeit.“ (Benjamin 1988, S. 22) Die Technikgläubigkeit sowohl Brechts als auch Benjamins wird wesentlich von zeitgenössischen Strömungen wie der Neuen Sachlichkeit und der Fortschrittseuphorie seit den frühen 1920er Jahren getragen. Eine revolutionäre (Medien-)Praxis illustriert Brecht anhand des Lehrstückes „Der Flug der Lindberghs“ respektive der „Ozeanflug“ (Brecht 1967b, 1977a, 1977b), eine literarisch-mediale Adaption der historischen Atlantiküberquerung des US-amerikanischen Piloten Charles Augustus Lindbergh von 1927. Das Spezifikum der Komposition besteht – 1929 szenisch auf der Bühne dargestellt – darin, dass die lineare, monodirektionale Kommunikationssituation durch einen symmetrischen, bidirektionalen Kommunikationsprozess ersetzt wird (Enzensberger 1970), indem beide Sprecher – Pilot und Radio – miteinander interagieren. Für Brecht dient das Modell des „Radio-

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lehrstücks“ als ein profundes Beispiel, den Rundfunk zu verändern: „Die zunehmende Konzentration der mechanischen Mittel sowie die zunehmende Spezialisierung in der Ausbildung – Vorgänge, die zu beschleunigen sind – erfordern eine Art Aufstand des Hörers, seine Aktivisierung [sic!] und seine Wiedereinsetzung als Produzent.“ (Brecht 1967b, S. 130) Der brechtsche Aufsatz „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“ (Brecht 1967c) aus dem Jahre 1932 entwirft nicht nur die soziale Vision einer auf reziproker Kommunikation beruhenden Gesellschaft, vielmehr indiziert hier die „Erfindung des Radios […] den historischen Ort der Überwindungsmöglichkeit des Kapitalismus“ (Schrage 1997, S. 33). Das entscheidende Postulat des brechtschen Utopia lautet: „Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln.“ (Brecht 1967c, S. 134) Das Radio könnte demnach ein hervorragendes Instrument abgeben, dem Zustand der „Folgenlosigkeit“ entgegenzuwirken. Doch die „utopischen“ Anregungen des Dramatikers gründen nicht mehr auf den Voraussetzungen, Entwicklungen und Möglichkeiten des Rundfunks in der Weimarer Republik (Lerg 1970, 1980); sie verweisen auf die mediale Verwertung in einer anderen Gesellschaftsordnung. Im Unterschied zu Brecht konzentriert sich der Psychologe und zeitweilige Weltbühne-Redakteur Rudolf Arnheim in seiner 1936 (in englischer Sprache) erschienenen Abhandlung Rundfunk als Hörkunst nicht auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Produzenten, sondern auf die „Analyse der Materialbedingungen“ (Arnheim 2001, S. 16). In unserer Lesart analysiert er den Hörfunk in Beziehung zum sinnlichen Wahrnehmungsmedium Gehör, zu den semiotischen Kommunikationsmedien Sprache und Musik sowie zu den technischen Verbreitungsmedien Stimme, Film, Theater und Fernsehen. Mit Hilfe einer für diese Zeit bemerkenswert elaborierten Distinktion werden Spezifika der Sinnesreize eruiert, die dem Radio im Allgemeinen und dem Hörspiel im Besonderen eigen sind. Aus seinen Resultaten deduziert Arnheim schließlich die „Ausdrucksmöglichkeiten der Kunst“ des Radios (ebd.). Mit großer begrifflicher Akribie bemüht sich der Psychologe um eine Beschreibbarkeit des jungen Mediums. Akustische Effekte seien komplizierter zu erfassen als visuelle. Das Ohr ist für Arnheim ein „Werkzeug des Verstandes, des Gehirns“ (ebd., S. 173). Er hält es für legitim, von einem „Weltbild des Ohres“ oder einem „akustischen Weltbild“ (ebd., S. 18 f.) zu sprechen, da die Klangwelt so vielseitig sei. Arnheim insistiert darauf, „daß im Klang die Grundkraft ruht, die auf alle Menschen wirkt, viel unmittelbarer als Wortsinn, und daß bei Hörkunstwerken also von ihm ausgegangen werden muß.“ (Ebd., S. 22) Aufgrund einer angeblich schweren Hypothek der naturalistischen Sprechweise, verschuldet durch den naturalistischen Bühnenstil und den naturalistischen Tonfilm, sei die Sprache „enttönt“ (ebd., S. 24). So klagt Arnheim in rigoroser Normativität ein: Im Hörspiel dürften Charakterrollen ausschließlich mit Sprechern besetzt werden, deren Stimmen „eindeutig ‚kostümiert‘ oder kostümierbar“ (ebd., S. 29) sind. Der einstige Weltbühne-Redakteur formuliert wahrnehmungsmediale Thesen zum Radio, differenziert nach Zeit- und Raumdimension. Klangwahrnehmung und -kunst sind Arnheim zufolge allein innerhalb eines Zeitablaufs denkbar: „Zum Charakter des Hörbaren gehört die Erstrecktheit in der Zeit, und daher haben alle Ohrenkünste (Mu-

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sik, Rundfunk, Theater, Tonfilm usw.) Zeitcharakter.“ (Ebd., S. 19) Um die Ausdrucksmöglichkeiten des Rundfunks charakterisieren zu können, ist nach Arnheim nicht nur essenziell, was, sondern zudem von wo etwas erklingt – die Verortung der Schallquelle im Raum: „Wahrscheinlich gibt es in dem psychologischen Hörraum, den uns das Mikrofon vermittelt, überhaupt keine Richtungen sondern nur Abstände. D. h. alle durch die Schallrichtung hervorgerufenen Schallveränderungen werden als Abstandswirkungen aufgefaßt.“ (Ebd., S. 38) Da man keine Richtung, vielmehr lediglich Abstände perzipieren könne, avanciere das „perspektivische Element“ (ebd., S. 46) zu einem der effektivsten Gestaltungsinstrumentarien von Hörfunksendungen. Der näheren Zukunft, insbesondere dem sich ankündigenden technischen Verbreitungsmedium Fernsehen, begegnet Arnheim Mitte der 1930er Jahre mit Skepsis: „Mit dem Hinzukommen des Bildes verliert der Rundfunk seine Eigenart als neues Ausdrucksmittel und wird reines Verbreitungsmittel.“ (Ebd., S. 172) Darüber hinaus gibt er zu bedenken: „Je komfortabler unsre Anschauungsmittel werden, um so mehr befestigt sich die gefährliche Illusion, als ob Sehen schon Erkennen sei.“ (Ebd., S. 174)

4. Haben Brecht und Benjamin noch in den frühen 1930er Jahren, den arbeitsteiligkollektivistischen „Modellcharakter“ der Rundfunkproduktion propagierend, gegen den Faschismus gekämpft, so werden die Massenmedien, allen voran das Radio, eine gute Dekade später als Vollzugs- und Erfüllungsgehilfen der Herrschenden und Mächtigen – seien sie kapitalistischer, nationalsozialistischer oder sonstiger Couleur – analysiert und kritisiert. Noch im US-amerikanischen Exil notieren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“ (Horkheimer/Adorno 1992) aus der Dialektik der Aufklärung ihre nicht nur für die Frankfurter Schule wirkungsträchtigen Thesen zur Ideologie-, Kultur- und Medienkritik: „Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die Gesellschaft ist. Technische Rationalität heute ist die Rationalität der Herrschaft selbst. Sie ist der Zwangscharakter der sich selbst entfremdeten Gesellschaft.“ (Horkheimer/Adorno 1992, S. 129) Die Kulturindustrie zeitige, wie sich anhand des technischen Verbreitungsmediums Rundfunk exemplifizieren lässt, manipulierende, uniformierende und neutralisierende Funktionen und Effekte. Die Kultur- und Medienkritik der Altvorderen der Kritischen Theorie vollzieht sich vor dem Hintergrund ihrer Beobachtungen, wie künstlerischästhetische Qualitäten semiotischer Kommunikations- und technischer Verbreitungsmedien wie Sprache, Musik und Stimme durch die technisch-ökonomische Rationalität der Kulturindustrie vor allem mittels des Rundfunkapparates destruiert würden. Habe die Medientechnik des Telefons dem Nutzer noch „liberal“ die Illusion des „Subjekt“Handelns gelassen, so habe die Medientechnik des Radios gleich alle „demokratisch“

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en bloc als „Hörer“ uniformiert (ebd., S. 129). Die Logik der Kulturindustrie weise noch darüber hinaus: „Das Fernsehen zielt auf eine Synthese von Radio und Film, […] deren unbegrenzte Möglichkeiten aber die Verarmung der ästhetischen Materialien so radikal zu steigern verspricht, daß die flüchtig getarnte Identität aller industriellen Kulturprodukte morgen schon offen triumphieren mag …“ (ebd., S. 132). Die Synthese von Kultur und Entertainment ereigne sich nicht nur als „Depravation“ der Kultur, sondern zugleich als zwangsläufige Sublimierung des Amüsements. Sie offenbare sich bereits darin, dass man ihr nur mehr noch als Reproduktion, als Kinophotographie oder Radioaufnahme, begegne (ebd., S. 152). Das „Lebenselixier“ der Kulturindustrie ist nach Horkheimer und Adorno die Reklame. In der Reklame werde ein einzelnes Moment abstrahiert, funktionalisiert, einem jedweden Sinnzusammenhang, sogar technisch, entfremdet. In der Propaganda, in den stereotypen Formulierungen der Rundfunksprecher im „Dritten Reich“ (Diller 1980), dem „Mutterlaut von Millionen“, sei das „letzte Band zwischen sedimentierter Erfahrung und Sprache“ durchtrennt. Schließlich kulminiere der kulturindustrielle „Triumph der Reklame“ in der zwangsneurotischen Nachahmung durchschauter Kulturwaren durch die Konsumenten (ebd., S. 175). In seinem 1946 publizierten Buch Hitler in uns selbst reflektiert der schweizerische Schriftsteller und Kulturphilosoph Max Picard ebenfalls auf Zusammenhänge von Macht, Herrschaft und Radio. In bizarr anmutender Manier sind bei ihm technische Verbreitungsmedien Symbol einer Flucht des Menschen vor Gott, Moment einer Dissoziation des Menschen. Dabei geht Picard von einer höchst problematischen spekulativen Geschichtsphilosophie aus: „Hitler brauchte gar nicht zu erobern, − durch die Struktur der Diskontinuität, der allgemeinen Zusammenhangslosigkeit, war für ihn alles schon vorerobert.“ (Picard o.J., S. 17) Picard beschreibt in diesem Argumentationsduktus die inszenatorische Funktion des Hörfunks: „Hier, im Radio, nicht mehr unmittelbar, empfängt der Mensch die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit gibt es für ihn überhaupt nur durch das Radio. Die Folge davon ist, daß dem Menschen durch das Radio auch das alles als wirklich übermittelt werden kann, was gar nie geschehen ist, und das hat auch Göbbels [sic! Der NS-Propagandaminister heißt korrekt: Paul Joseph Goebbels; C. F.] am Radio benützt: er hat den Deutschen, die gewohnt waren, aus dem Radio die Wirklichkeit zu empfangen, jene Nachrichten am Radio übermittelt, von denen er wollte, daß sie Wirklichkeit in den Menschen werden sollten.“ (Ebd., S. 112) Nach Picard werden das „Schweigen“ (Gegenbegriff zur Stimme) und das „Wort“ – beides verstanden als Ursprüngliches, Göttliches – durch das Geräusch des technischen Verbreitungsmediums Rundfunk zerstört. In Die Welt des Schweigens aus dem Jahre 1948 sieht Picard das „Schweigen“, das Urphänomen, das „ohne Nutzen“ ist und das auf den Deus absconditus, den verborgenen Gott, verweist, einer großen zweifachen Bedrohung ausgesetzt, nämlich durch: „die Un-Welt der Wortmaschinerie, die jedes Ding in Lärm auflösen will, und die Un-Welt der Ding-Maschinerie, die, losgelöst vom Wort, darauf wartet, sich in einer lauten Explosion selber eine Sprache zu schaffen.“ (Picard 1948, S. 79) In Analogie dazu gedacht, entsteht der Mensch nach Picard erst

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durchs Radio, ja dieser erfahre sich gar erst durchs Radio. Das Medium suggeriere einen Anschein von Kontinuität und oktroyiere eben diesen dem Menschen. Jedoch realisiere der „diskontinuierliche Mensch“ schlechterdings nicht seinen Zustand, denn seine „innere Diskontinuität“ werde durch die Permanenz des Radios überlagert, die nichts anderes sei als die „Kontinuität der Diskontinuität“ (ebd., S. 213). In die Tradition medienkritischer Rundfunktheorien ist auch die „Gelegenheitsphilosophie“ von Günther Anders (alias Günther Stern) einzuordnen. Im Zentrum seiner „negativen Anthropologie“ steht nicht die Sonderstellung des Menschen, sondern vielmehr dessen Verlorenheit. Technik, technischen Verbreitungsmedien, insbesondere Radio und Fernsehen, kommt grundlegende Bedeutung zu: „Der Triumph der Apparatewelt besteht darin, daß er den Unterschied zwischen technischen und gesellschaftlichen Gebilden hinfällig und die Unterscheidung zwischen den beiden gegenstandslos gemacht hat.“ (Anders 1987b, S. 110) Anders lässt in seinem Essay „Die Welt als Phantom und Matrize“ aus dem ersten Band seines Hauptwerkes Die Antiquiertheit des Menschen von 1956 (Anders 1987a) keinerlei Zweifel daran, dass − von Beginn an – über die Wahl der Radio- und Fernsehkonsumenten entschieden sei: Zuhörer und Zuschauer seien dazu „verurteilt“, statt „Welt“ zu erfahren, sich mit „Weltphantomen“ begnügen zu müssen: „Aber auch die sogenannte ‚wirkliche Welt‘, die der Geschehnisse, ist durch die Tatsache ihrer Phantomisierung bereits mitverändert: denn diese wird ja bereits weitgehend so arrangiert, daß sie optimal sende-geeignet ablaufe, also in ihrer Phantom-Version gut ankomme.“ (Ebd., S. 1-2) Anders begreift „Phantome“ als technisch reproduzierte Formen. Nun sind diese Formen nicht nur Formen der „Anschauung“ und des „Verstandes“, sondern auch solche des „Gefühls“ und des „Benehmens und Handelns“ (ebd., S. 169). Diese Anwendungsformen heißen bei Anders „Matrizen“. Und sie zeitigen Folgen: „Was letztlich präpariert wird, ist vielmehr das Weltbild als Ganzes, das aus den einzelnen Sendungen zusammengesetzt wird; und jener ganze Typ von Mensch, der ausschließlich von Phantomen und Attrappen genährt ist.“ (Ebd., S. 164) Die Matrizenfunktion kulminiert darin, „daß die künstlichen Modelle von ‚Welt‘, als deren Reproduktionen die Sendungen uns erreichen, nicht nur uns und unser Weltbild prägen; sondern die Welt selbst, die wirkliche Welt; daß die Prägung einen bumerang-haften Effekt hat; daß die Lüge sich wahrlügt, kurz: daß das Wirkliche zum Abbild seiner Bilder wird.“ (Ebd., S. 179)

5. Es nimmt nicht wunder, dass exilierte Autoren wie Arnheim, Horkheimer, Adorno und Anders, die während der 1930er und 1940er Jahre vor den Nationalsozialisten in den Vereinigten Staaten Zuflucht fanden, schon frühzeitig – die Entwicklungsdynamik des US-amerikanischen Fernsehens vor Augen – den Siegeszug des Bildmediums prophezeien können. Hierzulande etabliert sich das Fernsehen als massenattraktives Medium

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erst in den 1960er Jahren (Bausch 1980a, 1980b). Bald darauf zirkuliert bereits der fragliche Terminus vom vermeintlich neuen ‚Leitmedium‘ Television (TV). Das Radio muss sich fortan im Schatten des vermeintlich ‚überlegenen‘ audiovisuellen Mediums Fernsehen behaupten. Jene Zäsur in der Historie der technischen Verbreitungsmedien – vom monosensuellen Hörfunk zum bisensuellen Fernsehen – scheint offenkundig auch den (medien)philosophischen Zeitgeist zu affizieren: Rund 30 Jahre vor dem medienphilosophischen Interdiskurs der 1990er Jahre verfasst der Regisseur und Autor Otto Gmelin mit seiner Philosophie des Fernsehens 1967 eine spezielle Medienphilosophie, in der er – durch ein televisuelles Prisma gebrochen – wider den offiziösen Hörfunk in Deutschland anschreibt: „Das macht ja das Funkprogramm mitunter so steril, daß es für jeden da ist und von jedem Verein produziert wird: ein Zusammenspiel abgestandener Leichen, deren Verweser ohne Geruchsinn sind. Die Sendungen liegen undynamisch ‚starr in der Zeit, während die Hörerschaft das menschliche Substrat eines gesellschaftlichen Umwandlungsprozesses war, der sich in ihrem Lebensgefühl, in ihrer politischen Aufmerksamkeit verändert hat‘.“ (Gmelin 1967, S. 10) Gmelin klagt eine dem soziopolitischen, -kulturellen und -ästhetischen Gesellschaftskontext der Post-Adenauer-Ära adäquaten Einsatz der Medien ein. Der in der Rekonstruktion aufscheinende Antagonismus zwischen anachronistischen und emanzipatorischen Konzepten des technischen Verbreitungsmediums Radio eskaliert in besonderer Weise mit Blick auf das Hörspielgenre, das mittlerweile durch die Konkurrenz des Fernsehens zusehends Gefahr läuft zu erodieren. Zu Beginn der 1960er Jahre geht der polemisch geführte Streit unter den Exponenten Heinz Schwitzke und Friedrich Knilli als Kontroverse zwischen „Traditionellem Hörspiel“ und „Totalem Schallspiel“ in die Annalen der Rundfunkgeschichtsschreibung ein. In seinem 1961 vorgelegten Buch Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten des totalen Schallspiels (Knilli 1961, 1970) demontiert der Literatur- und Medienwissenschaftler Knilli das vehement von dem Rundfunkdramaturgen Schwitzke protegierte Arrangement des geschlossenen, wortlastigen literarischen Hörspiels. Während Schwitzke 1963 in Das Hörspiel. Geschichte und Dramaturgie (Schwitzke 1963, S. 232-240) semiotische Kommunikationsmedien wie Musik und/oder Derivate technischer Verbreitungsmedien wie Geräusche normativ als formale Strukturmomente des konventionellen Hörspiels negiert – sie würden lediglich als Akzentuierung des Wortes fungieren –, definiert Knilli das Hörspiel von seiner akustischen Autarkie her als „Schallspiel“: „Erstmalig wird hier nun versucht, eine Synthese aller Schallkünste und damit eine totale Bespielung der Schallwelt zu begründen, ein ‚Totalhörspiel‘, das sich der Mittel und Möglichkeiten der ‚musique concrète‘ genauso bedient wie der Mittel und Möglichkeiten der elektronischen Musik …“ (Knilli 1961, S. 8) Damit initiiert Knilli zwar nicht den Durchbruch zum Neuen Hörspiel – zu einer offenen Dramaturgie und Ästhetik der Gattung –, doch präzepiert er immerhin einige seiner zentralen Merkmale. Nimmt sich jene genregenetische Debatte ums Hörspiel in der ersten Hälfte der 1960er Jahre – nach Maßgabe der grenzüberschreitenden Radiotrends in Europa und

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den USA – noch recht hermetisch aus, so bringt eine forcierte Internationalisierung des Diskurses seit Mitte der 1960er Jahre eine ganze Reihe von Novitäten mit sich. Für den späteren medienphilosophischen Interdiskurs wird insbesondere die Mediumtheorie des kanadischen Literaturwissenschaftlers und Kommunikationstheoretikers Herbert Marshall McLuhan einflussreich werden. In Kontrastierung zum Gros der ihm zeitlich vorangegangenen Autoren reflektiert McLuhan nicht mehr aus einem spezifischen Erkenntnisinteresse heraus auf singuläre Medien, sondern expliziert diese als ein Theorieelement unter anderen, um ein generelles Medienkonzept plausibel machen zu können, das durchaus aufeinander bezogene Ansätze sinnlicher Wahrnehmungs-, semiotischer Kommunikations- und technischer Verbreitungsmedien beinhaltet. Seine eigentümlichen Leitthesen repetiert er auch in dem Kapitel „Das Radio. Die Stammestrommel“ (McLuhan 1992) aus dem 1964 (in englischer Sprache) veröffentlichten Buch Die magischen Kanäle. „Understanding Media“. Hitler verdanke seine politische Existenz ausschließlich dem Rundfunk und den Radioapparaten, was jedoch nicht heiße, dass jene Medien Hitlers Gedanken an das deutsche Volk herantrugen, denn: „The medium is the message.“ Die Grundsätze der Stetigkeit, Gleichförmigkeit und Wiederholbarkeit, welche von der Drucktechnik übernommen worden seien, hätten in England und Amerika schon seit langer Zeit eine jedwede Phase des „Gemeinschaftslebens“ durchdrungen. Hingegen seien die „erdhaften und weniger visuellen Völker Europas“ vor dem „heißen“ Medium Radio nicht gefeit gewesen: „Sein Stammeszauber prallte an ihnen nicht ab, und die alte Sippenbindung erwachte von neuem unter den Klängen des Faschismus.“ (McLuhan 1992, S. 340) Das Radio berühre, so die Einlassung McLuhans, die Majorität der Leute persönlich – sprich: „von Mensch zu Mensch“ – und erzeuge eine Stimmung unausgesprochener Kommunikation zwischen Autor, Sprecher und Hörer: „Das ist dem Wesen dieses Mediums eigen, das die Macht hat, die Seele und die Gemeinschaft in eine einzige Echokammer zu verwandeln.“ (Ebd., S. 343) Mehr noch als die technischen Verbreitungsmedien Telefon oder Telegraph sei der Rundfunk eine „Erweiterung unseres Zentralnervensystems“ (ebd., S. 346), an die allein das semiotische Kommunikationsmedium der menschlichen Sprache heranreiche. Eben jene Macht des Radios, die Menschen an die „Stammesgesellschaft“ zurück zu binden, vergleicht McLuhan mit einer nahezu unmittelbaren „Verkehrung des Individualismus in den Kollektivismus“ (ebd., S. 347). Das Radio generiere eine Akzeleration der Informationsbewegung, die wiederum auch andere Medien beschleunige. Es limitiere Welt auf „Dorfmaßstab“ (ebd., S. 350) und lasse unaufhörlich dörfliche Bedürfnisse nach Tratsch, Gerüchten und persönlichen Gehässigkeiten entstehen. Die Zeit einer verstärkten Rezeption der Schriften McLuhans und anderer internationaler Autoren fällt mit einem grundlegenden Paradigmenwechsel in der Medienreflexion zusammen. Während sich die etablierte Philosophie nach 1945 – prominent die Frankfurter Schule – bis dahin unter vornehmlich ideologie- und kulturkritischen Vorzeichen mit den Inhalten technischer Verbreitungsmedien, zuerst des Radios, dann des Fernsehens, auseinandersetzte – und somit letztendlich einer ‚Austreibung der Medien aus den Geisteswissenschaften‘ Vorschub leistete –, exekutiert eine Reihe deutschspra-

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chiger Medientheoretiker der ersten Generation in den 1970er und 1980er Jahren einen programmatischen Trendwechsel hin zu Benjamin, McLuhan, zur Diskurstheorie, zu Lacans Psychoanalyse, zum Poststrukturalismus generell. Die philosophisch-hermeneutische Tradition, der grosso modo eine Verkennung der medialen Präfiguration alles Geistigen angelastet wird, wird indes durch eine Analyse der historisch jeweils dominanten (Medien-)Techniken substituiert. Mithin ist es auch jenen Tendenzen in der Medientheorie geschuldet, dass seit der Durchsetzung der so genannten ‚Neuen Medien‘ in den 1980er und 1990er Jahren mit Intermedialität und Interaktivität wichtige Diskursformationen mit dem technischen Verbreitungsmedium Hörfunk in Beziehung gesetzt werden. Auf der Basis elektronischer Medien wird mit innovativen Arrangements und Settings im und übers Radio experimentiert, wobei ‚klassische‘ Produktions-, Distributions- und Rezeptionsmodalitäten transzendiert werden. In Gestalt des Digital- und Internetradios, das je nach Theorieansatz als ‚Transformation‘, ‚Integration‘, ‚Adaption‘ oder ‚Imitation‘ des analogen Rundfunks konzipiert wird, wird dieser Schritt in gewisser Weise bereits durch die konsequente Umstellung auf den digitalen Kode vollzogen. Und in der Multimediatechnik redet man schon gar nicht mehr vom technischen Verbreitungsmedium Radio, Hörfunk oder Rundfunk, sondern vom „Medium Audio“ und von „Audiotechnik“ (Steinmetz 2000, S. 23) – kurzum: von dem neuen technischen ‚Meta‘-Verbreitungsmedium – dem Computer.

6. Der Beitrag hat sich zum Ziel gesetzt, erste Aufschlüsse für eine systematische Medienphilosophie des Radios zu gewinnen. In der Operationalisierung erweist sich die Anwendung des triadischen Zugriffs in Gestalt sinnlicher Wahrnehmungs-, semiotischer Kommunikations- und technischer Verbreitungsmedien als hilfreich. Somit konnten zumindest einige richtungweisende Anhaltspunkte herausgearbeitet werden, die noch eingehender zu diskutieren sind, als es in dem vorgegebenen Rahmen möglich ist. Nichtsdestoweniger kann dieser Befund nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir erst am Anfang der Bestimmung einer (systematischen) Medienphilosophie des Radios stehen. Angesichts dessen sind weitere Impulse nicht zuletzt vom inhärenten Korrektur- und Irritationspotenzial der im medienphilosophischen Interdiskurs strukturell gekoppelten Disziplinen Philosophie und Medienwissenschaft zu erwarten, nämlich als ‚Wiedereinschreibung des Geistes in die Medienwissenschaft‘ beziehungsweise als ‚Einführung des Materiell-Technischen in die Philosophie‘. Der Medientheorie wird in diesem Zuge abverlangt, Medien nicht länger nur in ihrer technischen Materialität fundiert zu verstehen, sondern als Mittel der individuellen wie kollektiven Handlungs-, Wahrnehmungsund Erkenntniskonstitution anzuerkennen. Der Philosophie wiederum zeigt der Interdiskurs die Limitierungen einer rein ‚theoretizistischen‘ Fokussierung auf gleichsam ‚körperlose‘ Rationalitätsprozesse überdeutlich auf und zwingt sie dadurch, ihre Refle-

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xionsarbeit um die Analyse des medialen ‚Unterbaus‘ erkenntnisgeleiteter Weltzugänge zu erweitern. Medienphilosophie ist work in progress. Die Auseinandersetzung hat begonnen und bedarf der fortgesetzten Befassung durch beide Disziplinen: Medienwissenschaft und Philosophie. Wenn das medienphilosophische Projekt deutlich machen kann, dass ‚Geistigkeit‘ und ‚Medialität‘ nicht nur einander nicht ausschließen, sondern sich im Gegenteil wechselseitig erst hervorbringen, wird evident, dass Medienwissenschaft und Philosophie prospektiv am gleichen Gegenstand zu arbeiten haben – an einer systematischen Medienphilosophie, mithin des Radios.

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Stanley Cavell

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Sicherlich gibt es interessante Tatsachen über das Fernsehen: Tatsachen über seine Technologie, über die Geschichte der Fernsehprogramme und über die ökonomische Struktur der Networks, die diese Programme produzieren. Die meisten dieser Tatsachen kenne ich nicht, ich glaube aber zu wissen, was es hieße, sie kennen zu lernen und zu lernen, was sich aus der Summe dieser Kenntnisse ergäbe. Wenn ich von der Tatsache des Fernsehens spreche, dann hoffe ich, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, auf etwas, das ich nicht in der gleichen Weise zu lernen können glaube: auf die einfache Tatsache, dass das Fernsehen existiert und dass seine Existenz zu den zugleich offenkundigsten und rätselhaftesten Tatsachen unseres Alltags gehört. Offenkundig ist, dass das Fernsehen wie das elektrische Licht, das Auto oder das Telefon einen Siegeszug erlebt hat. Seine Rätselhaftigkeit ist zweifach: Erstens: Wie war dieser Siegeszug möglich? Und zweitens: Wie kann es sein, dass wir (diejenigen zum Beispiel, die für Daedalus schreiben oder die diese Zeitschrift lesen1) augenscheinlich ein so geringes Interesse entwickelt haben, diesen Siegeszug zu erklären? (Worüber das Fernsehen gesiegt hat, das will ich als eine Frage sehen – bzw. in eine Frage fassen –, die mit seiner Rätselhaftigkeit zusammenhängt: Hat es gesiegt als eine Form der populären, der Massen-Unterhaltung? Im Gegensatz wozu aber steht das Populäre? Und was geschah mit denjenigen Formen, über die das Fernsehen triumphiert hat?) Diese zweifache Rätselhaftigkeit läuft auf die zweifache Annahme hinaus, die mir hier zum Ausgangspunkt dienen soll, dass nämlich sowohl das Interesse am Fernsehen als auch die Ablehnung des Fernsehens noch keineswegs hinlänglich verstanden sind. Der zweite Teil dieser Annahme besagt, dass es nicht ausreicht, den formalen wie quantitativen Mangel an kritischer und intellektueller Aufmerksamkeit für das Fernsehen einfach auf ein fehlendes Interesse zurückzuführen, so als sei das Medium notwendigerweise langweilig. Selbstverständlich werden einzelne Intellektuelle einfach nichts Interessantes an ihm entdecken, genauso wenig, wie sie das beim Film tun. Aber dieses fehlende Interesse scheint viel kompletter, ja gewollter zu sein, als dass es den bloßen Zufällen des Geschmacks zugeschrieben werden könnte. Die wohlvertraute Ablehnung des Fernsehens, die in manchen gebildeten Kreisen an den Tag gelegt wird, verdeutlicht, so denke ich, dass dieser Interessensmangel weder zufällig noch unmittelbar spontan ist. Angehörige dieser Kreise, so scheint es, würden am liebsten keinen Fernsehap1

Anm. d. Übers: Der Text Cavells wurde zuerst in einer Nummer der Zeitschrift Daedalus zu Fernsehen und Video publiziert.

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parat in ihrem Haus dulden; wenn sie nicht in der Lage sind, diese rigide Linie durchzusetzen, dann begrenzen sie streng die Zeit, in der ihre Kinder fernsehen dürfen, ohne Rücksicht auf den Inhalt. Ist diese Taktik nicht erfolgreich und haben sie nur die Wahl, ihre Kinder entweder zu Hause oder bei den Nachbarn fernsehen zu lassen, dann ist es wahrscheinlich, dass sie – mit schlechtem Gewissen oder zumindest peinlich berührt – ihre eigenen Kenntnisse des Fernsehprogramms (oder die ihrer Kinder) eingestehen. Wie in Reaktion darauf erklären andere Intellektuelle provokant, dass sie das kommerzielle Fernsehen dem öffentlich-rechtlichen allemal vorziehen. Dieses Verhalten legt die Vermutung nahe, dass es eine Angst vor dem Fernsehen gibt, für die ich bisher noch keine glaubwürdige Begründung gehört habe. Manchmal wird (wie mir scheint auf recht lockere Weise) behauptet, das Fernsehen mache süchtig. Sicherlich wäre das ja eine plausible Erklärung für die Attraktivität und für die Ablehnung des Fernsehens, wenn man ihm glaubhaft eine Suchtwirkung zusprechen könnte, wenn man buchstäblich annehmen könnte, dass die Glotze nicht nur von Schwachsinnigen betrieben wird, sondern auch (andernfalls nützliche) Bürger in Schwachsinnige verwandelt. (Am Ende meiner Ausführung werde ich so eine Ansicht zitieren.) Freilich habe ich bisher niemand kennen gelernt, der das Fernsehen allen Ernstes wie ein Heroinäquivalent behandelt hat. Selbst wenn man es, was angemessener wäre, dem Marihuana gleichstellt, würden Erwachsene, die um dessen Wirkungen besorgt sind, es doch niemals ihren Kindern zugänglich machen, nicht einmal auf der Grundlage einer streng rationierten Zuteilung, es sei denn, sie hätten sich mit deren schon bestehender Abhängigkeit auseinander zu setzen. Auch scheint mir die Ablehnung des Fernsehens keine großen Ähnlichkeiten aufzuweisen mit jener Ablehnung der Comics durch eine frühere Elterngeneration, die Robert Warshow in Paul, the Horror Comics, and Dr. Wertham (Warshow 1964) so wunderbar beschrieben hat. Wie alle besorgten Eltern, die ihre Kinder dazu erziehen wollen, am Kultiviertsein Vergnügen zu finden, und die dabei nicht unterschätzen, wie viel Aufwand das Erlernen dieses Vergnügens impliziert, war Warshow – nachdem er den damals in Mode gekommenen Standpunkt, Comics würden ihre Leser gewalttätig machen, geprüft und als unbegründet verworfen hatte – in Sorge wegen der Zeit, die das Interesse an den Comics sinnvolleren Beschäftigungen zu entziehen scheint. Aber er kam zu dem Schluss, dass die Begeisterung seines Sohnes wohl vorübergehen werde und es daher weniger Schaden anrichten würde abzuwarten, als verbietend einzugreifen. Wie mir scheint, unterscheidet sich dies von der Missbilligung des Fernsehens darin, dass Warshow selbst niemals vom Verlangen überwältigt wurde, sich fasziniert in die Welt der Comics zu vertiefen, dass er also aus erster Hand wusste, dass solch eine Faszination vorübergehender Art sei; heutige Erwachsene können demgegenüber aus ihren eigenen Fernseherfahrungen eine derartige Gewissheit nicht mehr gewinnen, denn sie fürchten doch selbst ihre Suchtanfälligkeit. Oder gibt es vielleicht bezüglich der Natur des Vergnügens, das das Fernsehen bietet, einen Argwohn, der die Ablehnung des Fernsehens bedingt, ähnlich dem Argwohn, der einst zur Missbilligung des Romanlesens und später des Filmbesuchs geführt hat? Wenn das der Fall wäre, dann sollte man annehmen, dass diese Ablehnung spätestens dann verschwindet, wenn das Fernsehen erwachsen geworden ist, wenn seine Programme dieselbe künstlerische

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Reife wie die großen Romane und Filme erlangt haben. Macht es Sinn, dies anzunehmen? Sicherlich habe ich zu denen gehört, die das Gefühl hatten, dass das Fernsehen noch nicht erwachsen ist, dass mehr im Medium stecken muss, als sich bisher gezeigt hat. Zugleich jedoch hatte ich das Gefühl, dass dieses Medium mit so viel Talent und Geld überhäuft worden war, dass, wenn irgendetwas Besonderes in ihm stecken würde, dies nicht unentdeckt geblieben wäre Daraus kann man zwei Schlussfolgerungen ziehen: dass es tatsächlich nichts zu entdecken gibt, dass wir es also mit einem Medium der Armut und der Langeweile zu tun haben (ich habe mich während einer Diskussion einmal bei der folgenden ungeduldigen Bemerkung ertappt: Das Fernsehen sei genauso wenig ein Medium der Kunst wie das Telefon, der Telegraph oder das Teleskop); oder aber – weil dies nicht besonders überzeugend ist –, dass die Armut nicht mit den Entdeckungen des Mediums selbst zu tun hat, sondern viel eher damit, wie wir diese Entdeckungen verstehen, d. h. mit unserem bisherigen Unvermögen zu begreifen, wofür das Medium da ist, was seine Stärke und seinen Reichtum ausmacht. Da ich eher zur zweiten Auffassung neige, halte ich es für meine Aufgabe, über einen geeigneteren Weg des Verständnisses nachzudenken (und einige Mutmaßungen über die Frage anzustellen, was „das Verstehen eines Mediums“ bedeutet). Das heißt, dass ich die Kondition dieser zwei Schlussfolgerungen akzeptiere: nämlich, dass das Fernsehen erwachsen ist, und dass es darum geht, gerade dies, die Sendungen, wie sie sind, mit all dem, was als ihre Armut erscheint, zu verstehen. Nehmen wir einmal an, die ersten großen Errungenschaften des Fernsehens können spätestens auf 1953, auf die Übertragung der Amtseinführung Eisenhowers datiert werden. In diesem Fall hätte dieses Medium 30 Jahre Zeit gehabt, sich zu präsentieren. Wenn die großen Werke von Griffith, die um 1915 entstanden, als die Geburt des Mediums Film als Kunstform bezeichnet werden, dann hat es nur 10 Jahre bis zu den Meisterwerken von Chaplin und Keaton gedauert, und im Zeitraum der nächsten 15 Jahre (um uns darauf zu beschränken) hat Amerika eine Vielzahl jener Filme hervorgebracht, die uns noch heute in Kunstfilmtheatern, Museumsprogrammen, in filmwissenschaftlichen Studienprogrammen und in den Nachtsendungen des Fernsehens Vergnügen bereiten. Diese Produktivität wurde, so sagt man, erst mit der aufkommenden Fernsehindustrie verlangsamt. Eine unserer Fragen sollte daher lauten: Hat uns das Fernsehen so viel zurückgegeben, wie es uns genommen hat? Das Fernsehen als ein ausgereiftes Medium der Kunst anzuerkennen, spezifiziert näherhin, was ich im Auge habe, wenn ich hier die Tatsache des Fernsehens zu meinem Thema mache. Diese Charakterisierung bzw. Limitierung meiner Untersuchungen hat die Konsequenz, dass ich die Fortschritte und Ergebnisse von experimentellen Videokünstlern in diesem Zusammenhang nicht diskutieren werde. Das bedeutet freilich nicht, dass ich an dem, was man als das „Medium Video“ bezeichnet, nicht interessiert wäre. Ganz im Gegenteil könnte mein jetziges Vorhaben beschrieben werden als Interesse daran, was das heutige Fernsehen über dieses Medium enthüllt. In der Darlegung meiner Argumentation beziehe ich mich auf einige Gedanken aus The World Viewed (Cavell 1979), in denen ich Spekulationen über das Medium Film

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angestellt habe. In diesem Buch spreche ich u. a. auch von dem, was ich die Natur des Mediums nenne. Ich frage dabei danach, was die traditionellen Meisterwerke (oder Erfolge) des Films über das Medium Film enthüllen, und nicht primär danach, wofür dieses Medium in den experimentellen Arbeiten gehalten wird. Einer der Leitgedanken dieses Buches ist, dass jene Filme die größte Bedeutung haben, in denen das Medium besonderes voll und tief erkundet wird. (Diese Einstellung bleibt kontrovers: Ein Rezensent meines Buches Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage hielt es für ein prätentiöses und bisweilen groteskes Werk, weil er auch von den besten Hollywoodkomödien nicht glauben konnte, dass sie im Hinblick auf den filmischen Ursprung des Mediums – freilich mit geringerem Explizitheitsgrad – so selbstreflexiv und intelligent sind wie die Werke der „selbstreferenziellen Künstler der Moderne“, jene von Godard z. B. oder von Antonioni. Hollywood ist ein mythischer Ort, der u. a. so funktioniert, dass die Leute annehmen, ihn zu kennen, ohne jemals eine seiner Hervorbringungen ernst genommen zu haben, und genau das Gleiche gilt auch für Amerika.) Ein erster Unterschied zwischen Fernsehen und Film liegt auf der Hand. Die Behauptung, dass das Medium Film sich in Meisterwerken enthüllt, bedeutet, dass diese Aufgabe einzelnen Werken zukommt, die einen Status haben, der analog zu dem traditioneller Kunstwerke ist. Solche Filme haben Bestand jenseits der Flüchtigkeit ihrer zufälligen Entstehung; ein mehrmaliges Betrachten steigert ihren Wert; sie können, wie alle Werke, die wir für sehr wichtig halten, einer genauen, kritischen Untersuchung zugeführt werden. Das alles scheint auf die einzelne Fernsehproduktion nicht zuzutreffen. Was hier unvergesslich, kostbar oder der Untersuchung wert scheint, ist nicht das einzelne Werk, sondern die Sendung, das Format; nicht dieser oder jener Tag von I love Lucy, sondern die Sendung als solche. Ich behaupte hier nur, dass es mir so zu sein „scheint“, und was ich im Weiteren dazu zu sagen habe, hängt davon ab, dass diese Behauptung auch stimmt. Allerdings ist meine Erfahrung mit dem Fernsehen viel begrenzter als meine Erfahrung mit dem Film und dem Radio (bevor es das Fernsehen gab), daher könnte es sein, dass meine Ansichten darüber, wie das Fernsehen zu betrachten ist, nicht besonders zuverlässig sind. Dennoch denke ich, dass Leute, die das Phänomen Fernsehen ebenso erstaunt wie mich (was sich darin zeigt, dass sie manchen seiner Aspekte, wenn auch widerwillig, mehr Anerkennung zollen, als sich dies durch gängige ästhetische Konzepte erklären ließe), einfach den Gedanken oder die Ahnung hatten, dass sein Wert eine Funktion des Formats ist. Die Spekulationen, die ich hier vorlege, sind so etwas wie Experimente, durch die getestet werden soll, wie weit man dieser Intuition, ausreichend intellektuell befriedigt, durch die ästhetische Bandbreite des Phänomens, das wir als Fernsehen kennen, folgen kann. Ich habe damit begonnen, Argumente gegen die Annahme anzuführen, dass die Flüchtigkeit einzelner Beispiele – der individuellen Werke – beweist, dass das Medium seine ästhetische Volljährigkeit noch nicht erreicht hat. (Selbst wenn es sich bewahrheiten würde, dass bestimmte, bisher noch nicht produzierte Fernseharbeiten zu geschätzten Momenten werden, zu einem Moment wie z. B. die jährliche Ausstrahlung des Films Der Zauberer von Oz – was allerdings meine Annahme stützt, da dieser Film nichts ist,

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was vom und für das Fernsehen geschaffen wurde –, bleibt mein Thema hier das Fernsehen, wie es heute in unserem Leben eine Rolle spielt). Doch auch einige der Filme – einige zumindest, vielleicht sogar die meisten – tragen die Kennzeichen dieser Flüchtigkeit: Sie werden nur zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten vorgeführt, dienen bloß als ein Gesprächsanlass in geselliger Runde, werden selten mehr als einmal gesehen und dann mehr oder weniger vergessen. Für viele Leute, vielleicht für die meisten, ist das noch immer das Los des Films. (Demgemäss vertreten einige, vielleicht sogar die meisten, die Ansicht, dass den einzelnen Filmen ihre Wiederholung und kritische Untersuchung nicht gut tun. Dass dies eine mögliche Art des Umgangs mit Filmen ist, habe ich bereits gesagt, ich habe aber dabei auch unterstellt, dass es eine einseitige Art ist. Ich werde mich in Kürze mit dieser Umgehensweise befassen.) Aber von Anbeginn der Filmkunst an war manchem bewusst, dass, was den Film – d. h. auch dessen alltägliche Beispiele – betrifft, es mehr zu denken und zu erfahren gibt, als dem gewöhnlichen Auge auffällt. In letzter Zeit wird das ein geläufiger Gedanke (der freilich längst nicht so geläufig ist, wie bestimmte Leute an der Ost- und Westküste und in einigen anderen Enklaven meinen mögen). Demgegenüber habe ich, wie schon angedeutet, den Eindruck, dass vergleichsweise nur wenige Menschen ein ästhetisches Interesse für die Produkte der TV-Networks aufbringen. Ein Schriftsteller wie Leslie Fiedler macht provokativ ein (vielleicht ja aufrichtiges) Interesse für das kommerzielle Fernsehen geltend. Er insistiert freilich darauf, dass der Grund seines Interesses darin besteht, dass das Fernsehen gerade nicht Kunst produziert, sondern vielmehr die Möglichkeit eröffnet, sich von Kunst zu erholen. Wenn ich mich nicht irre, hat er dasselbe schon über Filme, über den Film, wenigstens über alle amerikanischen Filme gesagt. Aber auch wenn jemand eine andere Form von Interesse aufbringen könnte, bliebe doch meine Frage offen: Wofür entwickeln er oder sie dieses Interesse? Folgende Mahnung, sozusagen eine technologische Mahnung, begleitet die weiteren Bemerkungen. Wenn sich Videokassetten und Bildplatten in einem Maße verbreiten, dass Filmgeschichte ebenso zu einem Teil der gegenwärtigen filmischen Erfahrung wird, wie die Geschichte anderer Künste zu deren Gegenwart gehört, und wenn dem Film damit der Kunststatus verliehen wird, dann verliert die Annahme der Flüchtigkeit des einzelnen Films, der durch einmaliges, beiläufiges Sehen vollständig erfasst wird, an Prägnanz; d. h., diese Annahme selbst wird als eine flüchtige erkannt, als ein Produkt der historischen Bedingungen von Film, das nicht unvermeidlich ist. Wenn aber zudem Videorecorder und das Kabelfernsehen sich so verbreiten wie das Fernsehen selbst (und es hat den Anschein, dass dies geschieht) – oder sie zumindest in einem Ausmaß üblich werden, das als Herausforderung für das Fernsehen zu betrachten ist –, wird es fraglich, ob das Fernsehen weiterhin hauptsächlich als Medium der Nachrichtenübermittlung existieren wird. Ich bin weniger daran interessiert, vorherzusagen, dass sich diese Entwicklungen letztendlich durchsetzen werden, als vielmehr daran, einen begrifflichen Rahmen für ein Verständnis der ästhetischen Möglichkeiten solcher Entwicklungen zu schaffen. Wenn man behauptet, dass der primäre Gegenstand des ästhetischen Interesses am Fernsehen nicht das einzelne Werk, sondern das Format ist, bedeutet dies, dass nun das

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Format das primäre Einzelne des ästhetischen Interesses ist. Diese ontologische Neubeschreibung soll zum Ausdruck bringen, dass das Verhältnis von Format und Einzelbeispiel von entscheidender ästhetischer Bedeutung ist. In der Beschäftigung mit Filmen finden sich zwei klassische Konzepte, die die Voraussetzungen für das erfüllen, was ich Format – im Sinne einer künstlerischen Gattung – nenne: die Konzepte Serie und Genre. Die Einheiten einer Serie werden für gewöhnlich als ihre Episoden bezeichnet; die Einheiten eines Genres werde ich dessen Mitglieder nennen. Dass das Fernsehen aus bestimmten Gründen eher nach dem Serie-Episoden-Prinzip verfährt als nach dem von Genre und Mitglied, ist eine These, die wert ist, untersucht zu werden. Was sind diese Prinzipien? Traditionell verstanden, können diese Prinzipien das nicht zum Ausdruck bringen, was ich unter differenten Kompositionsprinzipien verstehe. Was herkömmlich als Genrefilm bezeichnet wird, ist ein Film, dessen Mitgliedschaft in einer Gruppe von Filmen nicht problematischer ist, als die Exemplifikation einer Serie durch eine ihrer Episoden. Man kann z. B. annähernd sehen, ob ein Film ein Western, ein Gangsterfilm, ein Horrorfilm, ein Gefängnisfilm, ein ‚Frauen‘-Film oder eine Screwball-Komödie ist. Diese Form, vom Genre zu reden, kann man die Deutung des „Genres-als-Zyklus“ nennen. Im Gegensatz dazu bezeichnete ich in Pursuits of Happiness jene Weise, in der ich bei meiner Definition der „Hollywoodkomödie der Wiederverheiratung“ von einem Genre sprach, als „Genre-als-Medium“. Da ich mich vor die Notwendigkeit gestellt sehe, über den Begriff des Genres nachzudenken, bitte ich den Leser für die folgenden Abschnitte um Nachsicht. Es scheint, als habe die Idee des Genres in letzter Zeit neues Interesse bei Literaturwissenschaftlern gefunden, aber die rezenten Texte, mit deren Studium ich (vielleicht ein wenig zu unsystematisch) begonnen habe, setzten alle ein mit einem Gefühl der Unzufriedenheit gegenüber den anderen Arbeiten, die diesen Begriff untersucht haben; sie sind entweder nicht zufrieden mit der bisherigen Bestimmung des Begriffes oder mit seinem konfusen Gebrauch – oder mit beidem. Ich bin freilich weniger daran interessiert, mich einem dieser Argumente anzuschließen, als daran, die Grundlinien zweier (aufeinander bezogener) Ideen des Genres zu skizzieren. Es ist ein Versuch, mit dem zurechtzukommen, was mir als eine Art von natürlicher Verwirrung erscheint, die sich bei der Beschäftigung mit dem Begriff des Genres einstellt. In Pursuits of Happiness ließ ich mich durch die Diskussion bestimmter einzelner Werke, die – soviel ich weiß – zuvor noch nie zu einer Gruppe zusammengefügt worden waren, dazu bringen, ja nötigen, eine Theorie des Genres zu skizzieren, die ich freilich nicht weiter entwickelte, als mir das die konkrete Motivation der Lektüre einzelner Werke zu verlangen schien. Dies im Auge behaltend, beginne ich in der vorliegenden Arbeit, im Gegensatz dazu, mit bestimmten Intuitionen, welche die allgemeinen ästhetischen Stärken des Videos betreffen, und ich hoffe, diese Stärken ausreichend von den ähnlichen, aber dennoch unterschiedlichen Stärken des Films absondern zu können, damit es möglich wird, diese Intuitionen an konkreten Fällen auf die Probe zu stellen. (Ich möchte noch anmerken, dass die zwei der Bücher, die mir dabei am meisten geholfen haben Northrop Fryes A Natural Positi-

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on (1965) und Tzvetan Todorovs Einführung in die phantastische Literatur (1972) waren.) Bevor ich mein Verständnis dieser kontrastierenden Genre-Konzeptionen weiter erläutern werde, sollte ich vielleicht zwei Einwände vorwegnehmen. Erstens: Wenn es einen etablierten, konventionellen Gebrauch des Wortes ‚Genre‘ gibt und dieser auf das, was ich Genre-als-Zyklus nenne, anwendbar ist, warum sollte man dann nicht diese einfache Bezeichnung beibehalten und eine andere einfache Bezeichnung für jene weitere Typenart, die ich im Auge habe, verwenden, welche ich Genre-als-Medium nenne – warum nennt man diesen Typus zum Beispiel nicht einfach einen Set, eine Gruppe oder eine Schar? Zweitens: Wenn der Film selbst für ein Medium gehalten wird (zum Beispiel für ein Medium der Kunst), warum sollte man dann darauf bestehen, dieses Wort für eine Ansammlung von Werken innerhalb dieses Mediums zu verwenden? Was den zweiten Einwand angeht, so hat dieser doppelte Gebrauch des Wortes ‚Medium‘ Analogien in den visuellen Künsten, in denen davon gesprochen wird, dass die Malerei ein eigenes Medium darstellt (ein bestimmtes Kunstmedium im Unterschied etwa zur Bildhauerei oder zur Musik – was man wohl kaum für den gleichen Unterschied halten wird), innerhalb dessen dann die Gouache ein eigenes Medium ist (ein bestimmtes Medium der Malerei im Kontrast zum Aquarell, zur Ölmalerei oder zu Tempera). Ich möchte diesen Doppelsinn beibehalten und ihn stärker explizit – oder auffälliger – machen, um die Relation zwischen Werk und Medium, die ich als Offenbarung oder Anerkennung des einen durch das andere bezeichne, für die weitere Untersuchung offen zu halten. Dieses Offenhalten bedeutet meiner Erfahrung nach in erster Linie, dass man (in dem Versuch zu verstehen) der Versuchung widersteht, sich das Medium als ein bekanntes Material vorzustellen (zum Beispiel als Klang, Farbe, Wörter), so als wäre dies eine vorurteilsfreie Beobachtung und nicht nur eine von vielen Möglichkeiten, das Material eines Mediums aufzufassen; stattdessen gilt es anzuerkennen, dass nur die einzelne Kunstform ihr Medium bestimmen kann, nur die Malerei, die Komposition, das Filmemachen zu offenbaren vermögen, was notwendig ist oder möglich (d. h. was sich aus dem Material schaffen lässt), damit etwas zu einem Gemälde, Musikstück oder einem Film wird. Was den ersten Einwand betrifft – die Verwendung des Begriffs ‚Genre‘ zur Bezeichnung eines jeden der zwei von mir unterschiedenen Prinzipien oder Kompositionsverfahren –, so ist es meine Absicht, beiden Formen dieses Wortgebrauchs eine Wahrheit zu entlocken (in beiden steht ein Prozess des Erzeugens in Frage) und es der weiteren Untersuchung zu überlassen, worin genau die Relation zwischen den beiden Prozessen bestehen könnte. Diese Unterscheidung dürfte Konsequenzen haben. Es ist, so denke ich, zum Beispiel einfacher, Filme als eine gängige Ware, als Unterhaltung, zu verstehen, wenn man sie nicht zum Genre-als-Medium zählt, sondern zum Genre-alsZyklus, wenn man sich auf Filme konzentriert, die zur Gänze einem so konzipierten Genre angehören. Filme als Angehörige eines Genre-als-Zyklus zu deuten, heißt, sie demjenigen Typus zuzuordnen, den wir zuvor als flüchtig bezeichnet haben. Die einfachsten Beispiele dieser Zyklen tragen gewöhnlich Titel wie Der Sohn von X, Der Fluch von X oder X trifft Dracula etc. Unser heutiges Raffinement macht es nötig, dass wir deren Fortsetzungen X II, X III etc. nennen – wie beim Superbowl. Zur Wider-

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sprüchlichkeit Hollywoods gehört, dass bestimmte Fortsetzungen sogar besser sind als ihre Originale, zum Beispiel Frankensteins Braut oder Fritz Langs Rache für Jesse James. Bevor wir uns nun mit der These beschäftigen, dass das Fernsehen eher nach dem Prinzip von Serie und Episode als nach Prinzip von Genre und Mitglied verfährt, noch ein weiteres Wort zur Terminologie. Wenn ich den alten Filmbegriff der ‚Serie‘ aufgreife, um den besagten Gegensatz zum Ausdruck zu bringen, dann gehe ich davon aus, dass das, was beim Film Serie genannt wird, bestimmte innere Bezüge zu dem hat, was im Fernsehen als Serie bezeichnet wird. Hier möchte ich mich freilich mit der Vorstellung der Serialisierung im Allgemeinen beschäftigen, was wiederum mit dem Wunsch verbunden ist, die detaillierten Beziehungen zwischen Fortsetzungsserie [serial] und Episodenserie [series] offen zu lassen (ebenso möchte ich das Vorkommen von Serialisierung im klassischen Roman, in der Photographie, in der Musik und im Comic zwar in Erinnerung rufen, aber offen lassen). Man mag der Ansicht sein, das beste Äquivalent zur Filmserie stelle im Fernsehen die Soap Opera dar, weil sie das Merkmal einer unendlichen Erzählung, in der Episoden durch Krisen verbunden sind, teilt.2 Aber in der weiteren Beschäftigung mit meiner These über das Serielle im Fernsehen lasse ich mich vor allem von der Intuition leiten, dass die Wiederholungen und das Wiederkehren in den Soap Operas in signifikanter Beziehung zu jenen Serien stehen, in denen die Handlung immer zu einem klassischen Ende kommt, d. h., dass diese Wiederholungen und Wiederkehren Anspruchsmodi sind, deren Erfüllung das Fernsehen von all seinen Formaten fordert. Eine Sendung wie Polizeirevier Hill Street scheint freilich diesen Anspruch auf ein klassisches Ende in jeder Episode, und damit auch die Distinktion zwischen Soap Opera und Serie, in Frage zu stellen. Die geplante Filmreihe, die mit Krieg der Sterne und Das Imperium schlägt zurück beginnt, scheint in ähnlicher, obzwar gegensätzlicher Form die Distinktion zwischen Fortsetzungsserie und Zyklus in Frage zu stellen, weil sie die Anforderung einer Fortsetzungsserie (d. h. eines Narrativs, das sich über eine unbestimmte Anzahl von Einzelfolgen fortsetzt) in Frage stellt, nicht vor der letzten Folge zu einem klassischen Ende zu kommen. Dadurch nähert sich diese Reihe der besonderen Struktur literarischer Formen an, wie etwa (je nach individuellem Geschmack) der Legende von König Arthur, den König Heinrich-Stücken von Shakespeare (besonders vielleicht in den Nacherzählungen von Lamb) oder Tolkiens Herr der Ringe-Trilogie. Ein Genre – so wie ich den Begriff in Pursuits of Happiness verwende, Genre-alsMedium – folgt zwei grundlegenden ‚Gesetzen‘ (oder ‚Prinzipien‘), das eine intern, das andere extern. Intern wird ein Genre durch seine Mitglieder konstituiert, von denen gesagt werden kann, dass – so mag man sich das vorstellen – sie jedes Charakteristikum gemeinsam haben. In der Praxis bedeutet dies freilich, dass, wenn das Mitglied eines solchen Genres von den anderen abweicht, es diese Abweichung ‚kompensieren‘ muss. Das Genre ist einer ständigen Definition und Redefinition ausgesetzt, insofern neue 2

Anm. d. Übers.: Cavell bezieht sich mit dem Begriff serial auf Fortsetzungsserien, die schon früh im Kino populär waren – z. B. Fantomas in Frankreich und Die Herrin der Welt in Deutschland.

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Angehörige neue Kompensationselemente ins Spiel bringen. Extern unterscheidet sich ein Genre von anderen, d. h. insbesondere von denen, die ich als angrenzende Genres bezeichne, wenn ein gemeinsames Merkmal eines Genres ein von allen Mitgliedern eines anderen Genres geteiltes Merkmal ‚negiert‘. Hier entfaltet sich einer der Charakterzüge eines Genres in den neuen Möglichkeiten von Raffinesse. Wenn Genres ein System bilden (woran zu glauben für mich, zum Teil, das Interesse an diesem Konzept wach hält), dann müsste es im Prinzip möglich sein, über die Negation von einem Genre zum angrenzenden zu gelangen, bis letztendlich alle Filmgenres abgeleitet sind. Hitchcocks Werk liefert dafür geeignete Beispiele: Sein Film Der unsichtbare Dritte teilt eine endlos lange Liste von Charakterzügen mit den „Komödien der Wiederverheiratung“, was meinen einschlägigen Untersuchungen zufolge heißt, dass es in ihm um die legitimierende Kraft der Ehe geht. In diesem Film, und in anderen Abenteuerfilmen von Hitchcock und anderen, wird Legitimität dadurch erlangt, dass ein Paar gemeinsam ein Abenteuer durchlebt, von dem quasi die Rettung der Nation abhängt (Cavell 1984). Überdies kann dieser Film aber auch als die Negation eines Charakterzuges des Genres der Komödie der Wiederverheiratung verstanden werden, desjenigen nämlich, dem zufolge die Frau so etwas wie Tod und Wiedergeburt erfährt. Geschieht dies bei Hitchcock – wie in Vertigo – Aus dem Reich der Toten, dem Film vor Der unsichtbare Dritte –, dann führt es zu einer Katastrophe. In Der unsichtbare Dritte ist es vielmehr der Mann, der Tod und Wiedergeburt erfährt (aus einem Grund, der – wie ich behaupten würde – mit der Struktur des Wiederverheiratungsgenres zusammenhängt). In Berüchtigt, rund ein Dutzend Jahre zuvor, werden Tod und Wiedergeburt der Frau, als Charakterzug des Genres, dadurch kompensiert (wobei gleichzeitig das Merkmal eines glücklichen Endes mit Wiederverheiratung beibehalten wird), dass betont wird, dass ihr Tod und ihre Wiedergeburt nicht die Bedingung dafür sind, dass sie ihr Mann liebt, sondern vielmehr aus seinem Unvermögen folgen, sie anzuerkennen (was im Grunde, so wie ich das Genre verstehe, auch in Ein Wintermärchen von Shakespeare passiert). In Pursuits of Happiness sollen diese Mechanismen von Kompensation und Negation ein Verständnis von Genre erläutern, das in Kontrast steht zur strukturalistischen Vorstellung vom Genre als einer Form, die (genau wie ein Objekt durch seine Eigenschaften) durch Merkmale charakterisiert werden kann. Dieses Verständnis scheint mir etwa auch Todorovs Arbeiten zur phantastischen Literatur (Todorov 1972) zugrunde zu liegen: „Eine alternative Vorstellung [...] wäre, daß die Mitglieder eines Genres das Erbe bestimmter Bedingungen, Verfahren, Themen und Ziele der Gestaltung teilen und daß in der eigentlichen Kunst jedes Mitglied eines Genres eine Untersuchung dieser Bedingungen darstellt, was ich mir wie die Übernahme einer Verantwortung für dieses Erbe vorstelle. In dieser Vorstellung gibt es nichts, was man die Merkmale eines Genres, die alle seine Mitglieder teilen, zu nennen versucht ist.“ (Cavell 1981, S. 28)

Auf diese Vorgehensweisen der Kompensation und der Negation beziehen sich weder das Genre-als-Zyklus noch das Serie-Episoden-Prinzip. Ich behaupte daher, dass diese vom Prinzip der Serialisierung bestimmt sind, das im Gegensatz zu einem Prinzip der Hervorbringung im Genre-als-Medium steht. In keiner der Bedeutungen von Genre sind

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freilich die Mitglieder eines Genres Episoden einer fortlaufenden Geschichte, Situation oder Ausstattung. Es ist nicht derselbe Narrationstyp, wenn Frankenstein eine Braut findet und wenn Rhoda (in der beliebten Fernsehserie mit dem gleichnamigen Titel, die vor ein paar Jahren lief), einen Ehemann bekommt. Das Erstere ist ein selbstständiges Drama, das Letztere gehört zu einer Geschichte – zu einem Davor und Danach. Wenn ich vom Verfahren der Serialisierung spreche, will ich etwas zu fassen bekommen, was der Intuition von dem gerecht wird, was man als narrative ‚Formeln‘ bezeichnet. Theoretiker, die strukturalistisch oder formal einsetzen, denken wahrscheinlich, wenn sie von ‚Formeln‘ der Komposition sprechen, an das Genre-als-Zyklus bzw. an eine Serie-Episoden-Konstruktion, in denen jedwedes Beispiel eine vollkommene Exemplifikation des Formats ist, ähnlich wie jede Lösung einer Gleichung oder jeder Schritt einer mathematischen Reihe das perfekte Beispiel für die sie ‚hervorbringende‘ Formel ist. Die Beispiele wetteifern weder untereinander um die Intensität der Zugehörigkeit, noch stellen sie eine gegenseitige Kommentierung dar, die zu wechselseitigen Erhellungen führt; und ob ein Beispiel zu einer Formel gehört, folgt ebenso unmittelbar aus der Formel wie die Identität des Beispiels. (Solche Bemerkungen sind in Wirklichkeit – meist noch nicht getestete – Rezepte dafür, wie eine Formel aussehen könnte, also dafür, was in diesem Kontext als ‚Hervorbringen‘ betrachtet werden könnte. Ich gehe von der Annahme aus, dass kein Thema eines Plots allen Episoden, etwa von Rhoda, gemeinsam sein muss, sodass die Formel, die das Hervorbringen leitet, durch die Kennzeichnung kontinuierlicher Charaktere und durch deren Beziehungen untereinander hinlänglich spezifiziert ist (d. h. durch Charaktere und Beziehungen, deren wiederkehrende Züge selbst nochmals auf wohlumschriebene Weise spezifizierbar sind). So verhält es sich mit der ‚Situationskomödie‘. Eine genaue Beschreibung der Situation würde die Formel der Komödie konstituieren. Jedes Ereignis, das die Situation auf komische Weise verändert, kann als das Einsetzen eines unbekannten neuen Elements verstanden werden, das als Element der Differenz dies Hervorbringen initiiert – Rhoda bekommt Hautausschlag, ihre Schwester wird vom Bürocasanova verfolgt, Mutters erste Liebe ist wieder aufgetaucht usw. Ein bisschen Talent ist alles, was nötig ist, um die Konsequenzen solch eines Hervorbringens geschickt auszuarbeiten – was freilich nicht unbedingt bedeutet, dass sich das auf Dauer verkaufen lässt. Um die Figuren und Beziehungen zu entwickeln und so einzusetzen, dass neue Hervorbringungen nicht bloß stets möglich, sondern auch komisch sind, ist ein viel größeres Talent notwendig.) Im Genre-als-Medium hingegen gibt es nichts dergleichen. In dem, was ich das Genre der Komödie der Wiederverheiratung nenne, könnte nicht einmal die An- oder Abwesenheit des Genretitels sicherstellen, dass der Film zu diesem Genre gehört oder nicht gehört. Sie müssen diese Zugehörigkeit, gleichsam in einem Wettstreit der Mitglieder des Genres, gewinnen, sich verdienen; aber auch die Abgrenzungen müssen nachgewiesen werden, was für die Existenz vielfältiger Episodenserien ebenso wenig eine Rolle spielt wie die Problematik der Definition oder Weiterentwicklung, die ein Genre durchläuft. („Sie müssen diese Zugehörigkeit, wie in einem Streit gewinnen ...“ – hier findet sich eine Allegorie zu der Beziehung des zentralen Paares in diesen Komödien. In den Abenteuern ihrer Konversation überraschen sich die Paare unentwegt, versuchen immer wieder

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von neuem aneinander Interesse zu finden. Diese Überraschungen, dieses Interesse auszuphantasieren, das verlangt eine Begabung, die sich nicht allein, oder gar ausschließlich, vom Energieaufwand her, den die Entwicklung einer Serie erfordert, unterscheidet, sondern auch in der Form dieses Einsatzes: Hier ist die ursprüngliche Idee nahezu belanglos, verglichen mit den genauen Details der Ausarbeitung, von denen erwartet wird, dass sie die Regeln des Formats über den Haufen werfen. Dabei ist das, was man als die Formel bezeichnet – d. h. das, was ich in Pursuits of Happiness den Mythos nenne –, selbst Gegenstand einer Erkundung bzw. Hervorbringung durch die einzelnen Filme.) Was ergibt sich aus dem allen? Ich erwarte keine einfache oder direkte Antwort auf die Frage nach einem Unterschied zwischen Hervorbringung oder Serialisierung. Vielleicht stehen sie, allgemein, für unvereinbare Betrachtungsweisen menschlicher Tätigkeiten oder Texte. Man könnte z. B. vermuten, dass die Serie und ihre Formeln die Konstruktion der populären Künste kennzeichnen, während das Genre-als-Medium und der damit verbundene Wettstreit die Konstruktion der höheren Künste bezeichnen. John G. Caweltis Adventure, Mystery and Romance: Formula Stories and Popular Culture (1976) scheint dies nahe zu legen. Charles Rosens Der klassische Stil (1983) führt für die hohe Kunst eine ähnliche Unterscheidung zwischen dem Großartigen und dem Mittelmäßigen ein, bzw. zwischen dem Originellen und dem Akademischen. Vladimir Propps (1972) klassische Analyse des Märchens erklärt virtuos, dass man von einem anspruchsvollen Kunstwerk nicht erwarten würde, dass es in dieser Art und Weise Formeln gehorche. Aber dies führt nur zu einer Umformulierung der Frage: Was bedeutet denn ‚in dieser Art und Weise‘? Man möchte darauf antworten, indem man etwa sagt: ‚mechanisch, automatisch (oder formelhaft?)‘. Aber vielleicht trifft dies nur auf Märchen zu und nicht auf alle anderen als populär bezeichneten Formen. Ist schwarz-rote Figurenmalerei auf Vasen weniger formelhaft? Sind diese Formen daher niedere Formen der Kunst? Amerikanische Quilts aus dem 19. Jahrhundert sind sicherlich nicht weniger formelhaft, aber dennoch machen manche einen atemberaubenden Eindruck, nicht unähnlich der Direktheit mancher nicht-gegenständlichen Malerei. Wie in der Malerei (ich denke an bestimmte Werke von Mark Rothko, Morris Louis, Kenneth Noland, Jules Olitsky und Frank Stella) ist es für die Existenz dieser Beispiele wesentlich, Elemente einer Serie zu sein. Daraus würde folgen, dass der Begriff der Existenz innerhalb einer Serie, also einer Gestaltung nach dem Prinzip von Serie-Episode, keine Unterscheidung zwischen populären und hohen Künsten ermöglicht, was freilich nur dann der Fall wäre, wenn man diese Werke, was nicht jeder tut, den hohen Künsten zurechnet. Und es wäre überdies nur dann der Fall, wenn das Konzept der Serie in der Malerei (oder bei Quilts) demselben Gedanken folgt wie das Konzept der Serie [serial] im Film und der Serie [series] im Fernsehen. Sofern dahinter der Gedanke steht, eine formelhafte Beziehung zwischen den Einzelwerken zu begründen, scheint die Beziehung zwischen den Werken einer gemalten Serie zumindest ebenso stark (oder ebenso mechanisch) zu sein wie die Beziehung einzelner Episoden untereinander. Tatsächlich scheint die Beziehung zwischen den Gemälden viel zu stark zu sein, um Kunstwerke hervorzubringen: Die Einzelwerke scheinen ausschließlich von einem Format mit endlichen Charakteristika hervorge-

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bracht bzw. determiniert zu sein, von denen jedes spezifiziert und variiert werden kann, um neue Objekte hervorzubringen. (Ich denke dabei zum Beispiel an die Z-Formen von Stella, an die Farbstreifen und -winkel von Noland, oder an Louis’ Unfurleds). Die Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Serie werden, so könnte man sagen, gänzlich aus ihren wechselseitigen Unterschieden gebildet, als ob sie die Vision eines Linguisten oder die fortschrittlicherer Textwissenschaftler illustrierten, der zufolge Sprache und Bedeutung und damit alles, was der Kunst vorausgeht oder sie ersetzt, nicht durch Zeichen gebildet wird, die als solche Bedeutung besitzen oder begrenzen, sondern durch ein Gewebe wechselseitiger Beziehungen und Differenzen (also durch die Synthese unterschiedlicher Merkmale). Zugleich jedoch kann mit der Idee der Serie aber auch die linguistische und textwissenschaftliche Inanspruchnahme von Differenz in Frage gestellt werden, insofern diese Inanspruchnahme mit der Behauptung einhergeht (und sie begründet), dass die sinnlichen Eigenschaften der Zeichen selbst arbiträr sind. Serielle Malerei spricht eher für eine absolute Nicht-Arbitrarität des Formates, weil die künstlerische Entdeckung gerade darin besteht, dass diese Synthese von Merkmalen Einzelwerke hervorbringt, von denen jedes einzelne seinen Vorschlag für Schönheit einbringt. Diese Errungenschaft könnte gewissermaßen als die empirische Entdeckung eines Apriori empfunden werden – was bestimmten Bestrebungen in der Philosophie nicht fremd ist. (Die Implikationen des Faktums des Seriellen für die Problematisierung überkommener Vorstellungen von Handwerk, Stil und Medium in der modernen Malerei, und die damit verbundenen überraschenden Konsequenzen für die Beschäftigung mit den Beziehungen zwischen Malerei und Photographie, werden untersucht im ‚Excursus: Some Modern Painting‘, einem zentralen Kapitel von The World Viewed.) Die Idee des Formelhaften findet auch im Jazz eine Heimat, insofern während einer langen Zeit seiner Geschichte Improvisation durch das Teilen gemeinsamer Muster für Riffs und Sequenzierungen ermöglicht wurde. Diese Bedeutung des Formelhaften lässt sich aber auch bei anderen Aufführungsformen finden – in bestimmten Bereichen der Musik (etwa in der Improvisation von Kadenzen), in bestimmten Rezitationsformen (etwa bei dem Vortrag von Epen) und in bestimmten Theaterformen (etwa in der Commedia dell’Arte). Wenn Leute sagen, das Fernsehen, wie es war, als es noch live produziert wurde, gehe ihnen ab, dann vermissen sie vielleicht genau diesen Eindruck von Improvisation. Es kann auch sein, dass die schwindende Rolle der Improvisation im Fernsehen ein Beispiel für vertraute Entwicklungen in bestimmten Phasen der Geschichte der Darbietungsformen ist, in denen der Raum für Improvisation stückweise zu Gunsten des Buchstäblichen beschränkt wurde; der Darsteller oder die Darstellerin haben dann nicht mehr die Möglichkeit, eine Continuo-Stimme zu ergänzen oder eine eigene Kadenz auszuarbeiten, weil diese stattdessen aufgeschrieben und damit fixiert sind. In den Formaten des Fernsehens findet sich aber immer noch Raum für Improvisationen, was ich genauer darstellen werde, sobald ich dazu etwas sage, was das für Formate sind und wovon sie handeln. Ich merke hier an, dass die Idee der Improvisation innere und gegenläufige Verbindungen mit der Konzeption der Serialisierung aufweist. Das Gefühl von Spannung ist sowohl in Filmserien als auch in Soap Operas an die Notwendigkeit der Improvisation

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(im Verhalten und im Prozess der Erzählung) gebunden – Menschlichkeit wird gleichermaßen durch die Fähigkeit und Bereitschaft zur Improvisation wie durch die Fähigkeit und Bereitschaft, etwas durchzuhalten, ausgedrückt. Das Thema lautet: Wie werden der Held oder die Heldin dies überstehen, den Abgrund, der sich plötzlich auftut? Auf welche Weise gelingt es den Autoren, sich daraus herauszuziehen? Dieses Thema hat, emotional wie intellektuell, seine komischen Äquivalente. Dieser Zusammenhang zwischen der Serialisierung und der Improvisation verbindet möglicherweise das Serielle mit dem Gedanken bzw. der Tatsache des Populären. Im Gegensatz dazu scheint die Serialisierung in der Musik und der Kunst die Rolle zu spielen, die Improvisation auf ein Minimum zu reduzieren, so als wolle man damit beweisen, dass das, was mit Notwendigkeit zu Stande kommt, letztendlich ebenso schön sein kann wie das Zufällige. Die Unterscheidung zweier Kompositionsmodi resultiert aus dem Wunsch, dahinter zu kommen, wie das Fernsehen sein Medium offenbart; sie versucht, dem näher zu kommen, was man die ästhetische Bedeutung des Fernsehen nennen könnte. Diese Bedeutung steht in Beziehung zu dem, was wir seine Ökonomie, Soziologie oder Psychologie nennen, unterscheidet sich aber auch davon. Auf diesen Ausgangspunkt bezieht sich all das, was ich noch dazu beibringen werde. Wenn es sich als sinnvoll erweist, die ästhetische Bedeutung des Fernsehens im Kompositionsmodus von Serie-Episode zu verorten, der im Kontrast zum Modus Genre-Mitglied steht, dann könnte eine Untersuchung der Tatsache des Fernsehens dazu beitragen zu verstehen, warum zwei Prinzipien der ästhetischen Komposition möglich sind. Diese, so habe ich gesagt, sind Prinzipien des Offenbarwerdens (oder der Anerkennung, wie ich das gewöhnlich nenne) eines künstlerischen Mediums. In The World Viewed ordne ich dieses Offenbarwerden genauer ein, indem ich das zur Sprache bringe, was ich dort die ‚materielle Basis‘ des Films nenne. Wenn ich vorschlage, diesen Gedanken fortzusetzen, unterstelle ich nicht einfach, mich eines vernünftigen Gedankens zu bedienen. Ich behaupte, dass das, was ich sage, nur dann Sinn macht, wenn meine Vorgehensweise in The World Viewed ebenfalls Sinn macht. Das ist alles andere als sicher, aber es gibt für die Produktivität solch eines Vorgehens dort mehr Anhaltspunkte, als ich hier anführen kann. Ungefähr in der Mitte von The World Viewed liefere ich eine provisorische und zusammenfassende Beschreibung der materiellen Basis von Filmen, ohne die es ja nichts gäbe, was als Film bezeichnet werden könnte, genauso wenig wie es ohne Farbe auf einem gerahmten zweidimensionalen Untergrund etwas gäbe, was man Malerei nennen könnte. Ich nenne diese Basis eine Abfolge automatischer Welt-Projektionen (Cavell 1979, S. 72).3 Um meine Intuition von einer vergleichbaren materiellen Basis des (ästhetischen) Mediums Fernsehen zu konkretisieren, werde ich mich auf die einzige Bemerkung zum Fernsehen beziehen, die sich in The World Viewed findet. Ich äußere sie dort, wo ich mich darum bemühe, die Tatsache des Films in Relation zur Tatsache des Theaters durch eine Differenz zu bestimmen, aus dem offensichtlichen Grund, dass 3

In Welt durch die Kamera gesehen (Cavell 1982) führe ich diese Überlegung näher aus und modifiziere sie mit Blick auf den Trickfilm.

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im Theater Schauspieler anwesend sind und im Film nicht. Ich zitiere eine Reaktion von André Bazin auf diesen Grund, in der dieser Unterschied heruntergespielt und geleugnet wird, „dass der Film vollständig unfähig ist, uns ‚in die Präsenz‘ des Schauspielers zu versetzen“ (Bazin 1975, S. 87). Bazin zieht es vor zu behaupten, dass uns die Präsenz des Schauspielers im Film wie über Spiegel vermittelt wird. Ich antworte darauf mit dem Hinweis, dass diese Vorstellung Bazins in Wirklichkeit auf die Tatsache des LiveFernsehens zutrifft, wo das, was uns präsentiert wird, simultan zur Präsentation geschieht. Dies ist freilich eher offensichtlich und keineswegs überraschend. Was mich überrascht hat, war, mich bei weiteren Einwänden zu ertappen: „Freilich: in einer Live-Sendung im Fernsehen ist, was uns gezeigt wird, während es sich ereignet, nicht die Welt, sondern ein Ereignis, das aus der Welt herausragt. Es geht dabei nicht darum, etwas sichtbar werden zu lassen, sondern darum, es im Blick zu haben (wie wenn man jemanden in Schach hält mit einer Pistole).“ (Cavell 1999, S. 87)

Diesen Hinweis aufgreifend, möchte ich die materielle Basis des Fernsehens als einen Strom simultaner Ereignisrezeptionen charakterisieren. So betrachte ich die ästhetische Tatsache des Fernsehens, die ich im Folgenden darstellen möchte. Warum hier die Vorstellungen von einem Strom und von Simultaneität eher angemessen sind als die von Aufeinanderfolge und vom Automatischen, und warum die von Ereignis statt von Welt und von Rezeption statt von Projektion, das kann nicht begründet werden, ehe man jeden einzelnen dieser Begriffe untersucht hat. Diejenige Wahrnehmungsform, die, so meine These, von der materiellen Basis des Films auf den Weg gebracht wird, nenne ich Ansehen, Betrachten [viewing]. Die Wahrnehmungsform, über die ich im Zusammenhang mit der materiellen Basis des Fernsehens nachdenken möchte, ist jene des Kontrollierens, des Überwachens [monitoring]. Der Grund für diese Wahl scheint, zuallererst, der zu sein, dass ich bei der Beschreibung der materiellen Basis des Fernsehens die Übertragung nicht als einen wesentlichen Aspekt miteingeschlossen habe; und zwar aus dem Grund, weil ich die Verbreitung (von Nachrichten) [broadcasting] nicht als zentral für die Funktionsweise des Fernsehens erachtet habe. In diesem Fall sind die geheimnisvollen Geräte oder visuellen Felder, die sich als Teil unserer Privatsphäre in unseren Häusern finden, nicht als Empfangsgeräte, sondern als (Kontroll-)Monitore zu betrachten. Meine These zum ästhetischen Medium Fernsehen lässt sich nun folgendermaßen formulieren: Die erfolgreichen Fernsehformate können als Offenbarungsweisen, als Anerkennungsformen der Bedingung des Kontrollierens verstanden werden und als Verfahren der Serie-Episode-Komposition; in diesem ästhetischen Verfahren wird die Basis des Mediums vor allem durch das Format selbst und nicht durch dessen einzelne Verkörperungen anerkannt. Welches sind diese Formate, diese Serialisierungen des Fernsehens? Ich will mich auf Dinge beziehen, die vollkommen offensichtlich sind: auf Sitcoms, Gameshows, Sport- und Kulturübertragungen (Konzerte, Opern, Ballettaufführungen usw.), auf Talkshows, auf Reden und Vorträge, Nachrichten, Wettervorhersagen, Filme, Sondersendungen usw. Ein bemerkenswertes Kennzeichen dieser Liste ist der hohe Gesprächsanteil, der sich quer durch die unterschiedlichen Formate zieht. Das ist ohne Zweifel ein wichtiger

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Grund dafür, dass das Fernsehen häufig als etwas beschrieben wird, was seinen Zuschauern „Gesellschaft leistet“. Was freilich indiziert dieses Reden? Und wie vor allem bewerkstelligt es, dass man nicht allein ist, oder zumindest: dass das Alleinsein nicht mehr unerträglich ist? Zum Teil ist dies sicherlich eine Funktion der Simultaneität des Mediums – oder der Tatsache, dass das, was es präsentiert, zu jeder Zeit live sein könnte, dass kein sinnlicher Unterschied zwischen live, Wiederholung, Wiederabspielen besteht: Die anderen sind da, wenn auch nicht eingeschlossen mit uns in diesen Raum, so doch an diese Zeit gefesselt. Sie werden wie Besucher empfangen und überwacht; und im Gegensatz zum Vorführen und zur Projektion tritt das Empfangen und Überwachen nicht zwischen ihre Kamerapräsenz und ihre Gegenwärtigkeit für uns. Ich gebe zu, dass diese kurze Skizze einer Annäherung an die genannten Dinge von der Vorstellung Gebrauch macht, dass es ‚keinen sinnlichen Unterschied‘ zwischen live und Wiederholung bzw. zwischen Wiedergabe und zeitversetzter Präsentation gibt, und dass durch solch eine Unterscheidung verschiedene Modi der Präsenz und der Gegenwärtigkeit differenziert werden könnten, dass ich also zu schnell über folgenreiche Problematiken hinweggehe. Diese Skizze berücksichtigt noch nicht einmal die Tatsache, dass Fernsehen mit filmischem Material oder mit Videobändern arbeiten kann. William Rothman hat mich darauf hingewiesen, dass Fernsehen gleichermaßen einen Filmmodus und einen Videomodus annehmen kann. Eine Dimension dessen, dass das Fernsehen „Gesellschaft leistet“ könnte daher im Vollzug des Wechsels zwischen den Modi angesiedelt sein, der immer live ist und im Prozess des Zuschauens simultan ausgeführt wird. Dies verweist auf das Charakteristikum des Stroms (der gleichermaßen Gegenwärtigkeit unterstellt wie Kontinuität anzeigt), in meiner Beschreibung der physischen Basis dieses ästhetischen Mediums. Fernsehformate haben die Eigenheit, so geformt zu sein, dass sie an dieser Kontinuität partizipieren, was auch bedeutet, dass sie so geformt sind, dass sie Diskontinuitäten erlauben, sowohl in den Formaten selbst wie in deren Verhältnis zueinander, aber auch im Verhältnis zur Werbung, zu Sendeunterbrechungen, Störungstafeln, Unterbrechungen durch aktuelle Nachrichten, Testbildern, Programmankündigungen usw. Das bedeutet, sie sind so geformt, dass diese Unterbrechungen, und folglich auch dieses Wiederkehren, lesbar sind. Umschalten (worunter ich hier nicht den Wechsel innerhalb eines Narrativs verstehe, sondern z. B. das Umschalten zwischen der Narration und den diversen Unterbrechungen, für die Senderidentifikation etwa, oder für den Sponsor, und zurück) zeigt Leben an, ebenso wie dies – auf noch zu bestimmende Weise – das kontrollierende Überwachen [monitoring] tut. (In diesem Zusammenhang denke ich an die bisher unbestimmte ästhetische Stellung von Werbespots. Wer fremd ist im Reich des kommerziellen Fernsehens, hält sie höchstens für amüsante, sonst aber ärgerliche Unterbrechungen [und darüber hinaus selbstverständlich auch für den Ausdruck einer korrupten Zivilisation]. Leute, die dort heimisch sind und dieses Phänomen erklären wollen, neigen manchmal dazu, die commercials interessanter zu finden als die so genannten Sendungen, die von ihnen unterbrochen werden. Gewöhnliche Menschen allerdings, die sich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen müssen, können je nach Gelegenheit so oder so empfinden. Auch bezweifle ich in aller Nüchternheit nicht, dass einige Werbespots wirklich

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interessanter sind als einige Sendungen. Worauf dieses Bemühen, bzw. dieser Anspruch, Werbespots den Sendungen vorzuziehen meines Erachtens hinweist, ist, dass die ästhetische Stellung von Werbespots, d. h. das, was man als ihre Möglichkeit bezeichnen könnte – das, was sie ästhetisch plausibel statt nur unerträglich macht –, nicht ihr inhärentes ästhetisches Interesse ist (denn niemand würde, schwach interessiert, ruhig sitzen bleiben, um sich periodisch wiederkehrende minutenlange Übertragungen, etwa eines Ausschnitts mit Garbos Gesicht oder einer Nummer von Chaplin, anzusehen – diese flüchtigen Blicke auf das Meisterhafte wären sinnlos), sondern die Tatsache, dass sie lesbar sind nicht als Unterbrechungen, sondern als Zwischenspiele, Interludien. Natürlich können sie auch in Formen erscheinen, die alles andere als erträglich sind, zum Beispiel als nächtliche Werbung für Gebrauchtwagen oder als Angebote von Schallplatten, die ‚nicht im Handel erhältlich sind‘. Aber sogar in diesen Fällen ist der Grund dafür, dass sie erträglich sind, die Notwendigkeit des Live-Umschaltens – eine Anerkennung des Lebens, die sich in der – zu später Stunde besonders geläufigen – Aufforderung zeigt, ‚mal vorbeizuschauen‘, eine Bestellung aufzugeben oder ‚jetzt anzurufen‘. Wo Leben ist, ist Hoffnung. Die Tatsache, dass das Fernsehen Gesellschaft leistet, kommt nicht allein dadurch zum Ausdruck, dass in ihm sehr viel geredet wird, sondern auch durch die massive Repetitivität seiner Gesprächsformate. Ich denke dabei nicht ausschließlich an Talkshows und ihre gleichförmigen Ausstattungen, Gastgeber und Gäste. Sportsendungen sind in Gespräche eingebettet (und ebenso die Sportereignisse selbst), und sogar Gameshows haben, soweit ich sehe, ihre Pointe darin, Gelegenheiten und Vorwände für Gespräche zu liefern. Natürlich sind diese Shows mit ihrem obligatorischen Springen und Schreien schon audiovisuell aufregend genug; und manchmal haben manche sogar eine leicht erzieherische Wirkung. Aber reichen dieser Faszinationsstatus und diese erzieherische Wirkung wirklich dazu aus, die Bereitschaft, solche Sendungen ständig einzuschalten, und das grenzenlose Vergnügen, das sie bieten, zu erklären? Es stellt mich nicht zufrieden, die bekannte Verheißung oder Phantasie vom großen Geld in den Raum zu stellen – denn auch in meiner Auseinandersetzung mit den Hollywoodkomödien der 30er-Jahre gab ich mich ja nicht damit zufrieden, deren Popularität mit der weit verbreiteten Idee zu erklären, sie seien Märchen für die Wirtschaftskrise. Mich verblüfft die einfache Tatsache, dass wir in jeder Gameshow, die ich gesehen habe, mit einem neuen Kandidatenkreis bekannt gemacht werden. Was mich verblüfft, ist nicht, dass wir daran interessiert sind, uns mit diesen alltäglichen Menschen zu identifizieren, sondern einfach nur, dass wir mit ihnen bekannt gemacht werden. Denn nur für den schwierigsten und unangenehmsten Teil einer Konversation, für den, wo man im Rahmen konventioneller Phrasen improvisieren muss, um mit jemandem ein Gespräch zu beginnen, haben diese Formate Zeit; dies wird endlos wiederholt, und zwar ohne die ängstliche Antizipation möglicher Konsequenzen der Selbstdarstellung, die solche Begegnungen in der Wirklichkeit mit sich bringen. Derjenige, der uns fortwährend bekannt macht, der sich immer wieder der Initiation stellt, der die Macht hat, das Vertraute aus dem Fremden zu schaffen – der Gastgeber der Show –, wird für diese Fähigkeiten reichlich belohnt; er wird

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nicht gerade ein Star, aber eine Persönlichkeit, ja sogar eine Berühmtheit – für nichts anderes berühmt, als sichtbar zu sein, und immer neue Begegnungen zu überstehen. Dass die Idee der Improvisation gerade hier auftaucht, oder wieder auftaucht, verweist auf den Raum, der, wie ich gesagt habe, in den geläufigen Fernsehformaten für das Improvisierte offen gelassen wurde, deren Gesprächsdimension. Ich möchte freilich nicht behaupten, dass die Improvisation genau hier zu lokalisieren ist, da die Gesprächsdimension selbst nahezu universell präsent ist; doch ein jedes Gesprächsformat organisiert seinen eigenen Improvisationsbedarf und seine eigenen Gelegenheiten dazu. Die am besten entwickelten Formate stellen natürlich die Talkshows selbst dar, mit ihren Monologen, mit den Unterbrechungen und Zufällen, zu denen die Monologe der Experten führen, und vor allem mit ihren mehr oder weniger ausgedehnten Interviews. Die Tatsache, dass hier wenig von Belang gesagt wird, bedeutet nichts im Vergleich zu der Tatsache, dass überhaupt gesprochen wird, dass die, die momentan berühmt, und die, die dauerhaft erfolgreich sind, dabei beobachtet werden können, dass sie ihr Leben in Worte fassen müssen wie du und ich. Es ist die Gabe des Talkshow-Gastgebers zu wissen, wie und wie weit er seinen Gast einmal sich wohl fühlen lassen, dann aber wieder zu den heißen Themen hinführen kann, und daraus Dramen zu gestalten, in denen das eine vom anderen überlagert wird, beides jedoch von seinem Vermögen, jederzeit das Gesagte nochmals zu überbieten. Das ist nicht dasselbe, wie aus jedem Ereignis eine komische Nummer zu machen, wofür Jonathan Winters und Robin Williams das Talent und die Vorstellungskraft besitzen. Die sind zu anarchisch, um Gäste zu unterhalten, oder – wie Besessene – zu sehr von ihren Einfällen eingenommen, um eine Konversation zu stiften oder auch nur vorzubereiten. Johnny Carson ist ein Experte dafür, die Konversation nahe an, niemals jedoch in den Abgrund der Peinlichkeit zu führen, er geht eine so perfekte Allianz, fast ein Komplott mit der Kamera ein, dass er die Reaktionen seines Publikums mit einem Blick in unsere Richtung (d. h. in die Richtung der Kamera) steuern kann – eine Macht, die der Komödiant mit dem Löwenbändiger teilt. Es ist auch nicht von Belang, dass die blumigen Anmerkungen bei Sportereignissen oft nicht besonders gelungen sind; ihre entscheidende Funktion liegt eher darin, dass die Reaktion darauf unvorbereitet ist. Wir sind so erpicht auf das Nichtgeprobte, nicht im Skript vorliegende, dass die Nachrichtensprecher sich dazu verpflichtet fühlen, uns bei der Überleitung zwischen den Themenblöcken mit dem Austausch von Freundlichkeiten zu gefallen (die manchmal darauf verkürzt sind, dass der eine höflich den Namen des anderen ausspricht). Das setzt eine einfache Form jener komplexen Emotionen frei, die auftreten, wenn ein Schauspieler als Teil der Darstellung aus dem Charakter heraustritt – wie es zum Beispiel in Bergmanns Passion (1969) der Fall ist, oder in Godards Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß (1967). Da die Gewohnheit, Höflichkeiten auszutauschen, auch offenbar werden lässt, dass die Präsentation der Nachrichten eine Art von Schauspielerei ist (die ursprüngliche Absicht war wohl eher, diese Tatsache zu verbergen) – d. h., dass Nachrichten, wie das Fernsehen vorführt, als etwas, das theatralisch präsentiert wird, wohl ebenso gut fiktional wie wahr sein könnten –, muss es etwas anderes geben, was das Fernsehen an den Tag bringt, etwas, das für uns genauso wichtig ist wie die Unterscheidung von Tatsache und Fiktion, eine Angelegen-

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heit von Leben und Tod. Dieses andere könnte die Demonstration sein, dass Nachrichten, egal ob Faktum oder Fiktion, immer etwas sind, auf das in menschlicher Weise reagiert werden kann, reagiert mit der menschlichen Kraft der Improvisation. Aber welche Nachricht ist so schrecklich, dass wir einen derart mittelmäßigen Beweis dieses Vermögens als beruhigend empfinden? Ich werde am Ende eine Antwort auf diese Frage geben. Eine Frage, die sich eher aufdrängt, ist diese: Wenn ich damit Recht habe, dass Improvisation das beste Zeichen für menschliches Leben ist, das wir zur Verfügung haben, und dass sie ein Zeichen ist, das den Wechsel zwischen live und Bandaufzeichnung überlebt, warum erkennen die Leute, die das Live-Erlebnis des Fernsehens vermissen, nicht, wo dessen Live-Qualität bewahrt ist? Es kann sein, dass sie in erster Linie die Lebendigkeit der alten dramatischen Fernsehproduktionen vermissen. Aber das Fernsehen ist nicht dazu verpflichtet, uns mit der Erfahrung des Live-Theaters zu versorgen – über seine Rolle hinaus, sich in die Welt zu begeben, um uns aktuelle performances, die wert sind, gesehen zu werden (live oder als Aufzeichnung), zeigen zu können. Warum wird der live-Modus dort nicht wahrgenommen, wo man ihn immer noch finden kann, in den Gesprächsimprovisationen, in der Wechselrede? Ist dies ein zu trivialer Bereich für jene, die etwas Höheres erwarten? Ich leugne freilich nicht, dass eine gewisse Paradoxie darin liegt, Lebendigkeit gerade in jenem Element des Fernsehens zu finden, das allgemein als das langweiligste, lebloseste gilt, im omnipräsenten „sprechenden Kopf“ [talking head] nämlich. Dann sollten wir uns aber die Frage stellen: Wo hat sich dieses Fernsehelement seinen tödlichen Ruf erworben? Die bisher noch ununtersuchte Kategorie der materiellen Basis von Fernsehen – nach Strom, Simultaneität und Rezeption die Kategorie des Ereignisses – ist hier ebenfalls von Bedeutung. Um ihre Signifikanz herauszustellen, wird es hilfreich sein, zuerst auf diejenigen Fernsehformate zu schauen, die nicht hauptsächlich um das Reden kreisen – etwa Sport oder die Übertragung von Kulturveranstaltungen. Diese stellen das Hauptkontingent jener Fernsehkost dar, die so viele meiner Bekannten (und, um Filme angereichert, auch ich) zu sich nehmen. Das Besondere an diesen Sendungen ist, dass sie als Ereignisse, d. h. als etwas Einzigartiges, als Anlässe, als etwas, das sich vom Alltag abhebt, präsentiert werden. Aber wenn das Ereignis etwas ist, das die Fernsehbildschirme gern überwachen, so scheint dies auch für seine Gegensätze, das Ereignislose, die Wiederholung, das zutiefst Vertraute, zu gelten. Die vertrauten Wiederholungen in Gesprächsformaten – hier ist die Sitcom zentral – leisten uns gerade durch ihre Verkörperung des Ereignislosen und des Gewöhnlichen Gesellschaft. Trost oder Gesellschaft im endlos Ereignislosen zu finden, das findet seine reinste Verwirklichung, sein Sinnbild, im Gebrauch des Fernsehens als Überwachungsinstrument von Verdächtigem, von unerwünschtem Zutritt zum Beispiel. Die Monitorenwand, auf die der Pförtner gelegentlich blickt – wobei jeder der Monitore einen der leeren Korridore fixiert, die von den sonst unbewachten Eingängen in das Gebäude führen –, versinnbildlicht die Wahrnehmungsweise, die ich für den ästhetischen Zugang zum Fernsehen halte.

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Die Vielzahl von Monitoren, von denen jeder mit einer mehr oder weniger fixierten Kamera verbunden ist, verschlüsselt die Leugnung von Sukzession, die ein wesentliches Element der Basis des Mediums ist. Um eine Sportveranstaltung zu übertragen, werden die Kameras des Fernseh-Networks vorher auf ähnliche Weise positioniert. Dass in jedem Moment nur jeweils eine Kameraperspektive für die Rezeption in der häuslichen Wohnung übertragen wird, ist eher ein ökonomischer Unfall; im Prinzip könnten wir alle auch eine Nachbildung der Monitorenwand sehen, auf die der Produzent schaut. Hier könnten wir dann davon sprechen, dass die materielle Basis des Fernsehens Simultaneität in den Plural setzt. Wenn die Kamera, mit deren Bild unser einzelner Empfänger versorgt wird, gewechselt wird, sollten wir uns das nicht als einen Wechsel der Perspektive von einer Kamera oder von einem Standpunkt zu einer anderen Kamera oder einem anderen Standpunkt vorstellen, sondern als einen Wechsel der Aufmerksamkeit von einem Monitor zum anderen. Die Sukzession wird durch Umschalten ersetzt, was impliziert, dass die Bewegung von einem Bild zum anderen nicht, wie im Film, durch Bedeutungserfordernisse motiviert ist, sondern durch Erfordernisse, die der Gelegenheit und der Antizipation verdankt sind – als wäre die Bedeutung vom Ereignis selbst diktiert. Wenn ein Monitor den Herzschlag überwacht oder das Augenflackern während der Traumperioden – wenn er also Lebenszeichen überwacht –, ist alles, was zu sehen ist eine Normalitätskurve, bzw. die Erstellung einer Referenz- oder Grundlinie, sozusagen eine Linie des Ereignislosen, aus dem Ereignisse in einer vollkommen vorhersehbaren Bedeutung herausragen. Wenn die klassische Narration als Verlauf von einer stabilen Situation über ein Ereignis der Differenz, hin zur Wiederherstellung einer stabilen Situation, die mit der ursprünglichen im Zusammenhang steht, dargestellt werden kann, so kann das serielle Verfahren durch die Etablierung eines stabilen Zustands gekennzeichnet werden, der von wiederholten Krisen oder Ereignissen gegliedert wird, welche zu keiner solchen Fortentwicklung der Situation führen, die eine einmalige Lösung erfordern würde. Die Ereignisse sind lediglich Störungen und – durch Humor, Abenteuer, Glück oder Elend bewirkte – Ausnahmezustände, die jeweils ihrem natürlichen Lauf folgen und sich schließlich in das Reich des Ereignislosen einfügen. Vielleicht bedeutet dies auch, dass das serielle Verfahren undialektisch ist. Genauso wenig wie ich annehmen möchte, dass das Erzeugen und die Serialisierung das Feld der Narration erschöpfen, möchte ich deren Exklusivität behaupten. Wenn ich also behaupte, dass das Fernsehen seine Formate so gestaltet, dass dabei die Erfahrung und der Begriff des Ereignisses – und damit auch die Erfahrung und der Begriff des Ereignislosen – erkundet werden, behaupte ich damit nicht, dass es im Film nichts Entsprechendes gibt, sondern nur, dass jedes Medium seine stabilen Zustände auf jeweils eigene Weise ausarbeitet. Diese verschiedenen Modi stehen einander so nahe wie das Kontrollieren dem Ansehen, und die Beschreibung dieser Nähe (und Distanz) ist das, wofür meine Bemerkungen hier Interesse wecken wollen. Film und Video können sich zum Beispiel beide mit Natur beschäftigen, aber wenn meine Unterscheidung zwischen Ansehen und Kontrollieren einen Wert hat, dann müsste sich unsere Erfahrung von Natur, die Rolle, die sie in unserem Leben spielt, in verschiedene Darstellungsformen aufteilen. In The World Viewed weise ich darauf hin, dass

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„die Rahmung des Filmbildes [...] eine dem Rahmen in der Malerei entgegengesetzte Bedeutung [hat.] In Anlehnung an Bazins Hinweis, daß der Film genauso viel mit dem, was er ausschließt, arbeitet wie mit dem, was er einschließt – daß seine Funktion weniger darin besteht, zu rahmen als abzudecken (was mich von der Photographie als von einem Segment der Welt in ihrer Ganzheit sprechen ließ) –, habe ich die Rahmung des Filmbildes als etwas interpretiert, das seinen Inhalt nicht auf die Weise wie Begrenzungen oder Umrisse, sondern wie Webstühle oder Gußformen gestaltet.“ (Cavell 1982, S. 466 f.)

Diese Perspektive führte mich zu der Behauptung: „Uns wird berichtet, daß die Menschen, die die ersten bewegten Bilder sahen, erstaunt waren, Bewegung zu sehen, so als wäre es etwas Neues. Aber was Film am Anfang konnte, kann er noch immer: unsere Aufmerksamkeit gänzlich frei machen für dieses Ding jetzt, einen Ausschnitt der Natur, die Welt in der Bewegung eines Zweiges [...] es ist nicht das Neue, das sich abgenutzt hat, sondern unser Interesse an unserer Erfahrung.“ (Ebd.)

Freilich, unsere Aufmerksamkeit gänzlich zu vereinnahmen, das gehört zu dem, was ich Ansehen [viewing] nenne, nicht aber zur Charakterisierung des Kontrollierens [monitoring], welches ja eine Art von Vorbereitung unserer Aufmerksamkeit ist, bei bestimmten Eventualitäten in Aktion zu treten. Welt findet sich nicht im „kontrollierten“ Zweig, dessen Bewegung ein Ereignis ist (wenn man z. B. nach einem Anzeichen für Wind Ausschau hält) oder eine Markierung des Ereignislosen (ein Zeichen dafür, dass noch keine Veränderung eingetreten ist). Die Vertrautheit solch einer Unterscheidung veranlasst mich zu betonen, dass ich mit Kontrollieren und Ansehen auf allgemeine Aspekte menschlicher Wahrnehmung hinweise, sodass wir also nicht erwarten können, dass Film und Video einen dieser Aspekte unter totalem Ausschluss des anderen zum Ausdruck bringen, sondern nur, dass sie den einen auf Kosten des anderen akzentuieren – so wie ja auch beide Medien unterschiedliche Aspekte der Kunst akzentuieren: Video die Relation der Kunst zur Kommunikation, Film diejenige der Kunst zur Verführung. Mein Gebrauch des Begriffs des Ereignislosen leitet sich her aus meiner Interpretation des Interesses der Schule der Annales-Historiker, jenseits der Ereignisse und Dramen der Geschichte zu dem Dauerhaften, jedenfalls zu langen Zeitspannen des Alltags vorzudringen. Es lohnt sich, dies explizit zu machen, um so zu betonen, dass die Begriffe, in denen ich über die Phänomene Fernsehen und Film gesprochen habe, ebenso der Untersuchung bedürfen wie die Phänomene selbst. In diesem Bereich erscheint mir alles sehr zweifelhaft, sehr unbestimmt zu sein. Ich wünschte, ich hätte brauchbare Wörter, um mit ihrer Hilfe darüber nachdenken zu können, warum mir in den letzten Jahren Opern und Ballettaufführungen im Fernsehen so viel besser gefallen haben als die langweiligen Opern- und Ballettfilme, an die ich mich erinnern kann. Hat es damit zu tun, dass das Fernsehen die Theatralität und die ihm fremden Konventionen dieser Medien respektieren kann, ohne zu versuchen, sie neu zu interpretieren, wie der Film es gierig tun würde? Und kann dies als Fähigkeit des Fernsehens verstanden werden, die Unabhängigkeit des theatralischen Ereignisses anerkennen zu können? Ich mochte Bergmanns Die Zauberflöte, aber ich hatte auch das Gefühl, dass dieses Stück wie eine Fernsehproduktion aussieht. Es ist so leicht, der eigentlichen Frage auszuweichen. Liefert der Gedanke, einem solchen Ereignis gegenüber Respekt zu wahren, vielleicht auch

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den Grund dafür, warum Puppen und Muppets sich im Fernsehen in einer Weise heimisch fühlen, wie sie es im Film nicht tun? Hier drängt sich eine Antwort auf die Frage auf, die meine Auffassung vom Primat des Formates jederzeit aufwerfen könnte: Ist nicht die Fernseh-Sondersendung eine Ausnahme von der Regel dieses Primats, da das Besondere seiner Definition nach einmalig ist? Die Antwort darauf lautet nicht nur, dass die Einmaligkeit sich das entsprechende Format sucht (wie Verabschiedungen, Preisverleihungen oder Parodien), ein Format, das von Stars und Berühmtheiten in beliebiger Anzahl verwendet und immer wieder verwendet werden kann, solange dies nur nicht regelmäßig, das heißt in Serienform, geschieht. Diese Antwort muss freilich spezifizieren, was der Charakter eines Formats ist, das außerhalb einer Serie auftreten kann. So nehmen Unterhaltungs-Sondersendungen, die der Laufbahn eines Stars oder einer Berühmtheit gewidmet sind, gewöhnlich die Form einer Varietéshow an. Dass das Format der Varietéshow so gut zum Fernsehen passt, kann ich jetzt der Tatsache zuschreiben, dass eine Varietéshow nur eine Sequenz von Ereignissen ist, in der diese Ereignisse als autonome Akte oder Attraktionen interpretiert werden, die von einem Faszinationsgeschehen konstituiert sind, das sich als grundsätzlich wiederholbar verstehen lässt – in einer anderen Show oder einer anderen Stadt. Der Begriff des Ereignisses umfasst hier den Sinn der Vielfältigkeit und denjenigen der Einzelheit – d. h. der Integrität – der einzelnen Nummern der Show, so wie beim Aufzählen der Abfolge eines Leichtathletikwettkampfs oder die eines Boxabends. Die Übertragung von Kulturereignissen scheint eine weitere Ausnahmegruppe vom Gesetz des Formats zu bilden und andere Beispiele für einmalige Geschehnisse zu liefern. Aber was hier einmalig und, vor allem, erinnerungswürdig ist, das ist die Aufführung selbst, zum Beispiel Balanchines Ballett zu Strawinskys Agon, jene Aufführung, in der ein Tanzpaar in einer schwierigen Passage einen Fehlstart hat und neu beginnen muss. Unabhängig von der Aufführung kann auch die Präsentation durch das Fernsehen selbst von Interesse sein, vielleicht wegen neuartiger Kamerapositionen, die eine größere Aufmerksamkeit auf die Details der Aufführung ermöglichen, oder vielleicht, weil das die erste Sendung war, die die Untertitel auf eine spezielle Weise verwendet hat. Aber diese Merkmale der Präsentation bilden ein im Wesentlichen wiederholbares Format, brauchbar und verfeinerbar für zukünftige Übertragungen von Ballettvorführungen. Wenn freilich die Präsentation im Fernsehen ein so wesentlicher Bestandteil der Aufführung wird, dass die Aufführung selbst darauf hin entworfen wird, dessen Präsentationsmöglichkeiten solchermaßen in die eigene Integrität einzubauen, dass die Idee einer ‚Wiederholung‘ des Formats, bzw. die Idee der Perfektionierung bestimmter Kamera-‚Installationen‘ keinen eindeutigen Sinn mehr ergeben, dann wäre das Fernsehformat in den Zustand des Genre-als-Medium überführt worden. Von solchen Werken habe ich jedoch zu wenig gesehen, als dass ich brauchbare Überlegungen dazu anstellen könnte. In jedem Fall gehören sie dem Bereich des Experimentalvideos an, den ich, wie erwähnt, hier in meiner Darstellung ausklammere. Ich merke kurz an, dass das Varietéformat auch den Anforderungen des Radios in den Zeiten der (Radio)Networks entsprochen hat. Es wird, glaube ich, gemeinhin ge-

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sagt, dass das Fernsehen in seinen Anfängen viele Sendungen oder Ideen für Sendungen vom Radio übernommen hat. Von einem empirischen oder juristischen Standpunkt aus kann dies niemand leugnen, aber unter ontologischen oder ästhetischen Gesichtspunkten sollte man sich fragen, warum das Radio eine derart produktive Quelle für das Fernsehen war. Eine bessere Erklärung könnte lauten, dass das Fernsehen sich seine Formate oft von denselben Orten geholt hat wie das Radio, zum Beispiel aus dem Bereich des Vaudeville, und dass der Grund dafür, warum es diese Quellen teilen konnte, darin liegt, dass beide Medien Modi des Sendens und Kontrollierens sind, d. h. Ströme simultaner Ereignisrezeption. Da einer dieser Ströme für das Ohr gemacht ist und der andere zusätzlich auch für das Auge, könnte man sich Gedanken darüber machen, in welchem Verhältnis die Sinne in den unterschiedlichen Ereignissen angesprochen werden. Warum nimmt zum Beispiel das Wetter einen eigenen kleinen Platz in der Dramaturgie der Nachrichtensendung ein, während die Entwicklungen an der Börse einfach nur verlesen werden? Hat es vielleicht etwas damit zu tun, dass das Wetter visuell interessanter ist als die Börse, oder vielleicht mit seiner Nähe zum Dramatischen, oder mit seiner wiederkehrenden Rolle als Thema der Konversation zwischen Fremden, oder vielleicht damit, dass es sich zur Versinnbildlichung unserer Stimmungslagen eignet, oder vielleicht einfach nur mit der Tatsache des Interesses, es vorherzusagen (als bekäme man wenigstens dadurch etwas Kontrolle über die Zukunft)? Würde unser Interesse an Vorhersagen sich darauf beschränken, dass diese unseren praktischen Planungen für die nächsten Tage dienen, wäre das einfache Vorlesen genauso brauchbar wie eine Dramatisierung oder die Verwandlung in einen kleinen Vortrag. Bei der Börse machen Vorhersagen eigentlich nur für all jene Sinn, die eine spezielle Beziehung zu ihr haben, z. B. weil sie mitspielen, und für die nicht nur das Resultat eines Tages, sondern auch die Tagesereignisse von Fluktuation oder Stabilität relevant sind. Was das Format der Nachrichten angeht, ist es von entscheidendem Interesse, ihre Affinität zu einem Element des Fernsehens darzustellen, dessen Auslassung in meiner mehr oder weniger unsystematischen Zusammenstellung von Formaten vielleicht am stärksten auffällt, dem Ereignis nämlich, das ausdrücklich für die Möglichkeiten der Fernsehberichterstattung geformt wurde; etwas, das den meisten Betrachtern am eindringlichsten im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung und den Antikriegsdemonstrationen der 60er-Jahre und anschließend mit der Darstellung von Terrorakten ins Bewusstsein getreten ist. Indem ich die Theatralität des Verlesens vorformulierter Nachrichten anführe und darauf aufmerksam mache, dass das Fernsehen die Ereignisse rhetorisch darstellt, verweise ich darauf, was jene Möglichkeiten des Mediums sind, die die geformten Ereignisse an sich zu binden suchen; freilich, die Tatsache des Fernsehens erklärt genauso wenig, warum solche Ereignisse auftreten, wie es die Folgen des Wetters für unser Gemüt erklärt. Denn was es zu erklären gilt, ist – wie ich mit Bezug auf die Historiker der Annales-Schule zum Ausdruck bringen wollte – gerade unser ununterbrochenes Fasziniertsein von den Ereignissen, unser Wille unser Leben zu verstehen und uns damit auseinander zu setzen, wobei wir – in der Absicht uns selbst zu theatralisieren – mehr an seinen Dramen als an seinen Kontinuitäten, mehr am Ereignis und Unfall als am Gleichbleibenden, mehr an seinen Themen als an seinen Strukturen

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interessiert sind. Genau dies führte Thoreau vor eineinhalb Jahrhunderten jedoch gegen das Interesse am Zeitungslesen an, das er als Interesse mit potenziellem Suchtcharakter beschrieb. Die Idee der langen Dauer, von der die Historiker der Annales-Schule sprechen, trifft eigentümlicherweise auch auf jene außergewöhnlichen Ausweitungen narrativer Zeit zu, die in der Serialisierung hervorgerufen werden. Die extremste Ausweitung wird von erfolgreichen Soap Operas vorgenommen, die ihre Erzählfäden über Jahre hinweg weiterspinnen können. Ich habe bereits gesagt, dass das serielle Verfahren undialektisch ist. Ich könnte hier hinzufügen, dass die Dauer der Soap Operas ihnen erlaubt, der [realen, historischen] Geschichte zu entkommen oder, eher noch, dass sie eine Veränderung des Begriffs von Geschichte verlangt, von Geschichte als Drama oder Geschichte in Abhängigkeit von den Erzählfäden traditioneller Romane. Die Dauer der fiktionalen Zeit der Welt einer Soap kann unermesslich kürzer (oder langsamer) sein als der Zeitraum, in dem man zuschaut. (Vor ungefähr 40 Jahren schaltete meine Mutter immer dann, wenn wir uns für die Arbeit bzw. die Schule fertig machten, eine Radioserie mit dem Namen Helen Trent ein. Der Grundgedanke dieser Serie wurde jeden Morgen in der Frage verkündet, ob eine Frau über 35, oder vielleicht war es 40, noch Liebe finden könne. Ich könnte mir vorstellen, dass es diese Serie noch immer gibt. Aber dann wäre Helen Trent noch immer um die 35 oder 40 Jahre alt.) Wie schrecklich die Ereignisse in den Soap Operas auch immer sein mögen, sie gehören dem endlos Alltäglichen an, sie handeln von Übergängen und Abgründen des Gewohnten, was möglicherweise die Leichtigkeit erklären könnte, mit der Teile ihres Publikums die Figuren (wie es scheint) als ‚wirklich‘ auffassen. Ohne auf die besonderen Merkmale der Geschichten und des Publikums, die die Soap Operas möglich machen, einzugehen, mache ich auf die folgende Tatsache aufmerksam: Die prestigeträchtigsten und sensationellsten Errungenschaften, die das Fernsehen in den letzten Jahren hervorgebracht hat, waren Serien – entweder von der snobistischen Sorte, auf die die BBC den Alleinanspruch hält (Upstairs/Downstairs; The forsythe saga; Dame, König, As, Spion; Wiedersehen mit Brideshead) oder von der unsnobistischen amerikanischen Sorte (Roots und Dallas). Ich nehme hier einfach, ohne weiter dafür zu argumentieren, an, dass die elf wöchentlichen, einstündigen Episoden von Wiedersehen mit Brideshead eine zeitliche Ordnung ins Feld führen, die mit filmischer Zeit nicht vergleichbar ist. Diese zeitliche Ordnung hat eine Wirkung, wie sie weder ein Film von elfstündiger Dauer noch etwas, das elf Wochen dauert (was auch immer das sein könnte), noch elf Filme von je einstündiger Dauer haben könnten. Eine Stunde Fernsehzeit bezeichnet nicht nur etwas, für das es in der Filmzeit keine Entsprechung gibt, für die Etablierung seiner Formate ist es darüber hinaus grundlegend, dass das Fernsehen sich an den Rhythmus der Woche hält, ja deren Ordnungsstruktur und Wiederholungsmuster gleichsam so zelebriert, wie dies das Buch Genesis tut. Die Art, wie das Fernsehen dies zelebriert, indem es den Tag immer weiter in Minuten und Sekunden einteilt, hat vielleicht mit seiner Etablierung in industriellen Gesellschaften und mit deren Reglementierung von Zeit zu tun. Man könnte meinen, eines der von mir bereits angeführten Formate bewiese, dass man der Unterscheidung zwischen Film und Video weniger Beachtung schenken sollte,

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als ich es zu tun geneigt bin, oder dass diese Unterscheidung sogar nichtig ist: Ich meine damit das sehr geläufige Format, Filme im Fernsehen zu zeigen. Sicherlich würde niemand darauf bestehen, dass die Erfahrung eines Films bei seiner Übertragung im Fernsehen die gleiche ist wie bei seiner Projektion auf eine Leinwand, und jeder wird wohl die eine oder andere informelle Theorie dazu haben, was diesen Unterschied ausmacht – das Fernsehbild ist kleiner, der Raum ist nicht abgedunkelt, es gibt kein richtiges Publikum, das Bild ist weniger ergreifend usw. Aber was für einen Unterschied machen diese Unterschiede wirklich? Mir scheint, man kann die Feinheiten hier übergehen bzw. zurückstellen, weil ein Unterschied zwischen dem Medium Film und dem Medium Video, der uns genug zu denken gibt, darin besteht, dass der Fernsehapparat eine Moviola4 ist (oder als eine solche verstanden werden kann) wenn ein Film über den Videorekorder im Fernsehen gezeigt wird; obzwar ein Monitor, anders als eine Moviola, als ein Werkzeug betrachtet werden kann, das es möglich macht einen Film zu untersuchen ohne ihn projizieren zu müssen. Eine Möglichkeit, die Beschreibung dieses Unterschieds zu beginnen, liegt folglich darin, dass die Erfahrung von Videofilmen im Fernsehen etwas ist, über dessen Ablauf man, im Prinzip, eine Kontrolle hat; man ist ihm nicht ausgesetzt, wie man es beim Film selbst oder beim Fernsehen selbst ist. Aber um diesen Unterschied weiter auszuführen, benötigte man eine Theorie der Moviola, des Schnittsichtgerätes; ich meine damit eine Theorie über die Beziehung zwischen der Erfahrung dieser Präsentationsform und derjenigen einer zusammenhängenden, öffentlichen Vorführung. Man könnte die Moviola als etwas betrachten, das eine Reproduktion des Originals bzw. seine Reduktion liefert. Im letzteren Fall müssten wir zum Beispiel daran denken, dass der Klavierauszug einer Sinfoniepartitur nicht einfach als eine physikalische Reduktion zu verstehen ist; vielleicht sollte man ihn eher als den extremen Fall einer Reorchestrierung ansehen. Genauso kann ein Klavierstück für ein Orchester bearbeitet werden, usw. Gibt es analoge vermittelnde, wechselseitige Mechanismen, die die Beziehung zwischen kleinen und großen Bildflächen verständlich oder deutlich werden lassen? (Natürlich könnte es so scheinen, als ob die Beziehung zwischen kleinen und großen Bildflächen, da sie rein mechanischer Natur ist, eigentlich viel eindeutiger ist als die Beziehung zwischen Transkription und Original. Mir scheint aber gerade auffällig, dass dies nicht den Tatsachen, nicht der tatsächlichen Erfahrung entspricht.) Im anderen Fall, dem der Reproduktion, brauchen wir eine Theorie der Reproduktion, die alles umfasst, von der halbseitigen schwarzweißen Abbildung eines Freskos, das hundert Mal größer ist, in einem Kunstbuch bis zum Abguss einer Statue. Der Gegenpol zur langen Dauer findet sich in den Einzelepisoden, deren Ereignisse, wie dramatisch sie auch sein mögen, vergänglich sind. Somit schlägt die Ästhetik der Serie-Episoden-Konstruktion vor, dass das, was dabei konstruiert wird, ein Widerstreit zwischen der Zeit als Wiederholung und der Zeit als Vergänglichkeit ist. Ich kann hier nicht näher darauf eingehen, dass dies eine mögliche Beschreibung für die Denkweise von Nietzsches Zarathustra und, daran anknüpfend, auch von Heideggers Was heißt 4

Anm. d. Übers.: Moviola ist ein mittlerweile klassisches Gerät für den Filmschnitt, das die Sichtung der Filmstreifen und deren Hin- und Herbewegung möglich macht.

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denken? ist, vermute aber, dass zum Abschluss etwas dazu gesagt werden sollte, worauf diese Spekulationen hinauslaufen. Ich komme auf die Angst, die Abneigung und die Besorgnis zurück, die das Fernsehen in gebildeten Kreisen auslöst, und frage mich, ob die Überlegungen, die wir bisher angestellt haben, eine realistische Grundlage für eine Erklärung dieser Tatsache des Fernsehens liefern. Um das erforderliche Argumentationsniveau anzupeilen, erwähne ich ein Buch, das mir, als ich mit den Vorstudien zu der vorliegenden Arbeit begann, von verschiedenen Seiten empfohlen wurde, nämlich Schafft das Fernsehen ab von Jerry Mander. Das Buch versucht den Leser davon zu überzeugen, dass man vom Fernsehen, ähnlich wie von „Tabak, Saccharin, von bestimmten Lebensmittelfarben, bestimmten Anwendungen von mehrfachchlorierten Diphenylen, von Aerosolen, Röntgenapparaten und Röntgenstrahlen, um einige Beispiele zu nennen“ Krebs bekommen könne und dass es allein schon aus diesem Grund verboten gehöre (Mander 1979, S. 300). Freilich gibt es für ein solches Verbot auch noch viele andere Gründe: Das Fernsehen macht süchtig und „eignet sich eher zur Gehirnwäsche, zu künstlicher Einlullung oder Hypnotisierung denn als Mittel zur Anregung bewußter Lernprozesse“ (ebd., S. 300 f.); es stellt eine Form der Sinnesberaubung dar, die Desorientierung und Verwirrung auslöst; es unterdrückt und überlagert die schöpferische Einbildungskraft des Menschen; es ist ein Instrument der Umwandlung, das Menschen in ihre Fernsehbilder verwandelt; es trägt zu Hyperaktivität bei; „es beschleunigt unsere Entfremdung von der Natur und damit die Zerstörung der Natur“ (ebd., S. 301). Ist dies eine Erregung bloß stilistischer Art? Was an dem, was ich hier lesen konnte, vielleicht am meisten erstaunt, ist jener Teil des Buches, in dem Victor Tausks Beschreibung der ‚Beeinflussungsmaschine‘ (1948) gelobt wird. Mander ist davon überzeugt, dass das Fernsehen die Verwirklichung der Beeinflussungsmaschine ist. Die Pointe des außerordentlichen Aufsatzes von Victor Tausk freilich ist gerade, dass die Annahme, es gäbe in der Realität solche Beeinflussungsmaschinen, ein Symptom von Schizophrenie ist. Ich kann nicht sagen, ob Mander das weiß, und wenn er es weiß, ob er dann damit erklärt, dass er schizophren ist, und wenn er das ist, er dann behauptet, dass es das Fernsehen war, das ihn so weit getrieben hat und auch uns so weit treiben wird, und ob er vielleicht auch behauptet, dass dies ein Stadium ist, in dem ihm die Wahrheit unserer Situation besonders klar vor Augen tritt. Ohne diese Dinge sagen zu können, bin ich dennoch jederzeit bereit, dieses Buch und die Tatsache, dass offensichtlich eine Anzahl vernünftiger Menschen es ernst nehmen, als ein Symptom dafür aufzufassen, wie tief gehend die Ängste sind, die das Fernsehen zu verursachen vermag. Die Tiefe dieser Ängste drückt sich meines Erachtens auch in den unterschiedlichen, mehr oder weniger beiläufigen Hypothesen aus, die man, zum Beispiel, bezüglich der Rolle, die das Fernsehen bei der Entstehung der Reaktionen auf den Vietnamkrieg gespielt hat, hören kann. Manche sagen, das Fernsehen hätte zum Ende des Krieges beigetragen, andere sagen (verständlicherweise), es habe den Krieg unwirklich erscheinen lassen. Eines der quälendsten Bilder, die ich im Fernsehen gesehen habe, ist das Material, das einen vietnamesischen Priester zeigt, der sich aus Protest gegen den Krieg selbst verbrennt. Bergmann greift dieses Bild in Persona auf und scheint damit gleich-

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zeitig auf die Zuflucht, die Schweigen und Wahnsinn, aber auch auf die Zuflucht, die das Fernsehen bietet, hinzuweisen. Die wahnsinnig gewordene, sprachlose Heldin starrt auf den brennenden Priester, nicht nur als ob sie einen Ausdruck, ja sogar eine Erklärung für ihren Schmerz gefunden hätte, sondern auch, als ob sie selbst die Ursache dieser Schmerzes in der Welt sei, als ob sie selbst die Welt verpestet hätte. Die Rolle, die das Fernsehen in den Erklärungen von Katastrophen spielt, hat sich jedoch schon vor dem Vietnamkrieg angedeutet. Man bedenke, dass der Siegeszug des Fernsehens gleich nach dem Zweiten Weltkrieg begann, das heißt, und darauf zielen meine Hypothesen hier ab, nach der Entdeckung von Konzentrationslagern und der Atombombe; nach der Entdeckung der Möglichkeit der buchstäblichen Selbstzerstörung menschlichen Lebens, d. h., dass es willens ist, sich selbst zu zerstören. (Auch das hat sich schon lange angekündigt; Nietzsche hat es bereits realistisch beschrieben. Wenn ich dies für die Lektion des Zweiten Weltkriegs halte, für eine Lektion, die zu lernen es für uns keinen realistischen Weg gibt, entdecke ich darin den fortwirkenden Effekt des, trotz seiner Exzesse, einst sehr bekannten Essays von Norman Mailer, The White Negro.) Und dieser Siegeszug des Fernsehens wurde fortgesetzt in den Zeiten des Niedergangs unserer Städte und der wachsenden Angst, nachts aus dem Haus zu gehen, einer Angst, die eine Welt von Eingeschlossenen hervorbringt. Um es nicht länger hinauszuzögern – meine Hypothese lautet: Die Angst vor dem Fernsehen (jene Angst, die so groß ist, dass sie die Angst vor dem Fernsehen erklären kann) ist die Angst davor, dass das, was es kontrolliert, die wachsende Unbewohnbarkeit der Welt ist, die unwiderrufliche Umweltverschmutzung, eine Angst, die verschoben wird von der Welt auf den Monitor (so wie wir die Angst vor dem, was wir sehen und was wir sehen möchten, in die Angst umwandeln, gesehen zu werden). Der Verlust dieser Bewohnbarkeit würde in Heideggers Perspektive den Verlust unserer Menschlichkeit bedeuten, ob wir am Leben bleiben oder nicht. Kinder mögen sicherlich diese Angst noch nicht entwickelt haben, und das Kind in uns ist fähig, diese Angst auf ambivalente Weise zu unterdrücken. Meine Hypothese ist eine Antwort auf die Forderung des Verstandes an sich selbst, dieses vernachlässigte Missverhältnis zwischen der Tatsache des Fernsehens und der Tatsache unserer Indifferenz gegenüber seiner Bedeutung zu thematisieren – als wäre diese Vernachlässigung selbst Ausdruck der Tatsache, dass eine Ware triumphiert hat, eine Vorrichtung, die ein Monitor ist; und dass das, was diese Vorrichtung kontrolliert, – abgesehen von jenen Ereignissen, deren Existenz der Existenz dieser Vorrichtung vorausgeht (Kulturberichterstattung, Sport, Filme) –, so oft Szenerien des Abgeschottet-Seins sind, so insistente Bezugspunkte für Normalität und Banalität, dass es nahe liegt, dass das, was ausgeschlossen ist – jener Verdacht, dessen Eintreffen wir um alles in der Welt verhindern wollen –, so monströs sein muss wie der Tod des Normalen und Vertrauten schlechthin. Ich bin mir durchaus dessen bewusst, dass jetzt auch gegen mich der Vorwurf der Psychose erhoben werden könnte. Wenn dies so ist, dann hätte diese Diagnose bereits vor einer Dekade gestellt werden müssen, als The World Viewed erschienen ist, denn der abschließende Abschnitt des Buches deutet solch eine Hypothesen bereits an:

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„Eine vollständige Welt ohne mich, die mir gegenwärtig ist, ist die Welt meiner Unsterblichkeit. Darin liegt die Bedeutung des Films – und eine Gefahr. Mein Leben tritt in dieser Welt auf als mein spukhafter Umgang mit der Welt, entweder weil ich sie ungeliebt verlassen oder weil ich in ihr Dinge nicht zu Ende gebracht habe. Daher gibt es für mich Gründe, weshalb ich möchte, daß die Kamera die Kohärenz der Welt leugnet, ihre Kohärenz als Vergangenheit: leugnet, daß die Welt ohne mich vollständig ist. Aber es gibt genauso Gründe, eine Bestätigung dafür zu suchen, daß die Welt ohne mich kohärent ist. Das ist wesentlich dafür, was ich von der Unsterblichkeit will: daß die Natur mich überlebt. Dies würde bedeuten, daß das jetzige Urteil über mich nicht das letzte ist.“ (Cavell 1979, S. 160)

Die Darlegung, die ich hier vorgenommen habe, basiert auf dem Gedanken, dass das Medium Fernsehen eine Ahnung vom Scheitern dessen vermittelt, dass die Natur mich überlebt. Ich glaube, es ist ziemlich viel verlangt von den Wiederholungen und Flüchtigkeiten des Fernsehens, von all der Geselligkeit, die es durch Rede und Ereignis vermittelt, dass es die Angst dieser Ahnung, die dem Medium zugrunde liegt, überwindet. Aber wenn ich Recht habe, erfüllt es diesen Anspruch doch mehr oder weniger, was wiederum – im Guten und im Schlechten – die Vertrautheit mit den menschlichen Angelegenheiten beweist. Wir können das auch unsere Anpassungsfähigkeit nennen. Dass diese Angst im möglichen Verschwinden der Natur ein passendes Objekt findet, schließt für mich nicht deren psychologische Herleitung aus der Schuld diesem Objekt gegenüber aus. Und – wer weiß?– wenn der Monitor sich dazu aufschwingen könnte, bessere Gespräche zu präsentieren, wenn er nach sinnvollen Zusammenhängen und nach der Schönheit in seinen events suchen würde, dann könnte das vielleicht unsere Lähmung, unseren Stolz auf das Angepasstsein, unsere Sehnsucht nach einem dunklen Schicksal hinreichend lindern und uns dabei helfen, etwas Intelligentes gegen deren Ursache auf den Weg zu bringen. Die deutsche Erstübersetzung von Herbert Schwaab, Ralf Adelmann, Markus Stauff5 wurde für den vorliegenden Band bearbeitet von Ludwig Nagl6.

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Diese Erstübersetzung des vorliegenden Texts erschien unter dem Titel „Die Tatsache des Fernsehens“ in: Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft: Theorie – Geschichte – Analyse, hgg. v. Ralf Adelmann, Jan O. Hesse u. Judith Keilbach, Konstanz 2002: UVK-Verlagsgesellschaft, (UTB für Wissenschaft), S. 125-164. Im amerikanischen Original erschien Cavells Essay „The Fact of Television“ in Cavells Buch Themes out of School. Effects and Causes, San Francisco 1984: North Point Press, S. 235-258. Der Titel „Medienphilosophie des Fernsehens“ wurde seitens des Akademie Verlags im Blick auf die Gesamtkonzeption des vorliegenden Sammelbandes gewählt. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes danken Stanley Cavell für die freundliche Gewährung des Copyrights.

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Literatur Bazin, André (1975), Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln: DuMont. Cavell, Stanley (1979), The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film. Enlarged Edition, Cambridge: Harvard University Press. Cavell, Stanley (1981), Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage. Cambridge: Harvard University Press. Cavell, Stanley (1982), „Welt durch die Kamera gesehen. Weiterführende Überlegungen zu meinem Buch ‚The World Viewed‘“, in: Henrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hgg.): Theorien der Kunst, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 447-490. (Siehe auch: Cavell, Stanley, Nach der Philosophie. Essays, Zweite, erweiterte und überarbeitete Auflage. Mit einer neuen Einleitung hg. v. Ludwig Nagl u. Kurt R. Fischer, Berlin 2001: Akademie, S. 143-170.) Cavell, Stanley (1999), aus: „Die Welt betrachtet“, in: Nagl, Ludwig (Hg.), Filmästhetik, Wien/München: Oldenbourg, Berlin: Akademie, S. 84-103. Cawelti, John G. (1976), Adventure, Mystery and Romance. Formula Stories and Popular Culture, Chicago: University of Chicago Press. Frye, Northrop (1965), A Natural Position, New York: Harcourt, Brace & World. Mander, Jerry (1979), Schafft das Fernsehen ab! Eine Streitschrift gegen das Leben aus zweiter Hand, Reinbek: Rowohlt. Propp, Vladimir (1972), Morphologie des Märchens, München: Hanser. Rosen, Charles (1983), Der klassische Stil: Haydn, Mozart, Beethoven, Kassel u. a.: dtv. Tausk, Victor (1948), „On the Origin of the ‘Influencing Machine’ in Schizophrenia“, in: Fliess, Robert (Hg.), The Psychoanalytical Reader, New York: International Universities Press, S. 31-64. Todorov, Tzvetan (1972), Einführung in die phantastische Literatur, München: Hanser. Warshow, Robert (1964), „Paul, the Horror Comics, and Dr. Wertham“, in: ders.: The Immediate Experience. Movies, Comics, Theatre and Other Aspects of Popular Culture, New York: Doubleday (Enlarged Edition, 2001, Harvard University Press, with an „Epilogue: After Half a Century“ by Stanley Cavell.)

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MEDIENPHILOSOPHIE DES COMPUTERS

Wer sich einen Überblick über die aktuellen Beiträge zur Philosophie des Computers verschaffen möchte, stößt rasch auf ein merkwürdiges Phänomen: Die meisten der heute publizierten Gedanken zum Computer, soweit sie im Kontext der akademischen Philosophie entstehen, setzen sich affirmativ oder kritisch mit dem Verhältnis von menschlichem Gehirn und elektronischem Rechner auseinander. Dieser Umstand verdeutlicht, in welchem Maße die von den Technikphilosophen Kapp (1877) und Gehlen (1957), aber auch dem Literaturwissenschaftler McLuhan (1964/1968) entwickelte These, Technik sei eine Art Organerweiterung oder Organersatz, den Diskurs prägt. Die pointierteste Darstellung von der Technik als Einrichtung, die die natürlichen Defizite des Menschen kompensiert, hat zweifellos Gehlen vorgelegt und ihr die begriffliche Trias „Organersatz, Organverstärkung und Entlastung“ wie eine unüberhörbare Leitformel vorangestellt. McLuhan ergänzte dieses suggestive Bild nur um einige Nuancen. So wies er auf den Schock hin, den jede neue Technik zunächst auslöst, indem sie das erweiterte Organ gleichsam amputiert. Erträglich ist dieser traumatische Prozess der Verselbstständigung – laut McLuhan – allein deshalb, weil die technische Innovation, sobald sie zum Einsatz kommt, ihre menschlichen Opfer, die zugleich Täter sind, betäubt und gegenüber den medialen Tiefenwirkungen blind macht. Fügt man die Computertechnik in das hier nur grob skizzierte Modell ein, dann erscheint sie als eine Erfindung, die das bedeutsamste menschliche Organ, das Gehirn, verstärken oder ersetzen kann. Dessen Größe und Leistungsfähigkeit zeichnen den Menschen vor allen anderen Lebewesen aus. Und die Überzeugung, dass es dem in natürlicher Evolution entstandenen Gehirn bald gelingen wird, sich selbst durch ein künstliches Gebilde nicht bloß zu verdoppeln, sondern zu überbieten, würde den Narzissmus der Gattung, der allzu leicht in prometheische Scham umschlägt, auf die Spitze treiben. Zu den vordringlichsten Aufgaben einer Medienphilosophie des Computers gehört es daher, die Organersatz-Theorie zu hinterfragen und generell die notorische Anthropomorphisierung technischer Errungenschaften zu bekämpfen. Erforderlich wird diese neue Art der Reflexion, sobald wir mit guten Gründen annehmen dürfen, dass der Computer nicht nur, aber eben „auch etwas tut, für das es in unserem Verhalten und Denken schlichtweg kein Vorbild gibt und das an uns auch keinen Maßstab findet“ (Krämer 1997, S. 86). Damit die Medienphilosophie ihr Ziel, den Computer als grundlegend Anderes und Neuartiges zu denken, erreichen kann, muss sie einen Perspektivenwechsel einleiten.

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Sie wird dieser Aufgabe jedoch nur gewachsen sein, wenn sie die Vorzüge und Nachteile der vorhandenen Sichtweisen analysiert und erst dann ihre eigene Version präsentiert. Zunächst wäre also die (bereits umrissene) technikphilosophische Perspektive zu sondieren. Hier erscheint der Computer als Schlussstein einer Geschichte der Artefakte, die von der Antike bis in die Gegenwart reicht und die menschliche Selbstverwirklichung als Prozess der Selbstentäußerung in Szene setzt. Sodann wäre diejenige Perspektive zu untersuchen, welche sich von den klassischen philosophischen Fragen leiten lässt und neue technische Erfindungen nur zum Zwecke theoretischer Explikation heranzieht. Hier erscheint der Computer als aufschlussreiches Modell für menschliche Vermögen, deren Bedingungen der Möglichkeit ebenso ungeklärt sind wie ihre Funktionsweisen. Von diesen beiden Perspektiven wäre schließlich die angestrebte medienphilosophische Sicht abzuheben, die den spezifisch medialen Charakter des Computers zum Ausgangspunkt der Reflexion macht. Eine solche Schrittfolge empfiehlt sich nicht nur als heuristische Strategie, sie berücksichtigt auch die historische Entwicklung. Es ist ja keineswegs selbstverständlich, dass man den Computer zum Medium erklärt. Die Exemplare der frühen Rechnergenerationen wurden als Automaten oder Werkzeuge verstanden und entsprechend eingesetzt. Erst bestimmte Fähigkeiten des Computers, die mit neuen Nutzungsweisen einhergingen, haben den Medienbegriff attraktiv gemacht: Medialität wird dem Computer aus mehreren Gründen zugesprochen: 1. Weil er eine doppelte Integration vollbringt: er kann einerseits alle bisherigen Medien zu einem ‚Universalmedium‘ zusammenfassen und andererseits als SoftwareProgramm in alle bekannten Einzelmedien eingefügt werden; 2. weil er ,Beziehungen zwischen Menschen‘ stiftet und damit an die Stelle der Geräteeigenschaften und der subjektiven Eingriffsmöglichkeiten (welche der Rechner als Werkzeug bereitstellt) die „Vernetzung vermittelter Kooperation“ (Coy 1994, S. 5) ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt; 3. weil er nicht mehr primär als ein Objekt gilt, das Subjekten, die vor ihm sitzen, dienlich ist, sondern als ein Gebilde, mit dessen Hilfe Datenräume, virtuelle Realitäten geschaffen werden können, in denen sich die Akteure bewegen und regelrecht auf Reisen gehen. Entscheidend für die Verwendung des Medienbegriffs sind also zum einen der Netzwerk- und Kommunikationsaspekt und zum anderen die Konstruktion virtueller Welten. Beides werde ich (da es in diesem Band gesondert behandelt wird1) im Folgenden nur am Rande erwähnen. Ich möchte mich vielmehr auf eine historische Darstellung konzentrieren, die zugleich auch systematischen Ansprüchen genügt. Im ersten Abschnitt diskutiere ich die Rolle der Kybernetik in der Nachkriegsphilosophie, die verständlicherweise durch anthropologische, existenzialistische und gesellschaftspolitische Fragestellungen auch dort dominiert wird, wo sie Aussagen über das transhistorische Sein von Sprachzeichen trifft. In einem zweiten Schritt greife ich die philosophischen Debatten um die Künstliche Intelligenz auf und erläutere die erkenntnis- und sprachtheoreti1

Die Kommunikation im Internet ist Gegenstand des Beitrages von Mark Poster und die virtuelle Realität analysiert Stefan Münker. Vgl. deren Beiträge in dem vorliegenden Band.

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sche Kritik an deren Kernideen. Zum Abschluss skizziere ich eine Reihe von Aufgaben, die eine Medienphilosophie des Computers in Zukunft zu bewältigen hat, und versuche – gestützt auf eigene empirische Studien – die neuen Denk- und Orientierungsweisen zu beschreiben, die der permanente Umgang mit der Computertechnik hervorbringt oder zumindest begünstigt.

1. Kybernetik und Philosophie Nur wenige Jahre nachdem Konrad Zuse seine verschiedenen Rechenmaschinen (Z1 bis Z4) und die inzwischen legendäre Bletchley-Park-Gruppe, zu der auch Alan Turing zählte, das Entschlüsselungsgerät Colossus gebaut hatten, setzte Norbert Wiener den Begriff ,Kybernetik‘ in die Welt. Dieser aus dem Griechischen hergeleitete Ausdruck soll eine Wissenschaft bezeichnen, die sich dem Studium von Nachrichten, ihrer technischen Steuerung und insbesondere ihrer Rückkopplung widmet. Kybernetik ist ein werbeträchtiges Label, unter dem Erkenntnisse und Methoden der Regelungs-, Informations-, Automaten- und Algorithmentheorie zusammengefasst werden. Seiner programmatischen Schrift Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine von 1948 (Wiener 1968), die sich an ein Expertenpublikum wandte, ließ Wiener alsbald ein populärwissenschaftliches Buch The Human Use of Human Beings (Cybernetics and Society) folgen, in dem er die neuen Denkmodelle und ihre technischen Realisierungen auf eine auch „für den Laien“ (Wiener 1952, S. 11) verständliche Weise erläuterte. Dieser Text, der eine Vielzahl von sozialen Problemen anspricht und auch die Gefahr „eines neuen Faschismus“ (ebd., S. 195) nicht unerwähnt lässt, hat erhebliche öffentliche Resonanz gefunden und ist auch in geisteswissenschaftlichen Fächern wie Philosophie, Psychologie und Soziologie nicht unbeachtet geblieben. Wiener präsentiert die Kybernetik als ein interdisziplinäres Konzept der Problemerfassung und Problemlösung, dessen Vorteile und Möglichkeiten gerade vor dem Hintergrund des überstandenen Zweiten Weltkrieges an Profil gewinnen. Er versucht zu zeigen, dass hier Erkenntnisse erlangt und praktisch umgesetzt werden können, die keine Wertfreiheit für sich reklamieren, sondern durchaus normative Implikationen enthalten, deren Berücksichtigung mit großer Wahrscheinlichkeit die Korrektur bestimmter (wenn nicht typischer, so doch häufiger) menschlicher Einstellungen und Verhaltensweisen zur Folge hat. Da die kybernetischen Kommunikationsmaschinen wesentlich auf Prozessen der Rückmeldung beruhen, würde ihr Einsatz zum Abbau von Machtverhältnissen führen, für die eine Form der „Organisation“ kennzeichnend ist, „in der alle Information von oben kommt und keine zurückgeht“ (ebd., S. 27). Eine durch kybernetische Modelle geregelte und kontrollierte Gesellschaft wäre eine demokratische und gerade keine totalitäre Sozialordnung. Das neuartige Wissen ist deshalb weit davon entfernt, die Serie der anthropologischen Kränkungen fortzusetzen, die die Theorien von Keppler, Darwin, Marx und Freud der Gattung zugefügt haben. Aus der Annahme, dass „die Arbeitsweisen des lebenden Individuums und die einiger neuerer Kommunikationsma-

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schinen völlig parallel verlaufen“ (ebd., S. 26), resultiert für Wiener kein grundsätzliches Problem. Diese Maschinen lassen zwar „die unheimliche Fähigkeit erkennen [...], menschliches Verhalten nachzuahmen“, aber sie bieten deswegen auch die Möglichkeit, „das Wesen des Menschen zu erhellen“ (ebd., S. 13). Es geht in der Kybernetik also nicht zuletzt um eine anthropologische Bestandsaufnahme, die verborgene Strukturen freilegt. Die hier praktizierte Wesensschau generiert eine Perspektive, die den Beobachter dazu befähigt, die Frage nach der Substanz der Phänomene so umzuformulieren, dass man am Ende von der inneren Natur der anvisierten Gegenstände absehen kann und stattdessen auf die Form oder die Relationierung der Gegenstände blickt. Diese Sicht hat weit reichende Konsequenzen und lässt sich auf beliebige Themen anwenden. Die Verwendung von Sprache gilt zum Beispiel nicht primär als Verständigungshandeln, sondern als ein lustvoller Vollzug von Transformationen, bei denen die Bedeutung der benutzten Zeichen mal verborgen und mal aufgedeckt wird: „Das Phänomen des menschlichen Sprechens (scheint) ein ureigener Trieb zum Verschlüsseln und Entschlüsseln zu sein“ (ebd., S. 87). Wiener offeriert seine Betrachtungsweise, die zu einer Serie ernüchternder Detail-Befunde führt, allerdings mit großem moralischen Pathos. Die Kybernetik steigert seiner Ansicht nach nicht die Gefahren technokratischer Systeme, die die Freiheit des Einzelnen ersticken, sondern bringt Rettung in höchster Not: „Die Stunde drängt, Gut und Böse pochen an unsere Tür; wir müssen uns entscheiden“ (ebd., S. 194). Während bei Wiener das philosophische Gewicht der Kybernetik darin liegt, die dramatische Situation, in der sich die Welt befindet, zu entschärfen, greift Max Bense 1951 auf Heideggers Fundamentalontologie zurück und preist die neuen Maschinen als Lösung des ,Missverhältnisses‘ zwischen Mensch und Natur. Für Bense schafft die Kybernetik Bedingungen, unter denen sich der Mensch „als technische Existenz“ (Bense 2002, S. 483) neu entwerfen und vollenden kann. Heidegger selbst hat dieser exzentrischen Deutung nicht beigepflichtet. Er sieht in der Kybernetik, auf die er ausdrücklich (in der Version von Wiener) Bezug nimmt, den Höhepunkt der abendländischen Metaphysik, die das Sein zu etwas Gegenständlichem und damit letztlich Berechenbarem gemacht hat. Um die Metaphysik zu überwinden, muss der Mensch zwar den Zirkel der ‚Seinsvergessenheit‘ ausschreiten, aber die Kybernetik liefert kein Modell für eine nachmetaphysische Lebensform. Denn in der technischen Sprache, die die Informationstheorie propagiert, wird die „Sprache auf das bloße Zeichengeben, das Melden reduziert, d. h. verkümmert“ (Heidegger 1989, S. 26). Eine solche Reduktion betrachtet Heidegger als „Bedrohung des eigensten Wesens des Menschen“ (ebd., S. 27). Obschon die Kybernetik nicht als Vorgriff auf die Kommunikationsverhältnisse, die in einem nachmetaphysischen Zeitalter walten, interpretiert werden darf, legt sie durch ihre rücksichtslose Offensive die eigene Grenze frei und gibt damit zu verstehen, welche menschlichen Eigenschaften von den metaphysischen Verstellungen nicht angetastet werden können. Die Informationstheorie muss nämlich den Gebrauch der natürlichen Sprache voraussetzen. Sie hängt mithin von der Umgangssprache ab. Sprachliches Geschehen ereignet sich für Heidegger in einem transmetaphysischen Raum, weil die impliziten, nichtformalisierbaren Voraussetzungen, auf denen es ruht, immer auch Poten-

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ziale für menschliche Praxis-Entwürfe mit unkalkulierbaren Risiken und Chancen bereitstellen. Es ist dieses Verständnis von Sprache als Medium der Welterschließung, das später für die KI-Kritik von Dreyfus (1985, 1986, 1994) u. a. richtungsweisend wurde. Auffällig an Heideggers Darstellung der Kybernetik ist, dass sie mit dem Vorwurf des Reduktionismus arbeitet und selbst eine verborgene reduktionistische Pointe besitzt. An der Informationstheorie der Sprache, die Wiener u. a. ausbreiten, nimmt er nur den Zwang zur Formalisierung und Berechnung wahr. Derrida hat in seiner Grammatologie von 1967 (Derrida 1974) hervorgehoben, dass die Kybernetik das Konzept einer neuen Schrift ins Werk setzt und allein deshalb schon aus dem Bann der Metaphysik heraustritt. Derrida teilt Heideggers Kritik an der abendländischen Metaphysik, speziell an deren Subjektbegriff, der den Menschen als das ‚Zugrundeliegende‘ definiert und seinen enthemmten ‚Willen zur Macht‘ speist. Kern der Metaphysik ist aber für Derrida nicht primär die begriffliche Vergegenständlichung der Welt, die ihre technische Zurichtung ermöglicht, sondern die geradezu fixe Idee, dass die Welt im menschlichen Zeichengebrauch vergegenwärtigt wird. Präsenz und nicht Funktionalität steht im Zentrum der metaphysischen Weltsicht. Daher gilt im philosophischen Diskurs des Abendlandes die Stimme als Träger des Sinns. Und ihr Primat liefert die Deutungsfolie für die phonetische Schrift, der die Fähigkeit zugesprochen wird, jedes beliebige semantische Phänomen zu verzeichnen. Mit dem Auftreten der Kybernetik zerfällt laut Derrida die Ideologie des Buches, der zufolge selbst in einer gedruckten Schrift immer nur die ihr vorausgehende Stimme re-präsentiert wird. Mehr als jede interne Kritik der Metaphysik markiert die Kybernetik den ,Anfang‘ einer anderen (mit Heidegger könnte man sagen: der eigentlichen) Schrift, die auch in jeden noch so kompakt wirkenden Formalismus eine räumliche und zeitliche Differenz einträgt. Die (stimmlich artikulierte) Präsenz ist damit als Leitvorstellung der Welterschließung verabschiedet. An ihre Stelle treten Differenzfiguren, die die phonetische Schrift in eine Schrift der Spuren verwandeln. Derrida lässt sich von Heideggers Vorbehalten gegen die Kybernetik also nicht beeindrucken, weil die Kybernetik 1. nicht bloß die phonetische Grundierung der Schrift verabschiedet, sondern auch ihre Linearität aufbricht, und 2. die Dezentrierung des Subjekts fortführt, die Heidegger selbst mit seiner Daseinsanalyse eingeleitet hat. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Derridas Differance-Theorie unter den Apologeten der Computertechnik viel Anklang gefunden hat. So wird etwa der sog. ,Hypertext‘ als rechner-basierter Vollzug der Dekonstruktion gefeiert oder eine ‚polykontexturale Programmierung‘ angepriesen, die sich als ‚Übertragung‘ der derridaschen Thesen in die Welt der Computer versteht (vgl. Sandbothe 2001). Die bisher diskutierten ‚Berührungen‘ zwischen dem kybernetischen und dem philosophischen Diskurs lassen viele Fragen offen. Die vertretenen Positionen sind mit erheblichen Unschärfen behaftet. Manches hat einen penetrant ‚weltanschaulichen‘ Anstrich. Wieners Ausflüge auf das Gelände der sozialphilosophischen Reflexion weisen erstaunlich manichäistische Züge auf und wirken politisch naiv; die Thesen von Bense sind zwar aufregend, stehen aber argumentativ auf schwachen Beinen; und der ‚Kybernetik‘-Begriff, den Heidegger und Derrida verwenden, bleibt äußerst vage. Alle diese Schwierigkeiten sind nicht zufällig, denn es geht den genannten Autoren bei ihren Er-

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örterungen immer auch um eine Gesamtdeutung der okzidentalen Moderne. Entwicklung und Einsatz der neuartigen Rechenmaschinen werden im Kontext eines epochalen Rationalisierungsprozesses betrachtet, dessen umfassenden Charakter als erster Max Weber dargestellt hat. Im Hintergrund der unterschiedlichen Stellungnahmen zur ‚kybernetischen Revolution‘ steht daher die Frage, ob es sich hierbei um Manifestationen einer instrumentell verkürzten Vernunft oder um die technisch initiierte Befreiung aus den Zwängen traditioneller Herrschaftsformen handelt. Wer dies zu entscheiden hat, schert sich offenbar nicht sonderlich um Details, seien dies nun präzise Beschreibungen des Computers aus philosophischer Warte oder solide Explikationen erkenntnistheoretischer, ethischer und anthropologischer Probleme aus kybernetischer Sicht.

2. Berechnung – Bedeutung – Intelligenz Prägnante Konturen erhält die Philosophie des Computers erst, als der ‚Gegenstand‘, um den sich die Debatten drehen, begrifflich so zugeschnitten wird, dass sich die Aufmerksamkeit auf wenige entscheidende Fragen konzentriert. Die Ambitionen der Forschungsprojekte müssen deswegen nicht abnehmen. Der von John McCarthy 1955 kreierte Begriff Artificial Intelligence leistet in dieser Hinsicht Beachtliches. Er stellt die kognitiven Fähigkeiten des Menschen ins Zentrum einer neuen Disziplin und weckt die Erwartung, dass die Bezugnahme auf Operationen des Computers Aufschluss über menschliches Denken liefert. Dabei lässt sich der Vergleich zwischen Mensch und Maschine beliebig weit treiben und mit genau den Erfolgsaussichten kombinieren, die für potenzielle Geldgeber aus dem militärisch-industriellen Komplex ebenso interessant sind wie für gewisse Schwärmer, die mit interesselosem Wohlgefallen von der MenschMaschine-Symbiose phantasieren. Die Philosophie kann solche Extremfälle den Beurteilungskompetenzen der Soziologie überlassen, um sich primär mit zwei Bündeln von Fragen zu beschäftigen: 1. In welcher Hinsicht stimmen die Berechnungen oder die symbolverarbeitenden Prozesse, die der Computer ausführt, mit Vorgängen im menschlichen Bewusstsein überein? Sind für Berechnungen und Erkenntnisakte basale Operationen charakteristisch, die als ähnlich oder gar identisch bezeichnet werden dürfen? Sind ggf. neben kognitiven Prozessen auch weitere psychische Phänomene (z. B. Wünsche oder Schmerzen) mit Zuständen des Computers vergleichbar? 2. Kann die Genese sprachlicher Bedeutung mit den Formalismen und Regeln in Zusammenhang gebracht werden, auf denen Computerprogramme beruhen? Oder schaffen biologische und/oder soziale (interaktive und historische) Abläufe derart einzigartige Gebilde, dass weder strukturelle noch funktionale Äquivalente denkbar sind? Diese doppelte ‚Engführung‘ der philosophischen Reflexion, die jetzt in erster Linie mit den Phänomenen Erkenntnis und Bedeutung befasst ist, hat entscheidende Vorteile. Das

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Gemisch aus ganz unterschiedlichen Fragen, welches für die Kybernetik-Debatte kennzeichnend ist, wird nicht wieder angerührt. Das Auftauchen des Computers gilt als ein Ereignis, das die Philosophie dazu zwingt, klarer als bisher zu sagen, was sie unter Wissen, Vernunft, Geist, Körper, Bewusstsein, Sprache, Sinn, Intention etc. versteht. Hilary Putnam, der sein großes Buch über das Zusammenspiel von Reason, Truth and History (1981) mit Überlegungen zum berühmt-berüchtigten Turing-Test2 beginnt, hat zwischen 1960 und 1975 mehrere Aufsätze geschrieben, die das klassische BodyMind-Problem mit Rücksicht auf die Grundlagenforschung im Bereich der Mathematik und der Computer-Theorie analysieren. Putnam bezieht sich hier nicht auf das weite Feld der Kybernetik und die spektakulären KI-Projekte der Gründerjahre, sondern verwendet in seinen Analysen nur die universelle Turing-Maschine.3 Als ein für alle Computer gültiges Grundmodell soll sie Aufschlüsse über die Funktionsweise des Geistes liefern und Argumente stützen, mit denen u. a. materialistische und behavioristische Erklärungskonzepte zurückgewiesen werden können. Dieses Vorgehen allein lässt noch nicht den Schluss zu, dass geistige Tätigkeit und maschinelle Rechenleistung, dass Mensch und Apparat gleichzusetzen sind. Dies ist letztlich eine empirische Frage und kann deshalb philosophisch nicht vorentschieden werden (vgl. Putnam 1975, S. 364 u. 412). Es soll zunächst nur gezeigt werden, inwiefern Theorien, deren Konzepte schon den besonderen Eigenschaften der Turing-Maschine nicht gerecht werden, auch zur Beschreibung menschlicher Kompetenzen ungeeignet sind. Faszinierend an Turings ‚Maschine‘ ist, dass sie zum einen den Berechnungsbegriff klar definiert (also das Berechenbare vom Unberechenbaren unterscheidet) und zum anderen zeigt, dass es diverse Möglichkeiten gibt, das Programm der Maschine zu ‚realisieren‘. Die logischen Zustände der Maschine legen demnach keineswegs fest, mit welchen strukturellen Zuständen sie konkret verknüpft werden müssen, damit sie überhaupt existieren können. Schriftzeichen, Zahnräder, Vakuumröhren und Siliziumchips erfüllen, wenn sie entsprechend angeordnet sind, gleichermaßen diese Funktion. Nicht die stofflich-materiellen, sondern die operativen Eigenschaften sind für die Leistungen der Maschine ausschlaggebend. Setzt man nun den menschlichen Geist in Analogie zu den logischen, und den Körper zu den physikalischen Zuständen der Maschine, so erhält die sog. funktionalistische Theorie des Body-Mind-Problems, die die Autonomie des Geistes unterstellt, wenn schon keine Plausibilität, so doch zumindest eine gewisse Plastizität: Heteronom ist der Geist, weil er sich auf irgendeine Weise verkörpern muss, frei hingegen, weil er an keine spezifische Verkörperung gebunden ist. Auf die nahe liegende Frage, 2

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Dieser Test beschreibt die Bedingungen, unter denen der Maschine eine menschliche Wesen kennzeichnende Intelligenz zugeschrieben werden kann, und wird oft zum Ausgangspunkt der KI erklärt (vgl. Mainzer 2003, S. 20). Vgl. Turing (1937). Es handelt sich bei der Turing-Maschine nicht um den Entwurf einer Computerarchitektur, sondern um die Klärung des Berechnungsbegriffs mit Hilfe einer imaginären Maschine, die über eine endliche Zahl interner Zustände und ein unendliches externes Register verfügt. Fast gleichzeitig hat Alonzo Church seinen Lambda-Kalkül entwickelt, der mit anderen Methoden als Turings Modell zur selben Definition des Berechnungsbegriffes gelangt. Man spricht daher heute auch zumeist von der Church-Turing-These.

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wie es überhaupt zur Verbindung zwischen beiden Zustandsformen kommen kann, lässt sich mit dem Hinweis auf faktische Computer eine vorläufige Antwort geben. Insofern solche Geräte als mögliche Realisierung der Turing-Maschine gelten dürfen, liefern sie mit ihren Hardware- und Software-Zuständen ein handgreifliches Beispiel für die Verknüpfung von materiellen und semantischen Eigenschaften. Diese Verknüpfung weist bei lauffähigen Computern Merkmale auf, die sie als kausale Relation kenntlich machen; trotzdem gibt sie dem Beobachter nicht den geringsten Anlass, eine der beiden Zustands- oder Eigenschaftsklassen auf die andere zurückzuführen. Der Funktionalismus präsentiert also eine merkwürdig dualistische Theorie über zwei kausal sich wechselseitig bedingende, aber zugleich unreduzierbare Sphären. Was ist damit gewonnen? Putnams umstrittene Vorschläge, die Mitte der Siebzigerjahre durch Arbeiten von Jerry Fodor und anderen starken Flankenschutz erhalten, beruhen auf der Annahme, dass der Computer (qua universeller Turing-Maschine) eine transparente und verständliche Konstruktion ist, die sich eignet, ein Licht auf schwierige Probleme der Philosophie des Geistes zu werfen. Diese Vorgehensweise ist legitim, kann aber nur als ein Teilstück der angestrebten Medienphilosophie des Computers betrachtet werden. Erforderlich wäre der Versuch, die eingenommene Perspektive umzudrehen: Die Philosophie müsste durch transparente Begriffe und Analysestrategien das rätselhafte Phänomen Computer erhellen. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, das Bild des Computers, das philosophisches Interesse weckt, komplexer zu gestalten. Denn es geht nicht darum, den Theoretikern durch ein bestimmtes Computer-Konzept „das Leben“ bzw. den Umgang mit alten ungelösten philosophischen Fragen „einfacher zu machen“ (Dennett 1999, S. 88). Genau diese gebotene ‚Erschwerung‘ des Forschungsgegenstandes ist aber ein Problem für sich, denn bislang erweisen sich ambitionierte Beschreibungen des Computers eher als philosophisch naiv, schwach oder fehlerhaft. Es ist kaum zu bestreiten, dass die gehaltvollsten und provokantesten Darstellungen des Computers aus dem Lager der KI-Anhänger kommen. Hier wird der Computer (und das ganze Spektrum der unterschiedlichen Modellierungsmöglichkeiten, die er bietet) als eine Technik betrachtet, die es erlaubt, aus einfachen Elementen hochkomplexe und in mancher Hinsicht nicht mehr nachvollziehbare oder durchschaubare Gebilde zu erschaffen. Eben diese Darstellung hat die philosophischen Experten jedoch nicht dazu bewogen, eine entsprechend vielschichtige philosophische Theorie über den Computer anzufertigen, sondern vielmehr angeregt, noch entschiedener der Frage nachzugehen, ob selbst der denkbar leistungsfähigste Computer in der Lage sein könnte, die Eigenarten des menschlichen Bewusstseins zu imitieren. Festzuhalten bleibt jedenfalls: Philosophische Reflexionen über die Grenzen einer Technologie, die auf Prozessen der Formalisierung beruhen, fallen wesentlich brillanter aus als all jene Versuche, die den Computer unmittelbar zum Gegenstand der Untersuchung machen. Offenbar können die Philosophen ihre Potenziale besser ausspielen, wenn sie durch einfallsreiche Gedankenexperimente aufzeigen, dass Geist und soziales Leben komplexer und eigensinniger sind als noch so smarte Computerprogramme. Auch Putnam schwenkt nach seinen frühen Koketterien mit dem Maschinenmodell auf diese Linie ein. Die Analogie von psychischen/körperlichen Zustän-

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den des Menschen und funktionalen/strukturellen Zuständen der Maschine wird jetzt nicht mehr als erhellend, sondern als irreführend eingeschätzt. 1981 entwirft Putnam ein Szenario, das nicht nur mit dem Turing-Test (1950), sondern auch mit dem Plot des Films Matrix (1998) gewisse Ähnlichkeiten aufweist: „In einem Tank mit einer Nährlösung“ befindet sich ein Gehirn, dessen Nervenenden mit einem „superwissenschaftlichen Computer“ verbunden sind, der das Gehirn (bzw. die Person, um deren amputiertes Gehirn es sich handelt) durch die perfekte Simulation der Wirklichkeit in dem Glauben lässt, „alles verhalte sich völlig normal“ (Putnam 1982, S. 22). Putnam argumentiert nun, dass die Gehirne im Tank, obschon sie über Vorstellungsbilder verfügen, nicht auf die äußeren, tatsächlichen Dinge, von denen diese Vorstellungsbilder handeln, bedeutsam Bezug nehmen können. Bedeutungen sind nämlich nicht als geistige Objekte im Gehirn repräsentiert, wie Fodor (1975) im Einklang mit den Annahmen der ‚harten‘ KI-Fraktion meint, sondern entstehen im praktischen Umgang mit den Dingen selbst. Wir müssen uns auf die Außenwelt, die wir kraft der sprachlichen Bezugnahme geistig präsent zu haben glauben, so einlassen, dass wir in eine „kausale Wechselbeziehung“ (Putnam 1982, S. 34) zu ihr treten. Die Erzeugung von Bedeutungen in realen Handlungskontexten weist demnach eine Qualität auf, die der ‚intelligenteste‘ Computer durch Rechenleistungen allein nicht simulieren oder aufwiegen kann. Der ‚Mehrwert‘ der menschlichen Lebensform gegenüber dem Maschinenprogramm ist folglich garantiert. Ebenso wie der späte Wittgenstein, favorisiert der späte Putnam eine Gebrauchstheorie der Bedeutung und verwirft mit den frühen Konzepten, in denen der Computer Modell stand, auch jede intentionalistische Version der geistigen Bezugnahme auf physische Gegenstände. In einem ähnlich berühmten und breit diskutierten Gedankenexperiment hat auch John Searle (1980) prinzipielle Einwände gegen die künstliche, algorithmenbasierte Produktion von Bedeutung erhoben. Freilich beruht sein Argument auf der Annahme, dass die von Putnam des sprachtheoretischen Feldes verwiesene Intentionalität eine notwendige Bedingung für Bedeutung darstellt. Ohne intentionale Geisteszustände soll die sprachliche Bezugnahme auf Dinge und Ereignisse in der Welt gar nicht möglich sein. Damit nähert sich Searle, dessen Sprechakttheorie als Fortsetzung der wittgensteinschen Spätphilosophie gilt, allerdings den Kernideen der ‚harten‘ KIFraktion an und muss deshalb die Frage beantworten, ob Intentionen Geisteszustände sind, die eine symbolverarbeitende Maschine ‚simulieren‘ kann. Dem ,Chinese-RoomArgument‘4 kommt in diesem Zusammenhang ein hoher Stellenwert zu, denn es soll demonstrieren, dass Computer nicht in der Lage sind, Intentionalität zu erzeugen. Der Witz von Searles Gedankenexperiment besteht nun darin, dass es den Wert des TuringTests zu entkräften versucht, indem es dessen Gelingen als Indiz seines Scheiterns vor 4

Das Argument beruht auf folgendem Gedankenexperiment: Eine Person, die kein Chinesisch versteht, sitzt in einem abgeschlossenen Raum und erhält Kärtchen mit chinesischen Schriftzeichen hereingereicht, die sie mit Hilfe von englischsprachigen Anweisungen, die sich nur auf die Form der Symbole beziehen, derart manipuliert, dass Zeichenfolgen entstehen, die ein externer Beobachter als sinnvolle Antworten auf Fragen auffassen kann. Siehe dazu u. a. Searle (1980), Dennett (1980), Putnam (1991, S. 64 ff.), Mainzer (1994, S. 769 ff.).

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Augen führt5: Selbst wenn die Maschine die gleichen Leistungen wie der Mensch erbringt und Turings „imitation game“ (Turing 1950, S. 441) erfolgreich zu spielen vermag, so wird ein entscheidender Mangel sichtbar. Die Maschine bzw. die Person im chinesischen Zimmer ‚versteht‘ nämlich die Aufgaben nicht, die sie programmgerecht abwickelt: Das Gehirn ist kein Computer, weil die syntaktischen Operationen, die die Maschine virtuos und mit enormer Geschwindigkeit ausführt, niemals ausreichen (werden), um semantische Beziehungen zu konstituieren. Dieses Argument versucht Searle noch zu erhärten, indem er ihm die These zur Seite stellt, dass Intentionen ein biologisches Phänomen sind, das durch kausale Prozesse zu Stande kommt, die von keinem Formalismus hervorgezaubert werden können. Allerdings schafft eine derartige ‚naturalistische‘ Annahme mehr Probleme, als sie löst, und hat daher entsprechend harsche Kritik erfahren. Auch Penrose, der ebenso wie Searle prinzipielle Einwände gegen die Computer-Geist-Analogie erhebt, bezweifelt den Wert der These: „Was ist das Besondere an biologischen Systemen [...], das ausgerechnet ihnen erlaubt, Intentionalität oder Semantik zu erwerben?“ (Penrose 1991, S. 21). Aus der Warte von Penrose sind Searles Spekulationen ohnehin unnötig; denn nicht die stoffliche Eigenart des Menschen, sondern der Charakter formaler Systeme liefert das schlagende Argument, mit der die Vorstellung, menschliches Denken und algorithmische Operationen seien (zumindest in funktioneller Hinsicht) identisch, ad absurdum geführt werden kann. Die Existenz der gödelschen Unvollständigkeitssätze zeigt, dass der menschliche Verstand dazu fähig ist, die Grenzen formaler Systeme zu erkennen und zu überschreiten. Hier manifestiert sich eine Art des Verstehens, die sich nicht in der Produktion und Befolgung von mathematischen Regeln erschöpft. Der Geist besitzt vielmehr Zugang zu einer gleichsam platonischen Welt logischer Entitäten, deren Gestalt durch kein Computerprogramm simulierbar ist.

3. Hermeneutische Belehrungen Kritische Dauerkommentare zur KI-Entwicklung liefert seit 1972 der Philosoph Hubert Dreyfus. Aus seinem Windschatten sind 1986 die Informatiker Terry Winograd und Fernando Flores (vgl. Winograd/Flores 1989) hervorgetreten und haben ,zur Neugestaltung von Computersystemen‘ aufgerufen. Alle drei Autoren und viele andere, die ihnen gefolgt sind, verlassen sich nicht auf die internen Kontroll- und Lernmechanismen der einmal entfesselten informatischen Praxis. Die lehrreichen Erfahrungen mit der Formalisierungsgrenze, die Gödel aufgezeigt hat, kommen nämlich – soviel lehrt die anhaltende Softwarekrise – zu spät. Daher ist es nötig, nachdrücklich darauf aufmerksam zu 5

Bei Turing imitiert die Maschine den Menschen und erhält das Prädikat intelligent, wenn ein Außenstehender sie vom Menschen nicht mehr zu unterscheiden vermag. Bei Searle hingegen wird ein Akteur beschrieben, der ein Computerprogramm imitiert. Und auch hier wird zu philosophischen Beweis- oder Argumentationszwecken ein äußerst simples Modell eines solchen Programms skizziert.

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machen, dass die KI auf verfehlten Konzepten von Sprache und Kognition beruht. Dreyfus greift Analysen von Heidegger und Merleau-Ponty auf, Winograd/Flores beziehen sich primär auf Gadamers Kritik der rationalistischen Tradition und verbinden sie mit Studien zur biologischen Selbstorganisation. Folgt man den genannten Theoretikern, so erschließen sich Menschen ihre Welt durch eine leiblich-sprachliche Praxis, die stets auf ein implizites Hintergrundwissen, das die lebensnotwendige Vertrautheit stiftet, angewiesen ist. Erkenntnis erscheint dann nicht mehr als eine symbolische Repräsentation der vorhandenen Einzeldinge und Ereignisse, sondern als ein ganzheitlicher Entwurf, der sich in der jeweiligen konkreten Handlungssituation bewähren muss und einer beständigen, zumeist unbewussten Korrektur unterliegt. Dreyfus’ und Winograd/Flores’ Versuch, bestimmte philosophische Einsichten verständlich dazustellen und unter Informatikern zu popularisieren, hat in Fachkreisen der KI manchen Widerspruch provoziert, aber auch erheblichen Anklang gefunden. Ohnehin sieht sich 1986, im Erscheinungsjahr von Understanding Computers and Cognition, die ‚harte‘ KI bereits in die Defensive gedrängt. Rumlhart/McClelland (1986) publizieren ihr begeistert aufgenommenes Buch Parallel Distributed Processing: Explorations in the Microstructures of Cognition. Ein Paradigmenwechsel wird verkündet und schon wenige Jahre später formiert sich im Kielwasser von David Chapmans Werk über Vision, Instruction, and Action (Chapman 1991) die sog. ‚interaktive KI‘. Winograd/Flores’ Wunsch, durch die hermeneutisch inspirierte Sicht auf Sprache, Handlung und Wissensproduktion eine veränderte Form des Umgangs mit Computern zu ermöglichen und für alternative Softwareprojekte den Weg zu ebnen, geht – wie man glauben könnte – endlich in Erfüllung. Doch zur Euphorie besteht noch kein Anlass. Dreyfus weist darauf hin, dass auch die ‚interaktive KI‘ die sprachtheoretischen Mängel der klassischen Ansätze nicht beheben kann. Die neuen Konzepte orientieren sich zwar an „Heideggers Phänomenologie der Alltagslebens“, versuchen aber nicht, „seine Darstellung der Hintergrundvertrautheit umzusetzen“ (Dreyfus 1993, S. 668). Obschon sie in vieler Hinsicht Vorteile gegenüber der „good-old-fashioned AI“ aufweisen, fehlt den künstlich neuronalen Netzen – nicht anders als den alten KI-Systemen – „die Fähigkeit, Situationen zu erkennen, in denen das von ihnen Gelernte unangemessen ist“ (ebd., S. 674). Diese kritischen Bemerkungen klingen entschieden und klar, dennoch haftet ihnen eine gewisse Zweideutigkeit an. Als Hermeneutiker und Diskursanalytiker nimmt Dreyfus an, dass die impliziten Voraussetzungen der menschlichen Praxis reflexiv eingeholt, wenn auch nicht formalisiert werden können. Daher ist klarzustellen: Den Vertretern der neuen Konzepte gebührt kein Tadel, weil sie eine algorithmische Darstellung der sog. ,Hintergrundvertrautheit‘ erst gar nicht versucht haben. Vorhaltungen wären nur dann angebracht, wenn sie den Rekurs auf Heidegger als Legitimation eines exzessiven Formalisierungsprojekts und nicht als Anleitung zur Bescheidenheit benutzen würden. Von hermeneutischer Warte aus kann die Computertechnik einen sinnvollen Beitrag zur menschlichen Lebenspraxis leisten, indem sie in erster Linie unterstützende Aufgaben übernimmt und nur in Bereichen zum Einsatz kommt, in denen sicher gestellt ist, dass Chancen und Gefahren in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Herme-

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neutisch inspirierte Informatiker plädieren daher für partizipative Software und den Einsatz kleiner, relativ überschaubarer Systeme. Die genannte Zweideutigkeit in Dreyfus’ Kritik an der ‚interaktiven KI‘ ist aber nicht durch eine schlichte Präzisierung ihrer Stoßrichtung und Reichweite zu beheben. Denn sie verweist auf Probleme des hermeneutischen Ansatzes, die für eine aktuelle Philosophie des Computers besonders relevant sind. Gemeint ist damit nicht der generelle dekonstruktive Einwand gegen die Hermeneutik, welcher besagt, dass der alltagsweltliche Horizont des Verstehens und der Vertrautheit gar kein verbürgter Ort der Orientierung ist, sondern ein heterogenes und fragmentiertes Feld, in dem jede Markierung prinzipiell unsicher und strittig ist. Es geht vielmehr um Genese und Status des impliziten Wissens unter Bedingungen der spätmodernen ‚Informationsgesellschaft‘. Die leib- und kontextgebundenen Modi des Alltagswissens, die Menschen dazu befähigen, sich eine Welt des Handelns zu erschließen, mögen immun gegen jede Art der Formalisierung sein, sie sind heute aber in einer bislang noch nicht gekannten Weise durch avancierte Kommunikationstechnologien geprägt. Ihre ausgiebige Nutzung ist Teil des gewöhnlichen Lebens mit all seinen unbefragten Selbstverständlichkeiten und Routinehandlungen geworden. Die Annahme, „daß es gerade die vortechnischen Aktivitäten sind, die wirklich befriedigend und identifizierend sind“ (Lenk 1994, S. 58), hat daher kaum noch diagnostischen Wert, denn die existenziellen Selbstentwürfe nehmen eine neue Gestalt an. Selbst die leibliche Verankerung kognitiver und kommunikativer Akte unterliegt durch die medial produzierten Körperbilder und die computertechnisch ermöglichten Körpererfahrungen einem gravierenden Wandel. Voreilig wäre es freilich, aus diesem Umstand zu schließen, dass die elektronischen Medien „das unhintergehbare historische Apriori unseres Weltverhaltens“ (Bolz 1993, S. 113) geworden sind.

4. Zukünftige Aufgaben Die Medienphilosophie des Computers dreht sich letztlich um die Frage, ob es sinnvoll ist, von einer „telematischen Prägnanz“ (Margreiter, in dem vorliegenden Band) zu sprechen, die maßgeblich durch das aktuelle Leitmedium Computer bestimmt wird. Wie aber lässt sich zeigen, dass es ‚eigenartige‘ Denk- und Handlungsweisen, Einstellungsmuster und Weltsichten gibt, die der Umgang mit dem Computer fordert und fördert? Für viele Autoren sind die umwälzenden Effekte des neuen Mediums bereits eine ausgemachte Sache. Immer wieder wird z. B. behauptet, dass die Computertechnik, sobald sie ausgiebig zum Einsatz kommt, bei unterschiedlichsten Nutzern den Sinn für die Kontingenz ihrer Begriffe und Weltsichten schärft. Diese auf den ersten Blick recht plausible These lässt sich nun allerdings auf gegensätzliche Weisen ausbuchstabieren: Einmal läuft sie auf die Vermutung heraus, dass die reizvollsten Anwendungen des Computers „die Interpretativität all unserer Wirklichkeitsauffassungen zu Bewusstsein bring(en)“ (Welsch 1999, S. 241), zum anderen mündet sie in die (von Kittler und Bolz propagierte) Vorstellung ein, dass der Computer ‚Klartexte‘ hervorbringt, die immer

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auch anders ausfallen können und sich trotzdem ohne deutende Anstrengung entziffern lassen. Neben solch radikalen Ansichten hat eine weitere starke These, die oben bereits erwähnt wurde, große Beachtung gefunden. Schenkt man ihr Glauben, so führt der Computereinsatz zur Ausbreitung jener dekonstruktiven und rhizomatischen Denk- und Schreibweisen, die Derrida und Deleuze vorexerzierten. Die digitale Technik erzeuge, so heißt es, hybride Gebilde und untergrabe traditionelle binäre Schemata wie wahr/ falsch, authentisch/simuliert, poetisch/wissenschaftlich, weiblich/männlich etc. Um den Erkenntniswert dieser und ähnlich gelagerter Aussagen, die sich teils überschneiden, teils widersprechen, beurteilen zu können, darf die Medienphilosophie nicht bloß den Wandel der philosophischen Paradigmen als Indikator in Betracht ziehen, sie muss auch die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung berücksichtigen. Erst die eingehende Untersuchung von Personen, die sich intensiv und andauernd mit dem Computer beschäftigen, liefert das nötige Basiswissen über die prägende Kraft des neuen Mediums. Zwingende Beweise für bestimmte Annahmen sind freilich auch hier nicht zu erwarten, denn das in qualitativen und quantitativen Studien erhobene Datenmaterial wird von den eingesetzten Forschungsmethoden beeinflusst und unterliegt den Auslegungen der Beobachter. Aber man erhält zumindest signifikante Angaben darüber, welche Theorien nur Spekulationen anzubieten haben und welche Überlegungen einigermaßen zu den empirischen Befunden ‚passen‘. Aus den Selbstbeschreibungen der Computerprofis können – so lautet meine These – Schlüsse gezogen werden, die wertvolle Erkenntnisse über die (bereits vorhandene und zukünftig wohl noch deutlicher hervortretende) mediale Prägnanz des Computers stiften. Ich möchte daher vorschlagen, dass die medienphilosophische Reflexion sich an einigen interessanten Befunden der qualitativen Sozialforschung orientiert6: Die Computerprofis besitzen einen durchaus ‚postmodernen‘ Sinn für offene Situationen, pflegen eine relativistische Haltung gegenüber Normen und Werten und verstehen den Rechner als eine Technologie, die Sphären des Spiels, der Variation, der Unbestimmtheit zugänglich macht. Zugleich aber (und das wird in den gängigen Darstellungen ignoriert) betonen sie, dass diese affirmative Haltung zur Kontingenz nur ein vorübergehender Zustand ist, der sich gerade mit Hilfe des Computers überwinden lässt. Offenbar ermöglicht das Medium Computer durch sein Virtualisierungspotenzial eine Sicht auf Realität, die die Subjekte dazu bewegt, prinzipiell alle eingespielten Denkund Verhaltensmuster zur Disposition zu stellen. Es gewährt ihnen jedoch auch die Gewissheit, dass in nicht allzu ferner Zukunft eine neue verbindliche Ordnung entstehen wird. Die Computertechnik scheint also ein Denken zu fördern, das die kurzfristige Hingabe an das Unbestimmte mit der Erwartung einer baldigen Epiphanie des Eigentlichen verknüpft. Wenn man zu ergründen versucht, wie es zu dieser widersprüchlichen Einstellung kommen kann, stößt man auf eine eigentümliche Konstellation. Auffallend ist, dass die 6

Ich muss mich auf wenige Punkte konzentrieren, die an anderer Stelle ausführlicher dargelegt wurden (Ellrich 1999, 2000, 2001). Zum potenziellen Einfluss des Computers auf die Konzepte des Raums, der Zeit und der Macht vgl. Ellrich (2002, 2003, 2004).

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Computerprofis den provisorischen Zustand begrüßen, dessen Überwindung sie gleichzeitig herbeisehnen. Kontingenz löst bei ihnen (wie sie zugeben) im Grunde Unbehagen aus und wird doch ganz gelassen hingenommen. Woher stammt diese Sicherheit, dieser Mangel an Nervosität? Auf der Basis meiner Untersuchungen möchte ich hier eine bündige Antwort geben: Nicht weil sie durch ihre Computerpraxis lernen, die plötzlich errungene Freiheit von subjektiver Identität zu genießen und sich als multiple Persönlichkeiten zu entfalten, sondern weil sie eine neue, verblüffend feste Identität finden, sind die Profis, die ich befragt habe, so aufreizend entspannt und ertragen geduldig die instabilen Verhältnisse, die sie eigentlich gar nicht schätzen. Im Umgang mit dem Computer entsteht nämlich eine Ich-Einheit, die hinreichend tragfähig ist, um die Erfahrung mit zunehmender sozialer Unverbindlichkeit produktiv zu verarbeiten. Das Fundament der neuen subjektiven Identität – und das ist entscheidend – wird durch die Kopplung von Körper und Computer gelegt, ohne dass die Hilfsmittel des Cybergeschirrs ins Spiel kommen müssen. Es setzt sich gerade nicht aus Erlebnissen zusammen, die die Akteure mit einem mentalistischen Vokabular beschreiben, sondern bildet sich im direkten Kontakt mit dem Rechner und seinen diversen Zuständen, die gleichsam erspürt werden. Der Computer ist für den Personenkreis, der sich ihm bei aller virtuosen Handhabung auch immer ausliefert, weniger eine ‚Geistmaschine‘, als vielmehr ein Motor des leiblichen Bei-sich-Seins. Hier liegt seine identitätsstiftende Kraft. – Eine Medienphilosophie, die das ignoriert, dürfte zum Verständnis der erstaunlichen Beziehung zwischen Mensch und programmierbarer Universalmaschine nur geringe Beiträge liefern können.

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„Was ist Ethik anderes als Freiheitspraxis, die reflektierte Praxis der Freiheit?“ (Michel Foucault, Freiheit und Selbstsorge, S. 12)

1. Prolog Medien stehen in einem komplexen Verhältnis zu ethischem Handeln. Die Einführung eines jeden neuen Mediums, vom Buch bis hin zum Internet, wurde von der Angst vor einem Moralverfall begleitet. Kritiker befürchteten, das neue Medium werde die moralischen Grundlagen der Gesellschaft untergraben. So wurden beispielsweise Leser von Romanen noch bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts vor den furchtbaren Konsequenzen der Printmedien gewarnt: „Millionen junger Frauen und Hunderttausende junger Männer“, so die Zeitschrift The Hour, „werden durch Romane in die absolute Verdummung getrieben. Romanleser sind wie Opiumraucher; je mehr sie davon haben, desto mehr wollen sie davon, und die Verleger ... machen weiterhin ein Vermögen mit dieser Betrügerei.“2 Die gleichen Bedenken sind heute häufig im Zusammenhang mit dem Internet zu hören, noch immer besteht dieselbe Angst vor Abhängigkeit. Natürlich sind Unkenrufe wie diese üblich und man sollte ihnen nicht zu viel Bedeutung beimessen. Dennoch zeigen sie aufschlussreiche Tendenzen: Sie demonstrieren die Kraft eines Mediums und dessen Einfluss als Medium auf die moralische Kultur. Der Einwand von 1880 gab keine Auskunft über den Inhalt eines Romans. Wäre die gleiche Geschichte mündlich erzählt worden, hätte sie vermutlich kein Aufsehen erregt. Medien, um Gilles Deleuzes Terminus zu verwenden, „deterritorialisieren“ Kultur und untergraben damit moralische Gewissheiten. Auch das Internet erfordert diesbezüglich ein Umdenken und drängt auf eine Reform der Ethik.

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Der hier in gekürzter Fassung abgedruckte Originaltext erschien zuerst unter dem Titel „The Good, the Bad and the Virtual: Ethics in the Information Age“ (2001), in: Liestøl, Gunnar (ed.) (2003), Digital Media Revisited, Boston: MIT Press, S. 521-45. Zitiert nach Tebbel (1975, S. 171). Ich möchte Jon Wiener dafür danken, dass er mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht hat.

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Sergio Leones Film Il Buono, il Brutto, il Cattivo (1966)3 setzt Kino in einen Gegensatz zu den etablierten amerikanischen Werten, indem es den moralischen Rahmen des Westerngenres in Frage stellt. Der Western diente bereits im frühen Kino ausgehend von dem Film The Great Train Robbery (Edwin Porter 1903) bis in die 1950er Jahre der Darstellung des amerikanischen Mythos’ der Frontier4 (Wright 1975), des Kampfes gegen die Indianer, des gewalttätigen Lebens im Westen und vor allem der klaren Unterscheidung von Gut und Böse. Im Western wurde die Moral des liberalen Amerika dargestellt und bestärkt: Der Kampf der auf Gesetzen beruhenden Gesellschaft gegen die harte natürliche Umgebung, gegen heidnische „Wilde“ und Mexikaner, gegen die Lust, Gier und Brutalität von umgesiedelten Europäern – kurz gesagt, gegen die in der Wildnis freigesetzten Instinkte. In der Scheinwelt des Kinos wiederholt sich der amerikanische Gründungsmythos: der Bau eines Neuen Jerusalem in einer desolaten Welt und dessen Wiederaufbau bei der Besiedlung der Grenzgebiete. Im Western wurde das amerikanische Filmpublikum als ein moralischer Agent mit einem unmissverständlichen Gebot konstruiert. Als Amerikaner wusste man Gutes von Bösem zu unterscheiden. Gutes zu tun bedeutete Fortschritt und Wohlergehen – zumindest für männliche Weiße mit Mut, Verstand und Kraft. Leones Film spielt mit der gesamten Spannweite der amerikanischen Moral. Die Protagonisten – Lee van Cleef als Angel Eyes, Eli Wallach als Tuco und Clint Eastwood als Blondy – werden am Anfang des Films als der Hässliche (il cattivo), der Böse (il brutto) und der Gute (il buono) eingeführt. Während einer langen, fast drei Stunden dauernden Suche erweisen sich die drei Männer als moralisch verarmt. Eastwood als „der Gute“ hebt sich nur gering von den beiden anderen ab, wenn er gegen Ende des Films Mitleid mit einem sterbenden Soldaten zeigt. Größtenteils sind die Helden des Filmes hinter vergrabenem Gold her, allerdings ohne ein höheres Ziel. Mordend und brandschatzend ziehen sie während der Zeit des Bürgerkriegs, einem der ethisch schwärzesten Kapitel Amerikas, durch die karge Westernlandschaft. Wieder erscheint der Krieg ohne moralische Rechtfertigung und wird lediglich als sinnlose Metzelei dargestellt. An einer Stelle im Film wird beispielsweise ein verlustreicher Kampf um eine wertlose Brücke geführt. Ein sterbender Kommandeur der Unionstruppen träumt von der Zerstörung der Brücke, für deren Gewinn zu viele Männer unnötig ihr Leben lassen mussten. Der Gute und der Böse fügen sich ihm und jagen die Brücke in die Luft, aber nicht um den moralischen Wunsch des Kommandeurs zu erfüllen, sondern um unbeschadet das Schlachtfeld durchqueren zu können und einen Friedhof zu erreichen, auf dem das gesuchte Gold in einem Grab versteckt liegt. 3

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Anm. d. Übers.: Il Buono, il Brutto, il Cattivo [Der Gute, der Böse und der Hässliche] kam in Deutschland unter dem Titel Zwei glorreiche Halunken und in den USA unter dem Titel The Good, the Bad and the Ugly ins Kino. Anm. d. Übers.: In der amerikanischen Geschichte ebenso wie in der amerikanischen Kultur spielt die Frontier, also das Grenzgebiet zwischen besiedeltem Land und der Wildnis, eine zentrale Rolle. Sie verdeutlicht Amerikas Streben nach Ausbreitung in seinen Anfängen und versinnbildlicht damit gleichzeitig den Kampf zwischen den wilden Ureingeborenen und den kultivierten Weißen. Siehe dazu auch: Waechter (1996) und Turner (1996).

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Il Buono, il Brutto, il Cattivo fügt dem Dualismus gut/böse einen dritten Begriff, „hässlich“, hinzu, welcher den Gegensatz zu einer nicht-logischen Aufzählung erweitert. „Hässlich“ entstammt einem ästhetischen Dualismus, der in keiner direkten Verbindung zu „gut“ und „böse“ steht. Der Gute und der Böse im Titel suggerieren die übliche moralische Gleichung des Western und negieren sie gleichzeitig: alle drei Charaktere sind offensichtlich böse. Daher wechseln die Begriffe gut und böse von ihrem adjektivischen Sinn zu Substantiven. Das Trio könnte Tom, Dick und Harry heißen oder eben der Gute, der Böse und der Hässliche. Indem Leone diese Begriffe verwendet, impliziert er, dass sein Film eine mittelalterliche Moralität5 darstellt, in der Charaktere die Namen von Tugenden tragen. In dieser Abhandlung verwende ich die Begriffe des Guten, des Bösen und des Virtuellen anders. Ich vergegenständliche sie nicht zu Charakteren. Stattdessen verwende ich die Begriffe, um darauf aufmerksam zu machen, dass das Virtuelle nicht in die existierenden Auffassungen von gut und böse passt. Für Leone, der sich Mitte der sechziger Jahre des Mediums Film bedient, ermöglicht das Westerngenre die Aufhebung der amerikanischen Moralvorstellungen. Der italienische Regisseur verwendet ein amerikanisches Medium und amerikanische Erzählstrukturen, um den Kern amerikanischer Glaubenssätze zu hinterfragen. Und die Amerikaner liebten diesen Film. Das zeigen die Reaktionen der Kritiker und des Publikums.6 Wenn die Medien also ihren Einfluss ausbauen und ihre Formen vervielfachen, was ist dann das Schicksal der Ethik im so genannten „Informationszeitalter“?

2. Das Problem der Ethik Wie sollen wir kulturelle Handlungen bewerten, die medial vermittelt werden? Können wir dieselben Normen, die gleichen Werturteile, die gleichen moralischen und ethischen Kriterien, derer wir uns bei der Bewertung von Face-to-face-Gesprächen bedienen, auch auf Kommunikation anwenden, die durch Medientechnologien vermittelt wird?7 Dienen die Standards, die uns im realen Leben gut weiterhelfen, auch in den virtuellen Domänen von Cyberspace, Film, Radio, Fernsehen, Telefon, Telegraph und Schrift – kurz gesagt: in den Medien? Ich möchte die Hypothese untersuchen, ob das Aufkommen des Informationszeitalters etablierte ethische Prinzipien auflöst. Vielleicht ist es eine Eigen5

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Anm. d. Übers.: Moralität bezeichnet ein lehrhaftes, moralisches Drama, das im Spätmittelalter vor allem im englischen Sprachraum weit verbreitet war (vgl. Schweikle/Schweikle 1990, S. 311). Die Bruttoeinnahmen dieses Filmes betrugen in den USA 6,1 Millionen Dollar. Persönliche Beziehungen sollten nicht als einheitlich angesehen werden, sondern viel mehr als unterschiedlich in einer Vielzahl von Rhetoriken. Beispielsweise stellt Michael Taussig solch eine Analyse in seinem Buch vor (Taussig 1997). Ein Problem entsteht allerdings, wenn man die einzelnen Medien voneinander abgrenzt und damit den Eindruck vermittelt, dass jedes Medium eine Einheit in sich selbst bildet. Das ist sicherlich nicht der Fall.

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art der Ethik, dass die Grenze ihrer Anwendbarkeit in dem liegt, was man heute, nach der weiten Verbreitung der Medien, „real life“ nennt. Vielleicht stellt das Virtuelle eine Form kulturellen Lebens dar, die – um Nietzsches Ausdruck zu verwenden – jenseits von Gut und Böse ist. Das Problem bestünde dann nicht mehr darin einen Weg zu finden, Ethik auf das unbequeme und fremde Gebiet des Virtuellen anzuwenden, sondern stattdessen neue Bewertungssysteme zu entwickeln, die dem medialen Leben gerecht werden. Hier schließt sich sofort eine weitere Frage an: Wenn neue ethische Regeln für die von Medien dominierte Kultur nötig sind, war dann das frühere System der Ethik vielleicht fehlerhaft? Wird die Ethik, wie wir sie kannten, in Frage gestellt, wenn das Virtuelle das Reale problematisch erscheinen lässt? Tauchen bestimmte Probleme der Ethik auf, wenn man versucht ihre Reichweite auf mediale Handlungen auszudehnen? Solange Medien noch orts- und zeitgebunden waren, wurde Ethik nicht in Frage gestellt.8 Das Lesen eines gedruckten Romans, einer Zeitung oder Abhandlung ist ein besonderer Akt, der leicht vom realen Leben und der Face-to-face-Kommunikation durch die Materialität der gedruckten Seite abzugrenzen ist. Man kann sehr einfach zwischen einem Gespräch mit einer Person und dem Lesen eines Romans unterscheiden, auch wenn der Roman fesselnder ist als der Gesprächspartner. Das Medium Film ist ähnlich begrenzt durch seine Rezeption und seine Form: Filme werden zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten gezeigt. Nach dem Abspann verlassen die Zuschauer das Kino und treffen andere Menschen, um vielleicht den Film zu diskutieren. Diese gewohnten Verbindungen zwischen Menschen und Medien beginnen nun zu zerbrechen. Walkmans und tragbare Radios erlauben es einer Person Musik unabhängig vom Ort anzuhören. Es ist heute mehr als überholt, Musik nur an bestimmten Orten zu hören. Das Fernsehen mit seinem kontinuierlichen Fluss von Programmen durchbricht die Vorstellung, die mediale Kultur sei eine Sammlung von abgeschlossenen Werken. Über 100 Kanäle senden 24 Stunden am Tag ihre Programme, die mehr durch Werbung interpunktiert werden als durch die Übergänge zwischen den Shows. Mobiltelefone erlauben die Verbindung zwischen Menschen unabhängig vom Ort. Somit wurde räumliche Nähe als Bedingung für personelle Kommunikation aufgehoben. Die digitale Vernetzung der Computer ermöglicht weltweite Verbindungen, die ebenso interaktiv sind wie Gespräche. Konferenzschaltungen bereichern Fernbeziehungen mit Bild und Ton. Vervielfältigungen von Bild- und Tonträgern durch Konsumenten untergraben die Hegemonie der Ausstrahlung von Fernsehprogrammen, das sogenannte „time-shifting“ die Verfügbarkeit kultureller Objekte. Kombinationen dieser Technologien lassen die Grenzen zwischen realen und virtuellen Beziehungen verschwimmen. Das Internet ver8

Judith Yaross Lee wies mich auf einer Konferenz an der Ohio University im Mai 2001 darauf hin, dass dieses Argument modifiziert werden müsste, um die Veränderlichkeit der Anwendung jedes Mediums zu berücksichtigen. Sie bezieht sich sehr richtig auf Paul Saengers Studie des Stundenbuchs im späten Mittelalter. (Saenger 1989) Darin zeigt er, wie die Verbreitung des kleinen Stundenbuches stilles Lesen und eine neue Einstellung zu Gebeten als zurückgezogene Besinnung mit sich brachte. Dies geht auf die Produktion in Manuskript- und Buchform und hier vor allem auf der Tragbarkeit der Bücher zurück.

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einigt Einkaufszentren, Radio, Film, Fernsehen, Fax und andere Medien. Mit Mobiltelefonen kann man Emails versenden und eingeschränkt im Web surfen. Autos und Haushaltsgeräte „sprechen“ mit dem Konsumenten und der Computer „erkennt“ die Stimme des Benutzers. Es ist möglich, dass der Bereich des Ethischen für diejenigen modernen Kulturen spezifisch war, die zwar bereits säkularisiert, aber noch nicht in die virtuellen Medien eingetaucht waren. Ich wende mich nun dem prämodernen Zeitalter zu, um herauszufinden, ob Ethik vor der Modernisierung überhaupt möglich war. Die großen Moralphilosophen der Moderne gingen von Individuen aus, die nicht länger in Abhängigkeitsverhältnissen stehen, wie sie für die prämoderne westliche Gesellschaft typisch waren. Um nämlich beim Einzelnen die Frage nach der Natur des Guten stellen zu können, musste zunächst eine gewisse Distanz zwischen den Individuen und den politischen und religiösen Autoritäten hergestellt werden. Als Kant seinen kategorischen Imperativ formulierte („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“), ging er von einer Welt aus, in der Individuen nach ihrem eigenen Willen handeln können und in der institutionelle Autoritäten keinen maßgeblichen Einfluss auf die Konsequenzen ihrer Handlungen haben (Kant 1999). Weder Bauern, noch Priester, noch Adlige konnten aus seiner Perspektive ethische Personen sein; nur die Bürgerlichen, also diejenigen, die nicht durch persönliche Ergebenheit und Gehorsam, sondern nur durch die anonymen Regeln des Marktes gebunden waren, konnten moralisch handeln. Mit der weltweiten Durchsetzung der Marktgesetze ging die universale Verbreitung der Ethik einher – auch wenn dieser Prozess Jahre brauchte. Zu Kants Lebzeiten – im späten 18. Jahrhundert – blieben Nicht-Weiße, Frauen und Arme allerdings von diesem Bereich ausgegrenzt. Die Religion, die das kulturelle Leben im prämodernen Zeitalter dominierte, räumt der Ethik nicht die Sonderstellung ein, die sie in der modernen Gesellschaft hat. Von Gott geleitet zu werden, kann kaum als autonome, rationale Wahl einer moralischen Handlungsweise angesehen werden. Zwar mag man noch den Hauch einer Wahl zwischen Gott und Satan haben, jedoch ist diese Entscheidung religiös und nicht in erster Linie moralisch, da sie sich auf die Unsterblichkeit der Seele auswirkt. Søren Kierkegaard positioniert die Ethik an ihrem angemessenen Ort innerhalb der Theologie, direkt unter dem religiösen, spirituellen Bereich als Anreiz für Individuen. Obwohl hier das Spirituelle getrennt und oberhalb des Ethischen angesiedelt ist, gab es einige religiöse Denker, die den Bezug des Spirituellen zum Ethischen und zu den Medien thematisierten. So betont Kierkegaard selbst in The Present Age (Kierkegaard 1978) die Herausforderung, die Medien an die Ethik und das spirituelle Leben im Allgemeinen stellen. Er sieht die Presse als eine Gefahr für die Menschlichkeit an, weil sie in die Anonymität führt. Für ihn sind die „Kräfte der Unpersönlichkeit“ der Presse nichts weniger als ein „furchtbares Unglück“. Die Printmedien berauben den Leser seiner Verantwortung und untergraben die moralischen Dimensionen der Verpflichtungen, die charakteristisch für persönliche Beziehungen sind. Die Presse schafft ein öffentliches Geisterreich, in dem alles auf „denselben Level reduziert wird“ (Dreyfus 1999, S. 16). Kierkegaard beschränkt seine Kritik der Printmedien auf den Bereich des Ethischen. Seine Kritik an der Virtualität des Drucks – die er als dessen Phantom-Eigenschaft bezeichnet – würde

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ihm mehr Schwierigkeiten bereiten, wenn er sie auf der spirituellen Ebene angesiedelt hätte. Denn genau dort kann Gott selbst als ein virtuelles Wesen angesehen werden. Es ist wahr, dass religiöse Denker des 20. Jahrhunderts wie Martin Buber und Gabriel Marcel ethische Dimensionen in die Theologie eingeführt haben. Vielleicht kann diese Tendenz am besten anhand von Emmanuel Levinas illustriert werden, für den die ethische Beziehung zum Anderen zutiefst religiös oder zumindest spirituell ist. Seine Vorstellung des Anderen dient dazu, das Selbst zu dezentralisieren. Damit greift er in einer Kritik der Bewusstseinsphilosophie und des Individualismus im Allgemeinen bekannte poststrukturalistische Themen auf. Für Levinas ist der Andere die moralische Grundlage des Selbst, die alle Formen des kartesischen Egoismus zerstört. Für unsere Überlegungen ist es besonders interessant festzustellen, dass Levinas den Anderen als ein „Gesicht“ darstellt. Obwohl bei ihm „das Gesicht“ sicherlich metaphorisch zu verstehen ist, erinnert uns die grundlegende Bedeutung dieses Begriffs für die Ethik an deren territoriale Voraussetzungen. Diese Auffassung hielt sogar noch bis 1963 an, als Die Zeit und der Andere erschien (Levinas 2003). An diesem Punkt könnte man noch immer davon ausgehen, dass der Bereich der Face-to-face-Kommunikation den Horizont der gesamten menschlichen Kommunikation darstellt; man könnte die technische Vermittlung ebenso vergessen wie die Gesichtslosigkeit solcher Beziehungen, die auf der Teilbarkeit und Vielfältigkeit des Selbst beruhen, das in moralische Interaktion verwickelt ist.9 Die Suche der Philosophen nach dem summum bonum in all seinen Variationen und Erfindungen ist aber nur eine mögliche Perspektive, aus der heraus man sich mit Ethik beschäftigen kann. Die einfache Beobachtung, dass Individuen in ihrem täglichen Leben ständig Urteile über gut und böse fällen, ist eine weitere Perspektive. Menschen bewerten. Diese unbestreitbare Tatsache des sozialen Lebens ist Nietzsches Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Ethik. Er entwickelt eine Genealogie der Moral, indem er die Historizität von Bewertungssystemen aufzeigt (Nietzsche 1999a). Er skizziert die heidnische Ethik von Gut und Böse als eine Moral des Adels, und stellt sie in Kontrast zur jüdisch-christlichen als einer versklavten Moral von Gut und Böse. Nietzsches Genealogie definiert Moral als ein historisches Konstrukt. Genau genommen belegt er die Geschichte mit Hilfe eines transzendentalen Kriteriums der Lebensbejahung, mit dessen Hilfe jedes Moralsystem in Beziehung zu seiner Möglichkeit gesetzt wird, grosse Gesundheit10 zu erzeugen. Er vollendet seine Erzählung der Geschichte der Moral mit der Beschreibung eines zukünftigen, utopischen Systems der Umwertung aller Werte, mit einer hegelschen Synthese früherer Systeme, welche die Spontaneität von Entscheidungen in der Herrschermoral mit der Tiefe von Entscheidungen in der Sklavenmoral kombiniert. Die neue moralische Führung erhält so eine ästhetische Dimension der Kreativität des freien Geistes, des Übermenschen.

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Raphael Sassower untersucht Levinas Ethik in Verbindung mit Technologie und Wissenschaft. Siehe (Sassower 1997, S. 111-114). Anm. d. Übers.: Deutsch im Original.

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Am wichtigsten für meine Ausführung zur Ethik im Informationszeitalter ist Nietzsches Einbeziehung eines soziologischen Moments in das Verständnis moralischer Systeme. Der Standpunkt der Gruppe ist entscheidend für die Moral, die sie erschaffen wird. Der Adel steht über anderen Menschen und bewertet aus einer überlegenen Position. Was auch immer der Adel bevorzugt, ist gut, denn es gibt niemanden, der ihn vom Gegenteil überzeugen könnte. Im Gegensatz dazu steht der Sklave, der sich in einer untergeordneten Position befindet. Er muss Werte entwickeln, die an erster Stelle die der Herrscher widerlegen. Um sich selbst als gut zu sehen, müssen Sklaven das Urteil der Herrscher verneinen. Also erschafft der Priester der Sklaven eine andere Welt, einen Himmel, in dem es eine moralische Autorität gibt, die den weltlichen Herrschern überlegen ist. Und diese göttliche Autorität sieht die Sklaven, also diejenigen, die sich ihr unterwerfen, als gut an. Die Vermittlung der höheren Welt verlangt vom Sklaven, alle weltlichen Urteile zu verleugnen, indem er sich selbst über die Welt erhebt. Die Moral aus Fleisch und Blut, die Moral des Bodens, kontrolliert durch den Peitschenschlag des weltlichen Herrschers, wird verworfen. Nietzsches Genealogie der Moral verbleibt im Kreislauf des soziokulturellen Rangs, dem territorialen Raum. Denn selbst Nietzsche, in den 1870er und 1880er Jahren tätig, beachtete die Bedeutung der Medien und Informationstechnologien für die Ethik noch nicht, obwohl er mit der Schreibmaschine sehr vertraut war (Kittler 1995).11 Ich werde nun den Bereich, den Nietzsche ausgelassen hat, aufgreifen und versuchen, einige Richtungen der Genealogie der Moral in einem Zeitalter aufzuzeigen, das nicht nur von Menschen, sondern auch von Informationstechnologien bevölkert ist. Ich werde meine besondere Aufmerksamkeit auf das Internet richten, da der Begriff „Informationszeitalter“ neue Bedeutung erlangt hat, seit Menschen in Massen das Netz bevölkern.

3. Schreckliche Maschinen Das Eindringen von Informationstechnologien ins tägliche Leben schafft beachtliche Bedenken gegenüber der Ethik.12 Im Internet bzw. Usenet findet man viele Diskussionsgruppen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, und es ist ein allgegenwärtiges Thema in Chaträumen innerhalb des Cyberspace. Bis das Web 1993 entwickelt wurde, bestimmten die Kultur der Informatiker und die Wertvorstellungen der akademischen Gemeinschaft den moralischen Ton der Kommunikation im Internet. Der Austausch im 11

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Ich stelle hier Kant und Nietzsche im Bereich der Ethik gegenüber. Eine andere Sichtweise findet man bei Smith (1998). Er argumentiert in Rekurs auf Deleuze für die Kontinuität zwischen Kant und Nietzsche, bei der sich Stufenweise eine „immanente“ ethische Position entwickelt, anstatt für einen Gegensatz. Meine Argumentationslinie über das Verhältnis von Ethik und Information lässt sich weiterführen, indem man die ethischen Qualitäten der Kommunikation zwischen Maschinen ebenso bedenkt, wie die ethischen Qualitäten der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine. Näheres zu diesem Problem siehe das Textbuch von Johnson (1994).

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Netz war charakterisiert durch eine vage Ethik des Teilens von Informationen. Tatsächlich ist die Architektur der Computernetzwerke für solche schnellen, dezentralisierten Informationsflüsse geschaffen. Eine der Grundfunktionen des Netzes, das File Transfer Protocol, dient ausschließlich diesem Zweck. Das Design des Netzes maximiert die Offenheit zwischen den Nutzern, als ob die Teilnehmer in einer harmonischen Gemeinschaft leben würden, in der niemand die Haustüren verschließen, sein Eigentum durch Zäune abgrenzen oder Sperren aufstellen müsste, um Eindringlinge fern zu halten. Höflichkeit war zwischen 1969 und 1993 Voraussetzung und auch weitgehend vorherrschend im Netz. Die Nutzer waren größtenteils davon überzeugt, dass hier utopische Kommunikationsregeln gelten, die den moralischen Ton von sozialen Beziehungen im realen Leben ebenso übertreffen wie den Umgang miteinander in anderen Medien. Howard Rheingolds Analyse von The Well, einem Bulletin Board oder elektronischem Café, das sich in der Bay-Area13 befindet, zeigt den allgemeinen guten Willen und die gegenseitige Hilfsbereitschaft dieser Zeit (Rheingold 1994). Aber auch in jenen glücklichen Zeiten des Netzes kamen Probleme auf. Es entstanden Konfliktformen, die nur durch das technologische Design des Netzes möglich waren und die kaum Parallelen zum realen Leben aufwiesen. Besonders Spaming, also das Senden von unerwünschten Nachrichten, und Flaming, das Beschimpfen eines Adressaten, häufig verbunden mit Gewaltausdrücken, brachte die Nutzer aus der Ruhe (Spinello 1999). Das unkomplizierte Senden von Nachrichten an viele Adressaten ermöglichte Spaming. Flaming wurde durch die Distanz zwischen Sender und Empfänger und durch das Bildschirminterface unterstützt (Dery 1993). Die Nutzer glaubten jedoch, dass sich dieses Haar in der Suppe der offenen Kommunikation durch das Netz selbst regulieren würde. Um eine Bezeichnung für die richtige Kommunikation einzuführen wurde der Begriff „Netiquette“ geprägt. Solche Vorschriften für zivile Formen der Kommunikation verbreiteten sich schnell unter den Nutzern. Neue User wurden in den Sittenkodex des Netzes durch ältere eingeführt. Die Entwicklung des ersten Web-Browsers 1993 machte den Zugang zum Netz leichter und attraktiver, da durch ihn Grafiken und Sound in die Internetsoftware integriert werden konnten. Die Nutzerzahlen wuchsen schnell von 20 auf 200 Millionen bis zum Ende des Jahrzehnts an und überwältigten damit die Netzkultur der Anfangszeit. Durch die neuen Bedingungen der Massennutzung wurde es unmöglich, weiterhin alle Neulinge in die Netiquette einzuführen. Die ethischen Probleme des Netzes zogen das Interesse anderer Medien wie Zeitung, Radio, Film und Fernsehen auf sich, wobei eine intermediale Rivalität nicht übersehen werden darf. Diese Verbreitungsmedien, die eine Nachricht von wenigen an viele wieterleiten, machten den Großteil der Gesellschaft mit der Welt des Internet vertraut, also auch diejenigen, die das Netz noch nie vorher benutzt hatten. Die Diskussion über die Ethik des Netzes brach aus den Grenzen des Netzes aus und wurde zur Nachricht für jeden. Wenn Spaming und Flaming also den moralischen Ton der Konversationen im Netz beschmutzen, dann bedienen sich Zeitungen und Fernsehen wohl noch niedrigerer 13

Anm. d. Übers.: Bay-Area bezeichnet die Region um die Bucht, in der sich San Fransisco befindet.

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Kommunikationsregeln. Hier unterstützen kapitalistische Profitmotive plumpe, sensationslustige Strategien der Informationsübertragung. Der Verkauf von Zeitungen oder Kinokarten und das Anziehen von Zuschauern und Zuhörern senkt die Diskussion auf einen bedauerlichen Level. Wenn das Thema der Netzethik in den Verbreitungsmedien dargestellt wird, wird das Medium so verallgemeinert, dass die Botschaft, in diesem Fall die Ethik, nur sehr schwer wahrgenommen werden kann. In Zeitungs- und Fernsehberichten über Netzethik ist es unmöglich, Gewinnambitionen von Bewertungsmotiven des Verhaltens im Cyberspace zu trennen. Die Ethik der Verbreitungsmedien treibt damit eine Diskussion über Ethik ins Absurde. Unter Berücksichtigung dieser Probleme werde ich die Berichterstattung in der Presse über Ethik im Internet untersuchen und mich auf die Probleme von Inhalt, Zensur und Anonymität konzentrieren. Bei dieser Diskussion ist es wichtig, immer die Frage nach der Beziehung zwischen dem Öffentlichen und dem Privatem im Kopf zu behalten. Was scheinbar oft ethische Bedenken gegenüber dem Internet hervorruft, basiert häufig auf der Leichtigkeit des Zugangs, der globalen Verfügbarkeit des dort veröffentlichten Materials und den Möglichkeiten, die das Design des Mediums eröffnet. Was viele empört, ist mit anderen Worten nicht, dass eine bestimmte Handlung oder eine bestimmte Aussage gemacht wird, sondern dass sie dort steht, so unverfroren vor den Augen des Betrachters, schamlos verfügbar, so öffentlich. Mitte der achtziger Jahre problematisierte Joshua Meyrowitz die Möglichkeit der Medien, die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem zu verwischen, besonders im Falle des Fernsehens (Meyrowitz 1985). Die Ermordung von Oswald durch Jack Ruby wurde genauso übertragen wie Nachrichtenfilme von der Front im Vietnamkrieg oder die Live-Übertragungen des Golfkrieges und des Prozesses von O. J. Simpson. Diese Fälle sind ebenso wie viele andere ganz offensichtliche Beispiele für die Macht der Medien. Sie können das Publikum verändern, indem sie Dinge ins Wohnzimmer projizieren, die früher nur in der Öffentlichkeit stattfanden. Lynn Spigel zeigte Anfang der neunziger Jahre anhand eines ähnlichen Falls den Einfluss des Fernsehens auf die Trennung von Öffentlichem und Privatem unter Beachtung des Geschlechts auf. Sie argumentiert, dass Verbreitungsmedien die Möglichkeiten einer modernen Kultur untergraben, einen privaten Bereich von der Öffentlichkeit abzutrennen. Ihrer Meinung nach verschwindet mit diesem Verlust eines privaten Raumes auch das ethische Individuum. In einer mediatisierten Kultur verlieren Individuen ihre Distanz zur öffentlichen Sphäre; sie verlieren ihr Gefühl für die Trennung von Objekten und Ereignissen außerhalb ihrer selbst und sie verlieren ihre kulturelle Distanz, die essenziell ist für autonome, moralische Urteile. Das Internet führt diesen Trend weiter und verstärkt ihn sogar deutlich, da seine Inhalte immer und überall verfügbar sind und nicht durch die Ort- und Zeitkontrollen der Sender bestimmt werden. Weiterhin ist das Internet interaktiv und fördert damit eine stärkere Beteiligung des Empfängers der Nachricht am kulturellen Ereignis. Als Beispiel kann man eine Operation zur Geschlechtsumwandlung anführen, die für jeden sichtbar vor einer Webcam durchgeführt wurde. Die Los Angeles Times berichtete über das Ereignis als ein ethisches Problem. In der Schlagzeile stand „Sex-change Web-

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cast Stirs E-thics Debate“14 und unterstrich damit sowohl den ethischen als auch den medialen Aspekt des Ereignisses. Der Arzt, der die Operation durchführte, musste sich für seine Handlung moralisch rechtfertigen – nicht weil er eine Geschlechtsumwandlung vorgenommen, sondern weil er diese via Internet übertragen hatte. Transsexualität mag für viele Menschen ablehnungswürdig sein, aber solange das Ereignis abgeschieden hinter den Türen eines Operationssaals stattfindet, scheint es keine moralischen Emotionen zu wecken. Der Zeitungsbericht thematisiert die ethische Dimension der Operation einzig hinsichtlich ihrer Medienexistenz und medialer Verfügbarkeit. Der entscheidende Punkt ist hier, dass Handlungen, die in bestimmten Zusammenhängen als akzeptabel angesehen werden, durch ihre mediale Präsenz zu moralischen Themen werden. Die Medien, in diesem Fall das Internet, verändern die moralische Umgebung. Dies geschieht durch das Nebeneinanderstellen von Handlungen, Bildern, Sounds und Texten unterschiedlicher Subkulturen. Die Medien bringen Dinge zusammen, die im realen Leben getrennt gehalten werden. Kurz gesagt verwandeln sie die kulturelle Basis der Ethik, indem sie Grenzen auslöschen, die in Zeit und Raum innerhalb lokaler Gemeinschaften existieren. Das Internet verlangt von uns, dass wir Dinge, die wir lieber verleugnen würden, als moralisch akzeptabel anerkennen. Damit bietet das Internet seinen Nutzern ein größeres Spektrum an Menschlichkeit als zuvor. Es zeigt sich, dass unsere komfortable Trennung von Öffentlich und Privat es uns ermöglicht, Erfahrungen zu tolerieren, die wir eigentlich als schlecht oder sogar böse ansehen.

4. Anonymität Schon in den frühen Tagen des Internet-Messaging – in den achtziger Jahren – trat die ethische Problematik der Computer Mediated Communication (CMC) auf. Das Computer-Interface lässt alle Spuren des menschlichen Körpers wie die Stimme, seine Erscheinung und Gesten verschwinden. Der Empfänger der Nachricht nimmt nur das wahr, was auf dem Bildschirm geschrieben wurde, und das kommt häufig von einem User mit fiktivem Namen. Viele User gehen jedoch davon aus, dass die Identität, mit der sie kommunizieren, einem „realen“ Individuum gehört und dass dessen in einer Email geschriebenen Aussagen den gleichen Wert haben wie gesprochene Worte in persönlichen Beziehungen. Folglich waren die Mitglieder einer seit Anfang der Achtziger bestehenden elektronischen Gemeinschaft bestürzt, als sie feststellen mussten, dass ihre langjährige Freundin mit der Online-Identität „Joan“, sich als männlicher Psychologe mit dem wirklichen Namen „Alex“ entpuppte. Viele Teilnehmer waren verärgert über den Vorfall, den sie als einen moralischen Verstoß ansahen: Eine Person täuschte andere vorsätzlich über ihr Geschlecht (van Gelder 1996). Sein Geschlecht zu tauschen und jahrelang Gespräche zu führen als wäre das „falsche“ Geschlecht das richtige, war

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Anm. d. Übers.: „Im Internet übertragene Geschlechtsumwandlung schürt E-thik-Debatte“.

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für diese Nutzer des Internet-Messaging Identitätsmissbrauch und damit ein moralisches Verbrechen. Das Internet ist nicht das einzige Medium, in dem solche Täuschungen vorkommen. Man kann sein Geschlecht auch in Briefen ändern, sich verkleiden und im täglichen Leben als Transvestit das Geschlecht wechseln, wie es der Film Boys Don’t Cry (Kimberly Peirce 1999) zeigt. Bücher können unter einem Pseudonym veröffentlicht werden, Reisepass und Ausweis kann man vergessen oder ändern lassen. Schon bevor elektronische Medien und Printmedien persönliche Beziehungen schwieriger machten, konnte die Identität ungewiss sein. Der Film Die Wiederkehr des Martin Guerre (Daniel Vigne 1982) zeigt das Identitätswirrwarr in einer vorindustriellen Dorfgemeinschaft. Man kann sich der Identität seines Gesprächspartners nie völlig sicher sein. Obwohl durchaus nicht beispiellos, ist das ethische Problem der Identität bei der Onlinekommunikation neu in seinem bisher nie da gewesenen Ausmaß. Das Interface des Computers, verbunden mit der Leichtigkeit mit der man via Internet kommunizieren kann, macht die Identität in jedem Fall ungewiss. Nachrichten, die durch das Netz geschickt werden, sind immer fragwürdig. Was ist also der ethische Wert dieser ernüchternden Feststellung? Ein Aspekt der Frage nach der Online-Identität ist die Beziehung von Verantwortung und Anonymität. Einige Beobachter argumentieren, dass die leicht verfügbare Anonymität im Netz Verantwortungslosigkeit mit sich bringt. Die vorherrschende Meinung ist: Im Netz können User sagen oder machen, was sie wollen, ohne die Konsequenzen dafür tragen zu müssen. Wenn ich jemanden beim chatten beleidige, kann ich den „Raum“ verlassen oder über einen anderen Zugang wieder zurückkommen. In einer der breiten Öffentlichkeit bekannt gewordenen Cyber-Vergewaltigung hat ein Mitglied einer Online-Community auf dem Bildschirm unvorstellbare Akte an anderen Mitgliedern des elektronischen Raums vorgenommen. Die betroffenen Beteiligten, also die Personen hinter den Online-Identitäten, waren durch diese Handlungen tief getroffen und verlangten vom Operator des Systems den Täter zu bestrafen, der, soweit man wusste, im realen Leben noch nie derartiges getan hatte (Dibbell 1993). Von diesem Fall ausgehend könnte man annehmen, dass die Anonymität im Netz zu ethisch fragwürdigem Verhalten führt. Um dies zu entscheiden, müsste man meiner Meinung nach die moralische Qualität von Unterhaltungen im Netz mit solchen in nahen Beziehungen vergleichen. Vermutlich müsste solch eine Studie eine sehr große Zahl von Dialogen beinhalten. Für den Wissenschaftler würden weitere Schwierigkeiten auftauchen, wie die anschließende Verfügbarkeit der Online-Dialoge in Archiven, um sie untersuchen zu können, oder im Gegensatz dazu die Notwendigkeit der persönlichen Anwesenheit des Beobachters oder die Präsenz eines Aufnahmegeräts bei persönlichen Gesprächen. In beiden Fällen steht der Beobachter in einem anderen Verhältnis zum Gespräch, ein Unterschied den einige Sozialwissenschaftler als problematisch empfinden könnten. Wenn die Rolle der Anonymität für die ethische Qualität von persönlichen und Online-Gesprächen so unbestimmbar ist, werden die Bedenken, die durch Netzdialoge hervorgerufen werden, deutlich. Diejenigen, die sich um die Ethik anonymer Unterhaltungen Sorgen machen, gehen von zwei fragwürdigen Annahmen aus. Sie setzen erstens

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die moralische Überlegenheit von persönlichen Konversationen voraus und sie implizieren zweitens, dass Online-Dialoge mit denselben Kriterien bewertet werden können wie persönliche Beziehungen. Beide Prämissen bringen Schwierigkeiten mit sich. Die erste Annahme führt zu einem Widerspruch: Wenn Menschen zum Teil moralisch handeln, nur weil sie in ganz bestimmten körperlichen Beziehungen zueinander stehen, dann kann die Handlung, solange ihr ethischer Wert von den räumlichen Gegebenheiten abhängt, nicht moralisch sein. Wenn Moral eine Wahl voraussetzt, dann sind räumliche Qualitäten der Handlungen nicht moralisch. Sie sind viel mehr Verhältnisse, innerhalb derer Handlungen überhaupt moralisch sein können oder aber nicht. Es mag zwar sein, dass die Entscheidung ein Face-to-face-Gespräch einem Online-Gespräch vorzuziehen, eine moralische ist, sobald man aber diese Nähe hergestellt hat, ist sie nicht länger eine Entscheidung über, sondern eine Bedingung für die Unterhaltung. Die zweite Prämisse, Reales und Virtuelles seien gleichwertig, provoziert die Frage nach ihrem möglichen Unterschied. Ein gutes Argument ist, dass sich nahe Beziehungen und virtuelle Beziehungen unterschiedlicher ethischer Entscheidungen und sogar anderer Kriterien bedienen. Kants Kategorischer Imperativ mag zwar in einer (klein-) bürgerlichen Gesellschaft, in der Individuen eine Vielzahl von Wahlmöglichkeiten (Arbeit, Heirat, politische Zugehörigkeit, usw.) und eine beachtliche soziale Distanz zu autoritären Instanzen haben, anwendbar und angemessen sein. Aber Kants moralisches Individuum befindet sich in der Realität: er oder sie trifft auf andere in persönlichen Beziehungen. Der Andere ist dem Individuum bekannt und wird in der Nähe wahrgenommen. Sobald man sich von dieser Konfiguration ethischer Entscheidungen entfernt und sich zum Beispiel einem nichteuropäischen Anderen annähert, funktioniert Kants Ethik immer weniger und scheint schwerer anwendbar. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!“ (Kant 1999) ist schwer anzuwenden, wenn man nichts über das universelle Subjekt weiß und wenn man dazu neigt, den Anderen als jemanden anzusehen, der einem selbst gleicht (hier kommt der Eurozentrismus zum Vorschein). Kants Prinzipien bestimmen das Reale solange, wie Entscheidungen kontinuierlich von nahen Anderen verhandelt werden. Im virtuellen Raum ist der Andere eine Anordnung von Pixeln auf dem Bildschirm. Eine gewisse Nähe zum Anderen kann emotional oder ästhetisch möglich sein – man kann sich in seinen Gesprächspartner verlieben –, aber die Beziehung beinhaltet keine körperliche Präsenz. Im Cyberspace kann man den Anderen leicht und mit wenigen Konsequenzen verlassen. Man schaltet einfach den Rechner ab, antwortet nicht auf Emails, ändert seinen Decknamen, wechselt zu einem anderen Internet Provider oder zu einem anderen Account und die moralische Beziehung ist beendet. Die Leichtigkeit des Verschwindens erfordert eine andere Art von moralischer Verpflichtung: Das Virtuelle appelliert an die moralische Pflicht, die eigene Identität zu behalten. Die Beibehaltung der Identität im Virtuellen ist eine moralische Voraussetzung, die im wirklichen Leben keinen Sinn macht. Im wirklichen Leben zieht schon ein Hinweis auf multiple Persönlichkeit eine psychologische Diagnose und rechtliche Schritte nach sich. Alles arbeitet im Realen darauf hin, die kollektive Phantasie eines ausgeglichenen Selbst aufrecht zu

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erhalten. Nur in dieser Form des Selbst kommt Kants Imperativ ins Spiel. Das Virtuelle verändert die Beziehung des Selbst zu sich selbst. Im Cyberspace entsteht somit eine Praxis der ständigen Selbstdefinition. Ethik verblasst zur Ontologie. Der Andere ist nicht verschwunden und die Praxis der Selbstbestimmung ist nicht eine solche liberaler Vorschriften über autonome Möglichkeiten. Im Virtuellen ist der Andere ebenso fordernd wie im Realen, nur ohne physische Körperlichkeit. Das Selbst konstituiert sich sowohl im Virtuellen als auch im Realen durch den Sprachgebrauch. Die Mechanismen von Unterbrechung und Missverstehen funktionieren im Virtuellen ebenso sicher wie im Realen. Falls jemand auf ethischen Begriffen beharrt, könnte man sagen, dass virtuelle Ethik eine andere, vielleicht tiefere Art der Verpflichtung zur Folge hat. Der moralische Imperativ könnte lauten: „Handle so, dass du die Identitäten, die du in Beziehungen zu Anderen aufgebaut hast, weiterhin beibehalten wirst!“

5. Überlastung und Zensur Die politische Ökonomie der Information besitzt eine moralische Dimension, die mit der zunehmenden Verbreitung des Wissens um das Internet dramatisch an Bedeutung gewonnen hat. Die Menschen haben etwas gegen den Mangel an Informationen, den Mangel an Zugängen zu diesen, den Ausschluss von Informationsquellen und die ungleiche Distribution von Informationen. Die Annahme, die in dieser Haltung zum Vorschein kommt, ist, dass Informationen direkt mit Möglichkeiten im Leben korrelieren. Je mehr Informationen man hat, desto besser kann man leben. Überraschenderweise wird diese Position sowohl im dominierenden Diskurs als auch von dessen linken Kritikern vertreten. Im Bereich der Unternehmensideologien wurde die Ansicht, dass Zugang zur Information der Schlüssel zum Erfolg ist, vollständig übernommen: Je mehr Informationen man zur Verfügung hat, umso wahrscheinlicher ist es, dass man höhere Gewinne erreicht. Da das summum bonum der Kapitalisten die Bilanz ist, ist Information auf eine perverse Art moralisch gut. Und das gleiche gilt für Kritiker des Kapitalismus: für sie ist die Hightechwelt des Internet und die Welt der drahtlosen Telekommunikation unmoralisch in ihrem Ausschluss von Armen, Farbigen und Frauen. Diese Anklage wird ziemlich vehement gegen das Internet erhoben, obwohl die gleiche Kritik bereits am Fernsehen geübt wurde und das trotz seiner fast weltweiten Verbreitung. Abgesehen von dieser Diskrepanz ist der freie Zugang zur Information im Internet sicher ein moralisches Gut und eine politische Notwendigkeit. Im Gegensatz dazu beklagen andere die Informationsflut, jammern über die Überlastung durch Information und beschweren sich, dass sie mit Informationen überschwemmt werden. Der Diskurs der Datenflut, wie wir ihn nennen können, setzt jedoch ein fragwürdiges psycho-physiologisches Modell voraus: Menschen besitzen demzufolge nur begrenzte Möglichkeiten zur Informationsaufnahme, und das Internet beansprucht zu viel Gedächtniskapazität. Jeder, der schon einmal einen Fuß in die Library of Congress gesetzt hat, musste erkennen, dass unser Wissensschatz schon seit langem die

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menschliche Fähigkeit, diesen zu überschauen, übertroffen hat. Vielleicht stört die Leichtigkeit des Zugangs zu den riesigen Mengen kultureller Objekte, wie sie das Internet bietet, die Vertreter dieses moralischen Standpunkts. Sogar scharfsinnige Kulturkritiker erliegen der einen oder anderen Hypothese. Jean Baudrillard betrauert zum Beispiel „the implosion of meaning in the media“. Er warnt: „We live in a world where there is more and more information, and less and less meaning“ (Baudrillard 1994, S. 79). Baudrillard vertritt die interessante These, dass wir nicht in Information ertrinken, sondern dass zwischen der Quantität der verfügbaren Informationen und der Qualität ihrer Bedeutung im sozialen Leben eine inverse Beziehung besteht. Der Begriff „Information“ bezeichnet für ihn elektronische Massenmedien (kurz gesagt das Fernsehen). In diesem Medium nimmt eine Information die Form der Simulation an, wird zu einem Zeichen, das vom sozialen Austausch abgeschnitten ist. Nach Baudrillard bildet Information den Gegensatz zum Realen und wird dieses vielleicht eines Tages ersetzen. Bedeutung gibt es nur auf der moralischen Ebene des sozialen Lebens, und sie kann bei der Vermittlung durch elektronische Schaltsysteme nicht erhalten bleiben. Folglich erhalten wir umso weniger Bedeutung je mehr wir durch elektronische Medien kommunizieren oder je mehr Signale wir empfangen – also umso mehr Information wir haben. Baudrillards erschreckendes Urteil über Information erschien 1981, bevor das Internet auf die Bildfläche trat. Seine Schriften, die seit Mitte der 1990er entstanden, weiten einfach die Analyse der Fernsehinformationen auf das neue Medium aus (Baudrillard 1996). Wenn die noch nie da gewesene Masse kultureller Objekte, die im Cyberspace verfügbar sind, ethische Diskussionen hervorgebracht hat, dann haben das auch die Arten der Objekte. Moralfragen im Informationszeitalter konzentrieren sich auf das, was man im Internet sehen, lesen und hören kann. Die Zensur dessen, was man im Internet sagen und welches Material im Internet zugänglich gemacht werden darf, ebenso wie die bloße Menge des verfügbaren Materials haben Debatten über die moralische Qualität des neuen Mediums hervorgerufen. Außer Frage steht, dass eines der lukrativsten Internetgeschäfte die Bereitstellung erotischen Materials ist. Wenn der Vermarktungserfolg der Videorekorder auf der Nachfrage nach pornographischen Leihvideos beruht, so wurde die Verbreitung des Internet bei vielen durch den Zugang zu Erotika vorangetrieben. Die Frage nach freier Meinungsäußerung steht auch zur Debatte. Widerwärtige Neonazi-Homepages beleidigen jeden, der nur das geringste Empfinden dafür hat, dass Rassismus kindisch und gefährlich ist. Auch weniger kontroverse Webseiten lösen moralische Fragen aus. Parodierende Seiten vermehren sich stark im Web und zeigen häufig falsche Informationen, trügerische Bilder und irreführende Persiflagen auf Texte, Bilder und Töne. Seit diese Seiten leicht zu erstellen sind und ihre Unterhaltung billig ist, können im Netz Spinner aller Art ihren seltsamen Gefühlen in manchmal zerstörerischer Form Ausdruck verleihen. Durch diese neue Leichtigkeit, mit der beunruhigendes Material weltweit zugänglich gemacht werden kann, wird vielleicht eine neue Stufe moralischer Beschränkung erforderlich.

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6. Diskurs über moralische Maschinen Gelehrte haben begonnen, die Frage nach der Ethik im Informationszeitalter zu diskutieren. So erschien 1999 erstmals eine Zeitschrift mit dem Titel Ethics and Information Technology. Eine Bibliographie zu diesem Thema ist sowohl gedruckt als auch online verfügbar (Tavani 1996). Das erste jährliche Treffen der Vereinigung von Internetforschern im Jahre 2000 richtete seine Aufmerksamkeit gezielt auf die Frage nach der Ethik. Die grundlegende Frage, die dabei von den Forschern hinsichtlich einer Internetethik verfolgt wurde, ist nicht „Was ist das Gute?“ oder „Was sind die Grundlagen der Ethik?“, sondern vielmehr ein ursprünglicheres Bedenken: „Wie kann die Identität im Cyberspace in Übereinstimmung mit der Identität im wirklichen Leben gebracht werden?“ Die Frage nach der Natur des Guten ist zur Frage nach der Natur des moralischen Subjekts geworden. Computer Mediated Communication setzt zwischen das phänomenologische und das Online-Subjekt ein undurchdringliches Interface mit der Konsequenz, dass übliche ethische Themen außer Acht gelassen werden müssen und an ihre Stelle eine andere Frage tritt, nämlich die der Identität. In Kants Ethik und sogar in Nietzsches Genealogie der Moral ist, um genau zu sein, keine Frage nach dem moralischen Subjekt zu finden. Erforscher des Internet haben also keine Gewissheit. Sie müssen zuerst die Natur des kommunizierenden Subjekts und dessen Zusammenhang mit dem „realen“ Subjekt feststellen. Damit verschiebt sich die ethische Fragestellung zum Verhältnis von vermittelter und unvermittelter Identität. Viele Gelehrte setzen schlicht voraus, dass es gut ist, wenn die Identität des OnlineSubjekts mit der des phänomenologischen Subjekts übereinstimmt. In ihrer Studie über die Usenet-Identität besteht Judith Donath auf der „Einheitlichkeit“ des Subjekts im Realen und argumentiert, dass der Cyberspace die Frage der „Täuschung“ von Identität aufwirft, da der Körper zum Zeitpunkt der Formulierung nicht anwesend ist und technische Mittel für einen Identitätswandel reichlich vorhanden und sogar in die Kommunikationssituation eingebaut sind (Donath 1999). Das Internet macht somit neue moralische Bedenken möglich: die Täuschung der Identität. Donath bemerkt folglich die Einzigartigkeit der Kommunikation im Internet, möchte dieser aber das, was sie als den Standard oder die Norm der „realen Welt“ ansieht, auferlegen. Sie untersucht die Ethik nicht aus der Sicht der neuen Gesprächssituation, um der Frage nachzugehen, welche neuen Probleme sich daraufhin für die alten Annahmen ergeben. Für gewöhnlich treten Verwirrungen über die Identität bereits bei medial vermittelter Kommunikation mit weitaus weniger komplexen Interfaces auf als beim Internet. Eine Forschungsgruppe berichtete über eine medizinische Technologie, bei der Patienten Ratschläge von Computern erhielten. Dieses „intelligente interaktive Telefonsystem“ ist als Telephone-Linked Care15 bekannt. Was die Wissenschaftler am meisten erstaunte, waren dabei die überaus emotionalen Reaktionen der Patienten gegenüber dem Compu15

Telephone-Linked Care bezeichnet das Telefonsystem in Amerika, über das Patienten medizinische Hilfe erhalten können, sei es durch Krankenschwestern, Pharmazeuten oder auch Mitarbeiter von Krankenversicherungen.

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ter. Sie entwickelten „persönliche Bindungen“ zur Stimme am Telefon, obwohl sie wussten, dass sie durch eine Maschine erzeugt wurde. Dabei wurden von den Patienten zugleich starke moralische Urteile über die Maschine gefällt. Sie liebten und/oder hassten die Maschine (Kaplan/Farzanfar/Freeman 1999). In diesem Fall wurde die Identität der Maschine durch den Patienten verändert. Sie wurde „vermenschlicht“ und somit in die Sphäre des Moralischen gebracht. Die Studie über Telephone-Linked Care weist darauf hin, dass medial vermittelte Identitäten in keinem Fall stabil sind, dass „Identitätsbetrug“ kein adäquates, konzeptuelles Vehikel ist, um Ethik im Informationszeitalter zu verstehen.

7. Habermas’ „Diskursethik“ Eine Theorie der Ethik, die die entsprechende Beachtung der Frage des Informationszeitalters fordert, ist Habermas’ Vorstellung von einer „Diskursethik“. Habermas verortet Ethik in Kommunikationspraktiken, in welchen Individuen einen Konsens erreichen, indem sie Wertvorstellungen anderer Gruppenmitglieder anerkennen. Sucht man nach einer Basis für eine Ethik in der Kommunikation, so scheint es, dass Habermas einer Informationsethik sehr nahe kommt. Nach Habermas steht oder fällt Diskursethik mit zwei Annahmen: „daß (a) normative Geltungsansprüche einen kognitiven Sinn haben und wie Wahrheitsansprüche behandelt werden können, und daß (b) die Begründung von Normen und Geboten die Durchführung eines realen Diskurses verlangt und letztlich nicht monologisch, in der Form einer im Geiste hypothetisch durchgespielten Argumentation möglich ist.“ (Habermas 1991, S. 78) Die erste Bedingung einer Diskursethik – dass moralische Ansprüche den Ansprüchen auf Wahrheit gleichen – führt die Debatte zu Kant und der Notwendigkeit, Moral in der Vernunft zu begründen. Diese Forderung, mit der ich mich bereits weiter oben auseinandergesetzt habe, bezieht sich auf eine Situation der Autonomie, welche nicht länger relevant ist. Gleichwohl betrifft der Großteil der Bemühungen von Habermas die Klärung dieses Themas: die Begründung der Diskursethik in einem Wahrheitsanspruch, welcher auf Allgemeingültigkeit abzielt. Fehlt dieses Grundprinzip, fällt der Sprecher in performativen Widerspruch, so behauptet Habermas. Aber performativer Widerspruch bezieht sich auf das Individuum als Sprecher, isoliert damit einmal mehr die Position des Gesprochenen vom intersubjektiven Kontext und dem möglichen Vertrauen auf maschinelle Vermittlung. Er setzt ebenfalls ein Diskursfeld voraus, das Gegenstand rationaler Entscheidungen ist. Gegen Habermas lässt sich einwenden, dass in der medial vermittelten Kommunikation kein Individuum existieren kann, welches von einem maschinellen Interface getrennt ist. In der Gesprächssituation durch vernetzte Rechner schaut kein Individuum einem anderen in die Augen. Stattdessen tauschen Teil-Identitäten kulturelle Objekte in einem paradoxen Zustand aus, so als wären sie zumindest vorübergehend ganzheitliche Subjekte.

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Das zweite Kriterium setzt die Ethik in Beziehung zu Sprache und sozialer Interaktion. Hier kommen wir dem Problem näher. Habermas spezifiziert die Kommunikationssituation wieder ohne Bezug auf die Medien. Diskursethik findet für ihn in der „Lebenswelt“ statt. Er schreibt dazu: „Die symbolischen Strukturen jeder Lebenswelt reproduzieren sich nämlich in Formen der kulturellen Tradition, der sozialen Integration und der Sozialisation“ (ebd., S. 112). Diese Prozesse könnten ausführlicher behandelt werden, um die Medien mit einzubeziehen, aber Habermas wagt den Schritt in diese Richtung nicht. Ohne solch eine Ausführung kann die Frage nach der Ethik im Zeitalter der Informationstechnologien jedoch nicht gestellt werden. Sein viel versprechender Vorstoß in die Richtung einer ethischen Theorie, die mit Sprache verbunden ist, endet in einer Wiederholung der Face-to-face-Situation.

8. Jenseits von Gut und Böse Ich habe argumentiert, dass ein transzendentales moralisches Prinzip nicht möglich ist oder zumindest in der derzeitigen Konjunktur der mediatisierten Informations-gesellschaft seine genaueren Ausdifferenzierungen nicht adäquat die Bedingungen der Ethik begründen, nicht die Dynamik von Gut und Böse in den unterschiedlichen kulturellen Kontexten von Cyberspace, Rundfunk und Printmedien beleuchten. Stattdessen dränge ich auf eine nietzscheanische Perspektive, die das Gute und das Böse in der Kultur des Virtuellen erforscht. Die moralischen Positionen des Herren und des Sklaven, welche Nietzsche so treffend analysiert hat, setzen als Kommunikations-kontext die orale und die Buchkultur voraus. Moralische Unterscheidungen von gut/schlecht bzw. gut/böse stammen aus diesem kulturellen Kontext und lassen sich bestenfalls partiell auf die Informationsgesellschaft anwenden. Trotzdem sollte Nietzsches Kritik an diesen moralischen Haltungen in Verbindung zur heutigen Hightechwelt betrachtet werden. Nietzsche schlägt eine ,Umwertung aller Werte‘ unter Berücksichtigung der Verbesserung des ,Lebens‘ vor (Nietzsche 1999a). Während sein Projekt mehrere Schwierigkeiten beinhaltet, könnte seine Methode der kulturellen Transformation als Ausgangspunkt für ein Umdenken der Ethik im Informationszeitalter dienen. Nietzsche befürwortet paradoxerweise einen ästhetischen Prozess der Schöpfung von Moral. Sein „freier Geist“ oder „Übermensch“ stellt nichts anderes dar als einen Künstler, einen spirituellen Krieger, jemand, der mit seiner eigenen Begrenztheit ringt, um über sie hinaus zu wachsen, um an einen Ort zu gelangen, an dem neue Werte möglich sind. „Man muss noch Chaos in sich tragen, um einen tanzenden Stern gebären zu können“ fordert sein Zarathustra (Nietzsche 1999b, S. 19). Nietzsches moralische Elite – falls dies eine Elite ist – entdeckt ihre eigenen Werte, analysiert sie, lehnt sie ab, wertet sie ab, strebt mit Absicht nach dem Schmerz, verloren, unsicher und ohne Ziel zu sein. In einem herkulischen Kampf mit sich selbst, experimentiert der freie Geist damit „gefährlich zu leben“, riskiert seinen Glauben und positioniert sich absichtlich in einer Umgebung des Unbekannten und Fremden. Diese innere Schlacht ist Nietzsches Formel

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für kulturelle Innovation. Nur nach solch einem selbstreflektierenden Kampf ist das Individuum in der Lage, neue Werte und neue Wege der Bewertung zu finden, die weniger, so seine Annahme, selbstzerstörerisch sind als die adligen und demokratischen Moralmechanismen. Nachdem der freie Geist den rigorosen Prozess der Selbstverwandlung durchgemacht hat, ist er fähig, wunderbare Werte auszudrücken, die andere veranlassen werden ihrer Vortrefflichkeit beizupflichten. Nietzsches Moral-Elite zieht andere charismatisch und ohne Zwang in ihren Kreis und vergrößert damit das „Leben“ oder die Lebensbejahung von allen. Dieser neue Wille zur Macht der Moral benötigt für seine Anerkennung die Vorstellung einer Konstellation, die kaum, wenn überhaupt, jemals existierte. In solch einer Welt sind das Gute und das Schöne keine Gegensätze, das Gute, das Böse und das Hässliche konstituieren kein Oxymoron, die Elite und das Volk kämpfen nicht gegeneinander, und Macht und Unterordnung oder Akzeptanz werden nicht durch brutale Gewalt erreicht. Nietzsches Utopie jenseits von Gut und Böse mag unmöglich oder schwachsinnig oder nicht wünschenswert sein. Wie auch immer, ihr Reiz liegt in den Mechanismen der kulturellen Transformation, die sie entwirft. Gibt es eine Analogie zwischen dem Prozess der moralischen Transformation in Nietzsches Elite der Übermenschen und den Bedingungen des moralischen Urteilens im Zeitalter medial vermittelter Information? Ruft unser Abtauchen in Printmedien, Rundfunk und Internet so etwas wie Verfremdung, Orientierungslosigkeit und kritische Unsicherheit bei uns hervor, die Nietzsche als Basis für kulturelles Hinterfragen skizzierte, d. h. als den Versuch, „Chaos in die eigene Seele“ zu bringen? Nun ja, einen enormen Unterschied gibt es. Nietzsche sprach von einer kleinen Elite, der es möglich ist, Selbstentdeckung, Selbstkontrolle und Selbstablehnung zu erfahren. Die Medien hingegen sprechen die große Masse an und ziehen sie durch ein Netz des Austauschs mit entfernten Kulturen in ihren Bann. Und für die Zukunft ist sicher, dass immer mehr Menschen darin verwickelt werden, früher oder später sogar ein Großteil der Weltbevölkerung. Aber es gibt auch Parallelen. Vernetzte, digitale Informationsmedien überbrücken territoriale Grenzen kultureller Gruppen. Sie stellen Unterschiede in einem homogenen Medium nebeneinander. Sie bringen Individuen mit gleichen Interessen aber unterschiedlichen Nationalitäten und Traditionen zusammen. Sie schieben uns hin und her und mischen die grundlegenden Elemente kultureller Kohärenz. Sie formen neue Konglomerate, die in Verbindung mit zentralen Praktiken und Normen keinen Sinn machen. Sie stören den ruhigen Fluss natürlicher, legitimierter Mechanismen sich konstituierender Subjekte und vervollständigen diese wiederum mit Elementen und Teilen anderer Kulturen. Sie erfordern einen kontinuierlichen Wechsel zwischen Face-to-face-, Print-, Rundfunk- und Internet-Informationsflüssen. Sie unterbrechen den Narzissmus des Gewohnten, die Identifikationen mit dem Gleichen. In diesem Sinn nehmen sie eine Reorganisation des moralischen Subjekts vor und bringen Chaos in die Seelen derer, die online sind. Das Internet verordnet eine massive Deterritorialisierung kultureller Werte und verbindet so zugleich das Ethische und das Politische. Damit besteht eine Innovation des Internet in dem Ruf nach einer neuen Theorie des Politischen als einer kollektiven Bestimmung des Guten, und zwar in einem Kontext, in dem das Ethische, also die

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individuelle Bestimmung des Guten, etwas weniger Aufmerksamkeit erhält als in der Moderne oder in der Buchkultur. Die Unterbrechung der Ethik, so wie sie das Internet gewöhnlich proklamiert, wird durch die Deterritorialisierung des Informationsaustauschs ermöglicht. Dies geschieht sowohl im wörtlichen Sinn, als Reduzieren der Bedeutung des Raumes für die Kommunikation, als auch im übertragenen, deleuzianischen Sinn der Verwirrung durch bereits existierende Muster von Kultur. In der Konsequenz daraus, nimmt die Ethik eine politische Dimension an, die sie in gewissem Sinne vielleicht immer schon hatte. Die Bildung von ethischen Normen, zum Beispiel die der Netiquette im Cyberspace, vollzieht sich im Prozess der Entstehung neuer Kräfteverteilungen, und damit der Gestaltung der aufstrebenden Zone des Cyberspace. Ethik und Politik erscheinen in Computernetzwerken als wechselseitig verbunden. Während im Informationszeitalter moralische Probleme mit Themen wie Zensur und Überangebot verbunden sind, die existierende Normen und Einstellungen herausfordern, gehen die wichtigeren Fragen in die Richtung einer Möglichkeit der Umbewertung von Werten und zielen auf die politischen Aspekte bei der Entstehung von Subjekten im Bereich des Virtuellen. Die letztgenannten Fragen bieten Anlass für ein Überdenken des Ethischen in der Hinsicht, dass nicht länger ein Kreis des Transzendentalen und des Individuellen postuliert wird. Stattdessen könnte Ethik im virtuellen Raum vielfältige, miteinander in Beziehung stehende Denkmodelle hervorbringen, die gleichzeitig Themen von Macht, dem Guten und dem Schönen aufgreifen. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Marcus Burkhardt, Alexander Gröschner und Kathrin Rothemund.

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Stefan Münker

MEDIENPHILOSOPHIE DER VIRTUAL REALITY

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1. Der Begriff ,Virtual Reality‘ (VR), geprägt 1989 von Jaron Lanier2, ist der allgemeine Titel für die unterschiedlichsten Formen digital generierter künstlicher Welten. Das Spektrum reicht hier von den textbasierten Kommunikationsgemeinschaften der MUDs und MOOs des Internet über die multimedialen Simulationsenvironments aus den HighEnd-Computern ziviler und militärischer Forschung bis hin zu den Immersionsszenarien virtueller Welten, mit denen der literarische und filmische Sciencefiction uns konfrontiert. Nicht zu unrecht wird, wer den Begriff ,Virtual Reality‘ hört, zumeist als erstes an ihre avancierteste Vision aus dem Bereich der Fiktion denken: an jene künstlichen Welten, in die wir mittels technischer Apparaturen sowohl geistig als auch sinnlich vollständig eintauchen können, für die der Schriftsteller William Gibson bereits 1984 in seinem legendären Roman Neuromancer den Neologismus „Cyberspace“ gebildet hat – und für deren cineastische Inszenierung die filmemachenden Brüder Andy und Larry Wachowski in ihrer Matrix-Trilogie das aktuellste und m. E. momentan (auch philosophisch, ich komme darauf zurück) interessanteste Beispiel geliefert haben. In seiner ganzen Bandbreite stellt das Phänomen der Virtual Reality die derzeit letzte Stufe einer Kulturgeschichte künstlicher Weltentwürfe dar, die von den steinzeitlichen Höhlenmalereien von Altamira oder Lascaux bis zum klassischen Immersionsmedium der Moderne, dem Kino, nahezu alle Bereiche kulturellen Schaffens umfasst. Der Umgang mit dem Phänomen medial erzeugter und erlebter Erfahrungsräume – und d. h. auch, der Umgang mit Situationen, in denen wir unsere leibliche Anwesenheit medial überschreiten – ist mithin eine sehr alte Kulturtechnik. Die künstlichen Weltentwürfe von Literatur, Architektur, Malerei, Film etc. freilich unterscheiden sich von den digita1

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Dieser Text ist (über weite Strecken) die aktualisierte und erweiterte Version eines Vortrags, den ich im Februar 2001 auf der Fachtagung „Medienphilosophie“ des Bistums Mainz unter dem Titel Die Wirklichkeit aus der Perspektive ihrer digitalen Produzierbarkeit. Vorbereitende Skizzen zu einer philosophischen Ästhetik virtueller Welten halten durfte: Münker (2003b). Zumal am Anfang greife ich passagenweise auch zurück auf Münker (1997). Auf der SIGGRAGH-Konferenz im Jahr 1989 bringt Jaron Lanier den Begriff ,Virtual Reality‘ im Zuge seiner Präsentation eines Datenhandschuhs, des DataGloves, in Umlauf. Im selben Jahr stellt Lanier auch das von ihm entwickelte System Reality built for two vor, in dem zwei User erstmalig in einer computergenerierten künstlichen Umgebung gleichzeitig miteinander interagieren konnten.

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Stefan Münker

len Welten der Virtual Reality grundsätzlich dadurch, dass wir in den Datenraum nicht nur eintauchen, sondern mit seinen Daten ebenso interagieren können wie mit anderen Benutzern des gleichen Raumes. Erst diese Möglichkeit der Interaktion verweist gemeinsam mit dem multimedialen Simulationspotenzial der Computer auf die Vision einer voll entwickelten virtuellen Realität, die sich idealiter – zumindest in der subjektiven Wahrnehmung ihrer Benutzer – von der Realität diesseits der digitalen Rechenmaschinen nicht mehr unterscheiden lässt. Auch wenn die Entwicklung der Virtual Reality in ihren unterschiedlichsten Facetten konstitutiv auf die digitale Technik der Computer angewiesen ist, setzt ihre Geschichte bereits vor dem Beginn der Digitalisierung mit der Konstruktion des ersten Flugsimulators durch den amerikanischen Orgel- und Klavierbauer Link im Jahre 1929 ein. Die Weiterentwicklung der Flugsimulation mittels analoger Rechner, die – unter dem Projektnamen „Whirlwind“ – das Massachusetts Institute for Technology (MIT) im Auftrag der US Air Force ab 1944 betrieben hat, stellt den nächsten Schritt auf dem Weg zum digitalen Simulationssystem dar. Als Wegbereiter der Virtual Reality zählt der Flugsimulator immer noch zu ihren populärsten Anwendungen – auch wenn diese heutzutage längst in den unterschiedlichsten Forschungs- und Berufszweigen Verwendung finden: Architekten entwerfen ihre Häuser ebenso im virtuellen Raum wie Autodesigner die neue Karosserie oder der Radsportler den Streckenverlauf der nächsten Etappe, und Ärzte üben Operationen nicht nur im digitalen Environment, sondern führen sie auch am Bildschirm aus. Weder die moderne Physik noch die Raumfahrt, weder die Klimaforschung noch die Stadtplanung kommt ohne die Unterstützung durch virtuelle Computerszenarien noch aus (von der Community der Computerspieler ganz zu schweigen); Philosophen allerdings meistens schon.

2. Parallel zur Kulturgeschichte künstlicher Weltentwürfe verläuft die Geschichte ihrer philosophischen Modellierungen und Erörterungen – Platons Höhlengleichnis, Descartes Vision der geträumten Wirklichkeit oder Putnams Szenario der Gehirne im Tank sind nur einige der prominenteren Beispiele. In Fortschreibung dieser Tradition schlägt die philosophische Reflexion des Phänomens der Virtual Reality ein weiteres Kapitel auf: Auch wenn die philosophische Arbeit der Technik der digitalen Welterzeugung nicht bedarf, stellt die Erörterung begrifflicher Probleme, die sich durch die Entwicklung und Nutzung der Virtual Reality ergeben, eine irreversible Herausforderung dar – eine Herausforderung, die zugleich auf geradezu paradigmatische Weise das Aufgabenfeld der in Entstehung befindlichen Medienphilosophie beschreibt (Münker 2003a, S. 19). Gleichwohl bleibt eine systematische Theorie der Virtual Reality derzeit ein Desiderat; die Forschung ist hier über vereinzelte Ansätze nicht hinaus gelangt. Meine Skizze medienphilosophischer Aspekte der Virtual Reality setzt daher zunächst mit der Rekonstruktion zentraler philosophischer Implikationen in den allgemeinen Debatten

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um die kulturelle Bedeutung der digitalen Welten ein – bevor ich in der kritischen Diskussion dieser Debatten exemplarisch einige der fachphilosophischen Deutungsansätze des Phänomens zitieren werde. Zwei Positionen dominieren als konträre Antipoden die Diskussion über die Bedeutung der entstehenden virtuellen Welten: die Position des Propheten und die Position des Skeptikers. Der Prophet feiert die Vision der virtuellen Realität des Cyberspace emphatisch als Entstehung einer Sphäre des reinen Geistes. Er glaubt, dass in der digitalen Wirklichkeit „die Kräfte des Geistes die Oberhand über die rohe Macht der Dinge (gewinnen)“ (Dyson/Gilder/Toffler 1995, S. 30) und wir „die blutige Schweinerei der Materie“3 hinter uns lassen könnten; er träumt davon, „unseren Geist in Computer zu ‚überspielen‘ und damit das Fleisch zu transzendieren, sodass wir in der digitalen Sphäre ewig leben“4; kurz: der Prophet beschwört in geradezu religiöser Verzückung die Erschaffung eines digitalen Himmels. „Hinter unseren Datenhandschuhen werden wir zu Geschöpfen aus bewegtem farbigen Licht, das in goldenen Teilchen pulsiert [...] Wir werden alle Engel werden, in Ewigkeit! [...] Der Cyberspace wird uns wie das Paradies vorkommen.“5 Demgegenüber zeichnet der Skeptiker das apokalyptische Horrorszenario einer Welt, die zunächst teilweise, aber schließlich ganz im digitalen Schein verschwindet: er glaubt, die virtuelle Realität sei ein Medium der Derealisierung und Entkörperlichung; er unterstellt, dass wir im Zuge der fortschreitenden Ausbreitung der elektronischen Medien „immer weiter des Gebrauchs unserer natürlichen Sinnesorgane und unseres Empfindungsvermögens beraubt“ (Virilio 2000, S. 41) werden, und dass die Virtualisierung „nur auf die Prostitution, auf die Auslöschung des Wirklichen durch sein Double“ (Baudrillard 1995, S. 92) zielt. Während der technophile Prophet die digital erzeugte Wirklichkeit als eine Überbietung der natürlichen Wirklichkeit charakterisiert, erscheint sie dem kulturpessimistischen Skeptiker im Sinne einer ,bloß‘ virtuellen Realität als eine Wirklichkeit zweiter Ordnung. Diese Positionen könnten konträrer kaum sein. Und doch sind ihre Beschreibungen der Virtual Reality einander ähnlicher, als es auf den ersten Blick scheint. Einig nämlich sind sich Prophet und Skeptiker darin, dass die virtuelle Realität eine kategorisch neue Form einer immateriellen Wirklichkeit darstellt, die unsere natürliche Umwelt mitsamt unserer eigenen körperlichen Verfasstheit als Menschen transformieren wird (vgl. dazu auch Welsch 2000, S. 26). Der Cyberspace erscheint in diesem vom Propheten und Skeptiker gemeinsam gezeichneten Bild gewissermaßen als die mediale Realisierung einer ebenso kollektiven wie globalen res cogitans, der wir uns schlechterdings nicht entziehen können. Und das kann man eben begrüßen oder beklagen.6 3 4 5 6

So Marvin Minsky, zitiert nach Wertheim (2000, S. 6). Margaret Wertheim über die Vision, die Hans Moravec in seinem Buch Mind Children entwirft; in: Wertheim (2000, S. 9). Nicole Stenger vom Human Interface Technology Laboratory der University of Washington – zitiert nach Wertheim (2000, S. 9). Nebenbei gesagt: gänzlich neu ist diese Vorstellung nicht. Die Vision einer rein geistigen, globalen Sphäre hat der französische Philosoph Teilhard de Chardin bereits 1940, d. h. lange vor der Generierung der ersten digitalen Räume, unter dem Titel der „Noosphäre“ als einer „denkenden

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Für den Propheten wie für den Skeptiker stellt die digital produzierte Wirklichkeit im Medium der Virtual Reality eine Wirklichkeit jenseits der Materialität dar. Nun ist es zwar zweifellos richtig, dass es sich bei virtuellen Welten um Räume handelt, die einerseits ausschließlich aus Daten zu bestehen scheinen (und Daten sind flüchtig) – und in denen wir andererseits einzig in der Form sinnlicher und mentaler Prozesse einer symbolischen Interaktion mit diesen Daten (tele-)präsent sind (und nach harter Materie sieht das nicht aus). Prophet wie auch Skeptiker folgern nun, dass der digitale Raum eine nicht-materielle Umgebung darstellt, in der wir nur gleichermaßen immateriell agieren. Dieser doppelte Schluss ist jedoch auch doppelt falsch. Ich habe ihn den immaterialistischen Fehlschluss genannt (und ich glaube, er ist für einen nicht unerheblichen Teil der Verwirrungen bezüglich des Phänomens der virtuellen Realität verantwortlich). Der Fehler beruht einerseits auf einem Missverständnis der Prozesse, welche virtuelle Realitäten generieren – und andererseits auf einem Missverständnis der Aktionen, die wir in virtuellen Realitäten ausführen. Falsch ist im ersten Fall bereits die Vorstellung, dass die digitale Wirklichkeit, mit deren Daten wir interagieren, auch ausschließlich aus Daten bestünde. Richtig ist vielmehr, dass Daten immer erst maschinell erzeugt – und dann permanent prozessiert werden müssen. Immaterialisierungstendenzen kann aber nur der den digitalen Netzen unterstellen, der – darauf hat Friedrich Kittler7 immer wieder hingewiesen – die Tatsache ignoriert, dass hier Rechenmaschinen, und das heißt schließlich: hochgradig materielle Dinge am Werk sind. Mit anderen Worten: Die prophetische Beschwörung der virtuellen Welt des Cyberspace als ,neu-platonischer Emanation‘ wie auch die skeptische Befürchtung des Verschwindens der Wirklichkeit im digitalen Schein speisen sich auch aus ihrer impliziten Ignoranz der Hardware gegenüber.8 Das zweite Missverständnis, das den immaterialistischen Fehlschluss initiiert, betrifft uns und die Art und Weise, wie wir in digitalen Räumen (inter-)agieren. Der Fehler besteht hier darin, aus der Tatsache, dass wir innerhalb virtueller Realitäten ausschließlich mit Daten interagieren, zu folgern, dass wir hier rein geistig (und also: nicht körperlich) agierten: als äthergleiche Lichtgestalten, die der Prophet herbeisehnt oder als körperlose Unwesen, als Zombies, vor denen es dem Skeptiker graut. Richtig hingegen ist hier daran zu erinnern – das haben wir nicht zuletzt von Derrida gelernt –, dass auch symbolische Interaktionen ihre materielle Basis haben: und das bedeutet, dass es mitnichten der Fall ist, dass es sich bei unseren Aktionen im virtuellen Raum um immaterielle Phänomene handelt. Wie dem ersten Missverständnis letztlich ein reduktionistisches Bild der Prozesse, welche virtuelle Realitäten erst genieren, zugrunde liegt, beruht das zweite Missver-

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Schicht“, die wir mit Mitteln der Technik um die Biosphäre der Erde spannen, formuliert. (Dabei handelt es sich um einen Hinweis, den ich der Lektüre des Buches Docuverse von Hartmut Winkler verdanke; vgl. Winkler (1997, S. 64-72)). Vgl. Kittler (1998, S. 124). Allgemeiner, aber in die gleiche Richtung, argumentiert auch Bernhard Waldenfels: „Der Raum, in dem der Cyberspace installiert wird, ist so wenig ein Cyberspace, wie das Bett, in dem der Träumende ruht, ein geträumtes Bett ist. Man kann den Rahmen, in dem sich Virtuelles abspielt, verdecken, man kann ihn nicht aufheben.“ (Waldenfels 1998, S. 239)

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ständnis auf einem hochgradig irreführenden Bild vom Körper: einem Bild, in dem verdeckt bleibt, dass auch das mediale Handeln und virtuelle Kommunizieren nicht ohne Körper auskommt. Selbst unter den Bedingungen einer konsequent zu Ende gedachten technischen Utopie wären es immer noch mit den Hirnströmen Teile des Körpers, welche die Maschinen steuerten und Kommunikation herstellten. Dahinter aber hörten wir schlicht auf, von Menschen zu reden. Neben der Ignoranz gegenüber der Bedeutung der Hardware für die Generierung digitaler Wirklichkeit ist es mithin die Ignoranz gegenüber der Beteiligung des Körpers an jeder Form von (menschlicher) Aktivität innerhalb virtueller Räume, die zusammen den starken Positionen des Propheten und des Skeptikers zugrunde liegen. In abgeschwächter Form allerdings finden sich die falschen Vorstellungen über virtuelle Realitäten, die jene Ignoranzen produzieren, in einer Reihe gegenwärtiger medientheoretischer und medienphilosophischer Ansätze. Deswegen ist es sinnvoll, sich die Missverständnisse, mit denen wir es hier zu tun haben, zumindest noch ein wenig genauer anzusehen. So transportiert die prophetische Vision einer möglichen ,Aufhebung‘ (im hegelschen Sinne) des menschlichen Lebens im digitalen Netz mehr oder weniger implizit ein durchaus verbreitetes Zerrbild über die biologische Verfasstheit des Menschen. Ich meine den im Zuge der Popularisierung der Erkenntnisse der biologischen Forschung seit Watson und Crick entstandenen Glauben, der Mensch sei ein Resultat seiner genetischen Codierung. Wenn aber der Mensch angemessen als Resultat der Codierung seiner DNA beschrieben werden kann – warum sollte er dann, so der Kurzschluss, nicht auch mittels eines digitalen Codes rekonstruierbar sein? Es ist, m. a. W., die mögliche Übersetzung des genetischen Codes in einen binären Code, die der quasi-religiöse Prophet dann wiederum als Sieg des Geistes über die Materie feiert. Der Prophet sitzt mithin dem allzu schlichten Glauben an einen genetischen Determinismus auf, der ihn am Ende zu jenem Rückfall in einen cartesianischen Dualismus verführt, auf dem die skeptische Position bereits beruht. Denn das Schreckensbild eines drohenden Verschwindens des Körpers im digitalen Schein kann nur der zeichnen, der einerseits, mit den Worten von Richard Shusterman, die „äußere Form des Körpers“ geradezu zu einem „Fetisch“ verklärt (Shusterman 1997, S. 126) – und der andererseits in der Unterschlagung der leiblichen Fundiertheit geistiger Prozesse an der kategorischen Differenz von res cogitans und res extensa zumindest implizit festhält. In Abwandlung einer These von Lev Manovich lässt sich deshalb fest halten, dass das cartesianische Koordinatensystem immer noch fest zumindest in einen Teil der gegenwärtigen theoretischen Reflexion über digitale Wirklichkeiten eingebaut ist.9 Prophet und Skeptiker tauchen hier – um dies noch einmal zu wiederholen – nur als Beispiele auf für die konträren Extrempositionen, die sich im Kern berühren. Beide zeichnen, so möchte ich hier zusammenfassen,

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Vgl. Manovich (1996, S. 7), wo es allerdings irreführenderweise heißt: „Das cartesianische Koordinatensystem ist tatsächlich fest in die Software für Computergrafiken [...] eingebaut“ (Herv. S.M.).

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ein irreführendes Bild der virtuellen Realität, weil der immaterialistische Fehlschluss ihnen nichts anderes übrig lässt, als die Realität der Virtual Reality misszuverstehen.

3. Was aber ist die Realität einer Virtual Reality? Nun, zunächst können wir hier die allgemeine Definition, die ich eingangs gegeben habe, vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen konkretisieren: Wir haben es im Fall einer Virtual Reality mit einem digitalen Raum zu tun, der aus einer maschinell erzeugten und permanent prozessierten Datenmenge besteht, mit der wir – einzeln oder gemeinsam – interaktiv kommunizieren können. Selbst wenn wir nun konzedieren, dass dieser Raum ebenso materiell ist wie unsere Interaktionen mit seinen Daten (und die erhoffte oder befürchtete radikale Aufbzw. Ablösung unserer natürlichen Umwelt im digitalen Schein wohl ausbleiben wird), bleibt der gewissermaßen gemäßigtere, aber dennoch grundsätzliche Zweifel daran, wie real die virtuelle Realität in Wirklichkeit ist – d. h. die Frage, ob wir es bei der digital erzeugten Form der Wirklichkeit nicht als einer medial generierten zugleich, Materialität hin und her, mit einer bloß virtuellen Realität zu tun haben? Mit dieser Frage betreten wir die Arena der philosophischen Diskussionen um den ontologischen Status virtueller Welten. Angelegt sind diese Diskussionen bereits im Begriff ,Virtual Reality‘ – zumindest, wenn wir den Terminus ,virtuell‘ als Äquivalent zu ,potenziell‘ verstehen: dann nämlich meint ,virtuelle Realität‘ so etwas wie ,mögliche Wirklichkeit‘ – und eine mögliche Wirklichkeit wäre ja tatsächlich etwas anderes als eine wirkliche Wirklichkeit; ein bisschen weniger wirklich eben, etwa im Sinne einer bloßen Simulation von Realität. Nun könnte man dieses begriffliche Problem als terminologische Spitzfindigkeit abtun, wenn sich nicht tatsächlich im Umgang mit den so genannten ,neuen‘ Medien immer wieder eine gewisse, so Martin Seel, „ontologische Unschärfe“ (Seel 1998, S. 260) einstellen würde: „Es ist“, so Seel zu Recht, „nicht immer und niemals völlig klar, was für Seiendes es ist, das aus Lautsprecher und Bildschirm entgegenkommt“ (ebd.). Im digitalen Raum der Virtual Reality nun als der avanciertesten technischen Umgebung, die wir den neuen Medien verdanken, sind unsere Möglichkeiten, diese ontologische Unschärfe auszuschalten, zweifellos auch am weitesten eingeschränkt. Und doch bedeutet dies mitnichten, dass wir uns im Bereich des Virtuellen zugleich in einem fiktiven Reich der bloßen Simulation befänden. Vielmehr gibt es, darauf hat Elena Esposito aufmerksam gemacht (Esposito 1998, S. 270), gute Gründe dafür, die Begriffe der ,Virtualität‘ und der ,Simulation‘ strikt auseinander zu halten: Mit ,Simulation‘ nämlich bezeichnen wir einen Vorgang, in dem etwas für etwas anderes steht – als ob es das andere wäre. ,Virtualität‘ jedoch bezeichnet eine Situation, in der etwas für nichts anderes als für es selbst steht. Simulierte Welten leben von ihrer Referenz zu dem Objekt, der Umgebung, die sie so gut wie möglich nachzubilden versuchen; virtuelle Welten hingegen haben keine Referenz jenseits der konkreten Situation. Wohl können wir die Technik zur Generierung virtueller Welten wie eine Simula-

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tionstechnik nutzen, ohne dass wir deswegen die virtuelle Realität insgesamt als bloß simulierte Wirklichkeit (miss-)verstehen müssen – womit uns der Eigensinn des Virtuellen zwangsläufig entgehen würde. Heutige Flugzeugsimulatoren beispielsweise sind digital generierte und hoch komplexe virtuelle Realitäten, die uns – wie andere nichtdigitale Simulationstechniken auch – in die Lage versetzen so zu tun, als ob wir etwas täten, was wir tatsächlich nicht tun; ein Flugzeug fliegen nämlich. Online-Spiele hingegen sind virtuelle Umgebungen, die nichts anderes sind, als Online-Spielwelten – und in denen wir auch nichts anderes tun, als online zu spielen. Das aber hat mit Simulation nichts zu tun.

4. Dennoch bleibt der radikale skeptische Vorbehalt bestehen, dass mit zunehmender technischer Perfektion der digitalen Wirklichkeiten auch die Möglichkeit einer tatsächlich perfekten Täuschung wächst – d. h. die Möglichkeit zur Konstruktion dessen, was ich eingangs als die Vision einer voll entwickelten Virtual Reality bezeichnet habe. Tatsächlich sind wir heute sehr weit davon entfernt, eine derart perfekte digitale Umgebung erzeugen zu können – und es ist nicht absehbar, wann (wenn überhaupt) wir je dazu in der Lage sein könnten. Gleichwohl haben bereits die fiktionalen Entwürfe solcher Welten im literarischen und filmischen Sciencefiction die philosophische Reflexion in Gang gesetzt. Und wenngleich meine Darstellung medienphilosophischer Implikationen der Virtual Reality sich programmatisch an den Phänomenen orientiert, mit denen wir es tatsächlich zu tun haben (oder zumindest: in einer realistischen Einschätzung zu tun haben könnten), soll hier ein kurzer Exkurs zu den spekulativeren Aspekten nicht fehlen. Zur Entscheidung der Frage, wann wir es mit einer voll entwickelten Virtual Reality zu tun haben, schlage ich ein simples Experiment vor: Stellen wir uns vor, wir würden erst in einen Zustand der Bewusstlosigkeit versetzt und dann nach einer Weile wieder geweckt. Wenn wir nun nicht entscheiden können, ob es sich bei der Welt, in der wir erwachen, um unsere natürliche Umwelt oder um eine technisch generierte Umgebung handelt, dann – und nur dann – haben wir es mit einer voll entwickelten Virtual Reality zu tun. Auf die Frage, woran man eine solche Virtual Reality erkennt, lautet die paradoxe Antwort deswegen: daran, dass man sie nicht erkennt. Der Film Matrix nun entwirft ein entsprechendes Szenario. Er erzählt die Geschichte einer postapokalyptischen Zukunft, der ein verheerender Krieg zwischen Menschen und intelligenten Maschinen vorausging, aus dem die Maschinen als Sieger hervorgegangen sind. Die Menschheit hat überlebt – aber nur, um den Maschinen als Energiequelle zu dienen: in gigantischen Waben fristen die Menschen, einzeln eingelegt in Nährflüssigkeit, im permanenten künstlichen Koma ihr gesamtes Dasein. Um jeden möglichen Widerstand a priori zu brechen, induzieren die Maschinen den Menschen dabei die Vision einer ungemein komplexen computer-generierten Realität (d. i. die Matrix) direkt in das

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Hirn, die ihnen das Bewusstsein vermittelt, ein normales Leben am Ende des 20. Jahrhunderts zu führen. Die Plausibilität dieses Plots sei hier dahingestellt; seine Nähe zu dem vor allem von Putnam diskutierten Szenario der Gehirne im Tank ist offensichtlich – und so ist es zwar bemerkenswert, aber kein Zufall, dass gerade Matrix seit seinem Start auch als philosophisches Beispiel immer wieder zitiert wurde.10 Sowohl film- als auch philosophiehistorisch einzigartig freilich dürfte die Tatsache sein, dass auf der offiziellen Website des Films unter dem Titel Philosophy & The Matrix eine vom amerikanischen Philosophen Christopher Grau betreute Anthologie Essays zu den philosophischen Implikationen bereitstellt, zu der u. a. David Chalmers, Colin McGinn und Hubert Dreyfus gemeinsam mit seinem Sohn Stephen Originalbeiträge verfasst haben.11 Als Beispiel für eine voll entwickelte Virtual Reality konfrontiert uns das MatrixSzenario mit der Frage, was wäre, wenn unsere Welt nicht so ist, wie wir glauben, dass sie ist. Diese Frage hat – als skeptische Hypothese – philosophische Vorläufer: Descartes Hypothese, ein „böser Geist, der zugleich allmächtig und verschlagen ist, habe all seinen Fleiß daran gewandt, mich zu täuschen“ (Descartes 1960, S. 19), ist hier nur ein prominentes Beispiel.12 Man ersetze den Geist durch die Maschinen, und die Analogie ist perfekt. Stephen und Hubert Dreyfus schließen denn auch unmittelbar an Descartes an mit ihrer These, das Phänomen einer voll entwickelten Virtual Reality konfrontiere uns zunächst lediglich mit der von Descartes über Leibniz und Kant zu Husserl immer neu und anders reformulierten Einsicht, dass wir eben keinen unmittelbaren, sondern einen immer nur indirekten Zugang zur Welt haben – wobei Matrix überzeugender als seine philosophischen Vorgänger die richtige Einsicht transportiere, dass die Welt für uns auch immer nur in unserem Hirn existiert. Problematisch, so Stephen und Hubert Dreyfus im Anschluss an Heidegger, sei weniger das Phänomen der Täuschung – sondern die Grenzen, welche die computer-generierte Wirklichkeit den Menschen bezüglich ihrer Möglichkeiten, ihre eigene Natur neu zu definieren und neue Welten damit zu erschließen, setze: „Keine Künstliche Intelligenz könnte eine radikal offene Welt programmieren, selbst wenn sie es wollte. Programmierte Kreativität ist in Wirklichkeit ein Oxymoron“ (Dreyfus/Dreyfus 2003, Übersetzung S.M.). Radikaler noch als Dreyfus ist z. B. die Position von David Chalmers. Er spinnt den Filmplot zunächst dahingehend weiter, dass wir (als Zuschauer des Films) keineswegs ausschließen können, selber (wie die Protagonisten im Film) in einer (wie auch immer möglicherweise anders als im Film gearteten) von Computern generierten „Matrix“ zu leben: „Wir können uns nicht sicher sein, nicht in einer Matrix zu sein“ (Chalmers 2003, Übersetzung S.M.). Diese Hypothese nun, so Chalmers, erinnert zwar an die Hypothese Descartes’, sie ist jedoch tatsächlich keine skeptische, sondern eine metaphysische Hypothese: Weder wir noch die Protagonisten des Films haben – gesetzt den 10

11 12

So zum Beispiel von Mike Sandbothe, der u. a. am Beispiel von Matrix zeigt, „wie die Thematisierung der Menschen selbst als Gegenstand medialer Technisierung die Frage nach dem Medium zum Herzstück der theoretischen Philosophie werden lässt“ (Sandbothe 2003). Vgl. Grau (2003). Vgl. den Essay von David Chalmers für weitere Beispiele: Chalmers (2003).

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Fall, das Szenario stimmt – entscheidend falsche Überzeugungen bezüglich unserer Welt. Wenn die Virtual Reality tatsächlich perfekt ist, dann ist ja, was uns in ihr begegnet (was wir erfahren, spüren, sehen, etc.) alles, was es für uns gibt; und das heißt auch: unsere Welt ist dann genauso, wie wir glauben, dass sie ist. Was die Matrix-Hypothese uns darüber hinaus erzählt ist aber dann nichts anderes als eine Geschichte über Mechanismen, die der Welt, in der wir leben, immer schon zugrunde liegen – und die wir als solche nicht erfahren können. Das aber, so Chalmers, ist klassische Metaphysik. Perfekt freilich ist die Technik nicht einmal im Film13; schließlich setzt Matrix damit ein, dass der Hacker Neo, der vor seinem Computer eingeschlafen ist, geweckt wird durch die mysteriöserweise auf seinem Bildschirm auftauchende Nachricht: „Wach auf, Neo.“ Die Erweckungsgeschichte Neos zum ,Auserwählten‘ und Retter der versklavten Menschheit wiederum, die der Plot des Films daraufhin entfaltet, ist stärker religiös als philosophisch konnotiert.14

5. Kehren wir zurück in die nicht-fiktionale Gegenwart, so reduziert sich der skeptische Täuschungsvorbehalt virtueller Welten gegenüber auf eine grundsätzliche Erfahrung, mit der Menschen in der Auseinandersetzung mit Medien und mit anderen Menschen schon immer umgehen lernen mussten – und zumeist auch umgehen können (vgl. hierzu auch Seel 1998, S. 260). Und dass dies nicht immer gelingt und wir immer schon und immer wieder auf Täuschungen hereinfallen, ist zwar bedauerlich, aber in den meisten Fällen keineswegs dramatisch. Mit einem „ontologischen Paradigmenwechsel“, wie ihn der amerikanische Philosoph Michael Heim in seinem nicht zufällig The Metaphysics of Virtual Reality titulierten Buch diagnostiziert, haben wir es deswegen im Umgang mit dem Phänomen der Virtual Reality – zumindest diesseits der phantastischen Szenarien der Sciencefiction – mit Sicherheit nicht zu tun.15 Wohl aber mit einem Problem der Verwendung des Begriffs ,Wirklichkeit‘: denn der letztlich entscheidende Punkt der Diskussionen um den ontologischen Status von virtuellen Realitäten scheint mir die Tatsache zu sein, dass der kritischen Auszeichnung der digitalen Wirklichkeit als bloß virtueller Realität die Opposition von medial konstruierter Realität vs. unvermittelter Wirklichkeit vorausgeht. Diese Opposition aber ist, kurz gesagt, schlicht unsinnig. Und sie ist unsinnig, weil ihr ein falsches Bild der Realität zugrunde liegt. Richtig scheint mir vielmehr, dass uns Wirklichkeit immer nur vermittelt, tatsächlich immer nur als

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14 15

Wobei ich mich hier nur auf die ersten beiden Teile der Trilogie beziehen kann – der dritte wird erst nach Abgabe meines Textes die letzten Rätsel der Geschichte (und so auch das nach einem Ort jenseits der Matrix) lüften. Vgl. Flannery-Dailey/Wagner (2003). Vgl. Heim (1993, S. XIII).

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mediale Konstruktion zugänglich ist16 – und sei es nur, weil wir uns als sinnlich erfahrende und sprechend verstehende Wesen die Welt nie anders als durch die Medien der Sinne und der Sprache erschließen können. Wenn uns aber die Wirklichkeit immer nur vermittelt zugänglich ist, dann ist die Rede von einer unvermittelten Wirklichkeit ebenso selbstwidersprüchlich wie bedeutungslos (in diesem Sinne auch Welsch 2000, S. 52). Wer sie dennoch mobilisiert, etwa um auf ihrer Folie den Prozess der Virtualisierung als Verlustgeschichte zu schreiben, der geht mit der impliziten Unterstellung einer verloren gegangenen Unmittelbarkeit des Weltzugangs und unmittelbaren Präsenz der Wirklichkeit wiederum einen Schritt vor die Einsichten zurück, die uns in Fortschreibung der erkenntniskritischen Tradition die medientheoretischen Reflexionen etwa von Poststrukturalismus und Konstruktivismus in den letzten 30 Jahren vermittelt haben.17 Richtig verstanden beschreibt im Begriff ,virtuelle Realität‘, soviel können wir hier festhalten, das Prädikat ,virtuell‘ eine Modalität der Realität – und bestreitet mitnichten, dass sie real sei. Charakterisiert ist die virtuelle Modalität der Wirklichkeit zunächst durch die spezifischen Eigenschaften des Mediums, das sie generiert – d. h. konkret: durch die technischen Eigenschaften der digitalen Rechenmaschinen. Aber so wichtig es eben war, die Bedeutung der Hardware für die Generierung digitaler Räume zu betonen, so falsch wäre es hier zu folgern, dass die virtuelle Realität schlicht das Werk der Computer sei – denn: Die von den Rechenmaschinen prozessierte Datenmenge wird zu einer virtuellen Welt, innerhalb derer wir agieren erst, indem wir mit den Daten interagieren. Anders gesagt: es gibt die virtuelle Wirklichkeit ausschließlich während man sie nutzt. In dieser pragmatischen Dimension ihrer Nutzerabhängigkeit besteht die für die Frage nach der Wirklichkeit digitaler Welten entscheidende Pointe ihrer konstitutiven Interaktivität: Was passiert im Cyberspace, wenn keiner guckt? Das ist eine sinnlose Frage. Die Antwort lautet: Computer prozessieren binäre Differenzen, denen ohne uns der Status signifikanter Daten, und das heißt: irgendeine Form von Sinn erst gar nicht zukommt. Wie im Hinweis auf die leibliche Fundierung virtueller Erfahrung eben der Körper auftauchte als, mit einer Formulierung von Hartmut Winkler: „[e]ine Art Stop-Bedingung für eine Theoriebildung, die sich in ganz einzigartiger Weise vereinseitigt, vom Körper abgewandt und als Theorie selbst entkörperlicht hat“ (Winkler 1999, S. 212), so ist der Hinweis auf die Nutzerabhängigkeit virtueller Welten hier auch ein Einspruch gegen die nicht unpopuläre medientheoretische Umdeutung der Hardware von der unhintergehbaren materiellen Basis digitaler Wirklichkeit zu einer vom Menschen grundsätzlich unabhängigen Form von Realität mit bedeutungsrelevanten Implikationen. 16

17

Im andauernden Streit um die Möglichkeit und Notwendigkeit eines philosophischen Realismus kann diese Bemerkung natürlich kein Argument sein. Wohl aber bezieht sie Position – gegen Seel, der im zitierten Aufsatz im Anschluss an die These: „Realität ist nicht als mediale Konstruktion, sondern allein vermöge medialer Konstruktion gegeben“ den philosophischen Realismus verteidigt (ebd., S. 225), halte ich es mit Siegfried J. Schmidt, der dazu festhält, dass wir auf der Basis dieser Feststellung einer vorgängigen Wirklichkeit schlicht nicht mehr bedürfen (Schmidt 2000, S. 59 f.). Vgl. hier auch Winkler (1999, S. 212).

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An dieser Stelle können wir die Definition der Virtual Reality noch einmal ergänzend variieren: Der Begriff kennzeichnet eine mittels digitaler Medien konstruierte Wirklichkeit, die nur im Vollzug unserer Interaktion mit ihren Daten existiert – und die zugleich, solange wir mit den maschinell prozessierten Daten interagieren, ebenso ,real‘ ist wie jede andere denkbare Form von Wirklichkeit. Tatsächlich macht eine Diskussion darüber, ob etwas, das wir als wirklich anerkennen, mehr oder weniger wirklich ist als etwas anderes, überhaupt keinen Sinn. Doch selbst wenn wir uns darauf einigen können, dass wir keine Kriterien brauchen, um eine Form der Realität als real auszuzeichnen, so brauchen wir doch Kriterien, um die virtuelle Modalität der Wirklichkeit von anderen Wirklichkeitsweisen – etwa von der natürlichen Alltagswelt diesseits der elektronischen Räume – zu unterscheiden. Denn ohne eine solche Differenz18 bliebe auch die Besonderheit der virtuellen Realität verdeckt und ihr Verhältnis zur nicht-digitalen Wirklichkeit verborgen.

6. Um diese Differenz zu beschreiben, möchte ich nun die Perspektive meiner Skizze verschieben – und den Blick auf die Frage lenken, auf welche Art und Weise wir die digitalen Wirklichkeiten virtueller Welten erfahren. Der erste Befund lautet hier natürlich: das kommt ganz darauf an. Denn unsere Erfahrungen des Virtuellen divergieren erheblich relativ zu den medienspezifischen Parametern der jeweiligen Umgebung. Die lokale virtuelle Realität eines komplexen digitalen Raumes, den wir zum Beispiel mittels Datenhandschuh und Datenhelm erkunden können, ermöglicht uns selbstverständlich andere Erfahrungen als telematisch generierte virtuelle Welten, wie sie nicht nur in seinen vielfachen Anwendungen das Internet, sondern bereits seit mehr als einem Jahrhundert das Telefon erzeugt19: Bleibt die Erfahrungswelt der virtuellen Realität eines Telefonats auf den Hörraum von Stimmen beschränkt, so hat sich das Internet in den letzten Jahren immerhin auf den audio-visuellen Raum von Texten, Bildern und Klängen erweitert; bislang jedoch öffnet sich allein die komplexe Installation einer lokalen virtuellen Realität nahezu dem gesamten sensorischen Wahrnehmungssystem desjenigen, der in sie eintaucht. (Solche lokalen virtuellen Realitäten sind es mithin derzeit, die der Vision der Matrix oder des Cyberspace am nächsten kommen – und eben nicht das fälschlicherweise oft so bezeichnete Internet.) Doch so wichtig die medienspezifischen Divergenzen der Erfahrungsmöglichkeiten für eine phänomenologische Beschreibung der jeweiligen virtuellen Wirklichkeit sind, so entscheidend ist zugleich ihre Gemeinsamkeit. In jedem Fall nämlich haben wir es bei unserer Erfahrung virtueller Realitäten mit einer prinzipiell sinnlich fundierten Erfah18 19

Vgl. auch Krämer (1998, S. 15). Zum Telefon als einem nicht-digitalen Medium zur Generierung virtueller Räume vgl. Münker (2000).

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rung zu tun. Das bedeutet anders gesagt: Unsere Erfahrung virtueller Realitäten ist eine Erfahrung, die fundamental auf einer medienrelativen Sensibilisierung spezifischer Sinne beruht. Diese medienspezifische Sensibilisierung ist es, die wir zumindest so lange zugleich als eine Erfahrung der Selbstdifferenzierung wahrnehmen, wie wir es noch nicht mit voll ausgebildeten Formen virtueller Realitäten zu tun haben – insofern nämlich, als wir immer nur partiell, immer nur mit bestimmten Sinnen die mediale Wirklichkeit ,betreten‘. Dass unsere Wahrnehmung virtueller Umgebungen mit einer solchen Erfahrung der Selbstdifferenzierung einhergeht, ist für den Propheten und den Skeptiker ein wichtiges Indiz für die irreführende These der Entkörperlichung im digitalen Raum; wie unzutreffend diese These als Beschreibung unserer Erfahrungen des Virtuellen ist, zeigt sich hier noch einmal daran, dass sinnlich fundierte Erfahrungen immer zugleich in einem grundsätzlichen Sinn leibliche Erfahrungen sind. Richtig allerdings ist es, dass die spezifische Art und Weise der sinnlichen Erfahrungen virtueller Welten unseren normalen Alltagserfahrungen gegenüber eine gewissermaßen ver-rückte Form von Erfahrungen darstellt. Ver-rückt sind diese Erfahrungen, weil wir in den medialen Räumen der virtuellen Realität uns und die Welt anders wahrnehmen können: Wir hören Stimmen über tausende von Kilometern hinweg, betreten Räume jenseits jeder physikalischen Plausibilität, schlüpfen spielerisch in fremde Identitäten hinein; der Phantasie sind hier, soweit stimmen die Visionen, (fast) keine Grenzen gesetzt. Die virtuellen Welten ermöglichen uns für die Dauer unseres Aufenthalts die sinnliche Erfahrung, innerhalb von sozial und technisch gesetzten Grenzen mit den gewohnten Parametern des Raums zu spielen und uns in Experimenten der Selbst-, Fremd- und Weltwahrnehmung als ein Anderer zu inszenieren. Als Medien, die es erlauben, sich der Welt aus neuen und ungewohnten Perspektiven zu nähern, sind virtuelle Realitäten gekennzeichnet durch die Generierungen von Räumen vielfältiger (aber keineswegs beliebiger) Kommunikations-, Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, die durch eine spezifische Differenz der Wahrnehmungssituation von der Wirklichkeit diesseits der digitalen Räume unterschieden sind. Insofern diese Differenz die Ebene der sinnlichen Wahrnehmung betrifft, lässt sie sich als ästhetische Differenz beschreiben20 – und die Wirklichkeitskonstruktion virtueller Welten damit als eine ästhetische Weise der Welterzeugung verstehen.

7. Nun ist diese Verwendung des Prädikats ,ästhetisch‘ zur Bestimmung der Differenz zwischen virtueller und nicht-virtueller Wirklichkeit zunächst noch recht unspezifisch. Tatsächlich jedoch liefert die Bestimmung der Virtual Reality, die ich bis hierhin gesammelt habe, Kriterien an die Hand, jene Differenz in einem durchaus bestimmten Sinne als ästhetisch zu beschreiben. Wofür ich nun abschließend argumentieren will, ist 20

Vgl. hierzu auch Münker (1997, S. 123 f. u. 2000, S. 187).

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die These, dass wir es bezüglich des Phänomens der digital generierten Wirklichkeiten insofern mit einer spezifisch ästhetischen Weise der Welterzeugung zu tun haben, weil unser Modus der Wahrnehmung virtueller Welten sich in Analogie zu unserer Wahrnehmung von ästhetischen Objekten der Kunst, Literatur etc. als ein Modus der ästhetischen Erfahrung bestimmen lässt – ohne dass wir die virtuellen Welten schlechthin als ästhetisch im Sinne eines ästhetischen Objekts zu verstehen hätten; und das heißt: ohne dass durch die Bestimmung der Erfahrung des Virtuellen als einer ästhetischen im Bereich des Virtuellen die Differenz von ästhetischem und nicht-ästhetischem Verstehen eingezogen werden müsste. Um diese These plausibel zu machen, möchte ich nun auf eine Beschreibung der Besonderheit der ästhetischen Wahrnehmung zurückgreifen, die ich wiederum einem Aufsatz von Martin Seel entnehme. Seel zählt hier zwei Kriterien auf, die – über das unspezifischere Kriterium der Sinnlichkeit der Wahrnehmung hinaus – für unsere Erfahrung von ästhetischen Objekten konstitutiv sind: „Ästhetische Wahrnehmungen“, so Seel, „sind erstens vollzugsorientierte und zweitens in einem bestimmten Sinn selbstbezügliche Formen sinnlichen oder sinnengeleiteten Vernehmens“ (Seel 1996, S. 48). Vollzugsorientiert bedeutet im Umgang mit ästhetischen Werken, dass „die Wahrnehmungstätigkeit selbst zu einem primären Zweck der Wahrnehmung wird“ – und selbstbezüglich sodann entsprechend, dass es „nicht nur um das jeweils Wahrgenommene, sondern gleichermaßen um den Akt der Wahrnehmung selbst geht“ (ebd., S. 49 u. 51). Beide Kriterien jedoch – sowohl die Vollzugsorientiertheit als auch die Selbstbezüglichkeit – zeichnen, wenn auch auf etwas andere Art und Weise, auch unsere Wahrnehmung virtueller Welten aus. Vollzugsorientiert ist unser Umgang mit virtuellen Welten, weil diese schließlich – wie wir gesehen haben – erst dann, wenn und nur solange wie wir mit ihren Daten interagieren, existieren. Dabei ist der durch die jeweiligen Medien eröffnete virtuelle Modus von Selbst- und Weltwahrnehmung zugleich der einzige Grund, warum wir den digitalen Raum überhaupt betreten – was wiederum bedeutet, dass es auch im Umgang mit dem Virtuellen nicht nur um das, was wir dort wahrnehmen geht, sondern prinzipiell zugleich um die Art und Weise, wie wir es wahrnehmen. In Analogie zur Wahrnehmung ästhetischer Objekte kann man m. E. deswegen die Erfahrung des Virtuellen sinnvoll als eine ästhetische Form der sinnlichen Wahrnehmung beschreiben, in der Wahrnehmungsgegenstand und Wahrnehmungsweise sich vollzugsorientiert und selbstbezüglich gegenseitig bedingen. Wir betreten mit dem virtuellen Raum – das ist als Konsequenz des Eigensinns des Virtuellen die Pointe der Differenz von Virtualität und Simulation, auf die ich eben schon aufmerksam gemacht habe – eine Welt, deren Koordinaten sich (wiederum ähnlich wie im Falle ästhetischer Werke) in den meisten Fällen nicht sinnvoll auf Referenzobjekte in der nicht-virtuellen Realität übertragen lassen. Im utopischen Fall einer voll entwickelten virtuellen Realität nun könnte der vollzugsorientierte Selbstbezug unserer Wahrnehmung im Virtuellen tatsächlich zum alleinigen Weltbezug werden. Nur in diesem utopischen Fall drohte mit dem Schritt in die digitale Wirklichkeit der Verlust des Bezugs zur nicht-digitalen Realität. Weil jedoch das Phänomen einer voll entwickelten virtuellen Realität auf absehbare Zeit eine Phantasie der Sciencefiction bleiben

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wird, gilt: Es ist gerade die Differenz von virtueller und nicht-virtueller Realität, deren Bewusstsein uns die pragmatische (Aus-)Nutzung der Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, und Kommunikationsmöglichkeiten, die im digitalen Raum sich öffnen, überhaupt erst gestattet – eine Nutzung, die Formen des nicht-ästhetischen Verstehens selbstverständlich ebenso einschließt wie Formen des ästhetischen Verstehens: Wir können schließlich in der virtuellen Welt eine Menge tun; dazu gehört unter anderem, dass wir virtuelle Kunst rezipieren können – ebenso jedoch können wir im Modus einer ästhetischen Erfahrung des virtuellen Raums Geschäfte machen, Maschinen entwickeln, Argumente austauschen, spielen, flirten etc. Die Differenz von virtueller und nicht-virtueller Realität, die uns die Besonderheit des Virtuellen erst erschließt, artikuliert sich wiederum, und auch das haben wir bereits gesehen, im Vollzug unserer Wahrnehmung des Virtuellen zugleich als die Erfahrung einer Differenz in der Selbstwahrnehmung. Solange die Erfahrung der Immersion in den virtuellen Raum nicht total ist, wird aus diesem Grund die Selbstbezüglichkeit der Wahrnehmung des Virtuellen prinzipiell begleitet von einer spezifischen Form des Selbstbezugs des wahrnehmenden Subjekts – das sich nämlich als Agent innerhalb des Virtuellen zugleich als sein eigener Beobachter erfahren kann. Wir können, anders gesagt, während wir mit einem Teil unserer Sinne virtuell interagieren, immer einen Schritt zurücktreten und unsere mediale Interaktion für einen Moment aus der Außenperspektive reflektieren. Doch – trägt diese Situation nicht die Signatur einer prominenten ästhetischen Erfahrung: der Erfahrung des Erhabenen? Was immer uns virtuell begegnet (und das gilt ganz medienunabhängig für jede derzeit realisierte Form einer Virtual Reality) – wir sind, wie der Zuschauer des Schiffbruchs bei Lukrez, in Sicherheit. Und wir können (auch wenn wir gewissermaßen – anders als der Römer am Strand – zugleich mit einem Teil unseres Selbst mit an Bord des Schiffs sind) aus der Position der letztendlichen Sicherheit die Möglichkeiten beispielsweise der digital produzierten Wirklichkeiten genießen: nicht obwohl, sondern gerade weil die ästhetische Erfahrung des Virtuellen unsere Sinne manchmal zu überwältigen drohen. Denn: So wirklich die Virtual Reality ist – so wirklich ist sie dann auch wieder nicht.

MEDIENPHILOSOPHIE DER VIRTUAL REALITY

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Literatur Baudrillard, Jean (1995), „Illusion, Desillusion, Ästhetik“, in: Iglhaut, Stefan/Rötzer, Florian/Schweeger, Elisabeth (Hgg.) (1995), Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität, Ostfildern: Cantz, S. 90-101. Chalmers, David (2003), „The Matrix as Metaphysics“, in: Grau (2003). Descartes, René (1960), Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg: Meiner. Dreyfus, Hubert/Dreyfus, Stephen (2003), „The Brave New World of The Matrix“, in: Grau (2003). Dyson, Esther/Gilder, George/Toffler, Alvin u. a. (1995), „Cyberspace und der amerikanische Traum. Auf dem Weg zur elektronischen Nachbarschaft: Eine Magna Charta für das Zeitalter des Wissens“, in: FAZ, 26.08.1995, S. 30. Esposito, Elena (1998), „Fiktion und Virtualität“, in: Krämer (1998), S. 269-296. Flannery-Dailey, Frances/Wagner, Rachel (2003), „Wake Up! Gnosticism & Buddhism in The Matrix“, in: Grau (2003). Grau, Chris (Hg.) (2003), Philosophy & The Matrix. Online-Anthologie, zu finden unter: www.whatisthematrix.warnerbros.com/rl_cmp/new_phil_main.html (letzte bekannte Aktualisierung am 20.3.2003). Heim, Michael (1993), The Metaphysics of Virtual Reality, Oxford: University Press. Kittler, Friedrich (1998), „Hardware, das unbekannte Wesen“, in: Krämer (1998), S. 119-132. Krämer, Sybille (Hg.) (1998), Medien, Computer, Realität, Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Manovich, Lev (1996), „Ästhetik virtueller Welten“, in: Telepolis, Das Magazin der Netzkultur vom 20.04.1996, zu finden online unter www.heise.de/tp/deutsch/special/sam/6002/1.html (letzte bekannte Aktualisierung am 27.02.2002). Münker, Stefan (1997), „Was heißt eigentlich: ‚Virtuelle Realität‘? Ein philosophischer Kommentar zum neuesten Versuch der Verdopplung der Welt“, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander (Hgg.) (1997), Mythos Internet, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 108-127. Münker, Stefan (2000), „Vermittelte Stimmen, elektrische Welten. Anmerkungen zur Frühgeschichte des Virtuellen“, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander (Hgg.) (2000), Telefonbuch. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Telefons, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 185-198. Münker, Stefan (2003a), „After the Medial Turn. Sieben Thesen zur Medienphilosophie“, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hgg.) (2003), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a. M.: Fischer, S. 16-25. Münker, Stefan (2003b), „Die Wirklichkeit aus der Perspektive ihrer digitalen Produzierbarkeit. Vorbereitende Skizzen zu einer philosophischen Ästhetik virtueller Realitäten“, erscheint in: Kruck, Günter/Schlör, Veronika (Hgg.) (2003), Medienphilosophie. Medienethik. Zwei Tagungen – eine Dokumentation, Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang (im Druck), S. 29-45. Sandbothe, Mike (2003), „Filmphilosophie als Medienphilosophie“, in: Nagl, Ludwig/Waniek, Eva/ Mayr, Brigitte (Hgg.) (2003), Film/Denken. Der Beitrag der Philosophie zur aktuellen Debatte in den Film Studies, Wien: Synema (im Druck). Schmidt, Siegfried J. (2000), Kalte Faszination, Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesellschaft, Weilerswist: Velbrück. Seel, Martin (1996), „Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung“, in: ders., Ethisch-ästhetische Studien, Frankfurt a. M: Suhrkamp. S. 36-69. Seel, Martin (1998), „Medien der Realität und Realität der Medien“, in: Krämer (1998), S. 244-268. Shusterman, Richard (1997), „Soma und Medien“, in: Vattimo, Gianni/Welsch, Wolfgang (Hgg.) (1997), Medien-Welten. Wirklichkeiten, München: Fink, S. 113-126. Virilio, Paul (2000), Information und Apokalypse. Die Strategie der Täuschung, München: Hanser. Waldenfels, Bernhard (1998), „Experimente mit der Wirklichkeit“, in: Krämer, Sybille (Hg.) (1998), S. 213-243.

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Stefan Münker

Welsch, Wolfgang (2000), „Virtual to Begin With?“, in: Sandbothe, Mike/Marotzki, Winfried (Hgg.) (2000), Subjektivität und Öffentlichkeit. Kulturwissenschaftliche Grundlagenprobleme virtueller Welten, Köln: Halem, S. 25-60. Wertheim, Margaret (2000), Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet, Zürich: Ammann. Winkler, Hartmut (1997), Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München: K. Boer. Winkler, Hartmut (1999), „Schmerz, Wahrnehmung, Erfahrung, Genuß. Über die Rolle des Körpers in einer mediatisierten Welt“, in: Porombka, Stephan/Scharnowski, Susanne (Hgg.) (1999), Phänomene der Derealisierung, Wien: Passagen, S. 211-223.

ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN

BARBARA BECKER: Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Paderborn. Ausgewählte Publikationen: Virtualisierung des Sozialen. Die Informationsgesellschaft zwischen Fragmentierung und Globalisierung (Mithg.), 1997; Was vom Körper übrig bleibt. Medialität – Körperlichkeit – Identität (Mithg.), 2000. RALF BEUTHAN: Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ausgewählte Publikationen: Das Undarstellbare. Film und Philosophie. Metaphysik und Moderne, 2002. STANLEY CAVELL: Walter M. Cabot Professor of Aesthetics and the General Theory of Value an der Harvard University (USA). Ausgewählte Publikationen: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film, 1971, 1979; The Claim of Reason, 1979; Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage, 1981; Themes out of School, 1984; Contesting Tears. The Hollywood Melodrama of the Unknown Woman, 1996; Emerson’s Transcendental Etudes, 2003. In deutscher Übersetzung: Nach der Philosophie. Essays, 1987, 2001; Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen, 2002; Die andere Stimme, 2002. LUTZ ELLRICH: Professor für Medienwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft der Universität Köln. Ausgewählte Publikationen: Beobachtung des Computers. Die Informationstechnik im Fadenkreuz der Systemtheorie, 1995; Verschriebene Fremdheit, 1999. LORENZ ENGELL: Professor für Medienphilosophie an der Fakultät Medien der Bauhaus Universität Weimar. Ausgewählte Publikationen: Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens, 1989; Der gedachte Krieg. Wissen und Welt der Globalstrategie, 1989; Das Gespenst der Simulation. Die Überwindung der Medientheorie durch Analyse ihrer Logik und Ästhetik, 1994; Bewegen beschreiben. Theorie zur Filmgeschichte, 1995; Ausfahrt nach Babylon. Vorträge und Essays zur Kritik der Medienkultur, 2000; Bilder des Wandels, 2003.

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ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN

CHRISTIAN FILK: Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikation und Kultur der Universität Luzern. Ausgewählte Publikationen: Die dunkle Seite der Medien (Mithg.), 2001; Media Synaesthetics (Mithg.), 2004; Zur Logik der Medienforschung, 2004; ferner: „Die nicht mehr ‚aristotelische‘ Medienkunst“, in: RuG, Jg. 24, 1998, Nr. 4; „Was ist ‚Medienphilosophie‘?“ (Mitverf.), in: AZP, Jg. 29, 2004, Nr. 1. MICHAEL GIESECKE: Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft mit den Schwerpunkten Kultur- und Medientheorie, Mediengeschichte an der Universität Erfurt. Ausgewählte Publikationen: Die Untersuchung institutioneller Kommunikation, 1988; Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, 1991, 1994, 1998; Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorgeschichte der Informationsgesellschaft, 1992; Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung (Mitverf.), 1997; Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft, Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, 2002 (mit CD-ROM). GÖTZ GROßKLAUS: Emeritierter Professor für neuere Deutsche Philologie an der Universität Karlsruhe und assoziierter Professor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Ausgewählte Publikationen: Natur als Gegenwelt: Beiträge zur Kulturgeschichte der Natur (Mithg.), 1983; Literatur in einer industriellen Kultur (Mithg.), 1989; NaturRaum: Von der Utopie zur Simulation, 1993; Medienzeit – Medienraum: Zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, 1995; Medien-Bilder. Inszenierung der Sichtbarkeit, 2004. MATHIAS GUTMANN: Juniorprofessor für Anthropologie zwischen Biowissenschaften und Kulturforschung am Institut für Philosophie der Philipps-Universität Marburg. Ausgewählte Publikationen: Jahrbuch für Geschichte und Theorie der Biologie (Mithg.), 1999, 2000; Kultur, Handlung, Wissenschaft (Mithg.), 2002; On Human Nature. Anthropological, Biological and Philosophical Foundation (Mithg.), 2002; Erfahren von Erfahrungen (Hg.), 2004. PETER JANICH: Professor am Institut für Philosophie der Philipps-Universität Marburg. Ausgewählte Publikationen: Grenzen der Naturwissenschaft, 1992; Konstruktivismus und Naturerkenntnis, 1996; Was ist Erkenntnis?, 2000; Was ist Wahrheit?, 1996, 2000; Logisch-pragmatische Propädeutik, 2001. GABRIELE KLEIN: Direktorin des Instituts für urbane Bewegungskultur und Professorin für Soziologie an der Universität Hamburg. Ausgewählte Publikationen: Electronic Vibration. Pop, Kultur, Theorie, 1999, 2004; Tanz, Bild, Medien (Hg.), 2000; Tanz, Theorie, Text (Mithg.), 2002; Is this real? Die Kultur des HipHop, 2003.

ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN

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SYBILLE KRÄMER: Professorin am Institut für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Ausgewählte Publikationen: Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes (Mithg.), 1997; Medien, Computer, Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien (Hg.), 1998, 2000; Sprache, Sprechakt, Kommunikation, 2001; Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? (Mithg.), 2002; Bild, Schrift, Zahl (Mithg.), 2003. REINHARD MARGREITER: Privatdozent am Institut für Philosophie der Humboldt Universität Berlin. Ausgewählte Publikationen: Ontologie und Gottesbegriffe bei Nietzsche, 1978; Probleme philosophischer Mystik (Mithg.), 1991; Heidegger: Technik, Ethik, Politik (Mithg.), 1991; Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung, 1997; Medienphilosophie (Studienlehrbrief der Universität Rostock), 2004. DIETER MERSCH: Professor für Medienwissenschaft an der Universität Potsdam. Ausgewählte Publikationen: Zeichen über Zeichen (Hg.), 1998; Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis, 2002; Ereignis und Aura. Untersuchungen zur einer Ästhetik des Performativen, 2002; Kunst und Medium, 2003; Die Medien der Künste. Beiträge zur Theorie des Darstellens (Hg.), 2003; Performativität und Praxis (Mithg.), 2003. STEFAN MÜNKER: Dr. phil., Kulturredakteur beim Fernsehen und Autor von Texten zur Medientheorie und Gegenwartsphilosophie. Ausgewählte Publikationen: Mythos Internet (Mithg.), 1997; Televisionen (Mithg.), 1999; Telefonbuch (Mithg.), 2000; Praxis Internet (Mithg.), 2002; Poststrukturalismus (Mithg.), 2000; Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs (Mithg.), 2003. LUDWIG NAGL: Außerordentlicher Universitätsprofessor am Institut für Philosophie der Universität Wien. Ausgewählte Publikationen: Charles Sanders Peirce, 1992; Textualität der Philosophie/ Philosophie und Literatur (Mithg.), 1994; Nach der Philosophie. Essays von Stanley Cavell, 1987, 2001; Pragmatismus, 1998; Filmästhetik (Hg.), 1999; Wittgenstein’s Legacy: Pragmatism or Deconstruction (Mithg.), 2001; Film/Denken (Mithg.), 2004. MARK POSTER: Chair of the Department of Film and Media Studies an der University of California/Irvine (USA); Mitglied des Departments of History und des Department of Information and Computer Science; Mitglied des Critical Theory Institute. Ausgewählte Publikationen: The Mode of Information, 1990; The Second Media Age, 1995; Cultural History and Postmodernity, 1997; The Information Subject, 2001; What’s the Matter with the Internet?, 2001.

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ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN

ALEXANDER ROESLER: Dr. phil., ehemals wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Philosophie der Technischen Universität Dresden, heute Lektor in einem Verlag. Ausgewählte Publikationen: Illusion und Relativismus. Zu einer Semiotik der Wahrnehmung im Anschluß an Charles S. Peirce, 1999; Einführung in den Poststrukturalismus (Mitverf.), 2000; Mythos Internet (Mithg.), 1997; Televisionen (Mithg.), 1999; Telefonbuch (Mithg.), 2001; Praxis Internet (Mithg.), 2002; Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs (Mithg.), 2003. MIKE SANDBOTHE: Professor für Medienphilosophie am Institut für Kommunikation der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Aalborg Universität (Dänemark). Ausgewählte Publikationen: Die Verzeitlichung der Zeit, 1998; Die Renaissance des Pragmatismus (Hg.), 2000; Subjektiviät und Öffentlichkeit (Mithg.), 2000; Pragmatische Medienphilosophie, 2001; Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs (Mithg.), 2003; Media Synaesthetics (Mithg.), 2004; Wozu Wahrheit? (Hg.), 2005. CHRISTIAN STETTER: Professor für Linguistik am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft sowie Dekan der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen. Ausgewählte Publikationen: Sprachkritik und Transformationsgrammatik, 1975; Schrift und Sprache, 1997; System und Performanz, 2004. BERND STIEGLER: PD Dr. phil., Programmleiter Wissenschaft im Suhrkamp Verlag. Ausgewählte Publikationen: Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Wirklichkeit im 19. Jahrhundert, 2001; Microsoft. Medien, Macht, Monopol (Mithg.), 2002; Die Eroberung der Bilder. Photographie in Buch und Presse 1816-1914 (Mithg.), 2003. DIETER TEICHERT: Außerplanmäßiger Professor an der Geisteswissenschaftlichen Sektion des Zentrums für Philosophie und Wissenschaftstheorie der Universität Konstanz. Ausgewählte Publikationen: Erfahrung, Erinnerung, Erkenntnis – Untersuchungen zum Wahrheitsbegriff der Hermeneutik Gadamers, 1991; Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ – Ein einführender Kommentar, 1992; Philosophie in Literatur (Mithg.), 1996; Personen und Identitäten, 1999. MATTHIAS VOGEL: Dr. phil., lehrt Philosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Ausgewählte Publikationen: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien, 2001; Wissen zwischen Entdeckung und Konstruktion. Epistemologische Debatten (Mithg.), 2003; Geist und Psyche. Auf dem Weg zu einer integrativen Theorie des Mentalen, 2004.

ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN

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LAMBERT WIESING: Professor für Vergleichende Bildtheorie am Bereich Medienwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ausgewählte Publikationen: Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Perspektiven der formalen Ästhetik, 1997; Bild und Reflexion. Perspektiven und Paradigmen gegenwärtiger Ästhetik (Mithg.), 1997; Phänomene im Bild (Mithg.), 2000; Philosophie der Wahrnehmung. Reflexionen und Modelle (Hg.), 2002.

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ZU DEN AUTORINNEN UND AUTOREN

PERSONENREGISTER

Abelinus, Johann Philipp 212 Adelmann, Ralf 341 Adorno, Theodor W. XX, XXIII, 65, 164 f., 170-174, 244, 248, 253, 257, 260 f., 305 ff. Adrichem, Christian van 212 Ahrens, Daniela 16 Albert, Hans 87 Alberti, Leon Battista 7, 10 Allport, Gordon W. 299 Alsted, Johann Heinrich 212 Anders, Günther XXIII, 76 f., 307 Antonioni, Michelangelo 318 Anzieu, Didier 68 Apel, Karl-Otto 113, 121, 223 Arendt, Hannah 102 Aristoteles XX, 114, 147, 205-208, 228, 232, 243 Arnheim, Rudolf XXIII, 304 f., 307 Artaud, Antonin 207 f. Atget, Eugène 12 Austin, Johan Longshaw 91, 120 f., 221 Bätschmann, Oskar 10 Baier, Wolfgang 264 Balanchine, George 188, 335 Baláz, Béla 287 Balzac, Honoré de 264 Bandler, Richard 41, 50 Barnouw, Dagmar 253 Barthes, Roland XXI f., 9, 72, 78, 119, 192, 224 f., 228, 253 f., 264 ff., 268, 274 Bateson, Gregory 50 Baudrillard, Jean XXV, 21, 28, 77, 245, 372, 383

Baudry, Jean Louis 285 Bausch, Hans 308 Bausch, Pina 191 Bazin, André 265, 290 f., 294, 328, 334 Beck, Ulrich 195 Becker, Barbara XVI f. Beethoven, Ludwig van 203 Bel, Jerôme 193, 195 Bell, Alexander Graham 278 Bellovacensis, Vincentius 212 Belting, Hans 150 f. Benjamin, Walter XXII f., 12, 210, 253 f., 258-261, 265, 267, 274, 303, 305, 310 Bense, Max XXIV, 294, 346 Benveniste, Emile 226 Berg, Alban 203 Berg, Klaus 299 Bergmann, Ingmar 331, 334, 339 Bergson, Henri 21 Bernardin de Saint-Pierre 12 Beuthan, Ralf XV ff., 21 Beyerlinck, Laurens 212 Blanchot, Maurice 124, 262 Blume, Horst-Dieter 206 Blumenberg, Hans 245 Boaistuau, Pierre 212 Bodin, Jean 212 Boehm, Gottfried 73 Böhme, Gernot 67 Böhme, Hartmut 71, 299 Boissard, Jean Jacques 212 Bolz, Norbert XVI, 183, 245, 268, 354 Borch-Jakobson, Mikkel 278 Bordieu, Pierre 185 Boxhorn, Marcus Zuerius 212 Brahms, Johannes 203

404 Brandom, Robert B. 124 Brauns, Jörg 293 Brecht, Bertolt XXIII, 203, 207, 211, 303 f., 305 Brunner, Helmuth 54 Brunotte, Ernst 70 Buber, Martin 364 Buchka, Peter 290 Bühler, Karl 47 Burkhardt, Marcus 377 Butler, Judith 124 Caduff, Corina 230, 232 Cäsar, Julius 212 Calvin, Johannes 213 Cameron, James 258 Canaris, Volker 191 Cantril, Hadley 299 Capa, Robert 78 Capurro, Rafael 222 Carlson, Marvin 207 Carson, Johnny 331 Cassirer, Ernst 3 ff., 103-106, 221, 244 Cavell, Stanley IX, XXIV, 253, 265, 283, 294, 315, 317, 322 f., 327 f., 334, 341 Cawelti, John G. 325 Chalmers, David 388 f. Chaplin, Charles 317, 330 Chapman, David 353 Chardin, Teilhard de 383 Château, Dominique 284 Childs, Lucinda 191 Chomsky, Noam XIX, 121, 138, 142 Christie, William 204 Church, Alonzo 349 Cicero, Marcus Tullius 212 Cleef, Lee van 360 Corballis, Michael C. 227 Corbin, Alain 67 Couchot, Edmond 16 f. Coy, Wolfgang 344 Cranco, John 188 Crary, Jonathan 253, 268 Crick, Francis Harry Compton 385 Culler, Jonathan 119 Cunningham, Merce 192, 194 Curtius, Ernst Robert 212

Personenregister

Czihak, Gerhard 38 Dahrendorf, Ralf 214 Darwin, Charles 345 Davidson, Donald 120, 168 Davies, Stephen 174 Deleuze, Gilles 14, 16, 32, 35, 118 f., 247, 253, 258, 283, 285, 290 ff., 355, 359, 365 De Marinis, Marco 209 Dennett, Daniel C. 350 f. Derrida, Jacques XVI, XIX, XXII, 21, 2832, 116 ff., 120, 139, 144, 222 f., 253, 278 f., 347, 355 Dery, Mark 366 Descartes, René 41, 242, 249 f., 382, 388 Dewey, John XX, 101, 164, 174 ff. Dibbell, Julian 369 Diderot, Denis 207 Diederichs, Helmut H. 299 Diller, Ansgar 306 Dilthey, Wilhelm 24, 114, 253 Dingler, Hugo 88 Dinkla, Söke 181 Dolar, Mladen 223 Donath, Judith 373 Dornes, Martin 227 Dotzler, Bernhard J. 66 Downs, Roger M. 8 Dreyfus, Hubert 347, 353, 363, 388 Dreyfus, Stephen 388 Dubois, Philippe 265 Duncan, Isadora 189 Dutt, C. 199 Dyson, Esther 383 Eastwood, Clint 360 Eco, Umberto 116, 295 Egginton, William VIII Eisenhower, Dwight D. 317 Eisenstein, Elisabeth L. 246, 249 Eisenstein, Sergej XXII, 287 f. Elam, Keir 209 Elgin, Catherine 142, 165 f. Elias, Norbert 186 f. Ellrich, Lutz XXIV f., 24 f., 28, 355 Engell, Lorenz XXII f., 23

Personenregister

Enzensberger, Hans Magnus 303 Epstein, Jean 283 Esposito, Elena 181, 386 Euklid 85 Evert, Kerstin 181 Farzanfar, Ramesh 374 Faulstich, Werner 302 Fehr, Johannes 116 Fiedler, Konrad 154 f. Fiedler, Leslie 319 Fietz, Rudolf XIII, 181, 230, 301 Filk, Christian XIII f., XXIII, 181, 196, 301 Fischer-Lichte, Erika 189, 202, 209, 211 Flannery-Dailey, Frances 389 Fleck, Ludwig 248 Flores, Fernando 353 Flusser, Vilém XXII, 13, 22, 33, 149 f., 229, 253 f., 256-260, 267, 275 ff., 280 Fodor, Jerry A. 350 f. Forsythe, William 188, 193 Foucault, Michel IX, XXII, 12, 17, 212, 253 f., 258 f., 261 ff., 265, 267, 359 Freeland, Cynthia F. 284 Freeman, Robert 374 Frege, Gottlob 26, 114, 134 Freud, Sigmund 41, 278, 345 Freund, Gisèle 260 Friedrich, Malte 193 Fromanger, Gérard 261, 263 Frühwald, Wolfgang 299 Frye, Northrop 320 Fuchs, Georg 190 Fuhrmann, Manfred 205 f. Fynsk, Christopher 278 Gadamer, Hans-Georg 113, 118, 207 f., 353 Galilei, Galileo 11 Garbo, Greta 330 Gehlen, Arnold 343 Gelder, Lindsy van 368 Georgiades, T. G. 232 Ghurye, Kumud G. 55 Gianfreda, Sandra 10 Gibson, William 381

405 Giesecke, Michael XV ff., XXII, 6 f., 9, 11, 48, 56, 69, 73, 182, 244, 246, 250 Gilder, George 383 Girard, Gilles 209 Gmelin, Otto 308 Godard, Jean-Luc 318, 331 Goebbels, Joseph 306 Gödel, Kurt 352 Goethe, Johann Wolfgang von 49, 186, 207 Goffmann, Erving 214 Gogh, Vincent van 135 Gondek, Hans-Dieter 29 González-García, José M. 212 Goodman, Nelson XIX f., 131 ff., 135, 142, 151 f., 156, 164-169, 174 ff., 207 ff., 245 Goody, Jack 55 Gough, Kathleen 55 Grampp, Sven XIII f., 196, 301 Grau, Christopher 388 Grice, Herbert Paul 115 Griem, Julika 17 Griese, Hartmut M. 214 Griffith, David W. 287 f., 290, 292 Grimm, Jakob 42 Grinder, John 41, 50 Gröschner, Alexander 377 Großklaus, Götz XV, XVII, 12, 14 f., 22, 27 f., 33 Guattari, Félix 16, 247, 258 Güdler, Jürgen 300 Gutenberg, Johannes 239 Gutmann, Mathias XVIII, XXI, 99 ff., 103, 106, 110 Habermas, Jürgen 120 f., 164, 186 f., 223, 374 f. Haeckel, Ernst 40 Hamann, Johann Georg 113 Hanslick, Eduard 163 Hartmann, Dirk 87 Hartmann, Frank XIII, XXII, 47, 181, 246, 249, 301 Havelock, Eric A. 7, 243 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich VII, XX, 21, 31, 100, 105 f., 118, 172, 205, 207,

406 212, 242, 245, 249, 258 Heibach, Christiane 44, 46, 61 Heidegger, Martin 21, 27, 114, 118, 123, 240 f., 244, 278, 338, 340, 346 f., 353, 388 Heider, Fritz 155, 293 Heim, Michael 389 Herder, Johann Gottfried 44, 51, 113 Hertler, Christine 110 Hesiod 243 Hesse, Jan O. 341 Hickethier, Knut 23, 25 Hindemith, Paul 170 Hitchcoock, Alfred 323 Hitler, Adolf 306, 309 Hoensch, Jarmila 294 Hoernle, Edwin 256 Holbach, Paul Henri Thiry Baron d’ 41 Holert, Tom 261 Holzkamp, Klaus 45 Horkheimer, Max XXIII, 65, 253, 257, 260 f., 305 ff. Hüsch, Anette 7, 9 Humboldt, Wilhelm von 113 ff., 142 Humphrey, Doris 189 Husserl, Edmund XVIII, 21, 26, 100 f., 154, 244, 280, 388 Ihde, Don 222 Ishagpour, Youssef 290 Iversen, Margaret 265 Jackendoff, Ray 164 Jäger, Ludwig 116, 140, 143, 223 Jakobson, Roman 201 Janich, Peter XVII f., XX, 87, 92, 99, 101 f. Jansson, Jan 212 Jauss, Hans-Robert 214 Jesionowsky, Joyce E. 288 Johnson, Deborah 365 Jonas, Hans 148 ff., 152 Jung, C. G. 278 Kant, Immanuel 32 f., 113, 155, 172, 221, 242, 250, 258, 303, 363, 365, 370 f., 373 f., 388

Personenregister

Kaplan, Bonnie 374 Kapp, Ernst 343 Kapust, Antje 74, 79 Keaton, Buster 317 Keilbach, Judith 341 Keller, Helen 278 Kempe, Fritz 264 Keppler, Johannes 345 Kerckhove, Derrick de 7 Kiefer, Marie-Luise 299 Kierkegaard, Søren 363 Kirchmann, Kay XIII f., 196, 301 Kittler, Friedrich A. XVI, XXII, XXV, 22, 25, 246, 249, 268, 354, 365, 384 Klein, Gabriele XX f., 181, 193 Klossowski, Pierre 262 Kluge, Alexander 14 Knilli, Friedrich 308 König, Josef 103 Kolesch, Doris 225, 229 Koller, H. 232 Kolumbus, Christoph 11 Konfuzius 57 Kopernikus, Nikolaus 11 Kowzan, Tadeusz 209 Kracauer, Siegfried 253, 260 Krämer, Sybille VII, XXI ff., 99, 130, 134, 138, 140, 183, 185, 222 f., 228, 230, 343, 391 Krauss, Rolf H. 253, 259, 268 Krauss, Rosalind 264 Kreuzer, Helmut 299 Kristeva, Julia XXI, 224 f., 228 Kuleschow, Lew 288 Laban, Rudolf von 187, 193 Lacan, Jacques 119, 265, 310 Lagaay, Alice XIV, XVII, 223 Laing, Ronald 278 Lamb, Charles 322 La Mettrie, Julien Offray de 41 Lang, Fritz 322 Langthaler, Rudolf VII Lanier, Jaron 381 Larue, Anne 211 Lauer, David XIV, XVII Leeker, Martina 181

Personenregister

Lehrdahl, Fred 164 Leibniz, Gottfried Wilhelm 105, 242, 388 Lenk, Hans 354 Leone, Sergio 360 f. Leonhard, Joachim Felix 300 Lerg, Winfried B. 304 Leroi-Gourhan, André 142 f. Le Roy, Xavier 195 Leschke, Rainer XIV Lessing, Gotthold Ephraim 49, 51, 206, 233 Leupold, Jacob 212 Levinas, Emmanuel XXV, 79, 124, 222, 229, 364 Lévi-Strauss, Claude 3 Lichtenberg, Georg Christoph 285 Liebsch, Dimitri 284 Lindbergh, Charles Augustus 303 Lindner-Braun, Christa 299 Listøl, Gunnar 359 Löwith, Karl 214 Lorenz, Konrad 49 Louis, Morris 325 f. Lukrez 394 Lübbe, Hermann 28 Lünig, Johann Christian 212 Luhmann, Niklas XV, 37, 134, 164, 250, 287, 299 f. Lyotard, Jean-François 120, 122 Mahrenholz, Simone 166, 169 Mailer, Norman 340 Mainzer, Klaus 349, 351 Mallarmé, Stéphane 262 Mander, Jerry 339 Manovich, Lev 385 Man, Paul de 118 f. Marc Aurel 212 Marcel, Gabriel 364 Marey, Jules Etienne 13 Margreiter, Reinhard VII, XIII, XXI ff., 184, 221, 240, 354 Markner, Reinhard 259 Marthaler, Christoph 191 Marx, Karl 24, 345 Maturana, Humberto 50 Matussek, Peter 299

407 Mauthner, Fritz 245 Mayer, Mathias 67 Mayr, Brigitte 284 McCarthy, John 348 McClelland, J. L. 353 McGinn, Colin 388 McNeill, D. 227 McLuhan, Herbert Marschall XVI, XXII, 7 f., 44, 66, 134, 185, 246-249, 274, 276, 302, 309 f., 343 Mead, George Herbert 120 Meiselas, Susan XVII, 76, 78 f. Merleau-Ponty, Maurice XVI, 33, 67, 72, 77, 184, 353 Mersch, Dieter XIV, XVIII, XXI, 115, 120-123, 221, 224 f., 228, 295 Meschonnic, Henri XXI, 224, 226, 228 Metz, Christian 159 Meyer-Drawe, Käte 67, 72, 74 Meyrowitz, Joshua 367 Miller, Hillis 259 Miller, Russell 78 Minsky, Marvin XXV, 383 Misch, Georg 102 Mohl, Alexa 41, 50 Mongin, F. 199 Monteverdi, Claudio 132 Moravec, Hans XXV, 383 Mori, Izumi 137 Morris, Charles William 95, 115 Mülder, Inka 253 Müller, Lothar 299 Müller-Pohle, Andreas 258 Münker, Stefan XIII, XXII, XXV, 38, 66, 158, 240, 281, 301, 344, 381 f., 391 f. Mulvey, Laura 290 f. Muybridge, Edward 13 Nachtwey, James XVII, 76, 78 Nadar, Félix 264 Nagl, Ludwig VII, XIII f., XXVI, 151, 284, 294 ff., 300 f., 341 Neubecker, Annemarie Jeanette 206 Neumeier, John 188 Newton, Isaac 49 Nida-Rümelin, Julian 245 Nietzsche, Friedrich IX, XXI, XXV, 102,

408 114, 207, 222, 230 ff., 245, 248 f., 253, 274, 338, 340, 362, 364 f., 373, 375 f. Nijinsky, Waclaw 188 Noland, Kenneth 325 f. Nora, Pierre 13 Nussbaum, Martha C. 208 Nyíri, Kristóf XXII, 281 Ofenbauer, Christian 163 Olitsky, Jules 325 Ong, Walter J. XXII, 7, 244, 246, 249 Ortelius, Abraham 212 Oswald, Lee Harvey 367 Oudart, Jean-Pierre 286 Paddison, Max 172 Panowsky, Erwin 287 Panzera, Charles 225 Parker, Robert 206 Parsons, Talcott 37, 120, 164 Pavis, Patrice 209 Paxton, Steve 191 f., Peirce, Charles Sanders 95, 114, 116 f., 140, 151 f., 159, 221, 253, 265, 274, 294 ff. Peirce, Kimberly 369 Penrose, Roger XXIV, 352 Pert, Candance B. 41 Peters, Maria 67 Pflug, Isabel 211 Picard, Max 306 Picasso, Pablo 135 Pickard-Cambridge, Arthur 206 Pini, Maria 183 Platon 55, 140, 211, 226, 243, 286, 382 Plessner, Helmuth XVIII, 100 f., 186, 214, 229 Plissart, Marie-Françoise 253 Plumpe, Gerhard 256, 303 Poe, Edgar Allan 229 Popitz, Heinrich 214 Porter, Edwin 360 Posner, Roland 201 Poster, Mark IX, XXV, 344 Propp, Vladimir 325 Putnam, Hilary XXIV, 349 ff., 382

Personenregister

Quine, Willard van Orman 120 Raimarus, Nicolaus 212 Rapp, Uri 214 Rehkämper, Klaus 152, 155 Reuter, Gerson 163 Rheingold, Howard 366 Riethmüller, A. 232 Rivière, Jean-Loup 229, 231 Robertson, Noel 206 Roesler, Alexander XIII, XXII, XXIV, 38, 116, 158, 185, 279, 281, 294, 301 Rohbeck, Johannes 106 Ronell, Avital XXII, 277 f., 280 Roonen, Adriaan van 212 Rorty, Richard XIII f., XXIII, 113 Rosen, Charles 325 Rosiny, Claudia 181 Rothemund, Kathrin 377 Rothko, Marc 325 Rothman, William 329 Rotman, Brian XXI, 224, 227 f. Rousseau, Jean-Jacques 41 Ruby, Jack 367 Rumlhart, David E. 352 Sachs-Hombach, Klaus 147, 153, 155 Saenger, Paul 362 Salgado, Sebastiano XVII, 76, 78 Sample, Colin XXI, 224, 226 ff. Sandbothe, Mike VIII, XIII, XXVI, 21, 25 f., 34, 38, 47, 59, 96, 99, 158, 181, 199 f., 251, 300 f., 347, 388 Sartre, Jean-Paul 149 f., 154 f., 264 Sassower, Raphael 364 Saur, Abraham 212 Saussure, Ferdinand de 114-117, 141, 144, 223 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 100 Scherer, Günther 52 Schiller, Friedrich 207 Schmidt, Siegfried J. 47, 299, 390 Schmitz, Hermann 184 Scholz, Oliver R. 147 Schopenhauer, Arthur 24, 253 Schostakowitsch, Dimitri 132 Schrage, Dominik 304

409

Personenregister

Schramm, Helmar 211 Schulte-Sasse, Joachim 200 Schulz von Thun, Friedemann 47 Schwaab, Herbert 341 Schweikle, Günther 361 Schweikle, Irmgard 361 Schwemmer, Oswald 248 Schwitzke, Heinz 308 Scruton, Roger 168 f. Searle, Johan R. XXIV, 120 f., 170, 202, 351 f. Sechaud, Eveline 68 Seel, Martin 131, 135, 167, 301, 386, 389, 393 Seneca, Lucius Annaeus 211 Serres, Michel 69 Shakespeare, William 204, 322 f. Shannon, Claude E. XVII, 92 Shusterman, Richard 385 Simmel, Georg 208, 274 Simpson, O. J. 367 Singer, Wolf 41 Smith, Adam 51 Smith, Daniel 365 Sobchak, Vivian 283 Sontag, Susan 76 f., 268 Spigel, Lynn 367 Spinello, Richard A. 366 Spinoza, Baruch de VII, 242 Springorum, Friedrich XXII, 253-256, 258 f., 267 Stahlhut, Marco 228 Stauff, Markus 341 Stea, David 8 Steinmetz, Ralf 310 Stella, Frank 325 f. Stenger, Nicole 383 Stetter, Christian XVIII f., XXI, 115, 133, 136, 139, 141, 234 Stiegler, Bernd XXII, 255, 261, 267 Stoessl, Marlen 260 Strateman, Wilhelm 212 Strawinsky, Igor 335 Strindberg, August 267 Sziborsky, Lucia 178 Szondi, Peter 207

Tausk, Victor 339 Taussig, Michael 361 Tavani, Herman 373 Tebbel, John 359 Teichert, Dieter XX f., 206, 208, 213 Thoreau, Henry David 337 Tieck, Ludwig 204 Todorov, Tzvetan 321, 323 Toeplitz, Jerzy 290 Toffler, Alvin 383 Tolkien, John Ronald R. 322 Trettin, Kaethe 181 Turing, Alan 345, 349-352 Turner, Frederick Jackson 360 Tympe, Matthäus 212 Utz, Peter 51 Valéry, Paul 181 Vandenbunder, André 294 Vigne, Daniel 369 Virilio, Paul XXV, 21, 193, 383 Vogel, Matthias XIII, XIX ff., 34, 106, 164, 174-177, 181, 301 Voltaire (Francois-Marie Aronet) 42, 71 Wachowski, Andy 381 Wachowski, Larry 381 Waechter, Matthias 360 Wagner, Rachel 389 Wagner, Richard 44 Waldenfels, Bernhard XVI, XXI, 68, 72 ff., 124, 222, 224 ff., 228, 384 Wallach, Eli 360 Walther, Elisabeth 294 f. Waltz, Sasha 193 Waniek, Eva 284 Warnke, Martin 6 Warshow, Robert 316 Wartenberg, Thomas E. 284 Watson, James Dewey 385 Watson, Thomas A. 278 Watzlawick, Paul 47 Weaver, Warren XVII, 92 Weber, Max 348 Weber, Samuel 278 Weber, Stefan 241, 300

410 Weber, Thomas 259 Webern, Anton 163 Weingarten, Michael 101 f. Weise, Eckhard 290 f. Welles, Orson XXII f., 284, 289, 291-294, 302 Wells, Herbert G. 302 Welsch, Wolfgang 354, 383, 390 Wertheim, Margarete 16, 18, 383 Wiener, John 359 Wiener, Norbert XXIV, 345 f. Wiesing, Lambert XIX, XXI, 26, 159, 161 Wigman, Mary 186, 189 Wiles, David 206 Williams, Robin 331 Wimmer, Michael 221, 228, 234 Winkler, Hartmut 384, 390 Winograd, Terry 353 Winters, Jonathan 331 Wittgenstein, Ludwig VII, XIV, XXIII, XXVI, 113 ff., 120, 123, 141, 177, 221, 253, 351 Wright, Georg Henrik von 87 Wright, Will 360 Yaross Lee, Judith 362 Yukawa, Shiro 57 Zadek, Peter 191 Zeuch, Ulrike 51 Zipprich, Christa 181 Zumthor, Paul 225 Zwantzig, Zacharias 213 Zwinger, Theodor 213

Personenregister

Deutsche Zeitschrift für Philosophie Sonderband Bereits erschienene Sonderbände der DZPhil: Band 1: Stanley Cavell Nach der Philosophie Essays Ludwig Nagl, Kurt R. Fischer (Hrsg.) 2001. 252 S., € 39,80 ISBN 3-05-003421-1

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Band 4: Die Moralität der Gefühle Sabine A. Döring, Verena Mayer (Hrsg.) 2002. 246 S., € 49,80 ISBN 3-05-003686-9

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