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German Pages 300 [301] Year 2018
Gerhard Schweppenhäuser (Hrsg.)
Handbuch der Medienphilosophie
WBG� Wissen verbindet
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.
© 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Olaf Mangold Text &Typo, Stuttgart Einbandgestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26940-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74357-5 eBook (epub): 978-3-534-74358-2
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Schweppenhäuser
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1. GRUNDLEGUNGEN
Philosophien des Medialen. ,Zwischen' Materialität, Technik und Relation Dieter Mersch Medialität und Heteronomie. Reflexionen über das Botenmodell als Ansatz einer Medienphilosophie Sybille Krämer
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2. PHÄNOMENOLOGISCHE THEORIEN
Phänomenologisches und ästhetisches Schauen im Ausgang von Husserl und Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Friedrich
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Jenseits der Physik - Geltungen und submediale Räume. Zur phänomenologischen Medientheorie von Lambert Wiesing und Boris Groys . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Bonnemann
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„Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wirklich". Medienphänomenologie und Medienkritik bei Günther Anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz
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3. SEMIOTISCHE THEORIEN
Ernst Cassirer als Medientheoretiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Recki
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Zeichen, Sprache, Bild: Barthes und Baudrillard Thomas Friedrich und Gerhard Schweppenhäuser
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4. HERMENEUTISCHE UND KULTURALISTISCHE THEORIEN
Vilem Flussers Medienphilosophie als Theorie rational-magisch kodierter Medienkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rodrigo Duarte
90
Inhalt
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Mfowv.Das Dazwischen als paradoxer Ort der universalen und partikularen Kultur .................................................... Stavros Arabatzis 5.
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DIALEKTISCHE THEORIEN
Zwischen Apparatur und Wahrnehmung, Sprache und Bild, Reflexion und Erinnerung: Medien bei Walter Benjamin ................................. Sven Kramer Zum Begriff der Vermittlung bei Adorno Gerhard Schweppenhäuser
109 117
6. ANALYTISCHE THEORIEN
Analytische Medienphilosophie Josef Rauscher Abbildlichkeit und Transparenz der Zeichen.Otto Neuraths sozialdemokratische Bildpolitik ................................................................ Johan F. Hartle
125
137
7. TRANSZENDENTALE UND KONSTRUKTIVISTISCHE THEORIEN Transzendentalphilosophie und Media Turn Reinhard Margreiter
144
Medienkonstruktivismus Christian Bauer
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8. MODERNE UND POSTMODERNE THEORIEN
Interface.Manifestation der Medienmoderne Frank Hartmann Differenz, Zeit, Raum.Mit den Medien denken: Jacques Derrida und Gilles Deleuze ........................................................ Klaus Wiegerling Ideologie, Phantasie, Medien: Zizek .......................................... Hyun Kang Kirn
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174 183
Inhalt
9.
7
TECHNIKORIENTIERTE THEORIEN
Medientaktilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Ruf
191
Medien der Philosophie, Philosophie der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friedrich Kitt/er
200
Friedrich Kittlers Medientheorie und der Fall Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Klein
209
10.
HANDLUNGSORIENTIERTE THEORIEN
Schreibmaschine, Stimmgabel, Architektur: Instrumentalität und Materialität in Nietzsches Medienphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg H. Gleiter
217
Sehen als performative Praxis Eva Schürmann
230
Medien und Erkenntnis Mike Sandbothe
238
11. KRITIK
Die polarisierende Wirkung der Medienphilosophie. Eine Bestandsaufnahme Lambert Wiesing 12.
247
ANGEWANDTE MEDIENPHILOSOPHIE
Intermedialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniel Martin Feige
256
Medienästhetik Christiane Voss
264
Medienethik - Verantwortung und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bike Bohlken
273
Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung Gerhard Schweppenhäuser
1. Anfänge Zu Anfang des Jahrtausends machte „Medienphilosophie" als neue philosophische Subdis ziplin im deutschen Sprach- und Kulturraum von sich reden. Kurz zuvor war die weltweite wirtschaftliche Spekulationseuphorie auf dem Gebiet der „neuen Medien" und der digitalen Technologien zusammengebrochen. Martin Seel, seinerzeit Philosophieprofessor in Gießen, verhieß der Medienphilosophie damals nur eine kurze Lebensdauer, denn sie habe keinen genuinen Themen- und Methodenbereich. Aber eines habe sie, nämlich die Funktion eines Korrektivs innerhalb des arbeitsteiligen Betriebs der Philosophie. Ähnlich, wie beispiels weise eine „feministische Ethik" zwar eigener disziplinärer Substanz ermangele, aber durch aus helfen könne, blinde Flecken im Ethik-Diskurs aufzuhellen, lägen die Dinge auch mit der Medienphilosophie: ,,Sie ist keine neue Disziplin neben den anderen Disziplinen", meinte Seel (2003: 10); aber sie könne immerhin dafür sensibilisieren, dass menschliche Praxis generell „mediale Praxis" (Seel 2003: 15) ist. Sie könne und solle auf Artikulationen dieses Sachverhalts aufmerksam machen, die womöglich nicht ausreichend beachtet wür den, und anschließend ihren Betrieb wieder einstellen. Es ist anders gekommen. Medienphilosophie hat sich über den Tag hinaus als akademi scher Forschungs- und Lehrbereich etabliert. Die Diskussionen über Medienphilosophie haben eine mehr oder weniger zusammenhängende Gestalt angenommen, und dabei zeich nen sich verschiedene Grundlinien für die Bestimmung ihres Gegenstandes und ihrer Me thoden ab. Auch wenn die sogenannte „Dotcom-Blase" geplatzt ist, haben sich Lebenswelt und kommunikative Alltagspraxis durch den unumgänglichen Gebrauch digitaler Medien in nicht geringem Maße verändert. Die neuen Schwierigkeiten und Erleichterungen, die mit dem sozio-medialen Wandel verbunden sind, werden von Philosophinnen und Philoso phen reflexiv eingeholt und auf Begriffe gebracht. Dabei wird nicht selten die Frage nach dem Begriff des Mediums selbst auf die Tagesordnung gesetzt und das Forschungsgebiet damit wieder auf Distanz zum unmittelbaren Gegenwartsbezug gebracht. Einige Philoso phinnen und Philosophen argumentieren, dass die Zeit reif sei für einen „medial turn" in der Philosophie, weil Medien aller Art die Ermöglichungsbedingungen für Wahrnehmung, Kommunikation und Erkenntnis sind. Andere plädieren wiederum dafür, dass sich der phi losophische Diskurs für die einzelnen Medienwissenschaften öffnen solle - sei es, um ihnen eine solide wissenschaftstheoretische Grundlage zu geben, sei es, um Medienpraktiker phi losophisch zu beraten (siehe dazu Wiesing 2008: 30ff.). Gleichwohl tut ein gegenwärtiger Versuch, einen Überblick über relevante medienphilo sophische Positionen zu gewinnen, gut daran, die Skepsis ernst zu nehmen, die sich gegen über allzu partikular definierten Bereichsphilosophien regen kann (die womöglich präsen-
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Gerhard Schweppenhäuser
tiert werden, als seien sie der endlich entdeckte Mittelpunkt des philosophischen Universums). Reicht es nicht aus- so darf nach wie vor gefragt werden-, davon zu spre chen, dass zu gegebenen Anlässen verschiedene philosophische Begriffe und Modelle des Medialen und der Medien formuliert und reflektiert werden? Warum belässt man es nicht dabei, von „philosophischen Theorien der Medien" (oder des „Medialen" bzw. der „Media lität"1) zu sprechen? Diese Fragen sind keineswegs bloß rhetorisch. Man kann sie mit Hilfe einer Analogie erläutern. Philosophinnen und Philosophen können methodisch kontrol liert über anthropologische Phänomene wie Liebe und Hass oder über gesellschaftliche Phä nomene wie die Verwerfungen des Sozialen durch neoliberale Konkurrenz nachdenken, ohne dass an Hochschulen sogleich Lehrstühle für „Emotionsphilosophie" oder „Kapitalis musphilosophie" eingerichtet werden müssten. Der bestehende Fächerkanon philosophi scher Institute reicht aus, um dergleichen philosophisch zu reflektieren: In praktischer Phi losophie und philosophischer Anthropologie werden Theorien der Gefühle erörtert, in Sozialphilosophie und Ethik geht es (neben vielem anderen) auch um Probleme des wirt schaftlichen Handelns und Gehandeltwerdens der Menschen in der Moderne. Das markante Label „Medienphilosophie" hat sich im akademischen Betrieb nicht selten dann bewährt, wenn es galt, neue Lehrstühle und Forschungsbereiche zu schaffen, finanzi elle Mittel für Stellen bereitzustellen und Diskursdomänen durch Tagungen und Publikati onen zu etablieren. Aber darum ging und geht es ja nicht nur- sondern stets auch darum, den Kanon akademischer Themen- und Methoden durch spezifische, an neuartigen Per spektiven, Gegenständen und Diskursfeldern orientierte Forschungsgebiete seriös auszudif ferenzieren. Und zwar sowohl an nichtphilosophischen Fachbereichen, denen an philoso phischer Reflexion und Begleitung von Forschung und Lehre gelegen ist, etwa auf dem Gebiet von Kunst und Design, als auch innerhalb der Philosophie. Das wiederum hat Tradition. Wer nimmt heute noch Anstoß, wenn die Rede von Religi onsphilosophie, Naturphilosophie, Staats- und Rechtsphilosophie oder Technikphilosophie ist? Diese Richtungen zählen unstrittig dazu, wenn es um die ,,,Disziplinen', d. h. die syste matischen Gebiete der Philosophie" geht, also um Gebiete, ,,die sich aus spezifischen mate rialen und formalen Perspektiven herauskristallisiert haben." (Pieper 1998: 8) Annemarie Pieper hat den Kanon philosophischer Diskursfelder benannt, der sich Ende des 20. Jhs. etabliert hatte, und sie hat dabei die unterschiedliche Historizität der einzelnen Felder nicht unerwähnt gelassen: ,,Dabei blicken ,alte' Disziplinen wie die Ethik, die Logik, die Politische
Günther Anders (1986: 441) schrieb im Jahre 1980: .,Ob der Ausdruck ,Medialität' [ ...]den Anspruch erheben darf, eine philosophische Kategorie zu sein, das bleibe dahingestellt." Bei aller Vorsicht war Anders aber doch schon der Meinung, dass dieser Ausdruck philosophischen Rang hat. Er hatte ihn ja selbst eingeführt, und zwar bereits im Jahre 1956, als die Spatzen diese Thematik noch nicht von den Dächern der Philosophie pfiffen. Anders hat den Begriff seinerzeit in dem Sinne verwendet, in dem die neuere Soziologie heute von ., Mediatisierung" spricht (Bauman 1992; Pfadenhauer u. Grenz 2017: 3-13), und damit hat er ihn von vorn herein einen medienethischen Akzent gegeben. ,Medialisiertes' oder eben ,mediatisiertes' Handeln ist dem nach nicht mehr zielbewusst und verantwortungsvoll; Menschen, die ,mediatisiert' agieren, machen dort, wo sie hingestellt werden, konformistisch mit. Das wäre kaum möglich, wenn sie nicht von den Konsequenzen ihres Tuns durch eine Reihe von Vermittlungsschritten auf Distanz gehalten würden.
Einleitung
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Philosophie und die Metaphysik auf eine längere Geschichte zurück als die ,jüngeren' Ästhe tik, Anthropologie, Geschichtsphilosophie und Sozialphilosophie oder die ganz ,jungen' feministische Philosophie, Kulturphilosophie, Philosophie des Geistes und Technikphilo sophie. Einige sind zwar modernen Ursprungs, haben aber gleichwohl eine lange Vorge schichte, so z.B. die Erkenntnistheorie, die Rechtsphilosophie und die Wissenschaftstheorie. Andere wurzeln zwar in der Antike, haben es aber aufgrund der Konflikte, die die Mensch heit heute zu zerreißen drohen, mit einem aktuellen Aufgabenbereich zu tun: die Ange wandte Ethik, die Naturphilosophie, die Philosophiedidaktik und die Religionsphiloso phie." (Pieper 1998: 9; im Orig. z. T. kursiv)
2. Paradigmen Und nun also die Medienphilosophie. Die Irritation, die durch die Formierung dieser jüngs ten akademischen Subdisziplin ausgelöst wurde, ist im Schwinden begriffen. Eine Irritation anderer Art bleibt gleichwohl bestehen, doch die könnte sich als produktiv erweisen: Der Name „Medienphilosophie" wird uneinheitlich verwendet. Auch wenn man nicht gleich von einer Äquivokation sprechen muss, so steht er doch für mindestens zwei verschiedene Ansätze. Der eine (wenn man so will: niedrigschwellige) steht für eine Arbeitshaltung, die sich mit philosophischer Methodik einem neu erschlossenen bzw. genuin neuen Phäno menbereich zuwendet, um ihn, je nach methodologischem Paradigma, zu erklären, zu ver stehen, zu beschreiben oder zu bewerten. 2 Der andere (wenn man so will: anspruchsvollere) Ansatz besteht darin, dass über und durch die Wahl jenes Phänomenbereichs ein neues philosophisches Paradigma begründet werden soll. ,,Medienphilosophie" ist dann eben ,,Philosophie der Medien" oder „mediale Philosophie" - und nicht lediglich ein Philoso phieren über einen Gegenstand namens „Medien". Für die Berechtigung dieses Anspruchs lässt sich der evidente, nur scheinbar triviale Gedanke ins Feld führen, dass ein Philosophie ren über den Gegenstand „Medien" durch seinen Gegenstand nicht gänzlich unberührt bleiben kann, weil dessen Reflexion ja nicht anders vonstattengehen kann als je vermittelt durch irgendein Medium oder mehrere Medien. 3 Ob es überzeugen kann, wenn bei der Rede von einer „Philosophie der Medien" der genitivus subjectivus so stark belastet wird, 2 In diesem Ansatz wird „ Medienphilosophie als eine Bereichsphilosophie" verstanden, ,,die eine philosophi sche Reflexion auf die Medien sein möchte, vor allem im Sinne der Medien als bloßen Mitteln der Kommuni kation. Wie Technikphilosophie nicht selbst eine Erscheinungsform von Technik ist und wie die Staatsphiloso phie nicht selbst etatistisch sein muss, so gäbe sich eine solche Medienphilosophie ganz unberührt von ihrer eigenen möglichen Medialität." (Röttgers 2012: 354). 3 Solche Selbstreferenz markiert formale Gemeinsamkeiten und Differenzen beispielsweise mit der Disziplin ,,Geschichtsphilosophie". Dieser Name kann für eine philosophische Forschungsrichtung verwendet werden, die von der Auffassung getragen ist, dass es im Untersuchungsgegenstand „Geschichte" selbst so etwas wie eine innere philosophische Logik gibt. ,,Geschichtsphilosophie" ist dann die Explikation historischer Tenden zen und ihrer Gesetzmäßigkeiten, die, unter unterschiedlichen normativen Vorzeichen, im Prinzip teleologisch verstanden werden. Aber solche Selbstreferenz ist nicht unerlässlich, denn „Geschichtsphilosophie" muss sich nicht an derlei Supposition binden. Sie kann auch philosophische, d. h. kategorial reflektierte, Betrachtung historischen Geschehens sein, oder auch analytische Betrachtung des Sprechens über historisches Geschehen.
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Gerhard Schweppenhäuser
dass Medienphilosophie als ein genuines Philosophieren der Medien selbst aufzufassen ist, wie zuweilen vorgeschlagen wurde, können wir getrost dahingestellt sein lassen. Von der anregenden Mehrdeutigkeit des Namens „Medienphilosophie" abgesehen (bzw. diese übergreifend) kann das allgemeinste Leistungsangebot, das sich von Konzepten der Medienphilosophie einfordern lässt, in Abgrenzung von verwandten, aber epistemisch wie methodologisch differenten Forschungsrichtungen folgendermaßen beschrieben werden: Wahrend die Medienwissenschaft an Empirie und empirischen Forschungsmethoden orien tiert ist und Medientheorien sich an Bezugswissenschaften wie Literatur- und Kulturwissen schaft, Soziologie, Philosophie und Psychologie sowie deren Paradigmen abarbeiten, ist Me dienphilosophie die begrifflich-kategoriale Klärung der Grundlagen dessen, was unter einem ,,Medium" zu verstehen ist. Diesem Angebot entspricht eine nicht geringe Nachfrage - und, wo diese ausbleibt, häufig ein objektiver Bedarf (nicht nur in der Alltagssprache, sondern auch in den Medienwissenschaften). Um zu zeigen, dass eine Medienphilosophie gebraucht wird, sollte man also zeigen kön nen, dass sie etwas leisten kann, das die Medienwissenschaften nicht können oder wollen.
3. Abgrenzungen In der empirischen Medien- und Kommunikationswissenschaft herrscht Uneinigkeit darü ber, ob mit einem weitgefassten oder mit einem enggefassten Medienbegriff gearbeitet wer den sollte. Sehr weite Medienbegriffe erweisen sich häufig als ungeeignet für spezifische Forschungen, weil sie zu umfassend sind; sie bestimmen - von Felswänden über Pferde bis hin zur Luft - beinahe alles als „Medium", was in irgendeiner Weise mit dem Transport von irgendetwas zu tun hat. Zu eng gefasste Medienbegriffe erweisen sich hingegen als ungeeig net für ein substanzielles Verständnis des Gegenstandes, weil sie lediglich branchenübliche ad-hoc-Definitionen in die Theorie übertragen, wie etwa den journalistischen Begriff der ,,Medien", der mehr oder weniger synonym mit „Massenmedien" ist. Werner Faulstichs vielbenutzte Einführung in die Medienwissenschaft ist ein nicht untypi sches Beispiel für diese unbefriedigende Situation. Einerseits wird dort eine legitime Kritik am uferlosen Gebrauch des Wortes „Medien" vorgetragen. Andererseits wird jeder Versuch, die mannigfaltigen Aspekte des Medienbegriffs systematisch zu strukturieren, als „entweder unlogisch, unverständlich, dysfunktional unvollständig, unbegründet oder banal" (Faul stich 2002: 20) zurückgewiesen. Darunter fällt dann etwa der Klassifikationsansatz von Ro land Posner (1985), der plausibel zwischen naturwissenschaftlich-technologischen, sozio kulturellen, systemischen und strukturalen Medienkonzepten unterscheidet, oder auch die kommunikationswissenschaftlich bewährte Differenzierung zwischen Informations-, Kom munikations- und Interaktionsmedien. Faulstich (2002: 26) bringt dagegen einen formalis tischen Medienbegriff in Stellung: ,,Ein Medium ist ein institutionalisiertes System um einen organisierten Kommunikationskanal von spezifischem Leistungsvermögen mit gesellschaft licher Dominanz." Dieses Konglomerat von Versatzstücken aus Informations-, System- und Gesellschaftstheorie ist aber seinerseits kaum geeignet, Spezifika von Medien zu begreifen.
Einleitung
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Philosophinnen und Philosophen fragen nach einem Begriff von „Medium", der, je nach philosophischem Grundverständnis, eine Reihe von gemeinsamen „substantiellen" Eigen schaften oder eine gemeinsame Sprachverwendung kennzeichnet, von der aus enger oder weiter gefasste Verwendungen des Wortes ihren spezifisch differenzierten Sinn erhalten. Erst auf dieser Grundlage lässt sich zwischen Ansätzen unterscheiden, die - ontologisch von der Frage nach den wesentlichen Eigenschaften der (medialen) Technik ausgehen, pragmatistisch - den Gebrauch der Medien ins Zentrum stellen oder aber - dialektisch Beschreibungen der spannungsvoll vermittelten Einheit von einander widersprechenden Bestimmungen des Medialen (und im Medialen) formulieren. In der Kommunikations- und Medienwissenschaft bezeichnet der Begriff der Vermittlung nur einen Aspekt aus einer ganzen Reihe von Aspekten der Medialität, die man (mehr oder weniger systematisch) miteinander zu verbinden versucht. In der Philosophie ist der Begriff der Vermittlung hingegen ein zentrales Konzept, von dem aus sich ein philosophisches Ver ständnis des Gegenstandsbereichs erschließen lässt. Im Sinne einer philosophisch reflektie renden Medientheorie vermittelt ein Medium, indem es zwischen zwei von ihm unterschie denen Gegenständen eine Verbindung herstellt. Es ist durch den Bezug auf (mindestens) zwei andere Einheiten gekennzeichnet, die es verbindet, weiterhin durch einen wie immer gearteten Inhalt, den es transportiert, und nicht zuletzt durch eine eigene (wie immer gear tete) materiale Beschaffenheit. Wenn sich der Blick auf das Vermittelnde richtet, kann den reflektierenden Betrachtern bewusst werden, dass der Eindruck von Unmittelbarkeit Schein ist. Solches Bewusstwerden ist, explizit oder implizit, das Innewerden des Materiellen, also dessen, woraus das Medium, im weitesten Sinne, ist. Man kann ein Medium im weitesten Sinne als „ein Material" definieren, ,,worin sich etwas manifestiert, verkörpert, mitteilt " (Türcke 2005: 71). Gleichwohl ist es nicht von vornherein sinnlos zu sagen, dass ein Medium sensu stricto auch immateriell sein kann.Es ist, so oder so, stets auf ein Anderes, Nichtmedi ales, verwiesen und durch dieses mitkonstituiert. In Medien und durch Medien stellt sich daher immer „etwas von ihnen Unterschiedenes, Nichtmediales" (Türcke 2005: 141) dar. Selbstverständlich gibt es auch in der Philosophie enge und weitere Medienbegriffe. So kann (und muss) man grundsätzlich auf „die generelle Medialität unserer Weltzugänge" (Seel 1998: 245) verweisen. Durch Medien erschließen Menschen eine Welt, die ihnen nicht von vornherein gegeben ist, sondern erst zur Gegebenheit gemacht werden muss. Dabei prägen die Erschließungsmedien der Welt diese auf eine Weise mit, hinter die nicht zurück zugehen ist. Die Erschließung der Formen erfolgt zu den Konditionen des Mediums, in dem sie erscheinen. Diese Welt ist als Gegebenheit Wirklichkeit; aber weil sie durch Medien ver mittelt wird, ist sie immer auch eine mögliche Wirklichkeit, virtuelle Realität. Damit kommt ein Moment von Kontingenz in die mediatisierte Wirklichkeit: Vieles ist möglich, aber nichts ist gewiss, alles könnte auch ganz anders sein. Eine entsprechend umfassend-allge meine Definition stammt von Stanley Cavell (1971: 93): ,,Ein Medium ist etwas, wodurch etwas Bestimmtes getan oder auf bestimmte Weise gesagt wird." Diese semiotisch-pragma tische Definition kann aber allenfalls der Ausgangpunkt für einen philosophischen Bestim mungsversuch sein. Es wäre zu klären, was mit „etwas Bestimmtes tun" und „etwas auf be-
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Gerhard Schweppenhäuser
stimmte Weise sagen" gemeint sein kann. So ließe sich, in freier Anknüpfung an Cavell, eine These formulieren, die performanz- und handlungstheoretische Elemente mit materialisti schen verbindet. Sie lautet: Medien tun als materielle Bedeutungsträger, was sie sagen, in dem sie den Benutzerinnen und Benutzern ihren immateriellen Bedeutungsgehalt übermit teln; auf diese Weise vollbringen sie Vermittlungsleistungen - sowohl zwischen Subjekten und Objekten als auch (und vor allem) intersubjektiv.
4. Beziehungen Medienphilosophie unterscheidet sich insofern von den Medienwissenschaften, als sie be grifflich klären möchte, was Medien als Mittel des Weltzugangs und der Welterschließung leisten. Anhand der drei philosophischen Parameter Sprache, Kultur und Gesellschaft be schreibt sie, wie Menschen über Medien ihre Welt erschließen. Die Medienphilosophie steht also in nächster Nähe zu drei weiteren „Bindestrich-Philosophien", nämlich Sprachphiloso phie, Kulturphilosophie und Sozialphilosophie. Dass es Berührungspunkte zwischen Sprach- und Medienphilosophie gibt, muss hier nicht ausführlich begründet werden. 4 Natürliche Sprachen sind bekanntlich die prominen testen Medien der Humankommunikation; überhaupt ist die Struktur von Kommunika tion sprachlich, einschließlich der Kommunikation zwischen Menschen und Maschinen oder vernetzten Maschinen untereinander mittels künstlicher Sprachen. Medienphilosophi sche Ansätze teilen zudem mit der Sprachphilosophie die selbstreflexive Besonderheit, ,,daß der Gegenstand der Erklärung ihr näher ist als die Gegenstände sonst; denn Sprache wird durch Sprache bestimmt, in Wörtern das Wesen der Wörter bezeichnet" (Schweppenhäuser 1958: 313). 5 Auch die Behauptung einer besonderen Nähe von Medien und Kultur ist kein geistiges Wagnis. Die gesellschaftliche Praxis, die „Kultur " oder „Zivilisation" genannt wird, besteht 4 Richard Hönigswald hat Sprache als ein Medium beschrieben, das die Stabilität der Natur in einer Kontinuität der Bedeutung abbildet. Sprache vermittelt nach Hönigswald (1931: 376) die beiden Wirklichkeitsbereiche miteinander, die er den „Reiz" und das „Erlebnis" nennt: also die Ebene von Ereignissen, die sich naturwis senschaftlich beobachten und vermessen lassen, und die Ebene des Ichs, das sie erlebt und sich mit anderen darüber verständigt. Am Rande sei vermerkt, dass Hönigswald (1931: 391) in diesem Zusammenhang darauf hinweist, das Konzept der „Verständigung" setze voraus, dass wir einander nicht verstehen. Würde ich den anderen verstehen, müsste ich mich ja nicht mit ihm verständigen. Ich kann ihn aber nicht so verstehen, wie ich meine eigenen inneren Vorgänge verstehe, weil ich sie selbst erlebe; die inneren Erlebnisse des anderen sind nicht die meinen. Sprache ist mediale Einheit der Gegensätze „Eindruck" und „Ausdruck". In Prozessen der Verständigung entstehe ein Kontinuum der überlieferten Bedeutungen, für das die Konzepte „Schrift", „ Gemeinschaft", ,,Kultur" und „ Geschichte" stehen. Diese Gedächtnismedien im weiteren Sinne sind, wie Hönigswald (1931: 393) hervorhebt, keine „Gegebenheiten", sondern „Aufgaben"(zu Hönigswald siehe Schmied-Kowarzik 1997). 5 Kurt Röttgers (2012: 354) hat den oben beschriebenen, anspruchsvollen Ansatz in der Medienphilosophie als eine „Position" bezeichnet, die sich „in die Tradition derjenigen Verwandlungen der Philosophie" stellt, ,,die mit dem sogenannten linguistic turn einhergehen, d. h. einer Abkehr von bewusstseinsphilosophischen Be gründungen der Interpretation unseres Weltverhaltens. Sie unterstellt, dass der medial turn eine noch grund legendere Grundlegung bieten kann als die Sprachphilosophie; Sprache wäre nur eine der möglichen Instan zen von Medialität. Medien eröffnen allgemein einen Schlüssel unserer Weltzugänge".
Einleitung
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darin, dass erfahrbare Lebensumgebungen in kommunizierbare Zeichenzusammenhänge transformiert werden. Die Transformationen erfolgen regional und kontinuierlich. Zei chenzusammenhänge sind die Grundlage dafür, die Umgebung durch Arbeit und Interak tion zu verändern. Und das heißt: sie sich als „Welt" anzueignen. In diesem Sinne hat Ernst Cassirer Kultur als Produktion von Bedeutungsgeflechten mittels Zeichengebrauch bezeich net. ,,Die symbolische Formung [ ...] ist ein kontinuierliches Geschehen. Durch kulturelle Kontinuität werden die symbolischen Formen untereinander und intern differenziert, rela tiviert. Doch sie bleiben wie ein Netz aufeinander bezogen." (Paetzold 1993: XII) Die Ge flechte aus bedeutungstragenden Zeichen kann man die Medien der Kultur nennen. Man kann aber auch umgekehrt sagen, dass Kultur das Medium ist, welches, genauer besehen, aus Zeichengeflechten besteht, die Bedeutungen produzieren. In der Phänomenologie, also der philosophischen Strömung, mit der Cassirers Ansatz konkurrierte, wird Kultur ebenfalls als die Wirklichkeit bezeichnet, die sich Menschen durch Erleben und Deutung aneignen.6 Den Zusammenhang der „Welt" als Handlungsraum nennen wir „Kultur". Auch in der kri tischen Theorie und im Poststrukturalismus ist die welterschließende und weltformende Funktion soziokultureller Medien betont worden, freilich mit - jeweils unterschiedlich ak zentuierten - negativen Vorzeichen. In der Tradition von Horkheimer und Adorno wird Kulturphilosophie „als Element des kritischen Selbstbewusstseins der Kultur" (Schnädel bach 2003: 544) begriffen. Die Semiotisierung der Wirklichkeit kann nur innerhalb gesellschaftlicher Zusammen hänge erfolgen. Dort finden Kooperation und kommunikative Interaktion statt - basal ver mittelt über natürliche Sprachen, und zunehmend auch über sekundäre, artifizielle Spra chen, die codes der medialen Kommunikationsprogramme. Kritische Sozialphilosophie legt hier die Erkenntnis zugrunde, dass die Menschen ihren Reproduktionsprozess und dessen kulturelle Reflexionsformen selbst gestalten, wenn auch beileibe nicht immer aus freien Stü cken.7 Wenn zum Produktionsparadigma noch das Interaktionsparadigma hinzugenommen wird, um zu beschreiben, dass nicht nur Arbeit, sondern auch intersubjektive Verständigung zu den Grundlagen des sozialen Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit gehört, dann wird deutlich, dass das humane Potential zu verständigungsorientierter Kommunikation durch selbstgemachte gesellschaftliche Fremdbestimmtheit gefährdet wird, die „eine Kritik der ge sellschaftlichen Kommunikationsverhältnisse" (Honneth 1994: 59) erforderlich macht. Damit ist ein Zusammenhang zwischen Sprachphilosophie, Kulturphilosophie und Sozi alphilosophie aus medienphilosophischer Perspektive skizziert. Medienphilosophie reflek6 Ernst Wolfgang Orth (1997: 54) fasst das Kulturkonzept von Husserl und Heidegger folgendermaßen zusam men: ,, Die Wirklichkeit ist das Thema des interaktiv deutenden und handelnden Menschen. Und in dieser Hinsicht darf diese Wirklichkeit - eben als menschliches Thema - Kultur heißen. Die Wirklichkeit, wenn sie denn erscheint, erscheint dem Menschen als ,seine', ihm nähere oder fernere ,Welt'." 7 „Sozialphilosophie [ ...] hypostasiert weder die Ökonomie noch die Politik, um die Gegenwart zu erhellen; beider Verhältnis, die Abhängigkeit der Politik von der Wirtschaft gehört jedoch vorzüglich zu ihrem Gegen stand: daß die Menschen die Produzenten ihrer historischen Lebensformen sind, die klassenmäßige Form der gesellschaftlichen Arbeit indessen allen ihren Reaktionsweisen, d. h. ihrer Kultur, bislang den Stempel auf drückt" (Maus 1958: 311 f.).
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tiert ihre Gegenstände in einem Kontext der Welterschließung durch soziale Interaktion, die über Sprechen und Zeichenverwendung vermittelt ist.
5. Methoden Mit der Diskussion wichtiger Themen- und Problemstellungen des gegenwärtigen philoso phischen Medien-Diskurses soll im vorliegenden Handbuch eine Grundlage hergestellt werden, auf der sich methodisch markante philosophische Theorien des Medialen darstellen lassen. So soll dazu beigetragen werden, die wichtigsten, nicht selten gegensätzlichen Positi onen „an einen Tisch" zu bringen. Das Handbuch bietet einen Überblick über methodologische Varianten der philosophi schen Medienreflexion. Bei der Konzeption habe ich (einen Vorschlag von Martin Seel auf greifend) Medien in „Wahrnehmungsmedien, Handlungsmedien und Darstellungsmedien" (Seel 2003: 12) unterteilt. Weiterhin habe ich (im Sinne der auf Jürgen Habermas [1968] zurückgehenden Unterscheidung zwischen Arbeit und Interaktion) Produktionsmedien von Verständigungsmedien unterschieden. Und ich habe unter neuen Medien (mit Alexan der von Pechmann [2010: 14]) solche verstanden, in denen ein wechselseitiges Bedingungs verhältnis besteht zwischen der „technische[n] Entwicklung " und den "sich formierenden kommunikativen Strukturen". Daraus hat sich eine Gliederung ergeben, die Methodenviel falt dokumentiert und bei der Orientierung behilflich sein soll. Die analytische Separierung der genannten Aspekte soll selbstverständlich nicht vergessen machen, dass sie - in der Wirkung und Anwendung ebenso wie in der Beschreibung und begrifflichen Durchdrin gung medialer Phänomene und Strukturen - zusammenspielen. In der Phänomenologie werden Medien primär als Wahrnehmungsmedien, in zweiter Hinsicht aber auch als Produktionsmedien verstanden. Hermeneutische Theorien zielen auf die Konzeptualisierung der medialen Interaktionsermöglichung, sie haben es also mit Ver ständigungsmedien zu tun. Diese spielen in der semiotisch ansetzenden Philosophie eben falls eine Rolle, freilich geht es dort aber ebenso um die Darstellungsleistungen. Dialekti schen Sozial- und Kulturphilosophien liegt ein Medienverständnis zugrunde, das den Schwerpunkt auf den Handlungs- und Produktionsaspekt von Medien legt. Analytische An sätze wollen die Regeln medialer Interaktion und deren Versprachlichung rekonstruieren. Transzendentale und konstruktivistische Theorien betonen insbesondere den Aspekt einer Transformation der Philosophie. Moderne und postmoderne Theorien fokussieren die Trans formationen der Kommunikation. Technikorientierte Medien stellen anthropologische und soziokulturelle (Prä-) Formierungen durch die Entwicklung der Produktivkräfte ins Zen trum. Handlungsorientierte Ansätze untersuchen mediale Praxis und fragen weniger nach Interpretationen als nach Leistung und Bewährung. Im letzten Teil des Handbuchs werden ästhetische und ethische Anwendungsfelder der Medienphilosophie vorgestellt und, nicht zuletzt, eine Kritik aus akademisch-disziplinärer Sicht.
Einleitung
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Die Bibliografie am Ende des Buches enthält im ersten Teil eine Auswahl zitierter Litera tur aus allen Beiträgen und im zweiten Teil eine Zusammenstellung von weiteren Literatur empfehlungen, die die Autorinnen und Autoren zu den jeweiligen Bereichen geben.
6. Danksagungen Zu danken habe ich Lorenz Engell, der mich in einer formativen Planungsphase auf poten tielle Autorinnen hingewiesen hat; Frank Hartmann, der einen unveröffentlichten Text aus Friedrich Kittlers Nachlass ins Gespräch brachte und ihn für die Erstveröffentlichung im vorliegenden Handbuch zur Verfügung gestellt hat; Benjamin Landgrebe, Thomas Brock mann und Sophie Dahmen, die mich seitens des Verlags in verschiedenen Phasen der Pla nung und Realisierung zuverlässig unterstützt haben; Janik Söllner, der die Transkription des Kittler-Textes besorgte; und natürlich allen Autorinnen und Autoren: für ihre Sach- und Darstellungskompetenz, für den Elan, mit dem sie sich dem Projekt gewidmet haben, und für ihre Geduld anlässlich formaler und terminlicher Pedanterien des Herausgebers. Literatur Anders, Günther (1986): Die Antiquiertheit des Menschen. Zweiter Band: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München: Beck. Bauman, Zygmunt (1992): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt a. M.: Fischer. Böhme, Gernot (1992): ,,Die Aktualität der Natu.rphilosophie", in: ders., Natürlich Natur. Über Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 29-43. CaveU, Stanley (1971): ,,Aus: Die Welt betrachtet", in: Filmästhetik, hrsg. v. Ludwig Nagl, Berlin, Wien: Oldenburg, 1999, s. 84-102. Engell, Lorenz (2003): ,,Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen Apparatur", in: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, hrsg. v. Stefan Münker, Alexander Roesler u. Mike Sand bothe, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 53-77. Faulstich, Werner (2002): Einführung in die Medienwissenschaft, München: Fink, 2002. Habermas, Jürgen (1968): ,,Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser ,Philosophie des Geistes"', in: ders., Technik und Wissenschaft als ,Ideologie; Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 4. Aufl. 1970, S. 9-47. Honneth, Axel (1994): ,,Die soziale Dynamik von Mißachtung. Zur Ortsbestimmung einer kritischen Gesell schaftstheorie", in: Gesellschaft im Übergang. Perspektiven kritischer Soziologie, hrsg. v. Christoph Görg, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994, S. 45-62. Hönigswald, Richard (1931): ,,Philosophie als Theorie der Gegenständlichkeit", in: Neukantianismus. Texte der Marburger und der Südwestdeutschen Schule, ihrer Vorläufer und Kritiker, hrsg. v. Hans-Ludwig Ollig, Stuttgart: Reclam, 1982, S. 355-396. Orth, Ernst Wolfgang (1997): ,,Heidegger und Husserl. Kultur als Horizont des Erscheinens", in: Heidegger - neu gelesen, hrsg. v. Markus Happel, Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 54-74. Maus, Heinz (1958): ,,Sozialphilosophie", in: Philosophie, mit einer Einleitung von Helmuth Plessner hrsg. v. Alwin Diemer u. Ivo Frenzel, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 307-313. Paetzold, Heinz (1993): Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Pechmann, Alexander von (2010): ,,Das Internet als Medium. Ein Beitrag zur medientheoretischen Debatte", in: Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, Nr. 52, S. 13-25. Pfadenhauer, Michaela u. Tilo Grenz (2017): De-Mediatisierung. Diskontinuitäten, Non-Linearitäten und Ambiva lenzen im Mediatisierungsprozess, Wiesbaden: Springer VS.
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1. GRUNDLEGUNGEN
Philosophien des Medialen. ,Zwischen' Materialität, Technik und Relation Dieter Mersch
1. Der Begriff ,Medium' Der Begriff ,Medium' gehört zu den philosophischen Grundbegriffen. Zwar steht er schein bar hinter Kategorien wie Sein, Nichts, Werden oder Begriff, Wahrheit und Grund zurück, doch beruhen diese im Wesentlichen auf Relationen (mit Ausnahme des Nichts). Sein ist stets ,Sein von ...', Begriff ,Begriff von ...' oder Wahrheit Wahrheit von ...' usw. -, wobei Relationen stets nur ,im Modus von ...' vorkommen, deren Modalität wiederum ihr Medium darstellt. Das Mediale ist also, obwohl ungenannt, immer schon implizit, wobei wir es von Anfang an mit einer Doppelbesetzung zu tun haben (Mersch 2015a). Denn nennt der ,Begriff' die Bestimmung dessen, ,was' etwas ist, oder die Wahrheit' eine spezifische Eigen schaft von ,Sätzen', verweist das Mediale auf das Wie', d.h. auf den spezifischen Austrag ihrer Relationalität. Die philosophische Terminologie ist dadurch determiniert: Sie handelt von ,etwas' als ,etwas', was ein Verhältnis zwischen zwei Elementen (Relata) ausdrückt, die ihrer seits auf eine bestimmte Weise zueinander in Beziehung gesetzt sein müssen (z.B. durch Vergleich). Das Verhältnis und die Art und Weise seiner Spezifikation gehören damit zu sammen, sodass beide, das Was-sein und das Wie-sein von ,etwas' und die Rede von ihm, seine Darstellung oder Verkörperung und Übersetzung etc. ausmacht. Das Medium bezieht sich auf diese zweite Seite, und die entscheidende Einsicht besteht darin, dass diese nicht passiver Natur ist, sondern an der Konstitution dessen, ,was es gibt' aktiv beteiligt ist. Dem Medialen kommt darum nicht direkt eine signifikative Funktion zu, wohl aber modelliert es diese und formt ihre Gestalten. Tatsächlich begleitet das Mediale die philosophische Begrifflichkeit und ihre Manöver wie ein Schatten, sodass von einer ,notwendigen Mitgängigkeit' gesprochen werden muss, die den Verweis auf eine immer schon am Werk befindliche Mediation ebenso unausweich lich macht wie verdunkelt. Deswegen die berühmte Bemerkung Friedrich Nietzsches (1882: 172): ,,unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken." Das Medium entfaltet, in allen unseren Aktivitäten, eine genuine Komplizenschaft, die das, was wir tun, von Anfang an bereits verwandelt und modifiziert haben wird. In einer ersten Annäherung kann das Medi ale daher als ein ,Ko-Konstituens' gekennzeichnet werden, jedoch nicht so, dass es die Dinge
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und Praktiken selbst hervorbringt, sondern im Sinne einer intrinsischen Verwickeltheit be gleitet, sodass ihm, mit Edmund Husserl gesprochen, der Status einer ,Mitgegebenheit' ver liehen werden muss. Entsprechend bezeichnet ursprünglich der Ausdruck „Medium", lat. Mitte, dasjenige, was sich, wörtlich, in medio, d. h. in der Mitte hält (Kerlen 2003: 9) und als Drittes zwischen die Relata und ihre Differenzen schiebt. Von vornherein ist so ein Tertium angesprochen, das sich den Registern klassischer Dichotomisierung - zwischen Begriff und Sache, Wahrheit und Schein oder Subjekt und Objekt und, in weiterer Verzweigung, zwi schen Geist und Materie oder Natur und Kultur - entzieht. Daraus leitet sich sowohl die Schwierigkeit einer angemessenen Explikation des Begriffs als auch die rationalitätskritische Note philosophischer Medienreflexion in der zweiten Hälfte des 20. Jhs. ab, ihre - ob be rechtigt oder unberechtigt - Partizipation an Differenzphilosophien (Mersch 2006). Als Ter tium oder Drittes sprengt es die Register der Unterscheidung, sodass Medienphilosophie, obzwar Teil des philosophischen Abenteuers und diesem inhärent, die Grundlagen klassi scher Philosophie mit Blick auf das, was in Analogie zu Martin Heideggers ,Seinsvergessen heit' eine ,Medienvergessenheit' genannt werden kann, unterläuft.
2. Zur Geschichte von Medientheorien 2.1 Kurze Geschichte des Metaxy
Gleichwohl kann, gegen diese Vergessenheit, die philosophische Verwendung des Begriffs schon früh nachgewiesen werden. Bezeugt spätestens seit den scholastischen Kommentaren zu den Schriften des Aristoteles, geht er einerseits auf dessen Syllogismuslehre zurück, deren Zwischenglied einer Beweiskette in den mittelalterlichen Logiken als medius terminus be zeichnet wurde, welcher den Schluss erzwingt, um in dessen Vollzug unterzugehen (Bahr 1999). Andererseits übersetzte Thomas von Aquin die Präposition metaxy aus der Aisthesis lehre des Aristoteles (1995: 418aff.) mit „Medium" und leitete damit eine Tradition ein, die über die neuzeitliche Naturphilosophie bis ins frühe 20. Jh. reichen sollte (Hoffmann 2006). Denn nach Aristoteles muss sich das Wahrgenommene vermittels eines anderen dem Wahr nehmenden allererst mitteilen, wofür er unter Rückgriff auf ältere Wahrnehmungslehren den Ausdruck des diaphanen oder „Durchscheinenden" einsetzte. Es ist ein ,Dazwischenlie gendes' (metaxy), das sich Aristoteles zugleich als stoffliche Substanz vorstellte (Alloa 2011). Die gesamte spätere Problematik des Medienbegriffs ist darin vorgeprägt: Ohne Medium sieht man nichts, wie umgekehrt das Medium selbst unsichtbar bleibt, das als transparenter Stoff, der sich von Licht unterscheidet, lediglich indirekt, d. h. durch „Trübung" hervorzutre ten vermag. Zugleich verändert diese mediale Stofflichkeit das durch es ,Hindurchschei nende', sodass wir nicht nur vermittelst eines Mediums sehen, sondern auch durch (dia/per) es: Das Medium erzeugt eine Sichtbarkeit. Sehen erweist sich dann unmittelbar an es gebun den und durch es produziert wie modifiziert. Eine ähnliche Bewegung lässt sich auch in Ansehung der zweiten Quelle, die gewöhnlich genannt wird, nachweisen: Platons Schrifttheorie. Im Dialog Phaidros beschreibt Plato
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(1998: 274 d, 275 a) die Schrift als eine ,Kunstfertigkeit' (techne), die ihre eigenen Folgen nicht abzuschätzen vermag, denn sie diene nicht nur der Aufzeichnung und dem Gedächt nis, sondern schaffe auch „Vergessenheit". Insbesondere aber bleibe ihr Verhältnis zur Wahr heit prekär, denn die Wahrheit erfordere den lebendigen Dialog. Als Medium erscheint des halb die Schrift zutiefst ambivalent; dabei lautet das entscheidende Wort, auf das auch Jacques Derrida (1995: 73ff., 84ff.) seine Platon-Deutung stützte, pharmakön, das sowohl als Gift als auch als Heilmittel begriffen werden muss. Erneut zeigt sich eine indifferente Mitte, auf die Platon in verschiedenen Dialogen zu sprechen gekommen ist, z. T. sogar mit hilfe derselben Präposition metaxy (Voegelin 2005: 267ff.), so etwa im Symposion in Gestalt des Daimonions Eros, der weder den Sterblichen noch den Unsterblichen angehört, sondern blitzartig und ohne Grund Beziehungen knüpft. Darüber hinaus wird im Timaios auf ähnli che Weise die chöra als ein ,dritter' Raum bezeichnet, der weder Form noch Stoff ist, son dern das ,Gebärende' oder Öffnende, das beide allererst zulässt. Offenbar scheint zur Zeit der Grundlegung der europäischen Metaphysik bereits klar, dass die Binarität der Begriffe, die sämtliche Grundworte wie Sein, Wahrheit, Grund oder Begriff usw. bestimmt, keineswegs ausreicht, um die Phänomene angemessen zu fassen. Immer schon ,arbeitet' ein Anderes, eine Heterogenität ,mit', die aus den Dualismen systema tisch ausfällt, um zwischen den Oppositionen die Funktion einer ,Mediation' einzunehmen. Es treibt, ohne expliziert zu werden, in die orthodoxen philosophischen Reflexionen einen Keil, der nicht aufhört, sie unablässig durcheinanderzubringen (diabolon). Als ,Unwesen' (diabolos) unter Verdacht gestellt, wird das Medium vielmehr ausgetrieben und durch die Eindeutigkeit logischer Gegensätze ersetzt. Mit Fug und Recht gleicht es so einem ,diaboli schen' Prinzip, das stets dort auftaucht, wo nicht mit ihm gerechnet wird, und, wo es gestellt wird, sogleich entwischt - ein „Geist, der stets verneint" und doch, wie es treffend in Johann Wolfgang Goethes (1998: V. 1336-1337; 1338-1340) Faust heißt, ,,Teil von jener Kraft,/ Die stets das Böse will und stets das Gute schafft". 2.2 Historische Umbesetzungen des Begriffs Man kann von dort die historischen Bahnungen des Medienbegriffs als einer heterodoxen ,dritten Kategorie', die ebenso notwendig erscheint wie sie das überlieferte philosophische Unterscheidungssystem sprengt, über die Physik der frühen Neuzeit bis zur Romantik wei terverfolgen: Immer geht es zunächst um ein Stoflliches, das wahrnehmbar macht oder Zu gänge öffnet, dessen Materialität freilich prekär bleibt, um später entschieden in seine Immaterialität überzugehen. Das gilt für die Optik des 13. Jhs. genauso wie für die Lehren Francis Bacons oder Gottfried Wilhelm Leibniz'; doch nimmt darin schon der im ausgehen den 17. Jh. postulierte Ätherbegriff eine Mittelstellung ein, die sich mit der Entdeckung an derer, nichtstofllicher Milieus wie dem Magnetismus, der Elektrizität und der Gravitation in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. zugunsten reiner Energien auflöst, die selbst nichts Stoflliches an sich haben, sondern Stoffe bewegen. Es sind diese terminologischen Verschiebungen, der Übergang von einer Substanz zu einer Kraft, die den Medienbegriff zur Metaphernbildung
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anregt, wie sie sich mit Johann Gottfried Herders (1892: 287) Sprachphilosophie ausbreitet, denn die Sprache sei „für die Vernunft ein solches Medium von Absonderungen, Bildern, Karaktern, Geprägen, als das Licht dem Auge war ". Daraus folgt im weiteren Verlauf jenes Medienverständnis, wie es für die Ästhetik Georg Wilhelm Friedrich Hegels leitend wurde, der das Mediale überhaupt mit einer „Vermittlung" gleichsetzte und dabei durchgängig auf die Grundlagen des Darstellungsbegriffs rekurrierte (Mersch 2006: 34ff.). Gleichzeitig wechselt das Medium sein Terrain: Es wird zu einem tendenziell Imaginären, Geistigen. Allerdings bliebe diese knappe Rekonstruktion von Umbesetzungen unvollständig, wenn nicht noch eine weitere Linie verfolgt würde, die ebenfalls im 19. Jh. einsetzt und auflndus trialisierung und Technisierung als Vorboten einer neuen Kultur reagiert. Sie nimmt vor allem den Faden der Entkörperlichung medialer Prozesse auf, wie er einerseits mit dem Paradigma des Energetischen verbunden ist, andererseits mit den visuellen Reproduktions und Illusionstechniken, an deren Spitze zunächst die Fotografie, später der Film stehen. Buchstäblich gestatten sie Mediation, okkulte Züge anzunehmen (Adamowsky 2008), wobei das Medium einer ebenso verlustlosen wie mysteriösen Übertragung dient, der eine gera dezu magische Qualität angedichtet wurde. Mindestens bis in die 1930er, 40er-Jahre hielt sich noch diese Bedeutungsschicht eines ,Geistvermittlers', wenn vom Medium die Rede war: Die keineswegs marginale Konnotation bezeugt ihre medienhistorische Relevanz vor allem dadurch, dass im deutschsprachigen Raum frühe Ausdrücke wie „Fernsehen" und „Fernhören", wie sie schon im späten 19. Jh. aufkamen, ausschließlich zur Beschreibung telepathischer Fähigkeiten verwendet wurden und erst später ins Vokabular technischer Ge räte einwanderten (Kümmel u. Löffler 2002: 38ff.). Die Informationstheorie Claude Shannons und Warren Weavers technisierte ab 1940 den Medienbegriff radikal und vollzog damit noch einmal eine grundlegende Konvertierung seiner Bedeutung: Von den optischen Metaphern diaphaner Vermittlung zwischen Transpa renz und Opazität zur technischen Übertragung, der Transmission von Informationen über einen Kanal, der die Mediation restlos an die ökonomischen Kategorien des Transports und der Zirkulation anverwandelte (Mersch 2013).
3. Vier medientheoretische Grundmodelle Mindestens vier medientheoretische Leitmodelle gehen daraus hervor, die bis heute domi nieren: das Medium als materieller oder nichtmaterieller Träger, das Medium als Mittel zur Darstellung oder Formatierung eines Sinns, das Medium als Übersetzung mit Verweis auf den ursprünglichen Sinn von meta-phora bis hin zur Automatisierung als technischem Transfer, sowie das Medium selbst als Technik, als Dispositiv bzw. als ein Ensemble von Operationen, das seine Philosophie schließlich ganz in Technikphilosophie aufgehen lässt.
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3.1 Medien als materielle Träger
Das erste Modell bezieht dabei seine Herkunft direkt aus der Aristotelischen Physik und Wahrnehmungstheorie und setzt sich über Francis Bacon und Thomas Hobbes bis zu Fritz Heider (2005) fort, der es noch einmal erneuern und zu einer allgemeinen Medientheorie ausbauen wird, die auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns (1997: 165ff.) beeinflusst hat. 3.2 Medien als Darstellungsweisen
Das zweite Modell ist - von einem traditionellen Standpunkt aus gesehen - das Grundle gendste, weil es Berührungspunkte sowohl mit der Ästhetik als auch mit Symboltheorien und der Semiotik aufweist. Hier erschließt sich ein weiter Kreis von Assoziationen, der einer seits auf den Begriff des ,Disegnos' als Kern der bildlichen Darstellung in der italienischen Kunsttheorie der Renaissance und der antiken mimesis-Konzeption und ihrer Umwandlung in einen mathematisch gestützten Abbildraum im 16. und 17. Jh. zurückgeht sowie anderer seits auf die Idee der Repräsentation und ihrer Kritik. Zwar sucht man in Gotthold Ephraim Lessings Laokoon genauso wie in den Hegel'schen Vorlesungen zur Ästhetik vergebens nach einer ausgefeilten Medientheorie, doch grundiert diese Auffassung den Lessing'schen Wett streit zwischen den Künsten und den spezifischen Leistungen von Bild und Poesie ebenso wie den Hegel'schen Stufenbau der Darstellung, der von der an Farbe und Materialität ge bundenen Malerei zur sprachgestützten Dichtung und Rhetorik reicht. Diese bleiben schließlich gegenüber der Luzidität des philosophischen Begriffs zurück, welche für Hegel eine ,Mitte' ohne mediale Vermitteltheit bildet, die erst den Zugang zum Absoluten gewährt. De jure ein Medium, bleibt damit der Begriff de facto amedial, weil er die Reinheit der Ver mittlung selbst verkörpert. Ähnliches gilt auch für die Idee der Repräsentation, die im Präfix ,Re' den Unterschied zwischen Gegenwart und ihrer ,Ver-Gegenwärtigung' und damit die Notwendigkeit des Medialen durchaus festhält, sogleich aber im Maßstab fehlerloser Prä senz wieder verwirft, an den sie das Kriterium ihrer ,Erfüllung' oder Wahrheit bindet. Dass indessen eine solche Idealisierung in sich widersprüchlich bleibt, weil die Differenz nir gends auszuwischen ist und ihre Aufhebung in die Unendlichkeit eines Regresses ,abdriftet', erscheint spätestens seit Ende des 19. Jhs., vor allem aber mit der Semiotik von Charles Sanders Peirce und der strukturalen Linguistik Ferdinand de Saussures, unleugbar. In der Folge werden sich besonders der Poststrukturalismus und die Dekonstruktion Derridas auf immer neue Weise an ihren Aporien abarbeiten - um mit dem Einbehalt des Abstands zwi schen Zeichen und Bezeichnetem ein untilgbares mediales Konstituens zu postulieren, wie es sich im Apriori der Differenz oder der Transzendentalität der Schrift manifestiert (Foucault 1971; Derrida 1999). Viele jüngere Medientheorien, von Friedrich Kittlers Auf schreibesysteme bis zur Kulturtechnikforschung und die an Bruno Latour anschließenden Medienanthropologien haben daran angeschlossen.
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3.3 Medien als Übersetzungen
Der dritte Ansatz identifiziert die Praxis der Mediation mit den Prozessen einer Übertra gung. Die Identifikation hat zwei Facetten: der schwierige und schillernde Begriff der Über setzung als Grundfrage kulturellen Austauschs, sowie der Transfer als technischer Ablauf und Transmission. Übersetzung als Vermittlung zwischen Fremden und Eigenem birgt al lerdings die Gefahr, an die Illusionen einer lückenlosen Translation geknüpft zu werden (Reichert 2002), welche in gewisser Hinsicht homolog zu den Chimären gelingender, in der reinen Gegenwart aufgehenden Repräsentation gelesen werden müssen. Beides bekundet seine Herkunft aus den Prämissen klassischer Metaphysik. Wenn jedoch die Übersetzung, griechisch gesprochen, als meta-phora, als ,Hinübertragung' von einem zu einem anderen Ort, sogar im Besonderen als Überfahrt der Lebendigen zu den Toten, aufgefasst wird, be deutet sie als letzte Fahrt eine Reise ,ohne Rückkehr', die die unüberwindliche Asymmetrie jedes Übersetzungsprozesses kennzeichnet. Die Übersetzung kennt dann keine Ankunft oder Identität; vielmehr vollzieht sie eine metabasis eis allo genas, einen Wechsel in ein an deres Terrain, sodass wir es mit einem genuinen Transformationsprozess zu tun bekommen. Das Medium, verstanden als Übersetzung, ermöglicht diese Transformation, wie sie sie gleichzeitig zäsuriert (Tholen 2002). Daraus folgt zugleich die Produktivität jeder Überset zungsarbeit, wie sie Walter Benjamin (1916 u. 1921) in seinen beiden sprachphilosophi schen Essays, dem frühen Text Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen und der Abhandlung Die Aufgabe des Übersetzers, herausgestellt hat. Vor allem mit letzte rem Text gibt er im wörtlichen Sinne jede Vorstellung einer identischen Übersetzung auf, insofern ihre Leistung allein darin bestehen kann, die Differenz zwischen den Sprachen wie gleichermaßen ihre „überhistorische Verwandtschaft" zu bezeugen, deren Kriterium, wie es Benjamin (1921: 13) ausgedrückt hat, ,,die reine Sprache" Gottes sei. Zugrunde liegt ein messianischer Sprachbegriff, wie er ebenfalls für Herder und die frühromantische Sprach philosophie charakteristisch war (Menninghaus 1995, Hallacker 2004: 47ff.), die den Ab stand zu den Sprachen der Menschen markiert, welche, wie es in der Vorrede zum Ursprung des deutschen Trauerspiels heißt, an einer chronischen Verfehlung litten (Benjamin 1928: 214 ff.). Alle Erkenntnis ist folglich Mediation und alle Mediation Übersetzung, die ihre Erfüllung verweigert und die den Grund „aller Traurigkeit und (vom Ding aus betrachtet) allen Verstummens" der Natur ausmacht (Benjamin 1916: 155). Vielleicht liegt darin der tiefere Grund vom Traum einer Automatisierung der Überset zung als technischer Codierung und Decodierung, die mit den Mitteln der algorithmischen Logik jede Kluft auf instantane Weise zu überspringen sucht, um gleichsam die gesamte Menschheit am Projekt einer barrierefreien Verständigung teilhaben zu lassen. In der Tat scheint der Begriff der Mediation als Translation auf ein Projekt zuzulaufen, das dann einzig im Immateriellen realisierbar wäre, wie es im gleichen Augenblick die Frage der Überset zung und folglich auch des Mediums überflüssig macht.
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3.4 Medien als Techniken und Ökologien
Rechnen klassische Medienbegriffe stets nach Gewinn und Verlust, ist es gleichzeitig ihr einsitzender ontologischer Mangel, der sie zutiefst paradox erscheinen lässt. So bestimmte Hegel das Mediale durchweg als Eintrübung - ein Topos, der später in den marxistischen Medienkritiken, vor allem der massenmedialen Unterhaltung, wiederholt wird (Mersch 2006: 57ff.). Dieser Ambivalenz des Medialen - seiner impliziten Teleologie wie seiner chro nischen Unerfülltheit - widerspricht allerdings entschieden das vierte, heute durchweg ver absolutierte Leitmodell, das das Mediale umstandslos als Technik rekonstruiert, um sie im selben Moment als anthropologische Konstante auszubuchstabieren. Techniken werden da bei nicht als Mittel oder Werkzeuge, d. h. instrumentalistisch verstanden, was bedeuten würde, sie durchgängig Zweck-Mittel-Relationen zu unterwerfen und sie folglich von ihrem Gebrauch oder Entwurf her zu verstehen (Hörl 2011) - und damit erneut metaphysisch zu sanktionieren. Denn der Instrumentalismus birgt das doppelte Versagen sowohl einer Neu tralisierung des Technischen als auch seiner passivischen Vorentscheidung, als sei es nur Mittel und nicht ebenfalls Zweck (McLuhan 1970: 17ff.). Zugleich restituiert er die Ontolo gie des Mangels, denn er versteht den Menschen, nackt und seiner Überlebensmittel be raubt, tendenziell als Mängelwesen, das sich durch Technik seine Existenzmöglichkeiten allererst zu sichern weiß. Demgegenüber geht es den genannten Ansätzen darum, die Primordialität des Techni schen und seiner intrinsischen Produktivität zu behaupten, um auf diese Weise die Technik an das antike Verständnis der techne zurückzubinden und sie den Künsten anzunähern. Es war vor allem Kittler (1986, 1993), der im Anschluss an Heideggers Technikkritik diese ins Affirmative wendete, um den neuesten Stand der Technik, die digitale Technologie und ihre kulturelle Zäsur zum unbedingten Kriterium zu erheben und von dort aus das Mediale, jenseits aller scheinbaren metaphysischen Vorurteile, neu zu formatieren (Winthrop-Young 2005). Mit dem Computer als Turingmaschine und der Turingmaschine als ,Universeller Diskreter Maschine' (UDM), welche alle bekannten Medienformate inkludierte und emu lierbar machte, glaubte er zugleich, ein generelles Modell zu besitzen, das die überlieferten Medienbegriffe ein für alle Mal erledigen würden. 3.5 Medialität und Operativität
Offenbar gibt es nur ,ein' adäquates Medienverständnis, das seinen Maßstab aus der Mathe matik bezieht, welcher Darstellung und Übersetzung oder - wie Kittler sich ausdrückt Aufzeichnung und Übertragung - ins einheitliche Schema des Operationalismus presst, während sich alle anderen Modelle, so Kittler (1998 a), als ,antiquiert' erwiesen. Jedoch folgt dieser Schluss allein aufgrund einer rückwärtigen Projektion, die nicht nur den gegenwärti gen Stand des Technischen zum vorerst letzten Höhepunkt verklärt, sondern auch die Her aufkunft der technologischen Kultur seit Mitte des 19. Jhs., um von dort aus sämtliche kul turelle Praktiken überhaupt als techne zu lesen. Diese Aufwertung des Technischen enthält
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dabei sowohl eine anfechtbare philosophische als auch anthropologische These, denn sie versteht zum einen die Technik im Sinne Heideggers, aber entgegen seiner Intention, als ,Hervorbringung' eigentlicher Wahrheit, mithin als Zeit der aletheia (Unverborgenheit), zum anderen teilt sie das Verhältnis von Natur und Kultur ausschließlich in physis und techne auf und verhandelt damit die Gesamtheit des Kulturellen und seiner Phänomene überhaupt unter dem Aspekt von Technologie. Die Hypothese technologischer Kultur er scheint auf diese Weise kritiklos durchgeschlagen. Wo daher Medien mit Techniken identifiziert werden, wird im selben Atemzuge auch der Begriff des Technischen totalisiert (Hörl 2011, Mersch 2013). Das gilt in der Fortsetzung besonders für jene Medientheorien, die grundlegende kulturelle Techniken wie Schrift, Bild und Zahl in operative Ketten aufzulösen trachten (Ernst 2008; Schüttpelz 2006; Siegert 2011; kritisch: Mersch 2016). Im Rahmen jüngster Entwicklungen wie dem ,persuasive' oder ,ubi quitous computing' und einer erweiterten Actor-Network-Theory werden zudem komplette non-naturalistische Medienökologien postuliert, die von symmetrischen Relationen zwi schen Automaten, Menschen und ,Devices' ausgehen, welche diese tendenziell zu gleich wertigen Partnern machen und folglich die humane Position im Sozialen ebenso derangie ren wie neu definieren. Man ahnt, dass sie voreilend einer Gleichwertigkeit zwischen technisch-humanoiden Akteuren und menschlichen das Wort reden. Die zunehmende Im plementierung von technischen Dispositiven environmentalisiert so das Mediale, das auf diese Weise beginnt, das menschliche Leben ohne jedes Außen zu umgeben und unlösbar in sein Geflecht einzuwickeln, sodass es aus der ,technologischen Bedingung' so wenig ein Entrinnen gibt, wie sie kritisierbar erscheint. Vielmehr avanciert die Technizität des Medi ums selbst zu einem bedingungslosen Teil der ,menschlichen Conditio', sodass wir am Ende des metaphysischen Abenteuers mit der exakten Umkehrung des ,Humanismus' und seiner latenten philosophischen Depravierung konfrontiert sind: Das Mediale tritt nicht länger als ,Drittes' ,zwischen' die begrifflichen Dualismen, um sie gleichzeitig zu dislozieren, sondern der Mensch und seine Welt verlieren jede Priorität, um sich, als posthumanistische Margi nalie, lediglich als Position unter anderen in den Netzwerken aus lauter heterogenen Akteu ren aufzuhalten. Doch lasse man sich nicht täuschen: Was sich als philosophische Radikalisierung des Medialen zu erkennen gibt, verdankt sich zum einen der Fortführung wesentlicher Motive, die bereits von Anfang an in seinen begrifflichen Konnotationen mitschwangen, nämlich erstens die Materialität des Medialen, nunmehr gedeutet als „Medienmaterialismus " der Hardware (Kittler), auch wenn Stoff und Form als Größen hinstellt werden, die die „Medi enwissenschaft [ ...]vergessen [darf]" (Mersch 2003: 197); zweitens die repräsentationskriti sche Note einer Unendlichkeit der Codes (Flusser) und ihrer fortwährenden Transferie rung, die letztlich doch die Übertragungsproblematik, jedem Operationalismus zum Trotz, fortsetzen, denn es regieren nunmehr allein Wege, Kanäle, Knoten und Kommunikations ströme sowie deren Akzeleration (Mersch 2013: 39f.). Sie sorgen für eine begriffliche Kon tinuierung der Theoreme, die sich von ihren metaphysischen Wurzeln nur schwer zu be freien vermögen und sich vor allem durch ihre konsequente Mathematisierung auszeichnen.
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Es ist folglich die Herrschaft des Mathematischen und seines Formalismus, die hier struk turbildend wird, um auf der anderen Seite durch Umschrift der Grundannahmen struktura ler Linguistik und der wesentlichen Prämissen des Poststrukturalismus die Medientheorie als eigentlichen Ort einer Metaphysik- und Philosophiekritik zu stilisieren. Seltsamer, ja geradezu auf den Kopf gestellter Chiasmus der Zugänge, denn was der implizite rationali tätskritische Duktus ausmacht, die Betonung einer „Dazwischenkunft" (Tholen) als Diffe rential ohne Identität, das der Derrida'schen dijferance nachempfunden ist, entpuppt sich umgekehrt als äußerste Zuspitzung des metaphysischen Geistes. Das lässt sich auch so aus drücken: Was einst der Sprache der Metaphysik angehörte, wird nunmehr in die Sprache der Technik transferiert, die sämtliche Kategorien, die einst die menschliche Welt charakteri sierten - Sozialität, Praxis, Denken, Kreativität, Kommunikation oder Reflexivität etc. - in die technologischen Regime konvertiert und als ,Netzwerke', ,Operativität', ,Verschaltung', ,Zufall', ,Übertragung' und ,Referenz' wieder auferstehen lässt. Folgerecht hatte Kittler so wohl das strukturalistische Sprach- und Textapriori, das auf die eine oder andere Weise in alle Medienphilosophien des 20. Jhs. eingedrungen ist, als auch die klassische Apotheose des Mathematischen, wie sie bereits für Platons Akademie stilbildend war, als Apriori der ,Ma schine' reinkarniert, um daraus nichts anderes als einen „Medienapriorismus" (Krämer) in Gestalt eines Technikdeterminismus abzuleiten. Medienphilosophie, jedenfalls in dieser Ausprägung, bleibt der Vergangenheit, die sie durchquerte, um anderes und anders zu den ken, weiterhin treu.
4. Wie von Medien sprechen? Zur ,Negativität' des Medialen Die Verbindungslinien zwischen den verschiedenen medientheoretischen Modellen sind daher vielschichtig und unübersichtlich. Doch zeigt sich überall das Mediale als ein ,Transzendental', das im selben Maße entstellt wie verwandelt. Das wirft freilich die systema tische Frage auf, wie zureichend von ihm gesprochen werden kann, denn das, was - im Sinne eines apriorischen Perfekts - stets Effekt ist, was nur als Relation ohne korrespondie rende Relata vorkommt, dessen Formierung von Anbeginn an schon deformiert, vermag seine ebenso entstellende wie transformatorische Kraft nicht preiszugeben, sowenig wie seine, durch die Vermittlung bereits hindurchgegangene, Nicht-Präsenz zu präsentieren. Wie also von ihm Kenntnis erlangen? Die Schwierigkeit scheint sich zunächst mit dem Problem einer Rekonstruktion allge meiner Konstitutionsbegriffe zu decken. Sie erweist sich für jede transzendentalphilosophi sche Argumentation als charakteristisch - mehr noch aber für einen ,Medientranszenden talismus', sei er ausgesprochen oder unausgesprochen. Denn um sich seiner Begründung zu vergewissern, bedarf es einer Reflexion auf das in seiner Begrifflichkeit bereits Mitgedachte. Eine solche Reflexivität geschieht als diskursives Manöver, wobei gewöhnlich das Medium der Reflexion (der Diskurs) mit der Reflexion auf das Medium (die Diskursivität der Theo rie) zusammenfällt - eine Prämisse, die wiederum medienphilosophisch gerade nicht gilt, weil sich das Medium der Reflexion (der Diskurs) vom thematisierten Medium (Sounds,
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Texturen, Bilder, technische Anordnungen etc.) unterscheidet. Zudem unterliegt ihr An spruch aufTranszendentalität der Aporie,einerseits ein Medien-,Anderes' nicht denken zu können,anderseits es denken zu müssen, um ihr konstituierendes Vermögen plausibel ma chen zu können. Wenn ,alles', was ist, allein in Medien gegeben ist, bleibt die Frage, wie Medien selbst gegeben sind oder sich als solche zu erkennen geben, sodass wir es mit einer petitio principii zu tun bekommen, die behauptet, was sie negiert und negiert, was sie be hauptet. Wenn zudem das Mediale als metaxy, als ,Zwischen' konzipiert wird, das allein in einer Modalität aufgeht,geht ihr Anspruch aufTranszendentalität notwendig fehl,denn ent weder wird ihre Apriorität nur gesetzt,oder aber der Medien-,Begriff' enthüllt sich selbst als ,Unbegriff',als eine monströse Figur,die sich jeder positiven Bestimmbarkeit entzieht. Verlangt wäre folglich seine ,Dekonstruktion' (Mersch 2008). Sie kann ihre Anleihen aus der Spätphilosophie Heideggers oder der Grammatologie Derridas beziehen,die zwar nicht explizit von Medien handeln, wohl aber von Sprache und Schrift. Dennoch lassen sich aus ihnen methodische Leitlinien ableiten, wie sie für eine nichttranszendentalistische Lektüre des Medialen fruchtbar gemacht werden können (Mersch 2005). So beginnen Heideggers Überlegungen in Der Weg zur Sprache mit der Problematik eines unvermeidbaren Zirkels, sobald wir über die Sprache zu sprechen versuchen, weil solches Sprechen die Sprache be reits Anschlag gebracht haben muss. Deshalb sehe sich der „Weg zur Sprache",so Heidegger (1975: 241,242) weiter, ,,in ein Sprechen verflochten[ ...],das gerade die Sprache freistellen möchte, um sie als die Sprache vorzustellen und das Vorgestellte auszusprechen, was zu gleich bezeugt,daß die Sprache selber uns in das Sprechen verflochten hat." Scheint zugleich vergeblich,die Sprache von einem anderen Ort als der Sprache - und nota bene das Medium von einem anderen Ort als dem Medium - zu thematisieren, kann sie als Sprache nur dort auftauchen, wo ihre Selbsthematisierung in sie eingreift und mitspricht. Dann „zeigt" sich das „Wesen der Sprache" gerade aus den Abdrücken oder Differenzen,die ihre Praxis in ihr hinterlässt,sodass Medienreflexion zur Spurenlese gerät: An den Rissen oder „Furchen",so der Heidegger'sche Ausdruck, manifestiere sich ihr „Aufriß" (Heidegger 1975: 251, 252) ein Wort, das im Rahmen von Architektur und Bauzeichnung den skizzenhaften Entwurf meint, wie gleichzeitig den Bruch oder die Auftrennung, durch die sich anderes zu sehen gibt. Sie avanciert für Heidegger zum Grundmotiv,denn alle Rede,die sich „unterwegs" zur Sprache befinde, habe diese bereits „gezeichnet", d.h. auch modifiziert. Die Konsequenz deckt sich mit der Derrida'schen Dekonstruktion, die mit der Überschreibung von Texten als Strategie einer Hervorlockung innerer Strukturen arbeitet, um deren „Unbewusstes" oder, wie man ergänzen könnte: ihre verborgene Medialität - zu offenbaren. Das „Verfah ren", das eigentlich keine Methode, sondern eine Praktik der Entdeckung darstellt, beschreibt so bis in die Wortwahl hinein von „Furche" und „Zeichnung" bei Heidegger (1975: 251 ff.) oder „Spur" und „Einschreibung" bei Derrida (1999: 51 ff.) eine analoge Strategie, nämlich ein Unsichtbares anhand jener Veränderungen oder Verschiebungen aufscheinen zu lassen, die ihm durch ihren Vollzug widerfahren. Jüngere Auseinandersetzungen mit dem Medienbegriff haben sich daran geschult, um ihm jenseits seiner Geschichte und seiner technologischen Engführung einen angemesse-
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nen philosophischen Platz zu verleihen. Zwei Perspektiven haben sich dabei im Wesentli chen herauskristallisiert: die Figur des „Boten", der mit ,fremder Stimme' spricht und dessen ,Arbeit' der Vermittlung ein alteritäres Moment einbehält (Krämer 2000, 2008), sowie die Wendung des „Entzugs" im Sinne einer „negativen Medientheorie", die das Mediale als ,Ab wesen' deutet (Mersch 2004, 2006, 2008). Beide betonen, dass der Mediation innerhalb kul turwissenschaftlicher Theoriebildungen zwar eine Schlüsselstellung zukommt - vergleich bar den Begriffen des Sinns, des Zeichens oder der symbolischen Ordnung -, doch im Unterschied zu diesen jede Bestimmung oder Ankunft verweigert, denn was sich zeigt, ist nicht das ,Medium', sondern eine Paradoxie, soweit es stets im Verschwinden erscheint und im Erscheinen verschwindet. Das bedeutet, wir vermögen vom Medialen nur dort Kunde zu erlangen, wo es bricht. Dieselbe Aporie gilt für den ,Boten', der nicht selbst den Brief liest, den er übermittelt, sondern nur das Kuvert transportiert, das seinen Inhalt verschließt. Auch müssen wir die black box der technischen Geräte nicht öffnen, um sie zu verstehen, sondern wir gebrauchen sie. Einzig ein Blick von der Seite, das, was Roland Barthes eine „anamorphotische Kritik" genannt hat, die ihre Sache aus einem extremen Winkel von 180° betrachtet, d. h. von einem Ort anschaut, von dem man gerade nichts sieht, scheint adäquat, um das aufgehen zu lassen, was anders nicht zu beobachten wäre. Medientheorien sind von dieser Art: Sie scheitern an einer direkten Zugänglichkeit, an der unmöglichen Frage ,Was ist ein Medium', die deshalb so unsäglich ist, weil sie schon zu viel unterstellt und eine Klärung dort fordert, wo lediglich eine Lücke oder Höhlung klafft, die jedoch die Kraft besitzt, etwas anderes aufscheinen zu lassen und gerade darum so wirkrnächtig ist.
5. Performativität des Medialen Sperrt sich dann nicht der Medienbegriff jeder wissenschaftlichen Analyse? Es geht hier nicht um die Beschwörung eines obskuren Objekts, sondern darum, dass das Mediale eine Modalität anzeigt, die sich hartnäckig ,in der Mitte' hält, ohne selbst nach irgendeiner Seite auflösbar zu sein. Das Medium beruht dann nicht selbst auf einer Relation wie die Darstel lung oder Übersetzung, sondern konkretisiert diese durch die Art und Weise ihrer ,Realisa tion'. Aus diesem Grunde ist auch die Rede vom Medialen statt vom Medium zu bevorzugen. Es nennt kein Ding, sondern ein Prinzip. Als solches handelt es sich um eine diskursive Konstruktion, deren nichtdiskursives Fundament eine Praxis ist, die die relationalen Modi allererst erzeugt. Ihren Schlüssel bildet die unscheinbare Präposition ,durch'. Sie bildet ge rade keinen Sprung, keinen übergangslosen Schnitt, sondern erfordert einen Vollzug sozu sagen in der Welt und mit der Welt. Das ,Durch' - griechisch dia, lateinisch per - betrifft dann eine Diesseitigkeit statt der jenseitigen Phantome des ,Meta', wie sie die Vorstellungen des Mediums als ,Metapher ', Übersetzung oder Transformation regieren. Sprachlich gehört das Partikel zu den Präpositionen, genauer: den Synkategoremata, die die Grammatiken als diejenige Bestandteile der Rede identifiziert haben, die selbst nicht bedeuten, aber die zu grunde liegenden Bedeutungen allererst in Beziehung zueinander setzen (Husserl 1968: IV. 304; Bexte 2013). Solche Beziehungen werden mittels Praktiken etabliert. Anders ausge-
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drückt: Das Mediale ist nicht, vielmehr ereignet es sich. Es handelt sich nicht um ein Sein, sondern um ein Werden. Seine Exponierung als Praxis meint dabei nicht, es praxeologisch zu deuten und an Subjekte, die handeln, zu binden - was den Verben den Vorzug gäbe -, sondern sie mit der Art und Weise ihres Vollzugs und ihrer Ausführung kurzzuschließen mit einem Wort: mit ihrer Performativität. So wie sprachphilosophisch das (Frege-Husserl'sche) Modusproblem mit dem (Austin Searle'schen) Performativitätsproblem zusammenhängt, so verschränken sich ebenfalls medienphilosophisch die Begriffe der Medialität und Performativität, um sich als zwei ,Fal tungen' desselben Phänomens auszuweisen. Zur gleichen Zeit rückt an die Stelle der unbe antwortbaren ontologischen Frage, was ein Medium ist, die leichter zu beantwortende, ,wann' ein Medium ist - oder besser: unter welchen Bedingungen Medialität geschieht. Medi enphilosophie als eine Philosophie der ,Vermittlung' zielt dann weniger auf eine Philosophie der Operativität und ihrer Netzwerke, sondern auf die dezidierte Untersuchung jener sehr spezifischen praktischen Ensembles, durch (dia/per) die etwas sichtbar gemacht, zur Er scheinung gebracht oder instantiiert wird, durch (dia/per) die Sinn erzeugt oder Symbole verkörpert werden, durch (dia/per) die Informationen weitergegeben, Urteile gefällt und diskutiert werden, durch (dia/per) die aber auch die Materialen codiert, gemischt und mit einander kombiniert oder neu formatiert und in andere, noch unbekannte Stoffe verwandelt werden, durch (dia/per) die schließlich die Künste, die Wissenschaften und die Literaturen ihre episteme hervorbringen und unter Reflexion stellen, um nur einige Beispiele zu nennen (Mersch 2010, 2015 b). Es ist die Gesamtheit der menschlichen Kultur, die von ihnen bis in ihre kleinste Fiber determiniert und durch (dia/per) deren Prozesse der Anordnung, Pro grammierung, Umwandlung oder Synthese wie auch der Komposition und Dekomposition des ,Ge-Gebenen' die Werke, das Soziale, die Gemeinschaften, die Körper und Sinne wie auch deren Affekte und Reproduktionen geschaffen werden. Auch dies sind nur Beispiele. Das Mediale hat folglich seinen Ort in der unlösbaren Verstrickung zwischen Materialität und Performativität und ihrer besonderen Formate. Erst dann kann zwischen Signifikation und Medialität - oder Semiosen und Mediationen - unterschieden werden. Nicht ,Medien' existieren, sondern allein Fälle ebenso materieller wie performativer Praktiken, von denen es keine allgemeine Theorie geben kann, sondern bestenfalls Beschreibungen. Medienphiloso phie wäre dann keine Arbeit am Begriff, sondern der Schauplatz einer anhaltenden und nie ans Ende gelangenden Erforschung von ,Durchheiten'. Literatur Adamowsky, Natascha (2008): ,,Eine Natur unbegrenzter Geschmeidigkeit. Medientheoretische Überlegungen zum Zusammenhang von Aiesthesis, Perfomativität und Ereignishaftigkeit am Beispiel des Anormalen", in: Was ist ein Medium?, hrsg. v. Stefan Münker u. Alexander Roesler, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 30-64. Alloa, Emmanuel (2011): Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie, Zürich: Diaphanes. Aristoteles (1995): De anima, in: ders., Philosophische Schriften Bd. 6, Hamburg: Meiner. Bahr, Hans-Dieter (1999): ,,Medien-Nachbarwissenschaften 1. Philosophie", in: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien- und Kommunikationsformen, hrsg. von Joachim-Felix Leonhard et al. (Handbü cher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 15), Berlin, New York: de Gruyter, S. 273-281.
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Medialität und Heteronomie. Reflexionen über das Botenmodell als Ansatz einer Medienphilosophie Sybille Krämer
1. Sprach- und Medienkritik Die philosophische Reflexion der Medien ist für die Philosophie ein Randproblem. Ihre Kernbereiche (Philosophie des Geistes und der Sprache, Erkenntnis- und Wissenschaftsthe orie, von Ontologie und Metaphysik ganz zu schweigen) bleiben von medientheoretischen Fragestellungen weitgehend unberührt. Die geisteswissenschaftlichen Disziplinen erörter ten seit dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts intensiv die mediale Verfasstheit ihrer textuellen, bildlichen, musikalischen Gegenstände und Medienreflexionen erhielten ein akademisches ,Heimatrecht'. Doch an der Philosophie scheint diese ,medienkritische Wende' merkwürdig spurlos vorbei gegangen zu sein. 1 Warum tut sich die Philosophie so schwer mit medienkritischen Fragen? In den 1960er-Jahren kündigte Marshall McLuhans (1968: 13) Slogan vom ,Medium als Botschaft' die Annahme auf, dass Medien ein abgeleitetes, dienstbares und damit auch ver nachlässigbares Vehikel seien gegenüber dem, was in den Geisteswissenschaften mit ,Sinn', ,Bedeutung', ,Geist', ,Form' oder ,Gehalt' verbunden ist. Das Provozierende des Ansatzes lag darin, dass die Medien die Unschuld ihrer Vehikel- und Trägerfunktion einbüßen: Eine Ei gensinnigkeit und Eigendynamik des Medialen tritt in den Fokus, welche die Medien ihrer transitorischen Transparenz und Dienstbarkeit beraubt, um sie in ihrer eigengesetzlichen Opazität und Prägekraft sichtbar zu machen. Eben dieses Sichtbarmachen der Formations kraft von Medien markiert die Leitidee der medienkritischen Wende. Kann nun die ,Immunität' der Philosophie gegenüber medienkritischen Fragen auch da mit zu tun haben, dass die Philosophie in Gestalt ihrer ,sprachkritischen Wende' - mindes tens fünfzig Jahre früher als der ,medial turn' - eine eigene Form von Medienreflexion ein führte? In der Perspektive des ,linguistic turn' erwies sich die Philosophie als intellektuelle Vorhut; in der Perspektive einer medienkritischen Wende bildet sie allenfalls die Nachhut. Diese ,umgekehrte Proportionalität' scheint nicht zufällig. Die Entdeckung der Sprache als Konstitutionsbedingung für Erfahrung und Erkennen und damit für das menschliche Selbst- und Weltverhältnis impliziert, die Sprache gerade nicht als Medium im traditionellen Sinne einer transparenten Repräsentationsinstanz zu deuten. Sprache gilt nicht länger als sekundärer Ausdruck einer ihr vorgängigen Ordnung, sei diese gestiftet durch Strukturen Medienphilosophisch als ,Handbücher' relevant, doch kaum rezipiert in der Philosophie: Krämer 1998; Lagaay u. Lauer 2004; Mersch 2006; Münker u. Roesler 2003; Sandbothe u. Nagl 2005.
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der Welt oder des menschlichen Intellekts. Die sprachkritische Wende zielte darauf ab, Spra che, Sprechakte und Kommunikation als genuine Produktionsstätte von Geist und Sinn, Ra tionalität und Vernünftigkeit zu entwerfen. Die Auffassung eines bloß derivativen Status und einer medialen Sekundarität des Sprachlichen ist mit solchem konstitutionstheoreti schen Potenzial unvereinbar. Sprache bzw. diskursive Zeichensysteme avancieren zur Be dingung der Möglichkeit unserer Welterfahrung und unseres Weltverhältnisses. Die Antwort auf die Frage, warum Philosophie und Medienkritik einander so fremd ge blieben sind, hat somit zwei Facetten: Einerseits zeigt sich eine Familienähnlichkeit zwi schen der sprachkritischen und der medienkritischen Wende im Sinne einer Reflexionsfi gur, die darauf zielt, Phänomene des Transitorischen und des Sekundären gerade in ihrer eigengesetzlichen Konstitutionskraft und Primordialität zu rekonstruieren. Dieses der Spra che und den Medien zugesprochene generative Potenzial birgt etwas Demiurgisches: Was und wem immer solche Schaffenskraft zugesprochen wird, avanciert zu einem archimedi schen Punkt und wird fundamental gedacht und unhintergehbar gemacht. Andererseits zeigt sich eine bemerkenswerte Gegenläufigkeit: Das Sprachapriori zu etablieren, bedeutete den Status der Sprache, ein Medium zu sein, zu verabschieden - was allerdings nur konsis tent und konsequent ist im Horizont eines Medienverständnisses, welches Medien zu Vehi keln und Träger für Sinn und Bedeutung marginalisiert. Die medienkritische Debatte je doch strebt nach Überwindung eines solchen transitorischen Medienbegriffes: Medien sollen hervorbringen, was sie vergegenwärtigen. Die Folge ist, dass kraft dieser demiurgisch generativen Dimension das Medienapriori die Erbfolge des Sprachapriori antritt. Was ,die Sprache' für die Philosophie ist, sind ,Medien' für die übrigen geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Der zeitgenössische Mediendiskurs kann daher auch so gedeutet werden, dass in ihm die bewährte Reflexionsfigur der Sprachkritik noch einmal - also rekursiv - gegen über deren Ergebnissen in ,Anschlag' zu bringen ist. Doch Letztbegründungsfiguren sind methodisch problematisch: Einen Phänomenbe reich als vorgängige Matrix unseres In-der-Welt-Seins auszuzeichnen und autonom zu ma chen, führt zu Ansätzen, deren Apriorismus immun ist gegenüber der Korrektur durch em pirische Erfahrung und historische Varianz. Hier sind die Probleme apriorischer Universalisierung nicht zu erörtern; im Folgenden stellen wir uns heuristisch auf den Boden der Annahme, dass einer zeitgemäßen philosophischen Reflexion der Medien ein ihr sich aufdrängender Weg versperrt bleibt: der Weg, die Medien zum Apriori unserer Welterfah rung, somit zur universellen Bedingung der Möglichkeit von Wahrnehmung, Kommunika tion und Erkennen zu stilisieren und in dieser transzendentalen Denkfigur auch die philo sophische Legitimität einer Medienkritik in der Nachfolge der Sprachkritik zu verorten. Doch wenn eine Transzendentalisierung der Medien ausgeschlossen wird: Wo liegt die Al ternative?
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2. Vom ,Verschwinden' der Medien in ihrem Vollzug: das transitorische Medium Gehen wir von einer alltäglichen Erfahrung im Umgang mit Medien aus, in der sich eine Art von ,Ent-Autonomisierung' als ein integraler Aspekt der medialen Funktionslogik zeigt. Medien kommt die Eigenart zu, dann, wenn sie etwas zur Erscheinung bringen, für die Nutzerwahrnehmung zu verschwinden (Mersch 2002 a: 56, 2002 b: 132 ff.; Groys 2000: 22; Engell u.Vogl 2000: 1O; Krämer 2008: 26ff.). Medien aisthetisieren, indem sie selbst an-aisthe tisch werden. Das ,gute Medium' macht sich unsichtbar im Gebrauch. Wir hören den Inhalt einer Rede, aber keine Schallwellen, sehen einen Kinofilm und keine Leinwand. Medien vergegenwärtigen etwas, indem sie selbst dabei zurücktreten. Sie ziehen die Nutzer unmit telbar in das hinein, was sie übertragen und lassen das, was sie vermitteln, als Unmittelbares, Unvermitteltes erscheinen. ,Vermittelte Unmittelbarkeit' hat Walter Benjamin (1916: 142) dies genannt. Die Unsichtbarkeit des Mediums wird zum Garanten dafür, dass dessen Bot schaft hervortreten kann, wie umgekehrt das Auffalligwerden des Mediums innerhalb seines Gebrauchsaktes die Präsentation seines Gehalts unterläuft und stört. In der Digitalisierung zeigt sich diese Tendenz als Telos einer Interface-Entwicklung, bei der die Mensch-Ma schine Interaktion via Computerbildschirm immer ,natürlicher' und unauffalliger sich voll ziehen soll: von den schriftlichen Kommandozeilen früher Computer zu den Icons der gra phischen Interfaces über die Touchscreens bis hin zur anvisierten Sprach- und Blicksteuerung. Distelmeyer (2017: 17) spricht vom Paradox der Selbstverleugnung des Vermittelnden. Auf diese ,mediale Gebrauchslogik' weist auch die Herkunft des Wortes (Bahr 1999: 273ff. und Hartmann 2000: 16). Der ,terminus medius' kommt in der syllogistischen Schlussfigur in den beiden Prämissen vor und stiftet deren Verbindung; doch im Schlusssatz der conclusio ist eben dieses Wort, das als begriffliches Scharnier fungierte, getilgt und ver schwunden. Eine logische Verbindung stiftend, macht der ,terminus medius' sich selbst überflüssig.2 Keine Frage, dass die Selbstneutralisierung des Mediums keineswegs ausnahmslos gilt: Gerade die modernen Künste entwickeln gegensinnige Verfahren, ihre Medialität augenfäl lig zu machen und deren Selbstzurücknahme zu unterlaufen und umzukehren. Doch gerade diese artifizielle Außerkraftsetzung des Entzugs der Medien in ihrem künstlerischen Vollzug unterstreicht nur die Ubiquität und Selbstverständlichkeit, mit der wir im Alltag erwarten, dass Medien ,reibungslos' - sozusagen: stumm - ihren Dienst versehen: Der Bildschirm sollte nicht flimmern, das Radio nicht rauschen, die Handschrift noch leserlich sein ... Ein Zug zur Transparenz, Unauffalligkeit, Zurückgenommenheit in der physischen Signatur grundiert die Gebrauchslogik von Medien und charakterisiert deren ,transitorische Dirnen2 Ein narrativer Hinweis auf die Idee einer ,Vermittlung durch Selbstannullierung': Es geht um den Topos vom ,sterbenden Boten'. Das ist jener Läufer in Plutarchs Erzählung, der die Botschaft vom Sieg der Griechen über die Perser 490 v. Chr. bei Marathon überbrachte, indem er die 42, 19 km laufend zurücklegte und nach Über bringung der Siegesnachricht tot zusammenbrach (Plutarch 1926-27, 347 c). Zum Motiv des sterbenden Bo ten in der Kunst: Serres 1995, 80 f.
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sion' - die selbstverständlich immer und jeder Zeit zugleich bedroht ist: bei den technischen Medien spätestens, wenn der Strom ausfällt.
3. Über den Unterschied zwischen Zeichen und Medien Wenn wir der Materialität und Eigensignatur der Medien einen Zug zum Transitorischen zusprechen, scheint dies nichts zu sein, was für Medien spezifisch ist. In einer langen Tradi tion des semiologischen Diskurses werden Zeichen mit jener Art von physischen Vor kommnissen assoziiert, die ,für etwas Anderes stehen', also über sich selbst hinausweisen und eben durch diese Transparenz für etwas, das sie nicht selber sind, zur Instanz für ,Re präsentation' avancieren. Für den Umgang mit Zeichen gilt gewöhnlich: Sie müssen wahrnehmbar und in diesem Sinne präsent sein. Zugleich aber ist das, was präsent und wahrnehmbar ist, beim Zeichen sekundär; Bedeutung und Sinn der Zeichen dagegen, die zumeist unsichtbar, abwesend, vielleicht auch immateriell sind, haben als Primäres zu gelten. Doch sofern wir etwas als Medium betrachten, verhält es sich umgekehrt. Präsent ist die übermittelte Botschaft, wäh rend die physische Dimension des Mediums für die Nutzer unterhalb der Schwelle des Wahrnehmens verbleibt resp. verbleiben soll. Kurzum: In der semiologischen Perspektive ist das Verborgene der Sinn hinter dem Sinnlichen; in der mediologischen Perspektive dagegen ist das Verborgene die Sinnlichkeit hinter dem Sinn (Krämer 2008: 34). Wir stoßen hier auf eine signifikante Inversion in der Art und Weise, wie die Pole von Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, Oberfläche/Tiefe und Sekundarität/Priorität jeweils verteilt sind. Im Zeichengebrauch realisiert sich das vertraute Schema der Repräsentation: Hinter und jenseits der wahrnehmbaren Signifikanten ist das ,verborgene' Signifikat zu dechiffrie ren. Die Verfahrenslogik des Zeichens erfüllt die hermeneutische Erwartung, über das Sinn liche hinaus und jenseits von ihm den Sinn aufzusuchen. Die Gebrauchslogik von Medien kehrt diese hermeneutische Erwartung um: Nun gilt es über den Sinn, die Botschaft, den Gehalt hinaus zu gelangen und - hinter und jenseits von diesen - auf die verborgene Sinn lichkeit, Materialität und Körperlichkeit der Medien zu stoßen. In einer traditionell meta physischen Einstellung könnten wir auch sagen: Die Metaphysik der Medialität führt auf eine ,Physik der Medien'. Die Unterscheidbarkeit von ,Zeichen' und ,Medium' hat eine Konsequenz für das, was ,Medienphilosophie' bedeutet: Sie ist nicht - oder nicht in erster Linie - Medienontologie. In unserer Welt gibt es nicht Zeichen und daneben auch noch Medien, so dass beide disjunkt in Gegenstandsklassen einsortiert werden könnten. Vielmehr kann etwas als Zeichen oder als Medium thematisiert werden. Es geht um zwei wohl zu unterscheidende Perspektiven, in denen etwas - zum Beispiel Texte oder Bilder - beschreibbar ist. Wir könnten (ohne das hier weiter zu verfolgen) noch einen Schritt weitergehen und die Dimension der Technik hinzu fügen: Medialität, Semiotizität und Technizität bilden drei Perspektiven, in denen kulturelle Phänomene beschrieben werden können und deren variables Wechselverhältnis zu thema tisieren den Kern ihrer Analyse bildet. Wenn wir im Folgenden den Begriff ,Medialität ' ver-
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wenden, ist damit also akzentuiert, dass es sich um eine Hinsicht und Perspektive handelt, in der etwas betrachtet und beschrieben wird. Wir beschränken uns darauf, diese Medienper spektive zu skizzieren; sie ist das, worauf ,Medienphilosophie' zielt. Medien nicht zum letztbegründenden Apriori in der Nachfolge des ,linguistic turn' zu stilisieren und der damit verbundene Verzicht auf eine fundamentale Konstitutionsleistung bergen eine hier wichtige Facette. Konstruktion und Konstitution werden elementar mit dem demiurgischen Gestus des Machens, Produzierens und Erzeugens verbunden. Diese Emphase schöpferischer Erzeugung findet ihr Echo im traditionellen Subjektbegriff ebenso wie in Friedrich Kittlers Medienmaschinenkonzept. In dem hier zu entfaltenden Ansatz je doch werden das Verbinden, Zirkulieren, Übermitteln und Übersetzen in ihrem kulturstiften den Potenzial medientheoretisch rehabilitiert. Dies geschieht mit Hilfe des Botenmodells (Krämer 2008; Zur Figur des Mittlers und Boten: Bahr 1999; Capurro/Holgate 2011; Debray 1994; Hubig 1992; Krippendorf 1994; Siegert 1997; Tholen 2002).
4. Facetten des ,Botenmodells' Ausgangspunkt ist, dass Medien ,dazwischen' oder ,inmitten' situiert sind. Medien verbin den heterogene Domänen, Felder, Systeme oder Welten, indem sie Übertragung und Aus tausch zwischen denen ermöglichen, in deren ,Zwischenraum' und ,Mitte' sie situiert sind. Doch ist der Bote nicht eine denkbar archaische Figur, Restbestand einer Kultur, der nach richtentechnische Mittel (noch) nicht zu Gebote stehen? Wie kann die Botenfigur Leitbild dafür werden, was ein Medium leistet? Unsere Antwort geben wir in Gestalt von sieben Aspekten, die das Reflexions- und Anknüpfungspotenzial des Botenmodells aufweisen: Di stanz, Heteronomie, Drittheit, Neutralität, Wahrnehmbarmachen, Materialität, ontologi sche Indifferenz. Zu berücksichtigen ist bei all dem der Modellcharakter: Ein Medium ist kein Bote; doch die Perspektive der Medialität gewinnt- konturiert im Horizont der Boten figur- aufschlussreiche Züge. (1) Distanz als Grundphänomen aller Mit-teilung: Keine Kommunikation ohne Distanz. Das Entferntsein voneinander ist Grundbedingung aller Kommunikation. Dabei ist Distanz nicht auf räumlich/zeitliche Entfernung beschränkt, sondern impliziert auch die Differenz, welche die Kommunizierenden in der Fülle ihrer unterschiedlichen Geschichten und Erfah rungen füreinander fremd sein lässt. Mitteilung setzt immer eine Art von Teilung und Ge teiltsein voraus (Nancy 1994: 171; Nancy 1996). Der Bote wird zum Bezugspunkt- nicht für das, was Distanz bzw. Differenz ist, sondern dafür, wie wir mit Distanz und Differenz umge hen. Verschiedenheit wird durch den Botengang nicht annulliert, sondern überbrückt und damit als eine Differenz bewahrt und handhabbar gemacht. Der Umgang mit Distanz und mit dem Entfernten/ Abwesenden ist eine- wenn nicht die- Springquelle von Kultur. (2) Heteronomie als Sprechen mit fremder Stimme: Boten sprechen im fremden Namen. Der Bote ist nicht selbstständig, nicht Ursprung seines Tuns: Er spricht mit fremder Stimme, empfängt und übermittelt, was nicht von ihm selbst erzeugt wurde. Diese diskursiv ohn-
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mächtige Position erscheint wie ein Negativabdruck jener Souveränität des sprechenden Subjekts, welche die philosophische Sprechakttheorie grundiert (Searle 1969). Es wundert nicht, dass die Philosophie geradezu geboren wird aus der Zurückweisung des Botenmo dells. Platons Kritik am Rhapsoden ist immer auch Kritik an demjenigen, der seine Rede nur als Botenrede versteht. Der Bote realisiert eine Rolle, deren Drehbuch er nicht selbst ge schrieben hat. Doch zeichnet sich in dieser Fremdbestimmtheit nicht auch das Kulturgut des Theatralen ab? Mit der Stimme eines anderen und für einen anderen zu sprechen, ist das Ethos des Botengangs. Zugleich hat der Bote immer auch teil an der „Telekommunikation der Macht" (Sloterdijk 1999: 668), insofern die Verbreitung der Botennachricht den Raum einer Herrschaft sicherzustellen sucht.- Wo immer es um Medien geht, ist deren Heterono mie, also ,Außengeleitetheit' ein charakteristischer Zug. (3) Drittheit als Keimzelle des Sozialen: Der Bote stiftet eine soziale Relation.33 Die Mittler stellung als ein Drittes zwischen zwei Seiten inauguriert eine triadische Form des Zusam menhanges, für die der Bote wesentlich ist, ohne doch ihr Subjekt und Urheber zu sein. Wir denken gesellschaftliche Strukturen, also intersubjektive Beziehungen zumeist als dyadische Formen: als Sprecher und Hörer, Ego und Alter Ego, Herr und Knecht, Sender und Empfän ger, Produzent und Rezipient. Das Auftauchen eines Dritten erscheint störend und parasitär. Doch mit dem Übergang zur Instanz eines Dritten - das ist unsere Vermutung - wird über haupt erst jene Ebene erreicht, in welcher Interaktionen sich zu gesellschaftlichen Instituti onen verdichten (können). Drittheit- und nicht Dualität- bildet die Keimzelle des Sozialen (Eßlinger et al. 2010). (4) Neutralität und diabolische Entgleisung: Neutralität ist die Wurzel des Mittieramtes; In differenz gegenüber den Parteien, zwischen denen etwas zu übertragen oder gar zu vermit teln ist, scheint ein Gebot. Der Bote ist eine Person, welche ihre Mission durch eine Art von Depersonalisierung realisiert: Ein Amt wird erfüllt durch Selbstneutralisierung.44 Doch die Mittlerstellung ist ambivalent. Denn in der Position eines Dritten verbindet der Bote nicht nur, sondern distanziert zugleich; er kann unterbrechen und Zwist stiften, Streit aussäen, Intrigen einfädeln. Vermittlung hat ein Doppelgesicht: Sie kann symbolisch sein, also zu sammenwerfend (,symballein' griech.: zusammentragen/-werfen), oder diabolisch, somit auseinanderdividierend. Die diabolische Entgleisung ist der Dritten- und Neutralitätsfunk tion des Boten genuin eingeschrieben. (5) Wahrnehmbarmachen von Unsichtbarem: Die ,Uneigentlichkeit' der Botenrede verweist darauf, dass der Bote, indem er etwas sagt, vor allem etwas zeigt. In seiner Rede vergegen wärtig und präsentiert er die Rede eines Anderen. Der Bote ist eine Institution nicht der Kommunikation, vielmehr des Sichtbarmachens von etwas, das nicht präsent, sondern ab wesend und unsichtbar ist. Im Horizont des Botenmodells wird das Wahrnehmbarmachen, 3 ,Relatio' heißt im Mittelhochdeutschen ,Bericht'. 4 Dies ist eine systematische, keine historische Aussage. Zur historisch orientierten Auseinandersetzung mit dem Boten: Wenzel 1997, insbesondere der Aufsatz von Bernhard Siegert, S. 45-62.
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also das Zeigen, zur grundständigen Funktion jener Art des Sprechens, die der Botenrede eigen ist. (6) Materialität als Verkörperung: Was immer eine Botschaft ist, sie muss aus der Situation ihrer Genese ablösbar und transportierbar sein. Als Teil des Materialitätskontinuums be wegt der Bote sich im Zwischenraum des Sinnaufschubs. Die Äußerlichkeit des Sinns ist seine Operationsbasis. Nur kraft handgreiflicher Aufspaltung von Sinn und Sinnlichkeit, Text und Textur, Form und Gehalt ist Übertragung möglich. Im Boten verschränken sich In- und Exkorporation. Die Materialität von Kommunikation gewinnt handgreifliche Ge stalt in der Botenfigur. (7) Ontologische Indifferenz: Gemessen an sprechakttheoretischen Kriterien ist der Bote dis kursiv ohnmächtig und in seiner Übertragungsfunktion ersetzbar durch nichtpersonale En titäten, also symbolische bzw. technische Systeme und Apparaturen. Die ubiquitäre Boten funktion digitalisierter Kulturen ist das ,Interface'. Nichts ist technisch so gut übertragbar wie die Funktion des Übertragens selbst. Der Bote ist eine Person, die sich verhält, als ob sie ein Apparat sei. Die ontologische Differenz zwischen Mensch, Zeichen und Maschine dif fundiert; die Grenze zwischen Personalem, Symbolischem und Technischem wird operativ durchlässig. Nirgendwo ist das Zusammenwirken von Menschen und Dingen handgreifli cher als im Botengang: ,Akteursstatus' kommt im Botenmodell zumeist Konglomeraten aus Menschen, Symbolen und Apparaten zu. Eine anthropomorphe Deutung des Botenmodells ist ausgeschlossen.
5. Bote als Spur Dass das Kommunizieren im Wahrnehmbarmachen verwurzelt ist, findet in dem, was ,Spu ren uns sagen', also im ,unfreiwilligen Botentum der Spur', sinnfälligen Ausdruck. Spurenle sen ist die Inversion des Botengangs. Bote und Spur verhalten sich zueinander wie Vor- und Rückseite eines Blattes, das vom ,Übertragen' handelt. Die Aktivität des Auftraggebers und Senders wandert vom Boten zum Empfänger. Denn Spuren entstehen erst im Auge ihrer Betrachter, welche eine Markierung als Spur deuten, indem diese eine Absenz präsent macht. Der Spurenleser verhält sich als Adressat von etwas, dessen ,unwillkürlichen Absen der' er allererst zu rekonstruieren hat (Krämer 2008: 276-297). Diese Rekonstruktion hat den Charakter einer Entdeckung, einer Einsicht, einer Erkenntnis. Spurenlesen ist die er kenntnistheoretische Version des Botengangs. Den Boten in umgekehrter Richtung als Spur zu ,lesen', eröffnet das Potenzial von Medi enkritik. Wenn wir vom ,Verschwinden des Mediums im Gebrauch' sprechen, bleibt gleich wohl klar, dass die Eigensignaturen des Mediums sich an und in dem von ihm präsentierten Gehalt zwar nicht ,vordergründig', wohl aber als Spur auffinden und rekonstruieren lassen (Krämer 1998). Wird eine Wanderkarte eingesetzt, behandeln die Kartennutzer die Karte so, als ob diese ,Mittler eines Wissens' sei, durch welches Orientierung und Wegweisung mög lich wird. Das gilt für Navigationssysteme erst recht. Analysiert man hingegen die kartogra-
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phischen Gepflogenheiten, die sich in dieser Art von Karte auskristallisieren, indem gefragt wird, warum z. B. Steigungen als Höhenlinien verzeichnet sind oder in welcher Sprache die erste Schweizer Generalkarte verfasst ist, dann bleiben Karten keine ,Boten' eines Territori ums, sondern sind die kulturhistorisch sedimentierte Spur kartographischer Erzeugungs techniken und sozialpolitischer Gegebenheiten. Eine Karte entweder ,als Bote eines geogra phischen Wissens' oder ,als Spur kartographischer Erzeugungsbedingungen' zu lesen heißt, diese in unterschiedliche Handlungs- und Gebrauchszusammenhänge einzurücken. Bei Aktionen im unvertrauten Terrain wird dem ausgewählten Kartenmaterial vertraut, indem es ,zielführend' eingesetzt wird. Wird eine Karte dagegen als verkörperte Kulturtechnik und Spur ihrer Erzeugungsbedingungen analysiert, ist ein Stück Medienkritik praktiziert. Letz teres geschieht gewöhnlich nicht im unmittelbaren Nutzungsakt: Die Karte wird ihrer me dialen Funktion enthoben und vom praktischen Orientierungsmittel in ein Analyseobjekt verwandelt.
6. Wie ist die Prägekraft des Medialen erklärbar, wenn Medialität durch Heteronomie bestimmt ist? Werden Medien funktionell als Mittler, Vermittlung und Überträger bestimmt, drängt sich die Frage auf, wie die kulturelle und kognitive Prägekraft von Medien, ihre kreative Dimen sion, im Horizont eines solchen Ansatzes gesichert und analysiert werden kann. Die Ant wort lässt sich beispielhaft anhand eines Medienphänomens, der ,artifiziellen Flächigkeit', geben (Krämer 2016: 11-25). In der dreidimensionalen Welt umgeben uns inskribierte und illustrierte Flächen. Empi risch gesehen gibt es keine Flächen, doch wir behandeln die Oberflächen von Körpern da durch, dass wir diesen etwas einzeichnen oder aufzeichnen so, als ob sie ohne Tiefe, also flach seien. Die Kulturtechnik der Verflachung ist eine anthropologische Entwicklungsten denz, die von den Höhlenmalereien über Hauttätowierungen und Bilder bis zur Erfindung von Schriften, Diagrammen und Karten reicht und weiter zum Computerbildschirm und touchscreen führt. Ein artifizieller Sonderraum wird entworfen, in dem alles, was aufge zeichnet ist, auch synoptisch überblickt, teilweise manipuliert und kontrolliert werden kann. So werden neue Potenziale für Kommunikation und Kognition, Komputation und Kompo sition geschaffen. Worin gründet dieser Siegeszug der artifiziellen Flächigkeit für die Entfal tung kognitiver und ästhetischer Potenziale? Wir charakterisierten Medien durch die Position der Drittheit, durch ihr verbindendes ,inbetween'. In dieser Perspektive bildet die Zweidimensionalität der Fläche ein Drittes und Mittleres zwischen der Eindimensionalität der Zeit und der Dreidimensionalität des Lebens raumes. Daher ist die Fläche geeignet, ein Mittler und Mittleres zwischen den differenten Erfahrungsmodalitäten von Raum und Zeit zu werden. Zeitliche Sukzessionen können in simultane Raumstrukturen und vice versa transformiert werden. Henri Bergson (1989: 7 u. 89) beklagte, dass mit der Verräumlichung der Zeit in der Zeit linie als Konstituens sowohl des historiographischen Selbstverständnisses wie der naturwis-
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senschaftlichen Visualisierung, Raumkonfigurationen zur Matrix unseres Zeitkonzeptes avancieren: Die Zeit als ,Dauer' komme abhanden. Bergsons Diagnose des wissenschaftli chen Umgangs mit Zeit durch ihre Verräumlichung ist scharfsichtig, doch sie übersieht und marginalisiert die kognitive und kreative Rolle der Verräumlichung von Zeit. Denken wir nur an die Rolle der Nutzung des Schattens, der Elementarform einer Transformation von Dreidimensionalität in Flächigkeit, für die Genese der Wissenschaften in Gestalt der antiken Sonnenuhren (Bogen 2005). Wenn zeitliche Sukzession in räumliche Simultaneität verwandelt wird, ist diese Trans formation kein schlichter Übertragungs- bzw. Übersetzungsvorgang. Vielmehr impliziert sie eine Metamorphose, eine Transfiguration, die neue Potenziale freizusetzen vermag. Para digmatisch hierfür sind phonetische Schriften wie das Alphabet. 5 Die Transformation des Sprechens in die Anordnung eines Textes annulliert mimische, gestische, prosodische Dimensionen. Doch die Schriftbildlichkeit eröffnet mit ihrer graphischen Textur einen Darstellungs- und Operationsraum, für den es in gesprochener Sprache kein Vorbild gibt. Denken wir an das epistemische Schreiben in Gestalt der allmählichen und immer auch korrigierbaren Verfertigung von Gedanken; an die im Schriftbild kondensierte Kartogra phie der Sprache in Form der visuellen Artikulation von grammatischen Unterscheidungen wie Groß- und Kleinschreibung oder Interpunktion; an die ,Zweistimmigkeit' von Texten, welche durch die separaten Regionen von Fließtext und Fußnoten eröffnet wird; an die neu artigen Zugriffsmöglichkeiten, die Texte mit ihrer Gliederung, den Inhaltsverzeichnissen und Indices ermöglichen. All dies verweist darauf, wie die Verwandlung des zeitlich sequen zierten Redens in den räumlich strukturierten Text neue kognitive und ästhetische Sprach verwendungen möglich macht. Artifizielle Flächigkeit verwandelt nicht nur temporale Sukzession in räumliche Simulta neität, sondern ebenso auch textuelle Strukturalität in zeitliche Prozessualität und Perfor manz. Computerprogramme können geschrieben, Musikpartituren und Choreographien notiert und Entwurfszeichnungen angefertigt werden, um in anderer Zeit, von anderen Per sonen oder Apparaten gelesen und realisiert zu werden. Ein zeitlicher Vollzug gerinnt zu einer übertragbaren stabilen räumlichen Konfiguration, die wiederum im Handeln verflüs sigt wird und zu neuen räumlichen Strukturen gerinnen kann. überdies profitiert auch die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft vom Einsatz artifizieller Flächigkeit: Denn die Anschaulichkeit und Operativität, welche die inskribierte Fläche eröffnet, ist stets eine Anschauung und Operativität im ,Modus des Wir'. Anhand eines historischen Beispiels sei das Erkenntnispotenzial graphischer Flächigkeit erläutert.
5 Phonetische Schriften sind nur ein kleiner Ausschnitt möglicher Schriftarten 1
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7. Die graphische Interaktion von Punkt und Linie eingesetzt als Erkenntnismittel Johann Heinrich Lambert (1728-1777) arbeitet im Kreuzungspunkt von Philosophie, Ma thematik, empirischer Naturwissenschaft und Kartographie. Er ist ein Pionier auf dem Ge biet des wissenschaftlichen Gebrauchs von Graphen und Diagrammen (Bullynck 2008; Shynin 1966; Vogelgsang 2004), eingesetzt als ,Denkzeuge', welche heterogene Erkenntnis verfahren wie Begriff und Anschauung, Theorie und Empirie, universelles Gesetz und sin guläre Messdaten in einem graphischen Vermittlungsakt aufeinander beziehbar machen (Lambert 1765, 426 f.). Um Messfehler zu vermeiden wird in Experimenten eine Messung mehrmals wiederholt und ein Durchschnittswert gebildet, um diejenigen Versuche auszusondern, deren Abwei chung vom Durchschnittswert am höchsten ausfällt. Lambert entwickelt eine rein graphi sche Methode, wie das Umgehen mit Messfehlern kontrollierbar und schließlich korrigier bar wird.
Abb. 1: Gerade Linie Er trägt partikuläre Messergebnisse als Punkte in einem Hilfsliniensystem ein und verbindet diese durch eine gerade Linie. Die ermittelten (Mess-)Punkte enden - hier durch kleine Buchstaben gekennzeichnet - jeweils vor oder hinter dieser Geraden, denn die Punkte ver ändern sich zwar ansteigend, doch das Maß ihrer Veränderung ist nicht konstant. Lambert zeichnet anstelle einer Zickzack-Verbindung zwischen den faktischen Messpunkten eine gerade, also kontinuierlich ansteigende Linie ein - ,,gleichsam wie Mitten durch" (Lambert 1765, 476). Lambert geht von der Voraussetzung aus, dass der Messung ein gesetzlicher, li nearer Zusammenhang zugrunde liegt und dass die gerade Linie dieses allgemeine Gesetz darstellt, welches den ermittelten Daten implizit ist und explizit gemacht wird durch die ,idealiter' verfahrende graphische Linie. Wenn aus immer auch fehlerbehafteten experimen tellen Messungen arithmetisch der Mittelwert gebildet wird, so liegt dieser Wert genau auf der eingezeichneten Linie: Das sind hier die Punkte G, g und y. Die auf der Fläche vollzo gene Verbindung zwischen singulären Daten ( = Punkten) und einem universellen Gesetz ( = Linie) nutzt Lambert, um Abweichungen in der Empirie zugunsten der akzentuierten Deut lichkeit der gradlinigen geometrischen Repräsentation zu korrigieren.
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2.
PHÄNOMENOLOGISCHE THEORIEN
Phänomenologisches und ästhetisches Schauen im Ausgang von Husserl und Merleau-Ponty Thomas Friedrich
1. Phänomenologie als Philosophie der Vermittlung Die von Edmund Husserl (1859-1938) begründete Phänomenologie ist in doppelter Hin sicht Medienphilosophie. Einmal zeigt Husserl auf, dass wir im Alltag die Welt naiv als exis tierende wahrnehmen; durch den methodischen Schritt der Epoche, das Außerkraftsetzen der Seinssetzung, gelingt es ihm, die in der Alltagswahrnehmung verdeckte Vermitteltheit der Weltwahrnehmung bewusst zu machen. Die naiv wahrgenommene Welt der Alltagsein stellung transformiert sich durch die Epoche in die vom Bewusstsein wahrgenommene Welt des Phänomenologen. Anders gesagt, die Welt wird nun durch spezifische Bewussteinsleis tungen als medial-vermittelte deutlich. Zum anderen thematisiert Husserl ab 1916 den Leib als Medium, was nach Husserls Tod von Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) in modifi zierter Form weitergeführt wird. 2. Husserl: Bewusstseinsleistungen und Wahrnehmungen Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Position Husserls. 1 Dieser wurde durch die Veröffent lichung der ersten Teile seiner Logischen Untersuchungen im Jahr 1900 einer der meistdisku tierten Philosophen seiner Zeit, weil er die bis dahin vorherrschende philosophische Leit disziplin, die Psychologie, einer radikalen Kritik unterzog. Im ersten Band der Logischen Untersuchungen, den Prolegomena zur reinen Logik, ist Husserls berühmte Psychologismus kritik festgehalten, in deren Konsequenz er selbst von der Psychologie zur Transzendental philosophie umschwenkte. Husserl vollzog die Wendung von der psychologistischen Aus einandersetzung mit der Mathematik zur transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie für sich aber erst 1913 mit der Veröffentlichung des ersten Buches der Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (Ideen 1). Dort verblüffte Husserl viele seiner Schüler. Grund war die darin propagierte Methode der phänomenologischen 1 Die Husserl-Passage dieses Textes ist eine überarbeitete Fassung eines Abschnitts aus Friedrich u. Gleiter 2007.
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Reduktion, die vielen, die ihn wegen seiner Psychologismuskritik schätzten, wie ein Rückfall in die Psychologie vorkam. Um dies zu verstehen, muss man sich das Modell der Reduktion kurz vergegenwärtigen. Die phänomenologische Reduktion selbst kennt mehrere Schritte und beginnt mit der Einklammerung der Seinssetzung; diese nennt Husserl Epoche. Hus serls Phänomenologie ist in erster Linie Erkenntnistheorie. Allgemein formuliert, geht es Husserl vor allem um die Klärung der Frage: )Nie erkennt der Mensch die Welt?" Nun sind uns im alltäglichen Normalfall der Wahrnehmung die Bewusstseinsleistungen nicht thema tisch, vielmehr in der Regel so selbstverständlich, dass sie uns gar nicht bewusst sind. Ledig lich wenn die Wahrnehmung „missglückt", wird uns für einen Augenblick bewusst, dass weltkonstituierende Bewusstseinsleistungen beim Erkennen derselben eine zentrale Rolle spielen. Um die Bewusstseinsleistungen freizulegen, die die Welt als sinnhafte konstituieren, schlägt Husserl einen Denkweg ein, der sich von der Art und Weise, wie wir im Alltag un sere Umgebung wahrnehmen, grundlegend unterscheidet. Husserl spricht in diesem Zu sammenhang von zwei verschiedenen Einstellungen. Bei all unserer Alltagswahrnehmung von Dingen in der Außenwelt - er nennt das transzendente Wahrnehmung- gehen wir da von aus, dass es die wahrgenommenen Dinge auch real gebe. Genau diese Annahme (Seins setzung, Existenzsetzung) schaltet Husserl aus. Den Phänomenologen interessiert es erst einmal nicht, ob ein Ding außerhalb des Bewusstseins existent ist oder nicht, und genau dieses Absehen von der Existenz der Dinge ist der erste methodische Schritt, den Husserl Epoche nennt. Sie ist eine Einstellungsänderung des Menschen der Welt gegenüber - aus dem Blick des Alltagsmenschen wird der wissenschaftliche Blick des Phänomenologen. Diese Einstellungsänderung ermöglicht es dem Phänomenologen, die Bewusstseinsleistun gen, die uns die Welt als sinnhafte erscheinen lassen, zu thematisieren und zu rekonstruie ren. Husserl treibt nun die phänomenologische Reduktion einen entscheidenden Schritt wei ter. Nicht nur im Hinblick auf Objekte soll die Epoche vollzogen werden, sondern das Sub jekt selbst soll seine empirische Existenz einer Einklammerung unterziehen und reines Ich werden. Husserl nennt diesen weiteren methodischen Schritt transzendentale Reduktion. Und genau an diesem Punkt wird die phänomenologische Reduktionslehre heikel, denn das letzte Nichthintergehbare bei der phänomenologischen Analyse von Bewusstseinsleistun gen bleibt die eigene Existenz, und die ist nun mal empirisch. Zwar kann ein reines Ich ge dacht werden, sich selbst aber als reines Ich zu denken ist logisch nicht möglich. Husserl stellt zwar die phänomenologische Reduktion in den Ideen 1 in Anlehnung an Descartes' methodischem Zweifel vor, aber er geht insofern über Descartes hinaus, als er das Bewusstsein als Bewusstseinsstrom fasst. Dies besagt, dass ich gleichzeitig verschiedene Be wusstseinserlebnisse habe, die sich ablösen, sich aber auch überschneiden; sie können mir schwachbewusst sein, halbbewusst oder vollbewusst. Die Übergänge sind dabei stufenlos. Laufend habe ich visuelle, akustische, olfaktorische und haptische Erlebnisse, auch Hoff nungen, Wünsche, Phantasien, Wut, Freude, Begierden, Absichten, Erinnerungen. Bei Hus serl heißen sie Bewusstseinserlebnisse, und als einzelne gefasst sind sie letztlich abstrakt; konkret sind sie als Teil des Bewusstseinstroms gegeben. Wenn so in der Phänomenologie
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laufend von Bewusstsein, Bewusstseinsleistungen, Bewusstseinserlebnissen, Bewusstsein strom usw. die Rede ist, darf man den Begriff Bewusstsein keinesfalls umgangssprachlich, wörtlich verstehen. Ein Großteil der Bewusstseinsleistungen ist uns ja in einem psychologi schen Sinne gar nicht bewusst. Gerade deswegen bedarf es der Epoche als Methode. Es gibt einen weiteren grundlegenden Unterschied zwischen Husserl und Descartes. Die einzelnen Bewusstseinserlebnisse sind zunächst nichts anderes als verschiedene Formen des cogito. Was aber bei Husserl hinzukommt, ist die Intentionalitätsstruktur des Bewusstseins. Was heißt das? Für Descartes war das „ich denke" unbezweifelbar, während das dazugehö rige Objekt(zum Beispiel ein sinnlicher Wahrnehmungsgegenstand) als bezweifelbar be stimmt wurde. Das „Dass" des cogito war mir sicher, das „Was" aber nicht. Husserl zeigt nun, dass ein cogito ohne cogitatum(ein „ich denke" ohne ein „Gedachtes", Noesis ohne noematischen Gegenstand) gar nicht vorstellbar ist. Anders formuliert: Bewusstsein ist im mer Bewusstsein-von-etwas. Denken ist immer ein Denken-von-etwas. Man kann dies nun bei allen obigen Beispielen für Bewusstseinserlebnisse aufzeigen. Wenn ich einen Wunsch habe, wünsche ich mir etwas, wenn ich ein visuelles Erlebnis habe, sehe ich etwas, wenn ich eine Hoffnung habe, hoffe ich etwas, wenn ich mich erinnere, erinnere ich mich an etwas usw. Und dieses Gerichtet-Sein eines Denkaktes (Bewusstseinserlebnisses) ist gemeint, wenn Husserl von der Intentionalität spricht. Intentionalität hat also nichts mit „Absicht" zu tun, sondern bezeichnet die Grundstruktur des Bewusstseins, nach der jedes Bewusstsein serlebnis auf einen Gegenstand gerichtet ist. Die Intentionalität als Grundstruktur des Bewusstseins bezieht sich auf alle Gegen standsarten, nicht nur auf die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände(Dinge, bei Husserl auch reale Gegenstände genannt). Husserl nennt neben diesen u. a. noch ideale Gegenstände (zum Beispiel geometrische Formen wie das gleichseitige Dreieck) und fiktive Gegenstände (zum Beispiel Pegasus). Wie gesagt, geht es in der Phänomenologie um Gegenstände im „Wie" ihres Gegebenseins im Bewusstsein. Reale, ideale und fiktive Gegenstände sind dem Bewusstsein jeweils in anderer Art und Weise gegeben. Um die Charakteristik des „Wie des Gegebenseins" zu ermitteln, führt Husserl als weiteren methodischen Schritt, nach vollzoge ner Epoche, die uns in die phänomenologische Einstellung bringt, die eidetische Reduktion ein. Das Wort eidetisch kommt vom griechischen eidos, Wesen. Husserl spricht auch von der „Wesensschau". Was meint das nun? Nicht an den Dingen selbst, deren Existenzsetzung ja durch die Epoche eingeklammert ist, kann ich ihr Wesen ablesen, sondern an der spezifischen Art ihres Gegebenseins im Bewusstsein. Gegenstand der Wesensanalyse sind bei Husserl wie immer das Bewusstsein und seine Vorstellungen. Um nun in diesem Sinne eine Wesensanalyse zu betreiben, muss ich laut Husserl Folgendes tun: Ich muss mir zum Beispiel Wahrnehmungserlebnisse vor nehmen, um herauszufinden, wie mir reale(= transzendente) Gegenstände gegeben sind. Wie ist mir zum Beispiel bewusstseinsmäßig dieser Schreibtisch, an dem ich gerade arbeite, gegeben? Wie ist es, wenn ich ihn von einer anderen Seite betrachte, wenn ich ihn umgehe - was verändert sich im Bewusstsein? Ein erstes Resultat der eidetischen Reduktion ist zum Beispiel, dass mir dieser Tisch immer nur perspektivisch im Bewusstsein gegeben sein kann.
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Unterzieht man vergleichend andere Wahrnehmungserlebnisse dieser Reduktion, wird man feststellen, dass uns auch andere reale Dinge nur perspektivisch gegeben sind. Husserl er kennt, dass es ein Wesensmerkmal der Gegebenheitsweise realer Gegenstände im Bewusst sein ist, dass sie uns immer nur in Abschattungen gegeben sein können. Statt von eidetischer Reduktion spricht Husserl auch von eidetischer Variation. Dieser Ausdruck bezeichnet deut licher, was gemeint ist: Verschiedene Bewusstseinserlebnisse, reale, reelle, ideale, fiktive Ge genstandsarten betreffend, werden durchvariiert, um zu sehen, was sich bei ihnen jeweils wesensmäßig durchhält. Für Husserl war es eine zentrale Frage, wie es denn sein kann, dass wir ein Ding sehen, obwohl uns doch phänomenal immer nur einzelne Seiten von ihm gegeben sind. Umgehen wir zum Beispiel eine vor uns stehende Lampe, dann ändern sich im Wahrnehmungsverlauf die visuellen Erscheinungen (sensuellen Empfindungen) ständig. Trotzdem sehen wir eine Lampe. Aus der Mannigfaltigkeit der wechselnden Empfindungen kann man laut Husserl nicht erklären, wie es zur Dingwahrnehmung kommt. Darin unterscheidet sich Husserl von der Position des Sensualismus, die meint, sinnliche Wahrnehmung durch die bloßen Sin nesdaten begründen zu können. Zur Mannigfaltigkeit der wechselnden Empfindungen im Wahrnehmungsverlauf muss laut Husserl eine Leistung des Bewusstseins hinzukommen, damit es überhaupt zur Dingwahrnehmung kommen kann. Diese Leistung bezeichnet er mit dem Terminus „Auffassungssinn". Und in der Tat ist es so, dass zum Beispiel eine runde geschlossene Form, gezeichnet auf einem Blatt Papier als Buchstabe 0, als Zeichnung eines Balls oder als geometrische Figur aufgefasst werden kann. Husserl spricht statt vom Auffas sungssinn auch vom bedeutungsverleihenden Akt, was verdeutlichen soll, dass erst das Be wusstsein durch den Auffassungssinn das gegebene bloße Gekritzel auf dem Papier sinnvoll macht bzw. es mit Bedeutung versieht. Der Gegenstand bzw. das So-und-so-aufgefaßte Ding wird zum (vom Bewusstsein) vermeinten Gegenstand. Fälle von „missglückter " Wahrnehmung machen die Rolle des Auffassungssinns deut lich. Hört man zum Beispiel das zunehmende Geräusch beginnenden Regens, das sich stei gernde Rauschen fallender Tropfen, und merkt plötzlich, dass lediglich ein Windhauch die Blätter der Baumkronen in der Nähe stehender Pappeln in Bewegung gesetzt hat und dies der Grund des Rauschens ist, spricht der Phänomenologe von Enttäuschung. Aus Regenfall ist Blätterrauschen geworden. Das zuerst Gehörte ist unwiderruflich verloren. Man kann es meist gar nicht glauben, vorher etwas anderes gehört zu haben. Aus Gehörtem ist Ungehör tes (Nichtvorhandenes) geworden. Enttäuschungen können in allen Sinnesfeldern vorkom men. Häufiger sind Fälle bloß partieller Enttäuschung, wenn sich zum Beispiel durch einen Perspektivenwechsel des Betrachters herausstellt, dass die Rückseite einer roten Kugel gelb ist. Was die vermeinte Farbe anbelangt, fand dann Enttäuschung statt, während die Form sich bestätigte. So führt das Wechselspiel von Erfüllung und Enttäuschung zu einer stetigen Näherbestimmung des Gegenstandes. Enttäuschungen sind deshalb so interessant, weil sie Rückschlüsse auf die Bewusstseins leistungen zulassen. So lässt sich über die Enttäuschungen rekonstruieren, dass uns Gegen-
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stände immer nur vermittelt über eine Vormeinung bewusstseinsmäßig gegeben sind, egal ob im vorwissenschaftlichen (lebensweltlichen) oder wissenschaftlichen Bereich. Außer dem zeigt sich, dass im lebensweltlichen Bezug zur Welt bereits Vorformen wissenschaftli cher Methoden auszumachen sind. Denn die Rede von Vormeinung bzw. Bedeutungsinten tion, und dazu korrelierender Erfüllung bzw. Enttäuschung und daraus sich ergebender stetiger Näherbestimmung des Gegenstandes, benennt nicht weniger als eine lebensweltli che Vorform der wissenschaftlichen Methode der Induktion. Husserl macht deutlich, dass von allen Sinnesfeldern das haptische eine Sonderrolle bei der Wahrnehmung spielt. Denn jede sinnliche Wahrnehmung ist mit kinästhetischer Leib wahrnehmung gekoppelt. Die Leibphänomenologie enthält eine allgemeine Wahrneh mungstheorie der Kinästhesen. Im Zusammenhang mit der Ding- und Raumkonstitution bestimmt Husserl den Leib dreifach: 1. als Mittel aller Wahrnehmung, 2. als freibewegtes Ganzes der Sinnesorgane, 3. als Orientierungszentrum. Als freibewegtes Ganzes drückt sich durch den Leib die Funktion der Spontaneität, das „ich kann", aus. ,,Ich" bin es, der entschei det, ob ich mich im Raum jetzt nach links wende, nach rechts, nach vorne oder hinten. ,,Ich" entscheide, ob ich jetzt mit meiner Hand über den Tisch streife, um zu spüren, ob ein gese hener glänzender Fleck auf dem Schreibtisch klebrig ist oder nicht. ,,Ich" bin es, der den Kopf wendet, um besser hören zu können, ob der Hund gerade geknurrt hat usw. Neben dieser Funktion der Spontaneität gehören zur Konstitution von Raumdinglichkeit not wendig zwei korrelierende Arten von Empfindungen (Rezeptivität): nämlich erstens die Empfindungen, die Merkmale des Dinges konstituieren, zum Beispiel Farbempfindungen, Empfindungen von Oberflächenbeschaffenheiten, und zweitens die kinästhetischen Emp findungen, das heißt die Leibempfindungen der verschiedenen Organe, zum Beispiel die Augenbewegungsempfindungen beim Sehen oder die Armbewegungsempfindungen beim Berühren usw. In der Tat lässt sich keine Wahrnehmung, egal welches Sinnesfeld dabei ge rade im Vordergrund steht, ohne gleichzeitige Leibempfindung vorstellen. Fast ständig ist der Leib leicht in Bewegung; auch wenn man sitzt, blinzelt man mit den Augen, dreht den Kopf, schlägt die Beine übereinander, spürt auch die inneren Organe: Das Herz schlägt, der Bauch knurrt usw. Freilich ist man die meiste Zeit weniger auf die kinästhetischen Leibemp findungen konzentriert als auf die Merkmalsempfindungen der wahrgenommenen Dinge. Aber über eine Einstellungsänderung lassen sich die Leibempfindungen leicht thematisie ren. Wer einen Waldspaziergang macht, ist mit seinen Sinnen meist auf die ihn umgebende Tier- und Pflanzenwelt gerichtet, während er seinen Leib bewusst erst dann spürt, wenn er zum Beispiel stolpert. Der Leistungssportler dagegen fügt seinem Leib derartige Strapazen zu, dass die Leibempfindungen notwendig im Vordergrund stehen. Wir nehmen nie nur über ein Sinnesfeld wahr, sondern stets über mehrere gleichzeitig. Wenn ich vor mir zum Beispiel eine lackierte, glänzende Tischoberfläche sehe, entsteht mir daraus die haptische Vormeinung, dass bei der möglichen Berührung der Tischplatte die Merkmalsempfindung der Glattheit erfolgt. Ebenso erwarte ich akustisch ein Quietschen, wenn ich mit dem Finger stark aufdrückend über diese glatte Oberfläche streiche. Für die sinnhafte Konstitution der äußeren Welt leistet das Bewusstsein somit eine ständige De-
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ckungssynthesis der einzelnen Sinnesfelder. Die sinnliche Wahrnehmung realisiert sich letztlich über ein ständig sich abgleichendes System der leibgebundenen Sinnesfelder. Akus tische, visuelle, haptische und olfaktorische Bewusstseinserlebnisse bilden zusammen ein wechselwirkendes System von Vormeinungen (Bedeutungsintentionen), die dann im Wahr nehmungsverlauf erfüllt oder enttäuscht werden. Durch das Vorhandensein mehrerer Sin nesfelder kann, wie Husserl in den Ideen 2 zeigt, selbst das abstrakte, isolierte Ich eine Vor form der Objektivität ausbilden. Sie kommt darüber zustande, dass das Ich die „falsche" Wahrnehmung eines Sinnesfeldes, zum Beispiel des haptischen bei Vorhandensein einer Warze auf einer Fingerkuppe, erkennen kann, weil unter den anderen Sinnesfeldern der einheitliche Wahrnehmungsverlauf durch die Deckungssynthesis dieser Sinnesfelder erhal ten bleibt. Objektivität im üblichen Sinn ist das freilich noch nicht, diese ergibt sich erst im intersubjektiven Zusammenhang. Soviel zur Vorstellung der husserlschen Position. Auch wenn Husserl im Laufe seiner methodischen Entwicklung mehr und mehr den Leib zum zentralen Begriff seiner Phäno menologie macht, darf darüber nicht vergessen werden, dass er auch seine Leibphänomeno logie als Transzendentalphilosophie im Sinne der phänomenologischen Reduktion verstan den wissen will.
3. Fellmann, Wiesing, Merleau-Ponty, Waldenfels, Schürmann: Kritik der Epoche, intersensorische Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Seh-Akte Wie oben schon kurz angedeutet, wird die phänomenologische Reduktion an der Stelle hei kel, an der das Subjekt an sich selbst die Einklammerung der Seinssetzung, die Epoche, voll ziehen soll. Husserl behauptet damit nicht weniger als die Möglichkeit der Hintergehbarkeit des eigenen, empirischen Ichs, wobei er freilich ständig eingestehen muss, dass das empiri sche und das reine Ich nach der Stufe der „Reinigung" zusammenfallen würden. Dieser Teil der phänomenologischen Reduktion bleibt dunkel und rätselhaft. Das Subjekt, das die Re duktion an sich vollzieht, ist empirisch, und damit ist die Reduktion selbst psycholo gisch-kausal gefasst. Genau deswegen interpretierten ja viele Husserlschüler die Ideen 1 als einen Rückfall in die Psychologie. Ferdinand Fellmann (1989, S. 127) hat diese Aporie der phänomenologischen Reduktion folgendermaßen formuliert: ,,Niemand weiß, was mein reines Bewusstsein wirklich bedeutet. Denn solange das Bewusstsein meines ist, also empi risch, ist es nicht rein, und wenn ein Bewusstsein rein ist, also Bewusstsein überhaupt, dann ist es nicht empirisch. Hier liegt das Dilemma der transzendentalen Phänomenologie. Sie will keine Introspektion sein. Das wäre Psychologie, welche die Geltungsansprüche, an de nen die Phänomenologie festhält, zerstört. Gleichwohl bleibt die Phänomenologie der sub jektiven Seite des Erkenntnisvollzugs zugewandt. Wie ist das möglich? Subjektivität ohne Subjektivismus - das ist das ungelöste Rätsel der Reduktion". Auch Lambert Wiesing sieht die husserlsche Epoche kritisch und zeigt auf, dass sie sich sinnvoll vom Bereich des Bewusstseins überhaupt (Husserl) auf den Bereich des Bildes
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übertragen lässt. Das Bewusstsein ist intentional und das Bild ist intentional. Zusätzlich sind beide medial transparent. Das heißt, bei beiden macht die Epoche Sinn. Beim durch die Epoche vollzogenen Übergang von der natürlichen Einstellung zu künstlichen Einstellungen wird einmal bei Husserl die Blickrichtung auf das Wie der Gegebenheit der Gegenstände im Bewusstsein gelenkt, und das andere Mal wird die Sichtbarkeit des Bildes selbst zum Thema. Das Bild wird nach der Epoche als bedeutungsbildendes Medium gesehen. Im Grunde ver suchte das bereits die formale Ästhetik, zum Beispiel bei Heinrich Wölfflin, im 19. Jahrhun dert. Denn sie „ist der Versuch das Bild als eine Fläche zu sehen, um so die Oberfläche des Bildes zu einem Phänomen werden zu lassen. Es geht ihr um einen Ästhetisierungsprozess, das heißt um eine Sensibilisierung für anästhetische Aspekte des Bildes. [ ... ] Das Ziel ist eine Inversion der immanenten Ästhetik-Anästhetik-Relation des Bildes. Die Kraft des Bildes, den Blick durch die Oberfläche bis auf das Dargestellte zu ziehen, wird durch die Epoche künstlich außer Kraft gesetzt, um so, nachdem der Blick beim Dargestellten angelangt war, sozusagen aus der Tiefe, nicht direkt von vorn, sondern von hinten zur Oberfläche wieder aufzutauchen" (Wiesing 1997: 216f.). Formale Ästhetik darf dabei auf keinen Fall verwechselt werden mit dem im Architektur und Designbereich häufig pejorativ verwendeten Begriff der Formalästhetik. Von letzter spricht man, wenn ich „direkt von vorn" zur Oberfläche sehe und dabei vor den Bildinhalten innehalte und das Bild damit lediglich als Fläche betrachte, auf der formale Elemente und Grau- oder Farbwerte verteilt sind. Dann bekomme ich die Bildoberfläche lediglich als Or nament ins Blickfeld, und genau das wollte ja die formale Ästhetik unbedingt vermeiden. Stil wird damit ein Gegenbegriff zum Ornament: Stil ist die Bedingung der Möglichkeit, mit einem Bild auf etwas außerhalb des Bildes verweisen zu können. Der Stil ist das, was jede Bedeutung ermöglicht. Zusammenfassend lautet die These Wiesings: Will man die Epoche auf das Bewusstsein allgemein ansetzen, verwickelt man sich in Aporien, während es für die Bildbetrachtung äußerst sinnvoll ist, die Epoche vorzunehmen. Maurice Merleau-Ponty hat die Leibphänomenologie Husserls auf interessante Weise fortgeführt und dabei die Aporien der transzendentalphilosophischen Konzeption der Phä nomenologie umgangen. Er hat die Wahrnehmung als intersensorische ausgeführt. Was Husserl in den Ideen 2 bereits erkannt hat, dass nämlich die Wahrnehmung zu verstehen ist als ein sich stetig abgleichendes System der verschiedenen leibgebundenen Sinnesfelder, wird nun von Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung bis ins Detail ausge führt. Die verschiedenen Sinne, das Akustische, Visuelle, Olfaktorische und Haptische ste hen in Interaktion und es gibt zwischen ihnen eine Art Stellvertretersystem. Wir sehen eine Farbe und assoziieren dazu einen Klang oder Geruch - wir nehmen stets mit allen Sinnen gleichzeitig wahr, und die Fokussierung auf einen Sinn ist eine eher selten vorkommende Abstraktion, zum Beispiel, wenn wir uns auf das Blau des Himmels konzentrieren. Entschei dend ist dabei die zentrale Stellung des Leibes, der gleichsam als Übersetzer zwischen den Sinnen wirkt. Die Synthesisleistungen dieser „Übersetzungen" werden dabei nicht durch das denkende, reflektierende Subjekt willentlich realisiert, sondern es sind solche des leiblichen Ichs. Erst wenn Probleme bei der Auffassung von Sinnesdaten auftreten, gehen wir in die
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Reflexion. Fiona Hughes (2005: 183) schreibt dazu: ,,Meine Sinne nehmen auf, was immer schon da ist, schon fertig ist. Ich konstituiere nicht die Welt, sondern ich rekonstituiere sie. Aus diesem Grund sagt Merleau-Ponty gegen Hegel, dass das Subjekt ,eine Höhlung und kein Loch' [un creux, pas un trou] im Sein sei. Ich bin eo-natürlich mit der Welt. Ich bin ein Subjekt, insofern ich Welt aufnehme, die meinem Eingreifen immer schon vorgängig ist. Das Subjekt ist weder nur Denken noch passiver Rezipient". Hier wird nun deutlich, dass sich bei Merleau-Ponty die Aporien der husserlschen transzendentalphilosophischen Kon zeption deswegen nicht ergeben, weil er den Leib als Subjekt/Objekt auffasst. Ich bin Sehen der/Gesehener, Berührender/Berührter. Die Hauptthese von Merleau-Ponty (1986: 191) in Das Sichtbare und das Unsichtbare ist die von der Reversibilität zwischen Sehendem und Gesehenem: ,,das Fleisch, von dem wir sprechen, ist nicht die Materie. Es ist das Einrollen des Sichtbaren in den sehenden Leib, des Berührbaren in den berührenden Leib, das sich vor allem dann bezeugt, wenn der Leib sich selbst sieht und sich berührt, während er gerade dabei ist, die Dinge zu sehen und zu berühren, sodaß er gleichzeitig als berührbarer zu ih nen hinabsteigt und sie als berührender alle beherrscht und diesen Bezug wie auch jenen Doppelbezug durch Aufklaffen oder Spaltung seiner eigenen Masse aus sich selbst hervor holt". Es ist die Leiblichkeit, die Subjekt und Objekt teilt und damit Sehen und Berühren möglich macht. Das Ich ist jetzt nicht mehr logisches Bedingungs-Ich oder logischer Bedin gungs-Leib wie in der Transzendentalphilosophie Husserls, sondern gekennzeichnet einmal durch den Chiasmus von Sehender/Gesehener und Berührender/Berührter und zusätzlich durch den Chiasmus „zwischen dem Berührbaren und dem Sichtbaren, das in das Berühr bare eingebettet ist, ebenso wie umgekehrt dieses selbst kein Nichts an Sichtbarkeit, nicht ohne visuelle Existenz ist. Derselbe Leib sieht und berührt, und deshalb gehören Sichtbares und Berührbares derselben Welt an" (Merleau-Ponty 1986: 177). Bernhard Waldenfels, der zusammen mit Regula Giuliani Das Sichtbare und das Unsicht bare von Merleau-Ponty ins Deutsche übersetzt hat, hat 2004 sein Buch Phänomenologie der Aufmerksamkeit veröffentlicht. Er behandelt hier einen Gegenstand, der philosophisch schwer zu fassen ist. Die Aufmerksamkeit ist eine Art Schwellenphänomen, es geht bei ihr darum, wann eine unmerkliche Rezeption in eine bewusste Apperzeption übergeht. Wann hebt sich ein Gegenstand im Bewusstsein ab und wann verschwindet er, wann springt etwas aus der Reihe und fällt auf? Das kann ein Inneres sein, wie Schmerz, oder etwas Äußeres, wie ein Erdbeben. Die Aufmerksamkeit bewegt sich „zwischen den Extremen einer schläfrigen Monotonie, wo nichts mehr auffällt, und der Überwachheit des Schocks, wo etwas völlig aus dem Rahmen fällt und uns fassungslos macht" (Waldenfels 2004: 130). Waldenfels unter scheidet zwischen primären oder kreativen und einer sekundären, eher repetitiven Auf merksamkeit. Die erste Form ist die einer Ermöglichung, während die zweite Form eher den Status eines Wiederauffallens hat. Laut Waldenfels gibt es eine mediale Bindung der Auf merksamkeit, die er folgendermaßen beschreibt. Aufmerksamkeit umfasst die Doppelbewe gung von Auffallen (das Was, das auffällt/Objekt) und Aufmerken (der Wer, der aufmerkt/ Subjekt). Zwischen diese beiden schieben sich nun Modalitäten, Techniken und Medien und bilden Zwischeninstanzen, wobei den Modalitäten das Wie, den Techniken das Womit
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und den Medien das Wodurch der Erfahrung zugeschrieben wird. Waldenfels nennt dies mediatisierte Erfahrung (vgl. Waldenfels 2004: 113). Diese Zwischeninstanzen führen nun auf je verschiedene Weise dazu, dass Aktualitäten der Aufmerksamkeit sedimentiert und zu Habitualisierungen des Aufmerksamkeitsverhaltens werden - aus kreativer Aufmerksam keit wird repetitive. Weil wir Leibkörper oder Subjekt/Objekt sind, und beide keine bruch lose Einheit bilden, ist die durchgehende Medialität der Erfahrung prototypisch in der leib lichen Selbsterfahrung angelegt. Eine produktive Verknüpfung der Phänomenologie mit Elementen der analytischen Phi losophie leistet Eva Schürmann (2008, 2017). Indem sie die Performativität als Strukturele ment jeder Praxis fasst, vermeidet sie die problematischen philosophischen Gegenüberstel lungen von Sensualismus und Mentalismus einerseits und Realismus und Konstruktivismus andererseits. So wie in der Sprechakttheorie der Fokus auf den Sprachvollzug gelegt wird, fokussiert sie das Ereignis des Sehens und zeigt auf, dass eine Theorie des Sehens gut von den Resultaten der Sprechakttheorie profitieren kann. Sie geht vom Doppelsinn von Me dium als Mittel und Milieu aus. Das Sprechen wie auch das Sehen vermitteln einerseits zwi schen Welt und Bewusstsein und sind zugleich spezifische Handlungen. Beide bilden die Welt nicht einfach ab, sondern operieren selektiv und sind somit produktive Akte. Sowenig sich das Sprechen im propositionalen Gehalt erschöpft, sowenig erschöpft sich das Sehen im Sehen-dass. So wie es in der Sprache feststehende Begriffe gibt, gibt es kollektive Sehge wohnheiten, die beide im Sinne einer Lebensform das Sprechen und Wahrnehmen präfigu rieren. Literatur Fellmann, Ferdinand (1989): Phänomenologie als ästhetische Theorie, Freiburg, München: Alber. Fellmann, Ferdinand (2007): ,,Phänomenologie und Expressionismus" in: Einfühlung und phänomenologische Re duktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, hrsg. v. Thomas Friedrich u. Jörg H. Gleiter, Berlin: LIT, S. 259-285. Friedrich, Thomas und Jörg H. Gleiter, Hg. (2007): Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, Berlin: LIT. Hughes, Fiona (2005): ,,Multimedia-Kultur und das ,Intersensorische"'. in: bildklangwort. Grundlagenwissen Ge staltung, Band J, hrsg. v. Thomas Friedrich u. Ruth Dommaschk, Münster: LIT, S. 177-203. Husserl, Edmund (1900): Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolegomena zur reinen Logik, Tübingen: Nie meyer, 1968. Husserl, Edmund (1913): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, Tübingen: Niemeyer, 1980. Husserl, Edmund (1952): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, hrsg. v. Marly Biemel, Husserliana Bd. VI, Den Haag: Martinus Nijhotf. Husserl, Edmund (1966): Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 19181926, hrsg. v. Margot Fleischer, Husserliana Bd. XI, Den Haag: Martinus Nijhotf. Husserl, Edmund (2006): Phantasie und Bildbewußtsein, hrsg. und eingeleitet v. Eduard Marbach, Text nach Hus serliana Bd. XXIII, Hamburg: Meiner. Merleau-Ponty, Maurice (1945): Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter, 1966. Merleau-Ponty, Maurice (1961): ,,Das Auge und der Geist", in: Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, Ham burg: Meiner, 2003.
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Jenseits der Physik - Geltungen und submediale Räume. Zur phänomenologischen Medientheorie von Lambert Wiesing und Boris Grays Jens Bonnemann
Die Medienphilosophie, die sich im Zuge der Entwicklung der Neuen Medien und der In formationsgesellschaft formiert hat, sieht sich weitgehend als eine Grundlagendisziplin, weil sie von der Voraussetzung ausgeht, dass alles Wahrnehmen, Denken und Handeln durch Medien - in erster Linie die Sprache - bestimmt ist. Die meisten medienphilosophischen Ansätze - als prominente Theoretiker sind hier zu nennen: Vilem Flusser, Jean Baudrillard, Paul Virilo und Friedrich A. Kittler - entwickeln darum nicht von ungefähr ihren Medien begriff in Anlehnung an ein Zeichenkonzept, das dem französischen Strukturalismus und Poststrukturalismus verpflichtet ist (vgl. Mersch 2006: 131 ff.). Radikale Vertreter wie etwa Lorenz Engell (2003) verstehen Medienphilosophie zwar nicht mehr als eine Grundlagen disziplin der Philosophie, sondern vielmehr als ein Geschehen, das sich in den Medien selbst abspielt. Aber auch Engell orientiert sich an einem Denker wie Gilles Deleuze, der Medien wie Zeichen behandelt. Nicht nur in der Bildtheorie, sondern auch in den unter schiedlichen Spielarten der Medientheorie gibt es offenbar eine Hegemonie der Semiotik. In Abweichung davon werden im Folgenden zwei Theorieansätze betrachtet, die abseits des medientheoretischen Mainstreams liegen. Mit Lambert Wiesing und Boris Groys sollen zwei Autoren der Gegenwart miteinander ins Gespräch gebracht werden, welche ihre origi nellen Beiträge zur Medientheorie aus einer explizit phänomenologischen Perspektive ent wickeln. Ein Vergleich zwischen diesen beiden Philosophen, die in ihren Texten bisher noch nicht ausführlich voneinander Notiz genommen haben, bietet sich aber nicht nur deswegen an, weil Beispiele für eine phänomenologische Medientheorie eher selten sind. Darüber hi naus macht es auch eine überraschende inhaltliche Übereinstimmung naheliegend, jeweils die eine Position vor dem Hintergrund der anderen zu diskutieren: Beide Philosophen wei sen nämlich explizit darauf hin, dass sich mit den Medien ein Bereich jenseits der Physik eröffnet. Für Wiesing ist das Medienobjekt selbst physiklos, für Groys ist hingegen dasjenige physiklos, was sich hinter dem Medienobjekt verbirgt. Der erste Teil des vorliegenden Aufsatzes, der sich auf Wiesings Vorschlag für eine Neu definition des Medienbegriffs in seinem Aufsatz „Was sind Medien?" (2005) konzentriert, beginnt mit dessen summarischer Kritik am bisherigen Stand der Medienwissenschaft. Nach Wiesing beruht die gängige inflationäre Verwendung des Medienbegriffs schlichtweg auf dessen Unschärfe. Demgegenüber liefert er Gründe für eine Bestimmung des Mediums als ein Werkzeug, das Geltungen, also Sachverhalte jenseits der Physik produziert. Im zwei ten Teil wendet sich die Untersuchung Boris Groys' Buch Unter Verdacht. Eine Phänomeno logie der Medien (2000) zu. Anders als Wiesing geht es Groys weniger um eine Definition des
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Medienbegriffs, vielmehr steht im Mittelpunkt der Gedanke, dass in der medialen Erfah rung die Frage nach dem unvermeidlich wird, was sich hinter der Zeichenoberfläche ver steckt. Der submediale Raum, wie Groys es nennt, ist etwas, das die Zeichen produziert und trägt, aber selbst nicht zum Objekt der Erkenntnis werden kann. Im Vergleich miteinander lassen sich die Konturen der beiden medienphilosophischen Positionen schärfer hervorheben, wobei jeweils Probleme der einen Position im Licht der anderen deutlicher zum Vorschein kommen. So wie aus Wiesings Perspektive deutlich wird, dass auch Groys' Medienbegriff vage und mehrdeutig bleibt, lässt sich wiederum aus Groys' Perspektive fragen, inwieweit Wiesings Bestimmung des Medienträgers als eines physikali schen Objekts einer phänomenologischen Beschreibung der medialen Erfahrung wirklich gerecht wird.
1. Geltungen oder die Physiklosigkeit des Medienobjekts Wiesing macht der Medienwissenschaft grundsätzlich den Vorwurf, dass eigentlich alles un terschiedslos für sie ein Medium ist. Seiner Ansicht nach wird der Medienbegriff - wie ver schieden er im Einzelnen auch sein mag - vor allem deshalb so verschwenderisch zur An wendung gebracht, weil er niemals einer hinreichenden Klärung unterzogen wird. Unter diesen Umständen liegt, wie Wiesing (2005: 149) meint, die Herausforderung schon eher darin zu sagen, was eigentlich kein Medium ist. Der Befund, dass die Vagheit des Begriffsge halts mit einer Überdehnung des Begriffsumfangs einhergeht, trifft demnach eigentlich für alle Hauptvertreter der Medienwissenschaften zu: So ist für Marshall McLuhan jedes Werk zeug und sogar jede Energieform ein Medium und für Niklas Luhmann jede Möglichkeit, welche zur Bildung von Formen verwendet werden kann (Wiesing 2005: 149f.). Ebenso gilt auch in der phänomenologischen Medientheorie - explizit genannt werden Maurice Mer leau-Ponty, Boris Groys und Christian Bermes - einfach alles als Medium, das sich durch Transparenz auszeichnet, also in den Hintergrund tritt, um etwas anderes erfahrbar zu ma chen. Beliebte Beispiele der phänomenologischen Medientheorie sind vor allem die Spra che, welche als solche unthematisch bleibt, um die Aufmerksamkeit auf von ihr denotierte Sachverhalte zu lenken, sowie der menschliche Körper, der als Medium des Wahrnehmens und Handelns fungiert. Angesichts dieser Situation zieht Wiesing (2005: 152) die Bilanz, dass die medienwissen schaftlichen Medienbegriffe erheblich umfangreicher sind als der alltagsweltliche Medien begriff, den wir im Allgemeinen doch eher auf den Bereich der Kommunikationsmittel be schränken: ,,Man hat Medientheorien von Dingen, die ohne diese Theorie keine Medien wären: wie Energie, Wahrnehmung oder der Leib. In jedem der drei Fälle verliert der Medi enbegriff beachtlich an Intension und seine Extension nimmt bedenklich zu". Diese Ent grenzung beruht nach Wiesing in erster Linie auf einer Verwechslung von notwendigen mit hinreichenden Kriterien. Sicher ist jedes Medium erstens ein Werkzeug, aber McLuhan müsste die Frage beantworten, ob denn wirklich jedes Werkzeug - z.B. der Hammer - auch ein Medium ist. Und es spricht einiges dafür, dass Medien zweitens Formen bildende Mög-
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lichkeiten sind; folgt jedoch aus Luhmanns Definition, dass einfach jede Formen bildende Möglichkeit - z.B. der nasse Sand - ein Medium ist? Wenn man drittens den Phänomeno logen zugesteht, dass jedes Medium sich durch Transparenz auszeichnet, ist dann umge kehrt auch jede Transparenz - z.B. die Fensterscheibe - ein Medium? In allen drei Fällen werden notwendige, aber, wie Wiesing (2005: 154) feststellt, eben nicht hinreichende Eigenschaften von Medien angegeben. Man begnügt sich mit der Feststellung des genus proximum, also der Gattungszugehörigkeit. Aber da die Suche nach einer differen tia specifica ausbleibt, mit der sich Medien von anderen Elementen derselben Gattung diffe renzieren lassen, kommt es zu jener monierten Entgrenzung des Medienbegriffs. Wiesing stellt sich nun genau die Aufgabe, eine solche differentia specifica anzugeben. Mit anderen Worten, er sucht jenes hinreichende Kriterium, dank dem sich Medien von Phänomenen mit denselben notwendigen Eigenschaften abgrenzen lassen. Wiesings (2005: 154) Vorschlag für eine Definition, welche Medien von anderen Werk zeugen unterscheidet, lautet nun: ,,Medien sind die Werkzeuge, welche die Trennung von Genesis und Geltung ermöglichen". Ganz allgemein wird hierbei unter der Genesis ein phy sikalisch beschreibbarer „Herstellungs- oder Entstehungsvorgang" (Wiesing 2005: 155) ver standen. Mit solchen physikalischen Mitteln kann nun etwas generiert werden, das selbst wiederum überhaupt keine physikalisch beschreibbaren Eigenschaften besitzt. Nach Wie sing handelt es sich in solchen Fällen, in denen kein physikalischer Gegenstand, sondern eine Geltung hervorgebracht wird, immer um Medien. Alles, was Geltungen von Tatsachen in Raum und Zeit unterscheidet, lässt sich mit „Phy siklosigkeit" (Wiesing 2005: 155) auf den Punkt bringen: Die Gegenstände, die auf einem Bild, in einem Roman, einem Film oder einer mathematischen Rechnung auftauchen, lassen sich weder wiegen noch messen und ebenso wenig verändern oder zerstören. Aufgrund ei ner solchen physiklosen Geltung können unterschiedliche Menschen an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten überhaupt erst einmal dasselbe erfahren und mei nen - und darüber dann natürlich auch verschiedener Meinung sein. Die Geltung hängt also nicht einfach in der Luft: Es bedarf einer technischen Apparatur, damit Menschen in unterschiedlichen Ländern sich auf der Leinwand denselben Film anse hen können. Aber sie sehen eben alle denselben Film, so wie in zahllosen Büchern ein und derselbe Roman gelesen, auf zahllosen Computermonitoren dieselbe Homepage angesehen und mit zahllosen CDs dieselbe Musik angehört werden kann (Wiesing 2005: 159). Das ei gentliche Medienobjekt ist eine Geltung oder, wie es auch heißt, eine „artifizielle Selbigkeit", während der Medienträger sich dementsprechend als ein „Mittel zur Herstellung von artifi zieller Selbigkeit" (Wiesing 2005: 157) charakterisieren lässt. Darum ist die Genesis zwar begrifflich von der Geltung zu unterscheiden, aber damit meint Wiesing nicht, dass beide auch real voneinander isoliert werden können. Medien bestehen prinzipiell erstens aus einer physikalischen Genesis, die vom Medienträger geleistet wird, und zweitens aus einer nicht-physikalischen Geltung, dem eigentlichen Medienobjekt. Nur solche Werkzeuge sind nach Wiesing also Medien, die eine begriffliche Unterschei dung von Genesis und Geltung möglich und notwendig machen, und nur solche Transpa-
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renzen sind Medien, welche unthematisch bleiben, damit nichts weiter als eine artifizielle Selbigkeit wahrgenommen werden kann. Aus diesem Grund ist mein Leib kein Medium und ebenso wenig das Licht, meine Brille, das Mikroskop oder das Teleskop. Denn es han delt sich hierbei zwar um Transparenzen, aber was sie uns wahrnehmen lassen, sind eben physikalische Dinge. Medien sind hingegen ausschließlich solche Transparenzen, welche die Gesetze der Physik außer Kraft setzen. Was wir durch sie - und nur durch sie - wahrneh men, ,,sind autonome Dinge, die der physikalischen Wirklichkeit perfekt entrückt sind; die nicht Teil der Welt sind" (Wiesing 2005: 161). Das Bildobjekt „ist nichts anderes als die sichtbare Geltung eines Bildes" (Wiesing 2005: 161), so wie die Musik, die eine CD abspielt, die hörbare Geltung dieser CD ist. Im Anschluss an diesen Definitionsvorschlag für den Medienbegriff gibt Wiesing seinen Überlegungen eine kulturanthropologische Wendung: Ohne die Medien, so heißt es, wäre der Mensch selbst nur ein Teil der physikalischen Welt. Erst sie stellen die Bedingungen für den Bereich der Kultur bereit, indem sie Geltungen erschaffen und damit einen Sprung aus der Physik ermöglichen. So ist für Wiesing (2005: 162) etwa ein Fotoapparat eine „Sichtbar keitsisoliermaschine", insofern er die Sichtbarkeit einer Sache von all ihren physikalischen Eigenschaften isoliert und sie auf diesem Wege in eine artifizielle Selbigkeit - in ein Bildob jekt - verwandelt: ,,Genau dies, das Denken und das Wahrnehmen-Können von physikali schen Unmöglichkeiten ist nur mit Medien möglich; sie sind das einzige Physikentmach tungsmittel des Menschen" (Wiesing 2005: 162). Während der Medienträger einerseits zwar ein Physikentmachtungsmittel ist, andererseits aber trotzdem ein physikalisch beschreibba rer Gegenstand bleibt, zeichnet sich das von ihm generierte Medienobjekt nach Wiesing ganz und gar durch Physiklosigkeit aus. Das Unterscheidungskriterium, mit dem sich das eigentliche Medienobjekt von dem Medienträger und allen anderen realen Dingen abgren zen lässt, ist also die Physiklosigkeit. An Präzision und Klarheit ist Wiesings Gedankengang wohl kaum zu übertreffen. Die Frage stellt sich allerdings, ob er bei aller stringenten Begriffsanalyse auch wirklich den Phä nomenen gerecht wird, wie sie in der medialen Erfahrung selbst zur Gegebenheit kommen. Eine phänomenologische Untersuchung im strengen Sinn dürfte jedenfalls ausschließlich solche Qualitäten berücksichtigen, die sich auch wirklich in der medialen Erfahrung selbst aufweisen lassen. Trifft dies aber auf Qualitäten wie ,physikalisch' und ,nicht-physikalisch' zu? Edmund Husserl, der Gründervater der phänomenologischen Bewegung, würde das ver neinen. Denn das Kriterium physikalischer Beschreibbarkeit stammt nicht aus der natürli chen Einstellung der Lebenswelt und noch viel weniger kommt es für die phänomenologi sche Einstellung in Frage. Vielmehr bringt jene Differenz zwischen ,physikalisch' und ,physiklos', wie Husserl sagen würde, eine naturalistische Einstellung ins Spiel, welche Erfah rungen nicht phänomenologisch beschreibt, sondern wissenschaftlich erklärt (vgl. Husserl 1952: 183). Es kann also mit einigem Recht bezweifelt werden, ob die Physiklosigkeit, mit der bei Wiesing alles steht und fällt, überhaupt auf dem Wege einer phänomenologischen Analyse gewonnen und als ein hinreichendes Kriterium für den Medienbegriff in Stellung gebracht werden kann.
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2. Submediale Räume oder die Physiklosigkeit des Medienträgers Dass der Medienträger ein physikalisch beschreibbares Objekt ist, würde auch Groys ganz entschieden in Abrede stellen. In seiner Medientheorie unterscheidet er zwischen dem Ar chiv der kulturellen Werte und dem profanen Raum. Wahrend sich im Archiv die wertvol len und relevanten Dinge einer Kultur befinden, liegt alles andere im profanen Raum außer halb des Archivs (Groys 2000: 7). Ganz allgemein ist das Archiv die „Summe aller codierten Zeichen inklusive der Sprache" (Groys 2000: 42), und es ist angewiesen auf Medienträger wie z.B. ,,Bücher, Leinwände, Filme, Computer, Museen, Bibliotheken" (Groys 2000: 44). Zum Archiv gehören also Texte und Bilder, allerdings nicht die genannten Medienträger, denn diese verbergen sich hinter der „Zeichenoberfläche des Archivs" (Groys 2000: 18). Das bedeutet jedoch nicht, dass sie sich in dem profanen Raum befinden, den die Physik untersucht. Zweifellos können die Leinwand, der Computer oder der Fotoapparat physika lisch untersucht werden, aber für die Dauer dieser Untersuchung fungieren sie gerade nicht mehr als Medienträger. Insofern mediale Erfahrung und physikalische Analyse einander ausschließen, ist der Medienträger als solcher eben niemals ein physikalischer Gegenstand. Vielmehr befindet er sich, wie es bei Groys heißt, in einem dunklen submedialen Raum, der strikt von dem profanen Raum der Physik getrennt ist. Innerhalb der medialen Erfahrung wird der Medienträger also vom Medienobjekt verdeckt und außerhalb der medialen Erfah rung verwandelt er sich in ein physikalisches Objekt: ,,Wenn wir ein Gemälde in einer Ge mäldegalerie sehen, dann sehen wir die Leinwand, die dieses Gemälde trägt, nicht - um die Leinwand zu sehen, müssen wir das Bild umdrehen, d. h. den Bereich des Archivs verlassen" (Groys 2000: 21). Es gibt also insgesamt erstens den Bereich der Dinge selbst, eben den pro fanen Raum, zweitens den Bereich der Zeichen, nämlich das Archiv und schließlich drittens denjenigen der Zeichenträger, den submedialen Raum. Die szientistisch-technizistische Auffassung, welche in den Medienwissenschaften vor herrschend ist, beruht nach Groys auf einer fälschlichen Identifikation von profanem und submedialem Raum, der auch Wiesing unterliegt, wenn er den Medienträger als ein phy sikalisch beschreibbares Ding begreift. Auf diese Weise gerate jedoch „die Funktion der Medienträger als Medienträger " (Groys 2000: 51) aus dem Blick: ,,Wir können alle Medien träger inklusive des Menschen nur dann wissenschaftlich analysieren, wenn sie gerade nicht effektiv als Zeichenträger dienen. Unser Wissen darüber, wie die Medienträger inklusive des Menschen innerlich beschaffen sind, wenn sie nicht funktionieren, lässt uns bloß ver muten, wie es in ihrem Inneren während der Zeit aussieht, in der sie funktionieren" (Groys 2000: 51) 1 • Auf ganz ähnliche Weise beschreibt auch Jean-Paul Sartre (1940: 36-93) die konstitutive Rolle des Analogon in der Imagination, womit die Wahrnehmungsgrundlage von Imaginationen - z.B. die realen Farben auf der Leinwand oder der reale Körper des Schauspielers - gemeint ist. In der Imagination verschwindet dieses Ana logon hinter dem imaginären Objekt, in der Wahrnehmung verwandelt es sich wieder zurück in ein Wahrneh mungsobjekt. So wie der Medienträger bei Grays kann auch das Analogon bei Sartre als solches also nicht zum intentionalen Objekt der Erkenntnis werden.
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Da der Medienträger entweder hinter dem Medienobjekt im submedialen Raum verbor gen ist oder sich in ein Ding der profanen Außenwirklichkeit verwandelt, ist er Groys zufolge als solcher niemals erkennbar. Der submediale Raum bleibt darum „der dunkle Raum des Verdachts, der Vermutungen, der Befürchtungen" (Groys: 21). Der Medienrezipient kann nach Groys (2000: 21) gar nicht anders, als hinter der Zeichenoberfläche immer „Manipula tion, Verschwörung und Intrige" zu vermuten. So wie die klassische Ontologie nach dem fragt, was sich hinter den Erscheinungen der Natur verbirgt, provoziert der submediale Raum entsprechend eine medienontologische Frage, die auf „Demaskierung, Entlarvung, Entber gung" (Groys: 22) abzielt, weil sie wissen will, was sich hinter den medialen Zeichen verbirgt. Insofern den einzelnen Menschen eine Zeichenoberfläche umgibt, hinter dem sich ein materieller Zeichenträger - eben sein menschlicher Körper - befindet, ist auch jeder Mensch für Groys ein Medium, sogar das Paradebeispiel für ein Medium. Der Einzelne gibt anderen Menschen etwas von sich zu sehen und zu hören, und dahinter verbirgt sich, wie Groys (2000: 78) meint, seine Subjektivität. Was genau ist aber nun in diesem Fall das Medium? Der ganze Mensch, sein Körper oder nur seine Subjektivität? Eine genaue Antwort bleibt Groys schuldig. Jedenfalls ist festzuhalten, dass auch die menschliche Subjektivität als ein submedialer Raum aufgefasst wird. Der submediale Raum ist für Groys (2000: 29) sogar der ,,Raum der Subjektivität par ecxellence". Die Frage, ob mein Gesprächspartner wirklich sagt, was er meint, zielt demzufolge auf das Submediale hinter der medialen Oberfläche seiner gesprochenen Worte, eben auf seine wahren Gedanken und Absichten. Wenn wir nicht anders können als unterstellen, dass sich hinter der medialen Oberfläche ein submedialer Raum befindet, gibt es dann vielleicht hin und wieder Zeichen auf der Oberfläche, die eine Auskunft erteilen über das verborgene Innere? Wie Groys an dieser Stelle das Problem angeht, ist zumindest originell, denn er nimmt als Beispiel die Verrückt heiten eines Menschen, weil diese üblicherweise doch als Einbruch von Aufrichtigkeit und Authentizität eingeschätzt werden. Jene unsinnigen Äußerungen unterrichten uns zwar nicht mehr zutreffend über einen Sachverhalt in der Welt, aber sie scheinen doch einen Ein blick in die Beschaffenheit eines submedialen Inneren, also der sprechenden Subjektivität selbst zu gewähren. Mit anderen Worten, weil solche verrückten Aussagen zwar falsch, aber offenbar aufrichtig sind, interessiert uns ihre Medialität, wenn auch weniger ihre Referenti alität (Groys 2000: 70). Vergleichbar ist dieser Moment der Wahrheit für Groys (2000: 53) mit dem Extremfall des Krieges, in dem nach landläufiger Meinung der Charakter eines Menschen offen zutage treten soll. Und so wie der Krieg möglicherweise das Submediale eines Menschen zum Vorschein bringt, so versucht die künstlerische Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie Groys nun fortfährt, das Submediale der Malerei zum Thema zu machen. Mit dem Versuch einer Abkehr von jeglicher Referentialität will die Avantgarde jeden anderen Gehalt außer dem des Mediums selbst aus ihren Produkten verbannen, womit sie bereits McLuhans berühmtes Schlagwort vorwegnimmt, dass das Medium die Botschaft sei: ,,Aus der Malerei sollte alles Mimetische, Sujethafte, Literarische entfernt werden, um reine Kombinationen von Formen und Farben sichtbar zu machen[ ...]. Die Abkehr der modernen Kunst von der Referentia-
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lität, von der Mimesis war kein Akt der individuellen Willkür, sondern eine Folge der syste matischen Suche nach der Wahrheit des Medialen - nach der medialen Aufrichtigkeit, bei der sich das Medium, das sich üblicherweise hinter der intendierten Mitteilung verbirgt, so zeigt, wie es ist" (Groys 2000: 94f.). Die kubistischen Künstler wollen also nach dieser Interpretation die Medialität bzw. die Bildlichkeit des Bildes selbst offenlegen, so wie auch der Krieg der Ausnahmefall sein soll, in dem sich zeigt, was in einem Menschen steckt (Groys 2000: 102 f.). Groys (2000: 106) ist sich allerdings im Klaren: Auch auf diese Weise kann der medienontologische Verdacht nicht zum Schweigen gebracht werden, denn woher werde ich jemals wissen, ob es sich im Einzel fall wirklich um einen solchen Ausnahmezustand handelt? Gibt das Bild einen Einblick in die Beschaffenheit des submedialen Raums oder ist es nicht doch nur eine weitere Zeichen manipulation? Darum hat der medienontologische Verdacht das erste und das letzte Wort in Groys Phänomenologie der Medien.
3. Fazit Sowohl bei Wiesing als auch bei Groys steht etwas im Zentrum der Medientheorie, das jen seits der Physik liegt: Für Wiesing ist das Medienobjekt, für Groys der Medienträger kein physikalischer Gegenstand. Wiesing unterscheidet zwischen physikalisch beschreibbarem Medienträger und physiklosem Medienobjekt, wobei damit aus phänomenologischer Pers pektive zwei letztlich unvereinbare Erfahrungsweisen miteinander vermischt werden. Denn nur die naturalistische Einstellung kann feststellen, ob etwas physikalisch oder nicht-physi kalisch ist, aber in der naturalistischen Einstellung erfahre ich niemals ein Medienobjekt, dem ich solche Attribute zu- oder absprechen könnte. Ein solches Medienobjekt, die Geltung in ihrer artifiziellen Präsenz, ist mir nur in der medialen Erfahrung gegeben, wobei der Medienträger in diesem Moment wiederum hinter dem Medienobjekt verschwindet. Wenn ich nun den Medienträger einer Untersuchung un terziehen und ein Urteil über seine physikalische Beschreibbarkeit abgeben will, so kann dies also nur außerhalb der medialen Erfahrung geschehen. Genau hier würde auch eine von Groys inspirierte Kritik ansetzen, insofern der Medienträger außerhalb der medialen Erfahrung zwar physikalisch beschreibbar, aber eben kein Medienträger mehr ist. Während aus Groys Perspektive Wiesings Rede vom physikalischen Medienträger pro blematisch ist, findet sich umgekehrt aus Wiesings Perspektive bei Groys der Kardinalfehler nahezu aller Medientheorien: Sein Medienbegriff bleibt vage und unbestimmt. Wenn ein Medium ein Zeichenträger ist, stellt sich im Übrigen die Frage, warum Groys (z.B. 2000: 44f., 51) manchmal auch von einem Medienträger spricht. Was soll der Medien träger eines Zeichenträgers sein? Ist mit dem Medium der Zeichenträger gemeint, dann ist das Medium dasselbe wie der submediale Raum hinter der Zeichenschicht (vgl. Groys: 88)2. 2 Allerdings ist z.B. das Submediale der Malerei für Grays nicht nur „der Stoff, aus dem das malerische Bild gemacht ist - Farben, Leinwand", sondern er meint damit außerdem noch „den Künstler als Autor, das
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Soll jedoch mit dem submedialen Raum nur der Träger des Mediums bezeichnet werden was wäre dann die Differenz zwischen Medium und Zeichen? Weiterhin wäre zu fragen, ob die Rede von einem submedialen Raum nicht dem cartesi anischen „Dogma vom Gespenst in der Maschine" (Ryle 1992: 22) auf den Leim geht. Wenn Groys auf das intersubjektive Verhältnis zu sprechen kommt, so glaubt er, es komme beim Fremdverstehen darauf an zu erraten, was jemand hinter seiner Stirn für Gedanken, Ge fühle und Wünsche hat. übersehen wird damit die entscheidende Differenz zwischen dem sprachlichen Ausdruck, bei dem die Bedeutung zeichenvermittelt repräsentiert wird, und dem leiblichen Ausdruck, bei dem sie sinnlich präsent ist. Im letzteren Fall findet sich noch keinerlei Trennung zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen Phänomen und Bedeu tung: ,,Stirnrunzeln, Erröten, Stottern, leichtes Zittern der Hände, versteckte Blicke, die gleichzeitig ängstlich und drohend aussehen, drücken die Wut nicht aus, sie sind die Wut" (Sartre 1943: 611). Ein Lächeln ist daher kein Zeichen, das unumgänglich die Frage aufwirft, ob man denn dem Angelächelten in einem submedialen Raum dahinter wirklich freundlich gesonnen ist. Für Groys ist die ontologische Frage nach dem wahren Wesen hinter der Er scheinung bzw. die medienontologische Frage nach dem submedialen Raum hinter der Zei chenoberfläche unvermeidlich. Nietzsche (1886: 35-38) zufolge fällt eine solche Frage in den „Wahn der Hinterweltler" zurück; von dem hatte Sartre (1943: 9f.) fälschlicherweise geglaubt, dass ihn die Phänomenologie endgültig überwunden habe. Literatur EngeU, Lorenz (2003): ,,Tasten, Wahlen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen Apparatur", in: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, hrsg. v. Stefan Münker, Alexander Roesler u. Mike Sand bothe, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 53-77. Groys, Boris (2000): Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München: Hanser. Husserl, Edmund (1952): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, in: Husserliana Bd. IV , Den Haag, Dordrecht: Martinus Nijhotf. Mersch, Dieter (2006): Medientheorien zur Einführung, Hamburg: Junius. Nietzsche, Friedrich (1886): Also sprach Zarathustra, in: ders., Kritische Studienausgabe Bd. 4, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München, Berlin, New York: dtv/De Gruyter 1993. Ryle, Gilbert (1949): Der Begriff des Geistes, Stuttgart: Reclam 1992. Sartre, Jean-Paul (1940): Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, Reinbek bei Ham burg: Rowohlt 1994. Sartre, Jean-Paul (1943): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Ham burg: Rowohlt 1994. Wiesing, Lambert (2005): ,,Was sind Medien?", in: ders., Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes, Suhrkamp: Frankfurt a.M., S. 149-162.
museale System, das Ausstellungswesen, den Kunstmarkt - im Grunde alles, was das malerische Bild produ ziert, trägt und präsentiert" (Grays: 87).
,,Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wirklich". Medienphänomenologie und Medienkritik bei Günther Anders Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz
1. Natürliche und künstliche Medialität: Von der Konstitution zur Konstruktion Der Kulturkritiker und „Medienphilosoph avant la lettre" Günther Anders (1902-1992) studierte Philosophie und Kunstgeschichte u.a. bei Edmund Husserl und Martin Heidegger (Hartmann 2008: 211).In kritischer Auseinandersetzung mit seinen akademischen Lehrern reflektierte der spätere philosophe engage in seiner Frühzeit die phänomenologische Wahr nehmungs- und Konstitutionstheorie und den Begriff des „ln-der-Welt-seins" vor der Folie einer Musik- und Kunstphilosophie.Im Gegensatz zum Okularzentrismus, den er in Hus serls Phänomenologie ortete, versuchte Anders allen sinnlichen Wahrnehmungsformen in ihrer spezifisch weltkonstituierenden und welterschließenden Funktion gerecht zu werden, insbesondere der Differenz zwischen Hören und Sehen (Anders 1930/31). An Heideggers pragmatischer Auslegung des In-der-Welt-seins monierte er die Absenz von Kunst- und Naturschönem (Anders 1928). In seiner frühen Anthropologie interpretierte er das „In Sein" darüber hinaus als ein „lnsein in Distanz" im Sinn einer Weltfremdheit, die er positiv als „Weltoffenheit" bestimmte. Epistemologisch bedeutet Weltoffenheit die apriorische ,,Aposteriorität", d.h. Erfahrungsbedürftigkeit desMenschen, seinen offenen Erfahrungsho rizont. Anthropologisch ist damit die Unfestgelegtheit des Menschen auf eine bestimmte Welt und seine prinzipielle „Künstlichkeit" begründet (Anders 1930, 1934, 1936). Sein wahrnehmungstheoretisches Erkenntnisinteresse führte dazu, dass sich Anders bald auch Formen künstlicher Medialität, Radio und Film, später auch dem Fernsehen zuwandte. In seiner Technik- und Medienkritik analysierte er das „In-der-Welt-sein" unter modernen technisch-medialen Bedingungen und charakterisierte den neuen Existenzmodus als ein konformistisches „unfrei In-der-Welt-Sein" (Anders 1980: 218). Bedroht sieht er die anthropologisch konstatierte Weltoffenheit des Menschen, seine Un festgelegtheit und Diversität. Im Sinn der (postmodernen) These vom Verschwinden des Subjekts und von der Technik als neuem Subjekt der Geschichte (Technokratie-These) fasst Anders das heutige Dasein als „ mediales Dasein", in dem fundamentale traditionelle Diffe renzen nivelliert sind, etwa jene zwischen Poiesis und Praxis, Aktivität und Passivität, Sub jekt und Objekt. Den Begriff der „Medialität" verwendet Anders (1980: 441) als „Warnungs schild", das vor dem Rückfall in ,ungültig gewordene Alternativbegriffe' bewahren soll. Medienphänomenologisch ortet Anders eine Verschiebung vom Konstitutionsbegriff zum Konstruktionsbegriff, d.h. von der Welt als (wahrer) Erscheinung zur Welt als (fal-
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schem) Schein. Anders' zentrale These, wonach die Welt zum Abbild ihres Bildes werde, bedeutet eine Umkehrung des Erfüllungs- und Fundierungsverhältnisses zwischen Bild und Realität (imaginativen und perzeptiven Akten): Nicht mehr das Bild ist in der Realität fun diert, sondern die Realität im Bild. Anders ergänzt seine phänomenologischen Analysen durch sozioökonomische Erklä rungsfiguren. Dabei definiert er das Verhältnis von Sein und Bewusstsein neu, nämlich im Sinn einer Prävalenz der Technik vor Politik und Ökonomie: Nicht mehr die ökonomische Basis bestimme das Bewusstsein, sondern die technisch-materielle, statt Politik oder Öko nomie sei die Technik „unser Schicksal" (Anders 1956: 7). Diese aber ist „systemneutral" oder „post-ideologisch", insofern sie ihre Wirkung auf Mensch und Welt unabhängig von der zugrunde liegenden sozioökonomischen Struktur entfaltet: ,,Da das Ideologische in die Produkte- (namentlich in die Geräte-) Welt selbst eingegangen ist, stehen wir nun bereits in einem nach-ideologischen Zeitalter." (Anders 1980: 190) Das bedeutet, dass nicht mehr die Produktionsverhältnisse im Zentrum der Kritik stehen dürfen, sondern die Produktions mittel und das Produkteuniversum: Die Unfreiheiten von heute seien „in viel höherem Maße Folgen der Technik als der Eigentumsverhältnisse" (Anders 1980: 108). Damit konter kariert Anders (1980: 28) den Technik- und Fortschrittsoptimismus sowohl des Marxismus als auch des Kapitalismus. Wenn marxistische Begriffe, vor allem der Waren- und Entfremdungsbegriff, in Anders' Medienphilosophie eine zentrale Rolle spielen, so verweisen diese primär auf einen techni schen „Weltzustand". Statt von „Kapitalismus" spricht Anders daher bevorzugt von Indus trialisierung, Massenproduktion, Massenkonsum, Warenform, Konformismus usw., durch aus im Sinn eines kulturpessimistischen „Technik- und Massendiskurses" (Bollenbeck 2007: 233). Anders' Medienphänomenologie formiert sich im Zusammenspiel mit diesen marxis tisch-materialistischen und kulturkritischen Erklärungsfiguren zu einer Medienkritik mit deutlichem „Verwerfungsgestus" (Engell 2012: 210). Den historisch-biografischen Hintergrund dieser Theorieentwicklung bilden zum einen die Erfahrung medialer Propagandapraxis im Nationalsozialismus, zum anderen die Ent fremdungserfahrungen eines großbürgerlich sozialisierten, humanistisch gebildeten euro päischen Intellektuellen im amerikanischen Exil (1936-1950) angesichts einer fortgeschrit tenen Massen- und Konsumgesellschaft. Anders' aisthetischer und neutralisierender Medienbegriff gewann im Zuge dieser Entwicklung zunehmend anti-instrumentelle Züge. Im wiederholten Hinweis, moderne Medien seien mit ästhetischen Kategorien nicht mehr adäquat zu erfassen (Anders 1956: 130f., 142; Anders 1980: 250), manifestiert sich die Ver schiebung seines Erkenntnisinteresses von natürlicher zu künstlicher Medialität, von der Kunst- zur Technikphilosophie. Und während er sich in seiner Exilzeit noch mit dem poli tisch-didaktischen Potenzial von Radio und Film auseinandersetzte, wie entsprechende Ar beiten aus dem Nachlass zeigen, lehnt er in der späteren Medienkritik einen instrumentellen Medienbegriff dezidiert ab (Anders 1956: 99f.; LI T 237/W28-31).
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2. ,,Die Welt als Phantom und Matrize" Der Titel von Anders' zentralem medienphilosophischen Essay aus dem ersten Band der Antiquiertheit des Menschen nimmt Bezug auf Arthur Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung" : Mit „Phantom" ist der ontologische, mit „Matrize" der epistemologische Zentralbegriff der neuen (Medien-)Welt genannt. Charakteristisch ist Anders' (1956: 8) Verknüpfung von Alltagsbeobachtungen mit philosophischer Reflexion und seine assozia tive, von eklektizistischen Elementen nicht ganz freie Methode und Darstellungsweise, die er als „Kreuzung von Metaphysik und Journalismus" bezeichnet. Stilistisch ist diese von einem zuweilen hypertrophen und populärphilosophischen Duktus geprägt, der politisch didaktisch und methodisch-heuristisch begründet ist (vgl. Gunia 2005: 185; Anders 1956: 14ff.). 2.1 Zur Ontologie der Sendung
Ausgangspunkt für Anders' Bestimmung eines medial veränderten Welt-, Subjekt- und Er fahrungsbegriffs ist die „ontologische Zweideutigkeit" der Sendung. Damit ist die „phäno menologische Eigentümlichkeit" bezeichnet, dass via Sendung die traditionellen Alternati ven von Sein und Schein, Wirklichkeit und Fiktion, Ernst und Unernst, Anwesenheit und Abwesenheit unterlaufen und nivelliert werden. Das Gesendete ist zugleich wirklich und scheinbar, zugleich an- und abwesend, d. h. Sendungen haben den ontologischen Status von „Phantomen". Sie simulieren ,echte' Gegenwärtigkeit und unmittelbare Relevanz für das Subjekt, bieten aber tatsächlich nur formale Gleichzeitigkeit von Ereignissen (Anders 1956: 13lff.; 151). Seine phänomenologisch-ontologische Analyse ergänzt Anders durch eine logisch sprachanalytische und eine ökonomische. Sendungen sind „verbrämte Urteile" und geben stets nur einen bestimmten Aspekt eines Sachverhalts wieder, analog zu Urteilen der Form „S ist p". Diese Urteilsform bleibt allerdings latent, da Sendungen suggerieren, sie würden die Sache selbst unmittelbar geben (Anders 1956: 155ff.). Sendungen sind außerdem Pro dukte für den Konsum, also Waren, die ein inhärentes Urteil (,,Eigenlob") enthalten. Sie vermitteln ein präpariertes Bild der Wirklichkeit, ohne dies ausdrücklich zu machen (An ders 1956: 161ff.). Anders konzediert allerdings, dass es falsch wäre, der Einzelsendung jeden Wahrheitsge halt abzusprechen. Unwahr ist vielmehr das „Weltbild", das durch die Einzelsendung(en) generiert und geformt wird und das „weniger wahr" ist als seine Teile: ,,,Das Ganze ist die Lüge; erst das Ganze."' (Anders 1956: 164) Einzelsendungen und mediales Weltbild über nehmen schließlich die Funktion eines Modells, an dem sich die reale Welt orientiert und das subjektive Erfahrungsmuster prägt. Anders spricht von Prägeformen, Matrizen oder Schablonen, die fortan für die Konstruktion von Welt(erfahrung) bestimmend sind und ei nen spezifischen Typus Mensch generieren: den Konsumenten, dem die Welt zum Konsum objekt wird.
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2.2 Die konsumgerechte Welt Die medialen Phantome erheben Anders zufolge einen Realitätsanspruch. Wenn aber Phan tome real werden, dann wird die Realität phantomhaft: ,,Alles Wirkliche wird phantomhaft, alles Fiktive wirklich" (Anders 1956: 142). Anders expliziert diese These anhand der phäno menologischen Diagnose von der „Verbiederung der Welt": Die Welt erscheint angesichts ihrer medialen Vermittlung als vertraut, übersichtlich und beherrschbar; die Dinge wirken distanzlos, die Differenz von Relevantem und Irrelevantem ist neutralisiert. Dieses Verbiederungsphänomen wird zum einen technisch begründet: Das „Kleinfor mat" des Bildschirms verwandle jedes reale Ereignis in eine „Nippesszene" (Anders 1956: 151f.). Zum anderen liefert Anders (1956: 121) eine sozioökonomische Erklärung, die auf die konstatierte Warenlogik der Sendung Bezug nimmt: Verbiederung ist ein „Neutralisie rungsphänomen", und der „fundamentale Neutralisator von heute" sei „der Warencharakter aller Erscheinungen." Primär handle es sich allerdings um ein Komplementärphänomen zur technisch-industriell bedingten Entfremdung des Menschen von alltäglichen und berufli chen Arbeitsprozessen, vom Produkt seiner Tätigkeit und vom gesamten Warenuniversum (Anders verwendet statt „Entfremdung" zuweilen den Begriff „Verfremdung"). Verbiede rung erfüllt die Funktion, diese Entfremdungsphänomene zu verschleiern, indem die Welt als „Universum der Gemütlichkeit" dargeboten wird (Anders 1956: 125; vgl. Oppolzer 1997: 465f.). Verantwortlich für die höhere ontologische Dignität der Sendung gegenüber der Realität sind darüber hinaus zwei latente ontologische Maximen, die für eine fortgeschrittene tech nisch-industrielle Rationalität charakteristisch sind. Gemäß dem „ersten Axiom der Wirt schafts-Ontologie" (,,Das nur Einmalige ist nicht", Anders 1956: 179) besitzen weder das Einmalige und Individuelle, noch das Allgemeine und Ideale höchste ontologische Dignität, sondern eine dritte Entität: die Serie. Das „zweite Axiom der Wirtschafts-Ontologie" (,,Un verwertbares ist nicht") verbindet Anders (1956: 183) mit einer Kritik am Anthropozentris mus insbesondere Heidegger'scher Prägung. Medienontologisch bedeutet Anders' Befund zum einen, dass nur das ,ist', was gesendet wird, und zum anderen, dass die Realität zum Rohstoff für die Sendung wird: ,,Die Tagesereignisse müssen ihren Kopien zuvorkommend nachkommen." (Anders 1956: 190) Anders hat seine medienphilosophische Diagnose abschließend in drei Kurzformeln zu sammengefasst: ,,Die Welt ist ,passend"', ,,Die Welt verschwindet", ,,Die Welt ist post-ideolo gisch" (Anders 1956: 193). Damit ist gesagt, dass in einem medialen Transformationsprozess die Welt dem Menschen konsumgerecht angepasst wird, dass die Welt als Ware zum Ge nussmittel und „Schlaraffenland" (Anders 1980: 335) umgestaltet wird und ihre Authentizi tät, Unabsehbarkeit und Widerständigkeit verliert, dass sich die Welt als „Medium der Dis tanzen" (Anders 1980: 350) in ihren Raum- und Zeitkategorien auflöst, dass schließlich die Welt als Ideologie auftritt und damit ausdrückliche Ideologien obsolet werden. War für Marx die Verwirklichung der Wahrheit das Telos eines postideologischen Zustands, so hat sich dieser nach Anders heute im Sinn einer Verwirklichung der Unwahrheit durchgesetzt.
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2.3 Der Mensch als Konsument
Medial verwandelt und geprägt wird nicht nur die Welt, sondern auch der Mensch als Sub jekt und Individuum. Anders diagnostiziert zunächst phänomenologisch die mediale Nivel lierung der Kategorien Individuum und Masse sowie Privatheit und Öffentlichkeit. Den neuen Subjekttypus bezeichnet er als „Masseneremiten", der solistisch und scheinbar indivi dualistisch Massenware konsumiert. ,,Masse" wird damit zu einer Qualität des Individuums, während sie als sichtbare Quantität verschwindet (Anders 1956: 101 ff.; Anders 1980: 449). Der zentrale Befund im Hinblick auf die mediale conditio humana besteht in der Zerstö rung des Menschen als kohärentes „Individuum", seiner Verwandlung in ein „Divisum". Diese „Zerstreuung" des Menschen, den Verlust seiner Integrität, beschreibt Anders als räumliches und funktionales Simultaneitätsphänomen: Das Subjekt ist an verschiedenen „Weltstellen" zugleich, ,,ubique simul, immer auch anderswo", niemals auf einen Ort oder eine Sache fokussiert; Anders (1980: 83) bezeichnet dies auch als „Schizotopie". Darüber hi naus zerfällt das Subjekt, multimedial beliefert, in verschiedene simultane „Teilfunktionen", die ob ihrer Inkompatibilität nicht mehr einer einheitlichen, integren Instanz zugerechnet oder von einer solchen koordiniert werden können, mithin eine „künstliche Schizophrenie" erzeugen (Anders 1956: 135 ff.). Anders begründet das Zerstreuungsphänomen mit einem (falschen) Bedürfnis nach Zer streuung, das auf der Selbstentfremdung des Menschen als Individuum und als Gattungswe sen (im Sinn eines freien, selbstbestimmten, bewusst tätigen Wesens) in einer durch Indus trialisierung und moderne Arbeitsorganisation geprägten Gesellschaft beruhe (vgl. Oppolzer 1997: 465 f. ). Modeme Technik potenziert die (teil-)funktionale Prägung der Subjekte und verwandelt sie in Teilfunktionsträger (Anders spricht von „schizophrener Arbeitskrank heit" ). Die mediale Belieferung erfüllt eine dazu komplementäre Stabilisierungsfunktion: Sie soll die Reproduktion der Arbeitskraft bei gleichzeitiger Perpetuierung der Schizophre nien gewährleisten, indem das entfremdete Tun vom Subjekt als Akt des Genusses erlebt wird (Anders 1956: 141). Die subjektiven Konsumbedürfnisse sind nach Anders darüber hinaus moralisch und pragmatisch bedingt. Die latente moralische Maxime einer durch Massenproduktion und -konsum geprägten Gesellschaft laute: ,,die Angebote sind die Gebote von heute." (Anders 1956: 172) Da jede Ware (funktionaler) Teil einer „Warenfamilie" oder eines „Warenuniver sums" ist, entsteht außerdem das Folgebedürfnis nach weiteren Waren. Unsere Bedürfnisse sind also ein Produkt der Produkte, ,,die Abdrücke oder die Reproduktionen der Bedürfnisse der Waren selbst" (Anders 1956: 178). Aus dem skizzierten Befund über die Prägung des Menschen zieht Anders zwei Konse quenzen, die auf die These vom Verschwinden des Subjekts hinauslaufen: ,,Geprägt werden immer nur Geprägte", ,,Das Dasein in dieser Welt ist unfrei" (Anders 1956: 193). In einer tech nisch und medial zugerichteten Welt ist das Dasein a priori ein (vor-)geprägtes, das die Fähig keit verloren hat, als „weltoffenes" Subjekt einer unabsehbaren und widerständigen Welt zu begegnen. Welt (als Ware) und Subjekt (als Konsument) sind einander kongruent gemacht.
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2.4 Das Ende der Erfahrung
Die mediale Situation besteht in einer veränderten, nunmehr unilateralen Mensch- Welt-Be ziehung: Die Welt ist wahr- und vernehmbar, die Subjekte nicht; das Subjekt nimmt teil an der Welt, ohne selbst Teil der Welt zu sein. Dass die Welt via Sendung „aufgefahren" und ins Haus geliefert wird, dass „die Welt zum Menschen, statt er zu ihr kommt", ist für Anders (1956: 110) eine der zentralen Umwälzungen moderner Medien und „der eigentliche Ge genstand" (1956: 111) seiner Medienphilosophie. Erfahrung im Sinn eines selbstbestimm ten, unwägbaren Aposteriori, das mit Widerstand und der Möglichkeit des Scheiterns ver bunden ist, wird damit ersetzt und effektiv verlernt (Anders 1956: 129ff.). In der medialen Belieferung sieht Anders keine Erweiterung des unvermeidlich beschränkten subjektiven Erfahrungshorizonts. Er konstatiert zwar die theoretische Möglichkeit einer solchen Opti mierung, die im Sinn eines Instruments gegen „Verprovinzialisierung" durchaus begrüßens wert wäre. Tatsächlich generieren Massenmedien aber eine „falsche Globalisierung", ma chen den Menschen zum bloßen „Jetztgenossen", letztlich „weltlos" (Anders 1956: 134). Das Ende authentischer Erfahrung bezieht sich zum einen auf das Erfahrungsobjekt, die Welt, und zum anderen auf das Erfahrungssubjekt, den Menschen. Erfahrung ist für Anders an Widerständigkeit gebunden, sie ist eine Form der nachträglichen subjektiven Aneignung von Welt. Dieser Erfahrungsbegriff, den Anders (1956: 114, 123) in seiner frühen Anthro pologie entwickelt hat, ist in einer Welt ohne Widerstände obsolet geworden. Auf Subjektseite relevant ist schließlich die Prägung von Wahrnehmungsschemata, die fortan zu einem epistemologischen Apriori werden, zu quasi-transzendentalen Kategorien. Anders bezeichnet diese medial generierten Schemata als Matrizen. Sie sind „apriorische Bedingungsformen" der Erfahrung, also von Anschauung und Denken, ferner von Fühlen und Handeln. Anders konzipiert eine Art ,transzendental-mediale' Erkenntnis-, Emotions und Handlungstheorie: Die Welt wird durch die Brille vorgefasster Schablonen wahrgenom men, die unseren Erfahrungs- und Handlungshorizont bestimmen. Eine Form medialer Weltkonstruktion hat gewissermaßen die natürliche Weltkonstitution abgelöst. Die Matri zen, die als „Weltstücke" auftreten und damit ihre wahre Funktion, nämlich „die Schabloni sierung der Erfahrung", unterschlagen, sind schließlich identisch mit der Phantomwelt: ,,Denn Phantome sind ja nichts anders als Formen, die als Dinge auftreten." (Anders 1956: 170) 2.5 Erweiterungen und Einschränkungen
Anders bezeichnet seine Analysen als „Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen", die Kategorien „Phantom" und „Matrize" seien aber auf Bildmedien und Ton träger aller Art anwendbar. ,Bild' ist Anders zufolge die epistemologische und ontologische ,,Hauptkategorie", aber auch das „Hauptverhängnis" von heute: Bilderwelt und Bildrezep tion substituierten zunehmend die reale Welt und Welterfahrung. Eine Bilderflut aus „Pho tos, Plakaten, Fernsehbildern oder Filmen" überdecke „pausenlos" die ,reale' Welt (Anders 1980: 250). Das akustische Analogon dazu ist die „background music", mit der „Schizoto-
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pie", ,,emotionale Schizophrenie", Konformismus und Derealisierung einhergehen (vgl. El lensohn 2008: 144f.). Vor allem die Fotografie und diverse Aufnahmetechniken (Videore korder, Tonträger) verbindet Anders mit der latenten Intention, die Einmaligkeit und Vergänglichkeit authentischer Welterfahrung sowie die Liquidität der medialen Produkte zu unterlaufen und in einen verfügbaren Besitzgegenstand zu transformieren (Anders 1956: 56). Die Fotografie sei ein vorzügliches Beispiel für die höhere ontologische Dignität der Reproduktion vor dem einmaligen Ereignis und verfüge außerdem über ein einzigartiges Manipulationspotential, da sie sich „mehr Lügen leisten kann als irgendein anderes Medium vor ihm." (Anders 1956: 166; siehe 180f.) Seine pessimistische Fernsehkritik aus „Die Welt als Phantom und Matrize" hat Anders später partiell revidiert: So hätten die Fernsehbilder des Vietnamkriegs entscheidend zum politischen Protest gegen Kriegsverbrechen beigetra gen. Ebenso anerkennt er unter bestimmten ästhetischen Bedingungen ein politisch-didak tisches Potenzial von Fernsehfilmen (vgl. die T V-Serie „Holocaust", Anders 1979: 179ff.). 2.6 Analogien und Konvergenzen
Auf die Affinität seiner Medientheorie zu jener von Marshall McLuhan (,,the media is the message" ) hat Anders selbst hingewiesen (Anders 1982: 218). Konstatiert wurden außerdem Analogien bei Neil Postman (,,Wir amüsieren uns zu Tode" ), in Jean Baudrillards Simulati onstheorie und Paul Virilios Dromologie sowie in Susan Sontags und Vilem Flussers Refle xionen zur Fotografie (vgl. Dries 2012: 189; Kramer 1998; Gunia 2005; Hartmann 2000: 220). Theodor W Adornos Kurzstudien zum Fernsehen enthalten zahlreiche Motive, die bei Anders ausführlich expliziert werden: die Inversion von Bild und Realität, das Miniaturfor mat der Bilder und die Verbiederung der Welt, die mediale Verbrämung realer Entfrem dungsphänomene und Perpetuierung des (falschen) Status quo sowie die Sendung als sich selbst anpreisende Ware (vgl. Adorno 1953a, 1953b). Mit der „Gesellschaft des Spektakels" entwarf Guy Debord, ebenfalls auf der Grundlage der Marx'schen Entfremdungskritik, eine warenförmige (Medien-)Welt, in der sich die „wirkliche Welt" in „bloße Bilder" verwandelt und die Bilder zu wirkmächtigen „wirklichen Wesen" werden. Auf Subjektseite resultiert daraus der Typus des Zuschauers, dem Anders'schen Masseneremiten ähnlich, mit seiner Haltung der passiven Hinnahme (Debord 1996: 19). Etliche fernsehtheoretische Topoi un terschiedlichster Provenienz hat Anders in nuce antizipiert: den veränderten Realitätsbegriff und die mediale Ereignisproduktion, die Konfusion und Neustrukturierung von Raum und Zeitordnungen und damit von Sinneinheiten, die Konstitution von Serialität und Gleich-Gültigkeit oder die Auflösung des Subjekts (vgl. Engell 2012: 210ff., passim).
3. Kritik und Aktualität Anders zeichnet in seiner Medienphilosophie das Bild eines geschlossenen, allumfassenden und deterministischen medialen Systems, das dem Subjekt kein Freiheitspotenzial mehr zu gesteht. Diese charakteristische Hermetik resultiert aus einer „produktiven Einseitigkeit",
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die sich Anders aus heuristischen Gründen leistet und die den analytischen Blick „über determiniert auf ,die' Technik" richtet (Greiff 1992: 208). Sie ist darüber hinaus Folge des phänomenologisch-ontologischen Paradigmas des „In-der-Welt-seins", das Anders' tech nikkritischem Denken zugrunde liegt. Die Hermetik dieses Modells hat er in seiner frühen Anthropologie selbst kritisiert, indem er das In-Sein prinzipiell als ein „Insein in Distanz" gefasst hat (Anders 1930). In seiner späteren Heideggerkritik monierte er zudem, dass das Subjekt-Objekt- Verhältnis dialektisch zu fassen wäre (vgl. Anders 2001). Beide Aspekte ver nachlässigt Anders in seiner Technik- und Medienphilosophie: Für ihn sind genau jene Mo mente der Distanz und der Freiheit durch das technisch-medial geprägte In-der-Welt-sein gefährdet oder obsolet. Anders' hermetisches und überdeterminiertes mediales Weltmodell ist schließlich die Bedingung für seine These von der Systemneutralität der Technik und der Medien, die alle anderen (sozioökonomischen) Faktoren zur Marginalie oder zu einem tech nologischen Epiphänomen schrumpfen lässt. Nur selten weicht Anders von seinem strengen Paradigma ab und lässt ansatzweise potentielle Freiräume oder Auswege erahnen: So etwa, wenn er die theoretische Möglichkeit einer ,richtigen' Globalisierung via Fernsehen im Sinn der Herstellung eines „moralischen Gegenwartshorizontes" andeutet und als wünschens wert begrüßt, ,,wenn richtig durchgeführt" (Anders 1956: 134). Andererseits ist es gerade Anders' Einseitigkeit, die „Verluste erkennen [lässt], wo andere schieren Fortschritt sehen", und seine frühe Medienkritik bisweilen „prophetisch und aktuell" macht (Greiff 1992: 209; Dietz 2005: 3). Angesichts der Interaktivität neuer digitaler Medien scheint Anders' These von der uni lateralen Beziehung zur Welt obsolet, zumal auch das Fernsehen diese Interaktionsformen nach Möglichkeit integriert (vgl. Dietz 2005: 8 f.). Tatsächlich wird im digitalen Raum Inter aktion jedoch weitgehend bloß simuliert, deren technische und soziale Steuerung bleibt la tent. Im Hinblick auf die „Social Media" scheinen drei wesentliche Momente der An ders'schen Medientheorie in potenzierter Form aufzutreten: die Wirklichkeitskonstruktion und die konformistische Prägung via Filterblase sowie der solistische Massenkonsum, d. h. die Existenz als Masseneremit. Digitalisierung verstärkt so gesehen den medialen Schein charakter. Im Hinblick auf die Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung liegt das auf der Hand. Anders' These von der Bild-Wirklichkeits-Inversion mit all ihren psychologischen, sozialen und ontologischen Konsequenzen erhält damit eine erhöhte Triftigkeit (vgl. Dries 2012: 380). Schließlich erscheint Anders' (1956: 56) Kritik der „Ikonomanie", insbesondere der Fotografie, verbunden mit seiner Diagnose eines ,postliterarischen Analphabetentums' (Anders 1956: 3) angesichts der Allgegenwart digitaler Bilder und Selfies höchst zeitgemäß. Seine Daseinsberechtigung erhält das Selbst im und durch sein reproduzierbares Bild. An ders' strenger Blick auf die Medienlandschaft und seine These vom Weltverlust könnte schließlich auch im Sinn einer von ihm bloß angedeuteten und noch zu realisierenden ,rich tigen' Globalisierung im Sinn eines ,Weltgewinns' gelesen werden.
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3. SEMIOTISCHE THEORIEN
Ernst Cassirer als Medientheoretiker Birgit Recki Ernst Cassirer begreift die menschliche Kultur als System symbolischer Formen und rückt in der Konzentration auf den Zeichenprozess mit den Bestimmungen der Symbolisierung als Versinnlichung von Sinn, als Verkörperung von Bedeutung die Medialität aller Kultur in den Blick. Tatsächlich liegt im Anschluss an Cassirer eine medientheoretische Grundlegung der Kultur nahe (Schwemmer 2005). In der Art und Weise, wie er die Generalisierungsstu fen seines Ansatzes übergreifend den Begriff des Mediums gebraucht, ist eines der frühen Beispiele für dessen generelle, in den heutigen Verhandlungen in Kultur- und Geisteswis senschaften besonders auffallige Tendenz zur changierenden Proliferation zu sehen. Seine zugleich epistemologische und pragmatische Grundlegung der kulturellen Medialität in der Analyse des Bewusstseinsvollzuges als „natürliche Symbolik " steht dagegen ganz solitär da. Den Charakter von Repräsentation als Grundzug menschlicher Kultur bringt Cassirer auf der denkbar elementaren Ebene zur Geltung, indem er das menschliche Bewusstsein als Ursprung und Modell aller Medien begreift.
1. Der Begriff des Mediums in Cassirers Philosophie der Kultur Im Begriff des Mediums generalisiert Cassirer all jene Prozesse der Versinnlichung von Be deutung, deren Gesamtheit und Einheit er in seiner Philosophie der Kultur zu begreifen beansprucht, indem er deren verschiedene Elemente: Materialien, Modi, Methoden und Phasen, im Begriffsfeld der symbolischen Formung untersucht. ,,Medium" ist dabei der Be griff, der an den sinnlichen Zeichen, die Cassirer (1944: 52-71) unter der Bedingung ihrer systemischen Ubiquität und Vernetzung als Symbole begreift, allgemein die Funktion der Vermittlung herausstellt. Dieser Befund ergibt sich nicht erst retrospektiv in der Optik einer von außen an Cassirer herangetragenen Forschungsfrage. Er verwendet den einschlägigen Terminus selbst bereits in seinen epistemologischen Abhandlungen (Cassirer 1906; 1910). Prägnant wird der Begriff in seinem Hauptwerk, der Philosophie der symbolischen Formen, wo es in systematischer Perspektive um symbolische Formung als die kulturintegrale Funk tion geistiger Produktivität geht (Cassirer 1923 b: 14). Es gilt die Bestimmung, die er seinem Leitbegriff in einem gleichzeitigen programmatischen Aufsatz gegeben hat: ,,Unter einer ,symbolischen Form' soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geis-
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tiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird." (Cassirer 1923 a: 79) Die Rede vom „Medium" meint dann eben jene Verknüpfung der geistigen Bedeutung mit dem Sinnlichen, die im Zentrum der Defini tion von symbolischer Formung als Prozess der auf den einzelnen Akt bezogene Symbolbe griff anspricht. Diese Synthesis in ihrem Charakter als Akt wie als Prozess behauptet Cassirer als das in deren ganzer Vielfalt ausgeprägte Prinzip der Kultur. Sie wird nach seiner grundle genden These nicht anders als durch Symbolisierung geleistet. Dem Begriff des Mediums, der vielfach auch in der Terminologie der Vermittlung (Mittel, Mittelbarkeit), gelegentlich in der Metapher des Vehikels (Cassirer 1929: 132 u. ö.) intendiert ist, eignet dabei schon insofern eine gewisse Versatilität, als sowohl der Akt der Verkörperung von Bedeutung im einzelnen Symbol wie auch die symbolischen Formen als bereichsumgreifende „Modalitäten der Sinn gebung" (Cassirer 1929: 231) im generalisierenden, auf die Leistung der Vermittlung gerich teten Zugriff als Medien begriffen werden können (Cassirer 1923 b: 14; 16). Der Begriff gewinnt systematischen Status auf der Ebene der theoretischen Grundlegung einer symboltheoretisch fundierten Kulturphilosophie in dem Augenblick, da Cassirer ge nerell die Funktion der Symbolisierung als das gemeinsame Gestaltungsprinzip aller kultu rellen Bereiche und damit in aller Diversität der Kultur als das Prinzip ihrer Einheit geltend macht (Cassirer 1923 b: 14). In der Reflexion auf die Angewiesenheit alles Geistigen auf Mitteilung entwickelt er hier die Einsicht, das „Instrument" nicht erst der Mitteilung, son dern immer schon der Herausbildung geistiger Bedeutung aller Art sei das in irgendeinem „sinnliche[n] Substrat" bestehende Zeichen. ,,Und damit ist in der Tat ein allumfassendes Medium gegeben, in welchem alle noch so verschiedenen geistigen Bildungen sich begeg nen. Der Gehalt des Geistes erschließt sich nur in seiner Äußerung; die ideelle Form wird erkannt nur an und in dem Inbegriff der sinnlichen Zeichen, deren sie sich zu ihrem Aus druck bedient." (Cassirer 1923 b: 16). Das allumfassende Medium, um das es dem Theoreti ker der Kultur zu tun ist, ist mit anderen Worten das Zeichen in seiner Symbolfunktion. Von hier aus, ausgehend von seinem Einsatz in der grundlegungstheoretischen Dimen sion einer Theorie der kulturellen Symbolsysteme, ist die variierende Anwendung des Ter minus - gleichsam in absteigender Richtung - auf der Ebene der konkreten und einzelnen Formen der Symbolisierung zu beobachten. Wie einschlägig und geläufig sich der Begriff des Mediums in die programmatische Absicht einer Philosophie der symbolischen Formen einfügt, zeigt sich nicht zuletzt an seiner analytischen Ausbreitung über das gesamte Feld symbolischer Prozesse, auch über den Kontext der nicht im systematischen Zentrum ste henden Untersuchungen einzelner Funktionen des menschlichen Verhältnisses zur Wirk lichkeit. Je nach Ausgangspunkt und Perspektive, Kontext und Richtung der allemal konkre ten Aufgabe einer symboltheoretischen Hermeneutik erweist, wo immer die Vermittlungsleistung im Fokus steht, der Begriff des Mediums als „Mittelglied" (Cassirer 1923 b: 14) seine Tauglichkeit gleichermaßen angesichts der Versinnlichung von Geistigem wie der Vergeistigung von Sinnlichem (vgl. Cassirer 1923 b: 95 f.; 170; 280; 297). So spricht Cassirer (1923 b: 214) bei konkreten Sprachfunktionen, etwa im Falle der ver balen Ausdrucksformen für den Ichbegriff, vom „Medium des Nomen" und dem „Medium
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des Verbum". Von derselben flexiblen Anwendung des Begriffs zeugt die selbstverständliche Rede davon, dass der Mythos (immer verstanden als mythisches Bewusstsein und mythi sche Lebensform, siehe unten, Abschnitt 2) ,,durch das Medium einer eigenen Bildwelt eine eigene geistige Bedeutungswelt" aufbaue (Cassirer 1923 b: 121); die Rede ist ferner vom my thisch-religiösen Gefühl, das zum Medium der Erfassung einer Idee werde (Cassirer 1925: 132); vom „Medium der Gottesanschauung" (Cassirer 1925: 249), in dem der Mensch sein „Selbstgefühl und Selbstbewußtsein" gewinne; von Gebet und Opfer als „Medien", in denen die „Extreme des Göttlichen und Menschlichen miteinander vermittelt werden (Cassirer 1925: 271); zu differenzieren ist dabei auch, dass das Ich sein Verhältnis zur Natur durch das „Medium des bloßen Eindrucks" oder durch das „Medium des eigenen Tuns" bestimmen könne (Cassirer 1925: 237). Die Medialität der Symbole erfüllt dabei laut Cassirer grundsätzlich stets die doppelte Funktion erstens der Vermittlung ,geistiger' Bedeutung, für welche Cassirer (1923 b: 10 u. ö.) die Formel vom bloßen Eindruck zum geistigen Ausdruck prägt und an welcher genauer be sehen die Komplementarität der Versinnlichung von Geistigem und Vergeistigung von Sinnlichem zu differenzieren ist; zweitens der Distanzierung von der Unmittelbarkeit alles Erlebten, die den mindestens gedachten Grenzwert aller Kultur bezeichnet: Im Akt der Symbolisierung entspringt immer auch ein Handlungsspielraum, der im fortschreitenden Prozess der Vernetzung und Differenzierung der Symbole zum Orientierungsraum der Kul tur ausgebaut wird. Medialität trägt Bedeutung im Modus der Verfügbarkeit in Distanz, und stiftet damit Freiheit. Eine Veranschaulichung dieser von Cassirer betonten befreienden Wirkung der Medialität aller Kultur findet sich bei Hans Blumenberg in der Metaphorik des Umwegs als der existentiell unabdingbaren Methode des Indirekten. Der Umweg, ,,phäno menaler Index aller Freiheit" (Blumenberg 1979: 567), gibt der Kultur die Funktion der Humanisierung des Lebens, wohingegen die vermeintliche ,Lebenskunst' der kürzesten Wege in der Konsequenz ihrer Ausschlüsse Barbarei ist: ,,Gingen alle den kürzesten Weg, würde nur einer ankommen. Von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt gibt es nur einen kürzes ten Weg, aber unendlich viele Umwege. Kultur besteht in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, der Aufwertung und Prämiierung der Umwege." (Blumen berg 1987: 137)
2. Philosophie der symbolischen Formen als Theorie der kulturellen Medialität Nach seiner Grundlegung der Naturwissenschaften durch eine Theorie des Begriffs (Cassi rer 1910) legt Cassirer in den 1920er Jahren des 20. Jhs. eine als Philosophie der Kultur konkretisierte „Grundlegung der Geisteswissenschaften" (Cassirer 1923 b: VII) vor. Unter dem Titel einer Philosophie der symbolischen Formen will er in der systematischen Kon zentration auf die Objektivationen des produktiven menschlichen Geistes zuletzt auf die Frage nach dem Wesen des Menschen eine Antwort geben, die der Gefahr eines Substanz begriffs vom Menschen zugunsten seines Funktionsbegriffs entgeht (vgl. Cassirer 1910): Der
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Mensch ist animal symbolicum (Cassirer 1944: 51) und als solches nur in den Funktionen seiner produktiven, sinnstiftenden Gestaltung der Welt zu fassen. In symbolischen Leistun gen aller Art, im Erzeugen und Verstehen von allemal zeichenvermittelter Bedeutung, ist der Ursprung der Kultur zu sehen, und dieser aus der Aktivität des menschlichen Geistes hervorgehende Ursprung ist im Wechselverhältnis von Rezeption und Produktion, von Tra dition und Innovation auf allen Ebenen und Entwicklungsstufen menschlicher Wirklichkeit stets aufs Neue zu leisten. In der Entfaltung des so beschriebenen Programms gibt Cassirer den Systementwurf einer Theorie der menschlichen Kultur in ihren tragenden Sphären. Dabei ist ebenso wie der Begriff des Symbols auch der des Mediums dazu angetan, einer der tragenden Intuitionen der Philosophie der symbolischen Formen Genüge zu tun: der Überwindung des cartesischen Dualismus. Indizieren doch beide Begriffe die für jegliche Bedeutung unabdingbare Einheit von Sinnlichkeit und Sinn, von Materialität und Methode. Wo Cassirer (1923 b: 147) dem zufolge das Programm der Untrennbarkeit von Sinnlichem und Geistigem im Blick auf die Komplexion der symbolischen Artikulation für die „in der Sprache waltende[] geistige[] Synthesis" konkretisiert, spricht er im genitivus subiectivus vom „Medium dieser Formen" der Anschauung, die die Sprache hervorbringt. Die pro grammatische Absicht mit dem Ansatz bei der symbolischen Formung dokumentiert ein Schlüsseltext, in dem er ,,[d]as Verhältnis von Leib und Seele" als „das erste Vorbild und Musterbild für eine rein symbolische Relation" bezeichnet: ,,hier waltet eine Verknüpfung, die nicht aus getrennten Elementen erst zusammengefügt zu werden braucht, sondern die primär ein sinnerfülltes Ganze ist, das sich selbst interpretiert" (Cassirer 1929: 113). Diesem Verständnis des Leibes als Modell der symbolischen Medialität entspricht in der Durchfüh rung der Theorie die bevorzugte Rede von Verkörperung (Krois 2011) - ein Terminus, der durch die im Präfix „Ver" insinuierte Nachträglichkeit dem Konzept eine prekäre Konnota tion mitteilt (Recki 2012), dessen emphatische Inanspruchnahme aber gleichwohl die syste matische Intention beglaubigt. Im Dienste dieser Intention steht auch der Begriff der symbolischen Prägnanz (Krois 1987; Schwemmer 1997; Recki 2004), durch den Cassirer die Vorstellung von den „Modali täten der Sinngebung" präzisiert. Unter symbolischer Prägnanz soll „die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis, als sinnliches Erlebnis, zugleich einen bestimm ten nicht-anschaulichen Sinn in sich faßt und ihn zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt." (Cassirer 1929: 231; Herv.: B.R.). Cassirer (1929: 228f.) veranschaulicht diesen Ge danken wiederholt an der Wahrnehmung eines ,einfachen Linienzuges'. Dieselbe gleichmä ßig geschwungene Linie kann als ästhetisches Ornament „künstlerische Bedeutsamkeit" haben, sie kann aber auch magisches Zeichen und damit „Träger einer mythisch-religiösen Bedeutung" sein, und sie kann schließlich die graphische Darstellung für einen „rein lo gisch-begrifflichen Strukturzusammenhang" geben (Cassirer 1927: 257f.). Auf den Punkt gebracht ist damit die wahrnehmungsphänomenologische Einsicht in die Aspekt-Abhän gigkeit der Sinngebung: das Sehen-als, oder umfänglich: Wahrnehmen-als. Je nach der infor mierten ,Optik' des Betrachters vermag dasselbe ,Wahrnehmungserlebnis' einen ganz unter schiedlichen Sinn zur Darstellung zu bringen, in den Termini der Definition der symbolischen
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Form: Dasselbe sinnliche Zeichen wird je nach Kontext mit unterschiedlichem geistigem Be deutungsgehalt verknüpft. Das sinnlich Gegebene wird demnach in jedem Fall instantan, und dabei immer schon in spezifischer Weise als bedeutsam erfasst. Cassirers (ergänzungsfä hige) Aufzählung der sprachlichen, mythisch-religiösen, ästhetischen und wissenschaftli chen Schematisierung wahrgenommener Bedeutung kennzeichnet das Beispiel des Linien zuges als Präparat der Vielfalt symbolischer Formen. Die symbolischen Formen, die Cassirer als Bereiche der Kultur stets programmatisch aufführt und denen er im Einzelnen ausführliche Darstellungen widmet, sind dem gemäß Sprache, Mythos (verstanden als mythisches Denken und mythische Lebensform), Reli gion, Kunst und Wissenschaft. Im „Medium der Sprache" (Cassirer 1929: 17) als dem Me dium des artikulierten Lautes meint er (mit Wilhelm von Humboldt) das „System von Lautzeichen" (Cassirer 1923 b: 16). Im Sinne der generell behaupteten „Offenbarung und Manifestation geistiger Grundfunktionen im Material des Sinnlichen selbst" (Cassirer 1923 b: 45) begreift er vor allen anderen Formen der Kultur und in ihnen (Recki 2004: 67-83) die Sprache als Medium der Vermittlung im Prozess der Auseinandersetzung von Ich und Welt (Cassirer 1923 b: 237). Für den Mythos als die auf dem Primat der Emotiona lität beruhende symbolische Form ist - noch diesseits des Bewusstseins von der Differenz zwischen Zeichen und Sache - das überwältigende Bild bestimmend (Cassirer 1944: 116170); in der Religion das im reflexiv verfügbaren Glauben an seine Wahrheit ernstgenom mene Bild; in der Kunst das in seinem Zeichenstatus reflektierte ästhetische Bild. In der Wissenschaft ist der reine abstrakte, zur Formel tendierende Begriff das Medium der Er kenntnis (Cassirer 1923 b: 5). Neben der Untersuchung aller Dimensionen und Stadien der Begriffsfunktion in einer Philosophie der Sprache (Cassirer 1923 b; 1925 a; 1932/33; 1944) und in einer Phänomeno logie der Erkenntnis, die in Wissenschaftstheorie kulminiert (Cassirer 1929; vgl. 1910), ent hält diese Kulturphilosophie eine extensive Würdigung des Bildmediums in drei verschiede nen Modi: 1) im affektiv-emotional geprägten mythischen Bewusstsein als unreflektierte Ubiquität und überwältigende Macht der Bilder; 2) in der Religion im Bewusstsein der Dif ferenz von Zeichen und Sache als Instanz geglaubter Wahrheit; 3) in der Kunst als reflektier ter selbstgenügsamer Schein (Cassirer 1925: 275-306). Bemerkenswert sowohl in der Sache wie im methodischen Interesse einer Medientheorie ist aber auch die Emphase auf der kulturkonstitutiven Leistung der Technik, die nach Cassi rers Einsicht ebenso wie die Sprache in alle anderen symbolischen Formen hineinwirkt: Zwar führt Cassirer die Technik nicht im Kanon der symbolischen Formen auf; doch ist sie für ihn eine derjenigen Grundmächte des Geistes (Recki 2013), die er im Begriff der symbo lischen Formen meint. Dieser Status der Technik wird deutlich, wo in der Bestimmung, dass ,,der menschliche Geist in der Sprache und im Werkzeug die wichtigsten Mittel der Befrei ung sich geschaffen hat" (Cassirer 1930: 161; Herv.: B.R.), Cassirer das Wort der Sprache mit dem Werkzeug auf dieselbe Stufe der elementaren Kulturstiftung stellt. Er geht so weit, die ,,Weise des mittelbaren Handelns", die mit dem ersten Werkzeug gewonnen ist, als Grün dung und Festigung „jene[r] Art von Mittelbarkeit" zu begreifen, ,,die zum Wesen des Den-
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kens gehört. Alles Denken ist seiner reinen logischen Form nach mittelbar - ist auf die Entdeckung und Gewinnung von Mittelgliedern angewiesen, die den Anfang und das Ende, den Obersatz und den Schlußsatz einer Schlußkette miteinander verknüpfen. Das Werkzeug erfüllt die gleiche Funktion, die sich hier in der Sphäre des Logischen darstellt, in der gegen ständlichen Sphäre: Es ist gleichsam der in gegenständlicher Anschauung, nicht im bloßen Denken erfaßte ,terminus medius'." (Cassirer 1930: 158) Präziser beschreibt er die in episte mischer wie in praktischer Absicht vermittelnde Funktion der Technik so, ,,daß das techni sche Wirken, in seiner Richtung nach außen, immer zugleich ein Selbstbekenntnis der Men schen und in ihm ein Medium seiner Selbsterkenntnis darstellt." (Cassirer 1930: 168) Exponiert ist damit am exemplarischen Fall die mediale Verfassung des Symbols, an der Cassirer mit der Mittelbarkeit der Eindrücke und Intentionen auch hier die Distanzierung und deren Effekt einer elementaren, Handlungsspielraum schaffenden Befreiung heraus streicht. Es ist derart die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Technik, in deren Kontext ei nige im Hinblick auf die medientheoretische Affinität und Relevanz des Ansatzes grund sätzliche Klärungen erfolgen: für das Verständnis 1) von Medialität; 2) des Mediencharak ters von Symbolen und schließlich 3) der Medialität des Bewusstseins überhaupt.
3. Das Wunder der Repräsentation oder Bewusstsein als Medium Mit den radikalen Bestimmungen des Technik-Aufsatzes von 1930 ist auch sichergestellt, dass der phänomenologischen Skizze des Bewusstseins als symbolischen Verweisungszu sammenhanges, wie Cassirer sie bereits in der ersten, der Sprache gewidmeten Monogra phie seines Hauptwerkes gegeben hatte, über den Status eines kühnen Experiments hinaus dauerhafte systematische Geltung zukommt. Mit dem Begriff des Bewusstseins als natürliche Symbolik beansprucht er in der Analyse der Kontinuität von Sprache und Bewusstsein die Tiefendimension des Symbolprozesses aufzuweisen. (Cassirer 1923b: 25ff.) Zunächst sieht es so aus, als ginge es Cassirer (1923b: 25) nur darum, das „Wunder" der Repräsentation, das in aller Sprache begegnet, mit einemfundamentum inconcussum auszu statten: Durch die elementare „Funktion des Trennens und Verknüpfens" (Cassirer 1923b: 18) im Medium lautlicher Ausdrücke erheben wir uns, so Cassirer, in der Sprache über die bloße Unmittelbarkeit der Eindrücke, des Sinnlichen, und kommen zu allgemeinen Bedeu tungen. Diese Leistung soll durch eine erkenntnistheoretische Reflexion der Bewusstseins funktion ihre Begründung erfahren: ,,Daß ein Sinnlich-Einzelnes, wie es z.B. der physische Sprachlaut ist, zum Träger einer rein geistigen Bedeutung werden kann - dies wird zuletzt nur dadurch verständlich, daß die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vor der Set zung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist, so daß sie in dieser Setzung nicht erst geschaffen, sondern nur fixiert, nur auf einen Einzelfall angewandt wird." (Cassirer 1923b: 39f.) Es ist die Repräsentation, die damit als die Grundfunktion des Bewusstseins begriffen wird: Sie wirkt bereits in der „Darstellung eines Bewusstseinselementes in einem anderen
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und durch ein anderes." (Cassirer 1923 b: 33) Cassirers These lautet: Das Bewusstsein als solches vollzieht sich qua Repräsentation immer schon als Symbolik. Im Kontext einer be grifflichen Reflexion, die an den Symbolfunktionen den Charakter der Medialität heraus stellt, heißt dies: Das Bewusstsein ist in dieser Theorie als das erste und grundlegende Me dium vorgestellt. ,,Es gehört zum Wesen des Bewußtseins selbst, daß in ihm kein Inhalt gesetzt werden kann, ohne daß schon, eben durch diesen einfachen Akt der Setzung, ein Gesamtkomplex anderer Inhalte mitgesetzt wird." (Cassirer 1923 b: 29) In diesem Gedanken zeigt sich schließlich, dass die Vorstellung von der Unmittelbarkeit sinnlicher Eindrücke, deren Chaos sich erst durch die sprachliche Setzung lichte (Cassirer 1923 b: 18), nur provisorischen Wert hat. Anhand der Konstruktion von Raum und Zeit fasst Cassirer (1923 b: 26f.; 32f.) die Einsicht, dass die interne Relationalität des Bewusst seins bereits Repräsentation im Sinne von Verweisung im Kontext ist: kein Hier ohne die elementare Verweisung auf Da und Dort; kein Jetzt ohne den Kontext des Früher und Spä ter. Das ist gemeint, wenn er geltend macht, ,,daß die Grundfunktion des Bedeutens selbst schon vor der Setzung des einzelnen Zeichens vorhanden und wirksam ist" (Cassirer 1923 b: 39f.). Von hier aus erklärt sich seine Differenzierung in „natürliche" und „künstliche Sym bolik": Ist das Bewusstsein als natürliche Symbolik zu begreifen, so meint der Begriff der künstlichen Symbolik das, was im Rahmen einer Philosophie der symbolischen Formen als Gebrauch artifizieller Zeichen in den Begriffen von Symbol und symbolischer Form ange sprochen ist. Ihren Ursprung haben demnach die Prozesse der symbolischen Formung, die Cassirer als künstliche Symbolik bezeichnet und dadurch charakterisiert, dass in ihnen die Bedeutung durch den Gebrauch von äußeren Zeichen auf Dauer gestellt werde, in der im mer schon medial verfassten Transformation von Eindrücken: Das menschliche Bewusst sein ist als das erste und grundlegende Medium begriffen. In dem Hinweis, dass die Funktion des (sprachlichen) Zeichengebrauchs die dauerhafte Fixierung dieser elementaren Relationen leiste (Cassirer 1923 b: 40), und sie damit in der Objektivierung erst verfügbar macht, gibt Cassirer die Antwort auf die sich hier aufdrän gende Frage nach der Funktion von Sprache und - in der naheliegenden Extrapolation anderen Symbolsystemen: Das Bewusstsein macht „Gebrauch" von Zeichen(systemen) (Cassirer 1923 b: 41; vgl. 40: ,,benutzt und festgehalten"). Explizit betont er, dass durch den symbolischen Ausdruck die Probleme, mit denen es das Bewusstsein zu tun hat, erst „be herrschbar" werden (Cassirer 1923 b: 44). Deutlich wird in dieser Rede: Die Repräsentation im Medium dauerhafter Zeichen, durch welche die Verweisungsfunktion auf Dauer gestellt wird, gewährt Verfügung über das, was bereits die basale Repräsentation im Bewusstsein leistet. Mit dieser pragmatischen Theorie der Sprache vertritt Cassirer, insofern die hier ana lysierte Funktion von dieser auf andere Medien übertragen werden darf, eine allgemeine pragmatische Theorie des Mediums.
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Zeichen, Sprache, Bild: Barthes und Baudrillard Thomas Friedrich und Gerhard Schweppenhäuser
1. Strukturalismus und Poststrukturalismus Der Strukturalismus ist eine spezifische Form der Semiotik. Die Bestimmung des Zeichens als etwas sinnlich Wahrnehmbares, das für etwas anderes steht, stammt aus der Philosophie des Mittelalters (Nöth 2000: 7-10; Locher 2011: 409f.). Sie wird vom Strukturalismus in einem nominalistischen Verständnis generalisiert und damit zur Grundlage einer Bestim mung des Medialen. Das Zeichen hat demnach keinerlei natürliche oder essentielle Verbin dung zu dem, worauf es verweist. Es ist für sich selbst bedeutungslos und ermöglicht gerade deshalb, eine unendliche Vielfalt der Bedeutungen zu generieren. Das war die Grundan nahme der antihistoristischen Sprachwissenschaft am Anfang des 20. Jhs. Der Strukturalis mus greift auf Begriffe zurück, die Ferdinand de Saussure in seinem Cours de linguistique generale grundgelegt hatte. Darin thematisierte er zwar die Sprache, stellte aber bereits eine Reihe von Überlegungen zu einer allgemeinen Semiotik an, die medientheoretische Rele vanz besitzen. Ausgangspunkt ist die Differenzierung zwischen langue (Sprache, verstanden als System von Zeichen) und parole (Sprechen bzw. Sprachvollzug). Langue und parole zu sammengenommen bezeichnet er mit dem Begriff langage, was mit menschlicher Rede übersetzt wurde. Genuiner Gegenstand der Sprachwissenschaft ist für Saussure die langue. Sie umfasst ein System gleichzeitig vorhandener Zeichen, die (vereinfacht formuliert) im Lexikon und deren Regeln für die richtige Verknüpfung zu Sätzen in der Grammatik einer Sprache fixiert sind. In Erscheinung tritt eine Sprache freilich erst durch konkrete Anwen dung als parole. Ein einzelnes sprachliches Zeichen ist zweiseitig gefasst als Verbindung ei ner Vorstellung mit einem Lautbild. Allgemeiner formuliert, geht es um die Einheit von Si gnifikat und Signikant. Der Wert eines einzelnen Zeichens wird bei Saussure vom Systemganzen der langue bestimmt, das heißt, er ergibt sich nur negativ differentiell durch die umliegenden Zeichen des Zeichensystems; das einzelne Zeichen wird nicht als Substanz, sondern als Form gefasst. Indem bereits beim Initiator des Strukturalismus die positive Be stimmung eines Zeichens gut begründet verweigert wird und damit eine Art Rückzug des Zeichens als Substanz stattfindet, ist die Selbstauflösung des Strukturalismus im Keim be reits angelegt. Der Poststrukturalismus erweitert, auf unterschiedlichen, Ebenen „Rück züge" bzw. Entwertungen zentraler Kategorien des Strukturalismus. Roland Barthes lässt, angeregt durch drei Reisen nach Japan zwischen 1966 und 1968, die Fülle des Signifikats schwinden, ebenso entwertet er das Subjekt, indem er es als eurozentrisch und logozentrisch entlarvt und im Zusammenhang japanischer Haikus von einer „Metaphysik ohne Subjekt und ohne Gott" (Barthes 1981: 108) spricht. Da er dort auch die Metapher des Wörterbuchs bringt, ,,in dem das Wort nur durch andere Wörter definiert ist" (Barthes 1981: 109), nimmt er vorweg, was bei Jean Baudrillard (1978) die „Agonie des Realen" heißt, das Schwinden
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der Referenzebene. Zeichen verweisen dann nur noch auf andere Zeichen. ,,Die Welt an sich", an der Kant als regulative Idee festgehalten hatte, wird bei Baudrillard durch die der Simulakra und das Prinzip der Repräsentation in Gänze durch das der Simulation ersetzt.
2. Roland Barthes: Das Reich der Zeichen Die von Saussure am System der Sprache entwickelte strukturalistische Semiotik auf andere Zeichensysteme zu übertragen und anzupassen, ist die große Leistung von Barthes. Wäh rend allerdings Saussure das Linguistische als Teil des Semiologischen verstand, wird bei Barthes (1967b: 9) die Semiologie Teil der Linguistik. In seinem Buch Mythen des Alltags analysiert er 1957 massenkommunikative Alltagsphänomene wie die Fotoausstellung The Family of Men, zusammengestellt von Edward Steichen für das New Yorker Museum of Mo dem Art, die Darstellung antiker Römer im Film oder auch den DS 19 der Firma Citroen zeichentheoretisch. 1964 differenziert er in Elemente der Semiologie die jeweiligen Zeichen systeme für Kleidung, Nahrung, Mobiliar und Architektur aus. 1967 erscheint seine semio tische Studie Die Sprache der Mode. Barthes greift in Elemente der Semiologie die Unterscheidung des Linguisten Louis Hjelmslev zwischen Denotations-, Konnotations- und Metasprachen auf. Eine Denotations sprache ist „eine Sprache[ ... ], von deren Ebenen keine eine Sprache ist. Es steht noch an,[ ... ] zu zeigen, daß es auch Sprachen gibt, deren Ausdrucksebene eine Sprache ist, und Sprachen, deren Inhaltsebene eine Sprache ist. Die ersten werden wir Konnotationssprachen nennen, die letzteren Metasprachen" (Hjelmslev 1974: 111). Konnotations- und Metasprachen sind gleichsam je spezifische Verknüpfungen von zwei Sprachen. Eine Grammatik z.B. ist eine Metasprache, denn sie hat insofern eine andere Sprache zum Thema, als sie deren implizite Regeln explizit macht. Sie thematisiert sich selbst metasprachlich als Objektsprache. Die Wissenschaftssprachen sind Metasprachen. Die Massenkommunikation dagegen ist ten denziell eine Konnotationssprache, weil sie in der Regel nicht nur über Sachverhalte in der Welt berichtet, sondern meist zugleich deutlich macht, was die Rezipienten von den jeweili gen Geschehnissen halten sollen. Barthes (1957) nennt solche Konnotationssprachen My then: Sie zeigen ein historisch Gewordenes als natürlich Gegebenes, als Ewiges. Das Signifi kat des ersten Zeichensystems wird gleichsam entleert und dem sinnentleerten Zeichen dieses ersten Systems ein anderes Signifikat eines zweiten Zeichensystems, das Barthes My thos nennt, aufgepfropft. Die Geschichte und das historische Wissen, die noch im ersten objektsprachlichen System vorhanden sind, verflüchtigen sich, um dem Signifikat des para sitären zweiten Systems als Form zu dienen. Mythenproduzenten schaffen enthistorisierte und damit auch entpolitisierte Aussagen, während es die Aufgabe des semiotischen Analy tikers im Sinne von Barthes wäre, den mythischen Entpolitisierungsprozess transparent zu machen. Semiotische Analyse wird so zur ideologiekritischen Praxis. Bekannt ist Barthes' Analyse einer Titelseite der Illustrierten Paris-Match aus der Zeit des Algerienkonflikts Frankreichs, auf der ein junger Afrikaner in französischer Uniform den militärischen Gruß in Richtung der französischen Flagge leistet. Der auf dem Foto gezeigte Farbige hatte seine
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individuellen Gründe, die mit seinem eigenen Lebenslauf zu tun haben, der französischen Armee in Algerien zu dienen. Da eine Fotografie, anders als ein sprachlicher Allgemeinbe griff, stets ein absolut Besonderes zeigt, ist klar, dass die gezeigte Person eine individuelle, nichtaustauschbare Lebensgeschichte hat, auch wenn das Bild diese nicht explizit macht. Das parasitäre Signifikat des Mythos lautet: Frankreich ist eine große imperiale Macht, und dies kommt den angeblich Unterdrückten zugute. Der gezeigte farbige Mann wird zum Alibi der imperialen Macht Frankreichs. Er wird, seiner individuellen nichtaustauschbaren Le bensgeschichte beraubt, zum bloßen Beispiel, das nur den Zweck hat, imperiale Macht zu legitimieren. Aus einem nichtaustauschbaren Besonderen ist ein austauschbarer Einzelner geworden, ein Exemplar, das unter ein Allgemeines, die französische Imperialität, subsu miert werden kann. Den Prozess der Entpolitisierung durch Enthistorisierung haben Max Horkheimer und Theodor W Adorno bereits 1947 im Kapitel „Kulturindustrie" der Dialektik der Aufklärung ausgeführt. Barthes' Leistung war es, eine semiotische Darstellungsweise für dieses kulturin dustrielle Phänomen zu finden. Im Laufe seiner Forschungsarbeit hat er sich aus zwei Grün den von der ideologiekritischen Verwendungsweise der Semiotik distanziert. Erstens, weil er später von der Möglichkeit einer ideologiefreien denotativen Sprache absah und zweitens, weil er die Denotationssprache nicht mehr als ,erste' Sprache ansah, sondern als ,letzte', die sich erst als Abstraktionsresultat aus Konnotionssprachen ergibt. Angeregt von Julia Kristeva, Jacques Derrida, Michel Foucault und Jacques Lacan verlief sein persönliches semiologisches Abenteuer in drei Abschnitten. Der letzte ist gekennzeich net durch den Text. Über diesen sagt Barthes (1988: 11): ,,Er ist kein ästhetisches Produkt, sondern eine signifikante Praxis; er ist nicht eine Struktur, sondern eine Strukturierung; er ist nicht ein Objekt, sondern eine Arbeit und ein Spiel; er ist nicht eine Menge geschlossener, mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen, sondern ein Volumen sich verschieben der Spuren; die Instanz des Textes ist nicht die Bedeutung, sondern der Signifikant in der semiotischen und psychoanalytischen Verwendung dieses Terminus; der Text geht über das frühere literarische Werk hinaus; es gibt zum Beispiel einen Text des Lebens, in den ich durch das Schreiben über Japan Eingang zu finden suchte". Nach seinen Japan-Reisen schrieb Barthes 1970 das Buch Das Reich der Zeichen. Er strebt hier, angeregt durch japanische mit dem Pinsel gemalte Schriftzeichen, von vornherein an, die europäische Trennung von Schrift und Bild zu überwinden, und legt das Buch als Bild und Textbuch an, wobei er gleich zu Beginn deutlich macht, dass weder die Texte Kommen tare zu den Bildern, noch die Bilder Illustrationen zu den Texten sind. Es geht um eine „Art visuellen Schwankens" (Barthes 1981: 11) zwischen den Signifikanten von Text und Bild. Dies unterstreicht auch die Unterschrift „Wo beginnt die Schrift? Wo beginnt die Malerei?" (Barthes 1981: 35), die er unter ein japanisches Bild aus dem 18. Jahrhundert setzt, das ein Haiku mit einem Abbild verbindet. Außerdem ist es Barthes' Anliegen, den Subjektbegriff der europäischen Kultur außer Kraft zu setzen. Das europäische Subjekt trennt laut Barthes zwischen dem „Innen" und dem „Außen" einer Person, wobei das „Innen" einen höheren Stellenwert hat als das „Äußere." Man denke nur an die „guten inneren Werte" verglichen
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mit den „bösen bloßen Äußerlichkeiten", denn von innen heraus wird in Europa traditionell der Dialog mit Gott geführt. Im Kapitel „Verbeugung" macht Barthes deutlich, dass die Höf lichkeit in Japan aus europäischer Sicht übertrieben scheint, sofern Europäer dazu neigen, die äußere Hülle der Höflichkeit nicht wertzuschätzen. ,,Unhöflich sein heißt wahrhaftig sein, sagt folgerichtig auch die westliche Moral" (Barthes 1981: 89). Wer Gefühle unge bremst zur Expression bringt, sich also unhöflich verhält, gilt als authentisch. Hochmütige, Narzissten und Borderliner sind heute bevorzugte Protagonisten des europäischen Films. Japanern dagegen scheint es schwer zu fallen, ,,Ich" zu sagen. Drittens geht es Barthes um das fliehende Signifikat im japanischen Zeichen, das er u. a. anhand der japanischen Essen zubereitung, dem Haiku, dem japanischen Garten und dem Puppentheater Bunraku auf zeigt. Aus medientheoretischer Sicht ist dies interessant, weil nicht vorausgesetzt wird, dass die vermittelnden Instanzen im Vollzug der Vermittlung selbst zu verschwinden scheinen. Anders als beim europäischen Marionettentheater sind die Puppenspieler beim Bunraku nicht verborgen, sondern stehen während des Spiels sichtbar für den Zuschauer neben den Puppen, die sie bedienen. Auch die Kochkunst findet nicht in einer dem Gast verborgenen Küche statt, wie in Europa üblich; sie wird vor den Augen der Gäste am gleichen Tisch rea lisiert, Zubereitung und Nahrungsaufnahme finden gleichzeitig statt. Die Stäbchen, mit de nen die Speise zubereitet und mit denen auch gegessen wird, erfüllen nach Barthes drei Verwendungsweisen oder Gesten: eine deiktische, denn sie zeigen die Nahrung; außerdem heben sie die Speisen mit wenig Druck, ohne sie aggressiv anzugreifen: ,,niemals sticht, schneidet, spaltet, verletzt das Stäbchen, es hebt nur auf, es wendet und bewegt" (Barthes 1981: 31); und drittens führt das Stäbchenpaar die Nahrung zum Munde. ,,Mit dem Stäb chen ist die Nahrung nicht länger Beute, der man Gewalt antut (Fleisch, auf das man sich stürzt), sondern eine harmonisch verwandelte Substanz" (Barthes 1981: 32). Es gibt auch keine vorgegebene Speisefolge, kein Menü. Kein Sinn, keine Ordnung, keine Klassifikation steckt hinter der Speisezubereitung, man nimmt kleine Happen von hier und von da, die vor aller Augen zubereitet werden, alles ist Wiederholung, es gibt kein Zentrum, keine Haupt speise, alles erscheint „wie ein fortlaufender, ununterbrochener Text" (Barthes 1981: 37). Am ausführlichsten wird das Schwinden des Sinns am Haiku, dem literarischen Zweig des Zen, aufgezeigt. Man kann das Haiku als Medium für das Nichts bezeichnen, denn letzt lich geht es darum, die Sprache stillzustellen oder, wie man auch sagen könnte, den Film anzuhalten: ,,das unbezwingliche Geplapper der Seele zu leeren, auszutrocknen und in Sprachlosigkeit zu versetzen" (Barthes 1981: 102). Anders als bei europäischen Gedichten gibt es keine mehrschichtigen, tiefsinnigen Bedeutungsebenen. Das Haiku verweigert zwei klassische Funktionen der Schrift, die Beschreibung und die Definition, sein Objekt ist nichts Besonderes, auch lässt es das Subjekt unberücksichtigt. ,,Der Winterwind bläst./Die Augen der Katzen/Blinzeln." (Barthes 1981: 113). Barthes bringt in diesem Zusammenhang die Metapher vom kleinen Kind, das herumläuft und beliebig auf alles Mögliche zeigt und dazu „Das!" sagt. Die Sinnlosigkeit der Klassifizierung wird vorgeführt. Bei all dem darf nicht vergessen werden, dass Das Reich der Zeichen weniger ein Buch über Japan ist, sondern vor allem eines über ein Land, dessen Sprache und andere Zeichen-
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systeme Roland Barthes nicht kannte. Er nimmt Japan als Text im eingangs besprochenen Sinne sich verschiebender Spuren vor aller Bedeutung wahr, wie eine fremde Sprache, in der man keine distinkten Einheiten ausmachen kann und deswegen eine Art von Gesang hört - reine diffuse Signifikanten. Die Japaner, deren gestische Zeichensysteme Barthes nicht kennt, werden aus europäischer Sicht wie Menschen ohne Ausdruck erlebt. Barthes verwen det Japan quasi als Medium um dorthin zu kommen, was von Julia Kristeva Genotext ge nannt wird: die triebhafte, vorprädikative, d.h. nichtsprachliche Basis der Sprache, des Sub jekts und der Objekte. Er „umschließt alle semiotischen Vorgänge (Triebe, ihre Dispositionen, den Zuschnitt, den sie dem Körper aufprägen, und das ökologische und gesellschaftliche System, das den Organismus umgibt: die Umweltobjekte, die präödipalen Beziehungen zu den Eltern), aber auch die Heraufkunft des Symbolischen (Auftauchen von Objekt und Sub jekt, Konstituierung von Sinnkernen, die auf eine Kategorialität verweisen: semantische und kategoriale Felder)" (Kristeva 1978: 94). In Abgrenzung zum Genotext bezeichnet Kristeva die Sprache mit dem Terminus Phänotext, dem Feld der Kommunikation und der bereits realisierten Subjekt-Objekt-Ausdifferenzierung. Etwas vereinfacht formuliert, hat der klas sische Strukturalismus den Phänotext und der Poststrukturalismus den Genotext zum Thema. In Die helle Kammer, seiner letzten Schrift, argumentiert Barthes, dass das genuin mo derne Bildmedium Fotografie eigentlich kein Medium sei. Denn in der Rezeption, die er mit phänomenologischen Kategorien beschreibt, und auch bei der fotochemischen Produktion fände weniger eine Vermittlung statt, sondern eher eine Erzeugung von Quasi-Realpräsen zen der Objekte. Fotografie schafft für Barthes (1980: 97) eine „Beglaubigung von Präsenz", sie sei daher „gleichgültig gegenüber jeder Vermittlung" (Barthes 1980: 96). Deshalb hebe sie sich „als Medium auf " und sei „nicht mehr Zeichen, sondern die Sache selbst" (Barthes 1980: 55). ,, Als gegenüber Sprache gleichsam aus Berufsgründen nominalistisch eingestellter Se miologe", interpretiert Wolfgang Ullrich (1997: 65), begründe Barthes die „Eloge auf die photographischen Bilder damit, daß sie mehr und anderes seien als , nur' Zeichen und Codes. Wahrend Sprache niemals unmittelbare Wahrheit und Gewißheit gewähren kann [ ...], ist allein die Photographie ,wohl allem überlegen, was der menschliche Geist zu ersinnen ver mag und vermocht hat, um uns der Wirklichkeit zu versichern' [Barthes 1980: 96]. In einer Welt, in der Repräsentation durchwegs im Sinne des Nominalismus erfolgt, ist die Photogra phie für Barthes also das einzig Unmittelbare, ist direkte Emanation, ja ist gar in der Lage, das Wesen des Referenten in Totalität zu vergegenwärtigen." Hier klingt die Sehnsucht nach Wirklichkeit jenseits des in sich geschlossenen Reichs der Signifikanten an, die im Poststruk turalismus einem melancholischen Nachsinnen Platz macht.
3. Jean Baudrillard: Semiokratie und Bedeutungsverweigerung Die poststrukturalistische Theorie der Zeichen bricht mit der traditionellen, repräsentatio nalistischen Grundannahme, die noch die strukturalistische Semiotik teilte. Diese Annahme geht auf den aristotelisch-essentialistischen Geist der mittelalterlichen Scholastik zurück.
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Wenn dort gesagt wurde, dass ein Zeichen etwas ist, das für etwas anderes steht (aliquid stat pro aliquo), war implizit vorausgesetzt, dass das Zeichen sich in nicht-kontingenter Weise auf notwendige Eigenschaften dessen beziehe, auf das es verweist. Das konnte einerseits als Verhältnis semantischer Adäquation gedacht werden und andererseits als pragmatisches Er gebnis der Verwendungsweise. Zum Beispiel: In der deutschen Sprache heißen die weißen Flocken, die im Winter vom Himmel fallen, ,,Schnee" und eine Kugel, die eine gewisse Größe nicht überschreitet, ,,Ball"; deshalb ist das Wort „Schneeball" adäquater Ausdruck für eine Kugel aus Schnee, die bequem in eine Hand passt. Und sagt man zur Blumenverkäufe rin: ,,Eine Rose", dann ist die phonetische Seite, das Klangbild, ebenso kontingent wie das Schriftbild und die Buchstaben, die zum Einsatz kämen, wenn man die Bestellung schrift lich aufgeben würde. Nicht-kontigent ist nach dieser Auffassung beim Zeichengebrauch aber der Bezug auf das Signifikat, also auf die mit dem Zeichen verbundene Bedeutung (im Unterschied zur Gestalt und Materialität des Zeichens, die hierbei jeweils willkürlich ist). Das Verständnis der Bedeutung müssen beide Zeichenverwender teilen, damit es zu einer erfolgreichen Kommunikation im Blumengeschäft oder auf dem winterlichen Schulhof kommen kann. Wird die Verbindung zum Signifikat aber abgeschnitten, dann lässt sich die ,,Bedeutung" eines Zeichens mit nichts mehr abgleichen außer mit ihm selbst. Auch Witt gensteins post-essentialistische Rückführung der Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks auf die Regel, der wir bei seinem Gebrauch folgen, erlaubt dann keinen verlässlichen Ab gleich mehr. Gleiches gilt, mutatis mutandis, für visuelle Ausdrücke, oder, schlicht gesagt, für Bilder. Diese radikalnominalistische Entkoppelung der signa von den res hatte sich in den Avant gardekünsten des 20. Jahrhunderts Bahn gebrochen. In der Zeichentheorie der Literatur wurde sie nach dem „Tod des Autors" vollzogen, den Barthes (1967 a) verkündet hatte, um rezeptionsästhetisch darauf aufmerksam zu machen, dass die Intentionen des Urhebers ir relevant für den Sinn seines Werkes sind. Die Entkoppelung der Zeichen von den Sachen sollte jenen „Tod des Subjekts" besiegeln, den Foucault (1969: 1002) wenig später erklärte und damit das Ende der Leitvorstellung „des Subjekts als Ursprung und Grundlage des Wis sens, der Freiheit, der Sprache und der Geschichte" meinte. Darüber konnte man als Poststrukturalist entweder in Verzückung geraten, weil das ver meintlich frei flottierende Spiel der Signifikanten nun unendliche Spielräume eröffnet oder man konnte die Entkoppelung deprimiert konstatieren, weil gesellschaftliche Befrei ung davon gewiss nicht zu erwarten ist. Letzteres war die Einstellung Jean Baudrillards. Er schloss sich Foucaults vernunftkritisch-resignativer Diagnose an und schrieb (mit Blick auf die Literatur der neuen Subjektivität, aber auch gegen die traditionell marxistische Frage nach dem Subjekt der gesellschaftlichen Befreiung): ,,Heute ist niemand mehr in der Lage, sich zum Subjekt der Macht, des Wissens oder der Geschichte zu machen" (Baudrillard 1985: 140). Es sei dies nicht bloß eine „unerfüllbare Aufgabe" - es sei vielmehr geradezu ,,lächerlich geworden", die Koordinaten der „bürgerlichen Subjektivität", deren ,letzte Zu ckungen' wir erleben würden, noch zum Ausgangspunkt für Kritik zu nehmen (Baudrillard 1985: 140).
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Doch nicht nur die Idee des Subjekts sei von der Bühne abgetreten, sondern auch sein Gegenstück, also die Vorstellung, es gebe eine subjektexterne Realität. Die Allgegenwart der Codes und Zeichen, die von allem losgelöst sind, was sie qualitativ bestimmt, sah Baudril lard als Fortsetzung der warenförmigen Entqualifizierung von Dingen und Mensch im hochkapitalistischen Produktionsverhältnis und seinem kulturellen Widerschein. Zeichen und Tausch sind die zentralen Begriffe seiner philosophischen Medientheorie. Beide werden aufeigenwillige Weise umgedeutet: Das Zeichen ist weit mehr als ein sprachphilosophischer Terminus, und der Tausch wiederum wird aus einem wirtschaftswissenschaftlichen Begriff zum Element einer ethnologisch informierten Zeichentheorie (die aufMarcel Mauss' Theo rien vom Geschenktausch als Bindemittel sozialer Interaktion rekurriert). Die Herrschaft der Zeichen ist nach Baudrillard bis zu einem gewissen Grad die zeitge mäße Gestalt der selbstgemachten, gleichwohl fremdbestimmenden Dominanz eines abs trakten, aber sehr realen Herrschaftsverhältnisses, das in der Klassengesellschaft über den Warentausch vermittelt ist. Die Dominanz wird miterzeugt durch die Massenmedien. Bau drillard (1972: 284) zufolge - der hier ähnlich argumentiert wie Vilem Flusser - sind Mas senmedien „anti-mediatorisch", weil sie „Nicht-Kommunikation fabrizieren - vorausge setzt, man findet sich bereit, Kommunikation als Austausch zu definieren, als reziproken Raum von Rede und Antwort [ ...], als eine vom einen zum anderen im Austausch sich her stellende persönliche Korrelation". Kommunikation wird in den Massenmedien demnach nicht hergestellt oder ermöglicht, sondern bloß simuliert. Dies sei aber nicht auf die Pro duktions-, Distributions- und Konsumtionsverhältnisse der modernen Massenkommuni kation zurückzuführen, in der die Inhalte sozialer Kommunikation Warenform annehmen. Vielmehr folge es aus den (nachrichten-) technischen Grundlagen der Übermittlungsappa rate, genauer gesagt: aus deren Transformation von konkreten Ereignissen in abstrakte Ko dierungen. In der Tradition des Strukturalismus gilt, dass Bedeutung durch die Differenz erzeugt wird, die ein Zeichen von einem anderen unterscheidet (bei den Wortzeichen Haus und Maus besteht lediglich eine Differenz zwischen zwei Buchstaben, und eben die konstituiert die Bedeutung des jeweiligen Zeichens). Die „Semiokratie" (Baudrillard 1976: 146) der Medienkultur des 20. Jhs. nutze bedeutungsstiftende Differenzen, um Botschaften, Inhalte und Ideologien zu erzeugen und zu transportieren. Werbung, Massenmedien und politi sche Propaganda erzeugen mit ihren scheinbar erfüllten, sinnhaften Zeichen eine Welt der Bedeutungen. Solche „Semiokratie" ist demnach die „neue Form des Wertgesetzes: die totale Austauschbarkeit aller Elemente in einem funktionalen Ensemble, in dem jedes nur als strukturaler, dem Code entsprechender Term einen Sinn bekommt" (Baudrillard 1976: 146). Doch auch die Möglichkeit, die dahinter verschwindende Realität jenseits der Codes beim Namen zu nennen, schwinde. Der „Hyperrealismus" der digitalen Bildmedien verdop pele die Wirklichkeit und stelle einen Reproduktionskreislaufher, in dem die Simulakra aus einem Medium ins andere kopiert werden. Für die Mediennutzer treten Reproduktionen und Simulationen an die Stelle der Ereignisse. Baudrillard (1976: 137) sieht hier einen Wie-
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derholungszwang am Werk, der nicht in der Moderne vom Himmel gefallen, sondern Er gebnis einer langen, (bild-) philosophischen Tradition sei, die letzten Endes Realität als das jenige definiert habe, ,,wovon man eine äquivalente Reproduktion herstellen kann" (Baudrillard 1976: 137). Dies sei die historisch letzte Stufe einer Folge von Ersetzungen des Wirklichen durch Zeichen in Gestalt von Abbildern oder Trugbildern (,,Simulakra"). So sei die kulturelle Reproduktion in der Neuzeit anfangs durch das Prinzip der Imitation be stimmt gewesen, das sich in der Theater- und Dekorationswelt des Barock als „Illusion" manifestiert hat: als „eine Ordnung des Realen, die vom imaginären Spiel der Zeichen ein gehüllt wird" (Fahle 2003: 65). Sie werde im Zeitalter industrieller Produktion gefolgt von der „Ordnung der Serie", in der die Objekte gleichförmig nach demselben Entwurf herge stellt werden, und dies führe dazu, dass das eigentlich „experimentelle Verhältnis von Zei chen und Referenz in die Struktur strenger Reproduzierbarkeit" (Fahle 2003: 65) hineinge zwungen werde. Am Ende stehe die gegenwärtig herrschende Stufe der Simulation, in der die Differenz von Original und Reproduktion hinfällig werde, die ja immerhin noch be stand, solange Entwurf und Exemplar sinnvollerweise zu unterscheiden waren. Wenn die Realität aber komplett aus Simulakra bestehe, sei das Prinzip der Repräsentation in Gänze durch das der Simulation ersetzt. Kennzeichnend für die Bildmedien ist der Simulationstheorie zufolge nicht der Bezug auf etwas außerhalb ihrer selbst, sondern reiner Selbstbezug. Daher entstehe der Schein, als sei das Reale nur noch durch seine Ähnlichkeit mit sich selbst gekennzeichnet, die freilich eine halluzinatorische ist. Dies führe zur „Agonie des Realen" (Baudrillard 1978), in der die audiovisuellen Medien Wirklichkeiten eigener Art schaffen, anstatt extramediale Wirklich keit zu repräsentieren. Baudrillard hat 1991 darauf aufmerksam gemacht, dass der Golfkrieg der USA nicht nur auf dem Feld der Berichterstattung medial inszeniert worden ist, sondern auch auf dem Schlachtfeld selbst.Die Inszenierung hätte nicht mehr die Aufgaben eines me dialen Boten zu erfüllen, der ein Publikum informiert, das wähnt, eine distanzierte Beob achterrolle einnehmen zu können. Die Inszenierung berichte nicht vom realen Ereignis. Sie produziere ein Medienereignis, das Gegenstand der Kommunikation werde und damit als eigentliche (nämlich als virtualisierte) Realität erscheine, und das habe nicht nur Folgen für die Rezeption, sondern auch für die mediatisierte Kriegführung selbst. ,,Im Fernsehen hat man es nie mit der Realität zu tun im Sinne eines echten, konkreten Kontaktes.Das Medium macht die Wirklichkeit virtuell, das heißt, es übersetzt sie in flüchtige, austauschbare elektro nische Bilder, die sich der Erfahrbarkeit entziehen. [ ...] Es sind nicht nur die Medien, in de nen sich dieser Krieg verflüchtigt - der Krieg selbst nämlich ist nicht real. [ ...] Das Virtuelle beherrscht nicht nur die Medien, es hat auch das Wirkliche angegriffen. Der Golfkrieg wird elektronisch geführt. Der Feind als Gegenüber [ ...] ist verschwunden.Der Kriegsschauplatz ist für die Beteiligten nur auf den Schirmen ihrer Radare und Zielvorrichtungen präsent.Die Kriegsereignisse selbst sind ins Ungewisse geraten" (Baudrillard 1991: 220). Baudrillards Zu- oder Überspitzungen haben immer wieder zu Irritationen geführt. Horst Bredekamp (2007: 141) beispielsweise hat die Aporie poststrukturalistischer Medien philosophie so beschrieben: ,,Die Simulationsphilosophie entwertet die Realität in einem
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Zangenangriff, indem sie nur das, was Bild geworden ist, als existent wähnt, im Gegenzug aber dem Bild den existentiellen Grund abspricht." Dass Baudrillard durchaus Ansätze für widerständige Praxis gesehen hat, mag ein Anzei chen dafür sein, dass ihm der Widerspruch, an dem seine Kritiker ansetzen, nicht verborgen geblieben ist. Anhand des subproletarischen Kampfs gegen die Dominanz der Semiokratie im städtischen Raum hat er ausgeführt, dass urbane Revolution gegen Ende des 20. Jahr hunderts ein medialer und zeichenorientierter Aufstand sein müsse: ,, Ein neuer Typ us der Intervention in die Stadt, nicht mehr als Ort der ökonomischen und politischen Macht, sondern als Zeit/Raum der terroristischen Macht der Medien, der Zeichen und der herr schenden Kultur " (Baudrillard 1976: 143). Medienphilosophie berührt sich hier mit einer kritischen Theorie der Stadt in ihrer postmodernen Variante, die am Funktionswandel der Stadt von der Produktionsstätte zum Ort der Zeichen ansetzt. ,,Die Stadt war [ ...] ein Ort der Produktion und des Verkaufs von Waren, der industriellen Konzentration und Exploitation. Heute ist sie [ ...] ein Ort der Exekution von Zeichen, die wie Urteile über Leben und Tod entscheiden. [ ...] Die Fabrik als Sozialisationsmodell für das Kapital ist heute nicht verschwunden, aber in der allgemeinen Strategie tritt sie zurück hinter der gesamten Stadt als Raum des Codes.Die Matrix des Urbanen ist nicht mehr die der Realisierung einer Kraft (der Arbeitskraft), sondern die der Realisierung einer Differenz (die Operation des Zei chens)" (Baudrillard 1976: 144f.). Gegen semiokratische Allgegenwart von Codes und Zei chen richte sich entweder eine Identitätsrevolte, die gegen Anonymität durch Namen die eigene Identität und Realität behauptet - oder die pseudonyme Revolte der Graffitis, die der objektiven Einsicht Rechnung trage, dass Identität unmöglich geworden ist. Im unbewuss ten ethnologischen Rückgriff der Sprayer auf Clan-Namen sieht Baudrillard (1976: 147) Formen der „symbolischen Benennung". Sie würden eine Solidarität schaffen, die im urba nen Leben verloren gegangen ist, welches durch die Vereinzelung des Individuums gekenn zeichnet ist, das seine Arbeitskraft als Ware verkaufen muss und mit allen anderen im Kon kurrenzkampf steht. Die Kraft der Graffiti sei „die wahre Kraft eines symbolischen Rituals, und in diesem Sinn laufen die Graffiti allen Zeichen der Medien und der Werbung zuwider [ ...].Man hat in Bezug auf die Werbung von einem Fest gesprochen: Ohne sie wäre die ur bane Umwelt düster. Aber in Wirklichkeit ist sie nichts als kalte Animation, Simulakrum von Appell und Warme, sie gibt niemandem ein Zeichen, sie kann durch keine autonome oder kollektive Lektüre aufgenommen werden, sie schafft kein symbolisches Netz.Mehr als die Mauern, die sie tragen, ist die Werbung selbst eine Mauer, eine Mauer aus funktionalen Zeichen, die dazu da sind, decodiert zu werden, deren Wirkung sich in der Decodierung erschöpft" (Baudrillard 1976: 148). Graffiti, so Baudrillard (1976: 148), machen aus dem leeren, eigenschaftslosen Raum, den Werbung als Schreibfläche für ihre Zeichen benutzt, ein Territorium: ,,Mit ihnen bricht das linguistische Ghetto in die Stadt ein, eine Art Auf stand der Zeichen." Sie setzen ihrerseits bei der Differenz an, jedoch nicht, um „semiokra tisch" wie Werbung, Massenmedien und Propaganda Botschaften zu transportieren, son dern durch einen „Einbruch in das Urbane als Ort der Reproduktion und des Codes" (Baudrillard 1976: 150).
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Der hier und da versuchte Widerstand gegen die Semiokratie erzeugt also nicht eine an dere Welt der Bedeutungen. Er kündigt vielmehr das Einverständnis auf, das über die Form der Zeichenverwendung herrscht. In der Bedeutungsverweigerung hat Baudrillard die letzte Chance im Rückzugskampf der „Ereignisse" gegen ihr Verschwinden in der Welt der Zei chen gesehen. Ist das lediglich eine überwundene frühe Position des poststrukturalistischen Philosophen, oder adäquater Ausdruck seiner antidialektischen, aber nicht affirmativen Philosophie der Medien? Erfüllt es den theoretischen Tatbestand eines performativen Wi derspruchs? So oder so: Es handelt sich um poststrukturalistisches Philosophieren über Zei chen und Medien in mustergültiger, typischer Weise. Literatur Barthes, Roland (1957): Mythen des Alltags, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 61981. Barthes, Roland (1964): Elemente der Semiologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983. Barthes, Roland (1967 a): ,,Der Tod des Autors", in: ders., Das Rauschen der Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, s. 57-63. Barthes, Roland (1967 b): Die Sprache der Mode, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. Barthes, Roland (1970): Das Reich der Zeichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981. Barthes, Roland (1980): Die helle Kammer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1985. Barthes, Roland (1985): Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988. Baudrillard, Jean (1972): ,,Requiem für die Medien''. in: Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, hrsg. v. Claus Pias u. a., Stuttgart: DVA, 1999, S. 279-299. Baudrillard, Jean (1976): Der symbolische Tausch und der Tod, Berlin: Matthes & Seitz, 2011. Baudrillard, Jean (1978): Agonie des Realen, Berlin: Merve. Baudrillard, Jean (1985): Die fatalen Strategien, München: Matthes & Seitz. Baudrillard, Jean (1991): ,,Der Feind ist verschwunden", Interview in: Der Spiegel, Nr. 6, S. 220-221. Bredekamp, Horst (2007): ,,Das Bild als Leitbild. Gedanken zur Überwindung des Anikonismus", in: Ders., Bilder Bewegen. Von der Kunstkammer zum Endspiel, Berlin: Wagenbach, S. 136-156. Fahle, Oliver (2003): ,,Vo(r)m Verschwinden. Adornos und Baudrillards Medientheorien", in: Massenkultur. Kriti sche Theorien im interkulturellen Vergleich, hrsg. v. Oliver Fahle, Rodrigo Duarte u. Gerhard Schweppenhäuser, Münster: LIT, S. 52-74. Foucault, Michel (1969): ,,,Die Geburt einer Welt'. Gespräch mit J.-M. Palmier", in: ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, hrsg. v. Daniel Defert u. Frarn;ois Ewald, Bd. 1: 1954-1969, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 200 l, Bd. I, s. 999-1002. Hjelmslev, Louis (1974): Prolegomena zu einer Sprachtheorie, München: Hueber. Kristeva, Julia (1974): Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1978. Locher, Hubert (2011): ,,Semiotik''. in: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, hrsg. v. Ulrich Pfisterer, Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 408-419. Nöth, Winfried (2000): Handbuch der Semiotik, 2. Aufl., Stuttgart: Metzler. Saussure, Ferdinand de (1916): Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin: de Gruyter, 21967. Ullrich, Wolfgang (1997): ,,Digitaler Nominalismus. Zum Status der Computerfotografie", in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 17. Jg., Heft 64, S. 63-73.
4. HERMENEUTISCHE UND KULTURAL ISTISCHE THEORIEN
Vilem Flussers Medienphilosophie als Theorie rational-magisch kodierter Medienkultur Rodrigo Duarte
Vilem Flusser hat eines der bedeutendsten Konzepte der Medienphilosophie im zwanzigs ten Jahrhundert hervorgebracht, und er hat sich seit seinen frühesten Schriften immer wie der mit der Rolle der Massenkultur beschäftigt. Auch in Werken, die auf den ersten Blick damit nichts zu tun zu haben scheinen, wie z.B. Die Geschichte des Teufels und Sprache und Wirklichkeit, tauchen Stellen auf, die die Medien und ihre Wirkungen aufs menschliche Be wusstsein, wenngleich indirekt, adressieren. Die folgende Darstellung von Flussers medienphilosophischen Überlegungen geht von seinen frühen Schriften aus; sie bezieht auch Texte ein, die bislang nur auf Portugiesisch publiziert wurden, und sie versucht, das herauszuarbeiten, was man gleichsam als medien philosophischen Generalbass bezeichnen kann, der sich durch Flussers Werk zieht. Der Lücken und Kurzschlüssen dieses Versuchs ist sich der Verfasser durchaus bewusst; wenn die skizzenhafte Darstellung der medientheoretischen Hauptgedanken in Flussers Philoso phie jedoch dazu dient, dass die Leser diese besser kennenlernen möchten, glaubt er sich legitimiert.1
1. Teufel, Sprache und Massenmedien Die Geschichte des Teufels wurde Anfang der 1960er Jahren verfasst. Mit diesem Buch debü tierte Flusser als philosophischer Schriftsteller. Es stellt eine Art umgestülpte „Phänomeno logie des Geistes" dar, in der sich der Teufel als Prinzip der Zeit-Räumlichkeit Gott als dem Prinzip der Ewigkeit und des Himmlischen entgegensetzt. Flussers Methode zu zeigen, wie
Für den Verfasser des vorliegenden Artikels liegt ein besonderer Reiz in der Darstellung von Flussers (Medien-) Philosophie für ein deutschsprachiges Publikum darin, dass die erste philosophische Sprache des gebürtigen Tschechen, der 1950 in Brasilien eingebürgert worden ist, das Deutsche war, während Portugiesisch seine zweite philosophische Sprache wurde. Nicht auszuschließen, dass Brasilien und Deutschland infolgedessen die Länder mit besonders interessanten Rezeptionen der Flusser'schen Philosophie geworden sind. - In diesem Zusammenhang sei auf einen Sammelband mit Beiträgen von brasilianischen und deutschen Gelehrten hinge wiesen, den Thomas Friedrich und ich unter dem Titel Kulturdialoge mit Vilem Flusser in der Reihe „Ästhetik und Kulturphilosophie" des LIT-Verlags herausgeben (im Erscheinen).
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der Teufel durch die Geschichte hindurch in verschiedenen Gestalten erscheint, besteht in der Analyse der sieben Todsünden oder, besser gesagt, in deren besonderer Auslegung. So tauchen mit der für den Teufel typischen Weltlichkeit die Wollust, der Zorn, die Völlerei, der Neid, der Geiz, die Hoffart und die Trägheit als verschiedene Strategien auf, die Ewigkeit Gottes zu besiegen. Flussers Darstellung der sukzessiven Erscheinungen der Sünde in der obengenannten Ordnung drückt die Absicht aus, zu zeigen, dass es sich um einen dialek tisch-geschichtlichen Prozess handelt, in dem die ersten(mit der Wollust beginnend) in ihre Nachfolger übergehen. Wahrend die Wollust auf etwas Uraltes hinweist, nämlich auf die Tendenz der seienden Einzelwesen(zunächst im biologischen Sinn) sich im Leben zu erhal ten, so bedeuten vom Zorn an die übrigen Sünden typische Erscheinungen der menschli chen - nicht nur, aber insbesondere der westlichen - Kultur: Wissenschaft(Zorn), Techno logie (Völlerei), Wirtschaft (Neid und Geiz), die Sprachen und die Künste (Hoffart) und Mystik(Trägheit). Auf interessante Weise kommt in der Geschichte des Teufels eine explizite Erwähnung der „Medien" im Sinne der heutigen Kommunikationsmittel nicht in den Kapiteln über die mehr auf die moderne Welt bezogenen Sünden vor, sondern in dem über die Wollust, die, wie gesagt, mit den elementarsten Phänomenen des Lebens anfängt. Der Grund dafür ist, dass die erste Vermehrung der Protozoen es mit komplexen Phänomenen wie dem gegen wärtigen Nationalismus(mit allen mittleren Erscheinungen dazwischen) gemeinsam habe, auf der Basis der Ausdehnung ihres eigenen Daseins zu operieren. Im Rahmen einer Ana lyse der romantischen Liebe als Beispiel dieses Prinzips taucht im ersten Buch Flussers eine explizite Kritik der Massenkultur auf: ,,Der Begriff der romantischen Liebe und Ehe, der sich wie eine moralische und ästhetische Pest aus der Dichtung des neunzehnten Jahrhun derts in die illustrierten Wochenblätter und in die Kinoproduktion des zwanzigsten ergießt und alle Stände unserer Gesellschaft erfasst, macht Liebe ordinär und billig"(Flusser 1993 a: 69). Wenig später erwähnt er übrigens ausdrücklich Hollywood: ,,Wenn wir also die Tradi tion als Basis des Volksbewusstseins ernst nehmen sollen, dann erscheint die Zukunft des völkischen Geistes im Hinblick auf die Technik, auf Hollywood und auf die internationale Küche nicht in rosigen Farben" (Flusser 1993 a: 79). Das erste Buch, das Flusser überhaupt veröffentlicht hat, verfasste er ursprünglich auf Portugiesisch; es wurde in zweiter Auflage unter seinem Originaltitel Lingua e realidade 2004 publiziert und ist bislang noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Bereits dort, also in Sprache und Wirklichkeit, findet sich eine Kritik der Massenmedien, die mit seinen sprachmetaphysischen Überlegungen verstrickt ist. Die Hauptthese des Buches ist eine ei genartige Annäherung von Heideggers Sein und Zeit an Wittgensteins Tractatus logico-phi losophicus; sie lautet, dass nicht nur die Sprache eine Wirklichkeit bildet, sondern dass auch die ganze Wirklichkeit „bloße" Sprache ist. Die Anführungszeichen weisen darauf hin, dass für Flusser keine Wirklichkeit außerhalb der Sprache besteht, weil dasjenige, was noch nicht artikuliert ist, nicht als wirklich(= effektiv) betrachtet werden kann. So bildet jede Sprache eine besondere Welt und die Übersetzung von Texten bedeutet den Übergang des Übersetzers von einer Welt in eine andere. Von dieser Hauptthese aus gibt es
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viele interessante Folgen, auf die leider hier nicht eingegangen werden kann. Doch um Flus sers Erwähnung der Massenmedien im Rahmen seiner sprachmetaphysischen Überlegun gen zu verstehen, muss man zumindest seinen eigenartigen „Globus der Sprache" berück sichtigen. Es handelt sich um ein Diagramm (Abbildung 1 ), in dem eine Mercator-Projektion eines Globus dargestellt wird, auf der der Äquator, der die Wirklichkeit symbolisiert, vom einem zentralen Meridian gekreuzt wird, der vom „Südpol" des inauthentischen Schweigens zum „Nordpol" des authentischen Schweigens führt. Die Wirklichkeit heißt ein artikulierter Diskurs, der für alle praktischen Aufgaben des Lebens ausreichend ist und eine gewisse ,,Normalität" bildet. Die Breitengrade über und unter dem Äquator bringen die Fälle hervor, die die Wirklichkeit positiv bzw. negativ beeinflussen: Unmittelbar über dem Wirklich keits-Äquator steht der Breitengrad des Gesprächs, der die sprachlich-intersubjektive Bezie hung über einen gewissen Gegenstand und dementsprechend den objektiven Diskurs der Wissenschaften bezeichnet. Gleich darüber steht die Dichtung, die einen schöpferischeren Gebrauch der Sprache bedeutet und gleichzeitig auch für eine entsprechende Erweiterung der Wirklichkeit steht. Der Breitengrad, der noch über der Dichtung steht, ist derjenige des Gebets; hier wird die Rede praktisch aufs Innere des Gemüts gerichtet, indem eine Vorberei tung für den (Nord-)Pol des Nichts, des „Es", des authentischen - wittgensteinschen Schweigens vorkommt. Geht man, ausgehend vom Wirklichkeits-Äquator, nach unten, stößt man erstmals an den Breitengrad des Geredes (im heideggerschen Sinne), das systematisch die Wirklichkeit Authentisches Schwelgen Pol des Nichtes (es)
Äquator der __,....,__________,,_________.,_ Äquator der Wirklichkeit Wirklichkeit
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In-authentisches Schweigen Pol des Nichtes (man)
Abb. 1: Der Globus der Sprache
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vermindert, weil die Sprache dabei nur für Sachverhalte benutzt wird, die fürs Leben belang los sind. Darunter steht dasjenige, was Flusser einen „Wortsalat" nennt, der die Vorausset zung der Artikulation nicht erfüllt, die den „normalen" Gebrauch der Sprache und folge richtig die Wirklichkeit ausmacht. Darüber hinaus wird deren Dauer wohl eine Art Zerspaltung des Bewusstseins bezeichnen, eine Art Geisteskrankheit. Gleich unter dem Wortsalat steht das Lallen, das noch unartikulierter ist; es steht für ein niedriges ontologisches Niveau und kennzeichnet die mündliche Kommunikation von Ba bies und Kleinkindern, die noch nicht richtig sprechen können. In vollkommener Symmet rie mit dem oberen Teil des Globus steht ganz unten der (Süd-)Pol des Nichts, das inauthen tische Schweigen, wo das - heideggersche - ,,man" herrscht. Auf der Suche nach Ansätzen zur Medienreflexion im Rahmen von Flussers früher Sprachphilosophie findet man Stellen, in denen er sich sehr kritisch über die Massenkultur äußert, indem er zugleich das Gespräch und das Gerede in der Ordnung seines Globus aus legt: ,,Die Schichten des Gesprächs umfassen Prozesse, die vom Plaudern von zwei Nachba rinnen bis zu dem riesigen Gerede variieren, das uns in Form kommerzieller und politischer Werbung und den pseudo-künstlerischen Produktionen des Kinos, der Illustrierten und des Romans überflutet" (Flusser 2004: 136).
2. Funktionäre, Apparate und Technobilder Flussers Werke aus der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre bereiten den Weg, auf dem sein ei genartiges Schema der menschlichen Kommunikation etabliert wird, das überwiegend ab Anfang der 1980er-Jahre mit der Veröffentlichung seiner Philosophie der Fotografie weltweit bekannt worden ist. Insbesondere in seinem Buch Von der Religiosität. Die Literatur und der Sinn von Wirklichkeit, das in dieser Zeit in Brasilien verfasst und veröffentlicht worden ist, ist der Aufsatz „Vom Funktionär" zu erwähnen, in dem das kybernetische Modell, das später mit Flussers Begriff der Technobilder verknüpft wird, eine erste Formulierung findet. Dabei handelt es sich um eine gleichzeitige Bezeichnung von Funktionär und Apparat, in der Ers terer nicht als Mensch definiert wird, sondern als „eine neue Art von Wesen, die gerade entsteht" (Flusser 2002: 84). Es hat kein eigenes Dasein, sondern lebt in Funktion des Appa rates, also einer Maschine oder etwas Ähnlichem, die praktisch autonom ist. In Flussers Modell ist der Apparat eine Konstante und der Funktionär die Variable, die sich um jene herumdreht. Je größer die Frequenz und je kürzer der Radius der Umkreisung, desto näher steht der Funktionär dem Apparat und desto „wichtiger" ist er angesichts der Aufgabe, ihn in Betrieb zu halten. Flusser zufolge kann nicht nur eine Maschine oder ein automatisiertes Werkzeug ein Ap parat sein, sondern auch eine immaterielle Vorrichtung wie z.B., der Staat, eine Behörde, eine Fabrik, ein wirtschaftlicher Zweig usw. Mit dem Konzept der Symbiose von Apparat und Funktionär hat Flusser den gesellschaftlichen Hintergrund gewonnen, vor dem er seine Kommunikationstheorie konstruieren kann. Flusser hat zu Beginn der l 970er Jahre, gleich nach seiner Rückkehr nach Europa, hier und da immer wieder einmal das Thema der Mas-
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senkultur behandelt hat, so etwa in Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen (1994), wo er die Drohung der Verdinglichung durch Massenmedien mit der Eigenartigkeit des brasilianischen Menschen - seiner Ungeschichtlichkeit - konfrontiert, wenn er über die Bedingungen nachdenkt, unter denen diese Drohung stärker bzw. schwächer sein könnte. Gleichwohl erscheint eine ausgearbeitete Medientheorie erst in einer Ende der 1970er Jahre verfassten Abhandlung namens Umbruch in den menschlichen Beziehungen? auf, die im Rahmen des Buches Kommunikologie erschienen ist. Dort zeichnet sich die wichtige Unter scheidung zwischen Diskurs und Dialog als Methode der menschlichen Kommunikation ab, wobei jener der Ausbreitung der schon erworbenen und dieser der Schöpfung neuer Infor mationen dient. Hier taucht auch zum ersten Mal die Klassifikation dieser Methode auf, wonach Diskurse theatralisch (Unterricht, Konzerte), pyramidal (Armee, Kirche), in Baum form (Wissenschaft, Kunst) oder amphitheatralisch (Massenmedien) stattfinden können, während Dialoge entweder im Kreis (runder Tisch, Parlament) oder im Netzwerk (Telefon, Post) stattfinden. Flusser beschreibt, wie diese verschiedene Methoden in Paaren zusam menhängen, und beginnt damit implizit eine Diskussion der Demokratie in den Kommuni kationssystemen. Das komplementär wirkende Paar aus Theaterdiskursen und Kreisdia logen realisiere den höchsten Grand von Demokratie, weil dort volle Verantwortung aller Teilnehmender herrscht. Für die am allerwenigsten demokratischste Situation hingegen steht das Paar aus Amphitheaterdiskurs und Netzdialog, wo ein massenmedialer Sender auf buchstäblich unverantwortliche Weise Informationen per Rundfunk ausstrahlt, die gleich zeitig von Millionen Empfängern angenommen und, teilweise genauso ohne jede Verant wortung, untereinander besprochen werden. Flusser zufolge folgt dies dem Schema der Massenkultur. Diese kann als ein Apparat im obengenannten Sinne angesehen werden, des sen Funktionäre nicht nur die im Kommunikationsbetrieb arbeitenden Menschen, sondern auch die Zuschauer (bzw. Zuhörer) sind. Ein anderer wichtiger Punkt dieser Abhandlung ist die Einführung des Begriffs des „Technobilds", der als bedeutendster Beitrag Flussers zur Medienphilosophie angesehen werden kann. Ihm zufolge kommt unseren paläolithischen Vorfahren das Verdienst zu, erst mals die dreidimensionale Wirklichkeit in einem zweidimensionalen Plan dargestellt zu ha ben (wie z.B. in der Höhlenmalerei). Diese Darstellung wurde das Charakteristikum der Vorgeschichte, die folgerichtig von der Herrschaft dessen gekennzeichnet wird, was Flusser „traditionale Bilder" nennt. In jener Zeit waren diese Bilder das Hauptorientierungsmittel der Menschheit, bis in den Zeitraum hinein, da, möglicherweise aufgrund der Ablehnung der Idolatrie, eine ikonoklastische Revolution im dritten Jahrtausend v. Chr. im mittleren Osten die Schrift hervorgebrachte. Mit dem von Flusser adoptierten semiotischen Vokabu lar formuliert, trug sich dabei der Übergang eines zweidimensionalen Codes in einen eindi mensionalen zu, der dieselben Elemente, die früher als Szene in einem Plan ausgedehnten waren, erstmals in Reihen aufstellt (Abbildung 2). Für Flusser entspricht die Lesart in Kreisen, die für die Auslegung eines Bildes typisch ist, einem mythischen Bewusstsein, das mit der Herrschaft des neuen und grundlegenden, ein dimensionalen Codes allmählich durch eine fortschrittliche geistige Einstellung überwun-
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Abb. 2: Aus Flusser, ,,Umbruch in den menschlichen Beziehungen?" (Kommunikologie, S. 88) den wird. So sei die von der Schrift geprägte Geschichte entstanden, die die Vorgeschichte aufgehoben hat, welche von Bildern beherrscht war. Da mit dem Laufe der Zeit klargewor den sei, dass nicht nur Bilder, sondern auch Texte großes Täuschungspotential besitzen, sei ein neuer Typus eines grundlegenden Codes entstanden, den Flusser auf den Namen „Technobild" tauft: eine eigenartige Synthese von traditionellen Bildern und Schrift, in der die auf einem Plan vorgestellten Gestalten, die den herkömmlichen Bilder ähneln, tatsäch lich Produkte von eindimensionalen, linearen Codes sind, wie z.B. von chemischen oder optischen Gleichungen. Der problematische Zusammenhang, in dem die Technobilder ent standen sind, wird vom Flusser so beschrieben: ,,Es fällt uns daher relativ leicht, aus der Welt der Texte herauszuspringen: sie sind nicht mehr gültig. Aber die Gefahr ist, daß wir in die Bedeutungslosigkeit, ins Nichts springen.Darum erfinden wir neuartige Codes: die Techno bilder. Sie sollen den Texten eine neue Art von Bedeutung geben. Sollte ihnen das jedoch gelingen, dann würden wir diese Bedeutung nicht tatsächlich erleben, begreifen und werten können; denn wir sind hoffnungslos für Programme vorprogrammiert, an die wir nicht mehr glauben können" (Flusser 1998: 99).
3. Momentaufnahmen, Zerstreuungen und die Dialektik der Nachgeschichte Die Erwähnung von „Programmen" weist darauf hin, dass Technobilder nicht direkt von menschlichen Händen, sondern von Vorrichtungen hervorgebracht werden, die program mierbar sind und dem ähneln, was Flusser schon früher „Apparat " genannt hat. Und damit ist das Flusser'sche Schema zum Verständnis der Medien fast komplett. Was hier fehlt, wird in Flussers wohl bekanntestem Werk vorgestellt. In Für eine Philosophie der Fotografie wird die Kamera, die chronologisch erste Erzeugerin von Technobildern, die nach einem Pro gramm funktioniert, zum Vorbild aller Apparate gemacht. Dadurch wird der Unterschied zwischen herkömmlichen und Techno-Bildern präzise erkennbar: ,,Der Fotoapparat illus triert diese Robotisierung der Arbeit und diese Befreiung der Menschen fürs Spiel. Er ist ein intelligentes Werkzeug, denn er erzeugt Bilder automatisch. Der Fotograf muß sich nicht mehr, wie der Maler, auf einen Pinsel konzentrieren, sondern kann sich ganz dem Spiel mit der Kamera widmen. Die zu leistende Arbeit, das Drucken des Bildes auf die Fläche, ge schieht automatisch: die Werkzeugseite des Apparates ist ,erledigt', der Mensch ist nur noch mit der Spielzeugseite des Apparates beschäftigt." (Flusser 1994 b: 27)
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Eine aufmerksame Lektüre von Flussers Philosophie der Fotografie deutet darauf hin, dass die Fotos nicht nur das erste Beispiel von Technobildern sind, sondern auch „das foto grafische Universum" (Flusser) ankündigen: ein neues Zeitalter, in dem die hardware ihren Wert allmählich verliert und die software rasch an Wert gewinnt. Dies wird dadurch illus triert, dass sowohl die Kamera selbst als auch die materielle Seite ihrer Produkte, das Foto papier, im Vergleich mit den Informationen, die dadurch vermittelt werden, immer weniger Wert haben. Dieser weltweite Sachverhalt wird detailliert in Flussers Buch Nachgeschichte beschrie ben, das verschiedene Aspekte des Lebens in der post-industriellen Gesellschaft so behan delt, dass die einzelnen Kapitel gleichsam zur Momentaufnahme dieser globalen Situation werden. Die Verknüpfung mit der Fotografie, den Momentaufnahmen, wird vom Titel der brasilianischen Fassung des Werkes bestätigt, die fast ein Jahrzehnt zuvor veröffentlicht wurde. P6s-hist6ria. Vinte instantaneos e um modo de usar (Flusser 1983) heißt: Nachge schichte. Zwanzig Momentaufnahmen und eine Gebrauchsanweisung. Fast alle dieser schrift lichen Bilder tragen als Titel einen Namen, in dem ein bestimmtes Phänomen der Gegen wart mit dem Possessivpronomen „unser" (oder „unsere") verbunden wird, was darauf hinweist, dass sie uns alle angehen. Sämtliche medienphilosophischen Begriffe wie Diskurs, Dialog, Apparat, Funktionär, Technobild usw., die in den früheren Werken Flussers darge stellt werden, tauchen in Nachgeschichte wieder auf. Dabei fällt eine Verschärfung der Kritik der Massenkultur auf, die an anderen Orten nur angedeutet wurde. Als Beispiel sei auf das Kapitel „Unsere Zerstreuung" eingegangen. In seinen „Momentaufnahmen" weist Flusser darauf hin, dass das Abendland den Weg zur Veränderung der Welt durch die Technik ging, während das Morgenland zur gleichen Zeit den Weg der Selbstveränderung der Menschen beschritten habe, um mit der Welt besser zurecht zu kommen. Daran anknüpfend, verweist Flusser auf die bekannte Stelle aus Hegels Phänomenologie des Geistes über das „unglückliche Bewusstsein" (Hegel 1807: 136 ff.), nach der in den Verhältnissen zwischen dem Ich und der Welt die Gefahr bestehe, dass entweder das Ich sich in der Welt oder aber sein Selbst verliert, und er bezieht jene Situation auf das Abendland, diese auf das Morgenland. Für das Abendland konstatiert Flusser, dass der Weg zur Weltveränderung zu schwer und lästig sei, weshalb Mittel zur Zerstreuung erfunden worden wären, die wir als Unterhaltungsindustrie kennen. Flusser kennzeichnet diesen Betrieb als eine Vorrichtung, die sich so zwischen Ich und Welt inter poniert, dass die Überladung dieses Sachverhalts von den Massen nicht so drastisch gespürt wird. Das Ergebnis sei, dass die Menschen keine authentische Erfahrung von dem machen, was ihnen gegenübersteht, und es impliziere, dass ihre Gedächtnisfähigkeit ständig ab nimmt. Vorausgesetzt, die Abwesenheit des Gedächtnisses stört die Rechenschaft, die wir uns über den Ablauf der Zeit mit ihrem dazugehörigen Bewusstsein von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft machen, erheblich, dann erweist sich die Unterhaltung als eines der mächtigsten Programmierungsmittel der post-historischen Gesellschaft, das Flusser scharf kritisiert: ,,Zerstreuung ist Aufsaugen von Sensationen und ihr unverdautes Ausscheiden. Eigentlich ist das selbstverständlich. Denn wenn das Ich aus der Sensation ausgeklammert
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wird, bleibt keine ,Innerlichkeit', kein Darm, kein Wille, kein Gedächtnis übrig, um die Sen sation verdauen zu können. Was übrigbleibt, sind die Münder, die Schlünde. Sie saugen die Erlebnisse auf. Und was übrig bleibt, sind die After. Sie scheiden die Erlebnisse wieder aus. Die Massengesellschaft ist eine Gesellschaft von Schläuchen - weit primitiver als Ringwür mer, bei denen die innere Leibeshöhle als Verdauungsapparat dient" (Flusser 1993 b: 88). Für Flusser gilt: Je mehr die Tendenz zur Nachgeschichte innerhalb unserer noch mehr heitlich historischen Welt sich durchsetzt, desto stärker werden die Sensationen sein, die uns von den Apparaten angeboten werden. Außerdem verlangen die Apparate immer mehr Kooperation mit ihrem Funktionieren. Zu dieser dunklen Seite der Nachgeschichte würde es, so Flusser, nicht kommen, wenn man mit den Apparaten nicht kooperierte. Obwohl die Haltung Flussers in Nachgeschichte überwiegend pessimistisch ist, erscheint in der Momentaufnahme „Unser Rausch" die Möglichkeit, dass man der Macht der Appa rate durch die Produktion authentischer Kunstwerke widerstehen könnte, weil aufgrund des Spiels, das darin steckt, das Funktionieren der Apparate instabil würde (vgl. Flusser 1993 b: I06f.). Im Laufe der Zeit kehrt Flusser zur einer Kompromisslösung zurück, was seine Auf fassung der Verhältnisse zwischen der Macht der Apparate und dem möglichen Widerstand dagegen vermittelst der künstlerischen Tätigkeit betrifft. Diese neue Haltung, die bereits Bekanntschaft mit der der Digitalisierung der Mittel gemacht hat, zeigt sich sehr deutlich in seinem Buch Ins Universum der technischen Bilder. Flusser zeigt sich dort begeistert von den kreativen Möglichkeiten der neuen Medien. Wie an verschiedenen anderen Orten seines Werkes teilt er seine Einstellung durch eine Erzählung mit. Sie hat die Form einer Fabel, die dreißig Jahren später nicht unplausibel scheint: ,,Das Szenario, die Fabel, die ich hier vor schlage, ist diese: Die Menschen werden, jeder für sich, in Zellen sitzen, mit Fingerspitzen an Tastaturen spielen, auf winzige Bildschirme starren und Bilder empfangen, verändern und senden. Hinter ihrem Rücken werden Roboter Dinge heranschaffen, um ihre verküm merten Körper zu erhalten und zu vermehren. Durch ihre Fingerspitzen hindurch werden die Menschen miteinander verbunden sein und so ein dialogisches Netz, ein kosmisches Übergehirn bilden, dessen Funktion es sein wird, durch Kalkulation und Komputation un wahrscheinliche Situationen ins Bild zu setzen, Informationen, Katastrophen herbeizufüh ren. Zwischen den Menschen werden künstliche Intelligenzen eingeschaltet sein, die durch Kabel und ähnliche Nervenstränge hindurch mit den Menschen dialogisieren." (Flusser 1992a: 175) Diese scheinbar abschließende Befürwortung der neuen, Technobilder erzeugenden Mit tel ist jedoch tatsächlich nicht definitiv. In einem bedeutenden Buch der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, Die Schrift, bringt Flusser nicht nur die Nostalgie eines Schriftstellers ange sichts des möglichen Endes der Schrift überhaupt zum Ausdruck; er zeigt auch die Schwie rigkeiten auf, die mit der endgültigen Abschaffung der Texte verbunden sind. Sie hängen mit einem Punkt zusammen, der seit Beginn des Ansatzes der „Nachgeschichte" in Flussers Werk besteht. Geschichte wird demzufolge mit dem Auftauchen der Post-Historie keines wegs ganz überwunden - vielmehr stehen Geschichte und Nachgeschichte in einem dialek tischen Verhältnis. ,,Wir sind eben daran, das Aufschreiben (das Schreiben überhaupt) den
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Apparaten zu überlassen und uns aufBildermachen undBilderbetrachten zu konzentrieren. Wir sind eben daran, ins ,Universum der technischen Bilder' zu übersiedeln, um von dort aus auf die von Apparaten automatisch geschriebene Geschichte hinunterzuschauen. Aber diese Übersiedlung ist ein äußerst verwickelter Vorgang. Das Schreiben ist nicht ohne wei teres überwindbar. Erstens, weil sich dieBilder, die wir kontemplieren, von der Geschichte (den Apparaten) nähren. Zweitens, weil diese Bilder die Geschichte (die Apparate) pro grammieren. Und drittens, weil die Apparate nicht so schreiben, wie wir geschrieben haben: Sie benutzen andere Codes." (Flusser 1992 b: 24) Das Verhältnis von Geschichte und Nachgeschichte hat Flusser noch kurz vor seinem Tod in einer Vortragsreihe untersucht, zu der ihn Friedrich Kittler eingeladen hatte, von dem auch Vorwort zurBuchpublikation der Vorlesungen stammt (Flusser 2009: 9 ff.). Kom munikologie weiter denken kann als ein Memento von Flussers Medienphilosophie in toto gelesen werden, das auch seine Aneignung der Bedeutung der digitalen Technologie zum Ausdruck bringt. Was das dialektische Verhältnis zwischen Geschichte und Nachgeschichte angeht, so macht Flusser mit Nachdruck auf einen damit verknüpften Punkt aufmerksam, der zuvor schon mehrfach angedeutet worden ist: ,,Die Sender, diese nachgeschichtlichen Installationen, nähren sich von Geschichte, und wenn sie droht auszugehen, produzieren sie Geschichte" (Flusser, 2009: 194). Und im Zusammenhang einer auf die biblische Überliefe rung Bezug nehmenden Betrachtung der Verschlingung von Geschichte und Nachge schichte weist Flusser ausdrücklich auf Hegels Begriff der „Aufhebung" hin: ,,Das Lebens ziel, das Ziel der Geschichte, ist die Aufhebung der Geschichte und die Aufhebung des Lebens - Aufhebung beinahe im Hegel'schen Sinn dieses Wortes" (Flusser, 2009: 237). Literatur Flusser, Vilem (1983): P6s-hist6ria. Vinte instantaneos e um modo de usar, Säo Paulo: Duas Cidades. Flusser, Vilem (1992 a): Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen, European Photography. Flusser, Vilem (1992 b): Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Frankfurt a.M.: Fischer. Flusser, Vilem (1993 a): Die Geschichte des Teufels, Göttingen: European Photography. Flusser, Vilem (1993 b): Nachgeschichte, Bensheim und Düsseldorf: Bollmann. Flusser, Vilem (1994 a): Brasilien oder die Suche nach dem neuen Menschen, Mannheim: Bollmann. Flusser, Vilem (1994 b): Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen: European Photography. Flusser, Vilem (1998): Kommunikologie, hrsg. v. Stefan Bollmann u. Edith Flusser, Frankfurt a.M.: Fischer. Flusser, Vilem (2002): Da religiosidade. A literatura e o senso de realidade, Säo Paulo: Escrituras Editora, 2. Aufl. Flusser, Vilem (2004): Lingua e realidade, Säo Paulo: Annablume, 2. Aufl. Flusser, Vilem (2009): Kommunikologie weiter denken. Die Bochumer Vorlesungen, hrsg. v. Silvia M. Wagnermaier u. Siegfried Zielinski, Frankfurt a.M.: Fischer. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1807): Phänomenologie des Geistes, Hamburg: Meiner, 2006.
Mtcrwv. Das Dazwischen als paradoxer Ort der universalen und partikularen Kultur Stavros Arabatzis
1. Das Medium als paradoxer Ort Medientheorie und Medienphilosophie sind kein modisches 1 Phänomen, vielmehr haben sie mit der Entwicklung der Sache selbst zu tun. Und diese „Sache" meint nichts anderes als das paradoxe Medium (meson) oder das Dazwischen (metaxy) des Mediums. ,,Medium" (oder „Medien") beschreibt so den paradoxen Ort eines Dazwischen als integrales Gesche hen. Und der Gegenstand der Medienphilosophie ist dann dieses Dazwischen, die Relationa lität, der Mittler zwischen A und B, zwischen Subjekt und Objekt, oder dynamisch ausge drückt: das mediale Dazwischen im Prozess von Subjektivierung und Desubjektivierung. Ein Ort des Werdens, der Differenzen, Brüche und Paradoxien, der sich darin immer zugleich als ein Ort des Seins und der Indifferenz erweist. Genau mit dieser paradoxen und rätselhaf ten Mitte beschäftigt sich Medienphilosophie. Sofern sie diese Archäologie des Mediums reflektiert, reichen Medientheorie, Kommunikations-, Informationswissenschaft, Medien wissenschaften, Mediologie sowie alle gesellschaftliche und kulturelle Medienpraxis (als präxe, techne und poiesis) nicht an diese archäologische Fragestellung heran. Denn die me dienphilosophische Frage nach der arche (als Anfang und Herrschaft) der Medien versucht die Mediatisierung des Wirklichen von Anfang an zu erfassen (nicht bloß die Vergeistigung, Profitrationalisierung oder instrumentelle Rationalisierung des Wirklichen), um gerade da durch die neusten Medien erst aktuell zu machen.
2. Traditionelle und neue Medienmaschinen Warum genügt es aber nicht, weiterhin den traditionellen Begriff der Philosophie zu benut zen, der ja dann auch den neuen Gegenstand „Medien" in seiner instrumentellen oder poe tisch-vernetzten Medialität zu reflektieren hätte? Die Antwort lautet: Philosophie hatte von Beginn an, in ihrer theoretischen und praktischen Auslegung, vor allem mit dem Medium ,,logos" und später mit der „Arbeit des Begriffs" zu tun. Dies ist aber nur ein Medium (Logos und Begriff) unter vielen anderen. Freilich ein problematischer Medienbegriff, auf den be reits die Antike hingewiesen hat, wenn sie etwa auch auf die Medien (meson) Licht, Luft oder Wasser hinweist. Was wir sehen, hören, spüren, vernehmen, so schrieb einmal Dioge nes Laertius (1990: 2. Bd., 204), nehmen wir durch ein Medium wahr: durch Luft, Licht, Klang, Wasser etc., sodass „nichts in seiner reinen Gestalt" vorliegt. Die Eigenschaften der 1 Was Mode ist, bleibt freilich rätselhaft genug und ist bis heute der Modetheorie weitgehend fremd geblieben.
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Dinge bestehen daher nicht substantiell, sondern nur in Relationen. Aber genau in diesen Relationen verstecken sich die Rätsel und Paradoxien des Mediums in seiner historischen Bewegung und logos-Bestimmung. So ist nach Aristoteles der apophantik6s l6gos auf Wahrheit und Wissen vereidigt, wäh rend der nicht-apophantische logos in Rhetorik, Schauspiel (hypokritikes) oder Poesie auf tritt. Diese Letzteren werden aus dem Medium der apophantischen Philosophie aussortiert und - wie er in Über die Hermeneutik oder Über die Dichtkunst erklärt - als für die Philoso phie nicht relevante Elemente der Rhetorik, der Poesie oder dem Mythos überlassen. Wir haben es hier also mit einer philosophischen Logos-Maschine zu tun, die die nicht-apophan tische Sphäre des Logos - und diese ist als irrationale Sphäre riesig - aussortiert, damit aber auch die Problematik von Rationalität und Irrationalität auf sich lädt. Jedenfalls wurden seither Konstruktionen an dieser apophantischen Logos-Maschine vorgenommen, die jene Unterscheidung aber mehr schlecht als recht „aufzuheben" vermochten. Hierbei tauchte ein drittes Problem in der Logos-Maschine auf. Denn wir haben es im apophantischen logos nicht nur mit der Unterscheidung von Wahrheit (Wissen) auf der ei nen Seite und Unwahrheit (Lüge) auf der anderen Seite zu tun, sondern auch mit zwei For men von Medien-Maschinen, die in ihrer Aktualität und Potenzialität eine indikative (Ist, Sein, Werden) und imperative (Sollen) Medienmaschine beschreiben. Eben dieser zweite, imperative Aspekt blieb in ihrer indikativen historischen Funktion mehr oder weniger ver deckt, sowohl in der rationalen Medienmaschine (Logos, Wahrheit, Begriff, instrumentelles Medium) als auch in der irrationalen (Rhetorik, Ästhetik, Poesie, Musik, Gefühl, Affekt). Eine imperative Medienmacht, die in der Theologie als Wort Gottes oder schöpferischer Akt auftritt und den apophantischen logos der Philosophie in Richtung des göttlichen Worts (theo-logos) transzendiert. Die göttliche Logos-Transzendenz wird in Neuzeit, Renaissance und Humanismus wieder rückgängig gemacht, indem erneut an die alte Unterscheidung des Aristoteles erinnert wird. So etwa im modernen Rationalismus (Descartes), der die Lo gos-Maschine weiter rationalisiert, dabei aber auch, wie dann die Aufklärung, zwischen den beiden Sphären zu vermitteln versucht. Nach Kant ist nämlich der Begriffohne Anschaung leer, während die Anschauung ohne Begriffblind bleibt. Wir sehen hier, dass die Nachfolger des Aristoteles das logos-Defizit der Medienmaschine sehr wohl erkennen und der proble matischen Erbschaft mit der Komplementarität der Medien (Begriff und Anschauung) zu begegnen versuchen. Diese methodologische Komplementarität bleibt freilich bei Kant for mal, während er den Imperativ (Sollen) an das Handeln des Einzelnen knüpft und damit nicht nur die Ethik mit dem Imperativ (Sollen) kontaminiert, sondern auch die Historizität und gesellschaftliche Verflochtenheit des Einzelnen im Ganzen übersieht. Auf diese Historizität des Einzelnen weist Hegel hin, aber so, dass er mit seinem „kalten Begriff" das Medium erneut an den alten apophantischen Logos des Aristoteles festmacht. Hierbei bedient er sich allerdings eines Begriffs der „Aufhebung ", den er von Luther über nimmt, wobei letzterer den Inbegriff katargesis von Paulus mit „Aufheben" ins Deutsche zu übersetzen versucht - ein theologischer Begriff, der aus argia oder ergon und kata zusam mengesetzt ist und soviel wie das Deaktivieren und außer Kraft setzen der Arbeit und des
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Werks bedeutet. Jedenfalls fällt er mit dieser Säkularisierung des theologischen Gehalts (die das göttliche Wirken in der „Arbeit des Begriffs" auflöst), wie später Marx mit der Profitra tionalität, in die alte aristotelische Unterscheidung zurück - und damit sogar hinter Kant, der ja immerhin, wie formal auch immer, auf die Komplementarität der Medien (Begriff und Anschauung) setzt. Anders Nietzsche, der die Flucht in die Gegenrichtung antritt und damit wieder mytho logisch den nicht-apophantischen Logos stark macht. Genau hier, zwischen Hegel und Nietz sche, setzt Adorno mit seiner dialektischen Komplementarität an, welche die „instrumen telle Vernunft" einer poetischen Kritik unterzieht, indem er versucht, Begriff (Philosophie) und Ästhetik (Musik) miteinander zu verbinden; eine Komplementarität, die Habermas in instrumentelles (technologisch-systemisches) und kommunikatives (symbolische Lebens welt) Handeln dualistisch aufteilt, damit aber idealistisch hinter Adorno zurückfällt, da er nicht erkennt, wie sein kommunikatives Handeln im Ganzen der medialen Praxis verwoben ist und umgekehrt alle Praxis durchs Denken (ebenso ein organon) symbolisch mediatisiert vorliegt. Doch auch das dialektisch-komplementäre Modell erweist sich zunehmend als de fizitär, weil Begriff (logos) und Bild ( alogos) in ihrer Komplementarität ja Teile der integralen Medienmaschine sind. Diese moderne Komplementarität wird zunächst von der Postmoderne in Frage gestellt, die ihrerseits auf die Ästhetisierung des Alltags setzt und damit die „Wahrheit" des apophan tischen logos zugunsten der aisthesis ( Wahrnehmung) erneut abschwächt. Aber die Bewe gung des universellen Mediums lässt auch diese Ästhetisierung des Alltags zunehmend ero dieren, um schließlich alle Medien (Begriff, Sprache, Zahl, Bild, Klang, Körper etc.) in der Bewegung der einen, universell-monarchischen Medienmaschine aufzulösen, die freilich in ihrem Imperativ auch kryptisch verdeckt bleibt: als mediales Dazwischen, das sich gerade in seiner Relation kulturell, ökonomisch, ästhetisch, juristisch oder politisch verabsolutiert und darin als Substanz, Wesen oder Absolutes das Medium beschlagnahmt. Dies ist keines wegs die „Vermittlung als Gott", nicht die „instrumentelle Vernunft", ein Profitrationales, ein Informatisches oder der abstrakte Raum, denen man dann anthropologisch einen Körper, ethnisch-kollektiv einen säkularen Kulturkörper, oder im dialektischen Gegenzug einen konkreten Ort entgegensetzen könnte. Denn hier wird immer noch mit der Dualität von Physis und Nomos, Natur und Technik, Leib (Souveränität) und Geist (vergeistigtes Ich, Autonomie) gearbeitet. Während in Wirklichkeit, so auch die These des Posthumanismus, nomos, techne und poiesis immer schon Natur, Leib und Körper sind, also (ko-)konstitutiv und nicht bloß als neue Techniken extensiv oder invasiv neu auftreten; wo etwa Natur zur „Mache" (Gernot Böhme) und das Unzugängliche zu einem manipulierenden Ereignis wird. Hier soll offenbar der Körper das leisten, was einmal im Zuständigkeitsbereich des Subjekts oder der Vernunft lag, nämlich der Theorie einen unhintergehbaren Verankerungs punkt verschaffen. Vielmehr meint dieses verabsolutierende Dazwischen den Gesamthaus halt des Mediums, seine ganze oikonomia: die universell-vermittelnden (nomos, logos, techne) und zugleich unmittelbaren Medien (Physis, Körper) in ihrer universellen Einheit (Kapitale) und kollektiven Vielheit (A-Kapitale), als die zwei Seiten einer Mediatisierung des
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Wirklichen. Ein universeller Code in seiner globalen Durchschlagskraft, der freilich nicht unwidersprochen blieb. 2.1 Methodische und inhaltliche Probleme der „ Mediologie" Widerspruch erfolgte etwa von der „Mediologie", wie sie Regis Debray entworfen hat. ,,Eth nologie", lautet die Definition, ,,ist die Wissenschaft von der Vielfalt der Gesellschaften und Technologie die Wissenschaft von der Uniformität der Ausrüstungen. Die Mediologie, zwi schen beiden angesiedelt, wirft die Frage nach ihrer Kompatibilität auf (die Schnittmenge als Problem). Sie fragt, wie auf der Erde Einzigartigkeit der Kulturen und Angleichung der Netze koexistieren können." (Debray 2003: 217) Wenn heute, so die These des „Mediolo gen", der universelle Code alle Kanäle verstopft, kann diesem Problem nur mit einer neuen Komplementarität begegnet werden, nämlich der von Einheit (Techniken, Medien, Kom munikation, Information, Raum, Oberfläche, Flüchtigkeit, Draußen, Gesellschaft, Objekt) und Vielheit (Ethnien, Kulturen, Übermittlung, Mediation, Zeit, Kontinuität, Historizität, Tiefe, Beharrung, Drinnen, Subjekt, Lebendes, symbolische Bindung). Debray möchte in einem medialen Zwischen operieren und dies als ein „Scharnier" zwischen der Einheit (Uni versalität) und der Vielheit (Kultur) denken. Dabei soll die Vorstellung eines übergreifenden Zusammenhangs der Kultur in Technik, Gesellschaft oder Geschichte abgebaut werden, so fern sie instrumentelle Einheit nahelegen oder mit irgendeinem tieferen kulturellen Ziel versehen sind. Um die Dualität von Rationalität und Irrationalität zu überwinden, springt er zwischen der Welt der „Technik" und der Welt der „Kultur" unvermittelt hin und her. Die Medien sieht er in ihrer einheitlichen, technischen Abstraktion, die rasant anwächst, wäh rend er die „Kulturen" als langfristiges Korrektiv empfiehlt, das wieder Gleichgewicht schaffe: ,,Im einen Fall wird man ein Hier und ein Anderswo in Bezug setzen und zwischen ihnen eine Verbindung herstellen (und damit Gesellschaft); im anderen Fall wird man ein Einst mit einem Jetzt in Bezug bringen und Kontinuität herstellen (und damit Kultur)." (Debray 2003: 11). Während die Schüsselworte „Verbindung, Gesellschaft, Hier und An derswo" auf Universalität und Globalität verweisen, deuten andere - ,,Bezug, Einst und Jetzt, Kontinuität und Kultur" - auf die andere Seite des Phänomens. Debray (2003: 23) arbeitet in seinen „Tabellen" mit diesen Dualismen, die er allerdings koordiniert sehen und komple mentär denken möchte: ,,Kommunikation und Übermittlung sollte man einander nicht ge genüberstellen, man muss sie koordinieren. Die beiden ergänzen einander. Kommunikation ist die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für Übermittlung." Wir haben es hier also mit einem Überschuss von Kommunikation in der „Übermitt lung" zu tun. Debray (2003: 204) spricht von Dialektik, Vermittlung, Prozess, Mediation (,,der Mittler zwischen zwei oder mehreren Seienden oder Wirklichkeiten" ) und sieht die Mediologie als „Freundin des Hermes, des Gottes der Straßen und Kreuzungen". Er kann aber nicht Weg und Ort, Haben und Sein, Zeit und Raum, Gesellschaft und Kultur, Flüch tigkeit und Kontinuität „dialektisch" lesen, d. h. die Differenz sowohl in der Einheit der glo balen Bewegung der Medien als auch in der Vielheit der Ethnien, Völker, Nationen und
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Kulturen selbst aufdecken. Diese will er vielmehr ganz anders verstanden wissen: ,,Als müsste jeder Sprung, der uns dem Realen näher bringt, mit einer Aus-Flucht in entgegenge setzter Richtung, der Zauberei, bezahlt werden. Als brauchten wir bei jedem Fortschritt in der Erkenntnis der Dinge als Gegengift eine doppelte Dosis Euphorikum, um uns den ver lorenen Schwung zurückzugeben und uns weiter hoffen zu lassen." (Debray 2003: 212). Da raus spricht freilich die alte aristotelelische Konstruktion des apophantischen und nicht-apo phantischen logos, die Debray neu aufteilt, nämlich in Kommunikation/Technik (Einheit) und Übermittlung/Kultur (Vielheit). Er beantwortet die Dualität mit einem Überschuss des apophantischen logos als Komplementarität der beiden Elemente, bleibt damit aber auch dem Problem, das Aristoteles aufgeworfen hat, weiterhin verhaftet. Denn das Euphorikum oder die symbolische Bindung, die er auf der anderen Seite sucht, liegen ja auch in der glo balen (logisch-alogischen) Medienmaschine selber. Diese Missdeutung der globalen Medienmaschine, die in „technische Konvergenz und ethnische Divergenz" kulturell auseinanderfällt, hängt vor allem damit zusammen, dass De bray Marx'sche Kategorien undialektisch mitschleppt: ,,Immer wenn das Draußen über das Drinnen siegt, ,verdinglicht' sich der Mensch (= wird zum Ding) oder ,entfremdet sich' gar (= wird sich selbst fremd)." (Debray 2003: 31). freilich hat er aus revolutionären Enttäu schungen heraus erkannt, dass das „Kapital" der „rein dogmatischen Teleologie des Fort schritts nicht entkam" : ,,Der Marxismus hat die idealistische Definition des Denkens als subjektive Determination, die ihren Sitz im Gehirn der Individuen hat, für bare Münze ge nommen, ohne zu begreifen, dass ein ,ideologischer' Korpus der Geist eines Körpers ist, des kollektiven Organismus, den er reproduziert und der ihn produziert, und eines bestimmten Übermittlungswerkzeugs." So hat später Gramsci „die von den Rittern der episteme (Wis senschaft) so verachtete doxa (Meinung) ernst genommen - diese doxa, die einer Gesell schaft oder einer Partei ihren Zusammenhalt und ihre Vitalität gibt." (Debray 2003: 139f.). Auch hier der Dualismus von Geist und Körper, episteme (Wissenschaft) und doxa (Mei nung, Herrlichkeit), ,,kalter Objektivität" und „imaginär-emotionalem Subjekt". Gerade doxa und Emotionalität sind aber nicht nur im mythischen „kollektiven Organismus der Übermittlung" anwesend, sondern ebenso in der globalen Kommunikationsmaschine der Vermittlung, die heute ebenso identitätsstiftend wirkt. So sind Ware, Verdinglichung, Ent fremdung und selbst das Kapital nicht mehr, was sie einmal waren, seit sie eine mediale Form angenommen haben. Auch die kulturellen Identitäten, die Debray retten möchte, die Unterschiede von Sprachen, Dialekten, Lebensweisen, Charakteren oder Kleidung (also all dessen, was einst die Völker verband) sind ja inzwischen vom planetarischen Demiurgen ausgehöhlt worden; seine identitäts- und orientierungsstiftende Medienmaschine versam melt jene kulturellen Unterschiede, um sie in phantasmagorischer Leere zur Schau zu stellen und zugleich zu konsumieren. Hier hilft nicht einmal jene alte Unterscheidung von „Kultur und Zivilisation", die Letztere auf die bloße Oberfläche (anorganische Weltstadt, Ökonomie) reduzierte, während Kultur für die Seele oder das Wesen eines Volkes stand. Zivilisation und Kultur bilden eben auch das eine, design-ontologische, ökonomisch-theologische Dispositiv des planetarischen Demiurgen, das in seiner monarchischen Kultureinheit immer zugleich
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von der Polyarchie der ethnischen Kulturen umrahmt wird. Debray möchte hingegen die Kulturen von der Globalität getrennt wissen: ,,Wenn mein Gegenüber aus Peking und ich, aus Paris, auf unsere Arithmetikkenntnisse, unsere Technosphäre reduzierbar wären, könn ten wir uns mühelos verbrüdern, denn unsere Apparate - Elektrorasierer, Vergaser, Software usw. - funktionieren auf identische Weise, unabhängig von unseren Wertvorstellungen. [ ...] Es sind aber unsere kulturellen Charakterzüge, die einen Unterschied machen - Lebens und Wohnstil, Küche, Kalender, Alltagsrhythmen, Aberglaube und Glaubensvorstellungen - und vor allem und zuallererst unsere Sprachen." (Debray 2003: 220). Vereinheitlichend wirkt aber nicht bloß das Rationale und Technische, sondern ebenso das Ästhetische, Emotionale, Musikalische, ökologische und Ethisch-Moralische (Stich wort: ethischer Konsum), was der Universalsprache der Globalisierung ihren „Ausstellungs wert" gibt: die eine mediatisierte Menschheit in ihrem Kapitalbegriff. Die vom Weltmarkt erfassten Menschen in Paris, Peking, Nairobi, New York, Rio oder Mumbai (zunächst die Eliten, dann die konsumistischen Massen als Anhänger des neuen globalkapitalistischen Kultes) leben in weitgehend identischen Wohnmaschinen, gehen auf ähnlich aussehenden Straßen, fahren die gleichen Autos, sehen dieselben Filme und tragen die gleiche Mar kenkleidung. Wahrenddessen werden die Mauern und Grenzen nach außen wie nach innen (auch in den Menschen selbst) immer dichter - insofern ist die Zweiteilung in den „Kristall palast des Kapitalismus" drinnen und das „Elend draußen" (Zizek) undialektisch. Debray (2003: 228) ahnt freilich die Problematik von Archaik und Modeme: ,,Das Etikett archäo-modernistisch [ ...] würde auf den Anhänger einer kritischen Mediologie recht gut passen. Problematisch ist der Bindestrich. Er scheint irrational. Wie soll man ihn rechtferti gen?" In dieser „archäo-modernistischen" Komplementarität jedenfalls nicht, weil das Ar chaische sowohl in der einen, global-modernistischen Kultur als auch in der Vielheit der mythischen Kulturen steckt. Das Rätsel der Mediologie liegt im „Bindestrich", in einer arche, die Debray als komplementäre Figur aus Monarchie und Polyarchie nicht ganz entziffert und diesen archaischen, ,,gesamtkulturellen Anzug" dann in „Technikeranzug" und „Kulturan zug" zweigeteilt sieht: ,,Unter dem Technikeranzug [ ...] scheint das Harlekingewand der Kulturen täglich mehr durch." (Debray 2003: 230). Dass diese ethnische Vitalität der Kultu ren aber nicht für den „inneren Ausgleich" der Kulturen sorgt, sondern eher für das Gegen teil, muss er schließlich selbst eingestehen: ,,Dass rückwärts gewandte Erinnerungen mitten in Zeiten der Modernisierung geweckt werden, ist ein Indiz für ethnische Vitalität, die ins Düstere umschlagen kann." (Debray 2003: 234). Nicht „umschlagen kann", sondern von Anfang an (arche) auch in den logos-Medien umschlug - so etwa, wenn Aristoteles in Über die Dichtkunst Protagoras zitiert, der Homer kritisiert, weil er in der Ilias mit seinem Spruch „Singe, o Göttin, den Zorn" einen Wunsch (euche) äußern wollte, in Wirklichkeit aber einen Befehl (epitage) aussprach. Regression war und ist in allen Medien von Anfang an anwesend und begleitet sie bis heute als Schatten. Damit ist auch der „Kampf um die kulturelle Ausnahme" nicht bloß „Wi derstand gegen eine todbringende Homogenisierung" (Debray), sondern nur die andere komplementäre, kollektiv-polyarchische Fassung der einen, global-monarchischen Medien-
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maschine. Resistenz bildet sich allein im medialen Dazwischen: als dasjenige, das den Kultu ren gemeinsam ist und in der Einheit einer verfehlten globalen Kultur als wahrhaft humaner Anspruch steckt. Der Mediologe will freilich mit seiner Kultur der „Übermittlung" kein Überbringer einer sozialen Medizin sein; und doch ist er durch den globalen Prozess „moralisch desorientiert" und „von der Technik frustriert". Er will sich „wehren gegen die panische Deregulierung der öffentlichen Dienste", die doch vom politischen, nationalstaatlichen und sozialen Akteur selbst in Gang gesetzt ist und in Betrieb gehalten wird. Daher am Ende der verzweifelte Ap pell des Mediologen zur medizinischen Vorsorge: ,,Ist es nicht an der Zeit, dieses Vorsorge prinzip auf den Bereich der Zeichen und Formen auszudehnen und jeden Bürger davon zu überzeugen, dass er für die Kultur seiner Gemeinschaft als Individuum verantwortlich ist? Und dass es ein Wahnsinn wäre, seine Erinnerungsfähigkeit und seine Kreativität (denn jede ist Funktion der jeweils anderen) dem Markt und den Maschinen zu überlassen und damit die langfristigen Ziele den kurzfristigen zu opfern?" (Debray 2003: 246). Diese Ap pelle, die freilich zu Recht darauf zielen, jene „a-humane Menschwerdung zu humanisieren", laufen aber ins Leere, weil sie die komplementäre Einheit der beiden Phänomene verkennen und den Einzelnen regressiv auf „die Kultur seiner Gemeinschaft" zurückstufen. Eine wirk liche Diagnose zöge die ethnische Kultur nicht von der globalen Kultur ab, sondern ordnete Kommunikation, Technik, Ökonomie und Kulturen in den Gesamtprozess ein, der heute freilich nicht unbedingt positiv für die eine Kultur oder für die Vielheit der Kulturen ver läuft. Insofern weist der „Bindestrich" auf diese paradoxe Offenheit der Kultur und der Kul turen hin. Die Mediologie kann weder den paradox-statischen Charaker des medialen Da zwischen in der einen globalisierten Kultur noch in der Vielfalt der Kulturen erkennen und festhalten. Was in ihr fortdauert, sind allein die Kulturen und Übermittlungen, wo die Zeit in den Raum „gerammt" wird: ,,ein aufgestellter Stein, eine Statue, ein sichtbarer Punkt, das ist in Raum gerammte Zeit, als ein doppelt kardinaler Punkt. Das ist Flüchtiges, das von et was Fixem festgehalten, Fluides, das von Festem gezähmt wird." (Debray 2003: 39). Damit jedoch verkennt der Mediologe die Kontinuität in der Bewegung der Medien, das Medien dispositiv, und umgekehrt in der Statik der Kulturen, Ethnien und Nationen die historische Dynamik. Kulturen sind nicht konstant und feststehend, sondern abhängig von veränderli chen Referenzpunkten. Es sind die Rätsel und Paradoxien des medialen Dazwischen, das sich heute in seiner Bewegung global-monarchisch und ethnisch-polyarchisch in seiner ganzen arche (Herrschaft) und doxa (Herrlichkeit) verabsolutiert. Damit ist freilich nicht bloß der ewige Kreislauf (die mythische, ewige Wiederkehr des Gleichen) oder eine invari ante asymetrische Anthropologie (Die Antiquiertheit des Menschen im Sinne von Anders) gemeint; nicht bloß eine statische Ontologie (Heidegger: ,,Was ist das Sein? Es ist es selbst" ) oder eine negativ umschlagende Dialektik von Kultur in Natur (Adornos „Vertiertheit" des Menschen); und auch nicht eine negative Biopolitik (Agambens „Verwolfung" des Men schen). Vielmehr findet im medialen Dazwischen die dynamische Fluchtbewegung moder ner Subjektivierung statt, die Mensch und Ding im „Zeitraum-Paradox" der global-monar chischen und heimatlich-polyarchischen Medienmaschine unendlich verdichtet - und so
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Stavros Arabatzis
die Offenheit der beiden Kulturen archaisch blockiert, um sie von sich selbst, von ihrer wahren Kultur und Natur zu trennen. Das Medium ist also gerade in seiner historischen und kulturellen Dynamik durch die beiden Imperative unbeweglich geworden; es verewigt sich im Dazwischen einer bipolaren, monarchisch-polyarchischen Medienmaschine. Gerade in seiner kreativ-schöpferischen Dynamik, seinem universellen Kreativitätsdispositiv, blockiert es alle wirkliche Kreativität und wendet sich schließlich gegen sich selbst - eine diabole (Verkehrung) des Mediums, das sich in seinem Dazwischen in sich selbst verkehrt und, als Zeitgeist-Paradox, sowohl den abstrakten Raum des Universellen als auch den konkreten Ort der partikularen Kulturen infernalisiert. Globale Identitätsmaschine und kollektive Identitätsmaschinen bilden nicht jene Komplementarität, welche Mediologie oder Kulturphilosophie meinen, sondern nur die eine problematische Medienmaschine, welche die Verwüstung von Kultur und Kulturen kreativ betreibt. Damit steht auch das „Kapital" nicht mehr außerhalb der kreativen Kapazi tät der kognitiven „Multitude" (Negri). Es bewegt sich innerhalb dieser Multitude; inner halb des Kreativitätsdispositivs, wo inzwischen die Ware und selbst das Kapital mediale Form angenommen haben. Das deterritorialisierende revolutionäre Potential des Kapitals beschreibt in den neuen Fluchtlinien des Subjektivierungsprozesses sein eigenes Territo rium - nicht die Lücke zwischen diesem Potential und der Form des Kapitals. Die notwen dige Operation in dieser bipolaren Medienmaschine wäre jener Eingriff, der das ontotheo logische Kreativitätskontinuum des planetarischen Demiurgen, samt den neomythischen Kulturmaschinen darin, unterbricht und alle Medien in der Sache wahrhaft human um schaltet. Eine Dekontamination der Medien, aber nicht der Medien als solcher, sondern ih rer historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Effekte, die jene monarchische und poly archische Maschinen immer wieder hervorbringen. Debrays Mediologie versagt also, weil sie des paradoxen Dazwischen der Medien in sei ner dynamisch-statischen Paradoxie als Einheit und Vielheit nicht ganz gewahr wird. In der Beschäftigung mit den Medien (Kommunikation) und Kulturen (Übermittlung) verflüchti gen sich die Medien. Übrig bleibt nur ein komplementäres Medienskelett aus Technik/Kom munikation und Kulturen/Übermittlung, das dann in seiner Komplementarität kommuni kativ-kulturalistisch klappert.
3. Medienmaschinen und Medienresistenz Medienphilosophisch können wir drei Medienmaschinen in ihrem archischen und anarchi schen Charakter ausmachen. 1. Die dynamisch-ontische Medienmaschine des Werdens (Heraklit) wird nicht mehr nach aletheia und doxa, Philosophie und Literatur, Gericht und Gerücht unterschieden. Vielmehr verdecken die zwei Sphären (die logische und alogische) die doppelte Erbschaft des Mediums (seine monotheistische und polytheistische Erbschaft) in seiner Gesamt-oikonomia. Es han delt sich um eine dynamische Medienmaschine des Werdens, Wachsens und der Transfor-
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mation, die in ihrem verewigten Lauf immer zugleich eine des ontologischen Seins (Parme nides) ist. 2. Die ontisch-ontologische Medienmaschine des Seins, des Werdens und der Dialektik steht im Dienst eines monarchischen und polyarchischen Prinzips. Es handelt sich um ein von der historisch-gesellschaftlichen und kulturellen Bühne verdecktes „Heeresgerät" (Kitt ler), das heute freilich nicht mehr im Dienst der alten Imperative (der Tötungsmacht eines Souveräns oder der Biomacht als disziplinarische äußere Kontrolle) steht, sondern im Dienste der neuen, systemischen, strukturellen, psychopolitischen, neurophysiologischen, subkutanen, subkommunikativen und anonymen Mächte - eine kryptisch wirkende, impe rative Macht in der Mitte der Medien, die einmal theologisch im katechon2 den Interpreta tionseifer der Theologen anstachelte. Damit erfüllen alle Medien in ihrer historischen Ent wicklung, Dynamik, Ausdifferenzierung und Transformation von Beginn an (arche) eine desubjektivierende Funktion, die sich heute im Bündnis zwischen Kapitale und A-Kapitale äußert. Eine, die noch im dialektischen, ,,menschlich verheißenen Anderen der Geschichte" „anders werden solle" (Adorno), im fundamentalontologischen „anderen Anfang der Geschichte" (Heidegger), im „Kommuniziert!" (Habermas), im „Denkt in Systemen!" (Luh mann), im „Bildet Rhizome!" (Deleuze) oder „Dekonstruiert!" (Derrida) im Dienste je ner medialen arche steht. Damit können wir auch den kantischen Imperativ „Man muss wollen können" in „Du musst wollen können!" umformulieren. Damit können wir schließ lich ebenso das theologische Gründungsmedium (logos) aus dem Johannesevangelium und das mythische Medium (Erzählung) neu reformulieren: Am Anfang (en arche) war nicht das Wort (logos), oder die „Tat" (Goethe), sondern der „Imperativ der Medien". 3. Die gegenimperativen Medien meinen die eigentliche Medienresistenz, den gegenimpera tiven Widerstand in und gegen die globalen und nationalen Medienmaschinen. Es handelt sich um eine widerständige Kraft, die alle Aktivität des verabsolutierenden Mediums zuletzt unwirksam macht und „dialektisch" aufhebt. Es gilt, die Resistenz in der Aktualität und Potenzialität des Mediums selbst zu organisieren. Nicht Archie (vermittelte Gewalt) also gegen Anarchie (unmittelbare Gewaltlosigkeit), sondern Archie gegen Archie, Befehl gegen Befehl machen den Weg für einen neuen Gebrauch der Medien frei: ,,Ein Befehl löst wiede rum einen Befehl aus" (Deleuze). Gewalt tritt hier als Gegenmittel (pharmakon) auf, das die verheerende Wirkung des Mittels als Gift neutralisiert: nemo contra deum nisi deus ipsi (Go ethe: Gegen einen Gott nur ein Gott). In der neuen, ökologischen Sprache der Akteur-Netz werk-Theorie (Bruno Latour) heißt dies: Kosmos (humans) gegen Kosmos (Gaia). Aller dings gilt es hier nicht, konservativ die bewahrenden Kräfte gegen die verändernden zu beschwören, weil dieses Gegen die ununterscheidbare Mitte zwischen polis und oikos (zwi schen Stadt und Heim, Öffentlichkeit und Privates, Politik und Leben) darstellt. Damit be schreibt die medial verortete Mitte (der paradoxe Ort einer stasis, wo alle vermittelnden und unmittelbaren Medien zum Stehen kommen) den oikeios polemos, den Krieg im eigenen 2 16 yap µuo1�p1ov �ör, tvtpy6m1 T�