System und Mythos: Peter Greenaways Filme und die Selbstbeobachtung der Medienkultur [1. Aufl.] 9783839415146

Das filmische Õuvre Peter Greenaways wird in diesem Buch als System im Sinne Niklas Luhmanns beschrieben. Axel Roderich

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German Pages 454 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
old media / new media – Das „System Peter Greenaway“. Vortrag, gehalten am 12. November 2009 in Weimar
Vor dem Anfang – Vorwort
01 Einleitung: Das „System Peter Greenaway“
Parallelblicke
Objekt und Methode
Observing Systems
Selbstreferentielle Systeme
Das „System Peter Greenaway“
Film-Philosophie: A Cinema of Ideas
Medienrealität und Medienkultur
A Mythology of Systems
Ein Mythos zweiter Ordnung
Mediale Mythologien
02 Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE (1978)
Sehen und Wissen, Text und Bild, Fiktionalität und Wahrheit
Vertrauen und Verträge
Der Mythos des Autors und des Originals
Apparate und technische Bilder
Structure as Prophecy
Vertical Features Recap (neue, überarbeitete & definitive Version)
03 Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“ – There is a new Luper authority
04 Differenzierung und Asymmetrisierung: THE FALLS (1980)
Bürokratien und Apparate
Selbstbeschreibung und Differenzierung
A View from Babel
Erfundene Ursprünge und funktionierende Fiktionen
Mediale Urszenen
THE FALLS – eine mediale Mythologie
05 Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT (1982)
Bilder und Verträge, Zeichnungen und Unterzeichnungen
Eigentum und Repräsentation
„Es ist besser, ein Mensch sterbe ...“ (Joh 11, 50)
Kunst und Technik
Unexpected Observations – C.S.I. Compton Anstey
Sehen und Wissen
Evidenzen und Probleme
Allegorien und Tyranneien
Zeigen und Verbergen, Schein und Sein
THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT RELOADED: NIGHTWATCHING
06 Evolution und blinde Flecke: A ZED AND TWO NOUGHTS (1985)
Survival Machines
Evolution – kein Menschenbild
Film und Leben – Life on Earth
Medienevolution
Germs and Ashes
Das anthropische Prinzip und der totale blinde Fleck
Geburt und Tod – mettre en oeuvre la nature
07 Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS (1988)
Was sind und was sollen die Zahlen?
Die Vollzähligkeit der Sterne
Vom Errechnen einer Wirklichkeit
Zählen und Erzählen
Kalkulation und Temporalisierung
Gesellschafts-Spiele – homo ludens oder homo lusus?
Das Spiel des Lebens und The Great Death Game
„Ästhetik der Quantität“ – Informationsästhetik – Database Imagination
08 Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS (1991)
All the World’s Information – un ,fantastique‘ de bibliothèque
Das Archiv
Manipulationen im Symbolischen
Materia prima und materia ultima
Fiktion und Simulation
Technologien des Imaginären
Die Rückkehr des Autors?
A Tale of Two Magicians
09 Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES (2003ff.)
Lebens- und Totalgeschichten
Mythologie, Kunst und der Richterstuhl der Geschichte
The Myth of Tulse Luper
Selbsthistorisierung und Selbstmusealisierung
Kino und Geschichte
... il n’y a plus que des historiens
10 Schluss: Cinema is dead – long live cinema?
Kunst und Leben
Mechané und amechania
Schamloser Humanismus und tragische Anthropologie
Der aporetische Normalzustand
Bildungsroman und Selbstnachruf
Painting in Time
Taking Cinema out of the Cinema
Prophet und project maker
Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis
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System und Mythos: Peter Greenaways Filme und die Selbstbeobachtung der Medienkultur [1. Aufl.]
 9783839415146

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Axel Roderich Werner System und Mythos

Axel Roderich Werner (Dr. phil.), Literatur- und Medienwissenschaftler, hat an der Bauhaus-Universität Weimar am Lehrstuhl Medienphilosophie promoviert.

Axel Roderich Werner System und Mythos. Peter Greenaways Filme und die Selbstbeobachtung der Medienkultur

Dieses Buch wurde als Dissertationsschrift zur Erlangung des akademischen Grades Doctor philosophiae an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar am 29. April 2009 angenommen. Gutachter: Prof. Dr. Lorenz Engell, Prof. Dr. Niels Werber. Die Promotion wurde gefördert durch ein Stipendium in der Graduiertenförderung des Freistaates Thüringen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Axel Roderich Werner Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1514-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

old media / new media – Das „System Peter Greenaway“ Vortrag, gehalten am 12. November 2009 in Weimar ......................

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Vor dem Anfang – Vorwort ...................................................................

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01 Einleitung: Das „System Peter Greenaway“ ..................................... Parallelblicke .............................................................................................. Objekt und Methode ................................................................................. Observing Systems .................................................................................... Selbstreferentielle Systeme ..................................................................... Das „System Peter Greenaway“ ............................................................. Film-Philosophie: A Cinema of Ideas .................................................... Medienrealität und Medienkultur ......................................................... A Mythology of Systems ........................................................................... Ein Mythos zweiter Ordnung ................................................................. Mediale Mythologien .................................................................................

25 27 33 37 42 46 57 64 69 78 82

02 Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE (1978) ............................... Sehen und Wissen, Text und Bild, Fiktionalität und Wahrheit .... Vertrauen und Verträge .......................................................................... Der Mythos des Autors und des Originals .......................................... Apparate und technische Bilder ............................................................. Structure as Prophecy ............................................................................... Vertical Features Recap (neue, überarbeitete & definitive Version)............................................

85 92 101 107 113 117 119

03 Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“ – There is a new Luper authority .......................................................... 123

04 Differenzierung und Asymmetrisierung: THE FALLS (1980) ........ Bürokratien und Apparate ...................................................................... Selbstbeschreibung und Differenzierung ............................................ A View from Babel ..................................................................................... Erfundene Ursprünge und funktionierende Fiktionen .................... Mediale Urszenen ...................................................................................... THE FALLS – eine mediale Mythologie ...................................................

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05 Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT (1982) ................................................. Bilder und Verträge, Zeichnungen und Unterzeichnungen ........... Eigentum und Repräsentation .............................................................. „Es ist besser, ein Mensch sterbe ...“ (Joh 11, 50) ........................... Kunst und Technik ................................................................................... Unexpected Observations – C.S.I. Compton Anstey ........................... Sehen und Wissen .................................................................................... Evidenzen und Probleme ......................................................................... Allegorien und Tyranneien ...................................................................... Zeigen und Verbergen, Schein und Sein ............................................. THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT RELOADED: NIGHTWATCHING .............

177 180 181 186 188 193 198 203 205 210 213

06 Evolution und blinde Flecke: A ZED AND TWO NOUGHTS (1985) ... Survival Machines ..................................................................................... Evolution – kein Menschenbild ............................................................. Film und Leben – Life on Earth .............................................................. Medienevolution ........................................................................................ Germs and Ashes ...................................................................................... Das anthropische Prinzip und der totale blinde Fleck .................... Geburt und Tod – mettre en œuvre la nature .....................................

219 223 227 231 235 239 241 243

07 Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS (1988) .................................................................. Was sind und was sollen die Zahlen? .................................................. Die Vollzähligkeit der Sterne .................................................................. Vom Errechnen einer Wirklichkeit ....................................................... Zählen und Erzählen ................................................................................

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Kalkulation und Temporalisierung ....................................................... Gesellschafts-Spiele – homo ludens oder homo lusus? .................... Das Spiel des Lebens und The Great Death Game ........................... „Ästhetik der Quantität“ – Informationsästhetik – Database Imagination ..............................................................................

271 281 290 294

08 Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS (1991) .................... All the World’s Information – un ,fantastique‘ de bibliothèque ........ Das Archiv ................................................................................................... Manipulationen im Symbolischen ........................................................ Materia prima und materia ultima ......................................................... Medium und Form, Operation und Beobachtung, Fiktion und Simulation ........................................................................... Technologien des Imaginären ................................................................ Die Rückkehr des Autors? ...................................................................... A Tale of Two Magicians ..........................................................................

309 312 316 320 321 326 329 334 336

09 Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES (2003ff.) ...................................................... Lebens- und Totalgeschichten ............................................................... Mythologie, Kunst und der Richterstuhl der Geschichte ................ The Myth of Tulse Luper ........................................................................... Selbsthistorisierung und Selbstmusealisierung ............................... Kino und Geschichte ................................................................................ ... il n’y a plus que des historiens ..........................................................

341 343 347 354 358 361 364

10 Schluss: Cinema is dead – long live cinema? .................................. Kunst und Leben ....................................................................................... Mechané und amechania ........................................................................ Schamloser Humanismus und tragische Anthropologie ................. Der aporetische Normalzustand ............................................................ Bildungsroman und Selbstnachruf ...................................................... Painting in Time ......................................................................................... Taking Cinema out of the Cinema .......................................................... Prophet und project maker ......................................................................

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Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis ............. 407

old media / new media – Das „System Peter Greenaway“ Vortrag, gehalten am 12. November 2009 in Weimar

„I ain’t just interested in systems per se, I’m interested in the absurdity of systems.“ Peter Greenaway1

The absurdity of systems: Die „Absurdität der Systeme“ mag sicherlich mit Fug und Recht als Generalthema der Filme Peter Greenaways betrachtet werden – zumal wenn zum einen das Absurde, nach Camus, ja aus der „hoffnungslosen Kluft“ zwischen der sinnbegehrlichen „Frage des Menschen“ und dem „vernunftlosen Schweigen der Welt“ entsteht2, und dann zum anderen, mit Dirk Baecker, gerade der Systembegriff zunächst zu suggerieren scheint, dass in der Welt mehr Ordnung und Vernunft vorhanden sei als dann tatsächlich zu vertreten wäre3 – so, als ob alle Systeme im Sinne „epistemologischer Ontologien“ alle Ordnung und allen Sinn nicht erst in die Welt hineinprojizierten, sondern dortselbst schon vorfänden und dann nur noch möglichst „realistisch“ abzubilden hätten4. Der Systembegriff im „amphibolischen“ Sinne Friedrich Theodor Vischers als eines wie immer willkürlichen „Versuch[s], das Weltall im Begriff nachzubauen“5, ist insofern also ebenso verführerisch wie missverständlich, als dass er in gewissem Sinne immer einen Mythos bezeichnet, wenn, mit Lévi-Strauss, der Mythos dem Menschen die Illusion verschafft, dass er das Universum verstehen könne und es auch tatsächlich versteht – bis sich am Ende (und vor allem

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Zitiert nach: Linssen, Dana: 111 Years of Illustrated Text. An Interview with Peter Greenaway, zitiert nach: http://dss.submarine.nl/greenaway_interview-H264.mov (29.03.2009). Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, Reinbek 1999, S. 41; ders.: Das Absurde und der Mord, in: ders.: Der Mensch in der Revolte, Reinbek 1969, S. 7-13, S. 9. Baecker, Dirk: Why Systems?, in: Theory Culture & Society 1(2001), S. 59-74, S. 59. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 379; vgl. auch Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München 1994, S. 357ff. Vischer, Friedrich Theodor: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, Berlin 1879. Band 2, S. 450.

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System und Mythos

auch bei Greenaway) dann natürlich herausstellt, dass dies eben auch nur eine Illusion ist6. Die „Absurdität der Systeme“ besteht dann also darin, dass sie, selbst genauso kontingent und bodenlos wie schon die Position des Menschen in der Welt, die sie etwa be-gründen sollen, ihr Ausgangsproblem anstatt zu lösen nur verschieben und dabei, als ab intra nicht begründbar, ihm auch selber unterworfen sind. Was ich nun aber versucht habe zu tun, ist, in einer Rückwendung auf Greenaway selbst danach zu fragen, ob nicht auch sein eigenes Œuvre angemessen zu begreifen ist, wenn man es eben als System begreift – was allerdings als Ordnungsform dann keine Systematik, keine Klassifikation mehr meint, sondern vielmehr und im Sinne Niklas Luhmanns einen selbstreferentiellen Kommunikationszusammenhang von rekursiv vernetzten Kunstwerken, der dann in seiner „Morphogenese“ zu beschreiben ist, die das „System Peter Greenaway“7 innerhalb von vier Jahrzehnten Laufzeit durchgemacht hat. Es ging mir also nicht nur im Sinne einer auteur theory Wollen’scher Prägung darum, eine latente „Struktur Greenaway“ zu tracieren8, sondern zur Struktur einen Prozess zu setzen und damit die Evolution eines Systems in einer Umwelt zu verfolgen, die sich auch ihrerseits verändert: in einer Beschreibung von Greenaways Filmen nämlich als einer in künstlerischen Reflexionsprodukten verdichtet laufenden Selbstbeobachtung der Medienkultur der gegenwärtigen Gesellschaft, die just in einem tiefgreifenden Umbruche begriffen sei – gemeint ist natürlich die digital revolution, wie Greenaway sie nennt, die nicht zuletzt das alte celluloid cinema mit all seinen Beschränkungen und, so Greenaway, mit seinen „Tyranneien“: mit all seinen technologischen, ästhetischen, konzeptuellen, sozialen, ökonomischen und distributiven Praktiken und Konventionen dann auch final zum alten Eisen legen werde. Nun ist die systemische Modellierung des Greenaway’schen Œuvres aber nicht so zu verstehen, als wären die einzelnen Filme ihrerseits etwa Teilsysteme eines umfassenden Gesamtsystems: ein Film ist kein System, oder zumindest ist ein Film noch kein System; vielmehr erschien es mir, dass in den Filmen reflexiv und fortlaufend je bestimmte Bezugsprobleme des Kinos und seiner Möglichkeiten behandelt werden, wie sie sich zudem auch dem Vergleich mit anderen medialen Formen anbieten, und die so dann, vielmehr als die typischerweise nur rudimentär vorhandenen Erzählungen, als eigentlicher Gegenstand der Filme vorgestellt werden können, wozu schließlich ihre begrifflichen Fassungen sich aus der Systemtheorie sehr treffend importieren lassen:

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Lévi-Strauss, Claude: „Primitives“ Denken und „zivilisiertes“ Denken, in: ders.: Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Gespräche mit Claude Lévi-Strauss, hg. von Adelbert Reif, Frankfurt am Main 1980, S. 27-46, S. 29f. Vgl. unter Verwendung ebendieses Titels, aber eines dezidiert nichtsystemtheoretischen Systembegriffs Spielmann, Yvonne: Intermedialität. Das System Peter Greenaway, München 1998. Wollen, Peter: Signs and Meaning in the Cinema, Bloomington (IN) 1972, S. 74ff., 167f.

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old media / new media – Das „System Peter Greenaway“ •

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das Problem der Autopoiesis in Greenaways frühem Experimentalfilm VERTICAL FEATURES REMAKE von 1978, mit dem ich das „System Peter Greenaway“ beginnen lasse; und daran anknüpfend das Problem der Differenzierung und Asymmetrisierung in Greenaways erstem opus magnum THE FALLS; dann das Problem der Differenz und medialen Koppelung von Wahrnehmung und Kommunikation in Greenaways erstem mehr oder weniger konventionellen Spielfilm THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT, dessen Thematik dann ein Vierteljahrhundert später in NIGHTWATCHING auch wieder aufgenommen wird, ganz untypischerweise fast schon ein bio pic über Rembrandt van Rijn und die Entstehung seiner NACHTWACHE und gewissermaßen eine Art THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT RELOADED; das Problem der Evolution und der blinden Flecke ihrer Beobachtung in A ZED AND TWO NOUGHTS, in dem zwei Zoologen die Entstehung, Entwicklung und die Todgeweihtheit allen Lebens nachvollziehen; das Problem der Temporalisierung und Programmierung in DROWNING BY NUMBERS mit seiner aus vertrackten Spielen generierten Welt; das Problem der Konstruktion und Illusion oder der Beobachtung erster und zweiter Ordnung in PROSPERO’S BOOKS, als „Verfilmung“ von Shakespeares THE TEMPEST Greenaways einzige Adaption einer literarischen Vorlage und zugleich auch der digital turn in seinem Œuvre; und schließlich und letztens das Problem der Historisierung und Potentialisierung im multimedialen Großprojekt THE TULSE LUPER SUITCASES, in dem der Film neben Buchpublikationen, Ausstellungen, Theateraufführungen, VJ performances und vor allem websites und online games nur noch eine Rolle unter anderen einnimmt.

Besondere Schwerpunkte, und hier schließen sich dann ein paar Kreise sowohl innerhalb von Greenaways Œuvre als auch in meiner Darstellung, lassen sich dann auf den Anfang und das Ende dieser Film- und Themenliste legen – um damit zu verdeutlichen, dass und wie das „System Greenaway“ mit VERTICAL FEATURES REMAKE und THE FALLS konzeptuell, thematisch, motivisch, ästhetisch, methodisch in weitesten Teilen schon vorwegnimmt, was in den folgenden Filmen dann ausgearbeitet und ein Vierteljahrhundert später mit THE TULSE LUPER SUITCASES dann noch einmal rekapituliert wird – indem auch zur Frage steht, ob mit diesem Rückblick für das „System Peter Greenaway“ dann zugleich auch ein Ende erreicht ist, von dem aus er nur möglich ist, und ob es dann noch irgend weitergehen kann. VERTICAL FEATURES REMAKE nämlich lässt es von Beginn an zweifelhaft erscheinen, ob eine Arbeit über Peter Greenaways Filme nicht schon obsolet gewesen wäre, bevor überhaupt auch nur sein erster Spielfilm in die Kinos gekommen war, insofern die hier als mockumentary dargestellte investigation into the work of Tulse Luper einer jeden folgenden investigation into the work of Peter Greenaway die Absurdität ihres Vorhabens nahelegen muss, indem sie sie samt ihres Gegenstandes ganz einfach vorwegnimmt. Ein obskures Forschungsinstitut, das Leben und Werk des ebenso obskuren Schriftstellers, Zeichners und Filme- und Projektemachers Tulse Luper untersucht, versucht nach Maßgabe zahlloser verstreuter Pläne, Skizzen und sonstiger Aufzeichnungen eine Rekonstruktion des Filmprojektes Vertical 11

System und Mythos

Features herzustellen, dessen angeblich verschollenes Original, wie sich im Verlauf des Unternehmens immer mehr auch der Verdacht aufdrängt, es möglicherweise allerdings genausowenig je gegeben hat wie Luper selbst (der in diesem und anderen Filmen Greenaways vor allem als sein alter ego auftritt: „Tulse Luper“, so Greenaway, „without too many confessions, in a sense, is a fictive version of me“9). Nachdem das Institut jedenfalls sein remake von Vertical Features fertiggestellt hat, ist die Kritik daran so groß, dass eine überarbeitete zweite Fassung hergestellt wird, die sich dann allerdings als noch weniger zufriedenstellend erweist, so dass eine wiederum korrigierte dritte Fassung nötig ist, der dann natürlich eine vierte folgt, mit welcher dann der Film nicht endet, sondern vielmehr abbricht 10 – auch das remake Nummer 4 war kaum die gesuchte definitive Rekonstruktion, sondern nur vorerst letzter Teil eines ins Endlose fortzusetzenden Prozesses. Die dreifache Pointe daran ist dann die, dass • •



Vertical Features möglicherweise von Tulse Luper von vornherein schon nur genauso, d.h. als Gesamtheit seiner remakes konzipiert war, aber Tulse Luper seinerseits womöglich nur eine Erfindung des sein Leben und Werk erforschenden Instituts ist, das sich damit überhaupt erst eine Existenzberechtigung fingiert hat (und daher auch nie fürchten muss, mit seiner Arbeit jemals fertig zu werden), und VERTICAL FEATURES REMAKE auf diese Weise Greenaways gewissermaßen „prä-existentes“ Gesamtwerk schon vorwegnimmt, wenn Greenaway mit Jean Renoir darauf verweist, dass man als Filmemacher in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Film mache, den man jeweils nur in Fragmente wieder auflöse und dann mit einigen Variationen wiederum aufs neue macht11.

Das trifft dann in gewissem Sinn auch für THE FALLS zu, den letzten und mit dreieinviertel Stunden Laufzeit längsten der „Experimentalfilme“ vor THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT, den Greenaway selbst als a catalogue of 92 ways to make a film bezeichnet12. Nicht nur rekapituliert THE FALLS so ziemlich alles, was Greenaway bisher gemacht hatte, und nicht nur deutet es so ziemlich alles schon in Vorform an und / oder nimmt vorweg, was Greenaway dann später machen sollte, vielmehr nimmt THE FALLS sogar auch dasjenige Projekt vorweg, das es wiederum ein Vierteljahrhundert später 9

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Greenaway, Peter: Cinema is dead – long live cinema. Vortrag am 30. September 2003 auf der eDIT / VES 2003 in Frankfurt am Main, zitiert nach: http://sneakerbike.com/audio/greenaway1_dl.mp3 (29.03.2009). „Works of art are never finished, just stopped“, so Greenaway (zitiert nach: http://www.egs.edu/faculty/greenaway-resources.html (29.03.2009)). Marcorelles, Louis: Conversation with Jean Renoir, in: Cardullo, Bert (Hg.): Jean Renoir. Interviews, Jackson (MS) 2005, S. 105-120, S. 113. Vgl. Buchholz, Hartmut / Künzel, Uwe: Two Things That Count: Sex and Death, in: Gras, Marguerite / Gras, Vernon (Hg.): Peter Greenaway – Interviews, Jackson (MS) 2000, S. 50-59, S. 58; Wollen: Signs and Meaning in the Cinema, S. 104. Vgl. Smith, Gavin: Food for Thought. An Interview with Peter Greenaway, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 91-105, S. 99.

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old media / new media – Das „System Peter Greenaway“

dann auch selbst rekapitulieren wird: THE TULSE LUPER SUITCASES nämlich, das durchaus als remake oder update von VERTICAL FEATURES REMAKE und THE FALLS betrachtet werden kann: wieder untersucht eine Forschergemeinschaft das Leben und Werk Tulse Lupers, und wieder ist diese Untersuchung in 92 Teile unterteilt. Schon in THE FALLS namentlich angekündigt, dienen THE TULSE LUPER SUITCASES rückwirkend als das prequel sämtlicher Filme Greenaways, als systeminterner Metanarrativ, der als myth of Tulse Luper in einer Art von retroactive continuity schließlich auch VERTICAL FEATURES REMAKE mit einer Entstehungsgeschichte ausstattet, und spätestens hier kann man beim „System Peter Greenaway“ auch nicht mehr von einem Phänomen bloßer Rekursivität oder auch Reflexivität sprechen, das ein Beobachter, der es darauf anlegt, eventuell feststellen und unterscheiden könnte: sondern das System unterscheidet sich selbst13. In dieser Weise, dass Tulse Luper im weiteren Verlauf des Films noch sämtliche Filme Greenaways entweder selber machen oder vorbereiten oder irgendwie veranlassen wird, enthalten THE TULSE LUPER SUITCASES Greenaways Filme von INTERVALS von 1969 bis hin zu 8½ WOMEN von 1999 und dann noch schließlich auch sich selbst, wenn der letzte der 92 Koffer alle vorhergehenden 91 noch einmal rekapituliert, der eben „Luper’s life“ und damit als 92stes Item einen Film enthält, der seinerseits von diesen 92 Koffern handelt – THE TULSE LUPER SUITCASES eben, und als wäre das noch nicht genug, enthalten THE TULSE LUPER SUITCASES nicht nur alle Filme, die Greenaway gemacht hat, sondern auch diejenigen, die er nicht gemacht hat – Koffer Nummer 16 nämlich enthält Lupers lost films, Lupers verschollene Filme, unter denen sich dann neben allerhand unrealisierten Vorhaben Greenaways sogar das mythische Original von Vertical Features findet – ganz so, wie nach Luhmann jedes System immer mehr ist als es selbst, nämlich zugleich auch in seinen nichtverwirklichten, „potentialisierten“ Möglichkeiten besteht14. Die Entdeckung der „wahren Natur des 20. Jahrhunderts“, die durch die Rekonstruktion von Lupers Lebensgeschichte geleistet werden soll, ist so jedenfalls vor allem eine Untersuchung und ein Rückblick auf das Kino als dem, so Greenaway: „the supreme 20th century communication medium“15, damit zugleich aber auch dessen Musealisierung, und so besteht auch über den Film und über das Kino hinaus das eigentliche Herzstück des multimedialen Großprojekts von THE TULSE LUPER SUITCASES in einer onlineDatenbank, neben welche noch ein online game und nicht zuletzt performances treten, in denen Greenaway als Video Jockey die in tausende von Videoclips fragmentierten Filme über einen touchscreen in Echtzeit reassembliert, so dass die Filme auch nur noch als „Prätexte“ im Doppelsinne

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15

Vgl. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 49. Ders.: Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution, in: ders.: Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie. Hg. von André Kieserling, Frankfurt am Main 2008, S. 7-71, S. 27. Greenaway, Peter: The Stairs 1. Geneva – The Location / Genève – Le Cadrage, London 1994, Genf, S. 1

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System und Mythos

Vilém Flussers dienen: als Vorwand und als Rohmaterial, das erst in seiner medialen Weiterverarbeitung dann seinen Sinn findet16. Die völlige outdatedness dagegen, die Anachronizität oder, um den berühmten Titel Günther Anders’ zu bemühen: die „Antiquiertheit des Kinos“17 findet ihr Bild bereits in Greenaways Beitrag zu LUMIERE AND COMPANY von 1995, einer filmischen Anthologie zu Ehren des 100. Geburtstages des Kinos, in dem die Beiträger mit einem original LumiereCinematographen Ein-Minuten-Filme drehen sollten und dazu zu ihrer Meinung über die eventuelle „Sterblichkeit des Kinos“ interviewt werden: „I do indeed think that cinema is mortal; there’s a lot of evidence already that it is dying on its feet.“ „The cinema is dead“, so Greenaways berühmte und diesen Befund abschließende trademark catchphrase, der eigentliche Violent Unknown Event der – unbemerkte – Tod des Kinos selbst, das nur wie ein hirntoter Dinosaurier noch eine Weile mit dem Schwanz schlage18. Gemäß Ernst Haeckels „biogenetischer Grundregel“, nach der die Ontogenese eines jeden Individuums nichts weiter ist als eine kurze Rekapitulation der Phylogenese seiner Abstammungsgruppe19, thematisieren Greenaways Filme Architektur, Theater und Literatur, Malerei und Photographie als Vorgängermedien des Kinos, zu denen es sich ins Verhältnis setzt, und gemäß Haeckels Modell der ontogenetischen Stadien der Evolution, Transvolution und Involution20 thematisieren sie das Kino selbst – mitsamt seinem postulierten Schicksal, mit dem Begriff Bruce Sterlings, im weitergehenden Verlaufe medialer Evolution dann selbst bald zu den dead media zu gehören21 – wobei allerdings diese evolutionstheoretisierende Haltung Greenaways, der ansonsten gerne Darwin selbst des Darwinismus zeiht, am Schluss dann doch in eine Naherwartungs-Teleologie umschlägt. Man könnte vielleicht sagen: wie Edgar Allan Poe seinen schwindsüchtigen Valdemar treibt Greenaway das

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Vgl. Flusser, Vilém: Kommunikologie. Hg. von Stefan Bollmann und Edith Flusser, Frankfurt am Main 1998, S. 192. Vgl. Anders, Günter: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956. Greenaway, Peter: Toward a re-invention of cinema. Vortrag am 28. September 2003 auf dem Netherlands Film Festival in Utrecht, zitiert nach: http://petergreenaway.org.uk/essay3.htm (29.03.2009), o.S. Haeckel, Ernst: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie. Band 2: Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen. 5. Buch: Erster Theil der allgemeinen Entwickelungsgeschichte. Generelle Ontogenie oder Allgemeine Entwickelungsgeschichte der organischen Individuen (Embryologie und Metamorphologie), Berlin 1866, S. 7. Ebd., S. 20, 76ff. Sterling, Bruce: The Dead Media Project. A Modest Proposal and a Public Appeal, http://www.deadmedia.org/modest-proposal.html (29.03.2009); ders.: The Life and Death of Media. Vortrag am 19. September 1995 auf dem 6th International Symposium on Electronic Art in Montreal, zitiert nach: http://student.vfs.com/ ~deadmedia/speech.htm (29.03.2009)

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old media / new media – Das „System Peter Greenaway“

Kino dazu an, in einer Art ultimativem performativen Selbstwiderspruch seinen eigenen Tod festzustellen22. Das „System Peter Greenaway“ funktioniert in diesem Sinne als eine Art kontinuierlicher Selbsttest des Kinos nach der Unterscheidung von Medium und Form – also dem Bereich des überhaupt im Kino Möglichen und dem aus diesem Bereich Realisierten – und im Rahmen dieser Unterscheidung dann, mit Lev Manovich, nach der Unterscheidung von old media und new media23, bei deren schließlicher Selbstanwendung sich endlich die Frage stellt, ob die Möglichkeiten des herkömmlichen Kinos nicht schon ausgeschöpft sind, und ob das Kino selbst ein anderes wird (oder auch überhaupt noch Kino ist), wenn es vom celluloid cinema zum digital cinema wird und aus dem Vorführsaal in alle möglichen anderen environments hinausgetragen oder überführt wird: „taking cinema out of the cinemas“, wie Greenaway seine Strategie hierfür bezeichnet24. Wenn das Kino also überhaupt eine Zukunft hat, so Greenaways Diagnose, dann, paradoxerweise, außerhalb des Kinos; es geht beim „System Peter Greenaway“ insofern gewissermaßen um die Sorge des Kinos um das Überleben seiner eigenen Evolution25. Greenaways eigenes Angebot dafür, wie es dann nach dem Ende weitergehen kann, sind neben den bereits angesprochenen VJ performances vor allem die Installationen der Serie NINE CLASSICAL PAINTINGS REVISITED, die 2003 im Rijksmuseum Amsterdam mit Rembrandts NACHTWACHE begann und 2008 und 2009 in den Refektorien der Mailänder Santa Maria delle Grazie und der Venezianer San Giorgio Maggiore mit Leonardos LETZTEM ABENDMAHL und Veroneses HOCHZEIT ZU KANA weiterging und in deren Rahmen Greenaway noch Velázquez’ HOFFRÄULEIN, Picassos GUERNICA, Seurats SONNTAGNACHMITTAG AUF DER INSEL LA GRANDE JATTE, Monets SEEROSEN, Pollocks ONE: NUMBER 31 und schließlich, in allerhöchster Ambition, in der Sixtinischen Kapelle noch Michelangelos JÜNGSTES GERICHT bearbeiten will – wobei wie immer bei Greenaways zahlreichen als Serie angelegten und dann recht bald abbrechenden Projekten so dann auch hier, mit Detlef Kremer, „die Signifikanz der Serie sicherlich entscheidender ist als die Wahrscheinlichkeit ihrer Realisierung“26.

22 23 24 25

26

Vgl. Poe, Edgar Allan: The Facts in the Case of M. Valdemar, in: ders.: Selected Tales, Harmondsworth 1994, S. 364–373. Manovich, Lev: The Language of New Media, Cambridge (MA) 2001, S. 27ff. Greenaway, Peter: The Stairs 2. Munich – Projection / München – Projektionen, London 1995, S. 9. Vgl. Luhmann, Niklas: Observing re-entries, in: Peter, Georg / Preyer, Gerhard / Ulfig, Alexander (Hg.): Protosoziologie im Kontext. „Lebenswelt“ und „System“ in Philosophie und Soziologie, Würzburg 1996, S. 290-301, S. 298. Kremer, Detlef: Peter Greenaways Filme: Vom Überleben der Bilder und Bücher, Stuttgart / Weimar 1995, S. 12.

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System und Mythos

In einer Behandlung, die man am Besten vielleicht noch als mise en lumière bezeichnen könnte27, werden die weltberühmten Bilder gut kinematographisch „zum Leben erweckt“ und in der Tat zu moving images, zu motion pictures gemacht, indem sie jeweils an ihren jeweiligen Ausstellungsorten als Leinwände einer Filmprojektion benutzt werden; einer solchen Projektion allerdings, die eben nur für diese eine (und keine andere) Leinwand gemacht ist (und so auch dem original-auratischen „einmaligen Dasein“ der Kunstwerke eine neue Aufmerksamkeit beschert, als dessen Totengräber ja Walter Benjamin den Film gesehen hatte28). In der NACHTWACHE blitzt und donnert, brennt und regnet es und werden die Straßen gar mit Blut überflutet; Bildraum und -oberfläche des LETZTEN ABENDMAHLS werden mit bild-in- und -externen Lichtquellen ausgeleuchtet, und die 126-köpfige Hochzeitsgesellschaft zu Kana schließlich schwatzt munter durcheinander, während das Bild sich in ein 3D-Modell verwandelt, um 90 Grad dreht und die Szene aus einem alternativen Blickwinkel von oben betrachten lässt. Mit avanciertester Technologie geht Greenaway zugleich zurück zum Gemälde und über das Kino hinaus: Während er in THE TULSE LUPER SUITCASES vornehmlich die eigenen Werke einem remake oder re-working unterzieht, behandelt er nun die Werke anderer, die er als Kino avant la lettre, als Erfindung des Kinos vor dem Kino ansieht und durch seine Installation zum Teil einer gewissermaßen post-kinematographischen Kunstform, eines Kinos nach dem Kino macht. Das Kino kehrt in einem strange loop gewissermaßen zu seinen Anfängen zurück, wenn es denn Greenaway zufolge in der Barockmalerei eines Caravaggio, Rubens, Velazquez oder Rembrandt, mit Benjamin, schon „virtuell verborgen“ lag29: „Man könnte sagen“, so Greenaway, „dass Rembrandt das Kino erfunden hat. Seine Bilder sind Momentaufnahmen – wie Theaterszenen, die er mit Licht zum Leben erweckte“30, und wie andererseits nach Erwin Panofsky auch die ersten Filme nichts anderes taten, als bewegungslosen Bildern eben Bewegung zu geben31, so geht Greenaways Projekt in mehrfacher Hinsicht zurück zu den Anfängen des Kinos, wie er auch selbst dazu bemerkt:

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„Mise en lumière du tableau de Rembrandt“, so die Bezeichnung für Greenaways „kinofizierende“ Behandlung von Rembrandts Gemälde auf der französischen DVDAusgabe von NIGHTWATCHING, LA RONDE DE NUIT (Paris 2008). Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung, in: ders.: Gesammelte Werke. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band I.2: Abhandlungen, Frankfurt am Main 1974, S. 471-508, S. 475ff. Ebd., S. 475. Zitiert nach: Bokern, Anneke: Eine Sekunde Wahrheit, in: Die Welt vom 25.07.2006. Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film, in: ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film. Mit Beiträgen von Irving Lavin und William S. Heckscher, Frankfurt am Main / New York (NY) / Paris 1993, S. 17-48, S. 20f.

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old media / new media – Das „System Peter Greenaway“

„It’s nicely full circle. It’s a snake eating its own tail“32, aber die Schließung dieses Kreises ist zugleich ein Anfang: „As I said, if first of all cinema is dead, then what we are going to do about this? [...] I would say that in fact we have had 105 years of preparation. A prologue. So essentially cinema begins now.“33

Das Kino ist tot – es lebe das Kino: In dieser Weise beschreibt das „System Peter Greenaway“ eine geradezu apokalyptische Mythologie von den Ursprüngen, der Geburt, dem Tod und der Wiederauferstehung des Kinos im Angesicht der Ankunft der digitalen Technologien – wobei Greenaways mediale Transgression allerdings erstaunliche Konsequenz aufweist und man auf das „System Peter Greenaway“ rückblickend eine geradezu stupende Kontinuität sieht, wenn so gut wie sämtliche charakteristischen Aspekte der mise en lumière-Installationen in den Filmen bereits vorgezeichnet und präfiguriert sind: so etwa •









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33

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die kinematographische „Vivifizierung“ der Malerei wie in THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER nach Art eines selbstverdoppelnden tableaux vivant von Frans Hals’ FESTMAHL DER OFFIZIERE; die im Sinne Flussers „kalkulierende“ Generierung eines Narrativs aus einer szenischen Darstellung wie in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT mit Januarius Zicks ALLEGORIE AUF NEWTONS VERDIENSTE UM DIE OPTIK; die Installierung unterschiedlichster, beweglicher Beleuchtung als eines re-entry des Mediums des Lichtes in die Form des Bildes oder eben Lichtbildes wie etwa in A ZED AND TWO NOUGHTS, das Greenaway vor allem auch als a catalogue of 26 different ways to light a set beschreibt34; die intermediale Kopplung bildender und darstellender Künste, wenn man der im NIGHTWATCHING-Projekt inszenierten NACHTWACHE genauso applaudieren soll wie einer Theatervorführung, so wie die Abendgesellschaft in THE BELLY OF AN ARCHITECT dem Pantheon selbst applaudiert; und schließlich die Animation und Temporalisierung unbewegter Bilder wie in PROSPERO’S BOOKS und THE TULSE LUPER SUITCASES, wenn die Illustrationen von Prosperos Büchern beweglich oder selbst lebendig werden, oder wenn Jean-Auguste-Dominique Ingres‘ Porträts der Madame Moitessier hinsichtlich ihrer zweigleisigen Werkgenese und Kapazität einer fascinating dislocation of time behandelt werden.

Greenaway, Peter: A Life in Film, zitiert nach: http://www.timeoutabudhabi.com/thismonth/feature.php?id=366 (offline; gespeicherte Kopie im Besitz d. Verf.), o.S. Ders.: The Tulse Luper Suitcase. Vortrag im August 2001 in Saas-Fee, zitiert nach: http://www.egs.edu/faculty/greenaway/greenaway-tulse-luper-2001.html (29.03.2009), o.S. Vgl. Hacker, Jonathan / Price, David: Discussion with Peter Greenaway, in: dies.: Peter Greenaway, S. 208-222, in: dies.: Take Ten. Contemporary British Film Directors, Oxford / New York (NY) 1991, S. 188-227, S. 220.

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System und Mythos

Es lässt sich schließlich •







nun die Frage stellen, ob die mise en lumière-Installationen nun Kino oder Malerei sind oder beides zugleich oder keins von beiden; und lässt es sich in diesem Zusammenhang durchaus seit jeher als das Ziel des Projektes Greenaways begreifen, Correggios Ed io anche son pittore, wie der in THE BELLY OF AN ARCHITECT geehrte Étienne-Louis Boullée es seiner ABHANDLUNG ÜBER 35 DIE KUNST als Motto voranstellte , von der Architektur auf das Kino zu übertragen, so lässt sich hier auch trefflich Manovichs These vom digital cinema als einem Subgenre der Malerei anwenden: „Cinema becomes a particular branch of painting – painting in time“36; so wie sich schließlich und von hier aus noch ein letzter Rückblick auf das „System Peter Greenaway“ gestattet, wenn in NIGHTWATCHING, dem Film, die Figur des Jacob de Roy vernichtende Kritik an Rembrandts NACHTWACHE übt und diesem schließlich so sein Scheitern attestiert:

„In your attempt to make an accusation you have made a silly, messy caricature which everyone is going to forget or no longer understand – the context, as always, is rapidly going to disappear, even if they ever understood it in the first place. [...] Your painting, Rembrandt, is a pretense, a fakery, a cheat, a dishonesty, full of impossible contradictions, unworthy of a truly intelligent man. [...] This is not a painting at all. By its very nature it denies being a painting – it is a work of the theatre!“

Nun ist de Roys Kritik natürlich gleichzeitig eine selbstreflexive Vorwegnahme der Kritik an Greenaway durch diesen selbst, deren Pointe dann auch darin liegt, dass der Zuschauer des 21. Jahrhunderts natürlich bereits weiß, dass de Roy mit seinem Urteil, so hellsichtig es immer ist, dann letztlich doch danebenliegt – oder zumindest von der Kunstgeschichte widerlegt wird, in die DIE NACHTWACHE als eines der berühmtesten Gemälde und Rembrandt als einer der größten Maler aller Zeiten eingegangen ist, so dass in diesem Sinne NIGHTWATCHING durchaus und nicht zuletzt auch eine spätwerkliche Selbstapologie darstellt – wenn nicht gar eine Selbstapotheose. So nämlich, wie DIE NACHTWACHE das Kino schon vorweggenommen habe, so war schon VERTICAL FEATURES REMAKE, sozusagen als das Urbild aller Greenaway-Filme, was mit den Mitteln des Films natürlich so nur zu fingieren war, als strukturell selbsttransformativ und morphologisch variabel angelegt – nach Manovich gerade eine Kerneigenschaft von new media objects: „not something fixed once and for all, but being able to exist in different, potentially infinite versions“37, und es ist auch hier, dass sich Greenaways eigentliche, letzte und letztlich wohl auch selbstüberhebliche

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Boullée, Étienne-Louis: Architektur. Abhandlung über die Kunst, Zürich / München 1987, S. 44, 49. Manovich, Lev: What is Digital Cinema?, in: Mirzoeff, Nicholas (Hg): The Visual Culture Reader. Second Edition, London / New York (NY) 2002, S. 405-416, S. 413. Ders.: The Language of New Media, S. 36.

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old media / new media – Das „System Peter Greenaway“

Ambition zeigt: „I am going to be the one who will create the first new media masterpiece.“38 Es scheint also wie eine trotzige Verteidigung seines nach eigenen Maßstäben insuffizienten Mediums, dass Greenaway bereits 1986 auf die „Indefinitivität“ eines jeden Films und die Einzigartigkeit und Verschiedenheit einer jeden Filmerfahrung hinweist: „What film is truly definitive? By the time you see the film it may very well be sub-titled, re-edited, shortened, even censored, and every film is viewed at the discretion of the projectionist, the cinema manager, the architect of the cinema, the comfort of your seat and the attention of your neighbour“39 –

nur kann all dies Beharren auf eine „Iterabilität“ des Films40 natürlich nicht darüber hinwegtragen, dass weitere Änderungen am einmal hergestellten und in Kopie gegangenen Filmstreifen nicht länger möglich sind und jede Vorführung desselben Films exakt dieselbe Bildersequenz zeigen wird. In diesem Sinne thematisiert auch •





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THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER in einem zentralen Dialog ganz autoreflexiv die, mit Luhmann, „fatale“ Zumutung der Notwendigkeit des Anfangs und der damit verbundenen irreversiblen Festlegung und des damit verbundenen Ausschlusses aller anderen Möglichkeiten – Michael erzählt Georgina von einem Film, in dem, ganz wie er selbst, die Hauptfigur die erste halbe Stunde über schweigt, so dass alles weitere noch offen bleibt und möglich ist, bis sie es dann verdirbt und: spricht –, während dagegen bei THE TULSE LUPER SUITCASES über die Greenaway-typische multiple layer- und multiple frame-Technik im Filmbild immer mitläuft, wie die erzählte Geschichte auch hätte anders verlaufen oder anders dargestellt werden können, oder aber PROSPERO’S BOOKS die strikte Kopplung eines Mediums zur Form und deren Wiederauflösbarkeit und Rekombinierbarkeit zeigt, wenn zu Beginn durch Prosperos Schreibfeder die amorphe Flüssigkeit der Tinte zu den Buchstaben des Dramentextes quantisiert wird und am Schluss sich alle Bücher wiederum ins Wasser auflösen und der Film an seinem Ende dann als letztes nur noch das Bild einer leeren Leinwand zeigt – das Selbstbild einer kinematographischen tabula rasa, die nach dem Geschehenen nun wieder aufnahmefähig und wieder frei zu unvordenklicher Verwendung ist.

Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S. Ders.: A Zed and Two Noughts, London 1986, S. 9. Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Berlin / Frankfurt am Main / Wien 1976, S. 124-155, S. 133.

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System und Mythos

VERTICAL FEATURES REMAKE also, dieser frühe und für fast kein Geld produzierte Film, ist gewissermaßen als preadaptive advance des Kinos an eine digitale Produktionsweise dann sozusagen Greenaways NACHTWACHE: This is not a film at all. By its very nature it denies being a film – it is a new media object, welches so, mit Lorenz Engell, das unerreichbare „filmische Objekt“ der Filme Greenaways darstellt, welches diese im Film nur als für den Film selbst unverfügbar zeigen können41, oder auch, mit Jacques Lacan, gewissermaßen ihr „Objekt klein a“42, so dass man das Kino Greenaways am Schluss, in Variation eines Begriffes Raymond Federmans, als ein surcinema bezeichnen könnte, das wie immer paradoxalerweise versucht, die Möglichkeiten seines Mediums jenseits seiner Grenzen auszuloten43 – so lange, bis es dabei selbst vielleicht: verschwunden sein wird.

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43

Engell, Lorenz: Medienphilosophie des Films, in: Nagl, Ludwig / Sandbothe, Mike (Hg.): Systematische Medienphilosophie, Berlin 2005, S. 283-298, S. 293. Vgl. Lacan, Jacques: Vom Blick als Objekt klein a, in: ders.: Das Seminar. Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964), Olten / Freiburg im Breisgau 1978, S. 71-126; Žižek, Slavoj: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991, S. 58; ders.: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur, Wien 2000, S. 27. Federman, Raymond: Surfiction. Eine postmoderne Position, in: Wagner, Karl (Hg.): Moderne Erzähltheorie. Grundlagentexte von Henry James bis zur Gegenwart, Wien 2002, S. 413-431, S. 419.

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Vor dem Anfang

„Wat een prachtige man, deze Peter Greenaway!“ Sven Kockelmann

Es gibt Peter Greenaway. So viel kann ich versichern, denn ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen, mit ihm gesprochen und ihm sogar die Hand geschüttelt. Ganz überflüssig ist diese Versicherung wohl nicht – •





in Greenaways VERTICAL FEATURES REMAKE etwa wird ja der Forschungseinrichtung des Institute of Restoration and Reclamation vorgeworfen, dass der Filmemacher, Zeichner, Schriftsteller und project maker Tulse Luper, dessen Leben und Werk es angeblich erforscht, nichts anderes sei als nur „a figment of the Institute’s imagination“ (und so als bloßer Vorwand für die Durchführung akademischer Übungsmanöver diene, wie auch später in THE TULSE LUPER SUITCASES sich die Lebensgeschichte des Titelhelden, anhand welcher eine internationale Forscherorganisation die „wahre Natur des 20. Jahrhunderts“ ergründen will, am Ende als die bloße Inszenierung ihres Initiators erweist); in THE BELLY OF AN ARCHITECT wird der (fiktive) Architekt Stourley Kracklite bezichtigt, den (historisch realen) Architekten Étienne-Louis Boullée nur erfunden zu haben, um eine opulente Ausstellung über dessen Schaffen realisieren zu können (wobei Boullée für den zunehmend dem Wahnsinn verfallenden Kracklite knapp 200 Jahre nach seinem Tod tatsächlich zu einer Art „imaginären Freund“ wird); und Grastled Fallusson schließlich, Eintrag #89 des behördlichen Registers aus THE FALLS, erfand laut seiner Biographie so viele Geschichten über sich selbst, dass die Herausgeber des amtlichen Verzeichnisses sich völlig außerstande sehen, noch irgend Gewähr für die Wahrhaftigkeit seiner Angaben zu übernehmen (sofern es sich bei Fallusson nicht, wie bei seinem Mit-Verzeichneten #80, Ascrib Fallstaff, überhaupt um eine „pernicious inclusion of a fictional character“ handelt, der möglicherweise vom Leiter des internen fiction department der Behörde genauso nur erfunden wurde wie der mysteriöse Violent Unknown Event, zu dessen Erforschung die Behörde vormals eingerichtet wurde).

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System und Mythos

Tatsächlich: Wenn es Greenaway nicht gäbe, so würde er sich vermutlich selbst erfunden haben1. Ich habe das ganz ehrlich nicht und kann nur bitten, das zu glauben – der Aufwand wäre aber wirklich auch zu hoch gewesen. Viel eher allerdings als in der Artifizialität ihres „Problemgenerierungsverfahrens“, das sich sein Objekt als selbstverfertigtes „Simulacrum“ mehr oder weniger „erdichtete“2, besteht ein grundsätzliches Problem einer Auseinandersetzung mit Greenaways Werk vielleicht auch ohnehin vielmehr in ihrer scheinbar unvermeidlichen Defizienz und Überflüssigkeit an ihrem Gegenstande: so stellen etwa Bridget Elliott und Anthony Purdy fest, dass eine Untersuchung von Greenaways vielfältigem Schaffen als Filmemacher, Kurator, Schriftsteller, Maler, Installationskünstler, new media artist und nicht zuletzt auch als Kulturkritiker sicherlich dadurch erschwert wird (oder zumindest nicht umhin kommt, anzuerkennen und miteinzubeziehen), dass Greenaway selbst ein „tireless collector of and commentator on his own work“ sei3, der von den Ansichten und der Befähigung externer Kritiker ganz offenbar nur wenig hält: „I obviously irritate people. I obviously antagonise them. Maybe it's because I'm too goddamn clever. Maybe it's because I do my own exegesis and beat them to it. Maybe my sophistication is much, much greater than theirs so that irritates them.“4

Angesichts eines solchen wie immer berechtigt schon im Vorfeld festgestellten Besserwissens wird die vorliegende Arbeit sich einerseits gewiss zwar nicht darin erschöpfen wollen, Greenaways ebenso zahlreiche wie umfassende Selbstinterpretationen als „authentisch“ einfach zu bestätigen – sie wird sich aber ebensowenig in das gleichermaßen aussichts- wie auch nutzlose Unternehmen steigern, zwanghaft zu versuchen, sie zu „widerlegen“. Genausowenig wie um eine Projizierung eines „genialen“ Filmemachers als einer sozusagen „extimen“5 „Enuntiationsinstanz“ des eigenen Diskurses, der sich dadurch seiner eigenen Lohnenswertigkeit versicherte6, geht es dieser Arbeit also auch um keine Konkurrenz zu Greenaway, die dann etwa den Nachweis zu erbringen hätte, Greenaways

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Vgl. Kremer, Detlef: Peter Greenaways Filme: Vom Überleben der Bilder und Bücher, Stuttgart / Weimar 1995, S. 10f., 62ff. Scheffel, Helmut: Vorwort, in: Barthes, Roland: Kritik und Wahrheit, Frankfurt am Main 1967, S. 9-15, S. 15; Stöckmann, Ingo / Werber, Niels: Das ist ein Autor! Eine polykontexturale Wiederauferstehung, in: De Berg, Henk / Prangel, Matthias (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik, Tübingen / Basel 1997, S. 233–262, S. 245. Elliott, Bridget / Purdy, Anthony: Man in a Suitcase: Tulse Luper at Compton Verney, in: Image [&] Narrative. Online Magazine of the Visual Narrative 12(2005), http://www.imageandnarrative.be/tulseluper/elliot_purdy.htm (29.03.2009). Brockes, Emma: „Maybe I'm too clever.“ Interview with Peter Greenaway, zitiert nach: http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2004/may/10/art (29.03.2009). Ders.: Das Problem der Sublimierung, in: ders.: Das Seminar. Buch VII: Die Ethik der Psychoanalyse (1959-1960), Weinheim / Berlin 1996, S. 171. Frisch, Simon: „Politique des auteurs“: der subjektive Faktor in Film und Filmkritik, in: Becker, Andreas R. / Hartmann, Doreen / Lorey, Don Cecil / Nolte, Andrea (Hg.): Medien – Diskurse – Deutungen, Marburg 2007, S. 158-165, S. 161f.

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Vor dem Anfang – Vorwort

Filme besser zu kennen als dieser selbst7 (oder sogar: „besser zu verstehen“8). Abseits solcher Argumentationen ad personam soll vielmehr etwas anderes versucht werden: eine Beobachtung des Œuvres Greenaways als eines Systems im Sinne Niklas Luhmanns nämlich, das es in seiner „Morphogenese“ zu beschreiben gilt, die es innerhalb von vier Jahrzehnten Laufzeit durchgemacht hat – ohne aber, dass die jüngsten und dann rückwirkend sei es kausalisierend als Resultat einer konsequenten Entwicklung, sei es finalisierend als Zielpunkt eines sozusagen „entelechischen Prozesses“ betrachtbaren Werke Greenaways so, wie sie letztendlich sind, nur irgend auch vorherzusehen gewesen wären. Dabei handelt es sich bei dem solchermaßen postulierten „System Peter Greenaway“9 allerdings auch um ein hochkomplexes10, ja hyperkomplexes11 System, dessen „hologrammatischen“ Charakter12 Greenaway selbst so beschreibt: „all the germs and all the ashes of all the films are always contained in all the other films“13, so dass eigentlich jeder Film in jedem anderen Film beginnen und zu Ende geführt werden müsste14 – worum Greenaway sich tatsächlich auch nach Kräften bemüht und mit THE TULSE LUPER SUITCASES dann schließlich einen Film gemacht hat, in dem nicht nur alle Filme vorkommen, die er je gemacht hat (und zwar natürlich einschließlich THE TULSE LUPER SUITCASES selbst), sondern auch noch alle Filme, die er nicht gemacht hat ... das alles macht es, das „System Greenaway“ in einem Buch auf stringente Weise und einigermaßen kurz und bündig vorzustellen, nicht unbedingt ganz einfach; es kann daher dann auch nicht darum gehen, zu versuchen, einen kompletten Nachvollzug dieser „Systemkomplexität“ zu leisten. Leider kann ja nicht alles Sagenswerte auf einmal gesagt werden und vieles nur entweder im Vorgriff oder erst im Nachhinein, so dass bestimmte Problemkomplexe, wie sie in einem Film auftreten mögen, an einer bestimmten Stelle vielleicht nur angerissen werden können, um eventuell in einem späteren Kapitel wieder aufgenommen zu werden, in dem es dann längst schon um einen anderen Film geht, obwohl man das Problem eigentlich auch ohnehin viel früher hätte adressieren müssen, als es im Text 7 8

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Ebd., S. 161. Vgl. Bollnow, Otto Friedrich: Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?, in: ders.: Studien zur Hermeneutik. Band 1: Zur Philosophie der Geisteswissenschaften, Freiburg / München 1982, S. 48-72. Vgl. unter Verwendung eines allerdings ganz anderen, nicht-systemtheoretischen Systembegriffs Spielmann, Yvonne: Intermedialität. Das System Peter Greenaway, München 1998. Vgl. Morin, Edgar: Komplexität als Herausforderung, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 9(1987), S. 93-108; Luhmann, Niklas: Haltlose Komplexität, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5. Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 58-74. Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 638; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankurt am Main 1997, S. 22, 876. Vgl. Morin: Komplexität als Herausforderung, S. 98. Greenaway, Peter: Introduction, in: BFI History of the Avantgarde: The Early Films of Peter Greenaway 2, London 2003 (DVD). Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 13f.

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System und Mythos

geschehen ist, während wieder anderes mit mehr oder minder großer Redundanz durch sämtliche Kapitel perenniert – die filmischen Verhältnisse sind also non-linear bis zirkulär, während ihre sprachlich-textuelle Darstellung irgendwo anfangen, in ihrem Verlauf eins nach dem anderen anzusprechen versuchen und schließlich irgendwann einmal auch aufhören muss15: Systeme, so Moritz Bassler, kann man nicht lesen16, Texte dagegen müssen abschließbar sein und in einer wie immer befriedigenden Gestalt auch schließlich einmal fertig werden. Dabei hätte diese Arbeit in vorliegender Form17 ohne die Gewährung eines Promotionsstipendiums in der Graduiertenförderung des Freistaates Thüringen wohl kaum entstehen können; danken möchte ich zudem für Rat und Tat auch Lorenz Engell, Niels Werber, Veronika Grob und Simon Kern von der Redaktion Film und Serien des Schweizer Fernsehens, Steve Day, Niklas Rock, Christer Petersen, ganz besonders meinen Eltern, meinen Schwiegereltern, meiner Familie überhaupt und schließlich vor allem und für alles meiner Verena. Düsseldorf, im April 2010

Axel Roderich Werner

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Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, S. 554. Bassler, Moritz: Systeme kann man nicht lesen, in: Rechtshistorisches Journal 17(1998), S. 387-404. Während vorliegendes Buch eine überarbeitete und aktualisierte Fassung meiner im April 2009 an der Bauhaus-Universität Weimar eingereichten Dissertation darstellt, so ist es dabei nur bedauerlich, dass seiner nunmehrigen Publikationsform und deren Aufwand und Kosten geschuldet die Anzahl der Abbildungen nachgerade dezimiert werden musste; vieles, was in der Argumentation durch parallelgeführte Filmstandbilder veranschaulicht und in einiger Evidenz direkt auch plausibilisiert werden konnte, muss nun alleine umständlich erklärt werden, was dann vor allem wohl als Beispiel dafür dienen mag, dass die wie immer ausgedehnte Beschreibung von Filmen diese selbst natürlich keineswegs erschöpfen noch ersetzen kann – man muss diese Filme einfach gesehen haben, um verstehen zu können, worüber ihre Beschreibung denn eigentlich spricht. (Umso bestürzender dagegen, wenn etwa Trevor G. Elkington seine Rezension des Sammelbandes PETER GREENAWAY’S POSTMODERN / POSTSTRUCTURALIST CINEMA mit der Feststellung beschließt, dass „knowledge of [Greenaway’s] films is useful but not necessary for understanding the larger issues“ – was immer diese dann auch sein sollten. (Elkington, Trevor G.: Between Order and Chaos: On „Peter Greenaway's Postmodern / Poststructuralist Cinema“, in: Film-Philosophy 2(2004), zitiert nach: http://www.film-philosophy.com/vol8-2004/n2elkington (29.03.2009)))

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01 Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

Die Entscheidung, eine weitere Arbeit über Peter Greenaways Filme zu verfassen, bedarf wohl der Rechtfertigung. Im Unterschied zu den bereits schon zahlreich vorliegenden Untersuchungen soll hier versucht werden, Greenaways Œuvre als System im Sinne iklas Luhmanns zu beschreiben, d.h.: als selbstreferentiellen Kommunikationszusammenhang von rekursiv vernetzten Kunstwerken, als eine in künstlerischen Reflexionsprodukten verdichtet laufende Selbstbeobachtung der Medienkultur der gegenwärtigen Gesellschaft. Viel eher denn als filmische Erzählungen mehr oder weniger klassischen Zuschnitts lassen Greenaways Filme sich als „Filmtraktate“ im Sinne Sergej Eisensteins begreifen, d.h.: als audio-visuelle Essays, und näher: als selber medial verfasste Essays über Medien, also: über generative Möglichkeitsund Ordnungsräume etwa der Kommunikation, des Wahrnehmens, des Wissens und des Denkens usw., kurz: über Formen der Konstruktion von Realität, deren Reflexion in den Filmen immer auch Selbstreflexion der Filme selber ist. Zugleich konstituieren Greenaways Filme in ihrer Gesamtheit nicht nur eine „personal mythology“, sondern durchaus einen Mythos im Sinne von Claude Lévi-Strauss; d.h., als ästhetisches Äquivalent des wissenschaftlichdiskursiven Denkens, ein „System von Begriffen, die in Bildern verdichtet sind“, das sich realisiert in der Gesamtheit seiner Varianten. Dabei handelt es sich allerdings, mit Roland Barthes, um einen künstlichen und „experimentellen“ Mythos, einen „Mythos zweiten Grades“, d.h. um eine mythische Dekonstruktion von Mythen und insofern: um eine wahre Mythologie. Das folgende Kapitel wird versuchen, nach eingehender Würdigung des Forschungsstandes eine entsprechende eigene Perspektive auf Greenaways Filme zu gewinnen und einen geeigneten methodisch-begrifflichen Apparat zu ihrer Untersuchung einzuführen, um, mit Lorenz Engell, die filmischen Reflexionsformen in begriffliche zu übertragen, um erstere in letzteren überhaupt erfasslich und beschreibbar zu machen, in ihrer Korrelation oder Äquifunktionalität aber zugleich auch ihre Differenz zu unterstreichen; also darum, den wechselwirksamen Zusammenhang einer Medienphilosophie und einer Philosophie der Medien zu etablieren.

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System und Mythos „Als Objekt in den Grenzen eines Dings oder eines Prozesses genommen, eröffnet das Kunstwerk die Möglichkeit einer Kompaktkommunikation; man kann es als Kunstwerk bezeichnen und gewinnt dadurch eine eindeutige Unterscheidung, mit der man weiterarbeiten kann. Das kann das Ende, aber auch der Anfang einer Kommunikation sein, die sich mit den Unterscheidungen befasst, aus deren Vernetzung das Kunstwerk besteht und die es als Kunstwerk ausweisen. Was die Innenseite der Form Kunstwerk betrifft, kommuniziert die Kompaktkommunikation also den Kommunikationsvorbehalt weiterer Analyse. Kompaktkommunikation ist sozusagen Kommunikation auf Kredit, ist Inanspruchnahme von Autorität für weitere Ausführung, sagt also vor allem: es ließe sich zeigen ...“ Niklas Luhmann, DIE KUNST DER GESELLSCHAFT

„The Question is: What is the Question?“ Scooter

„Ein Beobachter hat zu erklären (oder sogar zu rechtfertigen), warum er sich entscheidet, einen ganz bestimmten Beobachter zur Beobachtung auszuwählen und zu bezeichnen – diesen nämlich und keinen anderen.“1 Warum also eine weitere Arbeit über Peter Greenaway? Zu Greenaways Filmen gibt es nichts mehr zu sagen; und vor allem nichts Neues; und zwar nicht zuletzt deshalb, weil er selber schon so viel dazu gesagt hat (und jetzt nur noch fortfährt, das Gleiche und Immergleiche ad nauseam zu wiederholen – was übrigens auch für seine Filme gilt, die ja inzwischen auch nur noch sich selbst zitieren). Das Œuvre Greenaways ist ein kryptisches, hermetisch abgeschlossenes System, das sich ausschließlich mit sich selber und Greenaways Privatobsessionen beschäftigt, zu dem als Außenstehender man aber schlichtweg keinen Zugang findet – und selbst wenn doch, man würde nichts dabei gewinnen (geschweige denn: verstehen können). Das ist, in Zeiten, in denen Greenaways Filme längst schon keinen Verleih mehr finden, so ungefähr nicht nur die Meinung vieler Kritiker, sondern mitunter auch genau das, was man zu hören bekommt, wenn man versucht, eine Dissertation zu diesem Thema vorzuschlagen – und natürlich ist dem aufs Entschiedenste zu widersprechen. Dazu versteht auch vorliegende Arbeit sich als Beitrag: Es geht ihr, ganz allgemein gesprochen, um eine Beschreibung von Greenaways Filmen als einer in künstlerischen Reflexionsprodukten verdichtet laufenden Selbstbeobachtung der Medien-

1

Luhmann, Niklas: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, in: ders.: Aufsätze und Reden. Hg. von Oliver Jahraus, Stuttgart 2001, S. 262-296, S. 278.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

kultur der gegenwärtigen „Informationsgesellschaft“2 – mitsamt der Frage nach dem Verbleib des „menschlichen Subjektes“ innerhalb derselben. Bevor, oder vielmehr: indem aber versucht wird, in der Beschäftigung mit Greenaways Filmen ein neues, relevantes Wissen zu erschließen, sei zunächst einmal das schon vorhandene gewürdigt – alle Forschungsplanung, so Luhmann, schreibt immer auch an den „Memoiren des Systems“3, ohne welche sie ja auch kaum über Ansatz- und Bezugspunkte zum Anschluss weiterer Kommunikation verfügte. Es geht als Erstes also darum, sich der eigenen Position durch die „Parallelblicke“ anderer zu vergewissern, um zu sehen, wie die anderen es gemacht haben – natürlich, um es dann anders zu machen, aber (hoffentlich) mindestens ebenso gut4.

Parallelblicke Dies ist tatsächlich auch insofern nun kein völlig anspruchsloses Unternehmen, als dass in der bis heute vorliegenden Greenaway-Forschung, sowohl was Umfang als auch Qualität betrifft, bereits Erhebliches geleistet worden ist: Vor allem in den frühen bis mittleren Neunzigerjahren erfreute sich das Schaffen Greenaways eines großen internationalen Interesses, so dass neben den englischsprachigen Arbeiten von Alan Woods (BEING NAKED PLAYING DEAD. THE ART OF PETER GREENAWAY, Manchester 1996), Amy Lawrence (THE FILMS OF PETER GREENAWAY, Cambridge 1997), Bridget Elliott und Anthony Purdy (PETER GREENAWAY. ALLEGORY AND ARCHITECTURE, Chichester 1997) und David Pascoe (PETER GREENAWAY. MUSEUMS AND MOVING IMAGES, London 1997) sowie dem von Paula Willoquet-Maricondi und Mary Alemany-Galway herausgegebenen Sammelband PETER GREENAWAY’S POSTMODERN / POSTSTRUCTURALIST CINEMA (Lanham (MD) 2001) an dieser Stelle die einschlägigen deutschsprachigen Publikationen insonderheit gewürdigt seien. •

In FILMING BY NUMBERS: PETER GREENAWAY. EIN AUTOR ZWISCHEN EXPERIMENTALKINO UND ERZÄHLKINO (Tübingen 1993) zeichnet Christiane Barchfeld die Entwicklung von Greenaways Filmen vom strukturalen hin zum narrativen Kino nach, indem die Filme in chronologischer Reihenfolge aspektorientierten Kurzanalysen unterzogen und bestimmte Motive der jeweiligen Handlungs-, Dialog- und Bildinhalte erfasst und in eine Entwicklungslinie gestellt werden. Die Hauptthesen Barchfelds sind dabei, „dass Autoreflexivität als zentrales Element in allen Filmen erkennbar ist und eine Untersuchung der Filme unter diesem Aspekt zu ihrem besseren Verständnis beitragen könnte“ (S. 11) und „dass sich der auteur Greenaway als kreative Instanz hinter seinen Filmen

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Vgl. Flusser, Vilém: Verbündelung oder Vernetzung?, in: ders.: Medienkultur. Hg. von Stefan Bollmann, Frankfurt am Main 1997, S. 143-149. Ders.: Unverständliche Wissenschaft, in: ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 170-177, S. 171. Ders.: Soziale Systeme, S. 622; ders.: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefahren einstellen?, Opladen 1986, S. 160; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1095.

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deutlich zu erkennen gibt“ (S. 187) – was zwar gewiss zu unterschreiben, in vorliegender Arbeit aber auch über Barchfelds Feststellung und Nachweis hinaus gerade hinsichtlich der (bei Barchfeld eher vernachlässigten) problematischeren, weil aporetischen bis paradoxalen Aspekte von Selbstreferentialität und Autorschaft noch weiter zu verfolgen ist. Im erklärten Anschluss an die Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers richtet Kerstin Frommers Dissertation INSZENIERTE ANTHROPOLOGIE. ÄSTHETISCHE WIRKUNGSSTRUKTUREN IM FILMWERK PETER GREENAWAYS (Köln 1994) den Fokus ihres Interesses auf die „Möglichkeit ästhetischer Rezipierbarkeit“ (S. 142, Anm. 32) der Filme Greenaways nach Maßgabe bestimmter in ihnen angelegter „Wirkungsstrategien und Strukturen“ (S. 6); und dies nun nicht, um eine „weitere persönliche Deutung vorzustellen“, sondern vielmehr überhaupt die „Rahmenbedingungen der Interpretierbarkeit“ der Filme zu umreißen (S. 53). Wie plausibel aber Frommers Beobachtungen und Beschreibungen der Filme Greenaways auch sind, so überflüssig scheinen der Analyse gerade ihre eigenen Prämissen, wenn sie etwa zu dem Ergebnis kommt, dass die in Frage stehenden Strategien und Strukturen entweder „so plakativ sind, dass der Zuschauer kaum umhin kann, sie zu registrieren“ (S. 152), ja sogar „derart evident [...], dass man [sie] gar nicht aufzuspüren braucht“ (S. 41), oder aber ganz im Gegenteil den Zuschauer in einziger „Ratlosigkeit und Überforderung“ (S. 91) zurücklassen. Dabei stellt sich nicht zuletzt auch das Problem des autologischen Schlusses5 als eines reflexiven „Rückbezug[es] auf sich selbst“, den Frommer etwa in ihrer Analyse von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT sowohl zwar für die Hauptfigur Mr. Neville als auch für den Zuschauer in Rechnung stellt (S. 57ff.), den sie für sich selber aber nur recht eingeschränkt vollzieht – was ja vor allem etwa dann von Nutzen wäre, wenn es rezeptionsästhetisch gälte, die strukturelle Vorzeichnung des „impliziten Rezipienten“ vom je individuellen Filmerlebnis abzusetzen – und zwar auch und gerade desjenigen der Verfasserin seiner wissenschaftlichen Analyse!6 Detlef Kremer unternimmt in PETER GREENAWAYS FILME: VOM ÜBERLEBEN DER BILDER UND BÜCHER (Stuttgart / Weimar 1995) eine ausgesprochen originelle „ikonographische Sondierung von Bild- und Wissenstraditionen und ihre [sic] kinematographische Bearbeitung“ (S. 10), in der Greenaways Filme einerseits auf einer medialen Ebene als „Archive der älteren, literarischen und pikturalen Kunstformen“ (S. 7) behandelt und andererseits auf einer ikonographischen Ebene in die „Bildtraditionen“ (S. 8) der Hermetik, der Mythologie und des Manierismus gestellt werden. Dabei situiert Kremer Greenaways Gesamtwerk zwischen den Polen des Melancholischen und des Grotesken, wie er beide in der Emblematik des Saturnischen zusammengefasst sieht (S. 17ff.), so dass gleichsam eine Astrologie von Greenaways Filmen erarDers.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 102f. Was fast schon trivialerweise natürlich jede Wahl der Systemreferenz für wissenschaftliche Untersuchungen betrifft: „Würde man für ein psychisches System optieren, stünde man vor der Wahl: welches von den etwa fünf Milliarden? Und die Entscheidung könnte dann praktisch nur lauten: ich selber.“ (Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, S. 63.)

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“





beitet wird, in welcher, einer Leitunterscheidung von Ordnung und Chaos folgend (S. 194), „melancholische Entropien in ästhetische Form“ (S. 51) überführt werden. Jean Lüdekes DIE SCHÖNHEIT DES SCHRECKLICHEN. PETER GREENAWAY UND SEINE FILME (Bergisch Gladbach 1995) stellt die vermutlich zugänglichste und theoretisch voraussetzungsfreieste Arbeit über Greenaways Filme dar, was andererseits dann aber auch zu Lasten ihrer analytischen Tiefenschärfe geht – und bisweilen auch auf Kosten ihrer kritischen Distanz. So startet Lüdeke mit einem rein biographischen Kapitel, das Greenaway sogleich in den Rang einer „Legende“ (S. 13) erhebt, wie auch in den weiteren Beschreibungen der einzelnen Filme von Biographischem bis Anekdotischem immer eine „persönliche Bedeutungsebene“ (S. 41) sehr stark gemacht wird. Greenaways außerfilmischer Tätigkeit als Ausstellungsmacher und Opernregisseur ist ebenso ein Extrakapitel gewidmet wie auch seinem langjährigem Komponisten Michael Nyman, und eine (über ihre Zusammenstellung hinaus nicht weiter kommentierte) Zitatensammlung schließt das Buch. Wenngleich Lüdekes Arbeit also manchmal in Gefahr gerät, zu einer Art kommentierten Werksübersicht zu werden, so kann sie gerade durch die Verknappung ihrer Darstellung, die gleichwohl nie ins Triviale kippt, umso besser als ein „Greenaway-Brevier“ im besten Sinn des Wortes gelten – zumal sie es ja auch (damit als self-defeating prophecy gedacht?) vor allem darauf anzulegen scheint, Greenaway aus dem (durch sie selber konstatierten!) Schicksal zu verhelfen, „einem breiteren Publikum [...] wohl ewig unbekannt [zu] bleiben“ (S. 13). Roland Weidle geht es in MANIERISMUS UND MANIERISMEN: WILLIAM SHAKESPEARES „THE TEMPEST“ UND PETER GREENAWAYS „PROSPERO’S BOOKS“ (Weinheim 1997) darum, von einem an politischen, religiösen, philosophischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen belegten Konzept des Manierismus ausgehend – kennzeichnend ist für Weidle hier vor allem „ein neuer, bewusster Umgang mit dem eigenen Medium, die Hervorkehrung der eigenen Kunstfertigkeit, die Herausbildung eines eigenen Stils, der bewusste Bruch mit und die Verarbeitung von Traditionen, die Einnahme neuer Beobachterstandpunkte, der Wechsel von Perspektiven, die Kontrastierung von formalen und inhaltlichen Elementen und die Freude an der dialogischen, entharmonisierten Präsentation von Elementen und Inhalten, die Raum für Widersprüche lässt“ (S. 140) – die besonderen Analogien und Affinitäten zwischen Shakespeares THE TEMPEST und Greenaways PROSPERO’S BOOKS zu erarbeiten, um anhand dieser beiden als repräsentativ herausgestellten Werke schließlich „die strukturellen und ideologischen Parallelen zwischen der manieristischen und der heutigen postmodernen Epoche“ (S. 10) vor allem nach den Parametern von „Eklektizismus, Selbstreflexivität, Paradoxalität“ (S. 142) aufzuzeigen, wobei bei aller Plausibilität der Argumentation dann allerdings PROSPERO´S BOOKS selbst mit seinen zumal medialen Eigen- und Besonderheiten gegenüber der Herleitung und Anwendung von Weidles Manierismusbegriff doch analytisch eher kurz kommt.

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System und Mythos •



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Michael Schusters Dissertation MALEREI IM FILM: PETER GREENAWAY (Hildesheim / Zürich / New York (NY) 1998) geht es bei Greenaways Œuvre um die „ästhetische Relation zweier Medien“ in der „Begegnung von Malerei und Film“ (S. 11). Dabei soll allerdings nicht einfach nach Art einer bloßen Quellenkritik ein „ikonisches Verzeichnis“ erstellt werden, um „den Sinn und die Funktion der zahlreichen Zitate, Anspielungen und Rekurse, zurückverfolgt zu ihrem Ursprung, zu erhellen“ (S. 11), vielmehr werden Greenaways frühe Spielfilme in Hinblick darauf untersucht, in welcher Weise diese einerseits bestimmte Gemälde oder „aus gemalten Vorbildern herausgelöste [...] Sujets und Motive“ (S. 21) innerbildlich integrieren oder in tableaux vivants umsetzen und sich andererseits in ihrer Bildkomposition auch selbst formaler malerischer Konstruktionsprinzipien bedienen, um am Ende für Greenaways ästhetisches Verfahren den Begriff des „filmischen Tableaus“ als Bezeichnung einer spezifischen „Gestaltungsweise“ vorzuschlagen, welche „darauf zielt, die Angleichung der Wahrnehmung eines Film-Bildes an diejenige eines Gemäldes anzustreben“ (S. 136) – schon angesichts der entsprechenden Selbsteinschätzung Greenaways („I am primarily a painter, and my prejudice is that painting is the prime visual art“7) auch sicherlich ein sehr plausibler Vorschlag. Yvonne Spielmann versteht ihre Habilitationsschrift INTERMEDIALITÄT. DAS SYSTEM PETER GREENAWAY (München 1998) vorrangig als „Beitrag zu einer ästhetischen Theorie der Intermedialität“ (S. 261), indem sie im Anschluss an den russischen Formalismus und in Hinblick auf eine „Taxonomie intermedialer Bildgestaltung“ spezifische Formen und Verfahren zu bestimmen sucht, die es dann „in einer exemplarischen Analyse der Arbeiten von Peter Greenaway“ (S. 261) zu explizieren gilt. Dieser Ansatz kann hier insofern nicht geteilt werden, als dass es vorliegender Arbeit eben nicht darum geht, ihre Funktionalität prüfend eine vorerarbeitete Theorie versuchsweise auf das seinerseits (nur?) beispielhaft, nur als „Beleg“ (S. 75) gedachte „System Greenaway“ anzuwenden, sondern dieses selbst in seiner Eigenheit zu untersuchen. Auch lässt gerade der von Spielmann verwendete Systembegriff einige Fragen offen: So wird Greenaways Gesamtwerk als „ein künstlerisches System“ beschrieben, in dem es um einen „Impuls“ gehe, „der das Kunstsystem und die Selbstreferenz einführt, um diese Setzungen sogleich in synkretistischer und ludistischer Absicht wieder aufzuheben“ (S. 165), wobei unter „System“ im Näheren das „konstruktive Prinzip der Herausbildung von strukturellen Merkmalen im Wechsel von Stabilisierung und Dynamisierung“ und „der Funktionen und Beziehungen von Stilelementen und auch der intertextuellen Motivierung“ (S. 181) verstanden wird. Von genuin system-theoretischen Konzepten grenzt Spielmann sich dabei ausdrücklich ab (S. 165), obwohl sie an prominenter Stelle etwa Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form verwendet – von der sie sich dann allerdings für die weitere Intermedialitätsdebatte schlichtweg „keine Erkenntnisse“ (S. 44) verspricht. Greenaway, Peter: 105 Years of Illustrated Text, in: Zoetrope 1(2001), S. 48-51, S. 48.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“ •

Christer Petersens Studie JENSEITS DER ORDNUNG. DAS SPIELFILMWERK PETER GREENAWAYS – STRUKTUREN UND KONTEXTE (Kiel 2001) geht es um die Abstraktion einer „Gesamt- oder Grundstruktur“ (S. 12) der Spielfilme Greenaways und ihre Überführbarkeit in eine „postmoderne Ästhetik“ (Klappentext). Petersen weist dabei neben bestimmten motivischen, figurativen und narrativen Konstanten die rekurrenten „Basisoppositionen“ von „Chaos“ / „Realität“ / „Natur“ / „Weiblichkeit“ vs. „Ordnung“ / „Artifizialität“ / „Kultur“ / „Männlichkeit“ sehr überzeugend nach und kann nach dieser werkimmanenten Analyse Greenaways Filme auch sehr einleuchtend im historischen Kontext ihres „kulturellen Paradigmas“ verorten; dabei erweist sich allerdings die angekündigte „medienübergreifende Theorie der Postmoderne“, die dann wiederum lediglich als „kulturelles Referenzsystem für das Spielfilmwerk Greenaways“ (S. 103) verwendet werden soll, im Umfang eines Dutzend Seiten als natürlich doch sehr vollmundig versprochen. Auch Petersen spricht von Greenaways Œuvre als einem „filmischen System“, das dann „hermetisch abgeschlossen“ sei (S. 25), wobei allerdings über die Inabredestellung eines „kulturtranszendenten Realitätsbezug[s]“ der Filme (S. 25) noch hinaus die grundsätzliche Bedingung der Möglichkeit des (dann durch systemische Geschlossenheit verhinderten oder ermöglichten?) Bezuges auf eine (dann vorfindliche oder selbstkonstruierte?) Realität nicht weiter in Betracht gezogen und zur bloßen „Rekurrenz“ bestimmter Motive (S. 13) auch die Rekursivität, zur „Zyklizität“ des Aufbaus der Filme (S. 19) auch die Zirkularität des „filmischen Systems“ nicht mitbehandelt wird – was nun keinesfalls gegen Petersens Untersuchung oder ihre Analyseleistung spricht, sondern vielmehr wohl auf die richtungsweisende Funktion hinweisen mag, die sie für vorliegende Arbeit zweifellos auch hatte.

Wenngleich nun also vorliegende Arbeit sicherlich in vielerlei Aspekten Parallelen zu den vorgenannten Werken aufweist – als besondere Anschlussmöglichkeiten wären hier vor allem Barchfelds Akzent auf Autoreflexivität, Kremers umfassende Abbildung auf ein Referenzsystem, Spielmanns Systemgedanke sowie Petersens strukturaler Ansatz zu nennen –, so kann es ihr gleichwohl gewiss nicht darum gehen, deren Ergebnisse einfach in einer Art summa zusammenfassen – schon deshalb, um nicht hinter Frommers treffende Einsicht zurückzufallen, dass die Addition sämtlicher Interpretationen zu keiner „Totaldeutung“ führen kann8. Zudem aber konnten vor8

Frommer: Inszenierte Anthropologie, S. 53. Es braucht insofern also auch nicht wiederholt zu werden, • dass Greenaway mit Fug und Recht zu den innovativsten, eigenwilligsten, faszinierendsten, den angesehensten und zugleich auch den umstrittensten Filmemachern der Zeit gerechnet werden darf (vgl. Barchfeld: Filming by Numbers, S. 9; Petersen: Jenseits der Ordnung, S. 9; Schuster: Malerei im Film, S. 9), • dass er sich als Filmemacher ebenso hervortut wie als Opernregisseur, Ausstellungskurator, Schriftsteller, Maler, Installations- und Medienkünstler oder als Kulturkritiker (vgl. Elliott / Purdy: Man in a Suitcase; Schuster: Malerei im Film, S. 9),

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System und Mythos

genannte Arbeiten weder Greenaways multimediales Großprojekt THE TULSE LUPER SUITCASES (2003ff.) noch auch seine jüngsten mise en lumièreProjekte mit Rembrandts DIE NACHTWACHE (2006), Leonardo da Vincis DAS LETZTE ABENDMAHL (2008) oder Paolo Veroneses DIE HOCHZEIT ZU KANA (2009) berücksichtigen, deren Bedeutung für Greenaways Gesamtwerk kaum •



dass es sich bei seinen immer intermedial angelegten Filmen um gewissermaßen postmodern-manieristisch-(neo)barocke „Gesamtkunstwerke“ handelt (vgl. Kremer: Peter Greenaways Filme, S. 59; Schuster: Malerei im Film, S. 7, 19ff.; Degli-Esposti Reinert, Cristina: Neo-Baroque Imaging in Peter Greenaway’s Cinema, in: Alemany-Galway, Mary / Willoquet-Maricondi, Paula (Hg.): Peter Greenaway’s Postmodern / Poststructuralist Cinema, Lanham (MD) 2001, S. 51-78; Weidle: Manierismus und Manierismen; Frommer: Inszenierte Anthropologie, S. 23; Mundhenke, Florian: Evolution und Verfall – Film als organisches Gesamtkunstwerk bei Peter Greenaway, in: Steinle, Matthias / Röwekamp, Burkhard (Hg.): Selbst/Reflexionen. Von der Leinwand bis zum Interface, Marburg 2004, S. 127-142; Pally, Marcia: Cinema as the Total Art Form. An Interview with Peter Greenaway, in: Gras, Marguerite / Gras, Vernon (Hg.): Peter Greenaway – Interviews, Jackson (MS) 2000, S. 106-119; Woods: Being Naked Playing Dead, S. 33; gegen das Konzept des „Gesamtkunstwerkes“ aber Elliott / Purdy: Peter Greenaway, S. 73, und Spielmann: Intermedialität, S. 114. Übrigens sieht auch Greenaway selber keinen Grund, diesen Begriff noch weiterzuverwenden: „I think there’s no need to use that. Wagner of course never meant what he meant or he intended to mean by that.“ (zitiert nach: Oosterling, Henk: Cinema of Ideas. An Interview with Peter Greenaway, zitiert nach: http://www2.eur.nl/fw/cfk/InterAkta/InterAkta%203/ PDF/interakta3. greenaway.def.ho.pdf (29.03.2009), S. 7)) oder dass seine Filme eine charakteristische Obsession mit Listen, Klassifikationen, Taxonomien und Ordnungssystemen aller Art aufweisen, deren „Urbild“ wohl in Borges’ berühmter (und bekanntlich an prominenter Stelle von Foucault zitierter) „chinesischen Enzyklopädie“ zu finden ist (worauf wiederum auch Greenaway natürlich selbst schon hinweist. Vgl. The Falls. Synopsis, in: BFIKatalog 1980/81: The New Social Function of Cinema, London 1981, enthalten in: BFI History of the Avantgarde: The Early Films of Peter Greenaway 2, London 2003 (DVD); Borges, Jorge Luis: Die analytische Sprache John Wilkins’, in: ders.: Gesammelte Werke. Band 5.2: Essays 1952-1979, München / Wien 1979, S. 109-113, S. 111f.; Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 17ff.; Elkington: Between Order and Chaos; Elliott / Purdy: Peter Greenaway, S. 29; Elsaesser, Thomas: Raum-Körper. Peter Greenaways Re-Installation des Kinos, in: Felix, Jürgen (Hg.): Unter die Haut. Signaturen des Selbst im Kino der Körper, St. Augustin 1998, S. 45-66, S. 53; Lawrence, Amy: The Films of Peter Greenaway, Cambridge 1997, S. 20f.; Testa, Bart: Tabula for a Catastrophe, in: Alemany-Galway / Willoquet-Maricondi (Hg.): Peter Greenaway’s Postmodern / Poststructuralist Cinema, S. 79-112, S. 98).

Weil andererseits das alles aber doch vielleicht nicht einfach als vollkommen selbstverständlich schon vorausgesetzt und wenigstens einmal ganz kurz erwähnt werden sollte, so wurde es, gleichsam als Kompromiss, dann eben in die Fußnoten verbannt (wo diese Wiederholung vielleicht nicht so auffällt, oder wenigstens nicht stört).

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

zu überschätzen ist: wie THE TULSE LUPER SUITCASES als prequel sämtlicher von Greenaways Filmen und (vorläufiger) Schlussstein des myth of Tulse Luper, der Greenaways gesamtes Werk durchzieht, ein umfassendes Gesamtbild von Greenaways filmischem Schaffen sowohl ermöglicht wie vervollständigt, so markieren NIGHTWATCHING, THE LAST SUPPER und THE WEDDING AT CANA einen Schritt des „Systems Greenaway“ aus dem Kino und über das Kino hinaus und bieten in ihrem Rückgriff auf die Gemälde als einem „Kino vor dem Kino“ gewissermaßen einen Ausblick auf die Möglichkeiten eines „Kinos nach dem Kino“.

Objekt und Methode Methodisch ließen sich drei Wege vorschlagen, das Greenaway’sche Œuvre zu betrachten – kausal, finalistisch oder programmatisch9. •





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Der erste Weg läuft hinaus auf eine Frage nach Ursachen und Folgen (einer Entwicklung) – dem soll in vorliegender Arbeit insofern Rechnung getragen werden, als dass Greenaways Filme zum allergrößten Teil in chronologischer Reihenfolge behandelt werden: erst die früheren Filme („experimentelle“ Kurzfilme, in Freizeit-Arbeit mit geringstem Budget auf geborgtem Equipment zusammengebastelt), dann die späteren (abendfüllende Spielfilme, in großem Rahmen mit avancierter Technologie für ein zahlendes Publikum produziert), wobei letztere auf ersteren aufbauen und diese, sei es nach motivischen oder thematischen, ästhetischen oder technischen, „inhaltlichen“ oder „formalen“ Gesichtspunkten, fortsetzen und weiterführen. Der zweite Weg läuft hinaus auf eine Frage nach Motiven und Zielen (einer Schöpfung) – dem soll in vorliegender Arbeit insofern Rechnung getragen werden, als dass Greenaways Filme als Projekt, als fortlaufende Arbeit an einem künstlerischen Entwurf behandelt werden – das Projekt eines Cinema of Ideas10, das dann im multimedialen Großprojekt THE TULSE LUPER SUITCASES seine (vorläufige) Erfüllung und Vollendung findet. Der dritte Weg läuft hinaus auf eine Frage nach einer Temporalisierung von Komplexität als einer (prozessualen) Verwirklichung von Möglichkeiten (innerhalb einer Struktur)11 – dem soll in vorliegender Arbeit insofern Rechnung getragen werden, als dass Greenaways filmisches Universum seiner „personal mythology“12 eben auch als Mythos untersucht wird, d.h., nach Lévi-Strauss, als variierende Anwendung eines invarianten Schemas in der Gesamtheit seiner

Vgl. Flusser, Vilém: Unser Programm, in: ders.: Nachgeschichten, S. 69-74. Vgl. dazu die Trias von entwicklungs-, schöpfungs- oder evolutionstheoretischen Ansätzen bei Luhmann, Niklas: Evolution – kein Menschenbild, in: Kreuzer, Franz / Riedl, Rupert J.: Evolution und Menschenbild, Hamburg 1983, S. 193-205, S. 195. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 28. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 76ff. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 29.

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Varianten13. Mit den von Greenaway wie auch von Peter Wollen gern zitierten Worten Jean Renoirs: „Everyone really only makes one film in his life, and then he breaks it up into fragments and makes it again, with just a few little variations each time“14 – was als Leistung gleichwohl nicht zu unterschätzen ist, wenn, mit Douglas Hofstadter, ein Thema zu variieren ja die eigentliche Crux der Kreativität darstellt15. Und schließlich ist die Frage, ob diese drei Wege sinnvoll integriert werden können16, und, damit verknüpft, ob das Œuvre Greenaways angemessen begriffen werden kann, wenn man es, mit Niklas Luhmann, als System begreift17 (wenngleich das „System Peter Greenaway“ ja als Titel leider schon vergeben ist18). Dabei bedarf dann die Entscheidung, Luhmanns Systemtheorie als Methodik dieser Untersuchung zu verwenden, vielleicht ebenso der Rechtfertigung wie die Entscheidung, Greenaways Werk zu ihrem Gegenstand zu nehmen – lässt sich doch von beiden gleichermaßen sagen, dass die Programme, die sich mit diesen Namen je verbinden, sich selber derart zwischen alle Stühle plaziert haben, dass sie nicht nur sich nicht durchsetzen konnten, sondern in aller Regel vielmehr abgelehnt werden – und so, nach ihrem gemeinsamen heyday in den Achtzigerjahren, womöglich langsam in Vergessenheit geraten19. Tatsächlich lassen sich die Unternehmen Greenaways und Luhmanns in gewissem Sinn als „Parallelaktion“ begreifen: Beide projektieren eine neue Gesellschaftstheorie bzw. ein neues Kino, weil 13

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Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 238ff. Dazu, und vor allem hinsichtlich der Rede von einer Temporalisierung von Komplexität, sei zugestanden, dass, zumal etwa in einer Mehrzahl von Gesellschaften, die verschiedene Territorien evtl. zur selben Zeit bewohnen, natürlich mehrere Versionen ein und desselben Mythos zugleich bestehen (und/oder sich verändern) können – während dagegen ein Filmemacher aber immer nur einen Film auf einmal machen und ein Werk nur sukzessive schaffen kann. Marcorelles, Louis: Conversation with Jean Renoir, in: Cardullo, Bert (Hg.): Jean Renoir. Interviews, Jackson (MS) 2005, S. 105-120, S. 113. Vgl. Buchholz / Künzel: Two Things That Count, S. 58; Wollen, Peter: Signs and Meaning in the Cinema, Bloomington (IN) 1972, S. 104. Hofstadter, Douglas R.: Variationen über ein Thema als Crux der Kreativität, in: ders.: Metamagicum. Fragen nach der Essenz von Geist und Struktur, Stuttgart 1988, S. 239-266. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 10. Vgl. ders.: Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, in: ders. / Habermas, Jürgen: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt am Main 1971, S. 7-24, S. 7. Spielmann: Intermedialität. Vgl. Baecker, Dirk: Einleitung, in: ders. (Hg.): Schlüsselwerke der Systemtheorie, Wiesbaden 2005, S. 9-19; Stichweh, Rudolf: Niklas Luhmann, in: Kaesler, Dirk (Hg.): Klassiker der Soziologie. Band 2: Von Talcott Parsons bis Pierre Bourdieu, München 1999, S. 206-229, S. 225; Müller, Harro: Systemtheorie / Literaturwissenschaft, in: Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1997, S. 208-224, S. 221; Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 1; Matwychuk, Paul: Faded Greenaway, zitiert nach: http://mgoer.blogspot.com/ 2008/01/faded-greenaway.html (29.03.2009).

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

seit den jeweiligen „Klassikern“ (Durkheim, Simmel, Weber bzw. Griffith) nichts mehr passiert und so die Soziologie der gegenwärtigen Gesellschaft bzw. das Kino der gegenwärtigen Medienlandschaft nicht mehr angemessen sei; doch wie Greenaways Filmen dabei Elitismus, Manierismus, Formalismus, Intellektualismus und „cold, distant, pretentious game-playing“ vorgeworfen wird20 (und Greenaway selber ein gerüttelt Maß an Selbstbezogenheit, Selbstinszenierung, Selbstverliebtheit21), so sei auch Luhmanns Arbeit elitistisch, manieristisch und so redundant wie unverständlich (wobei sie fehlenden Realitätsbezug durch Selbstabschließung und Resistenz gegen Kritik durch Selbstbestätigung ausgleiche22); und wie Greenaways Filme ihr Publikum entzweiten in „those who are prepared to entertain his conceits and play the game, and others for whom a Greenaway film is about as exciting as a guided tour through an ancient museum where the catalogue has been lost”23 (oder stärker noch: in „Anhänger“ und „Feinde“24), so sei entsprechend Luhmanns Arbeit für die Einen wohl „eine Art Weltformel“, für die Anderen aber „nichts weiter als ein papiergewordenes Konglomerat gebetsmühlenhaft wiederholter theoretischer Konstrukte – ohne Substanz, leer in sich kreisend, und doch gesteigert bis zur perfekten SelbstApologie“25, kurz: eine reine Selbstinszenierung „gelehrt-verbrämten Unsinns“26; womit angesichts einer solchen Polarisierungsfähigkeit schließlich neben dem Interesse an einer Umstellung von Was-Fragen auf WieFragen („I truly believe“, so Greenaway, „that what matters is not what happens, but how it happens“27) noch auf eine weitere Gemeinsamkeit von

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Zusammenfassend Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 3. Vgl. Göttler, Fritz: Gegen-Sätze zu Prospero, in: filmwärts 21(1992), S. 40-42; Kilb, Andreas: Peter Greenaway oder Der Bauch des Kalligraphen, in: Felix, Jürgen (Hg.): Die Postmoderne im Kino. Ein Reader, Marburg 2002, S. 230-283; Thomson, David: Eintrag „Peter Greenaway“, in: ders.: A Biographical Dictionary of Film, London / New York (NY) / Toronto 1994, S. 302f. Vgl. Obrecht, Werner / Zwicky, Heinrich: Theorie als Selbstbestätigung – Zur Kritik der Luhmannschen Systemtheorie und ihrer Popularität in der Sozialen Arbeit, in: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik 32(2002), Heft 5, S. 483-498; Neckel, Sighard: So bleibt uns die Marmelade ein ewiges Rätsel, in: taz – die tageszeitung 05.07.1991, S. 13. Barker, Adam, in: A Tale of Two Magicians, in: Sight and Sound 1(1991), S. 27-30, S. 27. Luksch, Manu: Das Medium ist die Botschaft. Interview mit Peter Greenaway, zitiert nach: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6111/2.html (29.03.2009). Merz-Benz, Peter-Ulrich / Wagner, Gerhard: Vorwort, in: dies. (Hg.): Die Logik der Systeme. Zur Kritik der systemtheoretischen Soziologie Niklas Luhmanns, Konstanz 2000, S. 9-11, S. 9. Esser, Hartmut / Klenovits, Klaus / Zehnpfennig, Helmut: Wissenschaftstheorie. Band 2: Funktionsanalyse und hermeneutisch-dialektische Ansätze, Stuttgart 1977, S. 61. Kilb, Andreas: I am the Cook. A Conversation with Peter Greenaway, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 60-65, S. 61. Vgl. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 62f., 98f.; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 48.

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Greenaway und Luhmann hinzuweisen ist – die „Lust an der Provokation oder Lust am Unsinn oder wie auch immer“28. Zumindest – das sei freilich zugegeben – kann Luhmanns Systemtheorie wohl kaum beanspruchen, das einzig mögliche (oder auch nur das „mit Sicherheit beste“) Angebot für eine Analyse von Greenaways Filmen darzustellen (zumal, wenn schon qua Selbsteinschätzung zumindest Unsicherheit darüber bestehen muss, ob es sich bei der Systemtheorie überhaupt um eine, was Kunst betrifft: „hilfreiche“ Theorie handelt oder nicht29, auf jeden Fall aber „ein Besserwissen im Bereich der kritischen Kunstbetrachtung“ schon einmal ausgeschlossen wird30); aber sie bringt, mit der „Zentralstellung, die sie dem Konzept der Selbstreferenz zuweist“, für diese Aufgabe doch „besondere Affinitäten“ mit: „Einer Theorie, die ihre Gegenstände als selbstreferentielle Systeme auffasst, fällt es umso leichter, ihre eigene Selbstreferenz zu präsentieren“31, und genau diese doppelte Reflexivität ist es dann auch, die als auszeichnendes theoretisches Leistungsmerkmal analytisch in Anschlag zu bringen ist32 – wenngleich man immer fragen mag, ob dann eventuell nicht nur der filmische Teufel mit dem theoretischen Beelzebul ausgetrieben wird, wenn man der „cinematic megalomania“33 eines pedantischen Buchhalters qua Selbststilisierung34 mit dem „Größenwahnsinn eines deutschen Verwaltungsbeamten“35 beizukommen sucht. Was aber heißt es (und was bringt es?), von Systemen überhaupt zu sprechen?

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Zitiert nach: Stanitzek, Georg: Schwierigkeiten mit dem Aufhören. Interview mit Niklas Luhmann, in: ders. / Baecker, Dirk (Hg.): Niklas Luhmann – Archimedes und wir. Interviews, Berlin 1987, S. 74-98, S. 93, wie Greenaway auch geradezu „a need for provocation“ postuliert (zitiert nach: Kilb: I am the Cook, S. 61). Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 9. Dies ist auch natürlich keine neue Frage, sondern wird in unterschiedlichen Zusammenhängen seit Jahrzehnten diskutiert. Vgl. die Sammelbände De Berg, Henk / Prangel, Matthias (Hg.): Kommunikation und Differenz. Systemtheoretische Ansätze in der Literatur- und Kunstwissenschaft, Opladen 1993; dies. (Hg.): Differenzen. Systemtheorie zwischen Dekonstruktion und Konstruktivismus, Tübingen und Basel 1995; dies. (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik; Fohrmann, Jürgen / Müller, Harro (Hg.): Systemtheorie der Literatur, München 1996; Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Luhmann, Niklas: Eine Redeskription „romantischer Kunst“, in: Fohrmann / Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur, S. 325-344, S. 325. Ders.: Soziale Systeme, S. 659f. Wie sich im folgenden Kapitel zu VERTICAL FEATURES REMAKE auch erweisen wird. Greenaway, Peter: The Stairs 1. Geneva – The Location / Genève – Le Cadrage, London 1994, S. 39. „I'm not simply a bureaucrat, I'm a clerk, I enjoy collation, numeration, collecting and cataloguing …” (Have We Seen Any Cinema Yet? Vortrag im August 1999 in Saas-Fee, zitiert nach: http://www.egs.edu/faculty/greenaway/greenaway-cinema1999.html (29.03.2009), o.S.) Jahraus: Theorieschleife, S. 19.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

Observing Systems Versteht man ein System als „ein methodisch geordnetes Ganzes, welches aus Teilen oder Gliedern besteht und Ergebnis einer ,Zusammenstellung‘ ist“36, so ließe sich der Begriff auch und besonders etwa auf eine Museumsausstellung anwenden. Entsprechend beschreibt Greenaway im Katalog zu seiner Wiener Austellung HUNDRED OBJECTS TO REPRESENT THE WORLD im Jahre 1992 diese Ausstellung selbst als „a collection of artifacts assembled in one space, with one idea, one heading, from one curator“ – um genau an diesem Anspruch einer ebenso einheitlichen wie umfassenden Systematik auch ihre „vainglorious self-mocking ambition“ festzumachen: „Not so long ago, the Americans sent a payload off into space to represent the world. You were not asked to contribute to this representation and neither was I, so what sort of world were they seeking to represent if you and I were not asked? If you and I were not consulted or represented, could their efforts be considered to have made a contribution to any picture an extra-terrestial might have of Earth? The spaceship’s payload was limited. It is well understood that they could not send the British Museum Reading Room or the New York Metropolitan Museum of Art, or the Louvre, or the Taj Mahal or the Great Pyramid of Cheops or St. Peter’s, Rome. [...] They could manage a photograph of each one of these buildings and the photograph could, possibly, tell you about photography and paper and and maybe, if scrupulously investigated, tell you about cameras, light-sensitivity, acetate, silver nitrate, pulped rags – maybe. Could the photographs tell you about relative scale and building materials, Shakespeare, books, stuffed animals, the Mona Lisa, I.M. Pei, grief, Hinduism, triangles, despotism, Michelangelo, Christianity and cruxification the right way up or cruxification upside down? [...] But these niceties, fascinating perhaps to us, will be singularly lost on our extra-terrestials, for before that spaceship has travelled one light-year, to the fortunate or unfortunate alien, it might just as well represent the Emperor Ho Ching in the China of 543 BC, or the Aborigine population of Southern Australia four thousand years before that, or indeed the population of Vancouver Island four thousand years hence.“37

Neben diesen Unzulänglichkeiten aller bisherigen Versuche, die Welt zu repräsentieren, sei aber der beste Beleg für die fundamentale Widersinnigkeit aller Repräsentation („representation [of all kinds] is fraught with contradictory and paradoxical considerations“38) dann schließlich Greenaways Ausstellung selbst; und so beschreibt er auch, mit deutlichen Bezug auf Mallarmé („tout, au monde, existe pour aboutir à un livre“39), ihr

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Vgl. Strub, Christian: Eintrag „System“, in: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 10, Basel 1998, S. 824-856. Greenaway, Peter: Hundert Objekte zeigen die Welt / Hundred Objects to Represent the World. Ausstellung anlässlich der 300-Jahr-Feier der Akademie der bildenden Künste Wien, Stuttgart 1992, o.S. Ebd. Mallarmé, Stéphane: Das Buch betreffend, in: ders.: Werke. Band 2: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch. Hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel. Mit einer Einleitung von Bettina Rommel, Gerlingen 1998, S. 232-263, S. 254.

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System und Mythos

einhundertstes und letztes Exponat, mit dem die Ausstellung zu ihrem Ende wieder auf sich selbst zurückkommt: als ihr eigener Gegenstand nämlich. „It has been said that all the world exists to be put in a book, that everything can be related by being exhibited in the same book. This exhibit demonstrates catalogues, lists, list-making systems, taxonomies, and this very exhibition. Exhibit 100 will be the catalogue of the exhibition, displayed under a spotlight on a two metre high white marble pedestal, under a cubic glass case approached by three small steps on all four sides. It will be open at the page that comments on Exhibit 100 that shows the Exhibition Catalogue open at the page that comments Exhibit 100 that ...“40

Analog zur vainglorious self-mocking ambition (und gleichzeitigen deliberate self-referential constitution) seiner Ausstellung formuliert Greenaway auch sein filmisches Anliegen: „I want to make films that rationally represent all the world in one place. That mocks human effort because you cannot do that.“41 Tatsächlich ist die Unmöglichkeit dieses Vorhabens auch leicht einzusehen, denn lässt sich weder in Büchern noch in Filmen oder sonstwo alles unterbringen, was es gibt (nicht einmal alles, was man weiß); und zwar schon allein schon deswegen, weil dafür schlicht nicht genug Platz ist42 (also auch nicht in den Voyager-Sonden oder in der Wiener Hofburg); 2. ist, insofern jeder Beobachter das, was er beobachtet, von allem anderen, also auch von sich selbst unterscheiden muss, die Welt eben nicht für alle Beobachter dieselbe43, sondern jeder Beobachter vielmehr „Konstrukteur einer Welt, die nur ihm so erscheint, als ob sie das sei, als was sie erscheint“44 (und zwar gleichgültig, ob es sich bei diesem Beobachter um Carl Sagan oder Peter Greenaway oder einen Besucher seiner Ausstellung handelt); 45 3. kann die Welt nur innerhalb der Welt repräsentiert werden , müsste also, bei Anspruch auf Vollständigkeit, auch ihre eigene Repräsentation noch mitrepräsentieren (mitsamt der Repräsentation dieser Repräsentation usw. usf.), was dann nie zu einer Erfüllung der gestellten Aufgabe führte, sondern nur in einen infiniten Regress (wie bei Greenaways Ausstellungskatalog, der zugleich auch Exponat ist); und 1.

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Greenaway: Hundert Objekte zeigen die Welt / Hundred Objects to Represent the World, o.S. Dass alles auf der Welt durch Aufführung im selben Buch miteinander in Zusammenhang gebracht werden kann, hat Mallarmé dann freilich nicht behauptet, sondern Greenaway höchstselbst – im selben Buch! Zitiert nach Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 2. Vgl. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 657; eine Einsicht, hinter welche die vorliegende Arbeit für sich selbst bisweilen vielleicht auch zurückzufallen droht ... Ders.: Europäische Rationalität, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 51-91, S. 62; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 155. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 468. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 716.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“ 4.

ist die Welt als Welt (d.h. in ihrer Einheit) grundsätzlich unbeobachtbar, und dies nun, paradoxerweise, gerade durch das Installieren von Beobachtungsmöglichkeiten46; denn um sich selbst beobachten zu können, so George Spencer Brown, „muss sie sich offenbar trennen in mindestens einen Zustand, der sieht, und in mindestens einen anderen Zustand, der gesehen wird. In diesem getrennten und verstümmelten Zustand ist, was immer sie sieht, nur zum Teil sie selbst. Wir können annehmen, dass die Welt unzweifelhaft sie selbst ist (d.h. von sich selbst nicht verschieden), aber bei jedem Versuch sich selbst als Objekt zu sehen muss sie ebenso unzweifelhaft so agieren, um sich von sich selbst verschieden zu machen und daher sich selbst untreu zu werden. Unter dieser Bedingung wird sie sich immer sich selbst teilweise entziehen“47,

so dass sie zu sich selbst in eine uneinholbare Differenz gerät, die eine repräsentative „Selbstpräsenz“ unmöglich macht, eben weil jedweder Versuch, die eigene Identität als Differenzlosigkeit zu beobachten, diese Differenzlosigkeit im Moment des Versuches selber aufhebt; einen supponierten „prädistinktiven“ unmarked state der Welt im Sinne Spencer Browns aber kann die Beobachtung auch nur verletzen, nicht repräsentieren, und erst recht nicht: wiederherstellen48. To rationally represent all the world in one place: „Ein unsinniges Vorhaben, dessen Scheitern vorprogrammiert ist – vielleicht ist das der eigentliche Antrieb für Peter Greenaway, Filme zu machen“49, ganz sicher aber auch der Grund für sein Interesse an Systemen: „I’m not just interested in systems per se. I am interested in the absurdity of systems.“50 Wie Greenaway erklärt: „In gewisser Weise bauen meine Filme einerseits Systeme auf und verbringen andererseits die dazu notwendigen zwei Stunden damit, sich über diese

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Ders.: Identität – was oder wie?, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 14-30, S. 18. Spencer Brown, George: Laws of Form. Gesetze der Form. Internationale Ausgabe, Lübeck 1997, S. 91. Vgl. Jahraus, Oliver: Theorieschleife. Systemtheorie, Dekonstruktion und Medientheorie, Wien 2001, S. 36f.; Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 74, 213; zur Begriffsverwendung: ders.: Die Kunst der Gesellschaft S. 51f., Anm. 63; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 718f.; ders.: Sthenographie und Euryalistik, in: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, S. 58-82, S. 70; Fuchs, Peter: Vom Zweitlosen: Paradoxe Kommunikation im Zen-Buddhismus, in: ders. / Luhmann, Niklas: Reden und Schweigen, Frankfurt am Main 1989, S. 46-69, S. 54. Klinger, Thomas W.: Lebensextrakte. Die Filme des Peter Greenaway, in: Filmwerkstatt Münster (Hg.): Peter Greenaway in Münster, Münster 1991, S. 4-23, S. 23. Zitiert nach: Linssen, Dana: 111 Years of Illustrated Text. An Interview with Peter Greenaway, zitiert nach: http://dss.submarine.nl/greenaway_interview-H264.mov (29.03.2009).

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System und Mythos

Systeme lustig zu machen“51 – die Einsichten kombinierend, dass man, mit Heinrich Rickert, zwar nur durch das System vom Chaos zum Kosmos kommen kann52, zugleich aber mit Shaftesbury auch gilt, dass „the most ingenious way of becoming foolish, is by a System“53. Die Systeme, von denen Greenaway hier spricht: semiotische, ästhetische, biologische, anthropologische, mythologische, kosmologische etc., versteht er dabei als „attempts to classify chaos [...] to demonstrate that there is an order and an objectivity in the world“54 – also als epistemologische Ontologien55, wie sie eine „realistische“ Wissenschaftsauffassung und ihr Weltbild auszeichnen: „Die Gelehrten“, so George Gaylord Simpson, „ertragen Zweifel und das Scheitern, weil sie nicht anders können. Aber Unordnung ist das einzige, das sie nicht dulden können und dürfen. [...] Dennoch ist es das grundlegende Postulat der Wissenschaft, dass die Natur selbst geordnet ist ... In ihrem theoretischen Teil lässt sich die Wissenschaft auf Herstellung von Ordnung reduzieren, und wenn es wahr ist, dass die Systematik in einer solchen Herstellung von Ordnung besteht, dann können die Termini der Systematik und der theoretischen Wissenschaft als Synonyme angesehen werden“56,

und Aufgabe einer solchen „wissenschaftlichen Systematik“ ist es dann, nach Willi Hennig, nicht, „in die Fülle der Einzelerscheinungen Ordnung hineinzubringen, sondern die ihr innewohnende Ordnung zu ergründen und darzustellen“57. Gewiss kann in diesem Sinne gegenüber einer als bedrohliches Chaos erlebten Welt eine Klassifizierung der Objekte dazu beitragen, „den Anfang einer Ordnung im Universum zu etablieren“ – und wie immer eine Klassifizierung aussehen mag, so Lévi-Strauss, sie ist immer noch besser als keine Klassifizierung58 (wiewohl es andererseits, mit Borges und Eco, auch keine einzige Klassifizierung des Universums gäbe, die nicht vollkommen willkürlich und bloße Mutmaßung wäre59) – nur ist das Ergebnis dann kein System im hier zu verwendenden Sinne des Begriffs, sondern eben eine 51 52 53

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Waldner, Martin: Besessen von der Idee des Katalogisierens, in: Filmbulletin 5(1989), S. 20-26, S. 22. Rickert, Heinrich: System der Philosophie. Erster Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921, S. 11. Cooper, Anthony Ashley, Earl of Shaftesbury: Soliloquy, or Advice to an Author, in: ders.: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, Hildesheim / New York (NY) 1978 (Reprint der Ausgabe o. O. 1714). Band 1, S. 151-364, S. 290. Andrew: A Walk through Greenaway, S. 4. Luhmann: Soziale Systeme, S. 379; vgl. auch Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München 1994, S. 357ff. Simpson, George Gaylord: Principles of Animal Taxonomy, New York (NY) 1961, S. 5, zitiert nach Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1968, S. 21. Hennig, Willi: Grundzüge einer Theorie der phylogenetischen Systematik, Berlin 1950, S. 7. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 21. Borges: Die analytische Sprache John Wilkins’, S. 112; Eco, Umberto: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, München 1994, S. 216.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

Systematik (das Englische verwendet beide Wörter synonym), und d.h. letztlich: eine Art Namensgebung60 (wie auch schon Adam eine praktizierte, der sich dabei aber im Unterschied zu uns Heutigen noch auf deren vollkommene Erkenntnis der Dinge im Namen verlassen konnte61), oder, im Sinne Greenaways, ein Akt des „absurd yet inevitable human desire to put all things in one place, to try and make a programme that united the angels in their heavens to the stones on the road“62. „Systems“, so Dirk Baecker, „seem to suggest that there is more order and reason in the world than any of us is ready to admit and able to account for“63: Der Systembegriff im Sinne Friedrich Theodor Vischers eines wie immer „amphibolischen“ Versuchs, „das Weltall im Begriff nachzubauen“64, ist also insofern ebenso verführerisch wie missverständlich, als dass er in gewissem Sinne immer einen Mythos bezeichnet, wenn, mit Lévi-Strauss, ein Mythos dem Menschen die Illusion verschafft, dass er das Universum verstehen könne und es auch tatsächlich versteht – was aber natürlich eben auch nur eine Illusion ist65. Wie er aber im Rahmen vorliegender Arbeit verwendet werden soll, bezeichnet der Systembegriff •





weder die Entsprechung einer (immer schon vorausgesetzten) „geordneten Verfasstheit des Weltalls“ und ihrer theoretischen Beschreibung (als systema mundi)66 noch eine „Gliederung und Verkettung der menschlichen Kenntnisse“ als Aufstellung von „alle[m], was die Menschen bis in unsere Tage in den Wissenschaften und Künsten entdeckt haben“ (als système encyclopédique)67, noch eine „letztgültige Einheit des Wissens“ im „einhellige[n] Zusammenstand der Wahrheiten“ (als System der Philosophie)68.

Gemeint ist, wie jetzt näher auszuführen, etwas anderes. 60 61

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Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 42. Gen 2,19-20; vgl. Benjamin, Walter: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band II.1: Aufsätze, Essays, Vorträge, Frankfurt am Main 1977, S. 140-157. Greenaway: Introduction / Early Films 2. Baecker, Dirk: Why Systems?, in: Theory Culture & Society 1(2001), S. 59-74, S. 59. Vischer, Friedrich Theodor: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, Berlin 1879. Band 2, S. 450. Lévi-Strauss, Claude: „Primitives“ Denken und „zivilisiertes“ Denken, in: ders.: Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Gespräche mit Claude Lévi-Strauss, hg. von Adelbert Reif, Frankfurt am Main 1980, S. 27-46, S. 29f. Strub: „System“, S. 825. D’Alembert, Jean Lerond: Discours Préliminaire de l’Encyclopédie / Einleitung zur Enzyklopädie. Zweisprachige Ausgabe. Hg. und eingeleitet von Erich Köhler, Hamburg 1955, S. 6, 13, 195. Natorp, Paul: Philosophische Systematik. Mit einer Gedenkrede zum 100. Geburtstag am 24.1.1954 von Hans-Georg Gadamer. Einleitung und textkritische Anmerkungen von Hinrich Knittermeyer, Hamburg 2000, S. 1.

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System und Mythos

Selbstreferentielle Systeme „Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es Systeme gibt“69 – so beginnt Luhmann seinen „Grundriss einer allgemeinen Theorie“, was dann aber keineswegs einen „Sonderobjektbereich“ ebendieser Theorie eröffnen70, sondern lediglich und mehr oder weniger tautologisch besagen soll, dass es Forschungsgegenstände gibt, „die Merkmale aufweisen, die es rechtfertigen, den Systembegriff anzuwenden“, und dass eine solche Rechtfertigung dann gegeben ist, „wenn man Merkmale vor Augen hat, deren Entfallen den Charakter eines Gegenstandes als System in Frage stellen würde“71. Die Identifizierung von etwas als System (was immer das sein soll) ist also grundsätzlich erst einmal eine Beobachterleistung72, beobachten aber können wieder nur: Systeme73. Das ist wiederum natürlich zirkulär, macht es aber andererseits auch möglich, vom Beobachtungsbegriff aus zum Systembegriff zu kommen, denn Beobachtungen, so Luhmann, sind immer durch „rekursive Vernetzungen motiviert [...], und zwar teils durch vorherige Beobachtungen, also durch Gedächtnis, und teils durch Anschlussfähigkeit, d.h. durch einen Vorausblick auf das, was man damit anfangen kann oder wohin man von da aus kommen kann [...]. Insofern ist Beobachtung immer [...] Operation eines beobachtenden Systems. Sie kann nicht als singuläres Ereignis stattfinden; oder genauer: wenn solche Ereignisse stattfinden, sind sie nicht als Beobachtungen beobachtbar.“74

Systeme also „sind“ zunächst der rekursive Zusammenhang ihrer eigenen Operationen75 und „bestehen“ insofern aus Ereignissen bzw. in einer geordneten Sukzession von Ereignissen – aber eben aus solchen Ereignissen, „die für ihr Entstehen und Vergehen auf das System angewiesen sind, also isoliert nicht vorkommen können“76, die für ihr Zustandekommen – ebenso wie auch für ihr Verständnis – „den Systemkontext des Vorher / Nachher“ voraussetzen77; im Falle sozialer Systeme sind dies Kommunikationen. Das System setzt also Elemente, die Elemente aber setzen das System voraus, so wie analog nach Georg Anton Friedrich Ast das „Grundgesetz allen Verstehens“ darin liegt, „aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden, und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen“78 – die Henne / Ei-Problematik 69 70 71 72

73 74 75 76 77 78

Luhmann: Soziale Systeme, S. 30. Ders.: Warum „Systemtheorie“?, S. 5. Ders.: Soziale Systeme, S. 15f. Vgl. ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 62: „Alles, was als Einheit fungiert, fungiert durch einen Beobachter für einen Beobachter als Einheit. Wenn immer man denkt oder sagt: es ,gibt‘ eine Sache, es ,gibt‘ eine Welt, und damit mehr meint als nur, es gibt etwas, das ist, wie es ist, dann ist ein Beobachter involviert.“ Ders.: Soziale Systeme, S. 25. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 100. Ebd., S. 22. Ebd., S. 37. Ders.: Systeme verstehen Systeme, S. 85. Ast, Georg Anton Friedrich: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, S. 178.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

des berühmten hermeneutischen Zirkels. Ast allerdings löst diesen Zirkel, nachdem er ihn selbst eingeführt hat, dann sogleich auch wieder dadurch auf, dass das Ganze den Teilen doch irgendwie vorgängig sei und sie gewissermaßen „immer schon“ bzw. virtuell enthalte, so dass die (derivierten) Teile das (ursprüngliche) Ganze je für sich nur „offenbarten“79; Luhmann dagegen umgeht dieses Problem zunächst ganz einfach dadurch, dass er für seinen Systembegriff die „traditionelle“ Differenz von Ganzem und Teil durch die Differenz von System und Umwelt ersetzt80: „In der ontologischen Denktradition wird System durch die Begriffe Ganzes, Teil und Beziehung definiert. Ein System besteht darin, dass Einheiten (Substanzen) durch Beziehungen als Teile zu einem Ganzen verbunden werden. Das System ist die Interdependenz der Teile im Rahmen eines Ganzen. Die Art, wie die Teile zu einem Ganzen zusammengesetzt sind, macht die Struktur des Systems aus. [...] Der ontologische Systembegriff hat einen entscheidenden Mangel: Er isoliert das System auf interne Beziehungen und vernachlässigt dessen Umwelt. Seine Systeme sind, wie Substanzen, selbstgenügsame Einheiten. So kommt das kaum zur Sprache, was ein System als Leistungszusammenhang erst verständlich macht: dass sein Bestand in einer veränderlichen Umwelt stets problematisch ist, dass es, um sich in einer solchen Umwelt unverändert zu halten, einer inneren Ordnung bedarf, die der Systemerhaltung dienen kann. [...] Die funktionale Analyse muss diese Problematik in ihrem Systembegriff zum Ausdruck bringen. Sie definiert System durch relative Invarianz seiner Grenzen gegenüber einer Umwelt.“81

Systeme konstituieren sich demnach – insofern die Operationen eines Systems einleuchtenderweise nur innerhalb dieses Systems stattfinden können (es also „operativ geschlossen“ ist)82 – durch eine Unterscheidung von Innen und Außen und erhalten sich durch die Stabilisierung dieser Grenze83, also im Grunde einfach dadurch, dass die systemkonstituierende Operationssequenz sich weiter fortsetzt. Diese Konzeption des Systembegriffs löst aber dessen Zirkularität nicht, wie bei Ast, mehr oder weniger gewaltsam auf, sondern führt vielmehr geradewegs zu einer bewussten „Selbstfundierung in einer Paradoxie“: „Ein System“, so Luhmann, „ist die Differenz von System und Umwelt, ist die Grenze, die eine innere Seite (System) und eine äußere Seite (Umwelt) trennt.“84 In der Definition des Systems kommt also, der klassischen Definitionslehre damit zuwider, im definiens das definiendum wieder vor – ein circulus in definiendo85 –, zudem widerspricht sie auch Russells und Whiteheads Theorie logischer Typen, nach der es „unter allen Umständen sinnlos sein [muss], anzunehmen, dass 79 80 81 82 83 84 85

Ebd., S. 180f. Luhmann: Soziale Systeme, S. 22. Ders.: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog 1994, Berlin 1999, 23f. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 28f. Ders.: Vertrauen, S. 91. Ders.: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 149-161, S. 156. Vgl. Buhr, Manfred / Klaus, Georg: Philosophisches Wörterbuch. Band 1, Berlin 1976, Einträge „circulus in definiendo“ / „circulus vitiosus“, S. 245.

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System und Mythos

eine Klasse mit einem ihrer eigenen Elemente identisch sei“86 (wie dies ja auch bei Greenaways Ausstellungskatalog der Fall ist). Ein System aber ist als Differenz von System und Umwelt Grenze und Innenseite der Grenze zugleich, ist mithin also genau diejenige Klasse, deren einziges Element es ist, und im Sinne von Russell und Whitehead daher eine „illegitime Gesamtheit“87. Aber damit nicht genug, denn nicht nur das System als die eine Seite der Unterscheidung von System und Umwelt kommt bei Luhmann zweimal vor, sondern zudem auch diese Unterscheidung selbst: nämlich einerseits „als durch das System produzierter Unterschied“ (als Verwendung einer Unterscheidung) und andererseits „als im System beobachteter Unterschied“ (als Feststellung eines Unterschiedes)88, d.h. als „fundamentale Paradoxie eines ,re-entry‘ einer Unterscheidung in sich selbst“89 – was nur eine andere Fassung für den Umstand ist, dass Systeme sich durch Selbstbeobachtung herstellen90. Luhmanns Systembegriff eignet nämlich die Besonderheit, dass Systeme hier als selbstreferentielle und autopoietische Systeme konzipiert sind, d.h. als solche, die die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst produzieren und reproduzieren, und deren Selbstreproduktion so als ein sich selbst bestimmender Prozess abläuft: als Sequenz von Operationen, die als ereignishafte Elemente eines Systems die Reproduktion der ereignishaften Elemente eines Systems leisten91. Diese Operationen – „auch die des Bewusstseins, auch die der Kommunikation“ – verlaufen erst einmal vollkommen blind: „Sie tun, was sie tun. Sie reproduzieren das System. Erst auf der Ebene des Beobachtens kommt Sinn ins Spiel, und zwar mit allen den Ausstattungen, die uns Logik und Hermeneutik vorführen.“92

Dabei sind auch Beobachtungen erst einmal Operationen, aber solche, die – im Anschluss an George Spencer Browns Indikationenkalkül – „im Rahmen einer Unterscheidung etwas bezeichnen“ und in denen diese Unterscheidung „zur Gewinnung von Information über das Bezeichnete benutzt wird“93 – etwa nach Maßgabe weiterer Unterscheidungen wie z.B. nützlich / schädlich, groß / klein, nah / fern, gut / schlecht usw.94 Einfache Operationen sind lediglich rekursiv angelegt, d.h. dass sie sich „durch Rückbezug auf sich selbst miteinander verhaken und dadurch Zusammenhänge bzw. Prozesse 86 87 88 89 90 91

92 93 94

Russell, Bertrand / Whitehead, Alfred North: Principia mathematica. Vorwort und Einleitungen. Mit einem Beitrag von Kurt Gödel, Frankfurt am Main 1986, S. 110. Ebd., S. 89. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 45, 56. Ders.: Zeichen als Form, in: Baecker, Dirk (Hg.): Probleme der Form, Frankfurt am Main 1993, S. 45-69, S. 49. Schwanitz: Systemtheorie und Literatur, S. 76. Luhmann, Niklas: Die Autopoiesis des Bewusstseins, in: ders.: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1990, S. 55-112, S. 56; ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 23; ders.: Soziale Systeme, S. 79. Ders.: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 125f. Ebd., S. 599, 597. Ders.: Systeme verstehen Systeme, S. 78.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

ermöglichen“95 – von einem Ereignis zum nächsten, insofern überhaupt (also eventuell auch: vollkommen zufällige oder vollkommen alternativlose) Anschlussmöglichkeiten bestehen. D.h. z.B., dass Kommunikation nur durch weitere Kommunikation fortgesetzt werden kann (und durch nichts anderes). Reflexivität ist demgegenüber gegeben, wenn eine Operation sich selber einem Prozess zurechnet, dessen Zugehörigkeitsmerkmale sie als für sich erfüllt feststellt, also: beobachtet. „Reflexivität nimmt also eine Einheitsbildung in Anspruch, die eine Mehrzahl von Elementen [...] zusammenfasst und der die Selbstreferenz selbst sich zurechnet.“96 Anders gesagt: „Als reflexiv wollen wir einen Prozess bezeichnen, der auf sich selbst oder auf einen Prozess gleicher Art angewandt wird. Rekursivität ist schon dann gewährleistet, wenn der Prozess von eigenen Ergebnissen profitiert, Reflexivität nur dann, wenn er sich selbst zum Gegenstand eigener Operationen machen, also sich selbst von anderen Prozessen unterscheiden kann“97,

so etwa, um in Hinblick auf seine weitere Fortsetzung den eigenen strukturell vorgegebenen Möglichkeitsraum abzuschätzen und dann selektionsverstärkend in sich selber einzugreifen. D.h. z.B., dass Kommunikation eventuell auch über Kommunikation kommunizieren kann (im Unterschied zu anderen, ebenfalls möglichen Themen). Reflexion schließlich vollzieht sich als Operation, mit der das System sich selbst im Unterschied von seiner Umwelt bezeichnet, sich also selbstbeobachtet und damit Identität gewinnt, genauer: „Identität im Unterschied zu allem anderen“98. D.h. z.B., dass Kommunikation über sich selbst kommunizieren kann, dass sie sich selber als Kommunikation etwa dem System der Wissenschaft zurechnet (und nicht etwa dem der Wirtschaft, Kunst, Politik oder Religion). In diesem Sinne bezeichnen Rekursion, Reflexivität und Reflexion dann die drei Formen von Selbstreferenz innerhalb von Systemen, d.h. die unterscheidungsgeführte Bezeichnung von etwas, in das die unterscheidende und bezeichnende Operation selbst eingeschlossen ist, ihre Identifizierung mit etwas, dem sie selber zugehört – eben dem jeweiligen „Selbst“ der Selbstreferenz, sei es auf Ebene der Elemente, der Prozesse oder der Einheit eines Systems99. Dabei darf aber das Konzept der Autopoiesis – gerade insofern das Selbst systemischer Selbstbeobachtung sich durch ebendiese Beobachtung erst herstellt – nicht als creatio ex nihilo missverstanden, sondern muss als „Emergenz von Elementareinheiten aus einem bereits existierenden materiellen Unterbau“ begriffen werden100: Denn einerseits setzt Kommunikation natürlich schon Leben und Bewusstsein voraus (die allerdings Autopoiesen eigenen Typs sind und wiederum anderen spezifischen Voraussetzungen unterliegen – so etwa natürlich auch derjenigen einer physikalisch funktio95 96 97 98 99 100

Ebd., S. 67. Ders.: Soziale Systeme, S. 601. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 333f. Ders.: Soziale Systeme, S. 252, 601. Ebd., S. 25, 600. Kneer, Georg / Nassehi, Armin: Verstehen des Verstehens. Eine systemtheoretische Revision der Hermeneutik, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 20 Heft 5, Oktober 1991, S. 341-356, S. 345.

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System und Mythos

nierenden Welt101), andererseits können autopoietische Systeme überhaupt erst dann entstehen, „wenn es zu Gegenwarten kommt, in denen rekursive Reproduktion eingerichtet werden kann. Das ist selbstverständlich nicht auf Grund einer beliebigen Vorgeschichte möglich“102, vielmehr sind gerade kommunikative Systeme nur als rekursive möglich, da sie ihre einzelnen Operationen nur durch Rückgriff und Vorgriff auf andere Operationen desselben Systems produzieren können103 – die fundamentale „Paradoxie des Anfangs, der sich selbst voraussetzt“104.

Das „System Peter Greenaway“ Wie kann ein solcher Ansatz nun für vorliegende Arbeit fruchtbar gemacht werden? Zunächst ließe sich natürlich geltend machen, dass der Systemtheorie als ausdrücklich interdisziplinär angelegtes „wissenschaftliches Kodifikationsschema“ vor anderen möglichen Analyseverfahren etwa der Vorzug vorkommt, „Komplexität und Interdependenz aller Phänomene [...] zu ihrem eigentlichen Thema und zum Gegenstand unseres Bewusstseins gemacht [zu] haben wie nie ein Ansatz zuvor“105 und damit „besonders gut zur Beschreibung und Analyse komplizierter Phänomene und Zusammenhänge“ geeignet zu sein106 – und in der Tat wird diese Arbeit ja herauszustellen suchen, dass und inwiefern es sich bei Greenaways Œuvre um ein hochkomplexes107, ja hyperkomplexes108 System handelt –, so dass insofern schon eine systemtheoretische Reformulierung auch bereits vorhandener Problemstellungen zu neuen Sichtweisen und praktikableren Lösungswegen und eventuell sogar auch: Lösungen führe109. Dabei besteht natürlich andererseits auch die Gefahr, dass derartige Import- und Applikationsversuche einer vermeintlich „netten, hilfsbereiten Theorie“110 lediglich einen (mehr oder weniger sinnvollen) Austausch von Terminologien leistet, so dass eventuell, fälschlicherdings, ein neues Wort einen neuen Begriff und ein neuer Begriff

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Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 102, ders.: Soziale Systeme, S. 296ff. Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 442. Ebd., S. 74. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 57. Händle, Frank / Jensen, Stefan: Einleitung, in: dies. (Hg.): Systemtheorie und Systemtechnik, München 1974, S. 7-61, S. 17. Huber, Hans Dieter: System und Wirkung. Rauschenberg – Twombly – Baruchello. Fragen der Interpretation und Bedeutung zeitgenössischer Kunst. Ein systemtheoretischer Ansatz, München 1989, S. 40. Vgl. Morin: Komplexität als Herausforderung, S. 98ff.; Luhmann: Haltlose Komplexität. Vgl. ders.: Soziale Systeme, S. 638; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 22, 876. Oder aber, mit Dirk Baecker, vielleicht zumindest auch dazu befähigt, „eine Frage zu stellen, die eine Antwort liefert, die man zuvor schon kennt, freilich auf eine Weise kennt, die man zuvor nicht zu sagen wusste“ (Baecker, Dirk: Kultur und Gewalt, in: ders.: Wozu Kultur?, Berlin 2003, S. 33-43, S. 34). Luhmann: Soziale Systeme, S. 164.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

ein neues Wissen suggeriert, das tatsächlich gar nicht vorhanden ist111, und z.B. dann infolge einer postulierten „systemtheoretischen Überbietung der Hermeneutik“112 keine systemtheoretisch informierte / orientierte / fundierte Literaturwissenschaft entsteht113, sondern eventuell nur eine „systemtheoretisch metaphorisierende ,Texthermeneutik‘“114. Wenn tatsächlich alles als System beschrieben werden können sollte – oder, so Hans Dieter Huber, jedenfalls „jeder Gegenstand und jeder Zusammenhang mit anderen Dingen“115 –, so lässt sich gemäß einer Unterscheidung von Ganzem und Teilen oder Element und Relation natürlich auch z.B. ein Gemälde als „ein mehr oder weniger kompliziertes System“ beschreiben, das dann „aus einer bestimmten Anzahl von Bildelementen besteht, zwischen denen Beziehungen verschiedenster Art bestehen“116 – womit im Grunde (und wiederum unter dem Label einer „Strukturanalyse“117) aber nur der Gestalt oder der Ordnung Rechnung getragen wird, die notwendig in einem Kunstwerk herrscht – so wie in jedem Formenarrangement, das nicht von selbst passiert118. Aber auch wenn ein Kunstwerk natürlich als Zusammenhang aus Teilen beschreibbar ist und damit vielleicht grundsätzlich auch in den Bereich des „Systematischen“ oder „Systematisierbaren“ fällt119, so ist es doch im hier verwendeten Sinne des Begriffes kein System, sondern als Kunstwerk lediglich ein „Objekt in den Grenzen eines Dings oder eines Prozesses“120, und während diese Objekte als „Programme für wiederholten Gebrauch“ unter Absehung ihres physischen Substrats dann „zeitabstrakte Gebilde“ sind121, so sind Systeme (die eben nicht aus Dingen, Bildern, Pigmenten, Buchstaben bestehen, sondern aus Ereignissen, und im Falle sozialer Systeme: aus Kommuni111 112 113

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Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 159. Kneer / Nassehi: Verstehen des Verstehens, S. 355. Vgl. Nassehi, Armin: Die Zeit des Textes. Zum Verhältnis von Kommunikation und Text, in: De Berg / Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik, S. 47-68, S. 48; Sill, Oliver: Literatur als Beobachtung zweiter Ordnung. Ein Beitrag zur systemtheoretischen Debatte in der Literaturwissenschaft, in: De Berg / Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik, S. 69-88, S. 69; Ort, Claus-Michael: Systemtheorie und Hermeneutik? Kritische Anmerkungen zu einer Theorieoption aus literaturwissenschaftlicher Sicht, in: De Berg / Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik, S. 143-171, S. 143. Ebd., S. 160. Ganz zu schweigen von der Frage, was denn genau als Analysegegenstand im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit zu stehen hätte: literarische Texte? literaturwissenschaftliche Theorieprogramme? Literatur als soziales Handlungssystem? Huber: System und Wirkung, S. 40. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 48, 131. Engell, Lorenz: Paradoxie, Indifferenz und Existenz. Abbas Kiarostamis „Quer durch den Olivenhain“ und Yves Barels „Paradoxe et système“, in: Furtwängler, Frank / Kirchmann, Kay / Schreitmüller, Andreas / Siebert, Jan (Hg.): Zwischen-Bilanz. Festschrift für Joachim Paech zum 60. Geburtstag, Konstanz 2002, http://www.uni-konstanz.de/paech2002/zdb/beitrg/Engell.htm (29.03.2009), o.S. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 62f. Ebd., S. 76.

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System und Mythos

kationen) temporalisiert: Ein System ist immer „ein aus Operationen bestehendes, also ereignishaftes, also real nur in der Zeit stattfindendes historisches Geschehen“122; Systeme kann man, so Moritz Bassler, im Unterschied zu Kunstwerken weder lesen noch anschauen123. Diese einschränkende Präzisierung legt es nahe, wenn man in ihrem Rahmen sinnvoll von Systemen sprechen will, das „System Peter Greenaway“ als einen abgrenzbaren Zusammenhang der Kommunikation durch und über Kunstwerke zu bestimmen, in dem dann diese rekursiv vernetzten Kunstwerke124 sowohl in sich als auch im Verhältnis zueinander Information bieten können müssen125, also: im Systemkontext des Vorher/Nachher, der wiederum auch die Grundlage zu ihrem Verständnis als je einzelne (aber eben: aneinander anschließende und aufeinander zurückgreifende) Kommunikationsereignisse liefert126, die sich untereinander und systemintern durch ihre je spezifische Informativität und von der systemexternen Umwelt durch die gemeinsame Zugehörigkeit zum System ihres Kommunikationszusammenhanges unterscheiden127. Bei dieser Bestimmung ist natürlich dann zu konzedieren, dass selbstverständlich bereits die Auswahl ihres begrifflichen Instrumentariums das eigentlich von ihr erst zu Bestimmende schon vor-bestimmt (und Greenaway-Studien natürlich auch, wie ja gesehen, rezeptionsästhetisch, intermedialitätstheoretisch, ikonologisch, kulturhistorisch oder auch gender-theoretisch, diskursanalytisch, dekonstruktivistisch etc. vorgehen können); andererseits aber darf wohl der mögliche Vorwurf, den (wie immer selbstkonstruierten) Gegenstand der Untersuchung auf unlautere Weise ihrer Methode angepasst oder gar mehr oder weniger gewaltsam zurechtgebogen zu haben („to have twisted the case around one’s own particular theory“, wie Greenaway es ausdrückt128), hoffentlich mit einigem Recht zurückgewiesen werden. Denn zum einen mag es, wenn man einen reflexiven Gegenstand behandelt, zumindest doch von Vorteil sein, eine Theorie zu verwenden, die selbst reflexiv ist und Reflexivität als Eigenschaft ihrer Objekte anerkennt129; zum anderen aber – 122 123

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Ebd. Bassler: Systeme kann man nicht lesen. Bassler seinerseits schlägt vor, „um die Theorievorteile der Systemtheorie für die Beschreibung von Texten und insbesondere vom Verhältnis des Textes zu seiner Umwelt [...] zu retten, [...], Texte so zu betrachten, als ob sie Systeme wären, also auf systemanaloge Eigenschaften hin“ (S. 396) – was in der Konsequenz dann wiederum auf einen systemtheoretisch verlängerten Strukturalismus hinausläuft (vgl. zur selben Problematik bei Dietrich Schwanitz Werber, Niels: Literatur als System, Opladen 1992, S. 21f.). Vgl. Kremer: Peter Greenaways Filme, S. 104. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 85, 89f. Ders.: Systeme verstehen Systeme, S. 85. Plumpe / Werber: Literatur ist codierbar, S. 26. Vgl. Willoquet-Maricondi, Paula: Two Interviews with Peter Greenaway, in: dies. / Alemany-Galway (Hg.): Peter Greenaway’s Postmodern / Poststructuralist Cinema, S. 301-320, S. 304: „French intellectuals always try very hard to draw a parallel in terms of my fantasy, my sense of romance, and slight sense of melancholia, but I think they are trying to twist the case around their own particular theory.“ Esposito, Elena: Das Problem der Reflexivität in den Medien und in der Theorie, in: Koschorke, Albrecht / Vismann, Cornelia (Hg.): Widerstände der Systemtheorie.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

da es eben nicht darum gehen soll, zu Lasten der eigentlichen Analyse nur eine im Hintergrund stehende grand theory zum Ausdruck zu bringen130 – soll gerade ja versucht werden, Greenaways Filme autologisch zu behandeln, d.h. nach Maßgabe und in Anwendung der in den Filmen dargestellten und verfolgten Strategien auf die Filme selbst. So kann z.B. auch die Abstellung auf den Systemcharakter von Greenaways Œuvre diesem selbst entnommen werden, wenn etwa in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT Mr. Neville und Mrs. Talmann die „Unschuld der Gegenstände“ diskutieren, die nach Ansicht des ersteren je nur das sind, was sie sind, nach Ansicht der letzteren aber, im Zusammenhang gesehen, nach Maßgabe der spezifischen medialen Limitierung ihrer Darstellung und in Abhängigkeit der Perspektive des Betrachters, besondere Signifikanz gewinnen: Mrs. Talmann:

Mr. Neville:

Mrs. Talmann: Mr. Neville: Mrs. Talmann: Mr. Neville:

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„In your drawing of the North side of the house my father’s cloakline wrapped around the feet of a figure of Bacchus. In the drawing of the prospect over which my husband turns an appreciative gaze you will have noticed that there is unclaimed a pair of riding boots. In the drawing of the park from the East side it is possible to see leaning against my father’s wardroom a ladder usually put to use for the collecting of apples. And in the drawing of the laundry there is a jacket of my father slit across the chest. Do you think that before long we might find the body that inhabited all those clothes?“ [...] „Four garnments and a ladder do not lead us to a corpse. [...] I look forward, Mrs. Talmann, to the eventual purpose and the outcome of this ingenuity. My last six drawings will be redolent of the mystery. I will proceed step by step to the heart of the matter.“ „Perhaps to the heart of my father, Mr. Neville?“ „Lying crimson on a piece of green grass?“ „What a pity, Mr. Neville, that your drawings are in black and white.“ „Now you rush ahead, Mrs. Talmann. The items are innocent.“

Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999, S. 133119, S. 115. Beuthan, Ralf: Perspektiven einer Philosophie des Films, in: Engell, Lorenz / Leitner, Birgit (Hg.): Philosophie des Films, Weimar 2007, S. 18-33, S. 24 – so, wie es nach Slavoj Žižek nachgerade Sinn und Zweck einer dann „postmodern“ zu nennenden Interpretation sei, in ihren Gegenständen vor allem „Darstellungen der esoterischsten theoretischen Finessen“ der von ihr je gewählten Autoren zu erkennen (Žižek, Slavoj: Alfred Hitchcock oder Die Form und ihre geschichtliche Vermittlung, in: ders. / Bozovic, Miran / Dolar, Mladen / Pelko, Stojan / Salecl, Renata / Zupancic, Alenka: Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten, Frankfurt am Main 2002, S. 11-23, S. 11). Wie ironisch das gemeint ist, bleibt dann allerdings sehr fraglich – gerade natürlich im Hinblick auf Žižek eigene Interpretation der Filme Alfred Hitchcocks mit der Theorie Lacans bzw. auf sein gerade umgekehrtes Vorhaben, „in bestimmte Lacansche Konzepte etwas Licht hineinzubringen, und das mithilfe einiger Filmbeispiele zur Illustration“ (ebd., S. 2).

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System und Mythos Mrs. Talmann:

„Taken one by one, they could be so construed. Taken together, you could be regarded as a witness to misadventure; more than a witness; an accessory to misadventure.“

Entsprechend – wenn die Direktiven für die Betrachtung eines Kunstwerks eben diesem Kunstwerk selber zu entnehmen sind131, wenn „the films themselves teach us how to look at them and how to think about them“132 – gilt es also zu beobachten, wie Greenaways Filme als eine kontinuierliche Selbstbeobachtung der Medienkultur133 deren Zustand und Evolution beschreiben, indem sie sich thematisch an spezifischen Bezugsproblemen jener „Realität der Massenmedien“ orientieren134, an der sie gleichfalls teilhaben und die sie gleichfalls auch erzeugen und die sie allein durch ihre Beschreibung schon verändern – und als Teil des Beschriebenen im Prozess der Beschreibung ihrerseits evoluieren! Das heißt zugleich, dass es in ihrer Analyse vorrangig nicht um eine „erklärende“ Interpretation des Geschehens und der Handlungen, Gedanken und Motive der Figuren der Filme gehen kann – auch Filme, so ließe sich im Anschluss an Hans-Georg Gadamer und Niels Werber sagen, „versteht“ man vermutlich erst dann, wenn man das Problem rekonstruiert hat, als dessen Lösung (oder wenigstens: Behandlung) sie sich anbieten135. 131 132

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Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 334. Vgl. Cavell, Stanley: What becomes of Thinking on Film. Stanley Cavell in Conversation with Andrew Klevan, in: Goodenough, Jerry / Read, Rupert (Hg.): Film as Philosophy. Essays on Cinema after Wittgenstein and Cavell, Houndmills (NY), S. 167-209, S. 186; ders.: Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage, Cambridge (MA) 1981, S. 25. Zum Begriff der Medienkultur siehe Engell: Ausfahrt nach Babylon, und weiter unten. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: ders.: Gesammelte Werke. Band 1: Hermeneutik I, Tübingen 1986, S. 375ff.; Werber, Niels: Systemtheorie als Literaturwissenschaft, in: Merkur 44(1990), S. 887-893, S. 693. Präzisierend bliebe nur hinzuzufügen, dass natürlich auch das rekonstruierte Problem des Films ein durch einen Beobachter konstruiertes Problem „ist“, also in erster Linie eben das Problem dieses Beobachters selbst – was zugleich auch die mögliche Frage, was Greenaway „uns“ eventuell hat mit dem Ganzen „sagen wollen“, als Sonderfall zuallermindest an den Rand rückt. Vgl. Schneider, Wolfgang Ludwig: Die Hermeneutik sozialer Systeme. Konvergenzen zwischen Systemtheorie und philosophischer Hermeneutik, in: Zeitschrift für Soziologie 6(1992), S. 420-439, S. 429: „Der Selektionshorizont des Auslegenden wird zum Kriterium der Textbedeutung. Er muss eine vom Text beantwortete Frage finden, die sich für ihn tatsächlich erhebt“. Das kann dann unter anderem natürlich auch die Frage danach sein, „was der Autor uns hat sagen wollen“, für welche wiederum der Selektionshorizont des Urhebers „Garant des Textsinnes“ ist – den zu verfehlen dann auch hieße, den ganzen Text misszuverstehen. Wenn aber „Verstehen“ immer ein systemrelativer Beobachtungsvorgang ist, so heißt das auch, dass ein systemexternes Kriterium für „richtiges“ Verstehen es nicht geben kann (Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 53) – noch auch für die Richtigkeit motivischer oder intentionaler Zuschreibungen. „Verstehen“ ist

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

Zugleich ermöglicht es auch ihre Beschreibung als System, jener notorischen „Abgeschlossenheit“ der Filme Greenaways, wie, für viele, ja z.B. Petersen sie feststellt136, d.h. der angeblichen Selbstgenügsamkeit, Hermetik, Esoterik, Kryptik des Greenaway’schen Œuvres zu begegnen. Denn einerseits ist das System natürlich ja insofern schon geschlossen, als dass selbstverständlich nur Filme von Greenaway Filme von Greenaway sein können und damit das System konstituieren oder fortsetzen (wobei, so Greenaway auch selbst, eben die systemerhaltende Fähigkeit zur Selbstfortsetzung der beste Indikator des Erfolges ist137); andererseits braucht es dazu aber auch tatsächlich keinerlei Kontakt mit einer filmexternen „Realität“138, wohl aber eine systemexterne Umwelt, d.h. eine andere Seite, die immer mitfungieren muss, um das Bestimmte als Bestimmtes sichtbar zu machen139 – so dass das System eben nicht nur auf „seine eigene schöne Perfektion“ hin interpretiert werden muss, sondern ebenso aus der Differenz zu seiner Umwelt zu begreifen ist, die es selbst ja zuallerst konstituiert140. Das System grenzt sich im Zusammenhang seiner Verweisungen von seiner Umwelt ab und besitzt innerhalb dieser Grenze dann auch eine gewisse Autonomie, so dass hier Informationen nach bestimmten systeminternen Regeln behandelt werden können141; es operiert zwar eigengesetzlich, gewinnt diese eigenen Gesetze aber „aus der Überschreitung, Distanzierung und Neufassung, aus der De- und Re-Motivierung der Gesetze, deren Befolgung oder Nichtbefolgung es in seiner Umwelt beobachten kann“142 – z.B. dann, wenn Greenaways Filme, wie ja gerne festgestellt wird, „mit Genrekonventionen spielen“, d.h. durch eine gezielte Überschreitung und Missachtung kanonischer filmischer Codes als eines Ensembles zu be-

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insofern „immer ein Missverstehen ohne Verstehen des Miss“ (Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 173). Petersen: Jenseits der Ordnung, S. 25. „Being able to continually make films is a measure of the best sort of success.“ Zitiert nach: Hacker, Jonathan / Price, David: Discussion with Peter Greenaway, in: dies.: Peter Greenaway, in: dies.: Take Ten. Contemporary British Film Directors, Oxford / New York (NY) 1991, S. 188-227, S. 208-222, S. 214. „I want to make and see films that acknowledge themselves as films“, so Greenaway, „and do not attempt to pretend to be slices of reality or windows on the world which are dubious and unobtainable objectives at the best of times.“ (Greenaway, Peter: Cinema is far too rich and capable a medium to be left merely to the storytellers, or Five imaginary Dutch films. Vortrag im September 1988 auf dem Netherlands Film Festival in Utrecht, zitiert nach: http://petergreenaway.org.uk/ essay4.htm (29.03.2009), o.S.) Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 188f. Ders.: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 9-30, S. 19. Das heißt allerdings nicht, wie Oliver Jahraus meint, dass schlichtweg alles System sein kann, „sofern man nur die entsprechende Umwelt mit angeben kann“ (Theorieschleife, S. 100; Literatur als Medium, S. 277, 604), und zwar ebensowenig wie nach Huber schlichtweg jede rein interne Ordnung als Zusammenhang von Teilen (vgl. Anm. 115). Ders.: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 115, 117, 123. Baecker, Dirk: Die Adresse der Kunst, in: Fohrmann / Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur, S. 82-105, S. 90.

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System und Mythos

achtender „Erzählregeln“143 diese Regeln selber reflektieren – indem sie sie nämlich zur Disposition stellen, sei dies durch die Infragestellung eines dokumentarischen Authentizitätsanspruchs (VERTICAL FEATURES REMAKE, THE FALLS), die Nicht-Auflösung des murder mystery (THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT), das Konfligieren der Erzählung eines Films mit der Markierung seines Zeitgebrauchs (DROWNING BY NUMBERS) oder der Bruch mit dem bloß-illustrativen mettre en scène konventioneller Literaturverfilmungen (PROSPERO’S BOOKS). Dabei geht es Greenaway allerdings nicht lediglich um eine Kritik nur spezifischer einzelner Regeln filmischer Erzählung, sondern vielmehr überhaupt um eine Befreiung des Kinos aus seiner „Versklavung“ an die Narration: „The cinema is about other things than storytelling. What you remember from a good film – and let's only talk about good films – is not the story, but a particular and hopefully unique experience that is about atmosphere, ambience, performance, style, an emotional attitude, gestures, singular events, a particular audio-visual experience that does not rely on the story. [...] Because for the moment we have not found anything better, and because we are lazy, the narrative is the glue we use to hold the whole apparatus of cinema together. There is much to say that D.W. Griffith, proud manufacturer of INTOLERANCE, took us all in the wrong direction. He enslaved cinema to the nineteenth-century novel. And it is going to take a hell of a lot of convincing to go back, right the wrong, and then go forward again.“144

Während Griffith ja bekanntlich Filme machen wollte, wie Charles Dickens Bücher schreibt, also „Romane in Bildern“ produzieren145 – und von Griffith bis hin zu Scorsese habe sich laut Greenaway im Grunde nichts geändert146 –, so bemüht sich Greenaway im Gegenteil um eine endliche Emanzipation des Kinos von der literarischen Erzählung, indem er seine Filme um nichtnarrative, aber äquifunktionale, äquivalente, ja vielleicht gar: überlegene Organisationsprinzipien herum aufbaut – „organizing principles that reflect temporal passing more successfully than narrative, that code behaviour more abstractly than narrative, and perform these tasks with some form of passionate detachment“147. Greenaways Schaffen ist also vor dem Hintergrund dieser Kritik vor allem auch als Gegenentwurf zum konventionellen „cinema-as-we-know-it“ zu verstehen, das er nicht nur als „hopelessly narrative“ ablehnt148 – „cinema is far too rich and capable a medium to be merely left to the storytellers“149 –, sondern, noch darüber weit hinaus, als

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Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik, München 1994, S. 250. Greenaway: 105 Years of Illustrated Text, S. 48. Vgl. Eisenstein, Serge: Dickens, Griffith und wir, in: ders.: Gesammelte Aufsätze I, Zürich 1961, S. 60-136, S. 97f. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 4; Oosterling: Cinema of Ideas, S. 11. Ders.: Some Organizing Principles, in: Emmer, Michele (Hg.): Mathematics and Culture I, Berlin / Heidelberg / Hong Kong / London / Mailand / New York (NY) / Paris / Tokyo 2004, S. 161-176, S. 161. Ders.: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 3. Ders.: A Zed and Two Noughts, London 1986, S. 15.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

intellektuell unterbelichtet und ästhetisch, technologisch, ökonomisch, kurz: historisch überholt ansieht: „After 108 years of activity, we have a cinema that is dull, familiar, predictable, hopelessly weighed down by old conventions and outworn verities, an archaic and heavily restricted system of distribution, and an out-of-date and cumbersome technology.“150

Auf ein Jahrhundert Filmgeschichte rückblickend sieht Greenaway vor allem eine Geschichte monotoner Redundanz und ungenutzer Potentiale151, ja die Geschichte eines Scheiterns152, deren Ende denn auch bald erreicht sein wird: „Cinema is a passive medium. It might well have fulfilled many of the expectations of an audience of our fathers and forefathers prepared to sit back, watch illusions and suspend disbelief, but I believe, we can no longer claim this to be sufficient. New technologies have prepared and empowered the human imagination in new ways. [...] Traditional cut-and-paste, narrative, illusionistic cinema has had its day. We must move on. We must re-invent cinema. [...] Cinema as our fathers and forefathers knew it was a passive elitist medium, made expensively for the patronised many by the condescending few, with a distribution system that has made its own product virtually unviewable. Now we can break the monopolies, really start with an art of the moving image with viewer participation that can truly empower the imagination, diversify interminably, cater for all, and not patronise audiences.“153

Es geht Greenaway also nicht nur um das Finden neuer Formen innerhalb seines Mediums und außerhalb der abgenutzten alten, sondern vielmehr um eine neue Form des Mediums selbst – dahingestellt, ob dieses dann noch weiter „Kino“ oder „Film“ zu nennen wäre154. 150

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Ders.: Toward a re-invention of cinema. Vortrag am 28. September 2003 auf dem Netherlands Film Festival in Utrecht, zitiert nach: http://petergreenaway.org.uk/ essay3.htm (29.03.2009), o.S. „The spectrum of visual possibilities in the manufacture of the moving image is large, and traditionally the feature film only uses a small section of that spectrum, sufficient to realise an illusionist drama.“ (ebd., o.S.) „I believe the cinema does not fulfill the aims and the ambitions for which it was originally intended, and what is extraordinary, the apologists of cinema who were talking very vociferously in 1910s and 1920s, if they were alive, they would be very, very disappointed.“ (ders.: The Tulse Luper Suitcase. Vortrag im August 2001 in Saas-Fee, zitiert nach: http://www.egs.edu/faculty/greenaway/greenaway-tulseluper-2001.html (29.03.2009), o.S.) Ders.: Toward a re-invention of cinema, o.S. „We need to re-invent cinema. Every medium needs to constantly re-invent itself. We need now not to put new wine in old bottles, and certainly not to put old wine in new bottles, we need to put new wine into new bottles. You are allowed to recognise the wine which is human ingenuity and imagination, and you are permitted to recognise the bottles which is cinema, though I am convinced we shall be needing to change that name.“ (ebd.) Vgl. dazu, weniger euphorisch, Rother, Rainer: Ästhetik der Quantität. Notizen zu Peter Greenaways Filmen, in: filmwärts 21(1992), S. 36-39, S. 39.

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System und Mythos

Ein weiterer methodischer Einwand könnte mit dem Hinweis gemacht werden, dass die Systemtheorie aus theorieimmanenten Gründen die Ausrichtung auf ein Problem verlange und nicht auf einen Autor155; demgegenüber aber lässt sich leicht in Rechnung stellen, dass bei Greenaways Filmen ja gerade das Problem der Autorschaft als thematische Konstante eines Werkzusammenhanges festzustellen ist, das, oft genug in einem offenen Spannungsverhältnis dieser Ebenen, intra-, meta- wie auch paratextuell dann stets auch mitgeführt und expliziert wird. Zwar ist mit Greenaway als benennbarer, ansprechbarer und verpflichtungsfähiger Instanz diejenige Person vorhanden156, die für die hier untersuchten Filme als Regisseur verantwortlich zeichnet (und so, mit François Truffaut, dann auch das Recht verliert, sich zu beklagen157); doch geht es vorliegender Untersuchung natürlich nicht um Greenaway als einen von ihr zu verstehenden Menschen (wie Friedrich Schleiermacher zufolge zwar der hermeneutische Königsweg notwendig über das „innere und äußere Leben“ des Autors und seiner „persönlichen Eigentümlichkeiten“ verlaufe158, was Greenaway aber doch wohl nur als „ewiges Rätsel“ attraktiv machen könnte159), sondern – wie aus hermeneutischer Perspektive auch Otto Friedrich Bollnow so ausdrücklich diese Unterscheidung trifft160 – um das von ihm gestaltete Werk, also, mit einer Unterscheidung Jost Schneiders, nicht um einen empirischen, sondern einen idealen Autor161. Der Autor-Begriff, so auch in diesem Sinne Peter Wollen, bezeichnet daher keinen „,cult of personality‘ or apotheosis of the director“, sondern vielmehr einen „Strukturwert“162: 155

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Esposito: Das Problem der Reflexivität in den Medien und in der Theorie, S. 113. So steht denn auch eine sich selbst zumal als „poststrukturalistisch“ bezeichnende Analyse vor der Schwierigkeit, dass einerseits „the name ,Greenaway‘ is undeniably associated with authorship, with the director as author, and with ,signature‘ films“ (Alemany-Galway, Mary / Willoquet-Maricondi, Paula: Preface, in: dies. (Hg.): Peter Greenaway’s Postmodern / Poststructuralist Cinema, S. VII-X, S. VII), andererseits aber „the very idea of a work that studies a single auteur through the lens of postmodernism or poststructuralism is itself a self-contradiction, given their paradigmatic association with the ,dissolution of the figure of the author‘“ (Elkington: Between Order and Chaos, o.S.). Zum Begriff der Person vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 642f.; ders.: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 113 Truffaut, François: Ein Regisseur hat nicht das Recht, sich zu beklagen, in: ders.: Die Lust am Sehen, Frankfurt am Main 1999, S. 17-26, S. 17. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Hg. und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt am Main 1990, S. 94, 185. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 26. Bollnow: Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?, S. 57. Vgl. Schneider, Jost: Einführung in die moderne Literaturwissenschaft, Bielefeld 1998, S. 152ff. Und ist damit überführbar in den Stil-Begriff. Siehe weiter unten, vgl. auch Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 87f.; Dainat, Holger / Kruckis, Hans-Martin: Kunst, Werk, Stil, Evolution. Zu Luhmanns Stil-Begriff, in: Fohrmann / Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur, S. 159-172, S. 167.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“ „Auteur analysis does not consist of re-tracing a film to its origins, to its creative source. It consists of tracing a structure […] within the work, which can then post factum be assigned to an individual, the director, on empirical grounds. It is wrong, in the name of a denial of the traditional idea of creative subjectivity, to deny any status to individuals at all. But Fuller or Hawks or Hitchcock, the directors, are quite different from ,Fuller‘ or ,Hawks‘ or ,Hitchcock‘, the structures named after them, and should not methodologically confused“163 –

gerade auch insofern, als dass, in systemtheoretischer Perspektive, Kommunikationen nicht als Produkte von kommunizierenden Personen vorgestellt werden, sondern Personen umgekehrt als Produkte von Kommunikationen164, und so ein Autor sich zu seinem Werk auch eben nicht verhält „wie ein Vater zu seinem Kinde“165, sondern vielmehr selbst als eine „Werk-Funktion“, als systemrelative Funktion künstlerischer Kommunikation erscheint166. Der Autor, so bekanntlich ja Michel Foucault, „geht den Werken nicht voran, er ist ein bestimmtes Funktionsprinzip, mit dem, in unserer Kultur, man einschränkt, ausschließt, und auswählt; kurz gesagt, mit dem man die freie Handhabung, die freie Komposition, Dekomposition und Rekomposition von Fiktion behindert. Wenn wir daran gewöhnt sind, den Autor als Genie, als unendliche Bedeutungsflut darzustellen, dann geschieht das in Wahrheit eigentlich deshalb, weil wir ihn in genau der entgegengesetzten Weise funktionieren lassen“167 –

was ja auch notwendig ist, damit, im Kunstsystem, nicht alles, aber auch nicht nichts möglich ist168. Wenn aber, wieder nach Foucault, die „Funktion Autor“ als Konditionierungsprogramm nicht zuletzt auch kunstmäßigen Beobachtens verschwindet oder auch gestrichen wird, dann braucht es ein funktionales Äquivalent, damit die Kommunikation durch und über Kunst „wiederum nach einem anderen Modus funktionieren w[ird], aber immer noch innerhalb eines Systems von Einschränkungen“169; und ein Hinweis darauf, wodurch man den „Autor“ als Instanz einer beobachtungsleitenden Orientierung nun ersetzen könnte, kommt dabei von niemand anderem als von Greenaway selbst. „The word ,auteur‘“, so Greenaway auf seine Selbsteinschätzung hin befragt, „the word ,auteur‘ has acquired – perhaps from those who are frightened of it – dangerous overtones of indulgence. [...] I have a set of characteristics that welded together, I suppose, can be recognized as a specific, personal style.“170

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Wollen: Signs and Meaning in the Cinema, S. 167f. Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 59. Vgl. Plat. Phaidr. 275d-e; Barthes, Roland: Der Tod des Autors, in: Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matias / Winko, Simone (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185-193, S. 189. Stöckmann / Werber: Das ist ein Autor!, S. 250f. Foucault: Was ist ein Autor?, S. 229. Luhmann: Systeme verstehen Systeme, S. 89. Foucault: Was ist ein Autor?, S. 229. Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 210.

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System und Mythos

Es geht also um Stil, vielleicht •





als dasjenige, was dem Comte de Buffon zufolge den Menschen selbst erst ausmacht (oder auch, mit Wollen, doch wenigstens den Filmemacher): „le style, c’est l’homme même“171 (wie ja auch laut Spencer Brown Beobachter und Unterscheidung nicht nur austauschbar, sondern, in der Form, identisch sind172); als dasjenige, was nach Douglas Hofstadter sozusagen hologrammatisch als „Signatur“ eines schöpferischen Menschen in jedem einzelnen Teil seines Werks enthalten ist173 (wobei es nach Derrida ja gerade die Signatur ist, die den „schöpferischen Menschen“ als im Werk selbst abwesend markiert174); und / oder als dasjenige, was, nach Niklas Luhmann, Kunstwerk mit Kunstwerk verbindet, was einen Zusammenhang verschiedener Kunstwerke herstellt und damit Kunst als System ermöglicht175.

Das Wichtige dabei aber ist – und darin liegt auch die Pointe des Systembegriffs –, dass dieser Zusammenhang rekursiver Vernetzungen eben nicht nur (operativ) das System von seiner Umwelt abgrenzt, sondern dass die Differenz von System und Umwelt ihrerseits (reflexiv) als Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz auch innerhalb des Systems selbst verwendet werden kann: „Es handelt sich in einem solchen Falle nicht nur um ein Phänomen, das ein Beobachter, der es darauf anlegt, unterscheiden kann. Sondern das System unterscheidet sich selbst.“176 In diesem Sinne einer Fähigkeit zur Reflexion seiner eigenen Einheit ist, wie in den folgenden Kapiteln noch zu zeigen, das „System Peter Greenaway“ also endlich als ein (in vollem Umfang des wie oben erläuterten Begriffes) selbstreferentielles zu betrachten – und wenn ein System dort „beginnt“, wo die rekursiven Vernetzungen seiner Selbstreproduktion auftreten, dann macht es durchaus Sinn (wie es im folgenden Kapitel denn auch getan wird), das „System Peter Greenaway“ nicht erst z.B. mit THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT beginnen zu lassen, der schon als sein erster Spielfilm Greenaway als international bekannten Filmemacher etablierte, sondern mit dem „experimentellen“ Kurzfilm VERTICAL FEATURES REMAKE, der einerseits auf noch frühere Filme Greenaways zurückgreift (mit der Figur Tulse Lupers z.B. auf A WALK THROUGH H, auf DEAR PHONE oder auch auf GOOLE BY NUMBERS) und andererseits auch spätere Filme bis hin zu THE TULSE LUPER SUITCASES 171

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Leclerc, Georges Louis, Comte de Buffon: Rede, gehalten in der französischen Akademie von H. von Büffon am Tage seiner Aufnahme, in: Büffon’s sämmtliche Werke, sammt den Ergänzungen, nach der Klassifikation von G. Cuvier. Einzige Ausgabe in deutscher Übersetzung von H.J. Schaltenbrand, Köln 1837. Band 1, S. 54-60. Spencer Brown: Laws of Form, S. 66. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach, S. 160 Derrida, Jacques: Signatur Ereignis Kontext, in: ders.: Randgänge der Philosophie, Frankfurt am Main / Berlin / Wien 1976, S. 124-155. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 645; ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 338. Ders.: Die Realität der Massenmedien, S. 49.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

mitsamt ihrer Ordnung als Gesamtheit schon vorwegnimmt177 – ein Teil des Werkes unter anderen und zugleich das Ganze!178 – und schließlich mit dem sei’s verlorenen, sei’s erfundenem Original von Vertical Features auch jene „nicht vorhandene Grundlage“ bereitstellt, auf welcher aufzubauen Kennzeichen autopoietischer Systeme ist179; womit nun hoffentlich ausreichend Merkmale aufgewiesen sind, um die Anwendung des Systembegriffes auf den Gegenstand vorliegender Untersuchung tatsächlich auch zu rechtfertigen. Was aber ist Gegenstand des Gegenstandes?

Film-Philosophie: A Cinema of Ideas Wie ja gesehen, geht es Greenaway laut Selbstaussage um das Unternehmen einer vollständigen Repräsentation der Welt innerhalb der Welt – ein Unternehmen also, das, auf einer Paradoxie gründend, auch irgendwann unweigerlich auf Paradoxien auflaufen muss, insofern die Beobachtung des Einen im Einen ja dasjenige einschließen müsste, was sie zugleich auch ausschließt – das nämlich, wovon sie das Bezeichnete unterscheidet180. Genau dieses Unternehmen aber ist es auch, das durch den Film geleistet wird, versteht man ihn als Instrument der Abbildbarkeit der Welt auf die Welt und der Sichtbarkeit der Welt in der Welt181, d.h. als Beobachtung, Beschreibung, Reproduktion und Ausstellung der Welt in ihrer selbst: Film, so Stanley Cavell, „promises the exhibition of the world in itself“, d.h. „the world re-created in its own image“, und „the world itself – that is to say,

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So wie Ovids METAMORPHOSEN nach Ernst Robert Curtius das Who is Who der antiken Mythologie darstellen (Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1969, S. 28) so VERTICAL FEATURES REMAKE für Greenaways Privatmythologie: „The academics and scholars represented created a bunch of people – Tulse Luper, Lephrenic, Van Hoyten – who began very seriously to people my particular mythology. And these characters, now, after having lying dormant maybe for about ten years, are about to be resurrected in a brand new film called THE TULSE LUPER SUITCASES. In a sense, all the germs and all the ashes of all the films are always contained in all the other films, and here, I suppose, bedded deep down in this film called VERTICAL FEATURES REMAKE, is a presage of what was to come.“ (Greenaway: Introduction / Early Films 2). Für das „System Greenaway“ besteht in VERTICAL FEATURES REMAKE so eine Art „genetischer Situation“ – wie bei einer Zelle, die sämtliche anderen Zellen eines zukünftigen Organismus auch schon „virtuell“ enthält, die aber erst noch zu entwickeln sind und später sich erst ausdifferenzieren (vgl. Engell: Paradoxie, Indifferenz und Existenz; Barel, Yves: Le paradoxe et le système. Essai sur le fantastique social, Grenoble 1979, S. 49). Vgl. Luhmann: Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, S. 7. Ders.: Soziale Systeme, S. 78. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 716. Engell, Lorenz: Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen Apparatur, in: Münker, Stefan / Roesler, Alexander / Sandbothe, Mike (Hg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt am Main 2003, S. 53-78, S. 61f.

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System und Mythos

everything“182. Da sich aber die Welt als umfassende Einheit (und daher eben in Ermangelung einer Instanz, gegenüber der die eigene Identität ja erst zu reflektieren wäre) auf die Reflexionskapazitäten ihrer Teile muss verlassen können183, von denen aus nur diese Einheit als Einheit in den Blick genommen werden kann – „even if the whole guarantees a certain order, it is always the part whose intelligence is asked for in order to agree with that order“184 –, erfordert die Selbstbeobachtung der Welt zunächst einmal ein Medium, d.h. eine Art, die Welt in System und Umwelt zu spalten185 und durch diese konstitutive, und wenn man so will: „ursprüngliche“ Spaltung186 in Beobachter und Beobachtetes dann ihr Selbstverhältnis einzurichten, wie auch umgekehrt nach Lorenz Engell die Ermöglichung und Generierung einer solchen Selbstbeobachtung nachgerade „Sinn der Medien“ ist: „In den Medien formuliert sich die bewegliche, veränderliche Welt, beobachtet sich, steuert und regelt sich, kritisiert, entwirft, revidiert, bearbeitet und überarbeitet sich“187,

und so ist auch der Film ein Modus, „in dem die Welt sich selbst beobachtet und sich selbst denkt. Der Film steht zwar innerhalb der Welt, aber er stellt sie nicht dar, sondern her, und zwar so, dass die filmische Beobachtung und der filmische Gedanke Teil des Beobachteten und Bedachten selbst werden.“188

Genauer gefasst, bezeichnet „Selbstbeobachtung“ in diesem Sinne eine in einem System auf dieses System gerichtete Operation und „Selbstbeschreibung“ die Anfertigung einer entsprechenden Aufzeichnung (wodurch die Selbstbeobachtung dann ihrerseits beobachtbar wird). Eine Selbstbeschreibung kann nur im System, nur mit den Mitteln des Systems und immer nur unter Reduktion von Komplexität erfolgen: Selbstbeobachtungen und -beschreibungen betreiben, was sie beobachten und 182 183

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Cavell, Stanley: The World Viewed. Reflections on the Ontology of Film, Cambridge (MA), London 1979, S. 39, 101f., 119. Vgl. Günther, Gotthard: Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations, in: ders.: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Band 1, Hamburg 1976, S. 249-328, S. 318. Baecker: Why Systems?, S. 63. Vgl. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 173. Vgl. Lacan, Jacques: Vom Blick als Objekt klein a, in: ders.: Das Seminar. Nach dem von Jacques-Alain Miller hergestellten französischen Text in deutscher Sprache hg. von Norbert Haas. Buch XI: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten / Freiburg im Breisgau 1978, S. 71-126, S. 89; ders.: Das Drängen des Buchstaben im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud, in: ders.: Schriften II. Ausgewählt und hg. von Norbert Haas, Olten / Freiburg im Freisgau 1975, S. 15-55, S. 42. Engell, Lorenz: Die genetische Funktion des Historischen in der Geschichte der Bildmedien, in: ders. / Vogl, Joseph (Hg.): Mediale Historiographien, Weimar 2001, S. 33-56, S. 33. Engell, Lorenz / Fahle, Oliver: Film-Philosophie, in: Felix, Jürgen (Hg.): Moderne Film Theorie, Mainz 2002, S. 222-240, S. 222.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

beschreiben, in ihrem Vollzug selbst; d.h. bei einer Selbstbeschreibung ist die Beschreibung immer ein Teil dessen, was sie beschreibt, und deswegen verändert sie dieses auch, allein schon dadurch, dass sie überhaupt auftritt – die Einführung einer Beschreibung in das System verändert dieses System, und dies verlangt dann eine neue Beschreibung189. „Von Anfang an ist die Selbstbeschreibung eines Systems ein paradoxes Unterfangen. Denn das Beobachten und Beschreiben setzt eine Differenz voraus zwischen dem Beobachter / Beschreiber und seinem Gegenstand; aber die Absicht der Selbstbeschreibung negiert genau diese Differenz. Anders gesagt: die Operation des Selbstbeschreibens führt zur Unterscheidung des Beschreibens und des Beschriebenen im selben System.“190

Um also das Problem zu lösen, das eigene Selbst (im Unterschied zu allem anderem) als Identität zu beschreiben, eben damit aber selbst aus diesem Selbst ausgeschlossen zu sein – „Ich“ ist daher immer ein anderer, wie auch Rimbaud und dann Lacan gesagt haben191 –, errichtet die Selbstbeschreibung eine Grenze innerhalb einer Grenze, einen frame im frame, innerhalb dessen das System ein „unscharfes Bild seiner selbst“ produziert und dieses wiederum „extime“192 Bild dann als Ausgangs- und Beziehungspunkt weiterer Anschlussoperationen nimmt193. Es geht bei dieser Bildproduktion also um die Einführung einer komplexitätsreduzierten Zweitfassung des Systems in das System, indem es selber in sich selber eine vereinfachende Selbstbeschreibung fixiert194, eine „Selbstsymbolisierung“, durch die ein Selbstbezug in Form eines Entwurfs auf die eigenen Möglichkeiten hin ermöglicht wird und für die sich wie nichts anderes die Figur der mise-enabyme anbietet195 – d.h. eine Form von „Rekursivität und damit Selbstreferenz, bei der mindestens ein Element einer übergeordneten Ebene (inhaltlicher oder formaler Natur) analog auf einer untergeordneten Ebene erscheint“196 und die dem Medium, in dem sie auftritt, nichts anderes ist als eine Dramatisierung seiner eigenen Funktionsweise197: durch die Anfertigung eines solchen „verkleinerten Modells“ seiner selbst wird es ermöglicht, über 189 190 191

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Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 883ff. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 487. Vgl. Rimbaud, Arthur: Brief an Georges Izambard (13.05.1871), in: ders.: Œuvres completes – Correspondance. Hg. von Louis Forestier, Paris 2004, S. 224-225, S. 224; Lacan, Jacques: L’aggressivité en psychanalyse, in: ders.: Ècrits, Paris 1966, S. 101-124, S. 118. Ders.: Das Problem der Sublimierung, S. 171. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 401; ders.: Soziale Systeme, S. 51. Ders.: Systeme verstehen Systeme, S. 89. Engell: Die genetische Funktion des Historischen in der Geschichte der Bildmedien, S. 46; ders.: Tasten, Wählen, Denken, S. 54ff.; ders.: Paradoxie, Indifferenz und Existenz, o.S. Wolf, Werner: Eintrag „Mise en abyme“, in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen - Grundbegriffe, Stuttgart / Weimar 1998, S. 373. Ricardou, Jean: The Story within the Story, in: James Joyce Quarterly 18/3 (1981), S. 323-338.

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System und Mythos

eine etwaige Entsprechungsleistung des Modells hinaus noch zu begreifen, wie seine Konstruktion denn funktionierte und welche anderen Möglichkeiten einer Selbstbeschreibung neben der gewählten sonst noch offengestanden hätten198. Das so beschriebene System wird durch seine Beschreibung dann in jenem Sinne hyperkomplex, als dass einerseits auch die Darstellung des Systems im System als kontingent erfahrbar wird und es andererseits auch tatsächlich eine Mehrheit von Auffassungen seiner eigenen Komplexität ausbilden kann199. Die Selbstbeschreibung liefert dem beschriebenen-beschreibenden System so „a representation of itself, hence a representation of something presenting a representation of itself“200, an der es sich über sich selbst orientieren und über sich selbst reflektieren kann, und das wiederum, im Falle der Medien, ist Sache der Medienphilosophie. Wenn „Philosophie“ die Reflexion des Denkens auf sich selbst bezeichnet, in der es „seine eigenen Voraussetzungen und Bedingungen klärt, seine Verfahren und Verläufe bedenkt und schließlich seine Folgen und möglichen Fortsetzungen abschätzt“201, dann ist hinsichtlich des Begriffes einer „Philosophie der Medien“ insofern für einen genitivus subiectivus zu optieren202, als dass es weniger darum geht, „die Medien“ einfach zum möglichen Gegenstand eines (dann gleichsam außer-medialen?) Denkens zu machen, sondern im Gegenteil vielmehr als Bedingung der Möglichkeit des Denkens zu denken, das sich auch nicht in seiner Form des BegrifflichSprachlich-Schriftlichen erschöpft, also, mit Engell, in einer Form der „Philosophen-Philosophie“: „Medienphilosophie und Philosophen-Philosophie stehen in einem Spannungsverhältnis. Philosophen produzieren schriftliche Texte, in denen sie denken. Medien aber produzieren Denkvermögen und setzen es unter Bedingungen; sie machen Denken [...] möglich. Medien machen denkbar. Medienphilosophie ist deshalb ein Geschehen, möglicherweise eine Praxis, und zwar eine der Medien. Sie wartet nicht auf den Philosophen, um geschrieben zu werden. Sie findet immer schon statt, und zwar in den Medien und durch die Medien. Sie kann deshalb nur dort, in und an den Medien selbst, angetroffen und freigelegt werden.“203

Medienphilosophie als eine autoreflexive mediale Praxis also kann, insofern hier, wie bei jeder Reflexion, das „Selbst“ dieser Selbstreferenz zur Exklusivität gezwungen ist204, vom Texte schreibenden Philosophen mit seinem „Anthropologicum“ der Sprache nicht betrieben, sondern nur beschrieben werden, nicht vollzogen, sondern, an den jeweils hergestellten

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Vgl. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 37f. Luhmann: Soziale Systeme, S. 638; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 876. Cavell, Stanley: Pursuits of Happiness. The Hollywood Comedy of Remarriage, Cambridge (MA) 1981, S. 206. Engell, Lorenz: Medienphilosophie des Films, in: Nagl, Ludwig / Sandbothe, Mike (Hg.): Systematische Medienphilosophie, Berlin 2005, S. 283-298, S. 289. Vgl. Liebsch, Dimitri: Philosophie und Film, in: ders. (Hg.): Philosophie des Films. Grundlagentexte, Paderborn 2005, S. 7-26. Engell: Tasten, Wählen, Denken, S. 53. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 622.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

„Reflexionsprodukten“205 medialer Selbstbeobachtungen, lediglich nachvollzogen206. Und hierfür bietet sich nun (immerhin) eine besondere Beobachtungsposition an, nämlich eine Beobachtung dritter Ordnung in der Form einer Beschreibung eines sich selbst beschreibenden Systems207: „Der Beobachter zweiter Ordnung beobachtet sich selbst und andere. Der Beobachter dritter Ordnung fragt, wie dies möglich ist.“208 Eine solche Beobachtung dritter Ordnung (und erst sie) wäre mithin diejenige Position, die eine Medien- einer Philosophen-Philosophie (bzw. einer „Philosophie der Medien“ im Sinne eines genitivus obiectivus) zugänglich oder erstere in letzterer erklärbar macht, indem sie eigenes und fremdes Erkennen zur Einheit zusammenschließt209 – über einen „medialen Hiatus“210 hinweg, aber gerade auch in dessen Anerkennung. Der Film z.B. zeichnet sich nach Christian Metz gegenüber der Sprache ja vor allem dadurch aus, zwar zu einem gewissen Grad eine Grammatik, jedoch kein Wörterverzeichnis zu besitzen211, so dass er, als ein „singuläres Symbolsystem“ im Sinne Nelson Goodmans212, im Grunde auch unübersetzbar ist, da (wie auch im Traume) der Körper des Signifikanten das Idiom für jede Szene neu und einmalig erst konstituiert213. Eine filmphilosophische Frage ist in diesem Sinne eine Frage, „die der Film sich selbst stellt und die sich auch nur mit dem Film stellt“214, während „beschreiben“, mit Roland Barthes, gerade auch hier für den externen Beobachter heißt, „nicht bloß ungenau oder unvollständig sein, sondern die Struktur wechseln, etwas anderes bedeuten als das Gezeigte“215. Die geforderte Beobachtung dritter Ordnung als Versuch, „die filmischen Reflexionsformen in begriffliche zu übertragen und damit aus der FilmPhilosophie in die Philosophie des Films zu gelangen“, würde dann also erfordern, dass, mit Engell, 205 206

207 208 209 210 211 212 213 214 215

Engell: Die genetische Funktion des Historischen in der Geschichte der Bildmedien, S. 53. Das soll natürlich nicht heißen, dass die Sprache kein Medium wäre, wohl aber, dass sie eben nicht das einzig mögliche Medium der Fassung von Gedanken und ihrer philosophischen Reflexion darstellt, als dessen alleiniges Subjekt sich dann wie selbstverständlich exklusiv der Mensch annehmen dürfte. Medienphilosophie im hier gemeinten Sinne geht es denn ja auch nicht um eine mediale Konditionierung menschlichen, also immer schon sprachlich verfassten Denkens als vielmehr um die Denktätigkeit der Medien selbst, ihr „Selbst-Denken“ als funktionales Äquivalent zur (menschlichen) Bewusstseintätigkeit (vgl. Engell: Tasten, Wählen, Denken, S. 53; ders.: Die optische Situation, S. 214ff., 236). Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 491. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 499. Ebd., S. 499. Engell, Lorenz: Schwierigkeiten der Fernsehgeschichte, in: ders.: Ausfahrt nach Babylon, S. 89-107, S. 101. Metz, Christian: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster 2000, S. 160f. Goodman, Nelson: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt am Main 1984, S. 66. Vgl. Derrida, Jacques: Freud und der Schauplatz der Schrift, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, S. 302-350, S. 322. Engell: Medienphilosophie des Films, S. 284. Barthes: Die Fotografie als Botschaft, S. 14.

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System und Mythos „erstens der Film selbst an seiner Konstitution als Objekt und an seiner Reflexion arbeitet, und zweitens genau daraufhin auch beobachtet und beschrieben wird. Oder besser umgekehrt: Wo der Film so beobachtet und beschrieben wird, dass seine gleichsam selbst verursachende Mitarbeit an seiner Reflexion und dadurch an seiner Konstitution als Objekt sichtbar wird“216 –

so dass man eine solche Beobachtung dritter Ordnung als ihrerseits selbstreferentiell situierte Beobachtung der Handhabung fremder Selbstreferenz dann auch „Verstehen“ nennen darf217 – in diesem Falle sozusagen: understanding media218. Für den Film ist dann etwa nach seiner medialen „Theoretizität“219, seiner spezifischen „Theorieäquivalenz“220 zu fragen, oder, mit Oliver Fahle, inwiefern ein im Bild formuliertes Denken überhaupt erst die Möglichkeit schafft, zu bestimmten sprachlich formulierbaren Theoriekonzepten zu gelangen221. Eine Antwort hierauf wären etwa die „Technobilder“ Vilém Flussers, also apparativ erzeugte Bilder, die als Imaginationen von Konzepten Begriffe vorstellbar und bedeutungsvoll machen, die es ohne sie gar nicht geben würde222; es geht hier also um ein Denken, in dem es, mit Goethe, Ideen mit Augen zu sehen gilt223, und das man, nach einem Titel Rudolf Arnheims, etwa visual thinking nennen könnte224. Greenaway jedenfalls nennt sein daraufhin gerichtetes Projekt, das Potential des Kinos als „a philosophical medium“225, als „a form of visual philosophy“226 zu

216 217

218 219 220 221 222 223 224 225

226

Engell, Lorenz: Die optische Situation, S. 215f. Luhmann: Systeme verstehen Systeme, S. 96. Dies gilt dann nicht zuletzt auch für die Systemtheorie selbst, für die Verstehen als kommunikative und zugleich kommunikationskonstitutive Selektionsleistung ja nicht nur als Begriff zentral ist, sondern die sich auch ausdrücklich selber als Beobachtungsform dritter Ordnung bezeichnet. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 259; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 96, 194; ders.: Das Medium der Kunst, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 198-217, S. 214. Vgl. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf / Wien / New York (NY) / Moskau 1992. Beuthan: Perspektiven einer Philosophie des Films, S. 27f. Engell, Lorenz: Form und Medium im Film, in: Brauns, Jörg (Hg.): Form und Medium, Weimar 2002, S. 155-166, S. 157. Fahle, Oliver: Bewegliche Konzepte. Historisches Denken der Bildmedien, in: Engell / Vogl (Hg.): Mediale Historiographien, S. 73-81, S. 77. Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie; ders.: Kommunikologie.; ders.: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1999. Goethe, Johann Wolfgang von: Glückliches Ereignis, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 10, München 1998, S. 538-542, S. 541. Arnheim, Rudolf: Visual Thinking, Berkeley / Los Angeles (CA) 1968; deutsche Übersetzung: Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff, Köln 1977. Zitiert nach: Willoquet-Maricondi, Paula: Prospero’s Books, Postmodernism, and the Reenchantment of the World, in: dies. / Alemany-Galway (Hg.): Peter Greenaway’s Postmodern / Poststructuralist Cinema, S. 177-201, S. 177. Pally: Cinema as the Total Art Form, S. 117.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

erschließen, sein Cinema of Ideas227; er zitiert Picasso („Ich male die Dinge, wie ich sie denke, nicht, wie ich sie sehe“228) und fährt fort: „We have not seen any cinema yet. We have only seen 105 years of illustrated text. And recorded theater. And theater is primarily a matter of text. […] But I have hopes. I do really believe that we are now developing the new tools to make that happen. Tools, as Picasso said of painting, that will allow you to make images of what you think, not merely of what you see, and certainly not of what you read.“229

Alexandre Astruc zufolge würde ja z.B. schon Descartes, hätte er nur in der Gegenwart gelebt, anstatt den DISCOURS DE LA MÉTHODE zu schreiben, einen Film gedreht haben230; allerdings besteht sehr wohl ein Unterschied zwischen einem originären „Bilder-Denken“ und dem, was Béla Balázs „Gedankenphotographie“ genannt hat, d.h. nur kinematographisch „illustrierten Gleichnissen“: „Es gibt literarisch erdachte Filme, deren Bilder nur eine dichte Reihe von beweglichen Illustrationen zu einem Text sind, der in den Titelaufschriften mitgeteilt wird. […] Solche Filme sind schlecht, denn sie enthalten nichts, was nur im Film auszudrücken wäre. [...] Statt des irrationalen Bildes einer irrationalen Empfindung bekommen wir eine Redewendung im Bilde dargestellt. […] Solche Tricks sind aber das Gegenteil vom Expressionismus, denn anstatt das Unsagbare noch im Bilde darzustellen, weisen sie auf die Sprache, und zwar auf ihre trivialsten Wendungen zurück.“ 231

Als nachrangige Illustration sprachlich-schriftlicher Vorgaben würde FilmPhilosophie sich in der Tat in einer „mise-en-scène theoretischer Motive“232 erschöpfen; doch gerade nach der Inszenierbarkeit von Theorie im Film ist medienphilosophisch nicht gefragt, sondern nach dessen funktionaler Äquivalenz zur Theorie, d.h.: wie der Film Wahrnehmung für Kommunikation und dann für Reflexion verfügbar macht233. Die Frage ist also:

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Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 28. Zitiert und übersetzt nach Golding, John: Cubism, Cambridge 1988, S. 51: „I paint objects as I think them, not as I see them.“ Greenaway: 105 Years of Illustrated Text, S. 48. Astruc: Die Geburt einer neuen Avantgarde, S. 112; vgl. Flusser; Vilém: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Frankfurt am Main 1992, S. 7. Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Mit einem Nachwort von Helmut H. Diederichs und zeitgenössischen Rezensionen von Robert Musil, Andor Kraszna-Krausz, Siegfried Kracauer und Erich Kästner, Frankfurt am Main 2001, S. 29, 64. Žižek, Slavoj: Mehr-Genießen. Lacan in der Populärkultur, Wien 2000, S. 13. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 82.

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System und Mythos „Gibt es Alternativen zu sprachlicher Kommunikation? [...] Zugespitzt müssen wir nach nicht-sprachlichen Kommunikationen fragen, die die gleiche Struktur einer autopoietischen Reproduktion der Synthese von Information, Mitteilung und Verstehen verwirklichen, aber nicht an die spezifischen Besonderheiten der Sprache gebunden sind und den Bereich gesellschaftlicher Kommunikation (was immer ein Bewusstsein dabei erlebt) über das Sagbare hinaus erweitern.“234

Wenn der Film also z.B. bei Astruc als „Ort des Ausdruck eines Gedankens“ so als „Sprache“ gilt, d.h. als „eine Form, in der und durch die ein Künstler seine Gedanken, so abstrakt sie auch seien, ausdrücken oder seine Probleme so exakt formulieren kann, wie das heute im Essay oder im Roman der Fall ist“235, so gilt es dabei zu bedenken, dass es sich beim in Frage stehenden „Ausdruck“ nur um eine Sprache außerhalb der Sprache und beim „Gedanken“ nur um ein Bewusstsein außerhalb des Bewusstseins handeln kann236, so dass der Film, mit Nietzsche, als solches Schreibzeug zu beschreiben ist, das an unseren Gedanken mitarbeitet – „wenn sie denn überhaupt noch die unseren sind“237.

Medienrealität und Medienkultur Daran nämlich, wie auch an der eng damit verknüpften weithin unbefragten Grundannahme, „dass natürlich der Mensch das Subjekt aller Medien sei“238, dürfen durchaus Zweifel angemeldet werden; zumal auch, wenn, mit Vilém Flusser, schon eine „Menschwerdung“ in außermedialem Kontext nicht zu denken ist, weil Medien das Ur-Problem des Menschen genauso lösen wie perpetuieren – das Problem der Kluft, des „klaffenden Abgrundes“ zwischen ihm und der Welt239 (mit Luhmann könnte man auch sagen: das Problem einer Grunderfahrung von Differenz240). Am Anfang nämlich – so wird Flussers medienhistorisches Modell von Engell referiert241 – am Anfang 234 235 236 237

238 239 240

241

Ebd., S. 34f. Astruc: Die Geburt einer neuen Avantgarde, S. 112f. Engell: Form und Medium im Film, S. 157; ders.: Die optische Situation, S. 236. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Brief an Heinrich Köselitz, Ende Februar 1882, in: ders.: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Begr. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Fortgeführt von Norbert Miller und Annemarie Pieper. Band III.1: Briefe von Friedrich Nietzsche Januar 1880 - Dezember 1884, Berlin 1981, S. 172; Engell, Lorenz / Leitner, Birgit: Vorwort, in: dies. (Hg.): Philosophie des Films, S. 4-16, S. 7. „Ich kann schon nicht mehr denken, was ich denken will“, so zitiert Walter Benjamin Georges Duhamel, „die beweglichen Bilder haben sich an den Platz meiner Gedanken gesetzt.“ (Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung, in: ders.: Gesammelte Werke. Band I.2: Abhandlungen, Frankfurt am Main 1974, S. 471-508, S. 503.) Kittler, Friedrich: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 22f. Flusser: Kommunikologie, S. 76. Vgl. Luhmann, Niklas: Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution, in: ders.: Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie. Hg. von André Kieserling, Frankfurt am Main 2008, S. 7-71, S. 15. Engell: Auf den Punkt gebracht, S. 24f.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

(oder jedenfalls am Anfang der piktoral „kodifizierten Welt“) steht die symbolische Codierung unmittelbar wahrgenommener und erlebter Wirklichkeit in Bildern; später aber beziehen sich Bilder nur noch auf andere Bilder; dann werden Texte über diese Bilder geschrieben; und dann nur noch Texte, die sich wiederum auf andere Texte beziehen. In Flussers spezifischer kulturkritischer Wendung läuft dies dann auf die Schlussfolgerung hinaus, dass einerseits die Welt von Bildern und Texten „verstellt“ worden ist, andererseits aber die Bilder selber unbegreiflich geworden sind und unter den Texten man sich nichts mehr vorstellen kann242. Schon bei Hugo von Hofmannsthal lässt sich ja in diesem Sinne nachlesen (!), dass die Worte sich „vor die Dinge gestellt“ hätten und dabei zwar sicherlich in ein „wunderbares Verhältnisspiel“ eintreten könnten, in dem sie einander zuspielten „wie herrliche Wasserkünste [...] mit goldenen Bällen“, dass sie es dabei aber eben nur und ausschließlich miteinander zu tun hätten und gerade den Menschen bzw. „das Tiefste, das Persönliche“ seines Wesens von ihrem Reigen ausschlössen243, kurz: dass das Medium der Sprache nurmehr selbstreferentiell operiere und ihm damit jene Fähigkeit abhanden gekommen sei, die ihm vordem doch so selbstverständlich zugesprochen worden war, nämlich „eine äußere wie innere Wirklichkeit zu bezeichnen“244. Wie also, wenn überhaupt, ist unter medialen Bedingungen – und unter welchen Bedingungen auch sonst? – wie ist solch ein „Durchgriff auf die Wirklichkeit“ dann möglich, zumal, wenn es ja in der literarischen und literaturtheoretischen „Debatte um die Sprache“ vor allem um „die darstellbare Beziehungsfähigkeit des Subjekts zu seiner Umwelt“ geht245? Wenngleich die Literatur nun gewiss nicht verabsolutierend zum universalen Modell medienwissenschaftlicher Methodik zu machen ist246 – nach Geoffrey Winthrop-Young liegt ja eine weidlich irreführende Attraktivität der Medien, vor allem für Ex-Literaturwissenschaftler, vor allem in der Annahme, dass man mit ihnen umgehen könne wie mit Texten247 –, doch wenn man das hier ganz exemplarisch von Hofmannsthals EIN BRIEF gestellte Problem im Lichte 242 243

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Flusser: Kommunikologie, S. 102f. Hofmannsthal, Hugo von: Eine Monographie, in: ders.: Gesammelte Werke in 10 Einzelbänden. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Band 8: Reden und Aufsätze 1891-1913, Frankfurt am Main 1979, S. 479-483, S. 479; ders.: Ein Brief, in: ders.: Gesammelte Werke in 10 Einzelbänden. Band 7: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen, S. 461-472, S. 466. Kleinschmidt, Erich: Gleitende Sprache. Sprachbewußtsein und Poetik in der literarischen Moderne, München 1992, S. 19. Also, konsequenterweise, auch die Fähigkeit, vom Verlust ebendieser Fähigkeit zu sprechen, was die natürlich selbst auch sprachlich formulierte „Sprachkritik“ nach Art des Paradox des Epimenides in einen permanenten performativen Selbstwiderspruch führt. Kleinschmidt: Gleitende Sprache, S. 72. Wie auch, mit Friedrich Kittler, eine eigenständige Medienwissenschaft sich kaum in „billigen Modernisierungen des Philologenhandwerks“ erschöpfen ließe, indem man etwa, statt über Romane, nun über Filme wie über Romane schreibt und dann eventuell nur noch „die Aufgabe [sieht], über Theorie und Praxis der Literaturverfilmung einen Band nach dem anderen zu drucken“ (Kittler: Optische Medien, S. 140). Winthrop-Young, Geoffrey: Friedrich Kittler zur Einführung, Hamburg 2005, S. 82.

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System und Mythos

der unter dem Begriff der „Intertextualität“ berühmt gemachten Einsicht betrachtet, dass Texte als „Gewebe aus Zitaten“ sich nicht eventuell bzw. als Verfallserscheinung, sondern immer und naturgemäß auf andere Texte beziehen, dass sie „aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt [sind], die [...] miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen“, und dass in ihnen, dem „grundsätzlich sprachlichen Charakter von Literatur“ gemäß, allenfalls sprachliche Subjekte vorkommen, aber keine außersprachliche „menschliche Person“ (deren eventuell auszudrückendes „Innere“ ohnehin auch „selbst nur ein zusammengesetztes Wörterbuch [wäre], dessen Wörter sich immer nur durch andere Wörter erklären lassen“)248 – so lässt sich dies, der literarische Spezialfall, in der Tat zusammenschalten mit der generellen Einsicht, dass alle Kommunikation und mithin alle Medien, in denen sie sich vollzieht, sich in erster Linie aufeinander beziehen, nicht aber auf eine als „amedial“ vorzustellende „Realität“; dass auch Medien, wenn „der ,Inhalt‘ jedes Mediums ein anderes Medium ist“249, also nicht mehr in Abgrenzung zu dieser „Realität“ begreifbar sind, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen Medien250; dass sie so ein rekursiv geschlossenes System bilden, das die in Frage stehende „Realität“, sei sie nun äußer- oder innerlich, nicht nur beobachtet und beschreibt, sondern sie im Zuge der Beobachtung und Beschreibung erst hervorbringt251; und dass also eine „Beziehungsfähigkeit zur Umwelt“ nur möglich ist, nicht obwohl, sondern weil es keinen unmittelbaren Zugang zu ihr gibt252. Die Differenz vermittelt also den Zusammenhang253: Auch die Klage über Sinn- und Weltverlust, über eine Substituierung der Wirklichkeit durch eine wie immer verzerrte, manipulierte, simulative „Medienrealität“ landet schon bei simpler Selbstanwendung geradewegs beim medialen Apriori, d.h. der Einsicht, dass, wie Oliver Jahraus formuliert, „weder Welt noch sonst irgend etwas medial Vermitteltes, wie immer man es bestimmen mag, als dem Medium ontologisch oder epistemologisch vorrangig oder vorgängig eingestuft werden kann“, „dass keine Form ohne Medium zu haben ist, auch wenn oder besser: gerade weil auch kein Medium ohne Form zu haben (sagen wir: zu beobachten ist).“254 248 249 250

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Barthes: Der Tod des Autors, S. 186, 187, 188, 190, 192. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 18. Engell, Lorenz: Erzählung. Historiographische Technik und Kinematographischer Geist, in: ders.: Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar 2000, S. 109–143, S. 109ff. Ders.: Wahrnehmung. Zur Einführung, in: ders. / Fahle, Oliver / Neitzel, Britta / Pias, Claus / Vogl, Joseph (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 301-307, S. 306. Vgl. Luhmann, Niklas: Erkenntnis als Konstruktion, in: ders.: Aufsätze und Reden. Hg. von Oliver Jahraus, Stuttgart 2001, S. 218-242, S. 219. Ders.: Systeme verstehen Systeme, in: ders. / Schorr, Karl Eberhard (Hg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt am Main 1986, S. 72-117, S. 83. Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kommunikation, Weilerswist 2003, S. 363f. Vgl. zum Begriff des medialen Apriori Engell, Lorenz: Wahrnehmung. Zur Einführung, in:

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

Und wenn man auch dies noch auf sich selbst bzw. eben auf die Beobachtung von Medien anwendet, so ergibt sich, dass man, um Medien zu beobachten, auch Medien benutzen muss, so dass alles mediale (und so auch: medienwissenschaftliche) Beobachten idem per idem in einen regressus ad infinitum mündet255. An eine „exemte Position“ ist also nicht zu denken: wer immer mediales Geschehen beobachtet, nimmt immer daran teil; das mediale Beobachten medialen Beobachtens ist ein rekursiv-geschlossenes System256, das so zugleich auch in einer Beobachtung der eigenen Operativität als Reflexionsform dessen auftreten kann, was sich mit einem so präzis wie möglich gefassten Begriff als „Medienkultur“ bezeichnen lässt: des Gesamtkomplexes nämlich, innerhalb dessen „technisch-materielle Geräte und immaterielle Apparate zum einen, dispositionelle Gefüge von der Wahrnehmung, der Bewegung und dem Verhalten bis hin zu Denk- oder Herrschaftsweisen zum zweiten und schließlich symbolische Formen und Mechanismen des Weltzugriffs miteinander wechselwirken [und] Sinn schaffen oder Sinn in Umlauf setzen“257.

Wenn „Kultur“ einerseits nichts anderes ist als „eine Vorrichtung zum Erzeugen, Weitergeben und Speichern von Informationen“258, dann ist alle Kultur per se und immer Medienkultur259, und wenn sie andererseits genau den Platz besetzt, an dem gesellschaftliche Selbstbeschreibungen reflektiert werden, dann ist alle Kultur selbstimplikativ und immer schon „als Kultur reflektierte Kultur, also eine im System beobachtete Beschreibung“260. Peter Greenaways Filme ihrerseits sind nun Beobachtungen jener Medienkultur, an der sie selber teilhaben und deren Zusammenhang sie – in ihrem eigenem Zusammenhang! – in seiner Reflexion beschreiben, und d.h. vor allem auch: in einer Selbstidentifizierung, Selbstthematisierung und Bewusstmachung

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ders. / Fahle, Oliver / Neitzel, Britta / Pias, Claus / Vogl, Joseph (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 301-307, S. 301; ders. / Vogl, Joseph: Editorial, in: dies. (Hg.): Mediale Historiographien, Weimar 2001, S. 5-8, S. 6; Spreen, Dierk: Tausch, Technik, Krieg. Die Geburt der Gesellschaft im technisch-medialen Apriori, Berlin / Hamburg 1998, S. 7; Wetzel, Michael: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Von den literarischen zu den technischen Medien, Weinheim 1991, S. 82. Vgl. Engell, Lorenz: Wahrnehmung. Zur Einführung, in: ders. / Fahle / Neitzel / Pias / Vogl (Hg.): Kursbuch Medienkultur, S. 301-307, S. 301. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 86f. Engell, Lorenz: Ausfahrt nach Babylon, in: ders.: Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar 2000, S. 263–303, S. 284f. Flusser, Vilém: Hinweg vom Papier, in: ders.: Medienkultur, S. 61-66, S. 61. Vgl. Jahraus: Literatur als Medium, S. 383; Schmidt, Siegfried J.: Medien – Kultur – Wissenschaft, in: Pias, Claus (Hg.): Dreizehn Vorträge zur Medienkultur, Weimar 1999, S. 183-198, S. 195. Vgl. auch Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 409: „Im Zusammenwirken aller Kommunikationsmedien — der Sprache, der Verbreitungsmedien und der symbolisch generalisierten Medien — kondensiert das, was man mit einem Gesamtausdruck Kultur nennen könnte.“ Ebd., S. 880.

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System und Mythos

seiner historischen Kontinuität261. Wie immer diese Beschreibung also ausfällt (oder dann auch wiederum beschrieben werden mag), sie ist immer selbst schon Teil ihres Objektes: „Die Beschreibung vollzieht das Beschriebene. Sie muss also im Vollzug der Beschreibung sich selber mitbeschreiben. Sie muss ihren Gegenstand als einen sich selbst beschreibenden Gegenstand erfassen“262,

und nichts anderes ist nach Luhmann ja auch die gesellschaftliche Funktion der Medien, nämlich das „Dirigieren der Selbstbeobachtung der Gesellschaft des Gesellschaftssystems – womit nicht ein spezifisches Objekt unter anderen gemeint ist, sondern [...] eine Beobachtung, die die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit selbst erzeugt und in diesem Sinne autopoietisch abläuft“263.

Eine Beobachtung der Medien, also eine Selbstbeobachtung der Direktion der Selbstbeobachtung, ist insofern eine Beobachtung der blinden Flecke jedweder Beobachtung, d.h. jener „Nicht-Sicht, welche die Sichtbarkeit ermöglicht und begrenzt“ und so als Bedingung der Möglichkeit des Sehens im Sehen nicht gesehen werden kann264. Medien sind daher nur als unbeobachtbar beobachtbar, nur indirekt und über die Bildungen der Formen, die jeweils durch sie ermöglicht werden265 – Wahrnehmungen, Ordnungen, Vermittlungen, Verfügungen, Veränderungen, Darstellungen, Messungen, Ereignisse, Erlebnisse, Funktionen, Repräsentationen, Sinnfiguren, Bilder, Texte, Systeme266 –, und so sind Medien auch ihrerseits zugleich als Formen zu begreifen, nämlich als spezifische Formen der Konstruktion von Realität. Was Greenaways Filme als eine Selbstreflexion der Medien so leisten, ist also eine Repräsentanz der Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit, die dabei doch unsichtbar bleiben müssen, wie Kunst ja überhaupt auch als ein Sichtbarmachen des Unsichtbaren aufgefasst werden kann – nur eben nicht in jenem Sinne, dass dann etwa gesehen werden könnte, was vorher sich der Sicht entzogen hätte, jetzt aber exponiert, freigelegt oder „entdeckt“ wäre, sondern im Sinne einer „sokratischen Ignoranz“: dass man sehen kann, dass

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Ders.: Ist Kunst codierbar?, S. 187. Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 16. Ders.: Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 173. Vgl. Foerster, Heinz von: Das Gleichnis vom Blinden Fleck. Über das Sehen im Allgemeinen, in: Lischka, Gerhard Johann (Hg.): Der entfesselte Blick, Bern 1993, S. 14-47; Luhmann: Erkenntnis als Konstruktion, S. 224; ders.: Wie lassen sich latente Strukturen beobachten?, in: Watzlawick, Paul / Krieg, Peter (Hg.): Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. Festschrift für Heinz von Foerster, Heidelberg 2002, S. 61-74, S. 61; Derrida: Grammatologie, S. 282. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 168f., 171, 180; Engell, Lorenz: Form und Medium im Film, in: Brauns, Jörg (Hg.): Form und Medium, Weimar 2002, S. 155-166, S. 156. Ders.: Tasten, Wählen, Denken, S. 54.

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man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann267. Dabei haben auch Greenaways wie immer medial verfasste Beobachtungen der Verfassungen von Medien eine spezifische Form, und zwar: die Form des Mythos im Sinne von Claude Lévi-Strauss, und d.h. wiederum: die Form der Differenz von Medium und Form, die der Mythos seinerseits als Medium verwendet, und zwar: als ein Medium „zweiter Ordnung“, in dem die Differenz von Medium und Form ihrerseits medial verwendet werden kann, nämlich als Medium der Wahrnehmung und Kommunikation268.

A Mythology of Systems269 Bezeichnet nach Luhmann der Begriff des Systems, genau wie der des Mythos in seiner mehr als vielfältigen Verwendung mitunter sozusagen ein all-purpose word, ja immerhin noch einen „realen Sachverhalt“270, so scheint dies für den Mythos nicht zu gelten: „Nach mehr als vierzigjähriger Forschungspraxis im Bereich von mythenreichen Gesellschaften meinte der britische Sozialanthropologe Edmund Leach am Ende, er habe es aufgegeben, nach einer Definition dieses Begriffes zu suchen; er sei zwar unentbehrlich, habe aber keinen angebbaren Sinn. Wenn das richtig wäre, hätten wir es beim Mythos offenbar mit einem Mythos zu tun, mit einem Mythos vom Mythos; mit einem Mythos, den Sozialanthropologen erfunden haben, um ihre Daten besser ordnen zu können, dem aber keine angebbare Realität entspricht.“271

Anstelle einer Einheitsdefinition eines (wenngleich vielleicht nicht sinnlosen, so doch jedenfalls „notwendigerweise immer zu engen“) Begriffs verlegen sich daher dann auch Aleida und Jan Assmann auf eine Unterscheidung mehrerer möglicher Begriffe, so etwa •



eines polemischen Begriffs (um ein „überwundenes Stadium kulturhistorischer Entwicklung“, eine Unwahrheit, einen Aberglauben oder einen Trug oder gar Betrug zu bezeichnen); eines historisch-kritischen Begriffs (in dem der Mythos die „zeitbedingte Einkleidung einer an sich zeitlosen Wahrheit“ darstellt);

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Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 718; ders.: Weltkunst, in: ders. / Baecker, Dirk / Bunsen, Frederick D.: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 7-45, S. 14; ders.: Ökologische Kommunikation, S. 59; Foerster: Das Gleichnis vom Blinden Fleck, S. 45; Plat. Apol. 21d-22d. Luhmann, Niklas: Das Medium der Kunst, in: ders.: Aufsätze und Reden. Hg. von Oliver Jahraus, Stuttgart 2001, S. 198-217, S. 202. Vgl. Beer, Stafford: Below the Twilight Arch. A Mythology of Systems, in: General Systems. Yearbook of the Society for General Systems Research V(1960), S. 9-20. Ders.: Soziale Systeme, S. 599. Ders.: Brauchen wir einen neuen Mythos?, in: ders.: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, S. 254-274, S. 254.

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System und Mythos •

• •





eines funktionalistischen Begriffs (mit dem Mythos als dem „kulturellem Leistungswert“ einer begründenden, legitimierenden oder weltmodellierenden Erzählung); eines „Alltags-Mythos“ (dessen „mentalitätsspezifische Leitbilder“ dann ein „kollektives Handeln und Erleben prägen“); eines narrativen Begriffs (in dem der Mythos – wie etwa in Aristoteles’ POETIK – eine „integrale Erzählung mit den strukturierenden Konstituenden von Anfang, Mitte und Ende“ bezeichnet), eines literarischen Begriffs (der als reflexive Re-Aktualisierung, Umdeutung und Umschrift bestehender Mythentraditionen „gerade nicht in seiner Ursprünglichkeit und Verbindlichkeit verstanden werden [will], sondern als ,immer schon in Rezeption übergegangen‘“, der Heiligkeit durch „essentielle Distanz“ und Unveränderlichkeit durch „spielerische Behandlung, Variation und Freiheit der Imagination“ ersetzt) oder schließlich der Bezeichnung eines „Gerücht[s], eine[r] unbeglaubigte[n] Erzählung oder erfundene[n] Geschichte“ (d.h. „unverbürgt und fiktiv in bezug auf historische Authentizität“) über einen Effekt von „Inszenierungen und Medienstrategien“ bis hin zur Benennung ganz einfach eines Irrglaubens, einer Unwahrheit oder eines Betrugs272.

Da nun aber der Begriff des Mythos, wie er hier verwendet werden soll, nicht eindeutig in eine dieser Kategorien einzuordnen ist (während er doch Merkmale aller dieser Kategorien aufweist), ist es einer solchen Klassifizierung gegenüber vielleicht aussichtsreicher, zunächst einmal auszuschließen, was Mythen alles nicht sind – also, nach Lévi-Strauss, weder „grundloses Spiel“ noch „grobschlächtige Form philosophischer Spekulation“, keine „Versuche [...], schwer begreifbare astronomische, meteorologische und ähnliche Phänomene zu erklären“, und auch kein reiner „Reflex der Sozialstruktur und der sozialen Beziehungen“273 –, um sie dann begrifflich funktional zu fassen, und zwar: als ein dem wissenschaftlich-diskursiven Denken nicht im Sinne einer primitiven Vorform unterstellter, sondern als ein unabhängiger und eigenständiger Modus des Denkens, als eine äquivalente Art der Beobachtung und der Erkenntnis274. Dabei ist jedoch zuallererst dem Irrtum vorzubeugen, in den Mythen einfach mehr oder weniger primitive

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Assmann, Aleida / Assmann, Jan: Artikel „Mythos“, in: Cancik, Hubert / Gladigow, Burkhard / Kohl, Karl-Heinz (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Band IV, Stuttgart / Berlin / Köln 1998, S. 179-200. Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 227. Ders.: Das wilde Denken, S. 25ff. Zwischen mythischem und wissenschaftlichem Denken als vermeintlich „primitivem“ bzw. „fortschrittlichem“ bestehen insofern nicht nur keinerlei „qualitative Unterschiede“ (Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 253f.), vielmehr bieten „Logik und Mythik unterschiedliche, funktional äquivalente Formen der Auflösung von Paradoxien [...], unterschiedliche Formen der Entparadoxierung der Welt“ (Luhmann: Brauchen wir einen neuen Mythos?, S. 259) – wobei der Logos als Gegensatz zum Mythos und damit der Gegensatz von Logos und Mythos möglicherweise selber nur ein Mythos ist (vgl. Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 431).

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Welterklärungen zu sehen, wo es sich bei ihnen doch vielmehr um gesellschaftliche Selbstbeschreibungen handelt: „Man muss sich damit abfinden“, so Lévi-Strauss, „die Mythen sagen nichts aus, was uns über die Ordnung der Welt, die Natur des Realen, den Ursprung des Menschen oder seine Bestimmung belehrt. [...] Hingegen lehren uns die Mythen viel über die Gesellschaften, denen sie entstammen, sie helfen uns, die inneren Triebfedern ihres Funktionierens aufzudecken.“275

Es kann in ihrer Analyse also auch nicht darum gehen, wie Mythen die Welt erklären (und ob diese Erklärungen dann z.B. wissenschaftlich haltbar sind), sondern darum, wie sie ihre Welten konstruieren, und was diese Konstruktionsleistungen dann für die Gesellschaften bedeuten, die mit ihnen operieren – so wie wir, mit Heinz von Foerster, wenn wir Herrn X ein Gemälde zeigen, das er als obszön bezeichnet, sehr viel über Herrn X erfahren, aber recht wenig über das Gemälde276 – mit dem Zusatz allerdings, dass ein Mythos eben nicht auf einen Herrn X oder Y zurechenbar ist, sondern vielmehr die „Rede einer Gesellschaft“ darstellt, für die es keinen persönlichen Sprecher gibt277. In diesem Sinne ist ein Mythos vielleicht beschreibbar als Komplex verschiedener re-entries: Wenn überhaupt „Welt“ beobachtet werden soll, so kann dies ja, wie beschrieben, nur innerhalb der Welt geschehen, die sich also in einen beobachtenden und einen beobachteten Teil spalten muss. Um sich dann aber als Beobachter in einer Umwelt von dieser Umwelt unterscheiden zu können, unterscheidet z.B. der Mensch sich selbst in sich selbst nach Selbstreferenz und Fremdreferenz seiner Beobachtungen. Die Welt wird entsprechend nach der Unterscheidung menschlich / nicht-menschlich beobachtet (aber eben: durch den Menschen) und im weiteren nach der Unterscheidung kontrollierbar / unkontrollierbar (deren Verwendung ihrerseits ja durchaus kontrollierbar sein muss), und das Nicht-menschlich-Unkontrollierbare wird wiederum geschieden in einen sinnlichen und einen übersinnlichen Bereich, was dann am Ende seinen Niederschlag im Mythos findet – als einem seinerseits dann sinnlichen-ästhetischen Objekt, dessen Beobachtung durch eine Serie von Unterscheidungen konditioniert wird278. Ein Mythos – als eine spezifische Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung also, in der die Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft sich repräsentiert, ja

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Lévi-Strauss, Claude: Mythologica IV. Der nackte Mensch, Frankfurt am Main 1975, S. 749. Foerster, Heinz von: Zukunft der Wahrnehmung: Wahrnehmung der Zukunft, in: ders.: Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Heidelberg 1999, S. 3-14, S. 5.; ders.: Kybernetik der Kybernetik, in: ders.: Short Cuts. Hg. von Peter Gente, Heidi Paris und Martin Weimann, Frankfurt am Main 2002, S. 67-74, S. 71. Ders.: Das wilde Denken. Zur wissenschaftlichen Methode des Strukturalismus, in: ders.: Mythos und Bedeutung, S. 71-112, S. 92; ders.: Der nackte Mensch, S. 745. Vgl. Godelier, Maurice: Mythos und Geschichte. Überlegungen über die Grundlagen des wilden Denkens, in: Eder, Klaus (Hg.): Die Entstehung von Klassengesellschaften, Frankfurt am Main 1973, S. 301-329.

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System und Mythos

die der Selbstbeobachtung der Welt selbst noch als imago mundi dient279 – leistet so die Beobachtung des Unbeobachtbaren, die Vertrautheit mit dem Unvertrauten, die Anthropomorphisierung des Nicht-Menschlichen – mit der besonderen Pointe, dass gerade auch die Form des Mythos jenem „humanistischen Vorurteil“280 einer Zentrierung des Menschen als Subjekt aller Beobachtung und Kommunikation entgegen (also: in einer weiteren „Kränkung menschlicher Eigenliebe“281) schließlich den Verdacht erhärtet, dass der Mensch tatsächlich überhaupt nicht kommunizieren kann; dass vielmehr nur die Kommunikation es ist, die kommuniziert, und die dazu sich des Menschen nur bedient; und dass sie also, um sich fortzusetzen, ihn dazu einfach ihrerseits: als Medium benutzt – als Assistenz der Assistenz der Selbstbeobachtung der Welt282. „Mythen haben keinen Autor“283: so, wie Lévi-Strauss das menschliche Subjekt nur als den „unsubstantielle[n] Ort“ beschreibt, „der einem anonymen Denken dargeboten wird, damit es sich darin entfalte“, so beschreibt er auch den Mythos als ein über- bzw. nichtpersonales „Sinnsystem“, das mit unbekümmerten Gleichmut sich „die unbegrenzte Reihe der sprachlichen Träger gefallen [lässt], die seine sukzessiven Erzähler ihm geben können“284 – woraus Umberto Eco dann den Schluss zieht, „die Welt der Mythen und der Sprache sei das Spielfeld eines Spieles, das sich hinter dem Rücken des Menschen abspiele und in dem der Mensch nicht impliziert sei, außer als gehorsame Stimme, die sich dazu hergebe, eine Kombinatorik auszudrücken, die über ihn hinausgehe und ihn als verantwortliches Subjekt vernichte.“285

Wie solche letztlich moralischen Vorwürfe auch zu diskutieren sind (und was immer sie für ein Theorieprogramm besagen können)286: zunächst einmal

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Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 883; Eliade, Mircea: Die Sehnsucht nach dem Ursprung. Von den Quellen der Humanität, Wien 1973, S. 104. Luhmann: Der Begriff der Gesellschaft, S. 2; ders.: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen, S. 159. Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, hg. von Anna Freud. Band 12: Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt am Main 1999, S. 3-12, S. 11. Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 111; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 17, 31, 282; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 308. Lévi-Strauss, Claude: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt am Main 1971, S. 34. Ders.: Der nackte Mensch, S. 732, 761. Eco: Einführung in die Semiotik, S. 371. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 317ff.; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1130f.; Foerster, Heinz von: Das Konstruieren einer Wirklichkeit, in: Watzlawick, Paul (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München / Zürich 1981, S. 39-60; Gumbrecht, Hans Ulrich: Tod des Subjekts als Ekstase der Subjektivität, in: ders. / Weimann, Robert (Hg.): Postmoderne – globale Differenz, Frankfurt am Main 1991, S. 307-312.

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sind Mythen – wie ja, nach Luhmann, alle Kommunikation schlechthin287 – eine Methode zur Erzeugung von Redundanz288: Oft schon habe man sich ja gefragt, so Lévi-Strauss, „weshalb die Mythen [...] einen so häufigen Gebrauch von der Verdoppelung, Verdreifachung oder Vervierfachung ein und derselben Geschichte machen. Wenn man unsere Hypothesen annimmt, ist die Antwort einfach. Die Wiederholung hat eine Eigenfunktion, die die Struktur des Mythos manifest machen soll [...], die in und durch den Vorgang der Wiederholung an der Oberfläche durchscheint, wenn man so sagen darf“289,

und diese Manifestation erläutert Lévi-Strauss dann so: „Stellen wir uns Archäologen späterer Zeiten vor, die von einem anderen Planeten auf die Erde heruntergekommen sind, wo alles menschliche Leben erstorben ist, und die eine unserer Bibliotheken durchwühlen. Diese Archäologen wissen überhaupt nichts von unserer Schrift, aber sie versuchen dennoch, sie zu entziffern, was die Entdeckung voraussetzt, dass das Alphabet, wie wir es drucken, von links nach rechts und von oben nach unten gelesen wird. Doch eine Kategorie von Bänden ist auf diese Weise nicht zu entziffern. Das sind die Orchesterpartituren, die in der Musikabteilung aufbewahrt werden. Unsere Gelehrten werden zweifellos alles daran setzen, die Notenreihen zu lesen, indem sie oben auf der Seite anfangen und der Reihenfolge nach weiterlesen; dann werden sie merken, dass bestimmte Notengruppen in gewisen Abständen immer wiederkehren, entweder ganz oder teilweise, und dass bestimmte melodische Gebilde, die sichtlich weit voneinander entfernt sind, einander ähneln. Vielleicht werden sie sich dann fragen, ob diese Gebilde, anstatt der Reihe nach gelesen zu werden, nicht besser wie Elemente eines Ganzen, die im Zusammenhang zu begreifen sind, behandelt werden müssen. Dann hätten sie das Prinzip dessen entdeckt, was wir Harmonie nennnen: eine Orchesterpartitur hat nur Sinn, wenn sie diachronisch gemäß der einen Achse (Seite nach Seite von links nach rechts), zugleich aber auch synchronisch und gemäß der anderen Achse, von oben nach unten, gelesen wird. Anders ausgedrückt, alle Noten auf derselben Vertikalen bilden eine große Teileinheit, ein Beziehungsbündel.“290

Wie nun die Noten der Partitur, so sind Lévi-Strauss zufolge auch die Elemente eines Mythos, d.h. die Ereignisse seiner Geschichte (die sogenannten „Mytheme“), aus der Relation ihrer Relationen, d.h. aus dem Verhältnis ihres (diachronen) Nacheinanders und ihres (synchronen) Zueinanders zu begreifen, indem sie zu Gruppen gleichen Typs oder gemeinsamer Merkmale geordnet werden und aus der Korrelation dieser Gruppen dann die synchro-diachronische Struktur des Mythos als das 287

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Vgl. Luhmann, Niklas: Intersubjektivität oder Kommunikation, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 162-179, S. 168; ders.: Systeme verstehen Systeme, S. 107. Vgl. Leach, Edmund: Lévi-Strauss zur Einführung. Mit einem Nachwort von KarlHeinz Kohl und einer Auswahlbibliographie von Klaus Zinniel, Hamburg 1991, S. 71f. Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 253. Ebd., S. 232f.

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System und Mythos

logische Schema der Anordnung und Verknüpfung seiner Elemente zu rekonstruieren ist, als sein „genetisches Gesetz“291: „Der Mythos wird also manipuliert werden wie eine Orchesterpartitur, die ein verrückter Amateur Seite für Seite in Form einer kontinuierlichen melodischen Reihe übertragen hat und die man nun in ihrer ursprünglichen Anordnung wiederherzustellen versucht. Ein wenig so, als ob man uns eine Folge ganzer Zahlen anböte, etwa 1, 2, 7, 8, 2, 3, 4, 6, 8, 1, 4, 5, 7, 8, 1, 2, 5, 7, 3, 4, 5, 6, 8, mit der Weisung, alle 1, 2, 3 usw. in Form einer Tabelle zu ordnen. [...] So erhält man mehrere, jeweils einer Variante gewidmete zweidimensionale Tabellen, die man wie parallele Ebenen hintereinanderstellt, um zu einem dreidimensionalen Ganzen zu kommen, welches dann auf dreierlei Art ,gelesen‘ werden kann, von links nach rechts, von oben nach unten, von vorn nach hinten (oder umgekehrt)“, so dass „die differentiellen Abstände, die man immer beobachten kann, bezeichnende Korrelationen zeigen, die es gestatten, das Ganze durch allmähliche Vereinfachungen logischen Operationen zu unterwerfen, so dass man schließlich das Strukturalgesetz des betreffenden Mythos erhält.“292

Entscheidend dabei ist nun – da dergestalt der „Sinn“ der Mythen eben „nicht an den isolierten Elementen hängen [kann], die hier in ihrer Zusammenstellung erscheinen, sondern nur an der Art und Weise, in der diese Elemente zusammengesetzt sind“293 –, dass die Struktur des Mythos immer eine „kontradiktorische“ Struktur ist, in der eine je gesellschaftsspezifische Aporie sich ausdrückt294, und „die wohl auffälligste Eigenart von Mythen ist demnach: dass sie eine Differenz formulieren – z.B. die Differenz von Chaos und Kosmos, von Unsterblichen und Sterblichen, von Geburt und Tod, von Überfluss und Knappheit, von Sünde und Strafe, von zweigeschlechtlichen (androgynen) und geschlechtlich-differenzierten Lebewesen, von Rohem und Gekochtem, von alter Zeit und jetziger Zeit, von Titanen und Göttern“295,

wodurch sie dann ein „logisches Modell“ liefern, die unlösbare Aufgabe der Auflösung eines elementaren Widerspruchs zu lösen296, d.h. „ein Entzifferungsraster, eine Matrix von Beziehungen, welche die erlebte Erfahrung filtert und organisiert, an ihre Stelle tritt und die heilsame Illusion verschafft, dass Widersprüche überwunden und Schwierigkeiten gelöst werden könnten“297,

291 292 293 294 295 296 297

Ebd., S. 252. Ebd., S. 234, 239f. Ebd., S. 231. Ebd., S. 238. Luhmann: Brauchen wir einen neuen Mythos?, S. 257. Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 253. Ders.: Der nackte Mensch, S. 774.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

insofern das mythische Denken von einer Bewusstmachung bestimmter Gegensätze ausgeht und dann zu ihrer allmählichen (scheinbaren) Ausgleichung hinführt298. Scheinen die unterschiedlichen Mythen also eventuell zunächst nichts anderes als „absurde Erzählungen“ zu sein, die nichts miteinander zu tun haben oder selbst einander widersprechen, so hat sich ihre Analyse auf die Beziehungen zwischen all diesen Absurditäten zu verlegen299 – bis schließlich sich herausstellt, dass „erzählen (conter) immer nur eine Erzählung wiederholen (conte redire) heißt, was sich auch contredire (widersprechen) schreibt“300. Das heißt zugleich, dass die Suche nach einer „authentischen“ oder „ursprünglichen“ Version eines Mythos sinnlos ist: es gibt ganz einfach „keine ,wahre‘ Fassung, im Verhältnis zu der alle anderen Kopien oder deformierte Echos wären“301, vielmehr gehören alle Fassungen in gleicher Art zum Mythos, und der Mythos selbst besteht nur in der Gesamtheit seiner Fassungen – die Mythen, so Lévi-Strauss, „denken sich in gewisser Weise untereinander“ und bilden dadurch ein „geschlossenes System“302. Die Konstituierung und Perpetuierung eines Mythos verdankt sich also keinerlei externen Instanz, sondern ereignet sich nur in seiner Selbsttransformation, so dass sich, Lévi-Strauss zufolge, für seine Analyse auch die „Notwendigkeit methodologischer Ordnung“ ergibt, „nichts von dem Mythos anders als durch den Mythos zu erklären und folglich die willkürliche Perspektive auszuschließen, die den Mythos von außen betrachtet und deshalb dazu neigt, äußere Ursachen für ihn zu finden. Man muss sich im Gegenteil von der Überzeugung leiten lassen, dass sich hinter jedem mythischen System als ausschlaggebende Faktoren, die es bestimmen, andere mythische Systeme abzeichnen.“303

Ein Mythos ist so „ein geschlossenes System ohne Anfang und Ende“304; und besteht zwar in der Struktur der Mythen ihr „genetisches Gesetz“, das die Vorauswahl des in ihnen Möglichen leistet und das Mögliche wiederum als Bestimmtes oder doch Bestimmbares seinerseits: ermöglicht305, so ist doch die Struktur eben nur ein (und wenn auch unverzichtbarer, so dennoch isoliert nicht funktionabler) Teil jener „immensen kombinatorischen Maschine, die 298 299 300 301 302

303 304

305

Ders.: Die Struktur der Mythen, S. 247. Ders.: Der nackte Mensch, S. 807. Ebd., S. 755. Ders.: Die Struktur der Mythen, S. 241. Ders.: Das Rohe und das Gekochte, S. 26; ders.: Wenn der Mythos Geschichte wird, in: ders.: Mythos und Bedeutung, S. 47-56, S. 53; vgl. Godelier: Mythos und Geschichte, S. 316. Lévi-Strauss: Der nackte Mensch, S. 735f. Godelier: Mythos und Geschichte, S. 316. Vgl. Lévi-Strauss: Der nackte Mensch, S. 757f.: „Die Mythen sind lediglich ineinander übersetzbar, so wie eine Melodie nur in eine andere Melodie übersetzbar ist [...]. Aber wenn man stets, praktisch ins Unendliche, eine Melodie in eine andere Melodie, eine Musik in eine andere Musik übertragen kann, wie auch im Falle der Mythologie, so lässt sich die Musik doch nicht in etwas anderes als sie selbst übersetzen.“ Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 115, 121.

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System und Mythos

jedes mythische System bildet“306: Mythen, ließe sich so auch sagen, sind Systeme und haben eine Struktur307, nach deren Maßgabe sie zudem an ihre Umwelt angekoppelt sind, der gegenüber das System nicht völlig indifferent sein kann; denn dass er ein operativ geschlossenes System bildet, heißt ja nun etwa nicht, „dass der Mythos in jedem Stadium dieser komplexen Entwicklung beim Übergang von einer Gesellschaft zur anderen und in der Nachbarschaft anderer technoökonomischer Infrastrukturen, deren Anziehungskraft er jedesmal erliegt, nicht abgelenkt würde. Er muss sich ihrem Räderwerk anpassen, und wir haben zu wiederholten Malen gezeigt, dass man, um die differentiellen Abstände zu verstehen, die sich in Versionen ein und desselben Mythos bei benachbarten oder entfernten Gesellschaften zeigen, der Infrastruktur gerecht werden muss. Eine jede Version des 306 307

Lévi-Strauss: Der nackte Mensch, S. 654f. Vgl. Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 125; ders.: Legitimation durch Verfahren, Berlin / Neuwied am Rhein 1969, S. 41. „Rahmt“ in diesem Sinne (und auf jeden Fall in dieser Arbeit) die Systemtheorie die strukturale Mythenanalyse – so, wie Systeme ihrerseits Strukturen haben und insofern auch der Begriff der Struktur einer funktional-strukurell angelegten Systemtheorie zwar unentbehrlich bleibt, andererseits aber als einer unter anderen in einem „vielfältigen Arrangement verschiedener Begriffe“ seine Zentralstellung verliert (Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 113f.; ders.: Soziale Systeme, S. 382) – oder umgekehrt? Luhmann z.B. kann ja durchaus selbst, etwa mit Walter Reese-Schäfer, als mythopoietischer Bastler betrachtet werden: „Wo es „um Begriffskonstruktionen geht, greift er immer wieder auf philosophische Begriffe zurück, ist allerdings nur sehr selten an einer Auseinandersetzung mit den Gedanken der Autoren interessiert, auf die er sich bezieht [...]. Ihn interessiert, was er aus ihrem Werk für seine Zwecke entnehmen kann und welche Überlegungen er assoziativ an sie anknüpfen kann – sonst nichts. Ganz bewusst wählt er also nicht den Zugang des an systematische oder fachgeschichtliche Konventionen gebundenen Fachmannes, sondern des Kollegen aus einem anderen Ressort. Im Zentrum seines Denkens steht die Konstruktion seines eigenen Begriffssystems, nicht die Auseinandersetzung mit Fachtraditionen.“ (Niklas Luhmann zur Einführung, Hamburg 1999, S. 149.) Die Methodik der bricolage ist Luhmann also offenbar nicht fremd; wie auch die Serie seiner Arbeiten ihrerseits als geschlossenes System betrachtet werden kann, in dem dann sozusagen der Mythos der Systemtheorie – „a mythology of systems“, um mit Stafford Beer zu sprechen (Beer: Below the Twilight Arch) – als „eine der großen Metaerzählungen, als mythische[r] Entwurf einer sich durch Beobachtung unbeobachtbar machenden Welt“ (Schulte, Günter: Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie, Frankfurt am Main / New York (NY) 1993, S. 2) sich konstituiert – nämlich, wie es sich für Mythen ja geziemt, in der Gesamtheit seiner Fassungen vom „Einleitungskapitel“ SOZIALE SYSTEME über DIE WIRTSCHAFT DER GESELLSCHAFT, DIE WISSENSCHAFT DER GESELLSCHAFT, DAS RECHT DER GESELLSCHAFT und DIE KUNST DER GESELLSCHAFT (sowie die erst posthum veröffentlichten Arbeiten DIE POLITIK DER GESELLSCHAFT und DIE RELIGION DER GESELLSCHAFT) bis hin zum „Schlussstein“ DIE GESELLSCHAFT DER GESELLSCHAFT: Die These vom Ende der Großen Erzählungen kann eben nur in einer weiteren Großen Erzählung aufgestellt werden (vgl. Luhmann: Warum „Systemtheorie“?, S. 8; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1144).

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“ Mythos verrät also den Einfluss eines doppelten Determinismus: der eine verknüpft sie mit einer Folge von früherern Versionen oder einer Gesamtheit von fremden Versionen, der andere wirkt gleichsam transversal, durch Zwänge infrastrukturellen Ursprungs, welche zur Modifizierung dieses oder jenes Elements zwingen, woraus folgt, dass das System sich reorganisiert, um diese Unterschiede äußeren Notwendigkeiten anzupassen.“308

Nur die Differenz von System und Umwelt ermöglicht ja Evolution (oder macht diese für das System notwendig), doch besteht die Evolution eines Systems eben nicht einfach in einer Anpassung an seine Umwelt (die sie gleichwohl immer schon voraussetzen muss), sondern ist vielmehr als Steigerung seiner Unabhängigkeit von dieser Umwelt zu begreifen und funktioniert nur durch die „fortlaufende Selbsterneuerung des Systems im geschlossenen Betrieb“309. Die verschiedenen Versionen eines Mythos sind so, so Lévi-Strauss, als „zeitweilige und lokale Antworten auf die Probleme [zu betrachten], welche die realisierbaren Anpassungen und unmöglich zu überwindenden Widersprüche stellen, die sie dann zu legitimieren oder zu verschleiern suchen“310, so dass die Innenseite des Mythos also immer auf sein Außerhalb bezogen und der Mythos damit als (zwar autonomes, aber eben nicht: autarkes) System in einer Umwelt zu beobachten ist, die operativ natürlich nicht in das System hineinreicht, mit der es aber gleichwohl strukturell gekoppelt ist. Umgekehrt vermag der Mythos zwar auch keine Macht über die Umwelt zu verschaffen311, wohl aber, sie als internes Referential verfügbar zu machen, von dem man dann die Illusion seines Verständnisses erhalten kann312 – und genau darin, also „die Komplexität einer chaotisch scheinenden Welt [...] auf eine nicht-bedrohliche Ordnung zu reduzieren, ohne in die ,Welt‘ selbst einzugreifen“313, liegt dann auch seine Funktion:

308 309

310 311 312

313

Lévi-Strauss: Der nackte Mensch, S. 736. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 433; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 556; ders.: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie, in: Gumbrecht, Hans Ulrich / Link-Heer, Ursula (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt am Main 1985, S. 11-33, S. 14. Ebd., S. 736. Ders.: „Primitives“ Denken und „zivilisiertes“ Denken, S. 29f. Lévi-Strauss, Claude: „Primitives“ Denken und „zivilisiertes“ Denken, in: ders.: Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Gespräche mit Claude Lévi-Strauss, hg. von Adelbert Reif, Frankfurt am Main 1980, S. 27-46, S. 29f. Genau das verlangen Esser, Klenovits und Zehnpfennig ironischerweise von „gut bestätigte[n] empirische[n[ und logisch gehaltvolle[n] Theorien“ – und genau das ist es auch, was ihrer Ansicht nach „Luhmanns Ansatz [...] mit Sicherheit nicht in der Lage [ist] zu leisten“ (Esser / Klenovits / Zehnpfennig: Wissenschaftstheorie. Band 2, S. 61).

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System und Mythos „Der Mythos wird [...] nur verständlich, wenn man die operative Bedeutung der Unterscheidung von vertraut / nicht vertraut erkennt. Der Mythos nämlich macht diese Unterscheidung selbst vertraut. Er bewirkt [...] den Wiedereintritt (re-entry) der Unterscheidung in das Unterschiedene, in den ,marked space‘. In der vertrauten Welt kommt die Unterscheidung vertraut / unvertraut nochmals vor. [...] Er bezeichnet nicht nur das Hier und Jetzt des vertrauten Lebens, sondern gerade die Differenz zum anderen, vor der es vertraut sein kann. Der Mythos kontrolliert also gewissermaßen die Gefahr des Sichverlierens ins Unheimliche. Er inkorporiert damit die Paradoxie, die darin besteht, dass das Unvertraute im Rahmen einer vertrauten Unterscheidung als vertraut behandelt werden kann, auch wenn man zögern wird, ihm einen Namen zu geben. [...] Will man die Welt so beschreiben, dass man ihrer Ordnung trauen und Bedrohlichkeit ausgrenzen kann, bedient man sich des Mythos.“314

Wie alle kommunikativen Systeme, so haben auch die Mythen die grundsätzliche Funktion der Erfassung und Reduktion von Komplexität und damit der Erzeugung einer „operationsfähigen Weltgewissheit“315. Ihre Besonderheit dagegen liegt in ihrem Medium: die Mythen sind, so LéviStrauss, weil die Kombinatorik, die in ihren Erzählungen sich ausdrückt, zwar feststell-, aber dabei nicht auch ihrerseits erzählbar ist, gleichzeitig in der Sprache und jenseits der Sprache, gleichzeitig „als Systeme abstrakter Beziehungen und als Gegenstände ästhetischer Betrachtung“ zu betrachten; ein Mythos ist so „ein System von Begriffen [...], die in Bildern verdichtet sind“316. Damit aber genügt er auch dem oben aufgestellten medienphilosophischen Postulat eines funktionalen Äquivalents zur Sprache; gerade auch dann, wenn er Sprache seinerseits als Medium verwendet, und zwar als Medium der Anschauung317.

Ein Mythos zweiter Ordnung Das heißt dann aber auch, dass man (ohne sie damit etwa zu „Träumereien des Kollektivbewusstseins“ machen zu wollen318) offenbar in die Irre geführt würde, wenn man, mit Freud, die Mythen „nach ihrem Bilderwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte“319, oder wenn, mit Barthes, der Mythos als ein „Faktensystem“ gelesen würde, während er doch nur ein semiologisches System darstellt320. Wenn in diesem Sinne auch, wie oben schon erläutert, der Systembegriff als Ordnungsversprechen oder Suggestion einer „geordneten Verfasstheit des Weltalls“ (miss)verstanden wird, so wird das System dann seinerseits zum Mythos, dessen „eigentliches Prinzip“ (im

314 315 316 317 318 319 320

Luhmann: Brauchen wir einen neuen Mythos?, S. 256, 261. Ders.: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 116; ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 15. Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 229; ders.: Das wilde Denken, S. 39f., 304. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 36, 187. Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 227. Freud, Sigmund: Die Traumdeutung, in: ders.: Gesammelte Werke. Band 2/3: Die Traumdeutung / Über den Traum, Frankfurt am Main 1999, S. 1-642, S. 284. Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964, S. 115.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

Sinne einer „Täuschung über die wahre Komplexität der Welt“321) sodann, mit Roland Barthes, darin bestünde, das Historisch-Artifizielle zu verewigen und naturalisieren, Kontingenzen in Notwendigkeiten zu verwandeln und so „Antinatur“ in „Pseudonatur“ zu verkehren322. Genau diese Herstellung einer mythischen „Normalillusion“323 aber ist es dann ja auch, was Greenaway an Systemen und Systematiken so fasziniert und was er auch an ihnen vorführt; vor allem aber, ganz in diesem Sinne, auch, was jenen Bazinschen „Mythos vom totalen Film“ als dem „Mythos eines allumfassenden Realismus“, einer „totalen, allumfassenden Darstellung der Realität“ ausmacht, die „die äußere Welt in einer vollkommenen Illusion, mit Ton, Farbe und Relief, zu rekonstruieren“ vermöchte324: „Order, in Greenaway’s work [...], is always linked to absurdity and human vanity. In the face of the ultimate interrelatedness of everything [...], of the infinte variety of things and bodies and events and the meanings we give to them, systems are merely pompous examples of chaos: evasive, manipulative, self-deluding myths. [...] Order, in the world, is mocked by disorder and decay, counting is helpless in the face of the countless things to count; this is what we are reminded of by Greenaway’s organising principles and counting games, because their arbitrary and whimsical nature is foregrounded. […] The danger of systems is that they can appear natural. Greenaway suggests that we beware of their apparent inevitability in all areas by questioning the ‚natural‘ systems of cinema (both narrative and documentary).“325

Da nun aber Greenaways kinematographischer Diskurs über den (eben nicht zuletzt auch: kinematographischen) Mythos der Systeme so in einer Art von Zirkel gefangen ist, insofern sämtliche „destruktiven Diskurse“ dieser Art ja keinen einzigen destruktiven Satz bilden können, der „nicht schon der Form, der Logik, den impliziten Erfordernissen dessen sich gefügt hätte, was er gerade in Frage stellen wollte“326 – genau so, wie auch etwa Platons polemische Kritik der Schrift ja nur deshalb noch diskursfähig ist, eben weil sie schriftlich formuliert und überliefert werden konnte –; wenn, mit Derrida, der mythologische Diskurs selbst mythomorph sein muss, selber die Form dessen haben muss, worüber er spricht327, so bleibt ihm auch nichts weiter übrig, als gewissermaßen den Satan mit dem Beelzebul auszutreiben und Feuer auch mit Feuer zu bekämpfen – was dann aber weniger einen performativen Selbstwiderspruch bezeichnet als vielmehr eine Chance darstellt, wenn die Lösung eines Problems es auch erfordert, sich auf genau dieses Problem einzulassen328: 321 322 323 324

325 326 327 328

Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 120. Barthes: Mythen des Alltags, S. 112f., 130. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 61. Bazin, André: Der Mythos vom totalen Film, in: ders.: Was ist Film? Hg. von Robert Fischer. Mit einem Vorwort von Tom Tykwer und einer Einleitung von François Truffaut, Berlin 2004, S. 43-49, S. 45f. Woods: Being Naked Playing Dead, S. 22. Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel, S. 425. Ebd., S. 433. Wie übrigens auch vorliegende Untersuchung es bezüglich ihres eigenen Problems zu tun versucht, dem sie den Namen „Greenaway“ gegeben hat. Vgl. Lawson,

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System und Mythos „Die beste Waffe gegen den Mythos ist in Wirklichkeit vielleicht, ihn selbst zu mythifizieren, d.h. einen künstlichen Mythos zu schaffen. Dieser konstruierte Mythos würde eine wahre Mythologie sein. [...] Es ist das, was man einen experimentellen Mythos nennen könnte, ein Mythos zweiten Grades“329,

und genau das ist es dann, was Greenaway auch schafft: einen künstlichen, experimentellen, selbstreflexiven „Mythos zweiter Ordnung“, der gewissermaßen als „Mythos der Mythologie“330 mythologische Beschreibung und mythisches Beschriebenes zugleich wäre. Gewiss lassen sich Greenaways Filme mit ihrer ständigen Bezugnahme auf klassische Mythologien, mit einem Wort Renate Lachmanns, auch als „sekundäre mythenverarbeitende Instanz“ betrachten331, aber auf eine „bloße“ Fort- und Umschreibung bestehender Mythen kommt es primär bei ihnen gar nicht an, sondern vielmehr auf deren Reflexion. Zum Einen unterziehen Greenaways Filmen eine lange Reihe (religiöser, wissenschaftlicher, populärer, künstlerischer, medialer ...) Mythen einer Untersuchung sowohl ihrer jeweiligen Struktur und (vorgeblichen) Erklärungsleistung als auch ihrer funktionalen Äquivalenz und ihrer Übertrag- und Übersetzbarkeit – „we now have“, so Greenaway etwa zu A ZED AND TWO NOUGHTS, „the beginnings of a plot to explore many things: the absence of meaning in gratuitous death; is death predetermined?; how do religion and science deal with the problem? Is Genesis or Darwin the most likely myth; what other myth-systems try and answer the question?“332 –,

zum anderen aber ist die strukturale Mythenanalyse, wie Lévi-Strauss selbst vorgeschlagen hat333, durchaus auch anwendbar auf Werke einzelner Autoren (und wurde auch in diesem Sinne unter dem Label der „auteur analysis“ für den Film von Peter Wollen aufgenommen334) und empfiehlt sich in der Tat dann auch als Art und Weise, Greenaways Werk als einen großen kinematographischen Mythos, als eine variantenreiche „personal mythology“ zu untersuchen335, die oft genug ja selbst in Form „absurder Erzählungen“ daherkommt – wofür etwa der Myth of Tulse Luper336, der sich seit A WALK THROUGH H und VERTICAL FEATURES REMAKE durch Greenaways Filme zieht und in THE TULSE LUPER SUITCASES wenn nicht zu einem Abschluss, so doch zu einem Höhepunkt findet, wohl wiederum das beste Beispiel ist, ja

329 330 331

332 333 334 335 336

Hilary: Reflexivity. The Post-Modern Predicament, London / Melbourne / Sydney / Auckland / Johannesburg 1985, S. 7. Barthes: Mythen des Alltags, S. 121; vgl. Lévi-Strauss: Das Rohe und das Gekochte, S. 26. Vgl. ebd. Lachmann, Renate: „Doppelgängerei“, in: Frank, Manfred / Haverkamp, Anselm (Hg.): Individualität. Poetik und Hermeneutik XIII, München 1988, S. 421-439, S. 422. Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 218. Lévi-Strauss: Der nackte Mensch, S. 733. Wollen, Peter: Signs and Meaning in the Cinema, Bloomington 1972. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 28. Zitiert nach: http://www.tulseluperjourney.com/about.html (29.03.2009).

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

möglicherweise (und damit noch weit darüberhinaus): das (erste?) Beispiel einer bestimmten (post-)kinematographischen Art mythischen Denkens, einer Art „neuen Mythologie“ des Informationszeitalters337. Wie nach Lévi-Strauss das Kino nachgerade das „Museum der Mythen des modernen Menschen“ darstellt338, so weist Vilém Flusser auf den „mythischen Charakter“ und die „programmierte Magie der technischen Bilder“ hin: „Die allgegenwärtigen technischen Bilder um uns herum sind daran, unsere ,Wirklichkeit‘ magisch umzustrukturieren und in ein globales Bildszenarium umzukehren. [...] Die neue Zauberei sieht nicht darauf ab, die Welt dort draußen zu verändern, sondern unsere Begriffe betreffs der Welt. Sie ist Magie zweiten Grades: abstraktes Gaukeln. Der Unterschied zwischen alter und neuer Magie kann so gefasst werden: Die vorgeschichtliche Magie ist Ritualisierung von ,Mythus‘ genannten Modellen, die gegenwärtige ist Ritualisierung von ,Programm‘ genannten Modellen. Mythen sind Modelle, die mündlich weitergegeben werden und deren Autor – ein ,Gott‘ – jenseits des Kommunikationsprozesses steht. Programme dagegen sind Modelle, die schriftlich weitergegeben werden und deren Autoren – ,Funktionäre‘ – innerhalb des Kommunikationsprozesses stehen.“339

Nicht der Mythos ist dann, wie es bei Assmann und Assmann dann auch heißt, ein Produkt von Inszenierungen und Medienstrategien, sondern vielmehr die Welt selbst, für die der Mythos seinerseits, als ein „Programm“ im Sinne Flussers, ein „Organon zur Konstruktion von Wirklichkeit“ darstellt340; das Leben in dieser Wirklichkeit der durch technische Bilder kodifizierten Welt aber, dem struktural verstandenen Mythos darin gleich, wird dann „kein Drama mehr sein, das eine Handlung hat, sondern es wird ein Schauspiel sein, das ein Programm hat“341 – was sich gerade ebenso von Greenaways Filmen sagen lässt.

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338 339 340 341

So spricht Lévi-Strauss auch von der Gegenwart als einer „Entdeckung einer Welt der Information, in der von neuem die Gesetze des wilden Denkens herrschen“ (Das wilde Denken, S. 307), als deren prägendes Schlüsselwerk Greenaway dann seine TULSE LUPER SUITCASES anbietet (vgl. Greenaway: Have We Seen Any Cinema Yet?, o.S.; ders.: The Tulse Luper Suitcase, o.S.; ders.: Toward a re-invention of cinema, o.S. Vgl. Luhmann: Brauchen wir einen neuen Mythos?, S. 259; Schwering, Markus: Die Neue Mythologie, in: Schanze, Helmut (Hg.): Romantik-Handbuch, Tübingen 1994, S. 380-391. Delahaye, Michel / Rivette, Jacques: Gespräch mit Claude Lévi-Strauss, in: Filmkritik 4(1977), S. 175-183, S. 183. Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 10, 15ff. Assmann / Assmann: „Mythos“, S. 185, 198. Flusser, Vilém: Auf dem Weg zum Unding, in: ders.: Medienkultur, S. 185-189, S. 188.

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System und Mythos

Mediale Mythologien Der vorangegangenen (als solcher allgemein berüchtigten342 und hier daher doch sicherlich noch sehr behutsamen) „systemtheoretischen Reformulierung“ strukturaler Mythenanalyse ging es nicht allein, nach einem Desiderat Claus-Michael Orts, um eine Nutzbarmachung „strukturalistischer Residuen“ in Luhmanns Systemtheorie343, insofern diese eine Anschlussfähig- oder Überführbarkeit oder gar eine Integration fremdtheoretischer Konzepte ermöglichten. Gewiss: neben der Möglichkeit einer Präzisierung oder auch Neufassung des Begriffs des „mythischen Systems“ ist das offen ausgesprochene Angebot der Systemtheorie in der Tat das der Ersetzung (oder zumindest: der Ergänzung) der strukturalistischen Unterscheidung von Struktur und Ereignis durch diejenige von Medium und Form: wie die mythischen Erzählungen als analysierbare Objekte, wie Lévi-Strauss sagt, „nur im Dutzend etwas wert“ sind, da jede einzelne Erzählung immer in Differenz zu ihren Varianten zu bedenken und nur die Einheit dieser Differenz dann erst der Mythos „selbst“ ist, in dessen endlos variierenden Anwendungen eines invarianten Schemas dann die kombinatorischen Erzeugungsprozesse des Denkens überhaupt sich ausdrückten344, so ist ein Medium nach Luhmann ein zwar begrenzter, aber unausschöpflicher Bereich von Möglichkeiten, aus dem die Form dann eine bestimmte (und keine andere) auswählt, wobei die Differenz von Medium und Form z.B. nach Konstanz und Variabilität oder nach Potentialität und Aktualität zu prozessieren dann auch erst die Operativität der Kommunikation ermöglicht345; und wie der Mythos als Einheit über seine Varianten nur sozusagen virtuell verfügbar ist, so bleibt auch das Medium selbst „unsichtbar“ und ist nur indirekt, nur über seine Formen zu beobachten346. Medien wie Mythen bilden denn auch eben keine wie immer geartete „Realität“ ab, sondern vielmehr Selektionsverfahren, nach denen diese Realität dann erst zu konstruieren ist, ja Mythen lassen sich in diesem Sinne selbst als Medien begreifen. Darüberhinaus aber soll es nicht nur einfach darum gehen, beide

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Vgl. etwa Joas, Hans: Die Kreativität des Handelns, Frankfurt am Main 1992, S. 316. In diesem Sinne sind Systemtheoriker vielleicht sogar noch schlimmer als Goethes Mathematiker, die ihrerseits so „eine Art Franzosen“ seien; denn „redet man zu ihnen, so übersetzen sie es in ihre Sprache, und dann ist es alsobald ganz etwas anderes“ (Goethe, Johann Wolfgang von: Maximen und Reflexionen, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 12, München 1998, S. 365-547, S. 455). Ort: Systemtheorie und Hermeneutik?, S. 162. Lévi-Strauss: Das Zusammentreffen von Mythos und Wissenschaft, in: ders.: Mythos und Bedeutung, S. 17-26, S. 20; ders.: Die Struktur der Mythen, S. 238ff; ders.: Das Rohe und das Gekochte, S. 27f.; ders.: Das wilde Denken, S. 40, 44; ders.: Der nackte Mensch, S. 791, 795. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 195, Anm. 9; ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 171ff., 209; vgl. ders.: Die Autopoiesis des Bewusstseins, S. 60. Ders.: Das Medium der Kunst, S. 207; ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 168f., 171, 180; Engell, Lorenz: Form und Medium im Film, in: Brauns, Jörg (Hg.): Form und Medium, Weimar 2002, S. 155-166, S. 156.

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Einleitung: Das „System Peter Greenaway“

Begriffe ineinander zu überführbar zu machen, sondern vielmehr, sie aufeinander zu beziehen. Wenn etwa „mediale Historiographien“ in einem spezifischen Doppelsinne eines Selbstverhältnisses der „Medien-Geschichte“ als ihrerseits historisch zu verstehende Bedingungen der historiographischen Beschreibung ihrer selbst verstanden werden können347, so könnten mediale Mythologien in Analogie, aber auch im Unterschied hierzu dann weniger die Perspektive des medienhistorisch-wissenschaftlichen Komplexes mitsamt seiner Konditionierungen bezeichnen als vielmehr (und durchaus im Sinne Lévi-Strauss’) eine Reflexion der Medien auf ihre „Urszenen“, ihre eigenen latenten Strukturen, ihre „blinden Flecke“: eine Selbstbeobachtung des Unbeobachtbaren der Beobachtung, die der „empirischen Kontrolle“ ihrer wissenschaftlichen Wahrheit oder historischen Authentizität denn auch enthoben ist – Mythen sind nicht wissenschaftlich-wahrheitsfähig, nur heißt das aber nicht, dass sie nun etwa keine Form des Wissens wären. In diesem Sinne will ich denn auch vorschlagen, Greenaways Œuvre als eine Mythologie der Medien, als mediale Mythologie zu betrachten: als eine nicht-wissenschaftlichtheoretische, aber theorieäquivalente mediale Reflexionsform, die unter ebenjenen Bedingungen operiert, die Medien selber schaffen und sind, die durch ihre Beschreibung medialer Formen diese selbst mit produziert348.

347 348

Vgl. Engell, Lorenz / Vogl, Joseph: Editorial, in: Engell, Lorenz / Vogl, Joseph (Hg.): Mediale Historiographien, Weimar 2001, S. 5-8. Ebd., S. 6.

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02 Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE (1978)

Wie kommt es, dass dieser Film entsteht (und nicht vielmehr nicht, oder ein vollkommen anderer)? Die Frage, die Greenaways früher Kurzfilm VERTICAL FEATURES REMAKE stellt, ist keine andere als diejenige nach der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit, und zwar: als Bedingung seiner eigenen Möglichkeit. Ein obskures Forschungsinstitut, das Leben und Werk des ebenso obskuren Schriftstellers und Zeichners sowie Filme- und Projektemachers Tulse Luper untersucht, versucht eine Rekonstruktion eines Filmprojektes Lupers herzustellen – dessen angeblich verschollenes Original, wie sich im Verlauf des Unternehmens immer mehr auch der Verdacht aufdrängt, es möglicherweise allerdings genausowenig je gegeben hat wie Luper selbst. Indem in einem erbitterten Expertenstreit die Fragen nach Autorschaft und Authentizität verhandelt werden, stellt VERTICAL FEATURES REMAKE autologisch selber eine Untersuchung und Infragestellung der Programme und der Konventionen an, nach denen diese Prädikate je vergeben werden, und es zeigt, wie in einem re-entry der Unterscheidung von Wissenschaft und Kunst ein Kunstwerk in seiner nie endenden Kritik entsteht – und wie diese damit in ein double-bind geführt wird. Der ebenso selbstreflexive wie selbstdestruktive „Myth of Tulse Luper“, der ein Vierteljahrhundert später in THE TULSE LUPER SUITCASES seinen Höhepunkt und (vorläufigen) Abschluss findet, beginnt hier – auf einer offenbar gar nicht vorhandenen Grundlage.

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System und Mythos „Kommunikation aus Anlass von Kunstwerken ist natürlich nur möglich, wenn es Kunstwerke gibt. Es wäre jedoch falsch, daraus auf eine erst dies / dann das-Beziehung zu schließen, denn auch das Umgekehrte trifft zu: Es gibt Kunstwerke nur, wenn und soweit mit der Möglichkeit der Kommunikation über sie gerechnet werden kann. Einmal in Gang gebracht, handelt es sich mithin um ein autopoietisches System, das sich selbst durch die Herstellung von Kunstwerken speist.“ Niklas Luhmann, DAS MEDIUM DER KUNST

Es ließe sich fragen, ob eine weitere Arbeit über Peter Greenaways Filme nicht schon obsolet wäre, und zwar nicht erst angesichts der Menge an bereits erschienenen Arbeiten1, sondern bereits seit 1978, also bevor überhaupt mit THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT Greenaways erster Spielfilm in die Kinos kam. Zu diesem Zeitpunkt nämlich erschien Greenaways „experimenteller“ Kurzfilm VERTICAL FEATURES REMAKE – laut Untertitel eine „investigation into the work of Tulse Luper by the Institute of Restoration and Reclamation“ –, der einer jeden folgenden investigation into the work of Peter Greenaway die Absurdität ihres Vorhabens nahelegen muss, indem er sie samt ihres Gegenstandes ganz einfach vorwegnimmt. VERTICAL FEATURES REMAKE ist die Parodie eines wissenschaftlichen Arbeitsberichtes, einer filmischen Forschungsdokumentation: „The Institute of Restoration and Reclamation are steadily examining and reappraising the papers of Tulse Luper. It is hoped eventually to make a complete and definitive reconstruction of his research. The papers discovered so far run into hundreds of thousands and almost daily more papers are being added.“

Wer ist Tulse Luper? Ein Schriftsteller, Zeichner, Filmemacher, project maker, der, wie der Bericht erläutert, der im Rahmen eines gewissen Session Three Landscape Programme an einem Projekt namens Visual Concepts of Time and Space arbeitete, in dessen Verlauf dann ein weiteres Projekt namens Vertical Lists, oder, mit alternativem Titel, Vertical Features entstand. Vertical Features beschäftigte sich mit Struktur und Organisation im Allgemeinen und mit „interessanten Vertikalen“ innerhalb von Landschaften im Besonderen, und es sei anzunehmen, so der Bericht dann weiter, dass Tulse Luper Bilder solcher ausgewählten vertikalen Merkmale anfertigte, um dann daraus einen Film zu produzieren. Es existierte sogar auch ein Rohschnitt dieses Films, der allerdings, unglücklicherweise, unmittelbar nach seiner ersten Vorführung unter ungeklärten Umständen verschwunden ist, und diesen verlorenen Film hat nun das I.R.R. aus zahllosen Tulse Luper zugerechneten Texten, Zeichnungen, Photographien und Filmfragmenten zu rekonstruieren sich angeschickt. So gestreut diese Dokumente auch sind – sie tauchen versteckt in anderen Dokumenten auf, in einem Bauernhaus in Bridzor, einem Wohnhaus in Hammersmith, einem zum 1

Vgl. Kapitel 01, S. 27ff.

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Filmlager umgewandelten Wasserturm in Goole, einer Bibliothek in Nevers, ja auch im Wiener Secessionsgebäude – das I.R.R. unternimmt eine riesige Schnitzeljagd, um sie zu sammeln, zu archivieren und zu katalogisieren (die Dokumente tragen die Bezeichnungen 3007D, 4890F etc.) und anhand der aus ihnen entnehmbaren Informationen den verlorenen Film neu herzustellen: Vertical Features Remake. Wer ist Tulse Luper? Ein bestimmter und bestimmbarer Autor eines bestimmten und bestimmbaren Werkes, sollte die investigation into the work of Tulse Luper einen Sinn haben, doch scheint der „Autor“ ebenso ungreifbar wie sein nurmehr in unzähligen Fragmenten zerstreutes „Werk“, wie Michel Foucault das editorische Rekonstruktions-Problem beschreibt: „Wie kann man aus den Millionen Spuren, die jemand [...] hinterlässt, ein Werk bestimmen? [...] Das Wort ,Werk‘ und die Einheit, die es bezeichnet, sind wahrscheinlich genauso problematisch wie die Individualität des Autors“2,

und bei Tulse Luper handelt es sich in der Tat um eine sehr problematische „Individualität“. Der Bericht des I.R.R. gibt Tulse Luper zwar ein Gesicht: eine „visual identity“3, indem er zwei (angebliche) Photographien von ihm zeigt, enthält aber weder eine Biografie noch einen Nekrolog; man erfährt praktisch nichts über ihn, er könnte noch am Leben, er könnte aber auch tot sein4 oder ebenso verschollen wie sein Film, denn weshalb sonst sollte eine externe Institution und nicht er selbst seine Arbeit wiederaufnehmen, weshalb sonst sollte sie so mühsam rekonstruiert werden müssen? Worin bestand diese Arbeit überhaupt? Was ist das Session Three Landscape Programme, zu dem sie Beitrag war? Und um was für eine Institution handelt es sich eigentlich beim I.R.R. und welches Interesse hat sie an Tulse Luper und seiner Arbeit? Während diese Fragen nach Identitäten und Intentionen in VERTICAL FEATURES REMAKE nie letzthinnig geklärt werden, kann zunächst immerhin festgehalten werden: Das I.R.R. ist, wie sein Name schon sagt, ein Apparat zur Wiederherstellung und Wiedergewinnung. Seine Funktion ist das Sammeln, Speichern, Ordnen und Verarbeiten von Informationen bzw. deren Überresten, die nach bestimmten Kriterien zu einem Ganzen wieder neu zusammengefügt werden sollen, und „Tulse Luper“ nun das steuernde, d.h. einschränkende und richtungsweisende Prinzip dieser Funktion:

2 3 4

Foucault, Michel: Was ist ein Autor?, in: Jannidis / Lauer / Martinez / Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 198-229, S. 205f. Greenaway, Peter: Fear of Drowning by Numbers. Règles du Jeu, Paris 1989, S. 53. Von Lupers Ableben gehen Bridget Elliott und Anthony Purdy (Peter Greenaway. Allegory and Architecture, Chichester 1997, S. 30) und Jean Lüdeke (Die Schönheit des Schrecklichen. Peter Greenaway und seine Filme, Bergisch Gladbach 1995, S. 37) ohne ersichtliche Gründe aus.

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System und Mythos „Der Autor [...] ist ein bestimmtes Funktionsprinzip, mit dem, in unserer Kultur, man einschränkt, ausschließt und auswählt; kurz gesagt, mit dem man die freie Zirkulation, die freie Handhabung, die freie Komposition, Dekomposition und Rekomposition von Fiktion behindert. Wenn wir daran gewöhnt sind, den Autor als Genie, als unendliche Bedeutungsflut darzustellen, dann geschieht dies in Wahrheit eigentlich deshalb, weil wir ihn in genau der entgegengesetzten Weise funktionieren lassen.“5

Der Autor ist demnach Ordnungsprinzip der Datenverarbeitung, nach der eine Gesellschaft bestimmte ihrer Erzeugnisse kenntlich und vergleichbar macht, vereindeutigt, klassifiziert, mit Relevanz ausstattet und verwaltet. Der Autor Tulse Luper wiederum, was immer sonst über seine zweifelhafte Person zu sagen oder nicht zu sagen wäre, dient entsprechend als begründende Funktion des vom I.R.R. unternommenen Ordnungsprozesses, und um nun diese Funktion mit einer konkreten Direktive zu besetzen, wird Tulse Luper eben als Autor von Vertical Features auch eine Autor-Intention unterstellt und zugerechnet, nach der die geplante Neuverfilmung so und nicht anders auszurichten wäre. Der Bericht des I.R.R. vermerkt: „He wanted [sic!] an overall shape, a square that could be divided up symmetrically. It would have a single central image and self-contained rows running both down and across. A multiple of any odd number would have given these characteristics, but Tulse Luper, in the end, appears to have decided on a format of 121 images, divided into 11 rows of 11. Tulse Luper gave four reasons for having chosen 11 instead of any other number. First, the number 11 – two verticals – echoes the subject-matter of the film. Second, if the format ,11 x 11‘ is rearranged, it can be made into a square complete with diagonals, thus echoing the total shape of the project, and marking by the intersection of the diagonals the central image of the project. The third reason was: If the square of 11 – 121 – is written in this way (1 11 1), the strokes can be rearranged to make a square. And the fourth reason was that 121 is the same backwards as well as forwards, suggesting that the whole project was reversible.“

Neben diesen Selbstauskünften Lupers – vom Sprecher aus dem off in hochseriöser BBC-Manier verlesen6 und bildlich verbürgt durch einige von 5 6

Foucault: Was ist ein Autor?, S. 228. Vgl. Pilard, Philippe: Entretien avec Peter Greenaway, in: Caux, Daniel / Field, Michel / Meredieu, Florence de (Hg.): Peter Greenaway. Serie Entrevues, Paris 1987, S. 94-119, zitiert nach: http://www.emaf.de/retro/Retrospective89.pdf (offline; gespeicherte Kopie im Besitz d. Verf.), S. 6: „We do have this tradition of comment, the ,BBC‘: an authoritarian voice, the voice of ,reason‘, which apparently doesn’t take sides. A very powerful voice, almost the voice of God.“ Vgl. Doane, Mary Ann: The Voice in the Cinema: The Articulation of Body and Space, in: Rosen, Philip (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York (NY) 1986, S. 335349, S. 341: „It is its radical otherness with respect to the diegesis which endows the voice with a certain authority. As a form of direct address, it speaks without mediation to the audience, bypassing the ,characters‘ and establishing a complicity between itself and the spectator – together they understand and ,place‘ the image. It is precisely because the voice is not localizable, because it cannot be yoked to a body, that it is capable of interpreting the image, producing its truth. Disembodied,

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Lupers autoritativ mit dem Institutsstempel versehenen Skizzen – ließen weitere Dokumente darauf schließen (so der fortgesetzte Bericht), dass die geplanten 121 Einstellungen eine sukzessiv steigende Länge haben, mit Tonaufnahmen aus den gefilmten Landschaften unterlegt werden sollten und noch einiges mehr. Nach diesen Vorgaben fertigt das I.R.R. also Vertical Features Remake an: zwar ohne letzthinnige Garantie an der Richtigkeit der hinsichtlich Lupers ursprünglichem Projekt-Design angestellten Hypothesen, aber doch „trying to follow the spirit of his experiment“. Mit der schließlichen Fertigstellung der Neuverfilmung ist das Projekt Vertical Features Remake nun allerdings nicht etwa abgeschlossen und könnte zu den Akten gelegt werden (aus denen es ja auch entstanden ist), sondern geht im Gegenteil erst richtig los. Denn just nach der Fertigstellung von Vertical Features Remake werden neue, bislang unbekannte Aufzeichnungen Tulse Lupers entdeckt, deren Auswertung zufolge die Neuverfilmung des I.R.R. gegenüber Lupers nun anzunehmenden ursprünglichem Konzept einige „important inaccuracies“ aufweise (so solle sich die Einstellungslänge nicht individuell, sondern reihenweise ändern, anstatt der Tonaufnahmen sei eine „musical punctuation“ hinzuzufügen etc.). Dem Versuch des I.R.R., eine ebenso authentische wie definitive Neuverfilmung von Vertical Features herzustellen, steht das platonische „tote Wissen“ der Dokumente entgegen, auf die sich die Rekonstruktion stützt, und dieses Wissen kann in seiner Menge zwar anwachsen und in seiner Organisation auch rekonfiguriert werden, aber über seine einmal je fixierte Form hinaus gibt es dem Interpreten keinerlei weitere Auskunft über seine „eigentliche“ Bedeutung oder Verwendung: „Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift“, so klassischerweise Platons Sokrates, „und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften: Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe. Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande.“7

Es beginnen hier also die Probleme einer „Selbstautorisation des Geschriebenen in Vertretung eines abwesenden Ursprungs“8: Ein Werk kann gegen die Bedeutung, die ihm zugeschrieben wird, nicht protestieren, aber ebensowenig kann es diese Bedeutung authentisch machen9, und im Falle

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8 9

lacking any specification in space or time, the voiceover is […] beyond any criticism.“ Plat. Phaidr. 275d-e, zitiert nach: Platon: Phaidros, in: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck. Band 4, Hamburg 1958, S. 7-60. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 258. Barthes: Kritik und Wahrheit, S. 66.

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von Vertical Features ist nun sein „Vater“ – Tulse Luper, der Autor – eben nicht da, um seine nunmehr in zahllose Schriften fragmentierte Rede zu schützen, sondern vielmehr selber nur als lebend (oder gelebt habend) hingestellt als Ausgeburt der gleichfalls schweigenden Photographie – und ebenso auch jene, unter denen diese Rede dann „umherschweift“ (und damit eben ihren Diskurs im Wortsinn etabliert): Im Streit um die Authentizität der Rekonstruktion nämlich schalten sich nun anstelle des Autors die Autoritäten ein. Eine Legion gelehrter Luper-Kenner meldet sich zu Wort – wie Luper selbst in der Hauptsache visual identities, deren Namen einfach Photographien zugeordnet und ansonsten als bekannt vorausgesetzt werden (wie es sich für Autoritäten ja auch gehört) –, um die je nach Expertenmeinung zu freie oder zu strikte Behandlung der filmischen Struktur zu kritisieren. Diese nachträgliche Kritik berücksichtigend, weil natürlich um Korrektheit, Redlichkeit und die Erfüllung der Ansprüche wissenschaftlicher Diskursivität bemüht (wenn nicht gar: um die Wahrheit), verfilmt das I.R.R. Vertical Features ein zweites Mal neu: Vertical Features Remake 2. Allerdings erweist sich die zweite Neuverfilmung als nur noch unzufriedenstellender als schon die erste: Kritisierten die Gelehrten an Vertical Features Remake 1 nur Form und Ergebnis der Rekonstruktion, so wenden sie nun die Kritik zur Anklage und bestreiten nicht nur die Qualität der Arbeit, sondern darüberhinaus auch die Authentizität der verwendeten Dokumente, die Integrität des I.R.R., ja die Existenz Tulse Lupers selbst – keine verzeihlichen und korrigierbaren Fehler, sondern vorsätzlicher Betrug: „Some six days after the completion of Vertical Features Remake 2, the I.R.R. were accused of fraud. The Society for the Restitution of Film questioned the source of our funds and Appenhost demanded to see a list of all the researchers and technicians that are employed at the Institute. Castaneye declared that the photographs that were supposed to be of Tulse Luper were in fact photographs of the film editor’s father-inlaw. Rastelin doubtet the very existence of Tulse Luper and made a film called The Ubiquitous Wolf which suggested that Tulse Luper was a figment of the Institute’s imagination, invented so that the I.R.R. could undertake a project which was no more than an academic film editing exercise.“

Das I.R.R. hat so bei seiner Rekonstruktion die Doppelaufgabe von Hermeneutik und Kritik zu stemmen10 – zweier Disziplinen also, die, nach Friedrich Schleiermacher, in ihrer jeweiligen Ausübung sich einander ebenso fortführen wie voraussetzen, also in einem zirkulären Verhältnis zueinander stehen:

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Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Hermeneutik und Kritik. Mit einem Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers. Hg. und eingeleitet von Manfred Frank, Frankfurt am Main 1990.

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Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE „Jene ist im allgemeinen die Kunst, die Rede eines anderen, vornehmlich die schriftliche, richtig zu verstehen, diese die Kunst, die Echtheit der Schriften und Schriftstellen richtig zu beurteilen und aus genügenden Zeugnissen und Datis zu konstatieren. Da die Kritik die Gewichtigkeit der Zeugnisse in ihrem Verhältnis zum bezweifelten Schriftwerke oder zur bezweifelten Schriftstelle nur erkennen kann nach gehörigem richtigen Verständnis der letzteren, so setzt ihre Ausübung die Hermeneutik voraus. Wiederum, da die Auslegung in der Ermittlung des Sinnes nur sicher gehen kann, wenn die Echtheit der Schrift oder Schriftstelle vorausgesetzt werden kann, so setzt auch die Ausübung der Hermeneutik die Kritik voraus“11,

und da nun im Sinne eines Reafferenzprinzips12 Änderungen auf der einen Seite Änderungen auf der anderen Seite nach sich ziehen und in jedem Falle eine Aktualisierung der bisherigen Resultate erfordern, so wird der verlorene Film im Streit um seine authentische Form noch zweimal mehr und damit insgesamt dann vier Mal neuverfilmt – wobei die vierte Version aber keinesfalls die ersehnte letzte, d.h. definitive und endgültige Fassung darstellt: VERTICAL FEATURES REMAKE endet nicht, es bricht ab, und das Projekt Vertical Features, in dem nach immer neuen Vorgaben immer neue Filme hergestellt werden, erweist sich so – und damit ironischerweise den „ursprünglichen“ Vorgaben Tulse Lupers nur zu gut entsprechend – in der Tat als reversibel. Die wissenschaftliche Kritik des Kunstwerks wird so in seinen Herstellungsprozess selbst einbezogen: besteht die Aufgabe der Interpretation durch einen Kommentar in der Wiederherstellung eines „ursprünglichen“ Textes „unterhalb“ des kommentierten Materials, so kann doch diese Aufgabe, wiewohl sie auf Endgültigkeit abzielen mag, per definitionem nie beendet werden 13: „Dass Kommentare aber Zweifel und Ratlosigkeit erst recht mehren“, so bereits ja Montaigne, „– wer würde das bestreiten? Es gibt kein die Welt beschäftigendes Buch, menschlich oder göttlich, dessen Schwierigkeiten durch Interpretation beseitigt worden wären – der hundertste Kommentar reicht es ja strotzend von noch heikleren Schwierigkeiten, als der erste sie vorgefunden hatte, an den hundertundersten weiter“14,

so dass Kommentare immer neue Kommentare, diese Kommentare kommentierende Kommentare usw. produzieren – und erst damit dann auch das Objekt, auf welches sich der Kommentar bezieht15! Wenn sich die remakes des I.R.R gerade einem „Authentizitätseffekt durch Rekonstruktion“ 11 12

13 14 15

Ebd., S. 71. Varela, Francisco: Der kreative Zirkel. Skizzen zur Naturgeschichte der Rückbezüglichkeit, in: Watzlawick, Paul (Hg.): Die erfundene Wirklichkeit. Wie wissen wir, was wir zu wissen glauben? Beiträge zum Konstruktivismus, München / Zürich 1981, S. 294-309, S. 304. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1974, S. 73. Montaigne, Michel de: Über die Erfahrung, in: ders.: Essais, Frankfurt am Main 1998, S. 537-566, S. 539. Fohrmann, Jürgen: Der Kommentar als diskursive Einheit der Wissenschaft, in: ders. / Müller, Harro (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1988, S. 244-257, S. 248.

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verdanken, so ist diese Rekonstruktion auch ihrerseits ein Kunstgriff eines „Aktes des Fingierens“16: „Rekonstruktiv heißt, dass etwas eigentlich Verlorenes wieder erschlossen wird oder überhaupt erst in idealer Gestalt entsteht“17, und so ergibt sich in einem verunsicherndem re-entry der Unterscheidung von Wissenschaft und Kunst, dass „das Werk der Kritik ebenso wie das Kunstwerk selbst ein Simulacrum ist“18, das sich die hinter der Dichtung gesuchte Wahrheit seinerseits – erdichtet19. Es gibt für die Luper authorities und ihre „Rekonstruktion“ von Vertical Features, wie Jürgen Fohrmann für die Wissenschaft auch überhaupt feststellt, daher auch „keinen schon feststehenden [...] Gegenstandsbereich, den es ex post zu gliedern, zu erklären, zu vermitteln gilt, sondern in der Arbeit der Kommentare wird das zu bearbeitende Objekt zugleich erzeugt“20. Die originäre Herstellung des „verschollenen“ Vertical Features in den fortlaufenden Neuverfilmungen seiner remakes erweist sich so als prinzipiell endloser Prozess, der performativ auch schließlich mit dem Kunstwerk selbst zusammenfällt: „Works of art are never finished, just stopped“21, wie Greenaway das Diktum Mallarmés modifiziert, nach dem ein Buch weder je begönne noch endete, sondern höchstens so täte als ob: „Un livre ne commence ni ne finit; tout au plus fait-il semblant.“22

Sehen und Wissen, Text und Bild, Fiktionalität und Wahrheit Als mock documentary23 ist VERTICAL FEATURES REMAKE eine Parodie wissenschaftlich-dokumentarischer Filme: „an organization of facts and pieces put together in an eminently logical way, laced with the very slightest regret that none of it is actually true“24. Dabei ist dem Film sein fiktionaler Status zunächst auch in der Tat nicht anzusehen, er erscheint vielmehr als durchaus „authentisch“ – d.h. „amtlich“ und „aufgrund äußerer Zeichen (Siegel, Unterschrift, Form der Ausstellung etc.) eine angegebene Herkunft

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24

Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt am Main 1993, S. 18ff. Berg-Ganschow, Uta: Das Problem der Authentizität im Dokumentarfilm, in: Heller, Heinz-B. / Zimmermann, Peter (Hg.): Bilderwelten – Weltbilder. Dokumentarfilm und Fernsehen, Marburg 1990, S. 85-87, S. 87. Scheffel: Vorwort, S. 15. Stöckmann / Werber: Das ist ein Autor!, S. 245. Fohrmann: Der Kommentar als diskursive Einheit der Wissenschaft, S. 248. Zitiert nach: http://www.egs.edu/faculty/greenaway-resources.html (29.03.2009). Zitiert nach: Scherer, Jacques: Le „Livre“ de Mallarmé. Nouvelle édition revue et augmentée, Paris 1977, Blatt 181 A. Vgl. Lipkin, Steven N. / Paget, Derek / Roscoe, Jane: Docudrama and MockDocumentary: Defining Terms, Proposing Canons, in: Rhodes, Gary D. / Springer, John Parris (Hg.): Docufictions. Essays on the Intersection of Documentary and Fictional Filmmaking, Jefferson (NC) 2006, S. 11-26; Hight, Craig / Roscoe, Jane: Faking it. Mock-Documentary and the Subversion of Reality, Manchester / New York (NY) 2001. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 2f.

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verbürgend“25, nämlich in diesem Fall über die gezielte Verwendung genretypischer Merkmale von Informations- und Lehrfilmen, als da etwa wären: „Erscheinen desjenigen auf der Leinwand, der Wissen verkörpert (der Professor oder der Spezialist); direkte Anrede des Lesers oder seines Platzhalters im Film durch den Inhaber des Wissens (der Interviewer); abstrakte Strukturierung des Dargestellten durch den Diskurs: Kommentar erklärenden Typs; Verwendung von Schemata und Graphiken“26 etc.

Wenn nun eine Parodie in der Einheit der Differenz einer bestimmten „äußeren Form“ zu einem „nicht dazu passendem Inhalt“ besteht27 – im Falle von VERTICAL FEATURES REMAKE also „fictional material presented in a documentary manner“28 – und als solche auch verstanden werden soll, dann muss zunächst die Ebene ihrer Mitteilung von der der Information unterschieden werden29 und dann „passende“ von „nicht-passenden“ Inhalten, d.h. im Falle des Dokumentarfilms: sein „Anspruch auf Aufklärung und Wissen über die real existierende Welt“ von der „Nichtfiktionalität seines Materials“30 und dann beides von der Artifizialität und Fiktionalität des Spielfilms. Für den Zuschauer des mock documentary ist diese Unterscheidungsfähigkeit unerlässlich „in order to be in on the joke“: „Mock-documentary talks to a ,knowing‘ audience [...] It is assumed that audiences will be able to distinguish between fact and fiction in media representation and thereby to participate in the inherent playfulness of the form. [...] It requires the audience to watch as if at a documentary presentation, but in the full knowledge of an actual fictional status.“31

Das Anschlussproblem allerdings besteht dann darin, wie allein an ihrer äußeren Form die Wahrheit bzw. Falschheit einer Aussage zu erkennen ist bzw. „Fakten“ von „Fiktionen“ unterscheidbar sind, wenn doch das Ausgesagte nicht verfügbar ist und daher über sein eventuelles tatsächliches Vorhandensein auch nichts gesagt werden kann32. Die Frage wäre also nicht 25

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Vgl. Kienzler, Klaus / Pluza, Richard / Seckler, Max: Eintrag „Authentizität“, in: Lexikon für Theologie und Kirche. Band 1, Freiburg / Basel / Rom / Wien 1993, S. 1287-1289, S. 1289. Odin, Roger: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, in: Hohenberger, Eva (Hg.): Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms, Berlin 1998, S. 286-303, S. 296. Vgl. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1961, Eintrag „Parodie“, S. 431ff. Ciment, Michel: Interview with Peter Greenaway, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 28-41, S. 35. Vgl. Luhmann, Niklas: Was ist Kommunikation?, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 94-110, S. 97ff. Hohenberger, Eva: Dokumentarfilmtheorie. Ein historischer Überblick über Ansätze und Probleme, in: dies. (Hg.): Bilder des Wirklichen, S. 8-34, S. 20f. Lipkin / Paget / Roscoe: Docudrama and Mock-Documentary, S. 17. Engell, Lorenz: Das Gespenst der Simulation. Ein Beitrag zur Überwindung der „Medientheorie“ durch Analyse ihrer Logik und Ästhetik, Weimar 1994, S. 15.

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nur: Wer ist Tulse Luper?, sondern darüberhinaus noch: Gibt es ihn überhaupt? Was jedenfalls unstrittigerweise (d.h. für den Zuschauer von VERTICAL FEATURES REMAKE auch direkt wahrnehmbar und überprüfbar) existiert, das sind Filmaufnahmen von Photographien, von denen im Film behauptet wird, dass es sich um Aufnahmen von Tulse Luper handele (wie ja etwa für Roland Barthes und Siegfried Kracauer auch geradezu die „Natur“ oder das „Wesen“ der Photographie in der „Bestätigung dessen, was sie wiedergibt“, der „Beglaubigung der Realität der von ihnen gemeinten Vision“ besteht, d.h. „in der Beglaubigung, dass das, was ich sehe, tatsächlich dagewesen ist“33); andererseits aber gibt es auch im selben Film Behauptungen, dass diese Behauptung unzutreffend sei. In der investigation into the work of Tulse Luper werden „Selbstberichtigungsmechanismen“ so durch „Selbstbezichtigungsmechanismen“ ergänzt34, wenngleich die Selbstanklage freilich einen Selbstfreispruch schon nahelegt: Indem der (wahrheitsgemäße oder gefälschte, wirkliche oder fiktionale?) Bericht des I.R.R. sich selbst schon an den Differenzen von Wahrheit und Falschheit und Faktizität und Fiktionalität orientiert, kann das Unternehmen sich darüber implizit auch selbst beglaubigen – insofern es doch wohl kaum unter eine Kritik fallen könnte, die es ja selber vorführt (wobei es andererseits es ja oftmals gerade ein Betrüger ist, der vor den Gefahren des Betrugs warnt, und wer kann garantieren, dass es sich bei der Warnung nicht um einen Trick genau derjenigen Sorte handelt, vor der in ihr gewarnt wird?)35. Die Behauptung der Authentizität eines Dokumentes oder auch der Zuverlässigkeit einer Erzählung kann sich letzten Endes nur auf Autorität stützen – so bedeutete auch in der Latinisierung des griechischen authentikós authenticus als Adjektiv zu auctoritas zunächst auctoritate plenus36 –, aber gerade die Autorität des Erzählers erlaubt ihm, wenn gegeben, umgekehrt auch jeden Grad von Absurdität37. Unglücklicherweise aber gibt es außer dem off-Kommentar bei VERTICAL FEATURES REMAKE nun auch keinerlei Instanz, an der der Zuschauer sich hinsichtlich der Beurteilung der ihm dargebotenen Bilder anderweitig orientieren könnte – was eventuell nichts anderes heißt, als „dass der Kommentar die Bilder semantisch zum Spuren bringt, der Kommentar sagt, was die Bilder bedeuten“38, und der Zuschauer

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36 37 38

Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt am Main 1989, S. 92, 95; Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, in: ders.: Schriften. Band 3, Frankfurt am Main 1973, S. 401f. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 166. Schwanitz, Dietrich: Zeit und Geschichte im Roman – Interaktion und Gesellschaft im Drama: zur wechselseitigen Erhellung von Systemtheorie und Literatur, in: Baecker, Dirk / Markowitz, Jürgen / Stichweh, Rudolf / Tyrell, Hartmann / Willke, Helmut (Hg.): Theorie als Passion. Niklas Luhmann zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main 1987, S. 181-213, S. 183; ders.: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma, Opladen 1990, S. 102. Kienzler / Pluza / Seckler: „Authentizität“, S. 1287. De Man, Paul: Ästhetische Formalisierung: Kleists „Über das Marionettentheater“, in: ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt am Main 1988, S. 205-233, S. 216. Berg-Ganschow: Das Problem der Authentizität im Dokumentarfilm, S. 85.

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das dann nur noch hinnimmt; ein Umstand, den Greenaway unter die von ihm so genannte tyranny of the text39 zählt: „We have not seen any cinema yet. We have only seen 105 years of illustrated text. […] Though Derrida said the image has the last word, in cinema, we have all conspired to make sure the word has the first word.“40

Obschon dieses von Greenaway immer wieder gern zitierte mot nun keineswegs von Jacques Derrida stammt, sondern vielmehr von Roland Barthes41, besteht ja in der Tat (und wiederum nach Barthes) ein grundsätzliches Problem der Text-Bild-Relation schon darin, dass der Text das Bild nur allzu leicht sich unterordnen kann, indem er eine „parasitäre Botschaft“ bildet, d.h. eine solche, „die das Bild konnotieren, d.h. ihm ein oder mehrere zusätzliche Signifikate ,einhauchen‘ soll. [...] Es handelt sich anscheinend um eine Erläuterung, d.h. in gewissem Maße um eine Emphase; meistens erweitert der Text nämlich nur eine Gesamtheit von Konnotationen, die bereits in der Fotografie aufscheinen; aber mitunter produziert (erfindet) der Text auch ein völlig neues Signifikat, das gewissermaßen rückwirkend so sehr auf das Bild projiziert wird, dass es als darin denotiert erscheint.“42

Was Referenz und Bedeutung eines Bildes angeht, so könnte also jeweils alles auch ganz anders sein – je nach Kontext, in den das Bild gestellt wird, und der so auch für Erfindungen aller Art dann offen steht. Die Anfälligkeit des Bildes für eine solche „parasitäre“ Inanspruchnahme aber liegt begründet in demselben Umstand, weshalb am Bild auch keine Wahrheitswerte abzulesen sind: Anders als die Texte, die sie möglicherweise kommentieren, können Bilder selber nichts behaupten, da sie nicht über die Möglichkeit der Negation verfügen und damit auch nicht über die Unterscheidung von wahr und falsch und also schließlich auch nicht über die Fähigkeit zur Lüge43 – sofern nach Harald Weinrich eine solche dann gegeben ist, wenn hinter einem gesagten „Lügensatz“ ein ungesagter „Wahrheitssatz“ steht und beide 39

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Greenaway, Peter: The 92 Faces of Peter Greenaway. Transcript (PDF), in: The 92 Faces of Peter Greenaway (cinema lectures 1). Hg. vom Europäischen Institut des Kinofilms Karlsruhe, Karlsruhe 2002 (CD-ROM), S. 9. Ders.: 105 Years of Illustrated Text, S. 48. Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt am Main 1988, S. 63: „Das Bild ist unwiderruflich, es hat immer das letzte Wort; kein Wissen kann ihm widersprechen, es zurechtrücken, es verfeinern.“ Ders.: Die Fotografie als Botschaft, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main 1990, S. 11-27, S. 22. Vgl. Foucault, Michel: Dies ist keine Pfeife. Mit zwei Briefen und vier Zeichnungen von René Magritte, München / Wien 1997, S. 51; Engell: Was es heißt, von Dallas zu lernen, S. 13f.; Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 162, 183; Gombrich, Ernst H.: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Eine Studie über die Psychologie von Abbild und Wirklichkeit in der Kunst, Stuttgart / Zürich 1978, S. 88; Worth, Sol: Pictures Can't Say Ain't, in: ders.: Studying Visual Communication, Philadelphia (PA) 1981, S. 162-184, S. 176.

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kontradiktorisch voneinander abweichen, d.h. sich eben unterscheiden durch das Bildern nicht zur Verfügung stehende Assertationsmorphem ja / nein44. „All that pictures can show is what is – on the picture surface.“45 Die vielzitierten „Bilder, die lügen“46, gibt es also gar nicht; mit Bildern lügen kann man dagegen sehr wohl – z.B. durch Veränderungen am Material, Verschiebungen des Kontexts oder auch die suggestive Deutung eines Bildes47. „If I paint a picture of one woman (Mrs. A) and present it to a viewer as a picture of another (Mrs. B), it is not the picture that lies, but the picture presenter“48, und das ist im Falle der im Rahmen von Vertical Features und seiner Rekonstruktion in Frage stehenden Bilder niemand anders als das I.R.R. – während Peter Greenaway sich entsprechend erst für VERTICAL FEATURES REMAKE, also extradiegetisch zu verantworten hat.49 Allerdings gilt der Verdacht, der damit auf das I.R.R. fällt, genauso auch für seine Ankläger, d.h. die Luper authorities und ihre visual identities: In der Tat passt die zu Beginn von VERTICAL FEATURES REMAKE gezeigte Photographie prinzipiell zu Tulse Luper ebensogut wie zu „the film editor’s father-in-law“, aber ist es denn etwa so sicher, dass die ihrem Namen 44

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Weinrich, Harald: Linguistik der Lüge. Kann Sprache die Gedanken verbergen? Antwort auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Jahre 1964, Heidelberg 1966, S. 40. Worth: Pictures Can't Say Ain't, S. 174. Vgl. z.B. Bilder, die lügen. Begleitbuch zur Ausstellung der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000. Vgl. Albrecht, Clemens: Wörter lügen manchmal, Bilder immer. Wissenschaft nach der Wende zum Bild, im umsichtigerweise so benannten Sammelband von Liebert, Wolf-Andreas / Metten, Thomas (Hg.): Mit Bildern lügen, Köln 2007, S. 29-49. Worth: Pictures Can't Say Ain't, S. 176; vgl. Eco, Umberto: The Original and the Copy, in: Dupuy, Jean-Pierre / Varela, Francisco J. (Hg.): Understanding Origins. Contemporary Views on the Origin of Life, Mind and Society, Boston (MA) / Dordrecht / London 1992, S. 273-303, S. 276. Ein ganz ähnlich gelagerter Fall übrigens besteht auch in THE BELLY OF AN ARCHITECT, wenn Caspasian Speckler versucht, Stourley Kracklite ein Bildnis eines „visionären Architekten“ (so die Unterschrift des Bildes) als authentisches Potrait seines Helden Étienne-Louis Boullée unterzujubeln, ihn also über das Bild und mit dem Bilde zu belügen. Kracklite aber schluckt den Köder nicht: „What makes you think it’s Boullée? There are no likenesses of Boullée. I should know – I’ve been searching for one for ten years. If anything, it looks suspiciously like Piranesi“, und wenn Beschriftung und Datierung im Sinne eines stimmigen Text-Bild-Verhältnisses auch passten: „That doesn’t prove it’s Boullée!“ Dabei ist Kracklite selbst mit dem Verdacht vertraut, dass es nicht nur kein bekanntes Bildnis von Boullée, sondern dass es den ja selber weithin unbekannten Boullée selbst auch gar nicht gebe – „Boullée is not that well known anywhere. In Texas, Kracklite was accused of inventing him“, so Kracklites Frau Louisa, worauf Caspasian erwidert: „Perhaps Boullée is the ideal architect for your husband to invent. However, thanks to him, we have one million Dollars to persuade the Italian public that Boullée is not a fiction.“ Diese Summe jedenfalls dürfte das Budget von VERTICAL FEATURES REMAKE wohl um ein Vielfaches übersteigen, das sich zudem, was die Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz Tulse Lupers angeht, auch weitaus uneindeutiger gibt.

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zugeordnete Photographie auch wirklich Mrs. Rastelin zeigt (die ja ihrerseits gerade die Existenz Tulse Lupers leugnet) und nicht z.B. Siegfried Kracauers Großmutter? „Sah so die Großmutter aus? Die Photographie, über 60 Jahre alt und schon eine Photographie in modernem Sinn, zeigt sie als junges Mädchen von 24. Da Photographien ähnlich sind, muss auch diese ähnlich gewesen sein. Sie ist in dem Atelier eines Hofphotographen mit Bedacht angefretigt worden. Aber fehlte die mündliche Tradition, aus dem Bild ließe sich die Großmutter nicht rekonstruieren. [...] Dass die Photographie jene gleiche Großmutter darstelle, von der man das Wenige behalten hat, das vielleicht auch vergessen wird, muss den Eltern geglaubt werden, die es von der Mutter selbst erfahren zu haben behaupten. Zeugenaussagen sind ungewiss. Am Ende ist auf der Photographie gar nicht die Großmutter wiedergegeben, sondern ihre Freundin, der sie glich. [...] Nun gut, also die Großmutter, doch in Wirklichkeit ist es ein beliebiges junges Mädchen 1864.“50

Tatsächlich scheint gerade Kracauers Beispiel sehr geeignet, zu verdeutlichen, dass es kaum mehr möglich ist, ein „medienvermitteltes“ Wissen von einem „selbsterfahrenem“ zu trennen oder eine „Privatsphäre des genuinen, authentischen Wissens aus eigener Erfahrung“ gegen „Einflüsse aus den Medien“ zu isolieren – und zwar selbst dann nicht, wenn man es mit direkt bekannten Objekten oder auch Personen zu tun hat51. Wenn es prinzipiell unmöglich ist, ohne Rückgriff auf ein Kontextwissen Bilder als fiktionale Repräsentationen zu erkennen52, gerade dieses Wissen aber fehlt, dann bleibt nichts weiter übrig, als (selbst) Gesehenes auf (von Anderen) Gesagtes zu beziehen, und auch Gesagtes kann man seinerseits nur glauben – aber eben nicht wissen53. Der Umstand, dass •

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einerseits für ein jedes Zeichen die Annahme eines Referenten eben immer nur eine Annahme ist, sein „unterstelltes Reale“ eben immer nur eine Unterstellung und der Referent also letzten Endes „eine Frage der Überzeugung“54, und dass

Kracauer, Siegfried: Die Photographie, in: ders.: Schriften. Band 5.2.: Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 83-98, S. 83f. Vgl. Knipphals, Dirk / Schlüter, Christian: „Wahrheit ist nicht zentral“ – Fragen an den Bielefelder Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann, in: Das Sonntagsblatt 42 vom 18. Oktober 1996. Winko, Ulrich: Visuelle und verbale Fiktionen, in: Steinbrenner, Jakob / Winko, Ulrich (Hg.): Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissenschaften, München / Wien / Zürich 1997, S. 152-176, S. 162. Vgl. Lau, Felix: Die Form der Paradoxie. Eine Einführung in die Mathematik und Philosophie der „Laws of Form“ von George Spencer Brown, Heidelberg 2006, S. 23. Engell: Das Gespenst der Simulation, S. 29; Baudrillard, Jean: Jenseits von Wahr und Falsch, oder Die Hinterlist des Bildes, in: Bachmeyer, Hans Matthäus / Loo, Otto van de / Rötzer, Florian (Hg.): Bildwelten – Denkbilder, München 1986, S. 265-268, S. 265.

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andererseits die Beurteilung der Referentialität z.B. einer Photographie (als wie immer „objektiv“ sie hinsichtlich ihrer technisch-apparativen Herstellungsweise auch betrachtet werden mag55) ein Wissen erfordert, das zwar verlässlich sein muss, aus dem Bild selber aber weder hervorgeht noch an ihm verifiziert werden kann – „kein Bild erklärt sich selbst“56 –,

gehört einem Problemkomplex an, den man mit Vilém Flusser (und natürlich in Anlehnung an André Bazin) die „Ontologie des technischen Bildes“ nennen könnte. Ein „technisches Bild“ nämlich – eine Photographie, ein Film, ein Video, eine Computergrafik etc. – kann demnach auf zweierlei Weise betrachtet bzw. für zweierlei Dinge gleichermaßen verwendet werden, für die gleichwohl je andere Kriterien gelten: nämlich als Abbildung oder Einbildung zur Darstellung oder zur Vorstellung der Welt – eine Unterscheidung, wie sie gerade auch derjenigen der Konventionalität von Dokumentar- und Spielfilm entspricht: „Bei der Darstellung befindet sich die Botschaft auf derselben Wirklichkeitsebene wie ihre Bedeutung, bei der Vorstellung ensteht ein Bruch zwischen der Ebene der Botschaft und ihrer Bedeutung. Daher sind Darstellungen ,wahr‘ oder ,falsch‘ – echte und falsche Symptome – und Vorstellungen ,fiktiv‘ – auf Vereinbarung beruhend.“

Nun ist aber gerade diese Unterscheidung – die ja, wie oben gezeigt, zur Identifizierung eines mock documentary zu treffen zwingend notwendig ist – eine zumal unter den Bedingungen technischer Medien äußerst kollapsanfällige, wie Flusser dann am Beispiel des Fernsehens erläutert: „Beim Fernsehen ist das Kriterium zur Unterscheidung zwischen den beiden Botschaftstypen nicht aus der Botschaft selbst, sondern aus einem vom Fernsehen gelieferten Kommentar zur Botschaft zu ersehen. Jede Fernsehbotschaft hat einen fiktiven Charakter. Alle Bilder und Töne erscheinen, als wären sie Symbole. Aber es gibt Kommentare, welche von einigen Bildern behaupten, sie seien Symptome. Zum Beispiel kann man den Bildern einer Mondlandung nicht entnehmen, ob sie im Laboratorium oder auf dem Mond aufgenommen wurden, und den Bildern eines Sportereignisses nicht, ob es sich um Sportler oder Schauspieler handelt, welche Sportler vorstellen. Der Ansager gibt dem Lesen den Schlüssel. Aber er kann selbst ein Schauspieler sein, der einen Ansager vorstellt. Dadurch wird die ganze Welt, welche das Fernsehen vorstellt – auch wenn es sie angeblich darstellt –, fiktiv. Die Folge ist ambivalent zu werten: Entweder verliert für den Empfänger der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Fiktion jede Bedeutung oder er überlässt die Unterscheidung einem anderen.“57 55

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Vgl. z.B. Bazin, André: Ontologie des fotografischen Bildes, in: ders.: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Mit einem Vorwort von Eric Rohmer und einem Nachwort von François Truffaut, Köln 1975, S. 21-27. Gombrich, Ernst H.: Das Bild und seine Rolle in der Kommunikation, in: ders.: Bild und Auge. Neue Studien zur Psychologie der bildlichen Darstellung, Stuttgart 1984, S. 135-158, S. 142. Flusser, Vilém: Für eine Phänomenologie des Fernsehens, in: ders.: Medienkultur, S. 103-123, S. 108f.

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Wenn demnach alles, was (wenigstens im Rahmen des Fernsehens) überhaupt für wirklich gehalten werden kann, ebensogut auch fiktiv sein könnte, darüber aber kein letzthinniger Aufschluss möglich ist – wie sollte dies auch möglich sein, wenn mit Descartes schon Wachsein und Träumen niemals durch wirklich sichere Kriterien zu unterscheiden sind?58 –; wenn die gesamte Realität also einem ständigen Fiktionsverdacht ausgesetzt ist, der sich nie endgültig ausräumen lässt; so heißt das nicht nur einfach, dass „die ganze Welt fiktiv wird“: denn würde alles fiktiv, so wäre, in Ermangelung einer kontrastierenden Wirklichkeit, so wie es auch nichts Großes ohne Kleines, nichts Heißes ohne Kaltes, keinen Anfang ohne Ende geben kann59, nichts mehr fiktiv. „Man kann im Gebrauch von Unterscheidungen [...] nicht die eine Seite aufgeben, ohne auf die Unterscheidung selbst zu verzichten“60 – und dort, wo nun die Unterscheidungen von Wahrem und Falschem und von Wirklichem und Fiktivem in Frage gestellt sind, beginnt bekanntlich nach Jean Baudrillard das Feld der „Simulation“61. Allerdings geht es in VERTICAL FEATURES REMAKE nun nicht um die Auflösung der Unterscheidung von Fiktion und Wirklichkeit im Sinne einer „Simulationstheorie“62, sondern um ihren Wiedereintritt in das von ihr Unterschiedene: ihr re-entry im Sinne George Spencer Browns63, insofern die Differenz von Fiktion und Realität (tatsächlich!) in den (fiktionalen!) Film wiedereingeführt und reflektiert wird – was ihn, nach Dirk Baecker, so auch als „AvantgardeFilm“ ausweist: „Avantgarde film [...] restages the distinction itself. It seems to ask how real or fictional the distinction between reality and fiction actually is. And indeed, it succeeds in [...] showing that there is no answer to this question unless it be reference to the reality of the question itself. Restaging the distinction, the avant-garde film is thus led to restage itself, and continues to do so.“64

Entsprechend ist das einzig zweifellos Reale an Vertical Features der (seinerseits in VERTICAL FEATURES REMAKE ja nur inszenierte) Streit über seine Realität, der die filmische und perzeptiv wie immer illusionistische impression of reality durch Einführung einer internen Fehlerkorrektur in eine operativ reale communication of reality hin überführt – und seinerseits dann über diese interne „distinction between staging and doing“ auch weitere 58

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Descartes, René: Meditationes de prima philosophia / Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Zweisprachige Ausgabe. Auf Grund der Ausgaben von Artur Buchenau neu hg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1959, S. 35. Luhmann, Niklas: Anfang und Ende: Probleme einer Unterscheidung, in: ders. / Schorr, Karl Eberhard (Hg.): Zwischen Anfang und Ende. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt am Main 1990, S. 11-23, S. 14. Ders.: Die Realität der Massenmedien, S. 16, Anm. 7. Baudrillard, Jean: Die Präzession der Simulakra, in: ders.: Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 7-69, S. 10. Vgl. Engell: Das Gespenst der Simulation. Spencer Brown, George: Laws of Form. Gesetze der Form. Internationale Ausgabe, Lübeck 1997. Baecker, Dirk: The Reality of Motion Pictures, in: Modern Language Notes 111(1996), S. 560-577, S. 574f.

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Kommunikationen etwa über den Status von VERTICAL FEATURES REMAKE selber provoziert65. Was aber als Unterscheidung etwa von „wirklich“ und „fiktiv“ vom Unterschiedenen zu unterschieden ist (d.h. als Einheit), muss von einer solchen Unterscheidung auch als Unterscheidung seiner Werte unterschieden werden können (d.h. als Differenz) – in was sollte die Unterscheidung sonst auch wiedereintreten? –, und wie beschrieben kommt man dann, wenn es um die Bestimmung des „ontologischen Status“ von (zumal technischen) Bildern und des von ihnen Dargestellten geht, sogleich vom Regen in die Traufe. Denn während Bilder hinsichtlich ihrer Bedeutung, wie gesehen, prinzipiell kontext- und kommentarabhängig sind, insofern man nie vollkommen sicher sein kann, was denn auf ihnen dargestellt ist, so unterliegen die Texte, die diesen Kommentar leisten, ihrerseits selbst einer „fundamentalen und irreduziblen Ungewissheit“66, insofern man nie vollkommen sicher sein kann, ob ihre Aussagen auch wahr bzw. ernst gemeint sind67. Während also einerseits „die aus der Subjektlosigkeit der photographischen Technik abgeleitete Authentizität filmischer Bilder, die eine privilegierte Referentialität des Dokumentarfilms begründen soll, [...] entweder für jedes filmische Bild oder für keines“68 gilt,

so sind entsprechend andererseits auch „die Äußerungsakte in Fiktion [...] nicht von den Äußerungsakten im ernsthaften Diskurs zu unterscheiden, und aus ebendiesem Grund gibt es keine Eigenschaft des Texts, die einen Diskurs als fiktionales Werk ausweist“69 –

so dass die Entscheidung, ob VERTICAL FEATURES REMAKE nun ein dokumentarischer oder ein fiktionaler Film oder aber eine fiktionale Parodie dokumentarischer Filme ist, keinerlei Grundlage zu haben scheint – jedenfalls keine unabhängige, externe. „Ohne Weltwissen einerseits und ohne Wissen um filmische (Genre-) Konventionen andererseits“, so Eva Hohenberger, „kann zwischen Spiel- und Dokumentarfilm nicht unterschieden werden [...]. Da aber ein Gutteil unseres Weltwissens aus dokumentarischen Filmen und Fernsehsendungen 70 stammt, wird die Welt (die Realität) selbst eine instabile Kategorie.“

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Vgl. ebd., S. 562, 564f. Bennington, Geoffrey: Derridabase, in: ders. / Derrida, Jacques: Jacques Derrida. Ein Portrait, Frankfurt am Main 1994, S. 11-323, S. 59. Vgl. Barthes: Die helle Kammer, S. 86. Hohenberger: Dokumentarfilmtheorie, S. 21. Searle, John R.: Der logische Status fiktionalen Diskurses, in: ders.: Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie, Frankfurt am Main 1982, S. 80-97, S. 90. Hohenberger: Dokumentarfilmtheorie, S. 25f.

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Wenn so das observandum schon im observans enthalten ist und gleichzeitig umgekehrt die Kriterien des letzteren erst aus ersterem hervorgehen, der Gegenstand der Unterscheidung also zugleich auch deren eigene Voraussetzung darstellt, so handelt es sich um eine Definition idem per idem, eine petitio principii oder einen circulus vitiosus: Das erforderliche Wissen, das man braucht, um etwa Dokumentar- von Spielfilmen oder Wirklichkeit und Fiktion zu unterscheiden – das als „Weltwissen“ das Wissen um filmische Konventionen ja einschließen muss, denn wo sonst könnten Filme produziert und rezipiert werden, wenn nicht in der Welt? –, kann also als Fundament der Unterscheidung nicht einfach vorausgesetzt, sondern muss selbst zirkulär erst konstruiert werden, und dann ist es zumindest zweifelhaft. In anderen Worten: „Was wir [...] über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch Massenmedien. [...] Andererseits wissen wir so viel über die Massenmedien, dass wir diesen Quellen nicht trauen können“71 –

so sagt zumindest meine Quelle, und so scheint Weltkenntnis ohne Medien, Weltgewissheit aber ohne -zweifel nicht zu haben: „There is no reality if one cannot ask about there being one. Reality is anchored in its own ambivalence. [...] Any reality produced by communication is a selection subject to error correction, a reality in suspense“72 –

was wiederum z.B. einen Film, sei er nun dokumentarisch oder fiktional, immer auch zu einem historischen Dokument dessen macht, was jeweils geglaubt und akzeptiert werden kann – oder auch nicht73. Es muss also, soll eine Entscheidung denn getroffen werden können, besondere Programme zur Zuordnung etwa der Werte glaubhaft / zweifelhaft, real / imaginär oder dokumentarisch / fiktional geben74, und das sind dann die spezifischen „constraints of cinematic genre“: „bundles of conventions linking audience and cinema together in an agreement about which reality may be shown by which elements of fiction“75.

Vertrauen und Verträge Zwar ist nun jeder, der sich überhaupt auf Kommunikation einlässt, aufgrund der kommunikationsveranlassenden Unvollständigkeit seines eigenen Wissens auf Vertrauen immer angewiesen, doch ist dieses Vertrauen – mit Luhmann verstanden als ein Verfahren zur Reduktion sozialer Komplexität durch das Überziehen vorhandener und das Ersetzen fehlender Informationen durch eine „intern garantierte Sicherheit“ – auch letztlich immer unbegründ-

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Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 9. Baecker: The Reality of Motion Pictures, S. 562f. Ebd., S. 567. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 302. Baecker: The Reality of Motion Pictures, S. 574.

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bar und daher immer ein riskantes Wagnis76 – und zwar eben nicht zuletzt, wenn es um Bilder und um Medien geht: „Das treffendste Portät eines Herrschers führt uns irre, wenn es fälschlicherweise mit einem anderen Namen bezeichnet ist. Verleger von Anno dazumal versahen manchmal einen alten Holzschnitt einer Naturkatastrophe mit einer neuen Bildunterschrift nach dem Motto: Ein Erdbeben ist schließlich wie das andere. Auch heute ist es nur unser Vertrauen zu bestimmten Informanten oder Institutionen, das unsere Bedenken unterdrückt, ob eine Abbildung in einem Buch, einer Zeitung oder auf dem Bildschirm uns tatsächlich zeigt, was sie zu zeigen vorgibt.“77

Wenn also „den Medien“ nun von sich aus und grundsätzlich nicht zu trauen ist – die einzige Theorie, die unser reales Verhältnis zur medialen Welt beschreibt, so Boris Groys, sei die Verschwörungstheorie78 –, so kann Vertrauen aber doch geschaffen und stabilisiert werden – zum Beispiel durch Verträge79. Denn wenn es kein verlässliches immanentes Unterscheidungskritierium gibt, nach dem der Status z.B. eines Bildes oder einer Rede verlässlich festgelegt werden könnte, so muss es eben externalisiert werden, um daraufhin wieder verinnerlicht werden zu können; und das ergäbe mit Hohenberger etwa für die Unterscheidung des Dokumentarfilms als Prämisse, „dass er sich eben nicht anhand textueller Verfahren, seien sie nun narrativ oder nicht, vom Spielfilm unterscheiden lässt, sondern dass er sich gleichsam qua Vertrag zwischen Zuschauer und Text erst konstituiert“80.

Um dem Gezeigten einen Rahmen81 zu geben und es daraufhin erst irgend unterscheidbar zu machen, bedarf es also eines Vertrages – und zwar gleich ob es sich um einen Dokumentarfilm oder einen Spielfilm handelt. Für fiktionale Werke ist dieser Umstand hinlänglich unter dem Schlagwort der suspension of disbelief bekannt (also ebenjener „Unterdrückung der Bedenken“, von der Gombrich spricht): „Die Grundregel jeder Auseinandersetzung in einem erzählenden Werk“, so Umberto Eco,

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Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 39, 303, 313; ders.: Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1968, S. 23f., 95f. Gombrich: Das Bild und seine Rolle in der Kommunikation, S. 140f. Groys, Boris: Der Verdacht ist das Medium, in: Hegemann, Carl (Hg.): Endstation. Sehnsucht. Kapitalismus und Depression I, Berlin 2000, S. 85-102, S. 86. Vgl. ders.: Soziale Systeme, S. 180; ders.: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995, S. 459ff. Hohenberger: Dokumentarfilmtheorie, S. 25f. Vgl. Goffmann, Erving: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main 1980; Bateson, Gregory: Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, in: ders.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt am Main 1981, S. 241-261.

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Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE „ist, dass der Leser stillschweigend einen Fiktionsvertrag mit dem Autor schließen muss, der das beinhaltet, was Coleridge ,the willing suspension of disbelief‘, die willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit nannte. Der Leser muss wissen, dass das, was ihm erzählt wird, eine ausgedachte Geschichte ist, ohne darum zu meinen, dass der Autor ihm Lügen erzählt. Wie John Searle es ausgedrückt hat, der Autor tut einfach so, als ob er die Wahrheit sagt, und wir akzeptieren den Fiktionsvertrag und 82 tun so, als wäre das, was der Autor erzählt, wirklich geschehen.“

Eine Fiktion ist also gewissermaßen eine Lüge, die keine ist, weil sie zugleich (stillschweigend oder „selbstredend“) mitkommuniziert, dass sie eine ist83; eine Lüge also, die sich selber bereits als durchschaut voraussetzt, zumindest aber ihre endliche Durchschaubarkeit84. Oder, wie Searle es in der Tat auch ausdrückt: „Was Fiktion von Lüge unterscheidet, ist das Vorhandensein besonderer Konventionen, die es dem Autor ermöglichen – ohne allerdings dabei irgendwelche Täuschungsabsichten zu verfolgen – den Eindruck zu erwecken, er treffe Feststellungen, die – wie er weiß – gar nicht wahr sind.“85

Ein fiktionaler Film wird also schon deshalb niemals lügen (können), weil er – wie der Zuschauer weiß – keinerlei Wahrheitsanspruch behauptet; er tut nur so. Im Unterschied dazu mag ein dokumentarischer Film zwar behaupten, „dass er seine Stoffe aus der Wirklichkeit nahm, dass er keine erfundenen Geschichten erzählte, sondern gefundene, dass er die Wirklichkeit so genau wie möglich aufnahm oder rekonstruierte, sie nie bewusst verfälschte“86,

aber auch hier muss der Zuschauer zunächst erst einmal über den Status des Dargestellten sicher sein, d.h. es muss eine weitere und ebenso vertragsbasierte suspension of disbelief eingesetzt werden, nach der zu akzeptieren wäre, dass es sich beim Dargestellten wiederum um keine Lügen handelt, diesmal aber auch um keine Fiktion: „Immer erkennt der Zuschauer eine klare, vertragsähnliche Situation, in der er oder sie damit einverstanden ist, einen dem Objekt angemessenen Wachzustand und ein gewisses Maß an sekundärprozesshafter Aktivität aufrechtzuerhalten, so wie zwischen dem Zuschauer und dem fiktionalen Film ein ähnliches Arrangement besteht. [...] Der Glaube – der Sinn für die Realität –, den der Dokumentarfilm auslöst, hängt in erster

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Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München / Wien 1994, S. 103. Vgl. Mecke, Jochen: Kleine Apologie des Kinos der Lüge: Zur Einführung, in: Kratochwill, Kerstin / Steinlein, Almut (Hg.): Kino der Lüge, Bielefeld 2004, S. 9-25, S. 13; Wetzel, Michael: Die Wahrheit nach der Malerei, München 1997, S. 263. Vgl. Engell: Das Gespenst der Simulation, S. 16. Searle: Der logische Status fiktionalen Diskurses, S. 89. Roth, Wilhelm: Der Dokumentarfilm seit 1960, München / Luzern 1982, S. 9.

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System und Mythos Instanz von einer Aufforderung ab, die diese Filme dem Zuschauer gegenüber äußern: ,Wir bitten Sie, uns zu glauben, dass ...‘.“87

Die Rezeption von Filmen, und zwar als fiktional genau wie als dokumentarisch klassifizierten, besteht also im Grunde in nichts anderem als in der Wirksamkeit bestimmt geregelter Verträge: „contracts in which spectators [...] willingly agree to relate to codes in a certain way and [...] with knowledge usually of the workings of many of these codes. The signs of the contract appear throughout the rexts; they may become familiar to us but precisely because they are signs, we have to learn them to be able to [...] view.“88

Wonach also der Status des Dargestellten festgelegt wird, sind nichts anderes als genrespezifische Codes, d.h. „bestimmte, historisch variierende Konventionen, die Autor und Publikum teilen und die mit den entsprechenden Signalen aufgerufen werden“, und so tauchen dann im daraufhin gerichteten „,Kontrakt‘ zwischen Autor und Leser“89 oder Filmemacher und Zuschauer die Begriffe der Autorschaft und der Authentizität in ihrem ursprünglichen, juristischen Sinne wieder auf – mit dem „Autor“ als rechtlichem Vollgültigkeitserklärer und Gewährleister und der „Authentizität“ als formaler Rechtsverbindlichlichkeit90 – und ein solcher Kontrakt ist es denn auch, der gleichfalls für das mock documentary bestimmend ist: „What marks the mock-documentary out from the ,hoax‘ or ,fake‘ is this contract set up between producer and audience. It requires the audience to watch as if at a documentary presentation, but in the full knowledge of an actual fictional status.“91

Als „Kontraktsignale“, die auf den Status des Dargestellten als eines „inszenierten Diskurses“ hinweisen, werden beim mock documentary daher zunächst keine eindeutigen „Fiktionssignale“ lanciert92 (wiewohl es ebenso auch möglich ist, als Fiktionssignal ein solches gerade nicht zu geben93), sondern es wird sich vielmehr, wie oben beschrieben, aus dem „Signalrepertoire“ des Dokumentarfilms bedient. Es handelt sich beim Vertrag des mock documentary gewissermaßen um einen Meta-Vertrag: fiktionalisiert 87 88 89 90

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Guynn, William Howard: Der Dokumentarfilm und sein Zuschauer, in: Hohenberger (Hg.): Bilder des Wirklichen, S. 266-285, S. 274, 279. Polan, Dana: A Brechtian Cinema? Towards a Politics of Self-Reflexive Film, in: Nichols, Bill (Hg.): Movies and Methods. Band 2, London 1985, S. 661-672, S. 665. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 35. Vgl. Georges, Karl Ernst: Eintrag „auctor“, in: ders.: Ausführliches lateinischdeutsches Handwörterbuch. Band 1, Basel / Stuttgart 1969, S. 703ff.; Rabe, Horst: Eintrag „Autorität“, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972, S. 382-403, S. 382; Kienzler / Pluza / Seckler: „Authentizität“, S. 1288f. Lipkin / Paget / Roscoe: Docudrama and Mock-Documentary, S. 17. Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 35, 303. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 478.

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wird dabei nicht einfach nur das im Film Dargestellte (wie im „normalen“ Spielfilm auch), sondern vor allem die Kontraktsituation, in die der Zuschauer sich begibt – der Vertrag A regelt, dass die Vertragsschließenden so tun (und nicht tatsächlich auch vermeinen), als schlössen sie einen Vertrag B, der regelt, dass das Dargestellte als glaubwürdig aufzufassen ist (und nicht als fiktiv). Welche Fiktionssignale werden in VERTICAL FEATURES REMAKE nun gegeben, die das mock documentary vom Dokumentarfilm unterscheidbar machen? Am Deutlichsten sind wohl – insofern der seriöse Ton ansonsten völlig durchgehalten und das fiktive Rekonstruktionsprojekt zwar immer absurder wird, aber dann doch nicht absurd genug, um nicht eventuell doch noch realitätsfähig zu sein – sicherlich die Photographien der Luper authorities. Als Repräsentationen sind diese Bilder kaum repräsentativ: Zwar zeigen einige Photographien die photographierten Personen durchaus in angemessener, akademisch würdevoller Portrait- und Schreibtischpose, aber welcher auch nur einigermaßen auf seine Reputation bedachte Gelehrte würde sich für die Öffentlichkeit durch eine Photographie darstellen lassen, die ihn mit freiem Oberkörper oder im Badeanzug zeigt oder auf der sein Gesicht zur Hälfte durch ein seltsames Gestänge verdeckt ist? Tatsächlich aber zeigen die authorities nur in offensichtlicherer Weise, was auch für Tulse Luper gilt: ihre visual identity verdankt sich einem Zufallsfund. Wie Greenaway erläutert: „Tulse Luper was an invention who could speak preposterously and authoratively about many things for which I would not get the blame. [...] And then a cache of some two hundred black-and-white photographs found in Yorkshire gave him a visual identity, made him flesh and blood – gave him a hat and a pipe ... and sometimes a shotgun and sometimes a motor-cycle ...“94

Die Geburt der Figur Tulse Luper aus Relikten der Photographie gibt hier das Muster für Fallast, Lephrenic, Oisinger & Co.: Die Photographien der authorities sind also selbstverständlich weder authentisch noch autorisiert, sondern found footage – und dies zugleich auch, nach Cecilia Hausheer und Christoph Settele, „ein ästhetisches Verfahren, für das die extensive Verwendung, Transformation und Umdeutung von fremdem, gefundenem oder in Archiven speziell ausgesuchtem Filmmaterial charakteristisch ist“95 –

eine Art filmischer bricolage also96, die, mit Wolfgang Iser, das Material ihrer Darstellung gleichermaßen de- und re-kontextualisiert, „fiktionalisiert“ und „unter Spielbedingungen rückt“, die dessen Signifikanten „spaltet“ und zugleich damit verdoppelt: der Signifikant des Bildes wird so zu „un-

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Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 53. Hausheer, Cecilia / Settele, Christoph: Vorwort, in: dies. (Hg.): Found Footage Film, Luzern 1992, S. 4-7, S. 4. Vgl. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 29ff.; Baldwin, Craig: Statement, in: Hausheer / Settele (Hg.): Found Footage Film, S. 92-93, 92.

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System und Mythos

vordenklicher Verwendung“ frei97, was immer auch sein „photographischer Referent“ einmal gewesen sein mag98. Indem nun solchermaßen die filmische Kontraktsituation als Kontraktsituation kenntlich gemacht wird dadurch, dass die ansonsten kontraktstabilisierten „Standarderwartungen“ des Zuschauers enttäuscht und irritiert werden, erreicht VERTICAL FEATURES REMAKE als mock documentary eine „selbstreflexive Problematisierung von Authentizitätskonventionen“99 als dasjenige, was sie tatsächlich sind – „Kontinuitätserwartungen, die ohne Reflexion wie feste Gleitschienen dem täglichen Erleben zugrundegelegt werden“100; „Spielregeln, die auch anders sein könnten“101 und die in ihrer Kontingenz zum Gegenstand des Spieles selbst gemacht werden. Wie Greenaway nicht ohne Sarkasmus kommentiert: „Cinema is an elaborate game with rules. The aim of the game is to successfully suspend disbelief. The audience has been well trained over some eighty years of practice. Necessary circumstances are darkness and a bright projection-bulb and a screen. The audience agree to enter a dark space and sit facing in one direction“102,

und das ist – und daran muss erinnert werden! – eine in höchstem Maße unwahrscheinliche und keinesfalls natürliche Situation: „So, you are sitting in the dark, man is not a nocturnal animal, what the hell you are doing in the dark, looking in one direction, sitting still?“103

Es geht Greenaway in diesem Sinne also darum, den Zuschauer daran zu erinnern, dass er an einem Spiel teilnimmt – indem sich dieser nämlich fragen muss, ob es sich um ein Spiel handelt und wenn ja, um welches: während, mit Gregory Bateson, der „normale“ Spielfilm metakommunikativ nur implizite mitführt, dass die in ihm dargestellten Handlungen nicht bezeichnen, was jene Handlungen, die sie bezeichnen, auch außerhalb des Spiels bezeichnen würden, so handelt es sich bei VERTICAL FEATURES REMAKE wie bei sämtlichen von Greenaways Filmen dann um eine „komplexere Form des Spiels“: ein Spiel nämlich, „welches nicht auf die Prämisse ,Dies ist ein Spiel‘ gegründet ist, sondern sich eher um die Frage dreht ,Ist dies ein Spiel?‘“104

97 98 99

100 101 102 103 104

Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 427f. Barthes: Die helle Kammer, S. 86. Bäumer, Rolf: Parodien dokumentaristischer Authentizitätskonventionen, in: Ertel, Dieter / Zimmermann, Peter (Hg.): Strategie der Blicke. Zur Modellierung von Wirklichkeit in Dokumentarfilm und Reportage, Konstanz 1996, S. 83-103, S. 94. Luhmann: Vertrauen, S. 22. Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, S. 14. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 83. Ders.: The Tulse Luper Suitcase, o.S. Bateson: Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, S. 244, 247.

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Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE

Der Mythos des Autors und des Originals Wie erreicht man eine „absolute und nicht mehr diskutierbare Wahrheit“?105 Wenn es dem I.R.R. bei der Rekonstruktion von Vertical Features um die Klassifizierung und Organisation einer bestimmten Menge von Dokumenten geht, diese Dokumente aber sich ebensowenig von sich aus als authentisch qualifizieren können wie ihre Anordnung als definitiv, ja wenn nicht einmal das Wissen um die Maßstäbe der Bewertung als ein vom Gegenstand unabhängiges betrachtet werden kann, sondern von diesem selber mithervorgebracht wird, so kann es wohl kaum anders sein, als dass, wie Jean-François Lyotard es für die Wissensproduktion der Wissenschaft feststellt, „die Bedingungen des Wahren, also die Spielregeln der Wissenschaft, diesem Spiel innewohnen, und dass sie nicht anders als im Rahmen einer selbst schon wissenschaftlichen Auseinandersetzung begründet werden können und es keinen anderen Beweis für die Güte der Regeln gibt als den Konsens der Experten.“106

Das I.R.R. ist, wie sein Name ja sagt, ein Apparat zur Wiederherstellung und Wiedergewinnung, der durch Sammlung und Interpretation einer Menge von Dokumenten eine Struktur zu rekonstruieren versucht, wie sie einem Film zugrundegelegen hat, von dem angenommen wird, dass er einmal existierte (oder existieren sollte), um ihn möglichst genau so noch einmal zu machen, wie er war (oder hätte sein sollen). Während der Rekonstruktion aber stellt sich nun heraus, dass diese Struktur, mit Derrida, ohne versichernden Grund und ohne Zentrum oder Ursprung ist107, und genau entgegen den Direktiven der Wiederherstellung und Wiedergewinnung sind dann die remakes des I.R.R., „dieser befremdlichen Struktur folgend [...], auch als Wiederholung, nicht Wiederherstellung oder Wiedergewinnung [sic!] einer vorausliegenden UrsprungsSchrift oder eines ursprünglichen Sinns. [...] Interpretation wird auf Interpretation folgen, und jede ist wiederum erneute Hinzufügung von ,Schrift‘, statt der Erreichung eines eigentlichen ,Sinns‘.“108

Entsprechend verliert die Rekonstruktion von Vertical Features in ihrem fortlaufenden Prozess immer mehr den Charakter einer Hypothese –

105 106 107

108

Grondin, Jean: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, S. 180f. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz / Wien 1986, S. 92. Vgl. Derrida, Jacques: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1972, S. 422-442. Menke, Bettine: Dekonstruktion – Lektüre: Derrida literaturtheoretisch, in: Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. 2., neubearbeitete Auflage, Opladen 1997, S. 242-273, S. 253.

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System und Mythos „we make no claim that this film reproduces the film Tulse Luper made or would make now if given the opportunity again, though we believe it is made in the direction of his inquiry“ –

und erscheint stattdessen als Supplement, Substitut oder gar als Fälschung (des verlorenen „Originals“ von Vertical Features, das es möglicherweise nie gegeben hat, oder auch selbst nur eine Fälschung ist) oder – schlimmer noch – als pure Erfindung (eines „Autors“ wie auch eines „Werks“). Wird hier ein Vorbild nur verzerrt, oder wird etwas als Nachbild ausgegeben, was tatsächlich gar kein Vorbild hat?109 Die Absicht jedenfalls, einen einmaligen Zustand zu fixieren, triggert erst einen endlosen Prozess; die Absicht, eine „ursprüngliche Information“ zu raffinieren, führt erst immer neue Geräusche ein; die Absicht, ein möglichst „objektives Bild“ zu erhalten, erfordert immer neue Manipulationen; und die Absicht, die wahrscheinliche „Ur-Gestalt“ von Vertical Features zu definieren, zeitigt immer unwahrscheinlichere Versionen, kurz: das I.R.R. steht in der unhaltbaren Situation eines double bind im Sinne Gregory Batesons110. Es findet sich: eine bindende komplementäre Beziehung (Tulse Luper und das I.R.R., der Autor und die Editoren); 2. eine paradoxe Handlungsaufforderung (die nur befolgt werden kann, indem sie missachtet wird, und umgekehrt: d.h. die Rekonstruktion von Vertical Features ist nur dann authentisch, wenn diese Authentizität immer wieder in Frage gestellt und so auch niemals je erreicht wird), und 3. die Unmöglichkeit, die Paradoxie durch eine Metakommunikation aufzulösen, wodurch dann schließlich ein selbstverewigender, oszillierender Prozess wird in Gang gesetzt wird (die Lösung des Problems reproduziert das Problem111, so dass immer weitere remakes entstehen; Rastelins einsamer Protest dagegen, als Unterschied, der keinen Unterschied macht112, bleibt vollkommen folgenlos). 1.

Das I.R.R. befindet sich so bei seiner investigation into the work of Tulse Luper am Ende ironischerweise in einer „Lage ohne Autor und Werk“113, und zwar nicht nur, weil beide nicht mehr greifbar sind, sondern vielmehr, weil die Begriffe selber nicht mehr greifen. Wer ist Tulse Luper? „A metaphor for 109 110

111 112

113

Engell: Das Gespenst der Simulation, S. 8. Bateson, Gregory: Vorstudien zu einer Theorie der Schizophrenie, in: ders.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspektiven, Frankfurt am Main 1981, S. 270-301; Watzlawick, Paul / Beavin, Janet H. / Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern / Stuttgart / Wien 1974, S. 195ff. Vgl. Schwanitz, Dietrich: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma, Opladen 1990, S. 50. Vgl. Bateson, Gregory: Eine Überprüfung von „Batesons Regel“, in: ders.: Ökologie des Geistes, S. 486-509, S. 488: „Information, im technischen Sinne, ist das, was gewisse Alternativen ausschließt. [...] Der terminus technicus ,Information‘ kann vorläufig als irgendein Unterschied, der bei einem späteren Ereignis einen Unterschied macht, definiert werden.“ Vgl. Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, S. 104.

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Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE

authorship itself“, wie Amy Lawrence vorschlägt114, wenn der „Autor“ – durchaus im Sinne Foucaults – nichts anderes ist als eine konzeptuelle Deduktion von textuellen Effekten, und in der Tat kann Tulse Luper (verdachtsweise ja „a figment of the Institute’s imagination“) als exemplarischer Fall der „Erfindung des Menschen hinter den Wörtern“115 durch den Apparat der Textverwaltung selber angesehen werden. Darüberhinaus ist allerdings zu fragen, ob eine solche Funktionalisierung des Autor-Begriffs nicht zu kurz greift, wo VERTICAL FEATURES REMAKE doch gerade auch geeignet scheint, den „Mythos des Autors und des Originals“116 nicht nur zu hinterfragen oder auch zu „subvertieren“, sondern tatsächlich zu verabschieden und durch ein anderes Paradigma zu ersetzen. Wie Foucault ja selbst dazu bemerkt: „Ich glaube, dass während sich unsere Gesellschaft ändert, in eben dem Moment, in dem sie dabei ist, sich zu ändern, die Autorfunktion verschwinden wird, um zwar in einer solchen Weise, dass Fiktion und ihre polysemen Texte wiederum nach einem anderen Modus funktionieren werden, aber immer noch innerhalb eines Systems von Einschränkungen – eines, das nicht länger der Autor ist, sondern eines, das noch festgelegt werden muss oder vielleicht erfahren.“117

Es geht in der Diskussion um den Begriff des Autors also im Weiteren um einen neuen Modus der Produktion, Distribution und Rezeption von Texten, und auch um einen neuen Modus der Texte selbst, ja schließlich gar einen neuen Modus der Gesellschaft; und was nun so begrifflich kondensiert bei VERTICAL FEATURES REMAKE auf dem Spiel steht, ist der Mythos desjenigen, der mit eigener Hand einmalig und ursprünglich etwas vollbringt; und zwar etwas, dessen Herkunft eben dadurch verbürgt ist (im Unterschied zu Untergeschobenem oder Erdichtetem), eben das einmalig-ursprünglich Echte (im Unterschied zu seiner Kopie, Nachbildung, Umarbeitung oder Fälschung), kurz: der Mythos der Authentizität118. Denn darum geht es ja zunächst dem Projekt von Vertical Features Remake: „The Institute of Restoration and Reclamation are steadily examining and reappraising the papers of Tulse Luper. It is hoped eventually to make a complete and definitive reconstruction of his research“,

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Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 46f. Kittler, Friedrich: Wie man abschafft, wovon man spricht: Der Autor von „Ecce homo“, in: ders. / Derrida, Jacques: Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht, Berlin 2000, S. 65-99, S. 74. Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, S. 107. Foucault: Was ist ein Autor?, S. 229. Vgl. Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Eintrag „Original“, S. 419; Meyers Lexikon. Band 1, Leipzig 1924, Einträge „Authentie / Authentizität“ und „Authentica“, S. 1229; Rabe: „Autorität“, S. 383; Kienzler / Pluza / Seckler: „Authentizität“.

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System und Mythos

d.h. eine autoritative editio authentica, die allen historisch-kritischen Ansprüchen gerecht wird. Das Unternehmen Vertical Features Remake ist so, ganz im Sinne Foucaults, eine „Authentizitäts- und Zuordnungsuntersuchung“, die entsprechenden Fragen an den zu rekonstruierenden Text: „woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu welchem Zeitpunkt, unter welchen Umständen oder nach welchem Entwurf“, und die diese Fragen subsummierende Funktion „Autor“ „charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft“119 – nämlich der gegenwärtigen unseren, die sich, mit Flusser, exemplarisch vor allem durch dreierlei Diskursstrukturen: mythische, wissenschaftliche und massenmediale, charakterisieren ließe120. Diese Diskurstypen der Situation von VERTICAL FEATURES REMAKE zugrundegelegt, erweist sich allerdings bald – und hierin besteht ja (wie gesehen) auch sein parodistischer Aspekt –, dass •



der wissenschaftliche und somit auf Dialogizität, „wissenschaftliche Disziplin“ und „objektive Wahrheit“ verpflichtete Diskurs nur eine Transformation des mythischen Diskurses von sendendem Autor, reinigender Autorität und gläubigem Empfänger ist – Tulse Luper (dessen Existenz mindestens so beweisbar oder unbeweisbar scheint wie diejenige Gottes), das I.R.R. und die Luper authorities (die pontifikal um die authentische Exegese SEINES Wortes als der reinen Lehre streiten, damit, nach ihrem Dafürhalten, SEIN Wille geschehe) und schließlich der Zuschauer von VERTICAL FEATURES REMAKE (der laikal weder die Umstände der Rekonstruktion einsehen kann noch kompetent ist, ihre Resultate zu beurteilen – und schließlich noch zu entscheiden hätte, ob er einen kanonischen / „dokumentarischen“ oder einen apokryphen / „fiktionalen“ Film sieht, soweit er dieser Entscheidung überhaupt auch fähig ist); und dass der wissenschaftliche in einen massenmedialen Diskurs transformiert ist, der den Empfänger vollends passiv und den Sender vollends „transzendent“ macht (der Zuschauer, als Datensenke einer fernen, unbekannten Quelle, der sich VERTICAL FEATURES REMAKE auf der Leinwand oder auf dem Bildschirm ansieht, ist apparativ darauf programmiert, einen Film als Abbild und nicht als Einbildung der Welt aufzufasssen, gleichviel, ob der Film nun als „dokumentarisch“ oder „fiktional“ indiziert wird, wodurch diese Unterscheidung – wie oben beschrieben – am Ende auch jede Bedeutung verliert).

Die Parodie ist so zugleich auch Aufklärung darüber, dass die Frage nach Autorschaft und Authentizität als eine „Frage nach dem Ursprung“ vermutlich falsch gestellt und vielmehr mit der Frage nach der Funktionsweise des Kommunizierens selber zu ersetzen ist121. Wie oben beschrieben ist ja etwa die Schrift nach Platon eben dadurch charakterisiert, notwendig von ihrem Ursprung abgetrennt, „immer schon“ unvollständig und wie die 119 120 121

Foucault: Was ist ein Autor?, S. 202, 213, 211. Flusser: Kommunikologie, S. 42ff. Ders.: Medienkultur, S. 34; vgl. Luhmann, Niklas: Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Hg. von Dirk Baecker, Heidelberg 2005, S. 292.

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Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE

Malerei nur Schein und nicht die Sache selbst zu sein122, und so werde auch, so Platons Sokrates dann weiter, der Schreibende mit seiner Mitteilung nicht anders verfahren wollen als der Landmann mit seinen Samen: „Nicht zum Ernst wird er sie ins Wasser schreiben, mit Tinte sie durch das Rohr säend, mit Worten, die doch unvermögend sind, sich selbst durch Rede zu helfen, unvermögend aber auch, hinreichend die Wahrheit zu lehren? [...] Freilich nicht; sondern die Schriftgärtchen wird er nur des Spieles wegen, wie es scheint, besäen und beschreiben.“123

Wer ist Tulse Luper? Eine Metaphorisierung nicht der Autorschaft (als einer wenn auch nachträglichen Implikation des Menschen als „Ursprung“, einer mithin „nachträglichen Originalität“124), sondern des homo ludens (als einer Implikation des „Menschen als Methode“125). „Tulse Luper, the arch gameplayer”126 – „nicht Schöpfer, sondern Spieler mit Informationen“127, der einer anderen, neuen Geste eines Schreibens Raum gibt, welches aus der platonischen Not eine Tugend macht, sich nicht mehr nur über Papiere fortsetzt und für das Abgeschlossenheit und Endgültigkeit auch gar keine Kriterien mehr darstellen: „Der Schreibende ist nicht mehr darauf aus, eine in sich geschlossene, fertige, ,perfekte‘ Information herzustellen, sondern er ist bemüht, bereits vorhandene Informationen so umzustrukturieren und mit Geräuschen zu bereichern, dass andere damit kreativ weiterspielen können. [...] Darum setzt der Schreibende seinem Text ein ,Menü‘ voraus, das heißt eine Reihe von Vorschlägen, wie der empfangene Text laut Meinung des Schreibenden manipuliert werden könnte. Der Empfänger kann sich nach diesem Menü richten, er kann aber ebensogut andere Richtlinien bei seiner Textmanipulation befolgen.“128

Die Gestalt eines Textes, der sich so immer verändert, kann auch nicht rekonstruiert werden (in einen gewesenen Ausgangszustand zurück-gesetzt werden), bzw. sie kann (und soll) nichts als rekonstruiert werden (in mögliche Alternativzustände um-gesetzt werden). Das I.R.R., von Tulse Luper mit einigen vagen Anweisungen und einer Menge von Informationsbruchstücken ohne festen Zusammenhang ausgestattet, ist sich seiner Rolle in diesem Spiel möglicherweise nicht bewusst, aber es kann sich ihr auch nicht entziehen und erfüllt sie nolens volens umso besser. Die remakes beziehen sich so nicht mehr auf ein Objekt, das es gegeben hat und das re-konstruiert wird, sondern auf ein Programm, das vor-gegeben ist und das re-aktualisiert wird; wenn überhaupt, erscheint Vertical Features so als das, was Jean 122 123 124 125 126 127 128

Plat. Phaidr. 275a. Ebd., 276c-d (Hervorhebung von mir, A.R.W.). Engell, Lorenz: Von Goethes Gartenhaus zu McGoethe. Eine kleine Ideengeschichte des Duplikats, in: ders.: Ausfahrt nach Babylon, S. 231-243, S. 232. Vgl. Flusser, Vilém: Glaubensverlust, in: ders.: Medienkultur, S. 29-40, S. 31. Morgan, Stuart: Breaking the Contract, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 13-20, S. 19. Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, S. 98. Ders.: Hinweg vom Papier, S. 64.

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System und Mythos

Baudrillard ein „fraktales Objekt“ nennt und von dem eben kein „vollkommenes Idealbild“, sondern vielmehr nur die Formel seiner endlosen Reproduktion und internen Differenzierung zu bestimmen ist129. Die Rekonstruktion ist tatsächlich eine Projektion: Nicht nur erschafft erst die Untersuchung ihr Objekt, sondern das Unternehmen des I.R.R. eröffnet ein Spiel, das, von einer endlichen Anzahl von Regeln definiert, eine prinzipiell unendliche Anzahl von Partien ermöglicht – das „authentische“ Vertical Features bestünde dann in der Gesamtheit seiner remakes130. Negativ gewendet, ist dies ein Absturz in die Kontingenz, positiv gewendet aber ein Ausbruch der Kreativität: „Der Text ist nicht mehr [...] das Resultat eines kreativen Prozesses, sondern er ist selbst dieser Prozess, er ist selbst ein Prozessieren von Informationen zu neuen Informationen. [...] Das Ziel ist nicht mehr, etwas herzustellen, sondern der Geste des Herstellens selbst freien Raum zu schaffen.“131

Hatte sich das I.R.R. der scheinbar sekundären verwaltungstechnischen Aufgabe verschrieben, Tulse Lupers Aufzeichnungen „lediglich“ zusammenzustellen und zu bearbeiten, so stellt sich heraus, dass „dieses Zusammenstellen und Bearbeiten (Komputieren und Prozessieren) der eigentliche kreative Prozess ist“132 – und zwar ein Prozess, der prinzipiell nicht abzuschließen ist, ein infiniter Prozess ohne „definitive“ Resultate. Nach alledem wäre auch Vertical Features so, mit Luhmann, viel eher als als Form als Medium zu begreifen: nicht als Film, den es einmal in dieser oder anderer Gestalt gegeben haben mag, sondern als Möglichkeitsbereich der Herstellung von Filmen, wie umgekehrt VERTICAL FEATURES REMAKE, mit Flusser, als Film und damit als technisches Bild nicht daraufhin zu kritisieren wäre, was es je zeigt oder verbirgt, was „enthüllt“ oder „verhüllt“ wird, sondern vielmehr darauf zu befragen ist, welche Möglichkeiten in ihm verwirklicht worden sind und welche nicht133: „Ich kann also zwar nicht zwischen Abbildern und Modellen, dafür aber zwischen redundanten und informativen Bildern unterscheiden. Allerdings habe ich dann nicht gesagt, ,was‘ die Bilder bedeuten, sondern ,wieviel‘ sie bedeuten. Und das ist die für technische Bilder angebrachte Anschauungsweise.“134

129 130 131 132

133 134

Baudrillard, Jean: Videowelt und fraktales Subjekt, in: ars electronica (Hg.): Philosophien der neuen Technologie, Berlin 1989, S. 113-131, S. 113f. Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Die Struktur der Mythen, in: ders.: Strukturale Anthropologie, Frankfurt am Main 1967, S. 226-254, 238ff. Flusser: Hinweg vom Papier, S. 63f. Ders.: Nachwort zur Vorgeschichte oder Vorwort zur Nachgeschichte, in: ders.: Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen. Zusammengestellt und bearbeitet von Volker Rapsch, Düsseldorf 1990, S. 7-11, S. 9. Flusser: Die Schrift, S. 132. Ders.: Ins Universum der technischen Bilder, S. 49.

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Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE

Apparate und technische Bilder Da nun für Flusser das technische grundsätzlich ein von Apparaten erzeugtes Bild ist135, steht seine Analyse auch im Rahmen einer „generellen Analyse von Apparaten“: „jener Apparate, die einerseits ins Riesenhafte wachsen und aus dem Blickfeld zu verschwinden drohen (wie die Verwaltungsapparate) und andererseits ins Mikroskopische schrumpfen, um sich dem Zugriff vollends zu entziehen (wie die Chips der elektronischen Apparate)“136.

Das zentrale Problem ist dann, dass den technischen Bildern ein verführerischer „mythischer“ Charakter eignet, sie als „objektive Bilder der Wirklichkeit“, als „automatisch abgebildete Welt“ mißzuverstehen137, wohingegen sie vielmehr Projektionen sind, die mittels einer bildlichen Darstellung einen Begriff bedeuten – wie mit Lévi-Strauss auch Mythen ja nur zu leicht als Erklärungen empirischer Erscheinungen mißverstanden werden, wohingegen sie vielmehr Erklärungen von Realitäten logischer Ordnung mittels empirischer Erscheinungen sind138 – die man z.B. malen, filmen oder errechnen kann. Eine Entzifferung technischer Bilder bedeutet also, nicht einem „magischen“ Bildverhalten zu verfallen (nicht zwischen „wirklicher“ und „imaginärer“ Welt unterscheiden zu können, die Welt als Bild zu erleben139), sondern vielmehr, wie oben beschrieben, das ihnen zugrunde liegende „Programm“ aus ihnen herauszulesen. Genau dies ist ja nun die erklärte Absicht auch des I.R.R.: das ursprüngliche Programm von Vertical Features zu rekonstruieren und dann dieses selbst. Aber wird dieses Programm denn nicht sehr klar von Tulse Lupers Direktiven ausgedrückt, die das „wie“ und „warum“ (Methode und Begründung) von Vertical Features doch in aller Deutlichkeit benennen? Und was das „wozu“ (das Motiv) betrifft, so mag es einfach Tulse Lupers Absicht gewesen sein, informative Bilder herzustellen (anstatt von redundanten)140:

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Vgl. ebd., S. 21; ders.: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1983, S. 13; siehe gegen diese Auffassung aber ders.: Kommunikologie, S. 139f. Ebd., S. 18. Ebd., S. 41. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 114. Flusser: Kommunikologie, S. 117-123. Also, mit Flusser: „außerordentlich unerwartete“, also „informative“, also „schöne“ Bilder (Eine neue Einbildungskraft, in: Bohn, Volker (Hg.): Bildlichkeit, Frankfurt am Main 1990, S. 115-126, S. 124), bei denen es sich dann, Gerhard Plumpe und Niels Werber zufolge, da an der Differenz von interessant und langweilig orientiert, um ästhetische, um kunstmäßige Beobachtungen handelt. Vgl. Literatur ist codierbar. Aspekte einer systemtheoretischen Literaturwissenschaft, in: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen 1993, S. 9-43, S. 30ff.

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System und Mythos „Basically, like a great many other projects of this time, Vertical Lists was a project of structure and organisation – in this case, the organisation of a number of images of vertical features that Tulse Luper found interesting enough to record, in the beginning, at any rate, with pen on paper. There is good reason to suppose that Tulse Luper filmed these images and images like them and put them together in a short film.“

Dies aber markiert eine entscheidende Wendung, in der die Frage zumal nach unterstellten menschlichen Intentionen ihre überragende Erklärungskraft verliert und so zumindest neu gestellt werden muss. Denn im Übergang vom traditionellen Bild / vom Abbild („recording with pen on paper“) zum technischen Bild / zur Einbildung („filming images and putting them together“) erweist sich, dass Intentionalitäten alleine nicht mehr ausschlaggebend sind, dass sie nicht einmal mehr begründend sind, ja „dass die Intention von nirgendwo ausgeht. Dass sie nicht eine Ausstrahlung, sondern eine Einstellung ist. Nicht ein mit dem Apparat verbundenes Säugetier macht Bilder aus Photonen, sondern Bilder entstehen, wenn Säugetiere, Apparate und Photonen irgendwie aufeinander eingestellt sind.“141

Mit dem Apparat der Kamera nämlich hat der Mensch sich etwas ins Boot geholt, das – aller Metaphorisierungen vom pencil of nature (Talbot) bis zum caméra-stylo (Astruc) zum Trotz142 – mit dem Werkzeug des Zeichenstiftes schlichtweg nicht mehr vergleichbar ist: „Wenn man das Instrument als einen Körper bestimmt, der in Abhängigkeit von einem menschlichen Körper bewegt wird (wenn man sagt, dass innerhalb der Beziehung ,Mensch / Werkzeug‘ der menschliche Körper konstant und das Werkzeug variabel sei), dann ist es nahezu sinnlos, den Apparat als das Werkzeug des Fotografen zu bestimmen“143;

vielmehr funktioniert der Apparat als Selektionsverstärker (und eben damit auch: als Medium144), denn zwar tut der Apparat im besten Falle das, was der Mensch will, doch kann der Mensch dann seinerseits nur wollen, was der Apparat auch kann145. Die technischen Bilder sind daher grundsätzlich apparative Produkte, d.h. Produkte eines Dispositivs, innerhalb dessen dann der „Kampf zwischen Mensch und Apparat“146, zwischen Absichten und Programmen ausgetragen wird: 141 142

143 144 145 146

Ders.: Fotografieren als Lebenseinstellung, in: Amelunxen, Hubertus von (Hg.): Theorie der Fotografie. Band 4: 1980-1995, München 2000, S. 84-88, S. 86. Vgl. Talbot, William Henry Fox: The Pencil of Nature. New Introduction by Beaumont Newhall, New York (NY) 1969 (Reprint der Ausgabe London 1844); Astruc, Alexandre: Die Geburt einer neuen Avantgarde. Die Kamera als Federhalter, in: Kotulla, Theodor (Hg.): Der Film. Band 2, München 1964, S. 111-115. Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim / Düsseldorf 1991, S. 141. Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 128. Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, S. 25. Ders.: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 51.

114

Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE „Ein Vergleich der Absicht des Fotografen mit dem Apparatprogramm zeigt, dass es Punkte gibt, an denen beide konvergieren, und andere, an denen sie divergieren. An den konvergierenden Punkten wirken beide zusammen, an den divergierenden kämpfen sie gegeneinander. Folglich kann eine Fotografie als entziffert gelten, wenn es gelungen ist, festzustellen, wie sich in ihr Zusammenarbeit und Kampf verhalten. Die von der Fotokritik an die Fotografie zu stellende Frage lautet demnach: Inwieweit ist es dem Fotografen gelungen, das Apparatprogramm seiner Absicht zu unterwerfen, und dank welcher Methode? Und umgekehrt: Inwieweit ist es dem Apparat gelungen, die Absicht des Fotografen zugunsten des Apparatprogramms umzuleiten, und dank welcher Methode?“147

Angewendet auf das Verhältnis von Tulse Luper (als dem Funktionär, der er im Zusammenhang von Vertical Features unzweifelhaft ist) und dem I.R.R. (als dem Apparat, der es im Zusammenhang von Vertical Features unzweifelhaft ist), ergeben sich auf diese Fragen etwa folgende mögliche Antworten: •

Entweder ist bei der investigation into the work of Tulse Luper im Grunde alles in Ordnung und es gab nur einige bedauerliche, aber angesichts der Datenlage unvermeidliche Verarbeitungsfehler (Betriebsunfälle), die alsbald korrigiert werden können, womit dann auch das Projekt Vertical Features Remake im Geiste Lupers zu vollenden und die Welt um ein „interessantes Werk“ reicher sein wird, d.h. der Apparat übernimmt dienend menschliche Arbeit: „Apparate sollen menschliche Arbeit übernehmen – zum Beispiel, indem die Kamera den Menschen von der Notwendigkeit emanzipiert, einen Pinsel zu manipulieren. [...] Gemäß einer derartigen Analyse sind die Apparate nichts als eigenartige Maschinen, deren Erfindung nichts Revolutionäres an sich hat.“148



Oder es war ganz im Gegenteil überhaupt nie Tulse Lupers Absicht, Vertical Features jemals zu vollenden, sondern vielmehr bewußt unzählige remakes zu provozieren; also das I.R.R. irre zu führen und zu überlisten, ein Spiel mit ihm zu spielen, für das es nicht programmiert ist, ihm eine Aufgabe zu stellen, die es nie wird erfüllen können, d.h. der Mensch triumphiert über den Apparat: „Es geht dabei um den Versuch, das listige Kameraprogramm zu überlisten und den Apparat zu zwingen, etwas zu tun, wofür er nicht gebaut ist [...], Bilder zu schaffen, die quer zur Bilderflut stehen, Bilder, die die Apparate zwingen, gegen ihren eigenen apparatischen Fortschritt zu funktionieren.“149

147 148 149

Ebd., S. 33f. Ebd., S. 49f. Vgl. ders.: Medienkultur, S. 78.

115

System und Mythos •

Oder aber das I.R.R. hat Tulse Luper eben deshalb erst erfunden, um unter diesem Vorwand hinfort in alle Ewigkeit sein Programm ausführen zu können, d.h. der Mensch ist nur Teil, Instrument und Produkt des Funktionsprozesses „seiner“ Apparate, die ihrerseits eine „Evolution hinter unserem Rücken“150 vollziehen: „Das Apparatprogramm sieht vor, seine Möglichkeiten zu verwirklichen und dabei die Gesellschaft als Feedback für seine fortschreitende Verbesserung zu verwenden. [...] Apparate wurden erfunden, um automatisch, das heißt autonom von menschlichen Eingriffen, zu funktionieren. Das ist die Absicht, die sie erzeugt hat: dass der Mensch aus ihnen ausgeschaltet werde. [...] Wurden die Apparate ursprünglich noch aus menschlicher Absicht hergestellt und programmiert, so ist diese Absicht heute, in der ,zweiten und dritten Generation‘ der Apparate, hinter dem Horizont des Funktionierens verschwunden. Die Apparate funktionieren nun als Selbstzweck, eben ,automatisch‘, mit dem einzigen Ziel, sich selbst zu erhalten und zu verbessern.“151

Was VERTICAL FEATURES REMAKE dann im letzten Fall zu sehen gäbe, wäre nichts anderes der sich selbst fundierende Prozess eines autopoietischen Operationskontinuums: „the film itself is nothing but a system reflective of its own construction“152. Wenn aber nun nicht zu begründen ist, weshalb ein System nach Erreichen eines für es angesetzten Zweckes überhaupt noch weiter fortdauern sollte (was für einen Zweck das I.R.R. nach erfolgreicher Rekonstruktion von Vertical Features und Tulse Lupers weiteren Arbeiten sonst noch haben könnte), wenn ein System genau dann in die Krise gerät, wenn man ihm sein Problem wegnimmt153 (wenn es mit der eventual complete and definitve reconstruction des Werkes von Tulse Luper auch keinen Grund mehr für weitere examinations oder reappraisals gäbe), wenn das System aber gleichwohl weiterhin Berechtigung zur Existenz besitzen will (zumal wenn diese etwa von öffentlichen Geldern oder Drittmitteln abhängt): dann muss eben verhindert werden, dass das System sich im Erreichen eines Zieles festläuft und zu operieren aufhört, dann muss die Lösung des Problems das Problem eben reproduzieren – z.B. indem das System auf seiner Suche nach otwendigem dann lauter Kontingenzen produziert, indem es einen Zugang zu anderen Möglichkeiten genau dort eröffnet, wo es ihn verschließen möchte, indem es also, um weiterhin funktionieren zu können, sich laufend selber sabotieren muss, sich selber nur durch „hinreichenden Misserfolg“ am Leben halten kann154. 150

151 152 153 154

Vgl. Kittler, Friedrich: Die Evolution hinter unserem Rücken, in: Fedrowitz, Jutta / Kaiser, Gert / Matejovski, Dirk (Hg.): Kultur und Technik im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main / New York (NY) 1993, S. 221-223. Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 33, 50. Elkington: Between Order and Chaos, o.S. Schwanitz: Systemtheorie und Literatur, S. 36. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 749; ders.: Sthenographie und Euryalistik, in: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, S. 58-82, S. 75; ders.: Was ist Kommunikation?, S. 102; ders.: Soziale Systeme, S. 237; Schwanitz: Systemtheorie und Literatur, S. 50.

116

Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE

Je nach Perspektive gleicht also die investigation into the work of Tulse Luper der Aufgabe des Sisyphos – als Verhängnis – oder der Penelope – als Vorwand. Oder das Projekt Vertical Features hatte am Ende noch einen anderen Sinn – wie es auch erst der letzten der Luper authorities in den Sinn kommt, dass es überhaupt einen Sinn haben könnte – und rückte damit in die Nähe der Aufgabe der Kassandra: structure as prophecy155.

Structure as Prophecy VERTICAL FEATURES REMAKE ist, wie Greenaway erläutert, nicht nur eine Parodie des dokumentarischen Films, sondern zugleich auch des sogenannten structural film, und schließlich sogar eine Art Hommage an diesen: „a lovehate, or more appropriately, celebration-criticism, of structural method, unthinkingly and stupidly dominant in film circles at that time.“156 Bedienten sich die Filme des structural film in ihrem etwa über die Verwendung strikter mathematischer Organisationsprinzipien sich betont formalistisch gerierendem methodischen Verfahren gewissermaßen einer Praxis des stop making sense, so gaben sie damit auch vor allem zu verstehen, dass es an ihnen schlicht nichts zu verstehen gebe: „The simple numerical schemata challenge the usefulness of interpretation as a critical strategy, because while the schemata are very prominent they do not have any denotative meaning“157 –

nur hat eine solche Interpretationsverweigerung dann eventuell den paradoxen Effekt, zu extensiven Deutungen geradezu zu provozieren158, ja Bart Testa zufolge war es geradezu das esoterische Bekenntnis des structural film und seiner Theoretiker, einen hypertrophen Formalismus als Träger für arkane Theorien zu verwenden159, über deren eventuelle Bedeutung (oder Existenz) sich dann natürlich trefflich debattieren ließ. Die einzige Hypothese jedenfalls, die in VERTICAL FEATURES REMAKE in diesem Sinne hinsichtlich der Bedeutung von Vertical Features und der (dann ebenso interpretationsleitenden wie auch -bestätigenden160) Absichten Tulse Lupers jenseits eines rein formalästhetischen Interesses aufgestellt wird, ist einleitend zu Vertical Features Remake 4 dann ganz am Schluss die folgende:

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156 157 158 159 160

Røstvig, Maren-Sofie: Structure as Prophecy: The Influence of Biblical Exegesis upon Theories of Literary Structure, in: Fowler, Alastair (Hg.): Silent Poetry. Essays in numerological analysis, London 1970, S. 32-72. Zitiert nach: http://greenaway.bfi.org.uk/material.php?theme=1&type=Greenaway& title=vertical (29.03.2009). Peterson, James: The Artful Mathematicians of the Avant-Garde, in: Wide Angle 7/3 (1985), S. 14-23, S. 20. Jahraus, Oliver: Sich selbst interpretierende Texte. Franz Kafkas „Von den Gleichnissen“, in: Poetica 26(1994), Heft 3-4, S. 385-408, S. 390. Testa: Tabula for a Catastrophe, S. 89. Vgl. Jahraus, Oliver: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewusstsein und Kommunikation, Weilerswist 2003, S. 598ff.

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System und Mythos „Castinager suggests that Tulse Luper’s film project Vertical Features was far more important than an incidental examination of structure and suggests that Tulse Luper foresaw, to some extent, the unsuitability of the Session Three plans for the future. Three letters written by Cissie Colpitts to Gang Lion strongly support Castinagers contention that Tulse Luper returned to Buryglaze at various times of the year to film the landscape to demonstrate, among other things, that it changed and would continue to change without assistance from synthetic sources. According to the new evidence, Tulse Luper was making the film as a record of domestic landscape, to serve as a reminder of what had been achieved. Castinager suggests that the 11 x 11 structure was intended as a warning. He suggests that it was a simile for the 11th hour of the 11th month.“

Mit numerologisch-exegetischem Bezug auf das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1-16) geht es also hier um nichts Geringeres als die Prophezeiung der letzten Tage der Menschheit – „the ,eleventh hour‘ of the world, before the eighth day of eternity, in which God would come to judge man“161 – „die Stunde von der Ankunft des Herrn bis zum Ende der Welt“162. Was soll also diese apokalyptische Verweisung nun besagen? Wenn, nach Flusser, jedes Programm in Funktion eines Metaprogramms funktioniert, dessen Funktionäre auch die Programmierer des Programms sind163, so wäre eine Hypothese diese: Tulse Luper handelt in Funktion von Session Three. Das Ziel von Session Three ist die (wie auch immer geartete) Information (Kultivierung) der Landschaft, um diese Landschaft von außen ihren Bedürfnissen anzupassen. Das Ziel von Tulse Luper aber ist es nun eben nicht, die Landschaft in diesem Sinne zu informieren, sondern Bilder herzustellen, die Reflektionen dieser kultivierten Landschaft darstellen. Vertical Features ist ein Subprogramm des Landscape Programme, und es zielt darauf, sein Metaprogramm von innen her zu kritisieren. Tulse Luper wendet sich gegen den Apparat, dessen Funktionär er doch ist, und gegen das Programm, zu dem er doch einen Beitrag leistet, denn das Programm von Session Three zielt auf eine vollkommen „kultivierte Welt“ und zeitigt dabei „pernicious effects on the European landscape“, an denen das Leben in ihr zugrunde zu gehen droht. Vertical Features, als „Bilderwelt, welche Theorien bezüglich der ,Welt‘ zu bedeuten versucht“164, bedeutete dann die Ansicht, dass diese Welt vor dem (selbstinduzierten) Untergang qua Über-Information durch technische Kultivierung steht. Übertragen auf das Verhältnis von Peter Greenaway (als dem Funktionär, der er im Zusammenhang von VERTICAL FEATURES REMAKE unzweifelhaft ist) und der gegenwärtigen Industriekultur der Massenmedien (als dem apparativen Komplex, der sie im Zusammenhang von VERTICAL FEATURES REMAKE unzweifelhaft ist), ergibt sich aus dieser Hypothese eine weitere: Peter Greenaway handelt in Funktion dieser Form von „Medienkultur“. Das 161 162

163 164

Butler, Christopher: Numerological Thought, in: Fowler (Hg.): Silent Poetry, S. 1-31, S. 15. Gregor der Große: Homiliae in Evangelia. Evangelienhomilien. Lateinisch – deutsch. Übersetzt und eingeleitet von Michael Fiedrowicz, Freiburg / Basel / Wien / Barcelona / Rom / New York (NY) 1997, 1. Teilband, 19.1, S. 321. Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 23. Ders.: Die kodifizierte Welt, in: ders.: Medienkultur, S. 21-28, S. 23.

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Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE

Ziel dieser Medienkultur ist die (wie auch immer geartete) Information (Programmierung) der Gesellschaft, um diese Gesellschaft von außen ihren Bedürfnissen anzupassen. Das Ziel von Peter Greenaway aber ist es nun eben nicht, die Gesellschaft in diesem Sinne zu informieren, sondern Bilder herzustellen, die Reflexionen dieser programmierten Gesellschaft darstellen. VERTICAL FEATURES REMAKE ist ein Subprogramm des Programms der Medienkultur, und es zielt darauf, sein Metaprogramm von innen her zu kritisieren. Peter Greenaway wendet sich gegen den Apparat, dessen Funktionär er doch ist, und gegen das Programm, zu dem er doch einen Beitrag leistet, denn das Programm dieser Medienkultur zielt auf eine vollkommen „programmierte Welt“ und zeitigt dabei eine „perniziöse Entfremdung“165 innerhalb der technisch codifizierten Welt, an der das Leben in ihr zugrunde zu gehen droht. VERTICAL FEATURES REMAKE, als Bilderwelt, welche Theorien bezüglich der „Welt“ zu bedeuten versucht, bedeutete dann die Ansicht, dass diese Welt vor dem (selbstinduzierten) Untergang qua ÜberInformation durch technische Bilder steht: „Die technischen Bilder selbst sind apokalyptisch, nicht irgendwelche Katastrophen“166. Kombiniert werden beide Verheißungen, die ökologische wie medienkulturelle, als nur je unterschiedliche Fassungen der Einsicht, dass das Natürliche nur artifiziell und das Authentische nur fingiert zu haben ist, dass es das „Natürliche“, „Authentische“, „Gewisse“, „Selbstverständliche“, „Originale“, „Ursprüngliche“, kurz: das „Wahre“ nicht mehr gibt: „Über Jahrhunderte hinweg – in Kunst, Philosophie, Poesie – war die Suche nach ,Wahrheit‘ essentiell, sowohl moralisch wie ästhetisch. [...] Heute, wo sich die Naturwissenschaften der Erschaffung künstlichen Lebens widmen und Computer virtuelle Realitäten erzeugen [...] ist die Suche nach Wahrheit vielleicht obsolet geworden. Es gibt keine absolute Realität mehr, aber die Möglichkeit von multiplen Realitäten, jede von diesen so ,real‘ oder künstlich wie die anderen. Es gibt nicht mehr die absolute Wahrheit der Natur. Das Ende der Moderne trifft nicht nur zusammen mit dem Ende der ,Natur‘, sondern auch mit dem Ende der Wahrheit.“167

Vertical Features Recap (neue, überarbeitete & definitive Version) Drei Fragen sollen nun beantwortet werden: Wer ist Tulse Luper, was ist das I.R.R. und was ist VERTICAL FEATURES REMAKE? 1.

165 166 167

Tulse Luper is a figment of Peter Greenaway’s imagination, invented so that he could undertake a project which is no less than a mythopoetic film making enterprise. Wie Greenaway erklärt:

Flusser: Für eine Phänomenologie des Fernsehens, S. 108f. Ders.: Ins Universum der technischen Bilder, S. 66. Deitch, Jeffrey: Artificial Nature, zitiert nach: Oswalt, Philipp: Das Entwerfen von Natur, in: Thesis 5(1988), S. 69-75, S. 73.

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System und Mythos „Tulse Luper was an invention who could speak preposterously and authoratively about many things for which I would not get the blame. [...] He combined various admired eruditions – John Cage – for John Cage’s inventiveness and ability to tell stories ... Buckminster Fuller – for Buckminster Fuller’s stamina and loquaciousness ... an eviable touch of Marcel Duchamp for mystery and provocativeness ... and then to bring it all back to earth, the landscape and Natural History, to taxonomists and cataloguers, to egg-collectors and left-handed clerks and parochial diarists – to make him familiar and local and English ... he borrowed a touch of the gossip, Aubrey, and the innocent, studious naturalist Gilbert White of Selbourne and the red-faced ecologist, Cobbett.“168

Tulse Luper ist also eine extrem verdichtete (und dadurch auch sehr vielseitige) „Sammelperson“169 – und zugleich natürlich Greenaways fiktives alter ego170, dessen Spur sich von A WALK THROUGH H bis hin zu THE TULSE LUPER SUITCASES durch Greenaways Filme zieht. 2. Das I.R.R. – filmgeschichtlich vielleicht als Nachfahre von Georges Méliès’ nur ebenso obskurer Société de Géographie incohérente aus LE 171 – ist als Institution einer VOYAGE À TRAVERS L’IMPOSSIBLE begreifbar „Deutungs- und Archivierungstechnik“, um „hermeneutisch und editionstechnisch einen Stoß von Papieren einem Individuum zuordnen zu können“172, Bestandteil eines spezifischen soziokulturellen Aufschreibesystems – d.h. eines „Netzwerk[es] von Techniken und Institutionen [...], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben“173; es ist ein Medium, das Überreste menschlicher Produkte sammelt, aufhebt und unablässig ordnet und neuordnet, um in ihnen einen Sinn zu entdecken (oder herzustellen)174: „an organisation that keeps revising the truth while each time pretending that the new version is definitive“175 – worin nach Umberto Eco geradezu das Wesen der Lüge besteht176. 168 169 170

171

172 173 174 175 176

Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 53. Vgl. Freud: Die Traumdeutung, S. 294. Greenaway selbst bezeichnet Tulse Luper als sein „alter ego”: „a fictive version of me“. (Cinema is dead – long live cinema. Vortrag am 30. September 2003 auf der eDIT / VES 2003 in Frankfurt am Main, zitiert nach: http://sneakerbike.com/audio/ greenaway1_dl.mp3 (29.03.2009).) Vgl. Engell, Lorenz: Bewegen beschreiben. Theorie zur Filmgeschichte, Weimar 1995, S. 121. Während Engell allerdings Méliès’ „selbstaufhebendes Unterfangen“ einer „Parodie auf Sinnkonstruktion und Sinnzusammenhänge überhaupt“ heranzieht, um zu zeigen, dass innerhalb der Genese des Filmsystems insgesamt „die Tendenz zur Auflösung des Sinnsystems durch es selbst [...] und zur Rückbindung dieser Selbstauflösung in das Innere des Systems [...] fast so alt und fast so ursprünglich wie das Sinnsystem selbst“ ist (Hervorhebungen von mir, A.R.W.), so lässt sich für das „System Greenaway“ wohl eine Gleichursprünglichkeit behaupten. Kittler: Wie man abschafft, wovon man spricht, S. 67ff. Ders.: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 2003, S. 501. Vgl. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 29-36. Andrew, Nigel: A Walk through Greenaway, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 3-6, S. 4. Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S. 349.

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Autopoiesis: VERTICAL FEATURES REMAKE 3.

VERTICAL FEATURES REMAKE schließlich ist, um eine Formulierung Paul de Mans zu variieren, die allegorische Erzählung seiner eigenen Rekonstruktion177, eine Allegorie wenn nicht des Lesens, so der „Technoimagination“178; eine Reihung von Nachbildern (Kopien), zu denen es kein Vorbild (Original) gibt; ein Film über das Herstellen von Filmen, der noch seine eigene (Re-)Produktionsregel enthält179; die frühe Realisierung eines Programmes (in einem „Experimentalfilm“), in dem alle Anlagen seiner späteren Realisierungen (in Greenaways „Spielfilmen“) bereits enthalten sind: „a presage of what was to come“180; und schließlich „a sting of ill-humor directed towards critics, journalists, professors, who all lead a parasite life in the world of art and creativity“181. VERTICAL FEATURES REMAKE ist also als Kunstwerk, d.h. als Kommunikation durch Kunst, als Kommunikation über Kunst und als Kommunikation durch Kunst über Kommunikation über Kunst182 nicht nur Darstellung und Durchführung einer „Selbstreproduktion der Kunst“183, sondern auch Parodie und zugleich Provokation daraufhin bezogener kritisch-wissenschaftlicher Beobachtung und Kommentierung – deren letzte Version nun auf den vorangegangenen 36 Seiten dieses Buches zu lesen gewesen ist.

177 178 179 180 181 182 183

Vgl. De Man, Paul: Lesen, in: ders.: Allegorien des Lesens, S. 91-117, S. 105. Vgl. Flusser: Kommunikologie, S. 209ff. Vgl. Schwanitz: Systemtheorie und Literatur, S. 59. Greenaway: Introduction / Early Films 2. Zitiert nach: Pilard: Interview with Peter Greenaway, S. 7. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 36. Vgl. ders.: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, in: Gumbrecht, Hans Ulrich / Pfeiffer, K. Ludwig (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt am Main 1986, S. 620-672.

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03 Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“ There is a new Luper authority

Über eine einfache Frühform zu entwickelnder stilistischer Merkmale weit hinaus nimmt VERTICAL FEATURES REMAKE nicht nur das ganze Programm des Greenaway’schen Kinos (mitsamt aller Probleme, die eine Interpretation dann damit haben muss), sondern Greenaways Gesamtwerk als Gesamtwerk schon vorweg: als ebenso grundlegende wie vorgreifende Beschreibung seiner selbst wie auch des „präexistenten“ „Systems Peter Greenaway“ im Ganzen – und zwar noch einschließlich seiner externen (und zumal: wissenschaftlichen) Beschreibung, die dadurch auch Gefahr läuft, in das solchermaßen „totalisierende“ System selbst absorbiert zu werden. Dieser Umstand erfordert von einer Untersuchung von Greenaways Filmen eine doppelte Reflexivität: denn wie schon die Filme selbst durch eine explizite Selbstreflexivität charakterisiert sind, so gilt es auch für ihre Untersuchung, die eigene Beobachterposition auch ihrerseits zu reflektieren – eine Untersuchung von Greenaways Filmen ist zugleich auch eine Untersuchung der Schwierigkeiten einer Untersuchung von Greenaways Filmen.

123

System und Mythos „I obviously irritate people. I obviously antagonise them. Maybe it's because I'm too goddamn clever. Maybe it's because I do my own exegesis and beat them to it. Maybe my sophistication is much, much greater than theirs so that irritates them.“ Peter Greenaway

„Es gibt keine Außenansicht dessen, was es zu erklären gilt.“ Humberto R. Maturana, ICH BIN KEIN KONSTRUKTIVIST

Schlimm ergeht es jenen, die sich in Greenaway-Interpretationen versuchen; ihr Gegenstand macht sie ganz einfach arbeitslos1. Das im vorhergehenden Kapitel bezeichnete grundsätzliche Problem vorliegender Arbeit – ihre Redundanz, ihre Überflüssigkeit am Gegenstande – lässt sich schon an ihren Zielen ablesen. Denn was im Folgenden geleistet werden soll, ist dieses: soll aus einer Menge von Artefakten, die alle mit derselben AutorAngabe versehen sind, und einer Anzahl darin befindlicher mehr oder weniger versteckt aufeinander verweisender Hinweise das Programm rekonstruiert werden, von dem sie allesamt Realisierungen sind; 2. wird versucht werden zu zeigen, dass dieses Programm sich kritisch auf ein größeres Metaprogramm bezieht, von und zu dem es selber Teil und Beitrag ist; 3. sollen dabei die kritischen (und einander z.T. auch widersprechenden) Überlegungen externer Experten und Autoritäten, deren Namen dann in den Fußnoten zu finden sind, in Betracht gezogen und weitergeführt werden; und 4. reiht sich diese Arbeit ein in den damit weiter anwachsenden Textcorpus der Greenaway-Forschung, als weiterer Vorschlag der Betrachtung unter anderen möglichen – der sich gleichwohl natürlich um den Nachweis seiner spezifischen Berechtigung und Plausibilität (wo nicht Originalität) bemüht. 1.

Wie sich also unschwer erkennen lässt: Das Programm vorliegender Arbeit ist nichts anderes als eine Reduplikation desjenigen des I.R.R. – an die Stelle von Tulse Lupers Aufzeichnungen treten Peter Greenaways Filme, an die Stelle von Gelehrten wie Castinager, Oisinger und anderen authorities treten Gelehrte wie Niklas Luhmann, Vilém Flusser und andere Autoritäten, an die Stelle des Session Three Landscape Programme tritt das Programm der Medienkultur, an die Stelle der remakes tritt die vorliegende Arbeit, und an die Stelle des I.R.R. tritt der Verfasser dieser Zeilen; es geht ihm also mit Greenaways Filmen gewissermaßen wie Heinrich von Ofterdingen mit der

1

Vgl. Kittler: Wie man abschafft, wovon man spricht, S. 87.

124

Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“

provenzalischen Handschrift2, mit dem Unterschied allerdings, dass er nicht der Held seiner Geschichte, sondern vielmehr der Idiot ist: „Der Beobachter tritt in das Beobachtete wieder ein. Der Beobachter ist Teil dessen, was er beobachtet, sieht sich in der paradoxen Situation dessen, was er beobachtet“3,

wodurch es dann zu einem Zusammenfall und Kollaps von Objekt- und Metaebene kommt: Die Interpretationsproblematik im Film wird ausschlaggebend für die Interpretationsproblematik für den Film. VERTICAL FEATURES REMAKE entfaltet autoreflexiv seine eigene Deutungsproblematik: Es interpretiert sich selbst.4 Der Versuch des Interpreten dagegen, den Text von einem externen Standort aus aufzuschließen, „durch den er das dort von innen Gesehene gewissermaßen von außen her sehen kann, durch den er sich außerhalb und – wenn man so sagen will – oberhalb der direkten Gedankenbewegung des Schriftstellers stellen kann“, so dass er „grundsätzlich mehr sehen kann als der gewissermaßen im Schaffen Eingesponnene“5, erweist sich so als eine in und durch den Text inszenierte Wiederholung seiner selbst, so dass in einem re-entry der Interpret sich selbst in seinem Untersuchungsbereich als Teil des Untersuchten wieder- und in einem strange loop gefangen findet – ein paradoxes Phänomen, das, wie etwa in Maurits Cornelis Eschers BILDGALERIE, immer dann eintritt, „wenn wir uns durch die Stufen eines hierarchischen Systems nach oben (oder nach unten) bewegen und uns dann unerwartet wieder genau an unserem Ausgangspunkt befinden“, „wenn das, was man als säuberlich getrennte hierarchische Ebenen aufgefasst hat, einen überrascht, indem es sich zurückfaltet auf eine Art, die der Hierarchie Gewalt antut. [...] Hier springt etwas im System heraus und wirkt auf das System ein, als wäre es außerhalb des Systems“6,

und in diesem Sinne kann BILDGALERIE dann auch geradezu als visuelle Explikation von Luhmanns Definition des Paradoxes angesehen werden: „Ein Paradox ist die in sich selbst enthaltene Form ohne Hinweis auf einen externen Standpunkt, von dem aus es betrachtet werden könnte“; „Paradoxien sind Widersprüche, die dazu einladen, eine Position zu beziehen mit der Folge, dass man sich damit auf die Gegenposition versetzt findet.“7 2

3 4 5 6 7

Vgl. Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: ders: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Band 1: Das dichterische Werk, Stuttgart 1977, S. 183-369, S. 264f. Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Hg. von Dirk Baecker, Heidelberg 2004, S. 166f. Vgl. Jahraus: Sich selbst interpretierende Texte, S. 385, 390. Bollnow: Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?, S. 66. Hofstadter, Douglas R.: Gödel, Escher, Bach. Ein Endloses Geflochtenes Band, Stuttgart 1995, S. 12, 736. Luhmann, Niklas: Die Paradoxie der Form, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 243-261, S. 247; ders.: Autopoiesis als soziologischer Begriff, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 137-158, S. 147.

125

System und Mythos

Maurits Cornelis Escher: BILDGALERIE

Paradoxien sind unlösbare Rätsel, und so spricht Friedrich Kittler mit Bezug auf Nietzsches ECCE HOMO über „das unlösbare Rätsel ,des Textes, der sich selbst als Interpretation interpretiert‘“: „ECCE HOMO spottet und entgeht jeder Deutung eben darum, weil es Deuten selber als Macht ausübt. Hermeneutische Wahrheit, die notwendig Wahrheit eines Ungesagten ist, fällt durch schlichtes Sagen dahin. Mögen alle Selbstinterpretationen und Selbsteinsetzungen, die Nietzsches Autobiographie vornimmt, Fälschungen sein – das bleibt unentscheidbar aus dem einfachen Grund, weil sie dann und nur dann im Sinn Nietzsches Interpretationen sind“8,

d.h. ein einziges „Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Umfälschen“9. Vielleicht kann VERTICAL FEATURE REMAKE als ein gewissermaßen umgekehrtes ECCE HOMO angesehen werden: wie dieses eine „authentische Interpretation“10, die selber ausspricht, „woran andere andere herumrätseln lassen“11 (z.B. dass in SCHOPENHAUER ALS ERZIEHER für „Arthur Schopenhauer“ „Friedrich Nietzsche“ einzusetzen wäre oder in VERTICAL FEATURES REMAKE für „Tulse Luper“ „Peter Greenaway“); aber nicht eine Selbstinterpretation von bereits geschriebenen Texten, sondern die Selbstinterpretation eines Filmes, der als Gesamtheit seiner Fassungen in sich

8 9

10 11

Kittler: Wie man abschafft, wovon man spricht, S. 91. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Fortgeführt von Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Band VI.2, Berlin 1968, S. 257-431, S. 418. Im Sinne einer rechtsverbindlichen Auslegung der Gesetze durch den Gesetzgeber selbst (vgl. Kienzler / Pluza / Seckler: „Authentizität“, S. 1289). Kittler: Wie man abschafft, wovon man spricht, S. 72.

126

Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“

selber wieder vorkommt, und noch darüberhinaus die Selbstinterpretation eines mit und innerhalb von VERTICAL FEATURES REMAKE schon vorweggenommenen Gesamtwerkes, eine Selbstinterpretation von „präexistenten“ Filmen, die noch gar nicht produziert sind!12 Die Konstruktion von „Autor“ und „Werk“ wird dem Interpreten so von vornherein und schlichtweg aus der Hand genommen, indem der Text seinen eigenen Metatext als stets schon eingebaut ganz einfach mitliefert; um vom Paratext hier ganz zu schweigen13, wenn Greenaways mehr als zahlreiche Selbstauskünfte dem Interpreten sein Tun ebenso klar anweisen wie diejenigen Tulse Lupers dem I.R.R.: „Jean Renoir […] said that artists basically have only one idea which they spend the rest of their lives trying to forget. To which he added deprecatingly, that one idea was more than enough for just one life. And so it is with me – my idea naturally continues from film to film. My total work should then also be seen as an overall unity.”14

„Ein Werk, ein Autor, ein Thema“ – Friedrich Nietzsche / Peter Greenaway15: „Keine Frage“, so Jean Lüdeke, „nur Greenaway kennt Greenaways Kino; er selbst ist der einzige legitime Spezialist und souveränste Kritiker“16, während der externe Interpret so, genau wie auch das I.R.R. mit der von Tulse Luper überlieferten „Liste von Handlungsanweisungen“, gewissermaßen auf den Status einer „Papiermaschine“ reduziert wird: die „Kombination eines Menschen mit geschriebenen Instruktionen“17. Gibt es also für Greenaways Werk überhaupt einen externen Beobachter mit einer auch nur einigermaßen zureichenden Kompetenz, oder muss es (in Ermangelung einer passablen Alternative) selbst auch die Beobachtung seines Beobachtens, die Beschreibung seiner Beschreibungen leisten?18 Kann, muss, oder sollte in Analogie zum Luhmannschen Begriff der „Supertheorie“19 bei Greenaway von einer totalisierenden „Superkunst“ gesprochen werden, die als ihr eigener Ge12

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Für das „System Greenaway“ besteht in VERTICAL FEATURES REMAKE so eine Art „genetischer Situation“ – wie bei einer Zelle, die sämtliche anderen Zellen eines zukünftigen Organismus auch schon „virtuell“ enthält, die aber erst noch zu entwickeln sind und später sich erst ausdifferenzieren (vgl. Engell: Paradoxie, Indifferenz und Existenz; Barel: Le paradoxe et le système, S. 49). Vgl. Nitsche, Lutz: Hitchcock – Greenaway – Tarantino. Paratextuelle Attraktionen des Autorenkinos, Stuttgart / Weimar 2002. Zu den Begriffen von Meta- und Paratext siehe Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt am Main 1993. Buchholz, Hartmut / Künzel, Uwe: Two Things That Count: Sex and Death, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 50-59, S. 58. Kittler: Wie man abschafft, wovon man spricht, S. 85. Lüdeke: Die Schönheit des Schrecklichen, S. 14. Turing, Alan: Intelligente Maschinen, in: ders.: Intelligence Service. Schriften. Hg. von Bernhard Dotzler und Friedrich Kittler, Berlin 1987, S. 81-113, S. 91. Vgl. Luhmann, Niklas: Der Begriff der Gesellschaft, in: Boronoev, Asalchan Olsonowitsch (Hg.): Probleme der theoretischen Soziologie, St. Petersburg 1994, zitiert nach: http://www.soc.pu.ru/materials/golovin/reader/luhmann/d_luh mann1.doc (29.03.2009), S. 7; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 875. Vgl. ders.: Soziologie der Moral, in: ders. / Pfürtner, Stephan H. (Hg.): Theorietechnik und Moral, Frankfurt am Main 1978, S. 8-116, S. 9ff.

127

System und Mythos

genstand in Selbstdarstellung in sich selber wieder vorkommt – mitsamt der Aufnahme, Rekonstruktion und Absorption ihrer Kritik?20 Die sich selber also Normal-, Objekt- und Metaebene in einem ist21, die selbst ihre eigene Negation schon in sich aufnimmt und daher auch nicht mehr „von außen“ kritisierbar ist?22 „A thing so complete and perfect that there will be nothing left for the critic to do“?23 Die klassisch hermeneutische Aufgabe jedenfalls, das Geschaffene zuerst ebensogut und dann besser zu verstehen als sein Schöpfer24, kann hier wohl als als aussichtslos erledigt angesehen werden, zumal wenn diese Hermeneutik davon ausgeht, dass dasjenige, was dem Schöpfer entgehe, eben das eigene Schöpfertum sei25: Die Unterscheidung eines „unbewussten Schaffens“ durch den Künstler auf der einen und eines „bewussten Deutens“ durch den Interpreten auf der anderen Seite26 ist ja spätestens dann nicht länger aufrecht zu erhalten, wenn der Künstler sich nicht weiter auf die „Meinungskommunikation der Reflexionseliten des Systems“ verlässt und die Reflexion der Kunst dann „nicht nur in gelehrten Abhandlungen, sondern auch und vor allem im Kunstwerk selbst“ zum Ausdruck kommt27 – und dort auch das noch reflektiert. So wird ja in VERTICAL FEATURES REMAKE als bewusste (!) „Provokation einer Sinnsuche“28, die sich eben an die von Hans Magnus Enzensberger festgestellte Zwanghaftigkeit des Interpreten wendet, „ob er will oder nicht, [...] auch dort so etwas wie Sinn herzustellen, wo gar keiner

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Da ja die Systemtheorie selbst auch eine „Supertheorie“ ist – und eine „besonders eindrucksvolle“ (Luhmann: Soziale Systeme, S. 19) noch dazu –, so nimmt es auch nicht Wunder, wenn die systemtheoretische Konzeption von Supertheorien zugleich auch eine Selbstbeschreibung ist. Wie eine externe Beschreibung bestätigend auch dazu feststellt: „Die Kritik an Luhmann ist immer mit dem Problem konfrontiert, dass von ihm jeder Einwand in seiner Theoriesprache reformuliert und damit gleichzeitig seiner Kontrastwirkung beraubt wird.“ (Joas: Die Kreativität des Handelns, S. 316.) Vgl. Jahraus: Theorieschleife, S. 11f.; Khurana, Thomas: Supertheorien, theoretical jetties und die Komplizenschaft von Theorien, in: Merz-Benz / Wagner (Hg.): Die Logik der Systeme, S. 327-370, S. 343. Luhmann, Niklas: Systemtheorie und Protestbewegungen. Ein Interview, in: ders.: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen. Hg. und eingeleitet von Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt am Main 1996, S. 175-200, S. 185. Dass die selbstreferentielle Anlage der Systemtheorie bisweilen als Anmaßung einer Erhabenheit über Kritik ausgelegt wird, liegt vielleicht an missverständlichen Formulierungen wie dieser – die dabei doch nur in direkte Rede eingerückt ist und auch schon im Folgesatz bezweifelt wird! Wilde, Oscar: The Critic as Artist, in: ders.: The Complete Works, London / New York (NY) / Sydney / Toronto 1986, S. 857-898, S. 871. Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, S. 94; vgl. Bollnow: Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat? Kittler: Wie man abschafft, wovon man spricht, S. 82. Bollnow: Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?, S. 55. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 462, 480. Ebd., S. 45.

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Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“

zu finden ist“29, genau dasjenige Fiasko gezeigt, das aus dem hermeneutischkritischen Vorhaben einer „reproduktive[n] Wiederholung der ursprünglichen gedanklichen Produktion“30 entsteht, kraft einer autoritativ in Anspruch genommenen überlegenen „sachlichen Einsicht“, welche „das im Text nicht voll zur Entfaltung Gekommene ergänzt“, jene „geistige Bewegung aufzuspüren, die hier im Gang war, um aus ihr dann das Gemeinte und Gewollte zu verstehen“ – d.h. aus den bruchstückhaften und unvollständigen Aufzeichnungen Tulse Lupers und über das hinaus, was er darin „dem Wortlaut seiner Aussagen nach wirklich gesagt hat“, dasjenige zu destillieren, „was er ,hat sagen wollen‘“31. Muss aber nicht der Künstler schließlich selbst am besten wissen, was er meint, wenn er etwas sagt32 – einschließlich des Falles, wenn er sagt, dass er schließlich selbst am besten wisse, was er meine, wenn er etwas sage? Das Problem, das sich also bei einer Interpretation von Greenaways Filmen stellt, ist das Problem der Untersuchung eines Gegenstandes, dessen Beschreibung selbst noch unter ihr Objekt fällt, das wiederum als ein Objekt beschrieben werden muss, das sich selbst beschreibt33 – und eine weitere (und vor allem auch: externe) Interpretation so scheinbar überflüssig macht, wenn einerseits die Beobachtungsanweisungen für das Kunstwerk in das Kunstwerk selbst schon eingebaut sind34 und andererseits die Reflexion der Kunst (mitsamt der Reflexion der Reflexion!) sich im Kunstwerk selber schon vollzieht – und man dies dann allenfalls noch kommentieren kann35. Doch was soll der Interpret auch über „selbst-explizierende“ Werke solcher Art36 noch sagen, was sie nicht ohnehin schon selber sagten? „Was soll er an ihnen demonstrieren, was sie nicht schon selbst vorführten? Welche Paradoxien könnte er geistvoll entdecken, die sie nicht schon selbst unübertrefflich parodierten?“37 Und damit nicht genug, denn unter den in VERTICAL FEATURES REMAKE vorgeführten Paradoxien gibt es eine, die, dem berühmten Paradox des Epimenides ähnlich, genau dafür geschaffen scheint, selbst auch diese Einsicht noch vorwegzunehmen. Denn wenn ich stellvertretend für Greenaways Gesamtwerk VERTICAL FEATURES REMAKE richtig

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Enzensberger, Hans Magnus: Die vollkommene Leere. Das Nullmedium oder in: Der Spiegel 20(1988), S. 234-244, S. 244. Gadamer, Hans-Georg: Eintrag „Hermeneutik“, in: Ritter, Joachim (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 3, Basel / Stuttgart 1970, S. 1061-1073, S. 1064. Bollnow: Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?, S. 63ff. Ebd., S. 48. Esposito, Elena: Eintrag „Operation / Beobachtung“, in: dies. / Baraldi / Corsi: GLU, S. 123-128, S. 128. Luhmann: Weltkunst, S. 26. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 495ff. Vgl. Frampton, Hollis: Notes on Composing in Film, in: October 1(1976), S. 104-110, S. 105. Bode, Christoph: Das Paradox in post-mimetischer Literatur und poststrukturalistischer Literaturtheorie, in: Hagenbüchle, Roland / Geyer, Paul (Hg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Würzburg 2002, S. 619-660, S. 651.

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interpretiere, dann gibt es für Greenaways Filme eben keine richtige Interpretation – oder, wie es sich mit Nietzsche formulieren ließe: Die verschiedenen remakes nebeneinander gestellt zeigen, dass es bei ihnen nie auf die Wahrheit, nie auf eine adäquate Rekonstruktion ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Versionen. Das „ursprüngliche“ Vertical Features ist auch dem I.R.R. ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswert, so dass auch die Frage, welche von diesen Interpretationen „richtiger“ ist, eine ganz sinnlose ist, da hierzu bereits mit dem Maßstabe der richtigen Interpretation, d.h. mit einem nicht vorhandenen Maßstabe gemessen werden müsste38.

„Von Vertical Features gibt es keine authentische Rekonstruktion“ – sagt Vertical Features (sofern es einigermaßen authentisch rekonstruiert werden konnte). „Von VERTICAL FEATURES REMAKE gibt es keine richtige Interpretation“ – sagt VERTICAL FEATURES REMAKE (sofern meine Interpretation einigermaßen richtig ist). Wenn ich also Greenaways Filme richtig interpretiere, so interpretiere ich sie falsch, wenn ich sie aber falsch interpretiere, dann gebe ich ihnen nur recht: „Therefore“, so in diesem Sinne auch Benjamin Noys, „any attempt to define the ,truth‘ of Greenaway's art or style academically, including this one, risks being caught in this game, a game that he plays very well.“39 Es handelt sich also um eine Subversion von Interpretation durch eine Selbstinterpretation mit dem Ergebnis einer „Interpretationsaporie“40: Der Interpret befindet sich in einer ebensolchen Zwickmühle wie das I.R.R., wenn er als im Werk bereits schon vorgesehener Kritiker mit seiner gleichfall als bereits schon vorgesehenen Kritik nur in der Ordnung sich gegen die Ordnung wenden kann41, so dass er im Augenblick, in dem er Greenaway kritisiert, ihn nur bestätigen kann und ihn bereits bestätigt hat42: „Jeder Beitrag ist, wie immer bewusst und überlegt und hinterlistig angesetzt, Reproduktion des Systems im System.“43 Was bleibt also dem Interpreten, der sich so „auf eine schwere Partie gegen einen furchtbaren Meister ein[lässt], der für unbezwinglich gilt, weil er selbst die Spielregeln festlegt“, da zu tun bzw. überhaupt noch übrig, wenn selbst „die Siege über den Meister sogleich unter den Niederlagen des Schülers verzeichnet werden (jeder Sieg im Spiel des Meisters ist ein Sieg 38

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Vgl. Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: ders.: Werke. Band III.2: Nachgelassene Schriften 1870-1873, Berlin 1973, S. 367-384, S. 373, 378. Noys, Benjamin: Tulse Luper Database: Peter Greenaway, the New Media Object and the Art of Exhaustion, in: Image [&] Narrative. Online Magazine of the Visual Narrative 12(2005), http://www.imageandnarrative.be/tulseluper/noys.htm (29.03.2009), o.S. Vgl. Jahraus: Sich selbst interpretierende Texte, S. 388, 397. Derrida, Jacques: Cogito und Geschichte des Wahnsinns, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, S. 53-101, S. 60f. Ders.: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas, in: ders.: Die Schrift und die Differenz, S. 121-235, S. 182. Luhmann, Niklas: Systeme verstehen Systeme, in: ders. / Schorr, Karl Eberhard (Hg.): Zwischen Intransparenz und Verstehen. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt am Main 1986, S. 72-117, S. 111.

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Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“

des Meisters des Spiels)“44? Was bleibt übrig, als sich der „nahezu gottgleichen schöpferischen Autorität des Filmemachers“ unterzuordnen, wie sie von Florian Mundhenke als Selbstbehauptung Greenaways behauptet wird, also der „Willkür des filmischen Autors Greenaway“ als „Sinnbild für einen (göttlichen) Schöpfer, von dessen Willen auch wir abhängen“45? Denn wenn dieser Gott, mit Nikolaus von Kues, auch seinem Wesen nach „die Einfaltung von allem, auch des Gegensätzlichen, ist [...] kann deshalb nichts seiner Vorsehung entgehen. Wir mögen etwas tun oder das Gegenteil davon oder nichts tun, alles ist in Gottes Vorsehung eingeschlossen. Nichts wird sich deshalb ereignen, es sei denn gemäß der Vorsehung Gottes. [...] Zugestanden, ich kann morgen lesen oder nicht lesen, was ich aber auch immer tue, ich entgehe nicht der Vorsehung, die Gegensätzliches umfasst. Was auch immer ich also tue, es geschieht nach der Vorsehung Gottes“46,

und ob ich also Gott lästere (bzw. Greenaway widerspreche) oder Gott lobe (bzw. Greenaway nur wiederhole), es geschieht immer zu seiner Bestätigung bzw. innerhalb der sich in der Selbstbeobachtung bestätigenden Einheit seines Werks, das selbst die eigene Negation noch miteinschließt47. Der Interpret, so scheint es, droht so innerhalb des eigens proponierten „Systems Greenaway“ am Ende zu dessen interner Funktion zu werden wie in THE MATRIX RELOADED der angeblich „Auserwählte“ Neo innerhalb der Matrix; er droht zu den gleichen Konditionen Greenaways Erfüllungsgehilfe zu werden wie das I.R.R. derjenige Tulse Lupers, wenn einerseits in der Fiktion von VERTICAL FEATURES REMAKE die fiktive Welt eines fiktiven Schöpfers sich eine Anzahl von fiktiven Interpreten schafft, um sich selbst beobachten zu können und damit Realität zu gewinnen48, andererseits aber genau dieser Phantasieinhalt der Fiktion dann in vom Zuschauer real voll-

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Descombes, Vincent: Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in Frankreich 1933-1978, Frankfurt am Main 1981, S. 164, 176. Mundhenke: Evolution und Verfall, S. 140. In der Tat: „Being an artist“, so Greenaway, „is the closest one can get to this notion of a manifestation of a God who directs, who manipulates, who controls, who organises“ – was als letztlich aber natürlich unerreichbares Ziel dann allerdings nur von der Selbstüberhebung und Selbsttäuschung des selbstproklamierten artista divino spricht: „There is this notion of hubris, which is the desire to overreach ourselves, to become Gods. [...] I want to classify the world – which is impossible. So in a way, the act itself mocks human effort.“ (Zitiert nach: Stalpaert, Christel: The Artisitc Creative Process, its Mythologising Effect and its Apparent Naturalness Called into Question: An Interview with Peter Greenaway, in: dies. (Hg.): Peter Greenaway’s PROSPERO’S BOOKS: Critical Essays, Ghent 2000, S. 27-41, S. 31.) Kues, Nikolaus von: De docta ignorantia. Die belehrte Unwissenheit, in: ders.: Philosophisch-theologische Werke. Lateinisch-deutsch. Mit einer Einleitung von Karl Bormann. Band 1, Hamburg 2002, S. 89ff. Luhmann, Niklas: Die Unterscheidung Gottes, in: ders.: Soziologische Aufklärung 4. Beiträge zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, Opladen 1987, S. 236-253, S. 243; ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 493. Vgl. ebd.

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zogene Handlungen verwandelt wird49. Wenn also die „Abhängigkeit“ von Greenaways „gottgleicher Autorität“ nun die Figuren seiner Filme ebenso trifft wie ihre Zuschauer50, so ist dann auch – nach Art der Verwickelung der Hierarchien intra-, extra- und metadiegetischer Verhältnisse nach Art der Metalepse51 – zwischen beiden nur noch schwer zu unterscheiden: „Das Verwirrendste an der Metalepse liegt sicherlich in dieser inakzeptablen und doch so schwer abweisbaren Hypothese, wonach das Extradiegetische vielleicht immer schon diegetisch ist und der Erzähler und seine narrativen Adressaten [...] vielleicht auch noch zu irgendeiner Erzählung gehören“52;

und womöglich gar zu genau derjenigen, die sie selber aktuell erzählen und erzählt bekommen! Wie Greenaway für das Finale von THE BABY OF MÂCON ausführt: „Stage, audience and the audience’s audience, are all in the deceit – as indeed we are, too, sitting in the cinema. [...] However perhaps the cinema in which we are watching the film [...] is itself a film-set for a continuing ever-growing set of Russian-doll illusionism – a set that includes the Earth itself as a theatrical trick, and a deception that may not stop until it reaches the viewing-theatre of the God whose Church is perhaps the subject of some of this film’s ironies“53 –

womit ein weiterer strange loop geschlossen wäre und sich für den Interpreten, der seine eigene Tätigkeit auf diese selbst beziehen muss, noch während er sie ausführt, das Problem der Verwickelung in eine tangled hierarchy54 ergibt, denn „der Prozess der Interpretation ist dann nicht mehr bloß einer der Klärung der Figuren und der Bestimmung ihres Sinns, sondern einer, der durch diese Klärung zum Prozess einer fortgesetzten Verunsicherung darüber wird, ob sie überhaupt Interpretation sei und nicht vielmehr eine weitere Figur aus dem Repertoire der Texte, auf die sie sich bezieht“55.

In ebendiesem Sinne erzählt auch VERTICAL FEATURES REMAKE den Prozess der Interpretation der Erzählung, die es selber ist, während der Interpret des Filmes innerhalb des Universum Greenaways nichts anderes zu sein scheint als dessen nützlicher Idiot: „a disingenuous simpleton idiot to achieve what is wanted“ (wie Greenaway die Figur des Cosimo aus THE BABY OF MÂCON beschreibt56), und außerhalb als (zumal akademischer) Kommentator ledig49 50 51 52 53 54 55 56

De Man: Lesen, S. 97. Mundhenke: Evolution und Verfall, S. 140. Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung. Mit einem Vorwort hg. von Jürgen Vogt, München 1994, S. 167ff. Ebd., S. 169. Greenaway, Peter: The Baby of Mâcon, Paris 1994, S. 10. Hofstadter: Gödel, Escher, Bach, S. 736. Hamacher, Werner: Unlesbarkeit, in: De Man: Allegorien des Lesens, S. 7-26, S. 9. Elliott, Bridget / Purdy, Anthony: An Interview with Peter Greenaway, in: dies.: Peter Greenaway. Allegory and Architecture, Chichester 1997, S. 119-124, S. 121.

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Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“

lich trauriger Teil einer „immer schon besiegten Schar harmloser Würstchen“ (so Paul De Mans sehr schöne Formulierung57): „they’re haughty, barren spinsters lodged in a maternity ward“, wie Greenaway die Zunft der Kritiker beschreibt58. Der Zuschauer von Greenaways Filmen ist so immer ein beobachteter Beobachter59, denn das Objekt beobachtet zurück: „I’m not presenting an artefact for an audience“, so Greenaway, „I’m building the audience inside the artefact“60, wodurch, mit Brecht (und wiederum mit Escher), der Rezipient des Werkes ins Werk „eingeschmolzen wird“ und seinerseits dann nur noch einen passiven Teil des Gesamtkunstwerkes darstellt61: „Das Publikum wird zur Erfindung, zur Phantasie des Künstlers, [...] also zu einem Teil des Kunstwerks“62, und der Interpret gibt sich und seinen Putz zum Besten / und spielet ohne Gage mit63. Andererseits (glücklicherweise) aber scheint es, als ob es eben nur so scheint – denn während den film-, fiktions- und damit sozusagen „systeminternen“ Wissenschaftlern, die etwa in VERTICAL FEATURES REMAKE und später in THE TULSE LUPER SUITCASES das Leben und Werk Tulse Lupers untersuchen, zum einen ja vor allem auch entgeht, dass das, was sie erforschen, überhaupt nicht existiert, lässt sich dagegen wohl nur schwer bestreiten, dass es Greenaways Filme immerhin gibt; zum anderen aber dürften ihre primären Erkenntnisinteressen der Suche nach einer unzweifelhaften Autor-Intention und definitiven Werkgestalt oder der Rekonstruktion der Geschichte, „wie es eigentlich gewesen“64, getrost wohl als zumindest überholt betrachtet werden – und freilich kann es dieser Arbeit auch nicht darum gehen, klarzustellen, was Greenaway mit seinen Filmen möglicherweise gemeint haben könnte (und das dann eventuell auch viel einfacher ganz einfach hätte sagen können)65. Denn während zwar, sofern überhaupt ein Betrachter eines Kunstwerkes dem Künstler eine Wirkungsabsicht (im Sinne von Motiven und Interessen) unterstellt, diese Absichten als beobachterabhängige Eigenleistungen immer doppelt kontingente Konstruktionen

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De Man: Ästhetische Formalisierung, S. 225. Zitiert nach: Woods: Being Naked Playing Dead, S. 25. „We are a world of watchers being watched. We are an audience watching ourselves.“ (Greenaway, Peter: The Stairs 2. Munich – Projection / München – Projektionen, London 1995, S. 31.) Vgl. Elsaesser: Raum-Körper, S. 62. Frommer, Kerstin: Interview mit Peter Greenaway, in: dies.: Inszenierte Anthropologie. Ästhetische Wirkungsstrukturen im Filmwerk Peter Greenaways, Köln 1994, S. 190-196, S. 192. Brecht, Bertolt: Anmerkungen zur Oper AUFSTIEG UND FALL DER STADT MAHAGONNY, in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Band 7: Schriften 1. Zum Theater, Frankfurt am Main 1967, S. 1004-1016, S. 1010. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 478. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Eine Tragödie, in: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 3, München 1998, S. 7-364, S. 12. Vgl. Ranke, Leopold von: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, in: ders.: Sämmtliche Werke 33/34, Leipzig 1874, S. VII. Luhmann: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, S. 271.

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System und Mythos

sind66, und da, wie ja gerade auch an VERTICAL FEATURES REMAKE zu sehen, die einzige irreduzible „Intention“ eines Textes die seiner Konstituierung ist67, so kann auch der Künstler nur sehen, was er gewollt hat, wenn er sieht, was er gemacht hat68 (wie auch Greenaway die eventuelle Autobiographikalität und Exemplarizität seiner Filme erst dann auffallen kann, wenn der jeweilige Film eben schon fertiggestellt ist und in Interviews besprochen werden kann69) – d.h. gerade die eigene Tätigkeit reduziert ihn selber auf den Status eines Beobachters, der nach dem Akt „konditionierter Willkür“70 eines dann mehr oder weniger zufälligen Anfangs mit allmählich abnehmenden Freiheitsgraden arbeiten muss71, während das Kunstwerk – gleichsam unter der „technischen Assistenz“ des Künstlers als demjenigen, der die Handgriffe kennt – sich dann geradezu von selber komponiert72. Und wenn mit Nietzsche ein Maßstab der „richtigen“ Interpretation (als welchen man Greenaways Selbstaussagen vielleicht anzunehmen geneigt wäre) eben nicht vorhanden ist, so kann er auch dann nicht in Anspruch genommen werden, wenn es sich um eine „authentische“ Interpretation handelt, oder, mit Luhmann, um die Beschreibung einer Selbstbeobachtung, d.h. „eine Festlegung im System, worauf es im System ankommt“73: „Wir verbinden mit dem Begriff der Selbstbeobachtung nicht die Vorstellung eines privilegierten Zugangs zu Erkenntnissen. Das würde einen ihr vorausliegenden Sachverhalt und Vergleichsmaßstäbe voraussetzen, an denen man (wer?) feststellen könnte, dass Introspektion besser abschneidet als externe Beobachtung“74 –

oder umgekehrt. Entsprechend richtet dann auch Otto Friedrich Bollnow den perspektivischen Standort des den Künstler „besserverstehenden“ Interpreten im „Verhältnis von Selbstverstehen und Fremdverstehen“ ein: „Das ,Besser-Verstehen‘ ist also keine Steigerung des Genau-so-gut-Verstehens, sondern liegt in einer ganz andern Ebene. Oder etwas zugespitzt ausgedrückt: Es gibt überhaupt kein Verstehen, das nicht seinem innersten Wesen zufolge schon ein Besser-Verstehen wäre. [...] Das, was hier Besser-Verstehen genannt wurde, ist also eine Folge der Verschiedenheit des Standpunkts und eine Folge der Verschiedenheit

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Ders.: Die Politik der Gesellschaft. Hg. von André Kieserling, Frankfurt am Main 2000, S. 21ff. De Man: Lesen, S. 98. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 44. Wie beispielsweise hier: „BELLY OF AN ARCHITECT is in some ways a key movie, and I’m only beginning to understand why. It is extraordinarily autobiographical, and contains all sorts of elements in my cinema practice.“ (Smith, Gavin: Food for Thought. An Interview with Peter Greenaway, S. 91-105, S. 97.) Luhmann: Anfang und Ende, S. 12. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 11. Ders.: Ist Kunst codierbar?, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 159-197, S. 165; ders.: Weltkunst, S. 22. Ders.: Die Unterscheidung Gottes, S. 247. Ders.: Soziale Systeme, S. 622.

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Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“ der Erkenntnismöglichkeiten, die sich bei der Betrachtung eines Weltbildes von außen her und von innen her einstellt“75 –

und sei es, dass man von außen sehen kann, dass man von innen nicht sehen kann, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann – der blinde Fleck einer jeden Beobachtung76. Für den Begriff des „Besser-Verstehens“ stellt sich dann allerdings die Frage, weshalb dieser Begriff als derjenige einer Steigerung ohne Steigerung überhaupt noch weiterverwendet werden sollte, wenn das Bessere als Feind des Guten also auch länger nicht zu haben ist77. Kommt es aber bei der Betrachtung eines Kunstwerkes denn auch überhaupt (noch?) darauf an, den Künstler besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat? „Ob es sich nun um Musik, Poesie oder Malerei handelt“, so etwa Claude Lévi-Strauss, „man würde in der Analyse der Kunstwerke nicht weit kommen, wenn man sich einzig daran hielte, was ihre Urheber dazu gesagt oder getan zu haben glauben“78 – wie Greenaway im Übrigen auch selber konzediert: „There’s still a way in which I’ve sometimes wondered whether the author is necessarily the best person to talk to about his or her own work.“79 Offenbar, so Niklas Luhmann, „sucht die moderne Kunst eine ganz andere Art von Provokation des Betrachters. Sie legt es darauf an, selbst als Beobachter beobachtet zu werden. Sie sucht Verständigung im wechselseitigen Beobachten des Beobachtens“80,

in dem jene wundersame „operation called ,Verstehen‘“81 auch •

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weder als „Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen“82 (also als kommunikativer „Durchgriff“ auf Bewusstsein)

Bollnow: Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selbst verstanden hat?, S. 57, 68. Luhmann: Autopoiesis als soziologischer Begriff, S. 149. Vgl. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 301f.: „Verstehen [ist] kein nur reproduktives, sondern stets auch produktives Verhalten. Es ist vielleicht nicht richtig, für dieses produktive Moment, das im Verstehen liegt, von Besserverstehen zu reden. [...] Verstehen ist in Wahrheit kein Besserverstehen, weder im Sinne des sachlichen Besserwissens durch deutlichere Begriffe, noch im Sinne der grundsätzlichen Überlegenheit, die das Bewusste über das Unbewusste der Produktion besitzt. Es genügt zu sagen, dass man anders versteht, wenn man überhaupt versteht.“ Lévi-Strauss: Der nackte Mensch, S. 775. Zu den durchaus auch für Greenaway auftretenden Problemen der (wider besseres Wissen dann doch erfolgenden?) Bindung der Beschreibung durch die Selbstbeschreibung des Beschriebenen siehe, am Beispiel Eisensteins, Engell: Bewegen beschreiben, S. 220ff. Elliott / Purdy: Interview with Peter Greenaway, S. 119. Luhmann: Weltkunst, S. 9. Ders.: Soziale Systeme, S. 110, Anm. 32. Vom „Wunder des Verstehens“ spricht etwa Hans-Georg Gadamer: Vom Zirkel des Verstehens, in: ders.: Gesammelte Werke. Band 2: Hermeneutik II, Tübingen 1986, S. 57-65, S. 58.

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System und Mythos •



noch als „reproduktive Wiederholung einer ursprünglichen gedanklichen Produktion“ in Hinblick auf ein endliches „Einverständnis in der Sache“83 (also als „Reduplikation“ von Bewusstsein und Konsensbildung), sondern vielmehr als selbstreferentiell situiertes Beobachten in Hinblick auf die Handhabung von Selbstreferenz zu verstehen ist – als „Komplexitätsproblem“, bei dessen Nachvollzug der Verstehende einerseits gar nicht vermeiden kann, in der Umwelt des Verstandenen sich selber wiederzubegegnen, sich andererseits aber gerade durch diese doppelte Handhabung von System/Umwelt-Differenzen davor absichert, sich selber mit dem zu Verstehenden zu verwechseln oder das eigene Fremdverstehen auch mit fremdem Selbstverstehen84.

Die Interpretation eines Kunstwerkes, so Oliver Jahraus, kann dann entsprechend nicht darin bestehen, der Selbstinterpretation ebendieses Werkes einfach nachzufolgen: „Das Verstehen des Textes darf sich nicht im Selbstverständnis des Textes erschöpfen; es muss dieses selbst noch einmal zu verstehen suchen“, ansonsten liefe es „Gefahr, das Objekt, den Text, nur fortzusetzen“85. Auf dieser Grundlage enthält der Verstehens-Begriff – eben als ein systemrelativer Beobachtungsvorgang86 – dann allerdings auch keinerlei (systemexterne) Kriterien für ein prinzipiell voraus- und festgesetztes mehr oder weniger oder für ein besseres oder schlechteres Verstehen mehr87, und einer jeden „Hierarchisierung des Besserwissens“88 entgegen kann weder die Inanspruchnahme einer distanzierten désinvolture der externen Beobachtung noch diejenige einer höheren Reflexionskapazität der Selbstbeobachtung eine prinzipielle Überlegenheit geltend machen. Weder der Künstler (als Hersteller) noch der Betrachter (als Interpret eines Kunstwerkes) können daher die privilegierte Position eines selber aus dem Experiment ausgeschlossenen und aufsichtsführenden Experimentators einnehmen; als Teilnehmende am Kunstsystem (d.h. als Teilnehmende an Kunstkommunikation durch kunstmäßiges Beobachten und damit als Beitragende zur Autopoiesis der Kunst89) sind sie vielmehr selbst die Ratten im Labyrinth, die andere Ratten dort beobachten – und dabei reflektieren müssen, auf welche (je unterschiedliche) Weise, von welchem (je unterschiedlichen) Platz aus

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Dilthey, Wilhelm: Entstehung der Hermeneutik, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band 5: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Göttingen 1964, S. 317-331, S. 318. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 297; ders.: Vom Zirkel des Verstehens, S. 58. Luhmann: Systeme verstehen Systeme, S. 72, 80, 88, 89, Anm. 27, 96, 112; ders.: Soziale Systeme, S. 130. Jahraus: Sich selbst interpretierende Texte, S. 385, 392. Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 53. Luhmann: Systeme verstehen Systeme, S. 88. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 510. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 89; ders.: Weltkunst, S. 25; ders.: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 632.

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Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“

und mit welchen (je unterschiedlichen) Resultaten dies jeweils geschieht90, d.h. „allein schon die Tatsache, dass die Sequenzen der Beobachtungsoperationen während des Herstellungsprozesses und bei der Betrachtung des fertigen Werkes sich zwangsläufig unterscheiden, sorgt dafür, daß es zu keiner inneren Übereinstimmung kommen kann – und doch zu Kommunikation! Was das Kunstwerk garantieren kann, ist das laufende Beobachten von Beobachtungen, also das Beobachten zweiter Ordnung und dies von der Herstellerseite ebenso wie von der Betrachterseite aus.“91

Es gibt also „kein labyrinthfreies, kein kontextfreies Beobachten“, „es gibt nur Ratten im Labyrinth, die einander beobachten und eben deshalb wohl zu Systemstrukturen, nie aber zu Konsens kommen können. [...] Und selbstverständlich ist auch eine Theorie, die dies beschreibt, eine Rattentheorie“92,

eben die Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung als der Beobachtung von Beobachtungen93, die im expliziten Verzicht auf eine „belehrende Autorität“94 die Möglichkeit irgend prinzipiell privilegierter (z.B. im Zentrum oder an der Spitze einer Hierarchie gelegener) Positionen dann auch ausschließt – und zwar einschließlich der der Beobachtung zweiter gegenüber derjenigen erster Ordnung, schon weil jede Beobachtung zweiter Ordnung selber eine Beobachtung erster Ordnung ist und eine solche auch voraussetzen können muss, um (selber) überhaupt (etwas anderes) beobachten zu können. „Der Beobachter zweiter Ordnung muss an Beobachtungen erster Ordnung anschließen können. Insofern ist und bleibt er selbst, bei allen Unterschieden der Unterscheidungen, die er verwendet, und bei allem Interesse an Widerlegung oder Korrektur, an Entlarvung, Aufklärung, Ideologiekritik, Moment desselben Systems rekursiven Beobachtens von Beobachtungen. Wer immer beobachtet, nimmt daran teil – oder er beobachtet nicht. Es gibt keine exemten Positionen, so wenig wie es andererseits Beobachtungen gibt, die nichts unterscheiden, also auch nichts über den Beobachter erkennen lassen. Das Beobachten des Beobachtens ist ein rekursivgeschlossenes System.“95

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Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 607; ders.: Erkenntnis als Konstruktion, S. 227. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 89. Ders.: Vorwort, in: ders.: Soziologische Aufklärung 4, S. 5-7, S. 6. Vgl. ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 92ff. Ders.: Warum „Systemtheorie“?, in: Boronoev, Asalchan Olsonowitsch (Hg.): Probleme der theoretischen Soziologie, St. Petersburg 1994, zitiert nach: http://www.soc.pu.ru/materials/golovin/reader/luhmann/d_luhmann2.doc (29.03.2009), S. 8. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 86f.

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System und Mythos

Es gibt also keinerlei „exemte Positionen“, sondern nur noch die Paradoxie eines teilnehmenden Beobachtens96, das in einem vibrierend-oszillierenden Hin- und Hergleiten seines Schwerpunktes97 als Operation und Beobachtung innerhalb und außerhalb des beobachteten Systems zugleich stattfindet, so dass der „extime“ Beobachter „in innerem Ausschluss seinem Objekt eingeschlossen“98 ist: das „Paradox des internen externen Beobachters“99. „Der Beobachter des beobachtenden Systems operiert von außen und von innen zugleich. Er wechselt ständig die Position. Er beobachtet es von innen so, als ob es von außen wäre; und er spezialisiert sich darauf, eine Perspektive zu finden, von der aus er sehen kann, was das beobachtete System nicht sehen kann [...], aber er legt zugleich Wert darauf, im beobachteten System anschlussfähig zu operieren und sich deshalb der Autopoiesis eben dieses Systems einzufügen“100,

oder wie Greenaway, wiederum mit deutlichem Bezug auf Eschers BILDGALERIE, es formuliert: „Who explores a picture, is inside it himself.“101 Aber wer hat das Bild hergestellt, und kommt er im Bild auch wieder vor?102 Tatsächlich vollzieht sich in Greenaways Filmen (mit dem I.R.R. und den Luper authorities) ja nicht nur ein re-entry des Interpreten in den Text, sondern (mit Tulse Luper und vielen anderen alter ego-Figuren) auch ebenso des Künstlers in das Kunstwerk. Dass ein solcher Wiedereintritt dann einerseits die Möglichkeit zur Selbstdarstellung, zur Selbstreflexion, ja zur Selbstkritik schafft (aber eben auch zur Selbstillusionierung), wird dabei zwar wahrgenommen, dass aber andererseits weder der Künstler noch sein fiktionaler Revenant im Film eine Position außerhalb des Systems einnehmen können, das sich aus ebendiesen selbstreferentiellen Operationen bildet, mitunter gerne ausgeblendet – wie vielleicht ein Auszug aus einem Interview zu THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER zu verdeutlichen vermag.

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„Die teilnehmende Beobachtung ist die geplante Wahrnehmung des Verhaltens von Personen in ihrer natürlichen Umgebung durch einen Beobachter, der an den Interaktionen teilnimmt und von den anderen Personen als Teil ihres Handlungsfeldes angesehen wird“ (Friedrichs, Jürgen: Methoden empirischer Sozialforschung, Opladen 1973, S. 288), oder in aller Schlichtheit: „Bei der teilnehmenden Beobachtung nimmt der Forscher [...] an den zu erforschenden Lebenszusammenhängen teil. Während dieser Teilnahme beobachtet er.“ (Laatz, Wilfried: Empirische Methoden. Ein Lehrbuch für Sozialwissenschaftler, Thun / Frankfurt am Main 1993, S. 174f.) Luhmann: Systeme verstehen Systeme, S. 80. Lacan, Jacques: Die Wissenschaft und die Wahrheit, in: ders.: Schriften II. Ausgewählt und hg. von Norbert Haas, Olten / Freiburg im Breisgau 1975, S. 231-257, S. 239. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 485. Ebd., S. 363. Zitiert nach: http://www.tulseluperjourney.com (29.03.2009), Suitcase #36: Radio Equipment. Vgl. Luhmann: Die Paradoxie der Form, S. 248.

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Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“ Peter Greenaway: „When the characters in the film change color, it relates to the fact that in some sense we are all chameleons. We adapt to our changing surroundings; we converse with different people in different ways just as I speak differently with you than I do with my children ...“ Andreas Kilb: „... only the cook doesn’t change color, he remains white, he doesn’t eat, he doesn’t kill, he stays outside the action.“ Peter Greenaway: „Obviously, I am the cook. The cook is the director. He arranges the menu, the seating of the gusets; he gives refuge to the lovers; he prepares the repast of the lover’s body. The cook is a perfectionist and rationalist, a portrait of myself. I’m surprised that you didn’t come to that conclusion yourself.“103

Trotz aller hier aufgefahrenen präzeptoralen Attitüde: Ganz wie sein Prospero in PROSPERO’S BOOKS, der als Autor seine eigene Figur, als Museumsdirektor sein eigenes Exponat geworden ist104, ist auch Greenaway als auteur an seine Filme und an die eigene persona gebundener Selbstdarsteller natürlich selbst sein eigenes Kunstprodukt, das selber unter die interne Programmierung seines Werkes fällt105, ja scheint, anstatt zum „Gotte“, vielmehr selbst zu seinem eigenen Text geworden, ja, scheint selber Text zu sein, der dann – ganz im Sinne Platons106 – seine immer gleichen Aussagen in zahllosen Interviews zwar endlos wiederholt, der aber nicht antwortet: „Now I’ve forgotten your question. Why don’t you begin again.“107 Dies bedeutet dann 103 104 105

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Kilb: I am the Cook, S. 62. Vgl. Kapitel 08 zu PROSPERO’S BOOKS. Vgl. Stöckmann / Werber: Das ist ein Autor!, S. 250ff. Tatsächlich sind ja für den Künstler die Möglichkeiten für die Gestaltung weiterer Werke nicht zuletzt auch immer schon durch die von ihm bereits schon hergestellten determiniert – bis schließlich ein wiedererkennbarer „persönlicher Stil“ sich herausgebildet und eventuell auch derart verfestigt und versteift hat, dass eine Abweichung von den eigenen Vorgaben praktisch unmöglich wird. Wie Greenaway ganz exemplarisch feststellt: „Picasso always has to be Picasso, Picasso can’t be Matisse – it’s not allowed, so Picasso finally ends up in a Picasso jail, so he always has to paint like Picasso.“ (zitiert nach: Linssen: 111 Years of Illustrated Text.) Dass entsprechend auch Greenaway gar keine andere Wahl mehr hat, als immer nur wie Greenaway Filme zu machen, wird etwa dann deutlich, wenn seine Crew ihn während der Dreharbeiten inzwischen selber über seine Möglichkeiten und Verpflichtungen belehrt: „You can't do that, it's not a ,Greenaway’ shot.“ (zitiert nach: http://www.criterionforum.org/forum/ viewtopic.php?t=7731 (29.03.2009)) Eine absolute, voraussetzungslose Freiheit (und zumal auch für den Künstler) kann es eben nur solange geben, als dass diese Freiheit nicht realiter benutzt wird – jede Erstfestlegung dagegen, jeder erste Strich auf einer weißen Leinwand setzt das entstehende Werk unter nicht mehr reversible Bedingungen, hinter die auch alle folgenden nicht mehr zurück können und unter diesen Voraussetzungen für die Zukunft weitere Bedingungen erzeugen (vgl. Krings, Hermann: System und Freiheit. Beitrag zu einem ungelösten Problem, in: ders.: System und Freiheit. Gesammelte Aufsätze, München 1980, S. 15-39, S. 26; Luhmann: Weltkunst, S. 11). Plat. Phaidr. 275d-e. Kilb: I am the Cook, S. 65.

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System und Mythos

aber auch, dass – ganz abgesehen davon, dass die Berufung auf etwaige Autorintentionen alles und daher auch nichts legitimieren kann108 – eine Interpretation von Greenaways Filmen auf dessen „authentische“ Selbstaussagen nicht einfach bestätigend zurückführen ist, denn diese fungieren – wie in VERTICAL FEATURES REMAKE ja zu sehen – eben nicht als externer Kommentar, sondern als Teil des Spiels, als welchem dann von ihnen auch Gebrauch zu machen ist – wenngleich selbst dann noch unter Vorbehalt: denn weit enfernt davon, verlässliche Informationen zu liefern, bestehen Greenaways Selbstaussagen vielmehr und genau wie seine Filme in einem verwirrenden „Gestrüpp von Fakten und Fiktionen“, das für den Interpreten mindestens ebensoviele Fußangeln wie Trittstufen bereithält: „Greenaway bietet die Referenzen so inflationär und so bereitwillig an, dass höchste Vorsicht geboten ist, sich nicht selbst in einem Hase-und-Igel-Spiel zu verlaufen, in dem jeder Name und jedes Requisit mit Bedeutung aufgeladen ist und in dem Greenaway als satyrhafter und barocker Herrscher über die Bedeutungen doch immer schon Sieger ist.“109

Um dafür nun nur ein Beispiel zu geben, sei auf einen running gag etlicher von Greenaways Vorträgen verwiesen, der sich in der zunächst ganz seriösmedienhistorisch anmutenden Feststellung der Ablösung des Kinos als Leitmedium durch das Fernsehen verbirgt. Greenaway beginnt: „I think that the cinema died on the 31st of September 1983. There is a reason for that, because on 31st of September 1983, the remote control, the zapper was introduced into the living rooms of the world“,

und fährt dann, wie zu erwarten, mit einigen schon öfters wiederholten Ausführungen über die mediale Antiquiertheit des Kinos fort – allerdings nur, um sein Auditorium wenige Sätze später auf das Offensichtliche hinzuweisen, das aber eben offensichtlich übersehen wurde: „Some of you might realize that if I say the 31st of September 1983 that there are only 30 days in September. I am surprised that all the hands didn't flash up, so you can see the day is just a little apocryphal, but that is all right because the circumstances still stand.“110

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Jahraus: Literatur als Medium, S. 598. Kremer: Peter Greenaways Filme, S. 64, 105. Ganz in diesem Sinne so auch Amy Lawrence: „When Greenaway uses verifiable facts, they are more often than not as absurd as his fiction, leaving the viewer in doubt“ (Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 72) und David Pascoe: „His frequent explanations of autobiographical allusions in his works, his freely given statements of intention often make it difficult to separate the personality of the creator from the creation of that personality by the films; at times, it is hard to separate the truth from the many fictions.“ (Pascoe: Peter Greenaway, S. 14.) Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S. An sämtlichen sonstigen mir bekannten Stellen seiner Erwähnung wird die kalendarische Nicht-Existenz des „historischen“ 31. Septembers allerdings unerwähnt gelassen – der in Greenaways Filmen

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Exkurs: Selbstreflexion und „Superkunst“

Für Greenaways Selbstauskünfte gilt also das, was General H. Norman Schwarzkopf, Jr. während des Zweiten Golfkrieges (und durchaus in der Tradition des Epimenides) am Ende einer Pressekonferenz hinsichtlich der Bekanntgaben ebendieser Pressekonferenz bekannt gab: „Vieles, was hier bekannt gegeben wurde, war sorgfältig zusammengestellte Desinformation.“111 Ob diese Auskünfte – selbst bei sorgfältigster Nachprüfung und eventueller Verifizierung und selbst im äußerst unwahrscheinlichen Falle des Gelingens einer separation of the true clues from the red herrings (wie es in A ZED AND TWO NOUGHTS heißt) – dann den „authentischen Willen“ des Künstlers offenbaren oder wenigstens das, was er „hat sagen wollen“, muss, kann oder darf dann aber unentschieden bleiben; denn ob Greenaway meint, was er sagt, kann er auch selbst nicht wissen, und wenn er es wüsste, müsste er es für sich behalten112: „If I knew what it ,meant‘, I’d be the last to tell.“113 In Hinblick auf eine „dahinterstehende“ oder „zugrundeliegende“ künstlerische Absicht also könnte in diesem Sinn, mit Flusser, ein Kunstwerk als ein Erzeugnis angesehen werden, für das es keine zufriedenstellende kausale Erklärung gibt114; und wenn „Zufriedengestelltsein“ mit Barthes dann jenen Punkt in einem Diskurs bezeichnet, an dem jede weitere Diskussion überflüssig wird115, so ist es denn auch nutzlos, im Werk nach einer „künstlerischen Absicht“ als demjenigen zu suchen, „was es sagen würde, ohne es zu sagen, und in ihm ein höchstes Geheimnis zu vermuten, dem, sobald es entdeckt wäre, ebenfalls nichts mehr hinzuzufügen wäre“116. Um am Ende mit Hilary Lawson noch einmal den anfangs angestellten Vergleich mit Nietzsche aufzunehmen: „To guard ourselves against Nietzsche is to carry out his advice: to depart from Nietzsche is thus to follow him – for he has told us to do this very thing.“117 In diesem Sinne: I make no claim that this paper reproduces the project Peter Greenaway made or would make now if given the opportunity again, though I believe it is made in the direction of his inquiry.

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übrigens auch einmal in THE PILLOW BOOK auftritt, wenn Nagiko in einer Bar den auf Jeromes Hand ausgestellten Scheck datiert. Zitiert nach: Bilder, die lügen, S. 40. Vgl. Luhmann, Niklas: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 111-136, S. 132. Jaehne, Karen: The Draughtsman’s Contract. An Interview with Peter Greenaway, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 21-27, S. 26. Flusser: Gesten, S. 8. Ebd. Barthes: Kritik und Wahrheit, S. 84. Lawson: Reflexivity, S. 7.

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04 Differenzierung und Asymmetrisierung: THE FALLS (1980)

Wie sah der Anfang aller Dinge aus, oder wenigstens eines Systems – und was ging ihm voraus und hat ihn ausgelöst? Wie ist es möglich, dass Ereignisse erst durch ihre Beobachtung entstehen – vor allem dann, wenn das in Frage stehende Ereignis in nichts anderem besteht als im Entstehen des Systems in seiner Selbstbeobachtung, das von diesem System dann auch nur als das „leere Zentrum“ seiner selbst beobachtet werden kann? Und wenn dies zum Kurzschluss des Beobachtens oder zum „Absturz“ des Systems führte: wie ist es dann möglich, das seine „Ursache“ beobachtende System als „Ursache der Ursächlichkeiten“, als „Urursache“ zu verschleiern? Als letzter der „Experimental“-Filme und erster feature film markiert Greenaways erstes opus magnum THE FALLS den „eigentlichen“ Anfang des „Systems Greenaway“ – ein Alpha sozusagen, dem ein Vierteljahrhundert später das (wie immer vorläufige) Omega der TULSE LUPER SUITCASES entsprechen wird, auf das THE FALLS auch selbst schon hinweist. THE FALLS, Verfilmung eines fiktiven behördlichen Verzeichnisses, kreist um das Rätsel des sogenannten „Violent Unknown Event“, von dem weder bekannt ist, worin er denn genau bestand, noch auch, ob er überhaupt je stattfand, der gerade damit aber als Symbol der ursprungslosen Emergenz der Kommunikation und alles Medialen, als medialer Schöpfungsmythos und als Sündenfall zugleich betrachtet werden kann.

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System und Mythos „No event within a film is as significant as the event of film itself.“ Stanley Cavell, PURSUITS OF HAPPINESS

„ICH KANN EIN EREIGNIS, DAS NICHT STATTGEFUNDEN HAT, NICHT ERKLÄREN.“ Douglas R. Hofstadter, Gödel, Escher, Bach

„Was könnte ein Schaden sein, der allein durch die Massenmedien verursacht wird?“ Niklas Luhmann, „DIE REALITÄT DER MASSENMEDIEN“

„Wie ist das Weltall entstanden?“ – so fragt Heinz von Foerster: „Niemand ist dabei gewesen, und wenn jemand behaupten würde, er wäre Zeuge gewesen, wie sollte man ihm glauben?“1 Es besteht also eine gewisse Unmöglichkeit, von (gewissen) Ereignissen zu sprechen2; denn nimmt man, wie eben etwa in der eschatologischen Rede von den ersten und den letzten Dingen, Anfang und Ende in einem „absoluten Sinne“, so kommt, mit Niklas Luhmann, nur Gott als „Beobachter ohne eigenen Anfang und ohne eigenes Ende“ in Betracht – „Adam jedenfalls nicht“3. Andererseits ist aber auch schon fraglich, ob die Frage, wie alles angefangen hat – die berühmte Frage nach dem Ursprung also –, ganz abgesehen davon, ob sie grundsätzlich zu beantworten ist, überhaupt von Interesse ist – ganz einfach deshalb, weil es schon so lange her ist4. Dessen zunächst ungeachtet jedenfalls setzt jeder Anfang immer ein Vorher voraus, weil er anders als Ereignis, also als Unterschied von vorher / nachher, gar nicht zu bestimmen wäre5. Es kann daher auch keinen Anfang ohne Ende geben6, vielmehr besagt im systemischen Zusammenhang die „Grundregel aller Autopoiesis“, dass jedes Ende immer auch zugleich ein Anfang ist7 – so wie THE FALLS als letzter der „Experimental“-Filme und zugleich als erster feature film den „eigentlichen“ Anfang des „Systems Peter Greenaway“ markiert, auf dem dann THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT als erster mehr oder weniger konventioneller Spielfilm wiederum wird aufbauen können, das aber gleichwohl mit VERTICAL FEATURES REMAKE gewissermaßen noch einen Anfang vor dem Anfang hat, und natürlich hat auch dieser Anfang wieder eine Vorgeschichte: sei es, dass sich Greenaway von Filmen wie Ingmar Bergmans DAS SIEBENTE SIEGEL, Alain Resnais’ LETZTES JAHR

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Foerster: Das Gleichnis vom Blinden Fleck, S. 21. Derrida, Jacques: Eine gewisse Unmöglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, Berlin 2003. Luhmann: Anfang und Ende, S. 18. Ders.: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 208. Ders.: Anfang und Ende, S. 15ff. Ebd., S. 14. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 319.

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Differenzierung und Asymmetrisierung: THE FALLS

MARIENBAD oder Hollis Framptons ZORN’S LEMMA faszinieren ließ8, sei es, dass er eine Anstellung beim britischen Central Office of Information und damit Zugriff auf eine Menge von Filmmaterial, auf professionelles Equipment, persönliche Förderung und weitere Karrierechancen erhalten konnte9. Und beides ist natürlich nur insofern möglich gewesen, als dass es überhaupt Kinos und Filme und Behörden gibt – und Peter Greenaway selber. Und dafür musste letztlich (als unmöglicher Endpunkt aller „nach rückwärts unendlicher“ Kausalketten10) eben auch das Universum irgendwann einmal entstanden sein. Allerdings gibt es Anfang und Ende auch nicht als Tatsachen, die man unabhängig von einem Beobachter feststellen könnte11 – gleich, ob man dem Kausalitätsprinzip folgend bestimmte Wirkungen durch bestimmte Ursachen erklären, also, gewissermaßen als „Unterdeterminierung der gegebenen Lage“12, für bestimmte Phänomene bestimmte Voraussetzungen geltend machen will, die dann selber wieder bestimmten Voraussetzungen unterliegen usw., oder nicht; denn für die Operationen eines Systems etwa IN

„gibt es [...] nie einen Anfang, weil das System immer schon angefangen haben muss, um seine Operationen aus eigenen Produkten reproduzieren zu können, und ebenso gibt es kein Ende, weil jede weitere Operation im Hinblick auf weitere Operationen produziert wird. Nur ein Beobachter (und das kann das operierende System selber sein) kann einen Anfang und ein Ende feststellen, wenn er eine entsprechende Konstruktion des Vorher/Nachher zu Grunde legt.“13

Wie aber soll ein System seinen eigenen Anfang und sein eigenes Ende beobachten können, wenn beides operativ gesehen gar nicht existiert? Und wie soll es dann über die rein operative Ebene hinaus noch Anfang und Ende seines Unterscheidens, also seines eigenen Beobachtens beobachten, wenn sowohl Anfang als auch Ende als Unterscheidungen zu ihrer Feststellung noch Unterscheidungen erfordern? „Natürlich“, so Luhmann, „kann ein System sein eigenes Anfangen und Enden nicht im Moment des Anfangens und Endens beobachten, sondern nur zwischendrin. Der Anfang kann nur im nachhinein erzählt werden, und die Erzählung wird auf die Folgen des Angefangenhabens reagieren. [...] Erst nach dem Anfang bildet sich eine Mythologie,

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Vgl. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 8f., 60ff.; Pascoe: Peter Greenaway, S. 52; Weidle, Roland: „The only certainty we have is that there are no certainties.“ Interview mit Peter Greenaway, in: ders.: Manierismus und Manierismen, S. 161-177, S. 177. Vgl. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 9f.; http://greenaway.bfi.org.uk/intro.php?isec=about-greenaway-words (29.03.2009). Schwanitz: Zeit und Geschichte im Roman – Interaktion und Gesellschaft im Drama, S. 185. Luhmann: Anfang und Ende, S. 13. Ders.: Evolution und Geschichte, in: ders.: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 150-169, S. 156. Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 440f.

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System und Mythos die erzählt, wie es angefangen hat und sich dabei bestimmen lässt durch die Probleme, die sich aus dem Anfang bereits ergeben haben.“14

Wieder also a mythology of systems: Der Anfang, sofern er einer Beobachtung zugänglich sein soll, muss dafür also nachträglich erst und eigens konstruiert werden – er selbst kann ja nur anfangen und ist dann vorbei15 – und eine solche Konstruktion kann dann, wie z.B. im Falle der Gesellschaft Lévi-Strauss zufolge exemplarisch der Rousseausche „Naturzustand“, ein „theoretisches Modell“ des jeweiligen Systems ergeben, „das zwar keiner der Beobachtung zugänglichen Realität entspricht, aber mit dessen Hilfe es gelingen kann, ,[...] einen Zustand zu erfassen, der nicht mehr existiert, vielleicht nie existiert hat und wahrscheinlich auch nie existieren wird und von dem wir dennoch richtige Vorstellungen haben müssen, um unseren gegenwärtigen Zustand beurteilen zu können‘“16 –

ein Mythos eben, der, so Lévi-Strauss weiter, sich zwar immer auf vergangene Ereignisse bezieht: „,vor der Erschaffung der Welt‘, ,in ganz frühen Zeiten‘ oder jedenfalls ,vor langer Zeit‘“, dessen ihm beigemessener Wert sich aber daraus speist, dass diese Ereignisse zugleich auch eine „Dauerstruktur“ bilden17, d.h. ein über Zeitdistanzen hinweg wiederverwendbares Schema abgeben können, das fortdauernde Wirkung besitzt und es auch so etwa ermöglicht, kontrastiv die gegenwärtigen Verhältnisse zu interpretieren oder Möglichkeiten der zukünftigen Entwicklung abzulesen18. So aber, wie Strukturen immer nur je aktualisierte Strukturen sind, ist Vergangenheit immer nur gegenwärtige Vergangenheit, die immer neu erzeugt werden muss (und ansonsten eben vergessen wird)19, was für eine systeminterne Beobachtung des eigenen Anfangs dann bedeutet, dass „nur wenn das System operiert und wenn es hinreichende Komplexität aufgebaut hat, um sich selbst in der Zeitdimension beschreiben zu können, [...] es seinen Anfang ,postizipieren‘ [kann]. Die Bestimmung eines Anfangs, eines Ursprungs, einer ,Quelle‘ und eines (oder keines) ,Davor‘ ist ein im System selbst gefertigter Mythos“20,

und das kann nun die Theorie eines big bang21 ebenso sein wie ein Lied, das vom Anbeginne der Welten bis zu unseren Zeiten herabführt: „Ehe die Erde entstand und das Meer, der umhüllende Himmel, / Trug der unendliche Raum dieser Welt ein gestaltloses Antlitz, / Chaos genannt ...“22 14 15 16 17 18 19 20 21 22

Ders.: Anfang und Ende, S. 19. Ebd., S. 14. Lévi-Strauss, Claude: Traurige Tropen, Frankfurt am Main 1978, S. 387f. Ders.: Die Struktur der Mythen, S. 229f. Ebd., S. 230. Luhmann: Soziale Systeme, S. 118. Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 441. Vgl. ebd., S. 500. Ovid: Verwandlungen. Bearbeitung und Nachwort von Wilhelm Plankl unter Mitwirkung von Karl Vretska, Stuttgart 1989, S. 4.

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Die Erzählung eines Ursprungsmythos drückt hier das Dilemma aller Ursprungsmythen aus: „Wie menschlich Leben anfing, zu erzählen / Ist schwer dem Menschen; denn wer selber weiß / Von seinem Anfang?“23 –

weshalb in John Miltons PARADISE LOST sich Adam die Geschichte der Welt vom Erzengel Raphael (als einem himmlischen und also externen Beobachter) seinerseits noch erst erzählen lassen muss – gleichwohl aber innerhalb dieser Geschichte24. „Stories only exist in stories“25 – so der Regisseur Friedrich Munro, seinerseits Figur in der Geschichte von Wim Wenders’ Film DER STAND DER DINGE, so dass der von Jean Ricardou behandelte Fall der story within the story26 gar kein Sonderfall zu sein scheint, sondern vielmehr die Regel. Mythen, sofern sie von Anfängen berichten, berichten also davon, was als Geschichten nur sie selber haben. Das Problem des Anfangs stellt sich ja als solches auch nur für Geschichten: In der „Realität“ besteht es nicht, da jeder Anfang immer eine beobachterrelative Unterscheidung ist, für die es (wie für alle solche Unterscheidungen) in seiner Umwelt keinerlei Entsprechung gibt27, und beobachtende und d.h. rekursiv operierende Systeme, da sie ja immer bereits angefangen haben müssen, um die Elemente, aus denen sie bestehen, durch die Elemente, aus denen sie bestehen, zu reproduzieren, kennen keine Anfänge. Lineare Geschichten dagegen haben in der Tat Anfänge – „oder haben sie zu haben“28. Oder können von ihnen erzählen. So auch Ovids METAMORPHOSEN, die auf diese Weise mit der Erschaffung des Kosmos selbst beginnen, also wirklich auch ganz bei bzw. sogar noch vor dem Anfang anfangen, und die auch ihrerseits noch einen Anfang vor dem Anfang haben, und zwar: einen selbstreferentiellen Anfang, der zur Unterbrechung ebendieser Selbstreferenz genutzt wird, nämlich den „Eingang“ vor der „Schöpfung“ – das Proömium: „Körper, in andere Gestalten verändert, will ich besingen; / Götter, fördert mein Werk (ihr habt ja auch jene verwandelt), / Schirmend geleitet das Lied, das vom Anbeginne der Welten – / Verse an Verse gereiht – bis zu unseren Zeiten herabführt!“29

Wenn nun die „Urheber“ der Ereignisse zugleich auch die „Förderer“ und „Schirmherren“ ihrer Beschreibung sein sollen, so liegt es nahe, dass sie, im

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Milton, John: Das verlorene Paradies, Stuttgart 1986, S. 235. Ein von Luhmann gern und oft verwendetes Zitat. Vgl. Luhmann: Eine Redeskription „romantischer Kunst“, S. 331; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 593; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 574; ders.: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen, S. 149; ders.: Die Paradoxie der Form, S. 251. Vgl. Engell, Lorenz: Erzählung. Historiographische Technik und Kinematographischer Geist, in: ders.: Ausfahrt nach Babylon, S. 109-143, S. 111. Vgl. Ricardou: The Story within the Story. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 92. Engell: Schwierigkeiten der Fernsehgeschichte, S. 91. Ovid: Verwandlungen, S. 3.

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System und Mythos

Wortsinn, auch die eigentlichen Autoren der Verwandlungen sind30 – zumal nach platonischer Überzeugung der Dichter die Dichtungen ohnehin „nicht durch Kunst [...] hervor[bringt], sondern durch göttliche Kraft“31, und so im Grunde auch aufhört, „Subjekt“ zu sein, und Medium wird – wie auch die Dichtungen dann keine Kunstwerke mehr sind, sondern vielmehr „göttliche Schickung“32: Was immer eine Dichtung sagt (sagt Platons Sokrates), nicht die Dichter sind es, die dort sprechen, vielmehr verhält es sich so, „dass der Gott selbst es ist, der es sagt, und dass er nur durch diese zu uns spricht“. Die Dichter kommen als Überträger einer göttlichen Botschaft aber nur „als Begeisterte und Besessene“ in Frage, d.h. nur in völliger Bewusstlosigkeit und unter Ausschaltung aller Vernunft, so dass sie gegen das durch sie Gesagte selbst vollkommen indifferent sind (und es etwa zu beurteilen stünde dann auch gänzlich jenseits ihrer Kompetenz)33, und daher sind dann auch „diese schönen Gedichte nichts Menschliches [...] und von Menschen, sondern Göttliches und von Göttern, die Dichter aber nichts [...] als Sprecher der Götter, besessen jeder von dem, der ihn eben besitzt“34. Im Falle der METAMORPHOSEN also besängen dann Götter die Taten der Götter – über die Vermittlung oder den Umweg des Publius Ovidius Naso. Denn wer, wenn nicht ein Gott, sollte auch glaubhaft davon berichten können, wie „wer von den Göttern es war“ zu „der Welten Schöpfer“ und zum „Zeuger des besseren Alls wurde“35? Doch wie der Anfang eine Konstruktion des Beobachters, so hier die Quelle eine Erfindung des Empfängers. Auch wenn über die Existenz oder Nichtexistenz von Gottheiten z.B. mit Voltaire nur eher ambivalente Aussagen zu treffen sind – „si Dieu n'existait pas, il faudrait l'inventer“36 –, so sind sie, im Falle Ovids, doch auf jeden Fall (und wenn auch eben: als Erfindung) notwendig: als Selbstreferenzunterbrecher37 und als „Authentizitierungstechnik“38 nämlich, d.h. um sicherzustellen, dass „des Dichters Ahnen“ auch tatsächlich „Wahrheit kündet“39 – obwohl er selbst als Augenzeuge des erzählten Geschehens kaum in Frage kommt. Die größte der rund 250 göttlichen Verwandlungen, von denen die VERWANDLUNGEN erzählen, 30 31 32 33 34 35 36

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Vgl. Georges: „auctor“, S. 703ff. Wobei dann allerdings der Epilog verrät, dass Ovids vollendetes Werk des Jupiters Zorn durchaus nicht mehr zu fürchten braucht. Plat. Ion 534c, zitiert nach: Platon: Ion, in: ders.: Sämtliche Werke. Band 1, Hamburg, 1957, S. 97-110. Ebd. Ebd. 538a. Ebd. 534d-e. Ovid: Verwandlungen, S. 5f. Voltaire: Épître à l'Auteur du Livre des Trois Imposteurs, in: Moland, Louis (Hg.): Oeuvres complètes de Voltaire. Avec notices, préfaces, variantes, table analytique, les notes de tous les commentateurs et des notes nouvelles; conforme pour le texte à l’édition de Beuchot enrichie des découvertes les plus récentes et mise au courant des travaux qui ont paru jusqu’à ce jour, Band 10: Contes en vers – Satires – Epitres, Nendeln 1967 (Reprint der Ausgabe Paris 1877), S. 402-405, S. 402. Luhmann: Soziale Systeme, S. 631. Vgl. Schwanitz: Zeit und Geschichte im Roman – Interaktion und Gesellschaft im Drama, S. 183. Ovid: Verwandlungen, S. 80.

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ist ja vor allen Mensch-Tier- und Mensch-Pflanze-Metamorphosen usw. am Ende der Schöpfung die der Erde selbst – mitsamt des Nebeneffektes der Entstehung der Menschheit (als Ebenbildern der Götter): „Eben noch ohne Form und Gestalt, ward also die Erde / Völlig verwandelt und trug die Wunderbilder der Menschen“40 –

vom Urspung der Götter hingegen ist hier nicht die Rede. Und das aus gutem Grund, denn jede Selbstbeobachtung, also auch und gerade die des eigenen Anfangens und Endens, läuft letztlich auf die Paradoxie hinaus, die beobachtungskonstitutive Differenz zwischen Beobachter und Gegenstand zu anullieren41, so dass eine „Externalisierung“ nötig ist, um die Selbstbeobachtung zu „entparadoxieren“, d.h. eine „Abwälzung des Problems auf einen externen Beobachter“; wobei, so Luhmann, natürlich auch ein solcher Kunstgriff „nicht das geringste daran [ändert], dass nur geschieht, was geschieht, und kein System außerhalb seiner Grenzen oder vor seinem Anfang oder nach seinem Ende operieren kann. Ein System kann also nur so verfahren, dass es sich so beobachtet, als ob es von außen wäre“42 –

z.B. eben durch die selbst natürlich nicht einnehmbare Perspektive eines mit gesteigerten Unterscheidungskapazitäten ausgestatteten Gottes, also: durch weltimmanente Kommunikation über eine darin unterstellte transzendente Beobachtung – wenn, mit Luhmann, immanent all das ist, was die Welt für innerweltliche Beobachtung bietet, und transzendent dasselbe – „nur anders gesehen“: „Die (immanente) Vorstellung der Transzendenz operiert mit einem Bezugspunkt außerhalb der Welt. Sie behandelt die Welt so, als ob sie von außen gesehen werden könnte. […] Die Welt wird dupliziert als ,von innen gesehen‘ und ,von außen gesehen‘, dupliziert obwohl, und gerade weil, sie offensichtlich nur einmal vorhanden ist.“43

Ein direkter Zugang zur Transzendenz ist damit angesichts der notwendigen Weltimmanenz aller Operationen, die sich auf Transzendenz beziehen, zwar unmöglich, aber auch unnötig44, denn es reicht ja vollkommen aus, wenn, wie in den METAMORPHOSEN, eine extramundane Beobachterposition intramundan nur konstruiert wird, so dass in einem strange loop der Mensch die Götter erfinden kann, die dann ihrerseits den Menschen (schon) erschaffen (haben). Wo der menschliche Dichter also von Göttern spricht, so deshalb, um den Ursprung der Welt und der Menschen darin in der Differenz von Schöpfer und Schöpfung, von Ursache und Wirkung zu erklären45; und wo er 40 41 42 43 44 45

Ebd., S. 6. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 487. Ders.: Anfang und Ende, S. 19f. Ders.: Die Ausdifferenzierung der Religion, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik 3, Frankfurt am Main 1989, S. 259-357, S. 313, 337. Ebd., S. 313. Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 417f.

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sich dabei auch selbst als Medium kennzeichnet, so deshalb, paradoxerweise, um seine konstitutive Beteiligung an dieser Konstruktion zu löschen und sich selber unsichtbar zu machen46: als Beobachter der weltschöpfenden Götter verschwindet er im unmarked space seiner Beobachtung. Die Götter fungieren also gewissermaßen als dei ex machina, d.h. als „extime“ Problemlöser sonst nicht aufzulösender Konflikte, denn um die eigene Selbstbeobachtung externalisieren und damit entparadoxieren zu können, braucht man, so Luhmann, einen „technischen Behelf“47 – z.B. einen Kalender, so sein Beispiel, der auf einer nach vorne wie nach hinten prinzipiell unendlichen Zeitleiste etwa das Datum der eigenen Geburt bestimmbar macht (und in dem – „wie anzunehmen“ – auch der eigene Todestag noch einzutragen sein wird); aber auch z.B. einen Spiegel, der etwas zeigt, was man ohne ihn nicht sehen kann, nämlich den Beobachter selbst – und zwar im Kontext, so dass „man sich selbst als System in einer Umwelt beobachten kann und dadurch nicht mehr so direkt an der Umwelt klebt, die man unmittelbar sieht“48; oder aber auch, mit Lorenz Engell, eine Fernsehkamera, die etwa die Erde vom Mond aus aufnimmt und dann das Bild des aufgenommenen Objektes als der Gesamtheit aller möglichen Zielorte einer Übertragung an genau diese Zielorte wieder rückübermittelt, so dass die fernsehgenerierte Welt sich selbst beim Zuschauen zuschauen kann49 – „we are a world of watchers being watched“, wie Greenaway dazu bemerkt: „we are an audience watching ourselves.“50 Was aber, wenn nun diese technischen Behelfe, die auf diese Weise „unsere Möglichkeiten der Wahrnehmung und Beobachtung, der Beschreibung und der Vorstellung stellen und bestimmen“ – nennen wir sie Medien51 – wenn diese Medien nun eben nicht „unsere“, also, von ihnen aus gesehen, fremde Selbstbeobachtungen entparadoxieren, sondern vielmehr ihre eigene hervorbringen? (So scheint der Film, wie es etwa Pier Paolo Pasolinis SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA nahelegt, zwar derjenige technische Behelf zu sein, den Tod selbst wiederholbar zu machen – aber ja wohl doch den Tod des Menschen, nicht des Kinos – von dem ja wiederum Greenaway sehr oft und gerne spricht52?) Und was, wenn sie sich dabei in Hinblick auf ihr eigenes Anfangen, ihren eigenen Ursprung beobachten, also: ihre eigenen Mythen produzieren? Wenn jeder Mythos immer eine Entstehungs-geschichte ist53 und immer einen „ursprünglichen, begründenden Akt“ beschreibt54, so braucht es, wenn es um 46

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Vgl. Engell, Lorenz / Vogl, Joseph: Vorwort, in: dies. / Fahle, Oliver / Neitzel, Britta / Pias, Claus (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 8-11, S. 10. Luhmann: Anfang und Ende, S. 19f. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 96f. Vgl. Engell: Tasten, Wählen, Denken, S. .59ff Greenaway: The Stairs 2, S. 31. Engell: Schwierigkeiten der Fernsehgeschichte, S. 89. Vgl. stellvertretend für vieles andere etwa Greenaway: Toward a re-invention of cinema. Eliade: Die Sehnsucht nach dem Ursprung, S. 100. Lyotard, Jean-François: Randbemerkungen zu den Erzählungen, in: ders.: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985. Hg. von Peter Engelmann, Wien 1987, S. 32-37, S. 33.

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den Ursprungsmythos eines Mediums geht, ein Ur-Ereignis des Mediums, ein Medien-Ereignis55, wie es z.B. im Falle des Films nach klassisch medienhistorischer Lesart die Vorführungen der Gebrüder Lumière im Dezember 1895 in Paris darstellten56 – wobei dann freilich eben eine solche Verortbar- und Datierbarkeit zusammen mit dem Zeugnis externer Beobachter die faktische Erstmaligkeit und deshalb auch nicht die mythische, sondern historische Realität des Ereignisses garantiert; oder wie Rudolf Arnheim in seinem passenderweise ZUM ERSTEN MAL! betitelten Aufsatz und in (mehr oder weniger) ironischer Anlehnung an Goethes wiederum ebenso historische wie historisierende Worte anlässlich der Kanonade bei Valmy es ausgedrückt hat: „Zum ersten Mal in geschichtlicher Zeit entsteht eine ganz neue Kunstform, und wir können sagen, wir seien dabei gewesen. Alle anderen Künste sind so alt wie die Menschheit, und ihr Ursprung ist so dunkel wie unsrer.“57

Nun geht es aber medialen Ursprungsmythen gerade nicht darum, dass Medienhistoriker dabei sind und dann darüber Bücher schreiben können, die als wissenschaftliche Beschreibungen gegebenenfalls für „authentische Realitätserkenntnis“ gelten58 (und deren historiographische Pointe dann eventuell darin besteht, dass es Medien, wie eine kleine GESCHICHTE DER KOMMUNIKATIONSMEDIEN es bemerkenswerterweise ausdrückt, „selbstredend seit jeher gegeben haben muss“59); es geht auch, im Falle von THE FALLS, nicht nur um einen „einfachen“ Ursprungsmythos, sondern um einen Mythos des Ursprungs selbst, ja, einen Mythos vom Ursprung des Mythos60 – es geht um einen im System selbsterzeugten Mythos von der Selbsterzeugung des Systems, und dieser Mythos ist – ganz wie nach Jacob Burckhardt auch Ovids VERWANDLUNGEN – vielleicht nur wenig zuverlässig, doch dafür aber sehr erfindungsreich61.

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Engell: Schwierigkeiten der Fernsehgeschichte, S. 93, 97. Vgl. ebd., S. 89ff. – wobei aber gerade auch hier dann die Geschichte gern in einen Mythos umschlägt. Vgl. Loiperdinger, Martin: Lumieres ANKUNFT DES ZUGS. Gründungsmythos eines neuen Mediums, in: KINtop 5(1996), S. 37-70. Arnheim, Rudolf: Zum ersten Mal!, in: ders.: Die Seele in der Silberschicht. Medientheoretische Texte. Photographie – Film – Rundfunk. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Helmut H. Diederichs, Frankfurt am Main 2004, S. 94-96, S. 94. Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: Campagne in Frankreich 1792, in: ders.: Werke. Band 10, S. 188-363, S. 235: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 20. Kittler, Friedrich: Geschichte der Kommunikationsmedien, in: Huber, Jörg / Martin, Alois (Hg.): Raum und Verfahren. Interventionen, Basel / Zürich 1993, S. 169-188, S. 180. Derrida: Grammatologie, S. 167f.; ders.: Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Hirsch, Alfred (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt am Main 1997, S. 119-165, S. 119. Vgl. Burckhardt, Jacob: Griechische Kulturgeschichte. Band 2, in: ders.: Gesammelte Werke. Band 6, Darmstadt 1956, S. 7, Anm. 1.: „Ovid mit seiner reich daher-

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Bürokratien und Apparate Um aber überhaupt frei erfinden zu können, so Umberto Eco, muss man sich zunächst einmal bestimmte Beschränkungen auferlegen62, und entsprechend beschreibt Eco in seiner NACHSCHRIFT ZUM „NAMEN DER ROSE“, wie er zum Aufbau des diegetischen Universums seines Romans ausgedehnte architektonische Studien betrieb, lange Listen der Bücher aufstellte, die in einer mittelalterlichen Bibliothek stehen konnten, sowie ein Namens- und Datenregister der Figuren anlegte, und zwar „viel mehr, als am Ende in die Geschichte hineinkamen“ – der Annahme folgend, dass, um einen möglichst genauen Entwurf ihrer fiktiven Welten ausarbeiten zu können, mit dem alle Erzählung stehe und falle, die Epik geradezu dem Einwohnermeldeamt Konkurrenz machen müsse63 – wie Eco auch an anderer Stelle den erzählerischen Mehrwert amtlicher Verzeichnisse hervorhebt: „Wenn ich gefragt werde, welches Buch ich auf die berühmte einsame Insel mitnehmen würde, antworte ich: ,Das Telefonbuch; mit all diesen vielen Personen könnte ich mir unendliche Geschichten ausdenken.‘“64

Allerdings ist dies Verhältnis von Fakten und Fiktionen, von Registern und Protokollen und Figurenlisten und Erzählungen wohl auch umkehrbar, und in diesem Sinne einer dezidierten „Verbannung“ und eines gleichzeitigen Übertreffens aller literarischen Imagination bezeichnet dann Michel Foucault in dem als Vorwort zu einem dann allerdings nie realisierten Buchprojekt gedachten Essay DAS LEBEN DER INFAMEN MENSCHEN seine Sammlung von lettres de cache des 17. und 18. Jahrhunderts als eine seltsame „Anthologie von Existenzen“, von „Leben von wenigen Zeilen oder wenigen Seiten“, die, „ich weiß nicht durch welche Zufälle, zu sonderbaren Dichtungen geworden“ und von Foucault nach einem bestimmten Regularium in „einer Art von Herbarium“ zusammengetragen worden sind65. Denn wiewohl es sich bei diesen Menschen um „wirkliche Existenzen“ handelt, denen eindeutige Namen, Orte, Data zugeordnet werden können, so besitzen sie, von denen hinsichtlich dessen, „was sie gewesen sind oder was sie getan haben, [...] nichts Bestand [hat] außer in wenigen Sätzen“, eben nur eine „reine Existenz im Wort, die aus diesen Unglücklichen [...] quasi fiktive Wesen macht“ und die sie selbst ausschließlich

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strömenden Erzählung ist gerade in den Motiven des Mythus am wenigsten zuverlässig und hat manche Metamorphose erst selbst ersonnen.“ Eco, Umberto: Nachschrift zum „Namen der Rose“, München / Wien 1984, S. 33. Ebd., S. 32f. Ders.: Im Wald der Fiktionen, S. 82. Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, in: ders.: Schriften zur Literatur. Hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt am Main 2003, S. 314-335, S. 314f.

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Differenzierung und Asymmetrisierung: THE FALLS „diesem Glück oder Unglück [verdanken], das im Zufall wiedergefundener Dokumente einige knappe Worte hat überleben lassen, die von ihnen sprechen oder die sie selbst ausgesprochen haben. [...] Es brauchte zunächst ein Spiel von Umständen, die gegen alle Erwartung auf das unauffälligste Individuum, auf sein mittelmäßiges Leben, auf letztlich ziemlich gewöhnliche Fehler den Blick der Macht und den Ausbruch ihres Zorns gezogen haben: Der Zufall, der dafür sorgte, dass die Wachsamkeit der Verantwortlichen oder der Institutionen, die zweifellos dazu bestimmt ist, jede Unordnung zum Verschwinden zu bringen, eher dieses als jenes im Sinn behielt [...] und nicht so viele andere neben ihnen, die nicht weniger Aufsehen erregten.“66

Wie Foucault an anderer Stelle sagt: „Man trägt das Phantastische nicht mehr in seinem Herzen und erwartet es ebensowenig von den Ungereimtheiten der Natur, sondern schöpft es aus der Exaktheit des Wissens; sein Reichtum harrt im Dokument“67: Obschon es sich also bei Foucaults infamen Menschen durchaus um Personen handelt, die „wirklich existiert haben“, so haben sie doch auch nicht „mehr Indizes einer Wirklichkeit vorzuweisen, als wenn sie der Legenda Aurea oder einem Abenteuerroman entstammten“ – auch die fiktionale Existenz solcher Romanfiguren besteht ja nur in genau dem, was von ihnen gesagt und überliefert worden ist68, so dass, in einer „Gleichgeltung“ von Fiktion und Wirklichkeit, auf seltsame Art der Unterschied verwischt, ob es sich nun etwa um erfundene Kurzgeschichten handelte oder um ein „Stück in der Dramaturgie des Wirklichen“69, um die Gestaltung eines Ensembles von Figuren durch einen Schriftsteller oder um die „Verfertigung“ von Individuen und die „Formierung“ von Subjekten durch Apparate und Institutionen einer „Disziplinarmacht“, die mit Hilfe ihrer „Dokumentationstechniken“ eines Systems der Registrierung, Speicherung und Ordnung von Unterlagen aus jedem Individuum einen „Fall“ macht, der dann sowohl „Gegenstand für eine Erkenntnis“ als auch „Zielscheibe für eine Macht“ ist70. Und mit solchen „Fällen“ sind wir endlich auch bei Greenaways THE FALLS, das gewissermaßen eine Mischung aus Ecos Registraturpoetik und Foucaults Zusammenstellung abseitiger Diskursfragmente darstellt; denn was bei Eco als episches Konkurrenzunternehmen amtlicher Datenerfassung läuft, das als Basis der Erzählung in der Erzählung nicht mehr sichtbar ist, das wird bei Greenaway als ein fiktives behördliches Verzeichnis selbst in die Erzählung integriert und mit der vorausgreifenden alphabetischen Auflistung sämtlicher 92 Protagonisten von Orchard Falla (#1) bis Anthior Fallwaste (#92) direkt im Vorspann ausbuchstabiert; und was sich bei Foucaults exempla für jene „Milliarden Existenzen [...], denen es bestimmt ist, ohne Spur vorüberzugehen“, als „Rudiment“ seiner „Legende der obskuren Menschen“ 71 etwa folgendermaßen liest:

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Ebd., S. 317, 320f. Ders.: Nachwort zu Gustave Flaubert, DIE VERSUCHUNG DES HEILIGEN ANTONIUS, in: ders.: Schriften zur Literatur, S. 117-141, S. 122. Ders.: Das Leben der infamen Menschen, S. 320f. Ebd., S. 318. Vgl. ders.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1994, Zitate S. 38, 167, 220, 243ff. Ders.: Das Leben der infamen Menschen, S. 318, 320.

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System und Mythos „Mathurin Milan, eingewiesen ins Spital von Charenton den 31. August 1707. ,Sein Wahnsinn war es immer, sich vor seiner Familie zu verbergen, auf dem Land ein unauffälliges Leben zu führen, zu prozessieren, zu Wucherzinsen und auf Nimmerwiedersehen zu leihen, seinen armseligen Geist auf unbekannte Straßen schweifen zu lassen und sich größter Leistungen fähig zu halten“72,

das klingt bei Greenaway und dem ersten seiner 92 „Fälle“, die wiederum insgesamt 19 Millionen Opfer eines mysteriösen „gewaltsamen unbekannten Ereignisses“, des sogenannten Violent Unknown Event repräsentieren – eine ansonsten ungeklärt bleibende „originary biblical catastrophe“73, eine Art Ursprungs- und Urkatastrophe74, die sich in etwa aus dem biblischen Sündenfall und Turmbau zu Babel, Ovids METAMORPHOSEN und Aristophanes’ Entstehungsgeschichte der Geschlechter in Platons SYMPOSION zusammensetzt – und die als derart Kontaminierte durch eine eigens eingerichtete Behörde erfasst, photographiert, gefilmt, interviewt, getestet, vermessen, verhört, verfolgt, verhaftet werden, so: „#1: Orchard Falla. Orchard Falla is a Capistan-speaking young male man. He suffers from perpetually aching teeth, gross anaemia and a marrow deficiency. For his age and his condition he is heavy. There is no known photograph of him. Orchard lives outside Arklow, County Wicklow, and earns a living working in an iron-monger's that makes most of its profit selling chicken-wire. It is not recorded what Orchard thinks of the Violent Unknown Event, and he is very non-committal about any opinion concerning the Theory of the Responsibility of Birds, though in an unguarded moment he has described his enemy as the FOX. This might be no more enigmatic than a reference to his profession as a seller of chicken-wire.“

Ist bei Foucault als jene „Macht“, mit der die „Unglücklichen“ zusammentreffen, die königliche französische Administration mitsamt ihres „Aufzeichnungsmechanismus“ immer präsent75, so bei Greenaway die fiktive Untersuchungsbehörde der sogenannten V.U.E. Commission, die allerdings auch ein reales Vorbild hat – diejenige Behörde nämlich, bei der Greenaway selbst zehn Jahre lang zunächst als Cutter und später auch als Regisseur beschäftigt war und, so Greenaway, „whose name, at least, I wish I had invented [...] a name that covers everything in the world with authority“76: das Central Office of Information, die aus dem britischen Propagandaministerium des Zweiten Weltkriegs hervorgegangene staatliche Agentur für Öffentlichkeitsarbeit77. 72 73 74

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Ebd., S. 315. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 21. Geprägt wurde dieser Begriff im Zusammenhang des Ersten Weltkriegs als der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ durch George Frost Kennan, in: Bismarcks europäisches System in der Auflösung, Frankfurt am Main 1981, S. 12. Foucault: Das Leben der infamen Menschen, S. 325. Zitiert nach: http://greenaway.bfi.org.uk/intro.php?isec=about-greenaway-words (29.03.2009), o.S. Oder, laut aktueller Selbstbeschreibung, „the Government's centre of excellence for marketing and communications“: „The COI works with Government departments and agencies to produce information campaigns on issues that affect the lives of

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Greenaways Tätigkeit am COI – nach eigenen Angaben ein leidlich unspektakuläres „nine to five, paid at the end of the week, union-supervised film-editing“78 – bestand hauptsächlich in der Arbeit an für den Export ins Ausland bestimmten Dokumentar- und Informationsfilmen: „My ten years at the Central Office of Information was spent editing films that portray, supposedly, the English way of life through statistics. How many sheepdogs are there in South Wales? How many Japanese restaurants are there in Ipswich? It’s all about the organization of ephemera.“79

Genau in dieser Organisation des Ephemeren aber – und wieder mit Foucault – erweist sich erst die spezifische „Wichtigkeit des Unwesentlichen“, indem „das Gewöhnliche“, „das Banale“, „die letzten und die allerkleinsten Grade des Wirklichen“ durch eine umfassende administrative „Diskursivierung des Alltäglichen“ erfasst werden und so ein neuartiges „Wissen vom Alltäglichen“ konstituieren, das als solches erst „den Zugriff der Macht auf das Gewöhnliche“ auch möglich macht80 – in THE FALLS etwa werden neben allerhand biographischen und biometrischen Daten auch die Hobbies und die sonstigen privaten Vorlieben, die persönlichen Ansichten zu generellen und speziellen Themen, die Liebesverhältnisse, die intimsten Gedanken, selbst die Träume der vom V.U.E. Betroffenen erfasst. Der Zusammenstand von Wissensproduktion und Machtausübung kann so auch geradezu als „Epiphänomen der verwaltungstechnischen, d.h. daten-verarbeiterischen Möglichkeiten“ einer Gesellschaft gemäß der Dispositive ihrer „Dokumentations-

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every citizen - from health and education to benefits, rights and welfare.“ (zitiert nach den Seiten der offiziellen Internetpräsenz des COI auf http://www.coi.gov.uk (29.03.2009).) Dabei sind neben der V.U.E. Commission noch viele weitere obskure Organisationen in die Geschehnisse von THE FALLS verwickelt, die wiederum ihrerseits über reale oder fiktive Vorbilder verfügen: das I.R.R. etwa ist das noch aus VERTICAL FEATURES REMAKE bekannte Institute for Restoration and Reclamation, das BFI ist als Birds Facilities Industries eine Anspielung das British Film Institute und die WSPB als World Society for the Protection of Birds eine Hommage an die 1889 zum Schutze des Haubentauchers gegründete Royal Society for the Protection of Birds. Diese Organisationen stehen in THE FALLS nun nicht nur untereinander in Konkurrenz, sondern bekämpfen sich zudem auch noch mit den mysteriösen Guerilla-Organisationen FOX (die Society for Ornothological Extinction, die in THE TULSE LUPER SUITCASES als belgische Faschistenbrigade wiederkehren wird) und CROW (deren Unterorganisation CROW Films offensichtlich eine Anspielung auf die Crown Film Unit darstellt, einer Abteilung des mit Großbritanniens Eintritt in den Zweiten Weltkrieg gegründeten Ministry of Information, aus dem dann wiederum 1946 das Central Office of Information hervorgeht), die wiederum auch miteinander in Konflikt liegen – gemäß der äsopischen Fabel vom Fuchs und der Krähe, auf die der linguistic expert der V.U.E. Commission Bwythan Fallbutus (#42) verweist – bevor er, gerüchteweise aufgrund der Ergebnisse seiner diesbezüglichen Nachforschungen (wusste er zuviel? was wusste er?), von einem CROW-Transporter überfahren und getötet wird. Zitiert nach: Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 9. Zitiert nach: Pally: Cinema as the Total Art Form, S. 107f. Foucault: Das Leben der infamen Menschen, S. 324f., 329, 333.

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techniken“ und „Aufzeichnungsmechanismen“ begriffen werden81; und wenn also etwa Amy Lawrence THE FALLS als parodistisches „tribute to bureaucratic zeal, a monument to systems for the organization of data“ beschreibt82, so ist mit Bart Testa bei aller Absurdität der Erzählung doch gerade auch ihr „Realismus“ festzuhalten – oder, mit Foucault, bei all ihrer „Nicht-Wahrheit“ auch ihre „Wahrheitswirkung“83: „The victims of the V.U.E., the methods of the Directory, the V.U.E. Commission, and the V.U.E. itself may be a fiction, but their methods and procedures conform (with quiet hilarity) to the common practices of innumerable commissions and investigations into disasters – social, economic, and natural – that modern states install, and whose reports, files, and mass-media emanations constitute the great social science archives of our time.“84

In diesem Sinne also wären, zu ihren je eigenen Bedingungen, Foucaults LEBEN DER INFAMEN MENSCHEN wie auch Greenaways THE FALLS als Teil jenes Flusserschen Projektes einer „generellen Analyse von Apparaten“ zu begreifen, die Verwaltungsapparate ebenso umfasste wie Elektronenrechner, gesellschaftliche Institutionen ebenso wie technische Medien85; und wie Foucault, der sein nie realisiertes Buch als ersten Band in einer Reihe projektierte, schon mit Blick auf eine Fortsetzung aus unterstellte, dass „das Leben der infamen Menschen sich auf andere Orte und Zeiten wird erstrecken können“86, so könnte auch THE FALLS wohl fiktionaler Teil dieser imaginären Serie sein.

Selbstbeschreibung und Differenzierung Am Anfang war die Information87 – d.h. eine Auswahl aus einem selbstkonstruierten Auswahlbereich88, und in diesem Sinne beginnt dann auch THE FALLS mit einer Selbstbeschreibung seiner eigenen Selektionsleistung: „The 92 people represented in this film all have names that begin with the letters F-AL-L. The names are taken from the latest edition of the Standard Directory published every three years by the Comitee investigating the Violent Unknown Event – the V.U.E. for short. The names are presented in the alphabetical order in which they stand in the Directory and represent a reasonable cross-section of the 19 million other names that are contained there.“ 81 82 83 84 85

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Engell: Ausfahrt nach Babylon, S. 280. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 21. Foucault: Das Leben der infamen Menschen, S. 334 Testa: Tabula for a Catastrophe, S. 91. Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 18; Engell: Was es heißt, von Dallas zu lernen, S. 10; ders.: Ausfahrt nach Babylon, S. 282; Foucault, Michel: Wie wird Macht ausgeübt?, in: ders.: Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader Diskurs und Medien. Hg. von Jan Engelmann, Stuttgart 1999, S. 187-201, S. 195. Foucault: Das Leben der infamen Menschen, S. 322f. Vgl. Dretske, Fred I.: Knowledge and the Flow of Information, Oxford 1981, S. VII. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 67.

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Knapp 2000 Jahre nach Ovids METAMORPHOSEN (und unbestimmte Zeit nach Erschaffung der Welt) findet ein gewaltsames unbekanntes Ereignis statt, von dem allerdings auch niemand so genau weiß, worin es eigentlich bestanden hat (oder ob es sich tatsächlich überhaupt ereignet hat) – als mögliche Erklärungen jedenfalls kursieren u.a. die Annahmen, der V.U.E. sei entweder •





„a mass hallucination perpetrated by the World Society for the Protection of Birds on a public who felt guilty about bird slaughter“ – so Vassian Falluger (#87) – oder, nach Ansicht von Obsian Fallicutt (#68), „an expensive, elaborate hoax perpetrated by A.J. Hitchcock to give some credibility to the unsettling and unsatisfactory ending of his film THE BIRDS“, oder aber, Agostina Fallmutt (#71) zufolge, das Vehikel der Rache der Laufvögel und ihres Griffes nach der Weltherrschaft, wie als partikulare Ausformung der weitverbreiteten Theory of the Responsibility of Birds die sogenannte Theory of Ratite Revenge behauptet, wonach, „ousted by greed and ignorance on the part of man, the ratites were attempting a return to their former supremacy and had perpetrated the Violent Unknown Event to transform man himself into a ratite“ –

wobei all diese Erklärungen aber zugleich auch wiederum, von Ostler Falleaver (#59) etwa, bestritten und als Mythen abgetan werden: „It is useful to believe the Boulder Orchard is indeed the epicentre of the Violent Unknown Event, if you want to believe in the Theory of the Responsibility of Birds ... both mythologies, and they are myths, appeal to those with a vested interest in ecology ...“

Sicher jedenfalls scheint doch zu sein: weltweit fallen dem Violent Unknown Event insgesamt 19 Millionen Menschen zum Opfer, die daraufhin spontan 92 neue Sprachen und zwei neue Geschlechter ausbilden, ein besonderes Interesse an Aviatik und an Ornithologie entwickeln, zu Vögeln mutieren und nicht zuletzt: unsterblich werden. Für die Erforschung und Rekonstruktion des rätselhaften V.U.E. wird in der Folge eine eigene Behörde eingesetzt (besagte V.U.E. Commission eben), die dann alle drei Jahre eine neue Version eines Gesamtverzeichnisses herausgibt, in welchem sämtliche Opfer des Violent Unknown Event erfasst und alphabetisch aufgelistet sind (wobei die unterschiedlichen Versionen einander allerdings teilweise widersprechen und schon innerhalb ein und derselben Version zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten auftreten, während ansonsten auch viele zweifelhafte, unvollständige oder gesperrte Einträge einfach auf spätere Ausgaben verschoben werden – es ist, da in THE FALLS von seiten der V.U.E. Commission auch hierzu unterschiedliche Angaben gemacht werden, nicht einmal ganz klar, wie viele Ausgaben es bisher gegeben hat und die wievielte denn die gerade aktuelle ist!). Aus diesen 19 Millionen werden nun, nach dem Kriterium der Anfangsbuchstaben ihres Namens, 92 „Fälle“ ausgewählt, von denen jeweils eine filmische Kurzbiographie angefertigt werden soll, und die Gesamtheit dieser Kurzbiographien ist dann nichts anderes als THE FALLS selbst – als „repräsentative“ Miniatur des V.U.E. Standard Directory im Maßstab 1 : 206 522; eine auch notwendige Verkleinerung und Selbstsimpli157

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fikation, um für dies „compendium of human tragedies and celebrations“ die zu bewältigenden Informationslasten auf ein handhabbares Maß zu reduzieren: „A history of the world should be a history of every one of its inhabitants, but that, like the Borgesian same-scale-as-the-world map, absurdly mocks human effort, so a section of humanity has to stand in for the mass, and in this case, all those people in the V.U.E. Directory whose surnames appropriately begin with the letters F-A-L-L will have to suffice.“89

THE FALLS ist also schon von Anbeginn geprägt von einer fundamentalen „Sekundarität“: Verkleinerung einer Verkleinerung, Querschnitt eines Querschnitts, Auswahl aus einer Auswahl, Repräsentation einer Repräsentation, ja vielleicht sogar selbst als Film nur Film eines Films90. THE FALLS beschreibt sich selbst als Selbstbeschreibung, und „Selbstbeschreibungen erfordern immer Selbstsimplifikationen, denn kein System kann eine vollständige Beschreibung seiner selbst in sich selbst herstellen. Es müsste sich dann ja beschreiben als ein System, das sich selbst beschreibt, und käme so nie zu einem Ende. Es ist denn auch genau diese Funktion der Selbstsimplifikation (oder der Reduktion eigener Komplexität), um derentwillen komplexe Systeme Selbstbeschreibungen anfertigen.“91

Es geht THE FALLS also um eine Reduktion von Komplexität, also darum – Komplexität verstanden als „ein Maß für Unbestimmbar-keit oder für Mangel an Information“, derjenigen Information nämlich, die einem System fehlt, um entweder seine Umwelt oder sich selbst vollständig erfassen und beschreiben zu können –, dass „das Relationsgefüge eines komplexen Zusammenhanges durch einen zweiten Zusammenhang mit weniger Relationen rekonstruiert wird“92 – etwa dann, wenn es dem System z.B. darum geht, zur Bestimmung und Reflexion seiner eigenen Einheit eine „interne Abbildung“ seiner selbst zu produzieren93, die so benutzt werden kann, um die Komplexität des Systems in das System wiedereinzuführen, wodurch diese Komplexität dann sowohl reduziert als auch gesteigert wird, kurz: „das System produziert ein und reagiert auf ein unscharfes Bild seiner selbst“94, und genau das tut auch THE FALLS: bildlich-buchstäblich an seinem Anfang, wenn die 92 „Fälle“ vorgriffsweise alphabetisch aufgelistet werden, und buchstäblich-bildlich an seinem Ende, wenn rückgreifend in einer Inferierungskonstruktion verkleinerte Kurzausschnitte der 92 Film-Biographien als Bild-im-Bild bzw.

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Zitiert nach: http://greenaway.bfi.org.uk/material.php?theme=1&type=Greenaway& title=falls (29.03.2009), o.S. Vgl. Greenaway: The Falls. Synopsis, o.S.: „There is no mistaking that you have been watching a film – maybe you have only been watching a film of a film.“ Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie, S. 25. Ders.: Soziale Systeme, S. 49ff. Ders.: Eine Redeskription „romantischer Kunst“, S. 332. Ders.: Soziale Systeme, S. 51.

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Film-im-Film über die Aufnahme eines Vogelschwarms projiziert werden95 – errichtet nach Luhmann jede Selbstbeschreibung eines Systems „eine Grenze innerhalb der Grenze, einen ,frame‘ im ,frame‘ des Systems“96, so wird dies gerade hier, im frame des Films, besonders sinnfällig. Was immer jener Violent Unknown Event also auch sein mag oder nicht sein mag, THE FALLS, mit Stanley Cavell, ist so vor allem eins: „a representation of something presenting a representation of itself“97. Allerdings ist das Verfahren der Selbstbeschreibung über eine interne Repräsentation auch nicht die einzige Art der Rekonstruktion und Reduplikation eines Systems durch sich selbst, und um Komplexität durch Selbstbeschreibungen zu reduzieren, muss sie natürlich erstmal aufgebaut werden. Das „vereinfachte Bild“ systemischer Selbstbeschreibung und das sich damit selbstbeschreibende System verhalten sich gewissermaßen wie Landkarte und Territorium98 – das Wort „Katze“ kann uns nicht kratzen und die Beschreibung eines Systems kann sich nicht operativ selbstreproduzieren99 – und wie sich in diesem Sinne zwischen Beobachtung und Operation unterscheiden lässt (also zwischen durch ein System fest- und hergestellten Unterschieden), so dann auch zwischen interner Abbildung und interner Differenzierung eines Systems, wobei im ersten Falle lediglich die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz in das System eingeführt wird (so dass das System sich selbst von seiner Umwelt unterscheiden kann), im zweiten aber die Differenz von System und Umwelt selbst, so dass sich Teilsysteme bilden, für welche dann das übrige Gesamtsystem „systeminterne Umwelt“ ist: „Systemdifferenzierung heißt ja nicht nur, dass im System kleinere Einheiten gebildet werden; vielmehr wiederholt die Systemdifferenzierung die Gesamtsystembildung in sich selbst. [...] Je nach interner Schnittlinie ist das Gesamtsystem dann mehrfach in sich selbst enthalten. Es multipliziert seine eigene Realität“100,

und in diesem Sinne ist nun auf die spezifische Selbstähnlichkeit von THE FALLS hinzuweisen und die des „Systems Peter Greenaway“ auch insgesamt, von dem THE FALLS ein Teil ist, wie bei einem Sierpinski-Dreieck oder einer Kochschen Schneeflocke; denn

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Ein Greenaway-typisches Verfahren der Bildkompostion übrigens, das später mit den Möglichkeiten elektronischer post-production in FEAR OF DROWNING wiederaufgenommen und seither in so gut wie allen weiteren Filmen dann auch weiterhin Verwendung werden wird. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 401. Cavell: Pursuits of Happiness, S. 206. Vgl. Bateson: Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, S. 245f. Und ein Film, der ein (fiktives) System darstellt, natürlich auch nicht. Luhmann: Soziale Systeme, S. 262.

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zunächst einmal verweist THE FALLS ebenso auf Greenaways bisheriges wie künftiges Gesamtwerk, von dem es ja zugleich auch Teil ist, gewissermaßen also totus in parte wie auch pars pro toto gleichermaßen: einige (frühere) Filme Greenaways – wie etwa A WALK THROUGH H oder VERTICAL FEATURES REMAKE und auch der eigenständig nie veröffentlichte TREE – werden in Anspielungen oder namentlich erwähnt, zitiert, ins Bild eingebaut, als „Archivmaterial“ oder als Film-im-Film verwendet, andere (spätere) – vor allem etwa A ZED AND TWO NOUGHTS oder DROWNING BY NUMBERS – werden thematisch, formal oder motivisch schon angedeutet und vorweggenommen, ja, THE FALLS nimmt sogar schon dasjenige Projekt vorweg, das ein Vierteljahrhundert später THE FALLS selbst rekapitulieren wird – THE TULSE LUPER SUITCASES. Greifen nun innerhalb von THE FALLS die einzelnen Biographien ständig aufeinander vor oder zurück – die 92 FALLs sind unter- und miteinander verwandt, verheiratet, verschwägert, verfeindet oder biographisch, geographisch, pathologisch, beruflich, interessensmäßig oder sonstwie miteinander verbunden, so dass mancher Eintrag eine lange unterbrochene Geschichte fortsetzt oder nachträglich auch erst begründet –, so dürfte dies doch bei Bwythan Fallbutus (#42) und Vassian Falluger (#87) am Auffälligsten oder am Weitreichendsten der Fall sein. Fallbutus, den linguistic expert der V.U.E. Commission, sieht der Zuschauer zuerst in der Biographie Coppice Fallbatteos (#30), die er mit einem Kommentar zu Fallbatteos Spracherwerb eröffnet – um zwölf Biographien später genau dieselbe Sequenz noch einmal zu sehen, nur dass es diesmal, wie ein wenig später einsetzender off-Text dann verrät, nicht darum geht, was Fallbutus über andere zu sagen hat, sondern vielmehr um ihn selber, denn Fallbutus ist tatsächlich selbst einer der FALLs und verfügt somit auch über eine eigene Biographie101 – die V.U.E. Commission muss sich also mit selbst als Teil ihres eigenen Untersuchungsgegenstands beschäftigen und der Film THE FALLS benutzt sich selber als Archivmaterial. Vassian Falluger wiederum will einen Zusammenhang zwischen dem sogenannten Boulder Orchard auf der walisischen Halbinsel Lleyn, einem angeblichen „Epizentrum“ des V.U.E., und den Flugrouten bestimmter Zugvögel erkannt haben, der, worin auch immer er genau bestehen mag, immerhin so signifikant zu sein scheint, dass er Falluger von der populären Theory of the Responsibility of Birds abbringt und zu weiteren intensiven Nachforschungen antreibt:

101

Eigentlich, wie man zuvor in Allia Fallanx’ (#14) Biographie erfährt, ist die Veröffentlichung persönlicher Daten von Beschäftigten der V.U.E. Commission zwar strengstens verboten – was aber offenbar nur für deren Lebzeiten gilt, während Fallbutus, wie aus seinem Eintrag dann hervorgeht, inzwischen schon verstorben ist.

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Differenzierung und Asymmetrisierung: THE FALLS „Vassian saw one phenomenon reflected in the other and considered both of them to be interchangeable. […] With the obsessive enthusiasm of a true convert, Vassian drew and photographed the Orchard, and filmed it on every film stock he could lay his hands on. [...] Vassian claimed he discovered in the disposition of the rocks and trees a system of passageways that, in miniature, matched the pilgrim tracks of the Lleyn Peninsula and the known routes of migrational birds in the Northern Hemisphere.“102



Wie stichhaltig oder absurd Fallugers Theorie auch immer sein mag, so schließt sich doch mit dieser Information der Kreis von Anfang und Ende von THE FALLS: die allererste Sequenz des Films, in der die Liste der 92 FALLs abläuft, zeigt nämlich, wie man erst jetzt und kurz vor Schluss erkennen kann, nichts anderes Fallugers Aufnahmen des Boulder Orchard, denen wiederum in der allerletzten Sequenz des Abspanns die Aufnahmen des Vogelschwarms entsprechen – zumindest die V.U.E. Commission also scheint Fallugers Korrespondenzthese, was immer sie im Näheren besagen mag, mit ihrer Filmkomposition zu unterstützen. Als Miniaturausgabe seiner selbst kommt THE FALLS gleich mehrfach in sich selber vor, so nämlich - als das von Musicus Fallantly (#12) geschriebene Choralwerk Sky Lists, das 92 Flugpioniere feiert und auch beschrieben wird als „work of considerable complexity and an excess of narrative“; - als V.U.E. Opera, als deren Libretto eine von Castenarm Fallast (#24) erarbeitete Liste von 92 der ungebräuchlichsten Vogelnamen verwendet werden soll (das daraus entstandene V.U.E. Anthem, auch als Bird List Song bekannt, ist schließlich die Abspannmusik von THE FALLS); oder auch - als Testreihe „about the state of the public's knowledge of natural landscape and all that was in it“ des Statistikers Erhaus Bewler Falluper (#88) – deren Erkenntniswert allerdings fraglich und deren Resultate entweder fehlerhaft oder falsch katalogisiert seien, oder, wie Fallupers Gegner unterstellen, nur reine Erfindungen. Nichtsdestoweniger gibt Fallupers Untersuchung ein direktes Vorbild für THE FALLS ab: „Falluper’s random choice of interviewees has been borrowed, the V.U.E. Commission choosing people whose surnames, like Falluper’s own, begin with the letters F-A-L-L“. Möglicherweise aber ist Falluper nicht nur Vorbild der Methodik der V.U.E. Commission, sondern gleichzeitig auch Erfinder ihres Untersuchungsgegenstandes, denn, so der Bericht, „if it had been necessary, Falluper could easily have invented the V.U.E.“

102

Über die Tulse Luper natürlich ein Buch geschrieben hat – Some Migratory Birds of the Northern Hemisphere nämlich, das zuerst in A WALK THROUGH H als ein (wie es scheint) Atlas für Seelenwanderungen eingeführt wird und in THE FALLS sei es als ornithologisches Standardwerk, sei es als coffee table book auch wieder auftaucht.

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Den finalen Höhepunkt der Selbstbezüglichkeit aber erreicht THE FALLS mit Leasting Fallvo (#91), dem Bibliothekar der V.U.E. Commission, dessen Biographie ihn dabei zeigt, wie er gerade die Biographie seines Nachfolgers im V.U.E. Directory, dem letzten der FALLs Anthior Fallwaste (#92) ins Telefon diktiert. Fallvo, so der off-Text, „wrote plots, fictions, lyrics and narratives. [...] Before the Violent Unknown Event, an Earth reconstructed from Fallvo's entire imaginative output would have been populated only by homo sapiens and a few scraggy bushes. The V.U.E. changed all that. [...] A year after the Event, Fallvo began to speak Oso-leet-ter, a plain rhythmic language suitable for the telling of an uncluttered narrative and an Earth contructed now from his output would be populated by birds and a few piles of brick. However, he lost his English-speaking audience and his earnings slumped. To earn some money he approached the V.U.E. Commission with a proposition to establish a library contributed to solely by those afflicted by the V.U.E. Eventually, there were sufficient V.U.E. products to demand a catalogue, and Fallvo volunteered to put it together. [...] Fiction was poorly represented and Fallvo himself saw to it that the nearly empty shelves looked more respectable. Among his works in English are: The Madras Lemonade Glass, The Tyddyn Corn Clout, Bird Tales of the Eiffel Tower, A Walk Through H, A Turkey for a Wife, The House of the Two Palms, The Dogs on Bardsey Island, The Tulse Luper Suitcase, Protest at the Golden Egg, The Missing Composer, The Making of Hartileas B, The WashHouse Corpse, The Red Chair, and many others“ –

wobei es sich bei diesen Geschichten allerdings um nichts anderes handelt als - die Biographien von Stachia Fallari (#17), der Familie Fallbutus (#40-45), Carlos Fallantly (#11), Lacer Fallacet (#7), Mashanter Fallack (#9), Bewick Fallcaster (#48), Anteo Fallaspy (#20), Raskado Fallcastle (#55) und Cisgatten Fallbazz (#32); - die Bird Tales of the Eiffel Tower beinhalten die Geschichten von Constance Ortuist und Melorder Fallaburr (#2 und 3), Musicus Fallantly (#12), Vacete Fallbutus (#45) und Crasstranger Fallqueue (#78) mitsamt ihren Ansichten über den sogenannten homme-oiseau Franz Reichelt, der sich am 4. Februar 1912 um 8.30 Uhr früh vom Eiffelturm (zu Tode) stürzte, um seinen selbstentworfenen Gleitanzug dem Praxistest zu unterziehen103; - A Walk Through H ist der Titel eines Films, den Appropinquo Fallcatti (#56) anlässlich eines seiner „critical screenings of films with an ornithological bias“ vorführt – und natürlich der Titel eines Films, den Greenaway selbst zwei Jahre vor THE FALLS gemacht hat; - The Tulse Luper Suitcase, als einzige von Fallvos Geschichten, die innerhalb von THE FALLS keine direkte Entsprechung hat, wird ein Vierteljahrhundert später unter Pluralisierung ihres Titels das remake oder update von THE FALLS selbst abgeben: THE TULSE LUPER SUITCASES;

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Vgl. Lesbros, Dominique: Paris mystérieux et insolite. Histoires curieuses, étranges, criminelles et extraordinaires, Paris 2005, S. 99.

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und wie also schon die Biographien in THE FALLS mag schließlich auch der V.U.E. auch selbst nur eine von Fallvos Fiktionen sein: „It was said that if the V.U.E. had not happened, then Leasting Fallvo could have invented it“ – wie schon bei Erhaus Bewler Falluper ist auch hier wohl an Voltaire zu denken.

A View from Babel Neben solchen Verdachtsmomenten einer rein internen Konstruktion aber gibt es in THE FALLS auch mindestens ebensoviele Ansätze kausaler Externalisierung, und darunter, wie für eine Katastrophe biblischen Formats nur angemessen, vor allem ihrerseits auch religiös begründete Begründungsversuche des V.U.E. – wie etwa, über den Umweg der Kunstgeschichte, denjenigen Coppice Fallbatteos (#30). „Coppice was an art historian who, trying to make a novel cultural theory out of the V.U.E., had wholeheartedly taken to the idea of the Responsibility of Birds. After exploring the significance of birds in European painting, Coppice focused his interest on Francesca's BRERA VIRGIN, also known as the Egg Painting. Coppice knew everything about this painting – its conception, mathematics, the constituents of its colours, the hagiography of its saints, its value in lire, dollars, gold and osprey feathers. The centre of all this fascination was the suspended egg, to Coppice the symbol of the Violent Unknown Event, and the one perplexing feature for which he had no explanation.“

Das Ei, so darf man schließen, stellt für Fallbatteo das Symbol des V.U.E. dar, nicht obwohl, sondern gerade weil er keine Erklärung dafür findet, und verlöre damit seinen spezifischen Symbolwert wohl auch genau dann, wenn ihm ein solcher zugewiesen würde. Tatsächlich handelt es sich bei diesem rätselhaften Objekt, Sebastian Bock zufolge, um das bekannteste Ei der gesamten europäischen Kunstgeschichte, zu dessen exklusivem Studium sich fast schon ein eigener disziplinärer Forschungszweig entwickelt habe – von dem gleichwohl aber umstritten bleibt, ob es sich nun entweder um eine Perle oder ein Hühnerei oder das Ei der Leda handele und ob es vielleicht Leben, Tod und Wiederauferstehung Jesu symbolisiere oder nicht vielmehr die jungfräuliche Empfängnis Mariens oder die vier Elemente und die Schöpfung überhaupt104. Bock selber identifiziert das in Frage stehende Objekt als Straußenei und schlägt, als maßgeblicher Quelle an Giulielmus Durantis’ RATIONALE DIVINORUM OFFICIORUM anschließend, folgende Deutung vor: wurden Straußeneier zum einen als seltene, begehrte Kostbarkeit gehandelt, die neben weiterer mirabilia die Kirchen füllten, so galt zum anderen der Strauß auch als besonders vergesslicher Vogel, der seine Eier oft achtlos im Sand zurücklässt und nur dann zu ihnen zurückkehrt, wenn er einen bestimmten Stern am Himmel sieht, um sie dann mit seinem Blick zu wärmen. Das Ei bedeute demnach dann dem Menschen, von Gott ob seiner 104

Bock, Sebastian: The „Egg“ of the PALA MONTEFELTRO by Piero della Francesca and its symbolic meaning, Freiburg im Breisgau / Heidelberg 2002, http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/volltexte/2003/3123/pdf/ PieroEgg.pdf (29.03.2009), S. 2ff.

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Sündhaftigkeit verstoßen, dass er, vom Lichte Gottes erleuchtet, sich erinnern, seine Sünden bereuen und durch gute Taten wieder aufwiegen kann und daraufhin durch Gottes dann nicht mehr mahnenden oder strafenden, sondern liebenden und vergebenden Blick gewärmt wird – das Ei sei somit also als „a warning or admonitory example for the pious“ zu verstehen, „a call to always heed God“105, unter dessen allsehendem Blick der sündige Mensch so immer steht wie Petrus nach seiner dreimaligen Verleugnung Jesu: „Und der Herr wandte sich um und blickte Petrus an; und Petrus gedachte an das Wort des Herrn [...] und weinte bitterlich“ (Luk 22,61-62). Nun lässt sich, so mit Astrit Schmidt-Burkhardt, die jederzeitige Allsicht Gottes natürlich leicht als „Proto-Surveillance“ im Sinn Foucaults auffassen – „in an age of video and satellite programs, of cybernetic technology and the Internet [...] the watchful Eye of God meanwhile returns as the immortalized view offered to us by the camera“106 –

und dann in eine Kritik der Disziplinar- oder Kontrollgesellschaften „moderner Polizeistaaten“ überführen107; THE FALLS allerdings wirft über die Frage hinaus, wie der göttliche Blick hier technisch-überwachungsstaatlich implementiert werden konnte, inwieweit die V.U.E. Commission gegebenenfalls eine Art Neuausgabe von George Orwells Ministry of Truth darstellen könnte oder ob nicht der V.U.E. eventuell ein ebensolcher Mythos wie Big Brother sei, d.h. eben nur eine nachträgliche Erfindung genau derjenigen Organisation, die er begründet haben soll, zudem auch noch die Frage auf, ob das göttliche Modell des Blicks auf die Welt zusammen mit dem göttlichen Modell der Schöpfung dieser Welt nicht vielleicht so erfolgreich kopiert worden ist, dass die Kopie das Original selbst in den Schatten stellt – und eben dadurch den Zorn Gottes auf sich zieht. Handelt es sich beim V.U.E. um einen Act of God ?108 In seiner ständigen Bezugnahme auf den biblischen Sündenfall und Turmbau zu Babel, auf Ovids METAMORPHOSEN im Allgemeinen und den Ikarus-Mythos im Besonderen und auf die Entstehungsgeschichte der Geschlechter in Platons SYMPOSION verweist THE FALLS auf Grunderzählungen der Hybris des Menschen: der Überschreitung seines Maßes, seiner Selbstüberhebung auf die Höhe Gottes und seines Versuchs, die Schöpfung selbst durch eine eigenhergestellte „zweite Natur“ zu über105 106

107

108

Ebd., S. 15, 20. Schmidt-Burkhardt, Astrit: The All-Seer: God’s Eye as Proto-Surveillance, in: Frohne, Ursula / Levin, Thomas Y. / Weibel, Peter (Hg.): CTRL [SPACE]. Rhetorics of Surveillance from Bentham to Big Brother, Karlsruhe 2002, S. 17–31, S. 31. Ebd. Zur Unterscheidung der Begriffe von Disziplinar- und Kontrollgesellschaft vgl. Deleuze, Gilles: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders.: Unterhandlungen 1972-1990, Frankfurt am Main 1993, S. 254-262. Als solchen Act of God bezeichnet Alba Bewick in A ZED AND TWO NOUGHTS auch den, wie es scheint: grundlosen Unfall, bei dem Olivers und Oswalds Frauen sterben (und sie selbst ein Kind und ein Bein verliert), und so auch der Titel eines Films, den Greenaway ebenfalls 1980 macht: ACT OF GOD. SOME LIGHTNING EXPERIENCES 1966-1980, der über Blitzschlagüberlebende handelt, wie in THE FALLS schon Romanese Fallracce (#79) eine ist.

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treffen109 – der äpfeltragende Boulder Orchard mag dabei als „Epizentrum“ des V.U.E. den Garten Eden vertreten, der Linguist Bwythan Fallbutus (#42) verfasst ein Buch mit dem im Wortsinn sprechenden Titel A View from Babel, um angesichts der 92 neuen Sprachen die Gabe der Sprache und deren Zersplitterung zu erklären, der Flughistoriker Melorder Fallaburr (#3) sieht eine Verschwörung am Werke, nach der dem Ikarus zu viel, dem Dädalus aber zu wenig Beachtung geschenkt wird („we all know there has been a conspiracy – only the failures have been recorded“), und Canopy Fallbenning (#34) schließlich kommentiert „the Violent Unknown Event's division of two orthodox sexes into a heterodox four“, „the sexual quadrimorphism that was a perplexing characteristic of the V.U.E.“ – eine (weitere) Spaltung der Geschlechter, wie Zeus sie einst den Menschen androhte, sollten sie nicht Ruhe halten und das Freveln einstellen, nach der sie dann „auf einem Beine fortkommen [mögen] wie ein Kreisel“110 – und da diese Spaltung offensichtlich auch schon statthatte und etwa Pulat Fallari (#16), Vacete Fallbutus (#45), Shey Fallenby (#61) oder Agostina Fallmutt (#71) kaum etwas anderes tun, als zu Fuß, auf dem Fahrrad, im Auto oder auch im Flugzeug sich im Kreis zu drehen, so kann man davon ausgehen, dass sich die Frevelhaftigkeit des Menschen weiter fortgesetzt hat – und schließlich so wie angekündigt auch bestraft wurde. Zudem aber mögen diese Referenzmythen vielleicht auch einen Hinweis darauf geben, worin diese Frevelhaftigkeit denn eigentlich bestand. Stellt nämlich, Ernst Kris und Otto Kurz zufolge, die Figur des Dädalus geradezu das Urbild des mythischen Künstlers dar, den einerseits die Fähigkeit auszeichnet, in seinen Werken die Wirklichkeit so vortäuschen zu können, dass sie dieser selber gleichkommen oder sie sogar noch übertreffen, und andererseits die Fähigkeit, automatisch Bewegliches oder Lebendiges zu schaffen – „beide Leistungen greifen in das Vorrecht der Gottheit ein, beiden gilt ihre Strafe“111 –, so können die Mythen der biblischen Genesis nach Lorenz 109 110

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Engell: Ausfahrt nach Babylon, S. 268. Vgl. Plat. Symp. 189d-190d: „Erstlich gab es drei Geschlechter von Menschen, nicht wie jetzt nur zwei, männliches und weibliches, sondern es gab noch ein drittes dazu, welches das gemeinschaftliche war von diesen beiden [...]. Mannweiblich nämlich war damals das eine, Gestalt und Benennung zusammengesetzt aus jenen beiden, dem männlichen und dem weiblichen [...]. An Kraft und Stärke nun waren sie gewaltig und hatten auch große Gedanken, [...] dass sie sich einen Zugang zum Himmel bahnen wollten, um die Götter anzugreifen. Zeus also und die anderen Götter ratschlagten, was sie ihnen tun sollten, und wussten nicht, was. [...] Mit Mühe endlich hatte sich Zeus etwas ersonnen und und sagte: Ich glaube nun ein Mittel zu haben, wie es noch Menschen geben kann und sie doch aufhören müssen mit ihrer Ausgelassenheit, wenn sie nämlich schwächer geworden sind. Denn jetzt, sprach er, will ich sie jeden in zwei Hälften zerschneiden, so werden sie schwächer sein und doch zugleich uns nützlicher, weil ihrer mehr geworden sind [...]. Sollte ich aber merken, dass sie noch weiter freveln und nicht Ruhe halten wollen, so will ich sie, sprach er, noch einmal zerschneiden, und sie mögen dann auf einem Beine fortkommen wie ein Kreisel.“ (zitiert nach: Platon: Symposion, in: ders.: Sämtliche Werke. Band 2, Hamburg 1957, S. 203-250.) Kris, Ernst / Kurz, Otto: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Mit einem Vorwort von Ernst H. Gombrich, Frankfurt am Main 1980, S. 97ff., 114.

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Engell auch als Gründungserzählung vom Ursprung der Kommunikation und der Entstehung des Medialen überhaupt gelesen werden112: machte einerseits erst die Vertreibung aus dem Paradies ja für den Menschen Kommunikation und Arbeit notwendig, so könne unter diesen post-paradiesischen Bedingungen dann andererseits der Turm zu Babel als Symbol für die nunmehr „technische Existenz“ des Menschen im Allgemeinen betrachtet werden113, die so zur Schöpfung Gottes selbst in Konkurrenz tritt, und zudem – indem der Turm den Menschen über die Welt erhebt und umgekehrt die Welt dem Blick des Menschen unterwirft – als eine „vorwegnehmende Metapher des Kinematographen“ im Besonderen114. Der Frevel innerhalb THE FALLS ist also vielleicht nichts anderes als THE FALLS selbst115 – als „an ambitious filmic encyclopedia of the World threaten[ing] to make the World redundant“ nämlich116, so als ob, wie Greenaway mit Mallarmé (und einiger Ironie) behauptet, die Welt nur existiere, um in einen Film einzugehen117 (wonach man sie, nach Oliver Wendell Holmes, dann auch ruhig abreißen 112 113

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116 117

Engell: Ausfahrt nach Babylon, S. 285ff. Ebd., S. 290. Diese Rolle übernimmt in THE FALLS auch sicherlich der immer wieder aufgerufene Eiffelturm, den etwa Roland Barthes so ganz ausdrücklich in die Nachfolge des Turms zu Babel stellt, dessen mythische „Imaginations-funktion“ er technisch habe realisieren können: der Eiffelturm, so Barthes, sei erstens aufgrund seiner „Fähigkeit zur unendlichen Chiffre“, nach deren Bedeutung als „Symbol für Paris, für die Modernität, für Kommunikation, für Wissenschaft oder für das XIX. Jahrhundert, Rakete, Stengel, Bohrturm, Phallus, Blitzableiter oder Insekt“ man entsprechend endlos fragen kann, gewisser-maßen ein „Nullzustand des Monuments“ und damit zugleich auch „totales Denkmal“; zweitens aber realisiere der Eiffelturm auch eine konkrete „anthologische Form“ der Moderne, welche „die mit Hilfe des Eisens errungene Herrschaft des Jahrhunderts über Raum und Zeit resümierte“, so dass er auch drittens schon vorausgreifend als eine „Brücke in den Himmel“ diene, der dann allerdings auch nicht mehr als „Himmel der Gottheit“ zu begreifen ist, sondern als „ein dem Menschen zugänglicher Raum, der Raum der Flugzeuge und Raumschiffe sein wird“ (Barthes, Roland: Der Eiffelturm, München 1970, S. 27ff., 64). Engell: Ausfahrt nach Babylon, S. 293. Dieser Zusammenhang wird später auch in THE TULSE LUPER SUITCASES wieder aufgenommen werden, wenn Luper in der Turiner Mole Antonelliana inhaftiert wird. 1863 begonnen und ursprünglich als Synagoge geplant, musste die jüdische Gemeinde Turins ihre Bauherrschaft über die Mole jedoch nach dreizehn Jahren niederlegen, da die Pläne des Architekten Allessandro Antonelli immer gigantomanischer wurden und immer mehr Gelder verschlangen; durch die Stadt Turin übernommen und zum Museum umfunktioniert, war die Mole zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung 1888 schließlich das höchste begehbare Gebäude der Welt. Seit dem Jahre 2000 beherbergt die Mole das italienische Museo Nazionale del Cinema – ein Gotteshaus also, das ironischerweise zum babylonischen Turm wird, und das nicht mehr dem Gott des Tanach oder Alten Testaments, sondern dem Kino umgewidmet ist. „It doesn’t require huge amounts of imagination“, so Greenaway zu seinem Filmtitel, „to make a reference here to the Fall of Man.“ (Greenaway: Introduction / Early Films 2.) Greenaway: The Falls. Synopsis, o.S. Ders.: The Stairs 2, S. 27.

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oder verbrennen könne118). Versprach sich Béla Balázs vom Film als einer „gemeinsamen Weltsprache“ noch sozusagen kompensatorisch eine „Erlösung von dem babelschen Fluch“119, so setzte André Bazin bereits schon einen Mythos vom totalen Kino an, d.h. die Vision einer kinematographischen „Wiedererschaffung der Welt nach ihrem eigenen Bild“120 – allerdings dann mit dem schließlichen Ergebnis weniger eines „natürliche[n] Bild[es] einer Welt, die wir nicht zu sehen verstanden“121, sondern, mit Flusser, vielmehr einer ihrerseits durch technische Bilder codifizierten Welt122. Ganz ebenso also wie der Turmbau zu Babel, den Engell als mediengeschichtlich beispielhaftes „mythologisches Rückgewinnungsprojekt“ charakterisiert, das ganz seinem Vorhaben entgegen die verlorene Einheit der Menschen untereinander, mit der Schöpfung und mit Gott nur umso weiter noch entfernt123, hat so das Kino vielleicht weniger zu einer „Errettung der äußeren Wirklichkeit“124 beigetragen als vielmehr zu ihrer Umkehrung in ein „globales Bildszenarium“, für welches die Welt auch nicht das Ziel ist, sondern lediglich das Rohmaterial125; und wird auch ein göttlicher Urheber des V.U.E. zwar in THE FALLS nicht ausdrücklich ausgemacht (mit Ausnahme der sozusagen gnostischen Klage Canopy Fallbennings (#34) über „the unsatisfactory incompleteness of the V.U.E.’s efforts“, die sie einem „god who had suffered the loss of a necessary skill“ zuschreibt), besteht doch für den Menschen die (selbstzugefügte) Strafe dafür, neben der natürlichen ersten eine zweite künstliche Welt geschaffen zu haben, vielleicht ganz einfach darin, im Unterschied zu Gott oder den Göttern in ebendieser selbstgeschaffenen Welt auch leben zu müssen – Marlene Dietrich wurde darin nach eigenen Angaben zu Tode photographiert126.

118 119 120

121 122 123 124 125 126

Holmes, Oliver Wendell: The Stereoscope and the Stereograph, in: ders.: Soundings from the Atlantic, Boston (MA) 1864, S. 124-165, S. 161. Balázs: Der sichtbare Mensch, S. 22. Bazin: Der Mythos vom totalen Film, S. 45ff. Diese Konzeption einer „zweiten Schöpfung“ im bzw. durch das Kino wird von Jean-Louis Baudry dann wieder aufgenommen und noch übersteigert, indem Baudry im Unterschied zu Bazin nicht den „Realitätseindruck“ des Films, sondern die „Subjektwirkung“ des kinematographischen Dispositivs als eigentlichen „Kino-Effekt“ herausstellt. Das Kino, gewissermaßen als Nachbau des psychischen Apparates des Menschen, ist dann für das „Subjekt“ vor allem eine Simulation genau desjenigen Apparates, „der es selber ist“ – der Mensch simuliert dann also nicht allein im Film die Welt, sondern im Kino sich selbst – das Kino als homunculus. (Baudry, Jean-Louis: Das Dispositiv. Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks, in: Riesinger, Robert F. (Hg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte, Münster 2003, S. 41-62.) Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes, S. 25. Vgl. Flusser: Die kodifizierte Welt, S. 21-29. Engell: Ausfahrt nach Babylon, S. 288, 294f. Vgl. Kracauer: Theorie des Films. Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, S. 10; ders.: Filmerzeugung und Filmverbrauch, S. 100. „I have been photographed to death“, so ihr berühmter Satz in Maximilian Schells MARLENE.

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System und Mythos

Erfundene Ursprünge und funktionierende Fiktionen Bei THE FALLS handelt es sich, ebenso wie auch zuvor schon bei VERTICAL FEATURES REMAKE, um ein mock documentary, und wenn, mit Michael Palm, für mock documentaries kennzeichnend ist, dass sie „ihren Ursprung gleichsam zurechtbasteln, ,erfinden‘, im selben Augenblick aber dieses erfinderische Moment – nennen wir es vorläufig Fiktion – gleich wieder verwerfen und sich als Dokument – nennen wir es vorläufig non-fiction – ausgeben“127,

so ist dem im Falle von THE FALLS hinzuzufügen, dass hier nicht einfach ein fiktives Ereignis filmisch als reales dargestellt wird (was dann durch bestimmte Fiktionssignale eventuell zur Selbstanzeige kommt), sondern dass, während einerseits die Realität des Ereignisses in der Fiktion die ganze Zeit über auch selbst bezweifelt wird, andererseits das Fingieren des Ereignisses selbst zur Darstellung kommt und letztlich diese Darstellung selbst ist, und schließlich: dass das Fingieren des Ereignisses und „Ursprungs“ durch ein Kommunikationssystem auch keinen Sonderfall darstellt, sondern im Gegenteil das allgemeine Modell ihrer Konstitution. Die „Realität der Massenmedien“ ist ja, nach Luhmann, eine doppelte, insofern damit einerseits bezeichnet ist, was für die Medien oder durch sie für andere als Realität erscheint, dass andererseits aber ganz faktisch und ganz unbestreitbar auch gedruckt, gefunkt, gelesen und empfangen wird128 – ganz unabhängig davon, um was für Themen es dabei nun geht und ob es sich um Nachrichten, um Werbung oder Unterhaltung, um Enthüllungen, Skandale, Propaganda, Enten, hoaxes oder auch Fiktionen handelt. In THE FALLS tritt diese Unterscheidung von Beobachtung und Operation, wie sie oben bereits schon hinsichtlich der Unterscheidung von Selbstbeschreibung und Differenzierung getroffen wurde, nun in sich selber wieder ein: zum einen berichten die 92 Biographien natürlich über den (wie immer zweifelhaften) V.U.E. und seine möglichen Umstände und Hintergründe, über seine Opfer und deren Leben und Ansichten, die durch die V.U.E. Commission dann wiederum auch kommentiert werden, zum anderen wird aber zeigt THE FALLS vor allem die Arbeit der V.U.E. Commission selbst: es werden Telefonate geführt, Tonbandaufnahmen gemacht und Transkriptionen dieser Tonbandaufnahmen, man sieht Kamerateams und Sprecher bei der Arbeit, die Angestellten und Experten der Commission werden in ihren Büros und Sekretariaten selber interviewt, und über die Herkunft jeder Information, die Umstände jeder Korrespondenz und auch den Zustand jeder Aktenlage gibt der Kommentar penibel Auskunft – so dass korrekterweise auch einige Biographien wegen interner Katalogisierungsfehler gestrichen oder aufgrund von copyright-Problemen ausgelassen werden und überhaupt innerhalb des Films die innere Organisation der V.U.E. Commission und ihres Verzeichnisses immer mehr an Bedeutung gewinnen, die Darstellung äußerer Sachverhalte aber immer zweitrangiger wird: es geht so eigentlich auch gar nicht mehr um die V.U.E. victims und ihr Schicksal, es geht vielmehr um die 127 128

Palm, Michael: Zeligs Schatten – Was Fake-Dokus von der Wahrheit halten, zitiert nach: http://www.nachdemfilm.de/no2/pal01dts.html (29.03.2009). Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 12ff.

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Differenzierung und Asymmetrisierung: THE FALLS

Herstellung und Verwaltung ihrer Biographien – die Erforschung des V.U.E. wird zur Selbstbeobachtung der V.U.E. Commission, deren Einrichtung so über allen Sprachneubildungen, Geschlechtsvervielfachungen und sonstigen körperlichen Mutationen auch der größte Effekt des V.U.E. zu sein scheint: THE FALLS jedenfalls handelt so im Wesentlichen von der Entstehung seiner selbst. Ob es den V.U.E. nun also wirklich gab oder auch nicht, die V.U.E. Commission ist immerhin real, wie umgekehrt aber für die Commission auch der V.U.E. durchaus Realität besitzt: als ihr „konstitutives Anfangsproblem“ nämlich129, als Anlass ihrer Einrichtung und Gegenstand ihrer Tätigkeit, selbst wenn es sich, wie ein externer Beobachter mehr und mehr auch den Verdacht haben könnte, bei diesem Anlass nur um pure Fiktion handeln sollte und nichts weiter. Genau als solche aber (und nicht anders als jedes andere System auch!) benutzt die V.U.E. Commission den V.U.E. als Referenzpunkt einer systemkonstitutiven Asymmetrisierung, d.h. einer Form, in der die Tautologie der reinen Selbstreferenz eines Systems sich unterbrechen lässt, indem es bestimmte „imaginäre Konstruktionen“ in seinen operativen Selbstbezug „hineinfingiert“130: das Verfahren der Asymmetrisierung besagt, „dass ein System zur Ermöglichung seiner Operationen Bezugspunkte wählt, die in diesen Operationen nicht mehr in Frage gestellt werden, sondern als gegeben hingenommen werden müssen. [...] Die Asymmetrie wird nicht als Moment der Autopoiesis, sie wird als allopoietisch gegeben behandelt. Man mag dies prinzipiell oder pragmatisch rechtfertigen: in jedem Falle ist dies ein Beispiel dafür, dass auch ein Durchschauen der Funktion, ja selbst ein Bewusstsein der Fiktionalität am Erfordernis eines solchen Verfahrens nichts ändern könnte.“131

So muss etwa schon ein jedes System die „objektive“ Realität einer Umwelt unterstellen, von der es sich selber unterscheiden kann, obwohl diese Umwelt nur aufgrund interner Operationen unterschieden werden kann und somit das System auch eingestehen müsste, dass diese Umwelt nichts anderes ist als ein internes Produkt seiner eigenen Operationen132 – es muss mithin also in einer Art von Orwellschem doublethink133 seine selbstgeschaffene „Realitätsillusion“ durch eine „Selbstillusionierung“ ergänzen134, indem es seine eigene Konstruktionsleistung „übersieht“ und sich selber dabei für sich selber unsichtbar macht:

129 130 131 132 133 134

Jahraus, Oliver: Nachwort, in: Luhmann: Aufsätze und Reden, S. 299-333, S. 312. Luhmann: Soziale Systeme, S. 651; Corsi, Giancarlo: Eintrag „Asymmetrisierung“, in: ders. / Baraldi / Esposito: GLU, S. 21-23, S. 22. Luhmann: Soziale Systeme, S. 631f. Corsi, Giancarlo: Eintrag „Paradoxie“, in: ders. / Baraldi / Esposito: GLU, S. 131-135, S. 132. Vgl. Orwell, George: Nineteen Eighty-Four. Hg. von Ronald Carter und Valerie Durow, Harmondsworth 2000, S. 191ff. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 93; ders.: Systeme verstehen Systeme, S. 85.

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System und Mythos „Ein Beobachter muss, wenn man so paradox formulieren darf, in der Lage sein, sich selbst nicht beobachten zu können. [...] Wäre das nicht der Fall und würde er sich selbst als Zurechner beobachten, würde er ja selbst zur Ursache der Ursächlichkeiten, zur Urursache werden und könnte Kausalität nicht mehr ,objektiv‘, sondern nur noch ,subjektiv‘, nicht mehr fremdreferentiell, sondern nur noch selbstreferentiell wahrnehmen.“135

Nur dann aber, wenn ein (wie immer intern konstruierter) Sinnzusammenhang in einer (wie immer intern konstruierten) Zuordnung der (wie immer intern konstruierten) Umwelt zugerechnet werden kann, auf welche sich dann reagieren lässt, lässt sich „das in aller Selbstreferenz steckende Problem der Zirkularität“ auflösen: die externale Attribution funktioniert als Selbstreferenzunterbrecher, die Asymmetrisierung lässt zwischen System und Umwelt unterscheiden, und „das System asymmetrisiert – sich selbst!“136 Der „Ursprung“ des Systems muss also immer selbst als nicht-erfundener erfunden werden, was aber nur durch eine sozusagen „ursprüngliche Unaufrichtigkeit“ ermöglicht wird: „Einmal muss das System sich also zu einer Lüge entschließen, einmal eine Unwahrheit als Wahrheit nehmen, dann geht es.“137 Wie fiktiv die postulierten Ursprünge dann aber auch sein mögen, es sind „Fiktionen, die funktionieren“ und gleichwohl selbst zur Realität werden, sofern sie nur als Prämisse weiterer Kommunikation und Operativität verwendet werden können138. Insofern kann es sich die V.U.E. Commission sogar leisten, für den Zuschauer „transparenzschaffend“ ihr eigenes Arbeiten zu zeigen und sogar ihren eigenen Mitarbeiter Leasting 135 136 137 138

Ders.: Probleme mit operativer Schließung, in: ders.: Soziologische Aufklärung 6, S. 13-25, S. 16. Ders.: Soziale Systeme, S. 65. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 415f. Ders.: Vertrauen, S. 64ff. In anderem Ausdruck: Der V.U.E., mit Charles Sanders Peirce, ist gewissermaßen das „dynamische Objekt“ der V.U.E. Commission, das als systemextern und beobachtungsunabhängig existierend angenommenes ihre Beobachtungen in einer „Art von Verursachung oder Einfluss“ daraufhin bestimmt, sich diesem Objekt in „hinreichender Entsprechung“ anzunähern (Peirce, Charles Sanders: Der Kern des Pragmatismus – Drei Ansätze zu seiner Begründung, in: ders.: Semiotische Schriften. Band 3, Frankfurt am Main 1993, S. 231-311, S. 252) – wobei es aber paradoxerweise keine Rolle spielt, ob das „dynamische Objekt“ auch ein „reales“ ist: „Es ist irreführend, es reales Objekt zu nennen, denn es kann irreal sein. [...] Doch es wäre falsch anzunehmen, ein fiktives Objekt könne keine reale Wirkung hervorrufen.“ (Peirce, Charles Sanders: Notizen und Skizzen zur Semiotik, in: ders.: Semiotische Schriften. Band 3, S. 211-230, S. 218.) Diese Wirkung aber, die sich in THE FALLS dann eben als die Tätigkeit der V.U.E. Commission darstellt, wird nie in einer schließlichen Identität des „dynamischen Objektes“ mit seiner Beobachtung bestehen können (es sei denn, wie THE FALLS ja nahelegt, es wäre eben nichts anderes als diese Beobachtung selbst – die selbst dann aber im re-entry ihrer Selbstbeobachtung zugleich dieselbe und nicht dieselbe wäre), sondern vielmehr nur in einer unendlichen Semiose: Das „dynamische Objekt“ ist in seiner postulierten Externalität immer nur in interner Darstellung „als extern dargestellt“ (ebd., S. 213), d.h. als „beobachtungsunabhängig“ kann es nur – beobachtet werden.

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Differenzierung und Asymmetrisierung: THE FALLS

Fallvo als möglichen Erfinder des V.U.E. darzustellen, denn das Faktum der eigenen Existenz und die „Offenlegung“ der eigenen Arbeitsmethoden verbürgt ja in einem strange loop der kausalen Begründung die Vertrauenswürdigkeit der V.U.E. Commission ebenso wie die Realität des zu untersuchenden Violent Unknown Event – zumindest für die V.U.E. Commission selbst, wie sehr dies auch für einen externen Beobachter nur als Selbstlegitimation durch einen Mythos scheinen mag139, wobei aber im Laufe der Untersuchung der Commission der Untersuchungsaufwand solche Ausmaße erreicht und schließlich so viele Beteiligte dabei sind, dass es einerseits zwar immer unwahrscheinlicher wird, andererseits aber auch ganz einfach nicht zu akzeptieren wäre, dass ein solcher Untersuchungs- und Verwaltungsapparat ohne jeden Realitätsbezug hätte entstehen können140; die Finanzierung der V.U.E. Commission und ihres Filmprojektes, wie in diesem selbst erörtert wird, erfolgt ja immerhin durch öffentliche Mittel!141

Mediale Urszenen Ob der V.U.E. aber, sollte er denn auch tatsächlich stattgefunden haben, nun nach Corntopia Fallas’ (#19) Angaben in einer Feuersbrunst bestand, nach Canopy Fallbenning (#34) in einer Explosion oder nach Romanese Fallracce (#79) in einem Blitzschlag: damit, so Lorenz Engell, ein bloßes Vorkommnis, gleich welcher Art, auch zum Ereignis werde, bedarf es immer kommunikativer und d.h. medialer Prozesse, die es als Ereignis überhaupt erst identifizieren, referierbar machen und mit Sinn ausstatten142, und es ist, so Jacques Derrida, in diesem Sinne festzustellen, „dass die Techniken der unmittelbaren Wiedergabe von Worten und Bildern im selben Maß, in dem sie sich entwickeln, zugleich auch interpretieren, selektieren, filtern und infolgedessen das Ereignis machen, anstatt es bloß abzubilden [...], sodass die Bilder das Ereignis schließlich nicht zeigen, sondern hervorbringen. Eine Interpretation tut, was sie sagt, während sie gleichzeitig vorgibt, eine von ihr unabhängige Realität bloß auszusagen, zu zeigen oder zu übermitteln. Tatsächlich ist die Interpretation produktiv und in gewisser Weise immer schon performativ. Stillschweigend und ohne es zuzugeben lässt man ein Sprechen, das ein Ereignis macht, als simple Mitteilung des Ereignisses durchgehen. Die politische Wachsamkeit, die das von unserer Seite fordert, besteht offenkundig darin, ein kritisches Wissen von allen Apparaten zu

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Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 631f. Vgl. ebd., S. 648f. „Do you think public money is well spent on making films like this?“ – so wird etwa Mashanter Fallack (#9) von der V.U.E. Commission hinsichtlich ihres Filmprojekts befragt, und antwortet mit einer Gegenfrage: „Do you ask about the public money being paid to all these people in all these government offices? I'm surprised that you of all people can ask that question“ – eine doppelt selbstreflexive Wendung, denn auch Greenaways Film wurde natürlich mit Fördergeldern finanziert ... genau wie schließlich auch vorliegende Arbeit. Engell, Lorenz: Das Amedium, in: montage/av 5/1(1996), S. 129-153, S. 140.

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System und Mythos organisieren, die vorgeben, Ereignisse mitzuteilen, die sie aber in Wirklichkeit interpretieren, hervorbringen oder machen.“143

Ereignisse gibt es somit weder außerhalb der Kommunikation noch ohne mediale Beteiligung an ihrer Konstruktion – der Violent Unknown Event bildet hierin sicher keine Ausnahme144, vielmehr darf vermutet werden, dass es sich bei ihm nicht nur um ein „gemachtes“ Ereignis im Sinne Derridas, nicht nur um einen „erfundenen Ursprung“ im Sinne Palms handelt, sondern um nichts Geringeres als eine mediale Urszene – eben auch in jenem Sinne des Begriffes, dass es sich letztlich nicht entscheiden lässt, ob es sich dabei nun um ein retroaktives Phantasma oder um ein reales Ereignis handelt145. Als Akronym gelesen ist der Violent Unknown Event zugleich als Apronym la vue, der Blick, gewiss im Sinn der surveillance Foucaults, mehr aber noch als das objet petit a Lacans, d.h. als jene „Objekt-Ursache“ des Begehrens, die ja laut Slavoj Žižek mit dem MacGuffin Hitchcocks zusammenfällt146, ja, bedenkt man „the filmic origin of the V.U.E.“, auf den Obsian Fallicutt (#68) hinweist, möglicherweise sogar mit dem „filmischen Objekt“ überhaupt – d.h. der „filmisch repräsentierte[n] Unverfügbarkeit des Objekts für die filmische Repräsentation“147, so dass der Film, mit Jean Baudrillard, selbst „filmischer als Film“ wird und, „in einem Taumel der Selbstreferenz, wo er nurmehr sich selbst gleicht“, auf keine Repräsentation eines realen Referenten auch mehr abzielt, sondern vielmehr nur auf die „Perfektion seines eigenen Modells“148 – wie in THE FALLS in seiner vielfachen mise-enabyme ja auch ganz offenbar ersichtlich. Der V.U.E. ist so auch in der Tat der Vorwand, der bloße Anschein eines zu erklärenden und zu interpretierenden „Geheimnisses“, die „Lücke im Zentrum der Ordnung“, die die Bewegung der Interpretation (und auch des Films) in Gang setzt, das Objekt, das als gesuchtes vom Prozess der Suchens erst erzeugt und dann retroaktiv als dessen Ursache postuliert wird149 – aber niemals auch erreicht werden kann: Die V.U.E. Commission wird den V.U.E. niemals zu fassen geschweige denn zu sehen bekommen, ganz einfach deshalb, weil es sich dabei um das phantasmierte Urbild ihres eigenen Sehens, ihres eigenen (Kamera-) Blicks handelt. Das „Begehren“ der V.U.E. Commission erhält sich selber aufrecht als ein Begehren nach dem Unmöglichen, nämlich nach dem Sehen des 143 144

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Derrida: Eine gewisse Unmöglichkeit, vom Ereignis zu sprechen, S. 22f. Vorerwähnte Mashanter Fallack etwa beklagt sich über das mangelnde öffentliche Interesse am Phänomen des V.U.E. – verwunderlich bei einem Ereignis von solcher Reich- und Tragweite! – und erhofft sich vom Filmprojekt der V.U.E. Commission vor allem die Aufmerksamkeit eines internationalen Publikums: nur als Medienereignis also kann der V.U.E. von gesellschaftlicher Bedeutung sein, nicht aber in 19 Millionen individuellen Zustößen. Vgl. Laplanche, Jean / Pontalis, Jean-Bertrand: Eintrag „Urszene“, in: dies: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt am Main 1972, S. 576-578. Vgl. Truffaut, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?, München 1973; Lacan: Vom Blick als Objekt klein a; Žižek, Slavoj: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991. Vgl. Engell: Medienphilosophie des Films, S. 293. Baudrillard: Jenseits von Wahr und Falsch, S. 268. Vgl. Žižek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!, S. 58; ders.: Mehr-Genießen, S. 27.

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Differenzierung und Asymmetrisierung: THE FALLS

Ursprungs des eigenen Sehens, das sich selber „ganz und gar verborgener Blick“ ist, d.h. ihre Suche organisiert sich um ihren eigenen blinden Fleck150, so dass sie sich auch nicht in einem schließlichen Erreichen des Gesuchten realisierte – das hieße ja: in ihrem Ende –, sondern vielmehr in ihrer Selbstfortsetzung151: in subsequent editions of The Falls nämlich, wie sie in den bemerkenswerterweise selbstzensierten Biographien von Castan Fallockery (#72) und Cottes Fallope (#73) auch schon in Aussicht gestellt werden, von denen aber wiederum wohl anzunehmen ist, dass sie weder die „Ursprungsfrage“ des V.U.E. noch die im Zuge ihrer Untersuchung aufgetauchten neuen Fragen je zufriedenstellend klären, sondern nur noch weitere aufwerfen werden – die dann ihrerseits auch eine neue Untersuchung nötig machen. Eben das ist ja die „Realität der Massenmedien“, dass sie eine Selbstbeobachtung der Gesellschaft einrichten, die dann „Probleme“ erzeugt, die „Lösungen“ erfordern, die „Probleme“ erzeugen, die „Lösungen“ erfordern usw. usf., so dass ihre Tätigkeit letzlich in nichts anderem besteht als in der Kompensation der eigenen Effekte152, und der V.U.E. ist nun ein solcher medial gezeitigter Effekt, der sich dann paradoxerweise seinem selbst fingiertem Ursprung substituiert: ein „Ursprungs-Effekt“ der Medien, der selbst nur zirkulär begründet, nur selbstimplikativ, d.h. nur medial eingeführt und auch bezeichnet werden kann. Soll dieser Ursprung also selbst begründet werden, so kann der Grund nur im Vollziehen des Begründens selbst gesucht werden und das „Wesen“ des V.U.E. nur in der Tätigkeit der V.U.E. Commission153 – d.h. im operativen Prozessieren eines Mangels, der genau dort nur vermehrt wird, wo, tatsächlich oder auch nur vorgeblich, nach seiner Beseitigung gestrebt wird: in der Kommunikation154. Der Violent Unknown Event – damit gewissermaßen medialer Schöpfungsmythos und auch Sündenfall zugleich155 – ließe sich, sofern so möglich, dann vielleicht fassen als den so immer nur retroaktiv vorstellbaren Einbruch der Beobachtung in die Welt durch ein „Installieren von Beobachtungsmöglichkeiten“, der sie zugleich damit als immer schon „verletzte“ auch erschafft; als jene fundamentale Verletzung des Spencer Brownschen unmarked state als einem „unterscheidungslosen Weltzustand“ durch eine Unterscheidung, die noch jeder „ersten Unterscheidung“ (welche als solche ja auch immer erst benannt, immer selber erst auch unterschieden und bezeichnet sein will) immer schon vorausgeht und von ihr nicht mitgesehen werden kann156; schließlich vielleicht als jener „eine Schlag“, auf den nach 150

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Cremonini, Andreas: Die Durchquerung des Cogito. Lacan contra Sartre, München 2003, S. 153, 166; ders.: Die Nacht der Welt. Ein Versuch über den Blick bei Hegel, Sartre und Lacan, in: Gondek, Hans-Dieter / Hofmann, Roger / Lohmann, HansMartin (Hg.): Jacques Lacan – Wege zu seinem Werk, Stuttgart 2001, S. 164-188, S. 174f. Žižek: Mehr-Genießen, S. 17. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 141; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 325. Vgl. ders.: Sthenographie und Euryalistik, S. 75. Engell: Ausfahrt nach Babylon, S. 295. Vgl. Bowie, Malcolm: Lacan, Göttingen 1994, S. 26. Vgl. Spencer Brown: Laws of Form, S. 3; Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 51f., Anm. 63; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 121; ders.: Identität –

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System und Mythos

Lévi-Strauss etwa die Sprache auch nur hat entstehen können, „welches auch der Augenblick und die Umstände ihres Erscheinens [...] gewesen sein mögen“157 – über die auch freilich Lévi-Strauss nichts sagen kann, die zu ergründen die V.U.E. Commission aber zur vermutlich unlösbaren Aufgabe hat: Der wie soeben modellierte V.U.E. könnte als Ereignis nur als Differenz zwischen einem vorher liegenden Zustand der Differenzlosigkeit und einem nachher liegenden Zustand der Differenzhaftigkeit bestimmt werden, wobei aber jeder Versuch, Differenzlosigkeit zu beobachten (d.h. ja eben: als eine Seite einer Unterscheidung zu bezeichnen), im Moment des Versuchs diese Differenzlosigkeit schon aufhebt158 – der unmarked state kann niemals repräsentiert, sondern immer nur verletzt werden159 – und daher auch jeder Versuch seiner Bestimmung den V.U.E. niemals erreichen, sondern immer nur wiederholen kann: Im vergeblichen (oder auch nur vorgeblichen) Versuch einer Repräsentation des V.U.E. wird THE FALLS so dessen eigenes Simulakrum und die V.U.E Commission zu seinem wenn auch nachträglichen Urheber, und wenn dann in immer neuen Auflagen des V.U.E. Directory nach immer neuen mehr oder weniger plausiblen Außenbezügen und möglichen Kausalitäten für den V.U.E. gesucht wird, so besteht ebenjene Katastrophe, die ursprünglich als Gegenstand erforscht werden sollte, auch nicht in einem isolierbaren Einzelereignis, sondern vielmehr, mit Walter Benjamin, darin, dass es so weitergeht160.

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was oder wie?, S. 18. Allerdings geschieht auch dieser Einbruch Spencer Brown zufolge nicht voraussetzungslos, vielmehr liege ihm immer ein „Motiv“ zugrunde, ohne das es keine Unterscheidung geben könne, und zwar in seiner basalsten Form ganz einfach ein desire to distinguish (Spencer Brown: Laws of Form, S. 1, 60) – von dem sich wiederum natürlich trefflich spekulieren lässt, worauf es sich genau beziehe, wovon es ausgelöst worden sei und nicht zuletzt auch: wer es habe und gehabt habe, das aber wohl ebenso unmöglich „herauszufinden“ sein dürfte wie etwa der unterstellte „evil intent“ der Vögel in Hitchcocks THE BIRDS, wie auch innerhalb des Films die Frage nach dem möglichen Grund ihrer Attacken von Mitch Brenner so beantwortet: „It’s happening. Isn’t this a reason?“ Worin nun also auch die „malevolence“ des V.U.E., unter der Ipson und Pulat Fallari (#16) angeblich leiden, wohl bestanden haben mag – für den Aufbau der Ordnung der V.U.E. Commission, des V.U.E. Directory und auch THE FALLS ist das „Motiv“ des V.U.E. vollkommen irrelevant (vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 55). Lévi-Strauss, Claude: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, in: Mauss, Marcel: Soziologie und Anthropologie. Band 1, München 1974, S. 7-41, S. 38. Fuchs: Vom Zweitlosen, S. 54. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 718f. Benjamin, Walter: Zentralpark, in: ders.: Gesammelte Schriften. Band I.2, S. 655-690, S. 683. Die Tätigkeit der V.U.E. Commission entspricht so auf frappante Weise der der institutionellen Medienwissenschaft, die Lorenz Engell zufolge in einem ständigen double bind zwischen ihrem gesellschaftlichen „Problemlösungsversprechen“ einer „Aufklärung“ über die Medien und ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis als „Problemgenerierungsverfahren“ befangen ist: „Die Medienwissenschaft [generiert] ständig neue Objekte. [...] Die Medienwissenschaft erklärt einfach alles zum Medium [...] und damit zu einem aktuellen Problem [...]. Deshalb wird die Medienwissenschaft auch die Unsicherheit darüber, was eigentlich ein Medium ist, diese Frage, die am Anfang der Medienwissenschaft schon immer

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Differenzierung und Asymmetrisierung: THE FALLS

THE FALLS – eine mediale Mythologie Die Untersuchung des Violent Unknown Event, so selbstreferentiell sie sich auch damit ausnimmt, ist ihrerseits bestimmt vom „alteuropäischen Typ“ der Fragestellung einer „Erklärung durch Anfänge“, für die bezeichnend ist, dass sie sich nicht zufriedenstellen lässt, „wenn man die arché, die origo, den Ursprung, die Quelle nicht identifizieren kann“161. Genauso aber, wie die V.U.E. Commission niemals zu einer überzeugenden letzthinnigen Erklärung des V.U.E. gelangen wird, wird keine wie immer prozesstheoretisch angelegte Mediengeschichte der Welt je über die Kittlersche Feststellung, dass es Medien „seit jeher gegeben haben muss“, hinausgelangen können, ganz einfach deshalb, weil eine historische Lokalisierung des Anfangs aller Medien ihr nicht gelingen kann162 – mediale Mythologien hingegen haben dieses Problem nicht (oder müssen sich zumindest nicht darum bekümmern). Der Violent Unknown Event, der die Tätigkeit der V.U.E Commission ebenso begründet wie schon das angeblich verschollene „Original“ von Vertical Features diejenige des I.R.R., symbolisiert vermutlich nur die Emergenz aller Beobachtung, aller Kommunikation und aller Medialität: die fundamentale Paradoxie des „Anfangs, der sich selbst voraussetzt“163. Von solchen Violent Unknown Events aber, von ihrem Einschnitt in die Welt und dessen Folgen, von ihrer (sei es verkennenden) Rekonstruktion und ihrer (sei es verräterischen) Verschleierung durch die Beobachtungssysteme, die durch sie selbst hervorgegangen sind, handeln in diesem Sinne alle Filme Greenaways – die ihrerseits, und so vor allem auch THE FALLS, beschreibbar sind als eine mediale Mythologie von ebenjenem impact der Medien auf die Welt, der sie auch selbst hervorgebracht hat.

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gestellt wird und heute munter weiter gestellt wird, diese Frage wird die Medienwissenschaft nach Möglichkeit niemals beantworten, denn nur solange nicht klar ist, was ein Medium ist, kann sie immer neue, nahezu beliebige Objekte zum Medium erklären; wenn sie Kriterien angeben müsste, was wann ein Medium ist, wäre diese Möglichkeit stark eingeschränkt. [...] Nur weil sie nicht weiß, was Medien sind, kann sie jeweils aktuelle oder am aktuellen Außenbezug orientierte Vorschläge unterbreiten, was denn jetzt ein Medium sei. [...] [Sie muss] ihre eigenen medialen Grundlagen dauernd verwerfen und neu erfinden.“ (Engell, Lorenz: Nach der Zeit. Vortrag am 13. Dezember 2006 in Wien im Rahmen der Ringvorlesung „Was waren Medien?“ der Universität Wien, zitiert und transkribiert nach: http://homepage.univie.ac.at/claus.pias/aktuell/WasWarenMedien/05_Engell.mp3 (29.03.2009).) Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 292. Ders.: Evolution und Geschichte, S. 151. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 57.

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05 Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT (1982)

Wie erfolgt die Kopplung von Bewusstsein und Gesellschaft, von Wahrnehmung und Kommunikation – durch Kunst? Wie kommt es, dass verschiedene Beobachter Verschiedenes beobachten (verstehen), obwohl sie dieselben Objekte beobachten (wahrnehmen), und wie werden diese Beobachtungen (kommunikativ) koordiniert – mit welchen Folgen für welche Beobachter? Wie verändert die Beschreibung von Realität diese Realität bzw. wie stellt die „Abbildung“ von Realität diese überhaupt erst her? Greenaways erster (mehr oder weniger) konventioneller Spielfilm THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT behandelt die leitende (und keineswegs neue) Frage: „Should an artist draw what he sees or draw what he knows?“, wobei dann allerdings über diese Ausgangsunterscheidung von Sehen und Wissen hinaus im Prozessieren der Differenzen von Intentionalität und Technik, Information und Mitteilung, Fremdreferenz und Selbstreferenz, Mimesis und Automimesis sich ein Sinnzusammenhang konstituiert, in dem einer „ersten Welt des Gesehenen“ eine „zweite Welt der Kommunikation“ überlagert wird und es auch schließlich nicht mehr um eine Beobachtung von Objekten geht, sondern vielmehr um die Beobachtung von Beobachtern: um eine Beobachtung zweiter Ordnung, die in ihrer schließlichen Selbstreflexion das „presumptious regime“ des Zeichners mit der von Greenaway sogenannten „tyranny of the camera“ relationiert. Wie schließlich THE FALLS von THE TULSE LUPER SUITCASES, so wird THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT innerhalb des „Systems Greenaway“ ein Vierteljahrhundert später von NIGHTWATCHING wieder aufgenommen – sozusagen als eine Art THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT RELOADED.

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System und Mythos „Die Malerei ist für das Auge wahrer, als das Wirkliche selbst. Sie stellt auf, was der Mensch sehen möchte und sollte, nicht was er gewöhnlich sieht.“ Johann Wolfgang von Goethe, DAS AUGE

„Wenn ein Maler behauptet, er male die Dinge, wie er sie sehe, kann man sicher sein, dass er sie falsch sieht. Er wird sie nach seinen unrichtigen Vorstellungen wiedergeben und ein schlechtes Bild produzieren. Bevor er Bleistift oder Pinsel zur Hand nimmt, muss er sein Auge darauf einstellen, nach den Prinzipien der Kunst zu urteilen, die uns lehren, die Dinge nicht nur so zu sehen, wie sie wirklich sind, sondern so, wie sie dargestellt werden sollen. Denn so paradox es klingt, ist es oft ein schwerer Fehler, Dinge genau so zu malen, wie man sie sieht.“ Roland Fréart de Chambray, IDÉE DE LA PERFECTION DE LA PEINTURE

Calvin: Sam: Calvin: Sam: Calvin:

„Sam! Do you know what you just did?“ „Certainly. I just showed you how clearly you misinterpreted my art.“ „You just destroyed legal evidence.“ „Calvin, it appears to me you still don’t understand.“ „I understand you made kind of a fool out of me. But I still got enough evidence to know something funny’s going on.“ Alfred Hitchcock, THE TROUBLE WITH HARRY

„Man sollte den Malern die Augen ausstechen, wie man’s mit Distelfinken tut, damit sie besser singen.“ Pablo Picasso, WORT UND BEKENNTNIS

Das berühmte Kinderbuch DER KLEINE PRINZ von Antoine de Saint-Exupéry beginnt mit einer Erinnerung des Erzählers: einer Erinnerung an Erlebnisse und Geschichten, an Bilder und Texte sowie an die Herstellung von Bildern und deren Interpretation. „Als ich sechs Jahre alt war“, so beginnt der Erzähler seine Geschichte, „sah ich einmal in einem Buch über den Urwald, das ,Erlebte Geschichten‘ hieß, ein prächtiges Bild. Es stellte eine Riesenschlange dar, wie sie ein Wildtier verschlang. In dem Buche hieß es: ,Die Boas verschlingen ihre Beute als Ganzes, ohne sie zu zerbeißen. Daraufhin können sie sich nicht mehr rühren und schlafen sechs Monate, um zu verdauen.‘ Ich habe damals viel über die Abenteuer des Dschungels nachgedacht, und ich vollendete meine erste Zeichnung. Meine Zeichnung Nr. 1. […] Ich habe den

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Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT großen Leuten mein Meisterwerk gezeigt und sie gefragt, ob ihnen meine Zeichnung nicht Angst mache. Sie haben mir geantwortet: ,Warum sollen wir vor einem Hute Angst haben?‘ Meine Zeichnung stellte aber keinen Hut dar. Sie stellte eine Riesenschlange dar, die einen Elefanten verdaut. Ich habe dann das Innere der Boa gezeichet, um es den großen Leuten deutlich zu machen. Sie brauchen ja immer Erklärungen. […] Die großen Leute haben mir geraten, mit den Zeichnungen von offenen oder geschlossenen Riesenschlangen aufzuhören und mich mehr für Geographie, Geschichte, Rechnen und Grammatik zu interessieren. So kam es, dass ich eine großartige Laufbahn, die eines Malers, bereits im Alter von sechs Jahren aufgab. [...] Wenn ich jemanden traf, der mir ein bisschen heller vorkam, versuchte ich es mit meiner Zeichnung Nr. 1, die ich gut aufbewahrt hatte. Ich wollte sehen, ob er wirklich etwas los hatte. Aber jedesmal bekam ich zur Antwort: ,Das ist ein Hut.‘ [...] Ich blieb also allein, ohne jemanden, mit dem ich wirklich hätte sprechen können, bis ich vor sechs Jahren einmal eine Panne in der Wüste Sahara hatte“,

wo dem Erzähler, überraschenderweise, ein „kleines, höchst ungewöhnliches Männchen“ erscheint – mit der angesichts ihrer gemeinsamen Situation nicht weniger überraschenden Bitte, ihm ein Schaf zu zeichnen. „Da ich nie ein Schaf gezeichnet hatte, machte ich ihm eine von den einzigen zwei Zeichnungen, die ich zuwege brachte. Die von der geschlossenen Riesenschlange. Und ich war höchst verblüfft, als ich das Männchen sagen hörte: ,Nein! Nein! Ich will keinen Elefanten in einer Riesenschlange. Eine Riesenschlange ist sehr gefährlich und ein Elefant braucht viel Platz. Bei mir zu Hause ist wenig Platz. Ich brauche ein Schaf. Zeichne mir ein Schaf!‘ Also habe ich gezeichnet.“

Nach mehreren weiteren unzufriedenstellenden Versuchen aber – die gezeichneten Schafe sind nach Ansicht des Männchens je zu krank, zu alt, oder auch gar keine Schafe – hat der Erzähler schließlich genug von dieser Zeichnerei, die das Gewünschte doch nie zu erreichen scheint: „Mir ging die Geduld aus, es war höchste Zeit, meinen Motor auszubauen, so kritzelte ich diese Zeichnung da zusammen und knurrte dazu: ,Das ist die Kiste. Das Schaf, das du willst, steckt da drin.‘ Und ich war höchst überrascht, als ich das Gesicht meines jungen Kritikers aufleuchten sah: ,Das ist ganz so, wie ich es mir gewünscht habe. [...] Aber sieh nur! Es ist eingeschlafen ...‘“1

Diese kurze Erzählung thematisiert den Zusammenhang von Wahrnehmung (z.B. einer Zeichnung, wie sie etwa auch mit anderen Wahrnehmungen der Welt verglichen werden kann), Wissen (darüber, was diese Zeichnung darstellen soll und wie diese Darstellung funktionieren kann und umzusetzen oder zu betrachten ist) und Imagination (was in der Zeichnung sichtbar dargestellt ist – z.B. eine Kiste – und was nicht sichtbar ist und vorgestellt werden kann – ein Schaf in dieser Kiste), und an ihrem späteren Ende steht die Einsicht, dass man nur mit dem Herzen gut sehen könne: „Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“2 Das dann mit dem Herzen zu Sehende 1 2

Saint-Exupéry, Antoine de: Der kleine Prinz. Mit Zeichnungen des Verfassers, Düsseldorf 1983, S. 5ff. Ebd., S. 52.

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System und Mythos

allerdings sind dabei freilich auch keine Objekte: Hüte, Schlangen oder Schafe, sondern vielmehr andere Beobachter: Kommunikationspartner, mit denen man sich vertraut machen will, wie auch die Frage des Erzählers hinsichlich seiner Zeichnung ja primär nicht darauf abzielt, die Güte seiner zeichnerischen Fähigkeiten bestätigt zu bekommen oder den „Realismus“ der Darstellung seines Motivs, sondern darauf, jemanden zu finden, der „wirklich etwas los habe“ und mit dem er „wirklich sprechen“ könne; die Zeichnung dient in erster Linie also nicht als „getreues Abbild der Realität“, sondern vielmehr als Kommunikationsofferte, als Anlass einer Reaktion, und diese wiederum als „Indikator für die kognitive Kapazität des Beobachters“3: „Wenn wir Herrn X ein Gemälde zeigen und er dieses obszön nennt“, so Heinz von Foerster, „dann wissen wir eine Menge über Herrn X, aber sehr wenig über das Gemälde.“4 Genau diese Problemstränge von Kunst und Kritik, Konvention und Erwartung, Wahrnehmung und Kommunikation, Beobachtung und Beobachtung von Beobachtung werden nun auch in Greenaways THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT verfolgt, wenngleich freilich in gänzlich anderer Weise als bei de Saint-Exupéry und sicherlich viel weniger kindgerecht.

Bilder und Verträge, Zeichnungen und Unterzeichnungen Compton Anstey, ein herrschaftlicher Landsitz im provinziellen England des Jahres 1694. Auf einer Soirée der lokalen Adelsgesellschaft kann für die zweiwöchige Abwesenheit des Herrn des Anwesens seine Gattin, Mrs. Herbert, den ebenso gefragten wie auch arroganten Zeichner Mr. Neville dafür gewinnen, in dieser Zeit zwölf Zeichnungen des Anwesens anzufertigen, die dem wiedergekehrten Mr. Herbert zum Geschenk gemacht werden sollen. Der an diesem Auftrag zunächst demonstrativ nicht interessierte Zeichner stellt dafür allerdings ausgesprochen hohe Bedingungen – neben einem stolzen Preis von acht Pfund pro Zeichnung und voller Kost und Logis zudem die unbedingte Verfügung sowohl über das zu zeichnende Anwesen gemäß bestimmter curricula5 als auch über Mrs. Herberts Körper gemäß Mr. Nevilles nur zu rücksichtsloser sexueller Vorlieben. Diese Konditionen werden durch Mrs. Herberts Vertrauten Mr. Noyes vertraglich festgehalten, wie auch später noch (nachdem Mrs. Herbert zwischenzeitlich ohne 3 4 5

Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 75. Foerster: Zukunft der Wahrnehmung: Wahrnehmung der Zukunft, S. 5. Wie einen zu portraitierenden Menschen will Mr. Neville, dessen zeichnerische Bildproduktion ja wesentlich länger dauert als die 1/50 Sekunde Belichtungszeit moderner Filmkameras, die gesamte Landschaft zum Stillhalten zwingen, und genau wie der Naturalist in Greenaways experimentellem home movie H IS FOR HOUSE sechs Jahre vor THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT unternimmt er mit dem Sonnenstand der Tageszeiten eine Rundreise um das Anwesen; von 7-9 Uhr morgens arbeitet er an der Ansicht der Stallungen, von 9-11 Uhr vormittags an der Ansicht des Gartens, von 11-13 Uhr mittags an der Ansicht des Waschhauses etc., wobei zu diesen Zeiten in den entsprechenden Bereichen des Anwesens niemand anwesend und nichts bewegt oder verändert werden darf (und allenfalls grasenden Schafen gestattet wird, mit ihrem Grasen fortzufahren).

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Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT

Erfolg auf eine Aufhebung des Vertrages drängt) ein Folgevertrag zwischen Mr. Neville und Mrs. Herberts Tochter Mrs. Talmann abgeschlossen wird – mit der einen Änderung und Umkehrung der vertraglichen Verhältnisse, dass für jede noch anzufertigende Zeichnung diesmal Mr. Neville zu Mrs. Talmanns sexueller Unterhaltung dienen soll; eine Bedingung, in die dieser aber nur zu gerne einwilligt. Unmittelbar nach Fertigstellung der Zeichnungen aber wird just am Tag von Mr. Nevilles Abreise Mr. Herberts Leiche im Wassergraben des Anwesens aufgefunden. Mr. Noyes, der gegenüber Mrs. Herbert eine Verschwörung gegen ihn vermutet, welche ihn des Mordes an seinem einstmaligen Freund und nachmaligen Rivalen beschuldigen soll, erpresst von ihr die Zeichnungen im Austausch gegen den Vertrag und organisiert eine Versteigerung der Zeichnungen – angeblich, um in Mrs. Herberts Auftrag mit dem Erlös eine Gedenkstatue des Verstorbenen zu finanzieren. Nach einer Woche kehrt Mr. Neville nach Compton Anstey zurück und bietet Mrs. Herbert offenbar aus Zuneigung und Schuldbewusstsein an, eine dreizehnte Zeichnung anzufertigen, deren Motiv bei der ursprünglichen Auswahl verworfen worden war, woraufhin Mrs. Herbert, sehr zu Mr. Nevilles Freude, auch eine weitere Zusammenkunft vorschlägt: „outside of a contract ... to our mutual satisfaction“. Nach ihrem Schäferstündchen aber eröffnet Mrs. Herbert zusammen mit ihrer hinzukommenden Tochter Mr. Neville, dass ihre jeweiligen Verträge in erster Linie weder seinen Fähigkeiten als Künstler noch als Liebhaber geschuldet seien, sondern angesichts der Kinderlosigkeit von Mrs. Talmanns Ehe mit einem offenbar impotenten Gatten vielmehr der Zeugung eines nach Mr. Herberts Ableben unbedingt notwendigen (männlichen) Erben dienten, auf welchen nach Verfügung des Verstorbenen alleine Compton Anstey übergehen kann. Während Mr. Neville später dann an seiner letzten Zeichnung arbeitet, wird er von den maskierten Herren der Gesellschaft umzingelt, die ihm unterstellen, nur zurückgekehrt zu sein, um von Mrs. Herbert einen „Zusatzvertrag“ zu seinem „original contract“ zu erpressen: „a codicil of a more permanent nature than the last one – a lasting contract with a widow“, worauf sie ihrerseits einen aus drei Artikeln bestehenden „Vertrag“ mit dem Zeichner aufsetzen, der erstens seine Blendung, zweitens seine Entkleidung und drittens seinen Tod vorsieht. Mr. Neville wird erschlagen und an derselben Stelle in den Wassergraben geworfen, an der auch Mr. Herbert aufgefunden wurde: die Herren der Gesellschaft haben ihren vermeintlichen Konkurrenten ausgeschaltet und die Damen den Mitwisser und nützlichen Idioten ihres Plans beseitigt.

Eigentum und Repräsentation Das erste der zahlreichen Rätsel von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT (von denen ein Gutteil sich auch niemals klären lassen wird) liegt bereits schon im Motiv für Mrs. Herbert, auf Mr. Nevilles selbsteingestandenermaßer „exorbitante“ Forderungen überhaupt einzugehen. Warum ist es für sie so „most important“, die zwölf Zeichnungen des Hauses zu bekommen? Weshalb, so fragt auch Neville selbst, ist sie so „excessively keen to have this house down

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on paper“?6 Mrs. Talmann jedenfalls verortet den Grund für ihrer Mutter Drängen zunächst in deren Hoffnung auf eine Versöhnung der einander entfremdeten Gatten, für welche Mr. Neville „the instrument of a hopeful reconciliation“ darstellen soll, indem er ein Bildnis davon macht, was Mr. Herbert am meisten auf der Welt am Herzen liegt: von seinem Besitz nämlich, um so über die spezifische empfindliche Stelle seines Standes wieder Zugang zu ihm herzustellen: „the obsession of the landed classes with expensive displays of wealth and status“7, die sich vor allem eben in den Anwesen der country houses und ihrer Gärten niederschlug. „Der Adel stellte seine beherrschende Position in Gesellschaft und Politik architektonisch dar und versuchte, sie der Natur als Stempel aufzudrücken. Durch Landschaftsgestaltung, der manchmal ganze Dörfer zum Opfer fielen, wurde für Bewohner und Besucher von country houses geschickt der Eindruck eines grenzenlosen Besitztums geweckt. [...] Wordsworth hat die adlige Umgestaltung der natürlichen Umwelt in dem treffenden Bild wiedergegeben, das ganze Land werde in eine Adelslivree gezwängt. Der Adel mit seiner Macht wurde gleichsam in die Natur eingelassen; seine Herrschaft sollte dadurch natürlich und selbstverständlich erscheinen.“8

Es soll bei Nevilles Zeichungen also um Repräsentation in einem weiten Sinne gehen9, oder vielmehr sogar um die Repräsentation von Repräsentation: einerseits um eine (künstlerische) Darstellung des Anwesens in einer Zeichnung, andererseits um die (soziale) Darstellung einer Person durch ihren Besitz, und, da diese künstlerische Darstellung dieses Besitzes selbst Teil dessen ist, was sie auch darstellt, um die Selbstdarstellung der Person durch eine Selbstdarstellung ihres Besitzes – für den reputationsbewussten Edelmann der Frühen Neuzeit, welcher „gar nicht seinem Rang gemäß leben [konnte], ohne sich um Kunst zu kümmern und Künstler ins Brot zu setzen“ 6

7 8 9

Womit übrigens ganz zu Beginn des Films schon offen bleibt, ob damit Nevilles Zeichnungen oder ein entsprechender Eintrag im Grundbuch gemeint ist – die Zeichnungen sind immerhin ebenso „in black and white“ wie die aufgesetzten Dokumente auch. Coward, Barry: The Stuart Age. A History of England 1603-1714, London / New York (NY) 1980, S. 41. Schröder, Hans-Christoph: Englische Geschichte, München 2000, S. 39f. In der historisch wie disziplinär wie einzelsprachlich sehr unterschiedlichen Bedeutungs- und Verwendungsvielfalt des Begriffes kann „Repräsentation“ sowohl „Vorstellung“ als auch „Darstellung“, „Abbild“, „Bild“, „Bezeichnung“, „Vermittlung“ oder „Stellvertretung“ meinen oder auch das Verhältnis eines Anwesenden zu einem Abwesenden, eines Verfügbaren zu einem Entzogenem, eines Wahrnehmbaren zu einem Nichtwahrnehmbaren, eines Materiellen zu einem Ideellen, eines Bezeichnenden zu einem Bezeichneten, einer Kopie zu einem Original, einer Wirkung zu einer Ursache oder eines Teils zu einem Ganzen bezeichnen, so dass, so Eckart Scheerer, statt einer einheitlichen Definition eher ein „Wortfeld“ oder ein „Sinnbezirk der Repräsentation“ zu konstatieren ist (Behnke, Klaus / Haller, Benedikt / Meier-Oeser, Stephan / Scheerer, Eckart / Scholz, Oliver R.: Eintrag „Repräsentation“, in: Ritter / Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8, Basel 1992, Sp. 790-853, Sp. 790). Vgl. auch Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 500.

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(ohne dabei allerdings für fundierte kunstkritische Beurteilungen unbedingt auch kompetent sein zu müssen10), ist in diesem Sinne alle Kunst immer Gebrauchskunst11. Da der soziale Stand einer Familie der gentry eben nicht „naturgegeben“ ist (obwohl er, wenn einmal erreicht, natürlich gern so dargestellt und „naturalisiert“ wird), muss er ständig immer neu bekräftigt werden – er rührt nicht von Blut und Ahnen her, sondern vielmehr von Eigentum und Ansehen: „Die Zugehörigkeit einer Familie zum Kreis der Personen von Stand ist an zwei Kriterien gebunden: Unabhängigkeit und Reputation. Independent im gesellschaftlichen Sinne ist, wer von den Einkünften seines Landbesitzes – nicht etwa aus Kapitalerträgen – ohne eigene Arbeit leben kann. Reputierlich ist eine Familie, wenn sie von den anderen Familien von Stand in der Grafschaft als gleichrangig akzeptiert wird. Das Wappenamt nimmt offiziell keine Standes-erhöhung vor, sondern bestätigt nach Überprüfung der Familie und ihrer Geschichte die schon bestehende Zugehörigkeit durch die Erteilung des Rechts, ein Wappen zu führen. Das typische Verfahren der Tudors, das die Monarchen auch bei ihrem eigenen Mythos anwenden, nämlich zu neuern, indem man die Vergangenheit uminterpretiert und das Neue als konsequente Fortführung des Alten ausgibt, ist auch bei Wappenverleihungen gang und gäbe.“12

Wiewohl also keine wirkliche Ahnenprobe durchgeführt wurde, so war, wie auch Mr. Neville anmerkt, eine gewisse „edifying family connection“ wo nicht obligatorisch (etwa für höhere Ämter in der Regierung oder bei Hofe), so doch dem symbolischen Kapital des Renommees zumindest förderlich, ließ sich praktischerweise aber selbst in Ermangelung einer entsprechenden Linie durch eine invention of tradition13 gewissermaßen einfach nachliefern: „Pride in paternal ancestry“, so Anthony Fletcher, „led gentry into fiction, inventing a fantasy world of heraldic profusion“, und die solchermaßen erfundenen Familienstammbäume gingen dann zurück auf die Normannischen Eroberer, die Römer, die Trojaner, ja selbst bis auf den biblischen Erzvater Noah14. Ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zum englischen Adel aber war, im Unterschied zum restlichen Europa (und damit auch sehr gegen die Überzeugungen des Deutschen Mr. Talmann), eben nicht die Frage blutsmäßiger Herkunft, sondern vielmehr diejenige nach Eigentum15, und 10

11 12 13 14 15

Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 265, 417ff., 435; Sharpe, James A.: Early Modern England. A Social History 1550-1760, London 1987, S. 114, 137. Mrs. Clements ausgesprochen vermögender Schwiegervater etwa, so erfährt man, sammelt zwar, habe dabei aber weder Kunstgeschmack noch –kenntnis („no perspicacity, no knowledge“). Vgl. Suerbaum, Ulrich: Das elisabethanische Zeitalter, Stuttgart 1989, S. 310. Ebd., S. 359ff. Vgl. Hobsbawm, Eric: Inventing Traditions, in: ders. / Ranger, Terence: The Invention of Tradition, Cambridge 1992, S. 1-14. Fletcher, Anthony: Gender, Sex and Subordination in England 1500-1800, New Haven (CT) / London 1995, S. 127. Schröder: Englische Geschichte, S. 41. Dies bezeichnet dann auch eine Besonderheit der englischen Gesellschaftsstruktur, nämlich die vergleichsweise hohe Durchlässigkeit sozialer Schranken. Klagt Mr. Talmann seine Gattin an, sich

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zwar vor allem Eigentum an Land – „die englische gentry ist immer landed gentry“16 –, und lässt sich der Barry Coward zufolge für die englische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts wichtigste Unterschied von gentlemen und nongentlemen17 entsprechend an der Unterscheidung von Eigentümern und Eigentumslosen festmachen18, so derjenige von Männern und Frauen (so zumindest Greenaways Film) an der Unterscheidung von Eigentümern und deren Eigentum. Wie Mrs. Pierpont gegenüber Mr. Noyes erklärt: Mrs. Piepont:

Mr. Noyes: Mrs. Piepont:

„You are here on merit, a characteristic that the rest of the company does not share - being here merely to express confidence in one another’s money.“ „Madam, you are one of the company.“ „My meretricious conduct in the company of Mr. Seymour has earned my invitation. I am strictly not of the company, but a part of its property“,

wie auch die Besitztümer Mr. Herberts von seiner Tochter dem ihnen zugemessenen Stellenwert entsprechend aufgezählt werden: „A house, a garden, a horse, a wife – the preferential order.“ Stellt dies nun sicherlich ein überzeichnetes Bild des englischen Patriarchats des 17. Jahrhunderts dar, da Frauen, wie untergeordnet und benachteiligt ihre Position auch immer war, durchaus nicht als „Besitz“ betrachtet wurden19, so kannte das englische Recht in Hinblick auf den Status der Frau allerdings die Unterscheidung von unverheirateter feme sole und verheirateter feme covert, wie William Blackstone 1765 in seinen COMMENTARIES ON THE LAWS OF ENGLAND vermerkt:

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mit Mr. Neville mit dem Sohn eines Pachtbauern gegen ihn zu stellen („you side with a tenant-farmer's son against your husband“ – eine für einen Deutschen unvorstellbare Verletzung der Standesgrenzen!), so erinnert Mrs. Talmann ihn daran, dass er selber die Enkelin eines Marketenders geheiratet habe – die Herberts sind also selbst in ihrem Herkommen durch den „taint of trade“ befleckt, der sich allerdings durch die gesellschaftspezifische „easy conversion of wealth into blood and vice versa“ doch immerhin verdecken lässt (Macfarlane, Alan: Marriage and Love in England. Modes of Reproduction 1300-1840, Oxford 1986, S. 257, 260). Suerbaum: Das elisabethanische Zeitalter, S. 361. Coward: The Stuart Age, S. 40. Schröder: Englische Geschichte, S. 41. „,The fundamental principle‘“, so Alan Macfarlane, „was that the husband, during marriage, became his wife’s guardian. She became neither subsumed into him, nor merely his ,thing‘ or chattel.“ (Macfarlane: Marriage and Love, S. 288.) Das Verhältnis von Ehemann und Ehefrau entspreche demjenigen von König und Untertan, Herr und Knecht oder auch Vater und Kind: „A clear subordination of wives to husbands provided the model for all relationships between men and women“, so Susan Dryer Asmussen, wobei aber „the model was of benevolent patriarchy, not authoritarian government“: „their independence may have been limited, but [wives] were no slaves.“ (Amussen, Susan Dwyer: An Ordered Society. Gender and Class in Early Modern England, Oxford 1988, S. 39, 60, 95.)

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Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT „By marriage, the husband and wife are one person in law: that is, the very being or legal existence of the woman is suspended during the marriage, or at least is incorporated and consolidated into that of the husband: under whose wing, protection, and cover, she performs every thing; and is therefore called in our lawFrench a feme-covert; is said to be covert-baron, or under the protection and influence of her husband, her baron, or lord; and her condition during her marriage is called her coverture. [...] For this reason, a man cannot grant any thing to his wife, or enter into covenant with her: for the grant would be to suppose her separate existence; and to covenant with her, would be only to covenant with himself.“20

Mit ihrer Eheschließung also gab die Frau ihren Status als eigenständige rechtliche Person mitsamt sämtlicher ihrer Besitzrechte auf – „by law women did not even own their clothes“21 –, und wenn auch Alan Macfarlane die Situation der Ehefrau mit Hinweis auf die Wahrung ihrer Eigentumsrechte und die zeitliche Beschränkung der couverture auf die Dauer ihrer Ehe vielleicht in ein etwas besseres Licht rücken mag – „when [a wife] became a widow she re-emerged relatively free and independent“22 –, so stellte eine Verwitwung doch zugleich die praktisch einzige Perspektive auf eine „DeCouvrierung“ dar, da die Möglichkeit einer Ehescheidung durch die Anglikanische Kirche ausgeschlossen war23. Es sollte also unter diesen Umständen für Mrs. Herbert, von deren Seite das Eigentum an Compton Anstey herrührt, eigentlich auch keinen Grund geben, nach dem Tode ihres Mannes nicht als merry widow aufzutreten oder das Anwesen auch ihrerseits an ihre Tochter zu übertragen24, hätte Mr. Herbert nicht als Erben Compton Ansteys (erbrechtlich unüblicher- und eigentumsrechtlich vermutlich völlig illegalerweise25) ausdrücklich weder seine Frau noch seine Tochter, sondern einen hypothetischen zukünftigen Enkelsohn eingesetzt („Mr. Herbert does not believe in a woman owning property“, so Mrs. Herbert), als dessen Vormünder seine Eltern dann fungierten – eine gerade angesichts der Impotenz von Mr. Talmann durchaus riskante Verfügung, so dass zu Recht auch Mr. Neville nachfragt, was denn bei Ausbleiben eines Enkelsohns geschähe, was Mrs. Herbert aber nur sehr ausweichend beantwortet: „I don’t like to think of it“ – womit dieses Problem im Film dann auch nicht länger diskutiert 20 21 22 23 24

25

Blackstone, William: Commentaries on the Laws of England. Band 1, London / Sydney 2001, S. 339. Amussen: An Ordered Society, S. 49, 72. Macfarlane: Marriage and Love in England, S. 288. Vgl. Amussen: An Ordered Society, S. 39, 57. Vgl. Goody, Jack: Inheritance, property and women: some comparative considerations, in: ders.: / Thirsk, Joan / Thompson, E.P. (Hg.): Family and Inheritance. Rural Society in Western Europe 1200-1800, Cambridge / London / New York (NY) / Melbourne 1978, S. 10-36, S. 12. Mrs. Herberts Schwiegersohn dagegen kann, wie man erfährt, seine ehebrüchige Frau dagegen nicht verstoßen, ohne dabei auch seine Ansprüche auf Compton Anstey zu verlieren – wobei umgekehrt übrigens gerade seine Impotenz für Mrs. Talmann durchaus ein einschlägiger Grund zur Annullierung ihrer Ehe wäre (vgl. Amussen: An Ordered Society, S. 57). Vgl. Goody: Inheritance, property and women, S. 10ff.; Macfarlane: Marriage and Love in England, S. 288f.; Amussen: An Ordered Society, S. 57, 70ff.

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zu werden braucht und dem Zuschauer nichts übrigbleibt, als die wie immer fragwürdige Regelung so einfach hinzunehmen26. Ist diese Problemstellung aber ihrer beträchtlichen Implausibilität zum Trotze einmal akzeptiert, so kommt der Zuschauer im Folgenden in den Genuss, beobachten zu können, wie das Problem im Weiteren gelöst wird – auf Kosten Mr. Nevilles nämlich.

„Es ist besser, ein Mensch sterbe ...“ (Joh 11, 50) Mr. Nevilles Rolle in der Gesellschaft Compton Ansteys ist die eines snobs im Doppelsinn des Wortes27, der sich einerseits als gemeiner Emporkömmling durchaus am Adel und an dessen Habitus orientiert, andererseits allerdings auch keine Gelegenheit auslässt, durch sein impertinentes Verhalten seine adligen, ihm freilich nach eigener Einschätzung an Geschmack und Geist aber unterlegenen Gastgeber zu provozieren (und dabei vor allem Mr. Talmann, mit dem er sich „on drawing, on horticulture, the Roman church, childbearing, the place of women in English life, the history and politics of Lübeck and the training of dogs“ zahlreiche Wortgefechte liefert). Dabei wird allerdings schon visuell sehr deutlich, dass Mr. Neville von Beginn an eine Außenseiterposition einnimmt – und beibehält: während sämtliche Bewohner des Anwesens zunächst in weiß gewandet sind, trägt Mr. Neville schwarz, bis dass er drei Tage nach Mr. Herberts Beisetzung in strahlendem Weiß in Compton Anstey auftritt, wo inzwischen natürlich Trauer getragen wird. Diese Rolle des Außenseiters aber qualifiziert Mr. Neville dann, wie von Mrs. Talmann schon in den ersten Minuten des Films in aller Klarheit ausgesprochen wird („if that frightens you, mother, we could lay the blame on Mr. Neville“), zudem für diejenige des Sündenbocks, und um genau zu sein, des Sündenbocks im präzisen Sinn René Girards28. In THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT finden sich genau die spezifischen vier Stereotypen, die nach Girard die „Verfolgungsgeschichte“ eines Sündenbocks konstituieren, nämlich eine „entdifferenzierende“ ordnungsbedrohende Krise (die zerrüttete Ehe der Herberts und die Kinderlosigkeit der Talmanns, die die Zukunft der familialen Linie fraglich werden lassen), 2. ein ebenso „entdifferenzierendes“ Verbrechen (der Mord an Mr. Herbert, der die ohnehin in ihrem Fortbestand bedrohte Familie enthauptet, dessen Täterschaft ungeklärt ist und der in Abwesenheit eines männlichen Erben die Zukunft Compton Ansteys fraglich macht), 1.

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27 28

Womit weitere Nachfragen blockiert und einige logische Löcher der Erzählung auch kaschiert werden. Wenn etwa Mrs. Herbert nach dem Tod ihres Mannes weder ihr Besitzrecht zurückerhalt noch auch sonstwie erbberechtigt oder wenigstens vermögend ist – „I have no money“, wie sie auf Mr. Noyes‘ Erpressungsversuch entgegnet –, was sollte sie dann, sei’s für Mr. Noyes oder Mr. Neville, als potentiellen Ehepartner attraktiv machen? Vgl. Eintrag „snob“, in: Simpson, John / Weiner, Edmund (Hg.): The Oxford English Dictionary. Second Edition. Band 15, Oxford 1989, S. 860. Girard, René: Der Sündenbock, Düsseldorf / Zürich 1998.

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Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT

die „Opferselektion“ (des zu beschuldigenden und verantwortlich zu machenden Fremdlings, gemeinen Emporkömmlings und sozialen Außenseiters Mr. Neville als genau dem „Paria“, als den auch Mr. Talmann ihn bezeichnet) sowie 4. der Gewaltakt eines „Kollektiv-“ und „Gründungsmords“ (den die ihre Position bedroht sehenden Herren der Gesellschaft gemeinschaftlich an Mr. Neville verüben, während sein Kind, wenn es auch als solches niemals anerkannt werden wird, die Linie der Herbert-Talmanns fortsetzen wird)29, 3.

welche zusammengenommen den von Girard sogenannten „Sündenbockmechanismus“ aktivieren: „Die nicht vorhandene oder durch den Sündenbock beinträchtigte Ordnung wird wiederhergestellt oder neu hergestellt, und zwar vermittelt durch denjenigen, der sie gestört hatte. [...] Der Transgressor verwandelt sich in einen Erneuerer, ja Gründer der von ihm quasi vorwegnehmend übertretenen Ordnung. Der oberste Delinquent verwandelt sich in eine Stütze der Gesellschaft“30,

so wie in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT aus der instabilen Anfangssituation zweier zerrütteter Ehen ohne männlichen Erben in einer vor allem durch Konkurrenz und Intriganz charakterisierten Gesellschaft sich am Ende des Films durch Auftritt, Wirken und Abtritt des die soziale Ordnung zunächst in Frage stellenden Mr. Neville eine veränderte und restabilisierte Situation ergeben hat, in der • • •

(über Mr. Herberts Leiche hinweg) Mr. Noyes endlich Mrs. Herbert heiraten kann, die ihm ja einstmals schon versprochen war, (über Mr. Nevilles Leiche hinweg) die Talmanns endlich zu einem Erben kommen sowie die ansonsten offenbar zu jeder Intrige gegeneinander bereiten Mr. Talmann, Mr. Noyes, Mr. Seymour und die beiden Poulencs in ihrer Komplizenschaft im Mord an Mr. Neville „einen auf Kosten des Opfers gefestigten sozialen Pakt“ eingehen, in dem ihre „mimetische Rivalität“ hinsichtlich der Herrschaft über Compton Anstey endlich beigelegt wird31.

Ohne für die „äußeren Ursachen“ der Krise verantwortlich zu sein (er hat den Mord an Mr. Herbert sicher nicht begangen und ist sicherlich auch weder für die Eheprobleme der Herberts noch für die Kinderlosigkeit der Talmanns zu verantworten), wirkt Mr. Neville doch bedeutend auf die sozialen Beziehungen innerhalb der betroffenen Gesellschaft ein (er adressiert sehr genau die zumeist durch Missgunst geprägten Verhältnisse der Beteiligten untereinander, wie er andererseits aber auch für die Bildung neuer Allianzen sorgt) – er ist so „Träger der Ordnung, weil Verursacher des Chaos“, der

29 30 31

Vgl. ebd., S. 38. Ebd., S. 66. Ebd., S. 123, 134.

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„eine wahrhafte Rückkehr der in der Krise in Frage gestellten Ordnung“ erst ermöglicht32. Am Anfang also, wie sich mit Girard und Luhmann sagen ließe, war der Mord33 – der kollektiv begangene „Gründungsmord“ der neuen Ordnung Compton Ansteys am angeblichen Mörder Mr. Neville, der gleichwohl nie ans Licht gelangen darf und dessen (zeichnerische) Spuren daher auch getilgt werden34, dessen Wirkungen die neugewonnene Ordung aber ebenso ermöglichen wie stabilisieren – der Mord am Sündenbock ist so der „blinde Fleck“ der durch sein Opfer ermöglichten Gesellschaft35, ein weiterer Violent Unknown Event gewissermaßen, wenn nach Girard „die menschliche Kultur dazu verurteilt ist, ihre eigenen Ursprünge aus der kollektiven Gewalt immerwährend zu verschleiern“36. Wenngleich also der Mord an Mr. Neville ebensowenig gesühnt werden wird wie der Mord an Mr. Herbert jemals aufgeklärt, so kann zumindest Greenaway noch eine Parallele zum murder mystery à la Agatha Christie ziehen, wenn die Täterschaft in beiden Mordfällen eventuell dieselbe ist: „For me, everybody was responsible, because everybody has reason to gain from the death of Mr. Herbert. So, like the MURDER ON THE ORIENT EXPRESS, everybody is guilty.”37

Es gibt, so ließe sich zusammenfassend auf den plot der Frauen schließen, auf Compton Anstey also einen Mann zu viel und einen zu wenig: Die Lösung der Probleme der zerütteten Ehe Mrs. Herberts ist der Gattenmord, für den sie Mr. Neville verantwortlich machen, die Lösung für die Probleme der kinderlosen Ehe Mrs. Talmanns ist der Ehebruch, den sie mit Mr. Neville vollziehen kann; der Schlüssel dieser doppelten Intrige gegen den Zeichner aber liegt in dessen Zeichnungen.

Kunst und Technik Auf Mrs. Talmanns Nachfrage beschreibt Mr. Neville seine method of working folgendermaßen: „I try very hard never to distort or to dissemble“, vielmehr versucht er gewissenhaft, gewissermaßen proto-photograpisch genau das und nur das zu zeichnen, was er sieht: „I’m painstaking enough to notice quite small changes in the landscape. Once started, I make that a committal – whatsoever ensues“, so dass ihm Mr. Seymours Anfrage beim Betrachten der fertigen Zeichnungen auch wie ein Affront erscheinen muss:

32 33 34 35 36 37

Ebd., S. 66, 68, 123. Luhmann: Anfang und Ende, S. 19. Girard: Der Sündenbock, S. 137, 148. Vgl. ebd., S. 64, 152. Ebd., S. 148. Jaehne: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT, S. 27.

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Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT Mr. Seymour:

Mr. Neville: Mr. Seymour: Mr. Neville:

„Your drawings are full of the most unexpected observations, Mr. Neville, and looking at them is akin to pursuing a complicated allegory. Are you sure this ladder was there?“ „Indisputably.“ „And what’s this? It looks like ...“ „Whatever it is, it was there.“

Von jeglichem Gedanken einer wie immer gearteten Allegorisierung weit entfernt, nimmt Mr. Neville für seine Zeichnungen nicht nur den höchsten „Realismus“ in Anspruch, sondern zudem auch das, was Roland Barthes gerade in ausdrücklicher Unterscheidung von der „Moralität“ der Zeichnung als das „Noema der Photographie“ bezeichnet: ihr „Bewusstsein des Dagewesenseins“ des „photographischen Referenten“, ihr beglaubigendes, erfindungloses „Es-ist-so-gewesen“ – während Malerei und Zeichnung ja auch solche Realitäten fingieren könnten, die sie tatsächlich nie gesehen haben38. Dabei läuft Mr. Nevilles gewissermaßen als Photographie vor der Photographie intendierte Bilderproduktion, mit Friedrich Kittler, zwar noch immer über die „zwei Zwischenstationen von Menschenauge und Menschenhand“ und bleibt damit (in lacan’schen Begriffen) als immer Imaginäres in die Bilder miteinführende und ohnehin ja im Symbolischen fundierte Kunst zwar hinter der subjektlosen Speicherung eines Reellen durch technische Medien zurück39, bedient sich aber zur Minimierung des imaginären Anteils bei der Erfassung der zu zeichnenden Ansichten einer Empfehlung Leon Battista Albertis: „Ich bin überzeugt“, so Alberti, „dass zum guten Gelingen der Umschreibung sich nichts Geeigneteres finden lässt als jenes Velum, das ich in meinem Freundeskreis Schnittfläche zu nennen pflege. Dabei handelt es sich um Folgendes: Es ist ein hauchdünnes Tuch aus losem Gewebe, nach Belieben gefärbt, und mit etwas dickeren Fäden in eine beliebige Anzahl von Parallelen unterteilt. Dieses Velum stelle ich zwischen das Auge und den gesehenen Gegenstand, und zwar so, dass die Sehpyramide das lose Gewebe des Tuches durchdringt.“40

Als Weiterentwicklung von Albertis „Velum“, Leonardo da Vincis „Netzrahmen“ oder auch Albrecht Dürers „Pförtchen“ benutzt Mr. Neville eine „Dioptavisur“, d.h. als technische Visiervorrichtung eine „Absicht“41, um ihren Benutzer der Mühe der Gestalterkennung zu entheben, wie Ernst Gombrich die Funktionsweise des Geräts beschreibt:

38 39 40 41

Barthes: Rhetorik des Bildes, S. 39; ders.: Die helle Kammer, S. 86f. Kittler: Optische Medien, S. 155f. Alberti, Leon Battista: Della Pittura. Über die Malkunst. Hg. von Oskar Bätschmann und Sandra Gianfreda, Darmstadt 2002, S. 115. Sturm, Eva: Weiße Tücher, weiße Tasche, weiße Karte. Absicht und Absichtslosigkeit bei Peter Greenaway, Andreas Karner und Lewis Carroll, in: Kunstforum International 152(2000), S. 152-161, S. 152.

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System und Mythos „Der leicht überblickbare Maßstab des Netzes ermöglicht es ihm, jene Deutungs- und Prüfungsprozesse auszuschalten, die mit dem Formenverstehen unlösbar verbunden sind. Statt eines Hauses wird er jetzt Quadrate sehen, die mit grauem und rotem Pigment ausgefüllt sind.“42

Der 200 Jahre später durch Maurice Denis formulierten Einsicht entsprechend, dass „seinem Wesen nach [...] ein Bild, ehe es ein Schlachtross, ein Frauenakt oder irgendeine Anekdote ist, eine ebene Fläche [ist], welche in bestimmter Ordnung zusammengestellte Farben bedecken“43, zerlegt Mr. Nevilles Apparat – im Unterschied zur photographisch-analogen Filmkamera!44 – in einer „Technisierung“45 seiner Wahrnehmung also das Wahrgenommene in picture elements: in pixel (wie auch Kittler zufolge Albertis skalier- und rasterierbares fenestra aperta gewissermaßen „Ahnherr“ aller GUIs und windows sei46), so dass er statt Gestalten nurmehr Farbverteilungen gewahrt, die er unter weiterem Informationsverwurf dann wiederum in schwarze Linien und Schraffuren übersetzen kann. Dabei sieht Alberti allerdings auch schon eine Gefahr der Abhängigkeit des Künstlers von seinem Hilfsinstrument, an das er sich gefesselt hat – zu der es allerdings schlicht keine Alternative gebe: „Ich will nicht auf diejenigen hören, die da vorbringen, es gezieme dem Maler wenig, sich an solche Dinge zu gewöhnen, die ihm beim Malen zwar große Hilfe leisten, aber so unentbehrlich werden, dass du ohne sie nichts mehr zustande bringst. Ich glaube nicht, dass man von einem Maler unendlich große Mühe fordert, vielmehr erwartet man ein Gemälde, das ein ausgeprägtes Relief und Ähnlichkeit mit dem Vorbild aufweist; das ist meiner Meinung nach ohne die Hilfe des Velums unmöglich zu vollbringen.“47

Aber vielleicht ohne den Maler? Wenn etwa der erzürnte Mr. Talmann seine Gattin auf Mr. Nevilles Zeichnung #8 hinweist – „you'll look at those drawings and you'll explain to me [...] why your revolting little dog is outside the bath-house!“ – so ist dies dabei eine Szene, die Mr. Neville eigentlich gar nicht hätte beobachten können dürfen, weil er sich zu diesem Zeitpunkt selbst 42 43 44

45

46 47

Gombrich: Kunst und Illusion, S. 335. Denis, Maurice: Definition du Neo-Traditionalisme, zitiert nach: Malraux, André: Psychologie der Kunst. Das imaginäre Museum, Hamburg 1957, S. 48. In diesem Sinne macht Roland Barthes dann für die Photographie auch geltend, dass „beim Übergang vom Wirklichen zu dessen Ablichtung [...] es keineswegs notwendig [ist], dieses Wirkliche in Einheiten zu zerlegen und diese Einheiten als Zeichen zu konstituieren“, weshalb die Photographie auch in der Tat als das „Analogon des Wirklichen“ begreifbar sei (Barthes: Die Fotografie als Botschaft, S. 12ff.). Mr. Neville, könnte man vielleicht sagen, bemüht sich also nach Kräften, eine Digitalkamera zu sein. Vgl. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 197: „Technisierung soll [...] heißen, dass der Vollzug ohne allzu viel Reflexion, vor allem aber ohne Rückfrage beim Subjekt oder beim Beobachter möglich ist. In diesem Sinne bezeichnet der Technikbegriff einen Entlastungsvorgang.“ Kittler: Optische Medien, S. 70. Alberti: Über die Malkunst, S. 117.

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im Badehaus befand – zusammen mit Mrs. Talmann in der Wanne. Sollte sich sein Apparat, den man in zahlreichen weiteren Einstellungen auch ohne Mr. Neville sieht, am Ende etwa selbständig gemacht haben, um seine Bilder weiter „ohne Eingriff oder Zwischenschaltung einer Malerhand“ zu produzieren48 – ganz wie die ihn aufnehmende Filmkamera also? Es geht, um diesen Vergleich noch etwas weiter zu verfolgen, dem Zuschauer von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT dann in diesem Sinne nicht wie Mr. Neville nur um die Differenz von darstellender Zeichnung und dargestellter „Realität“, sondern zudem noch um die Differenz von dargestellter Zeichnung und darstellendem Filmbild – was vor allem dann zum Tragen kommt, wenn, in einem schon in VERTICAL FEATURES REMAKE vorgebildeten Verfahren (wo es ja ebenfalls auch um „a record of domestic landscape“ geht), zwischen der Aufnahme einer bestimmten Ansicht des Anwesens und der deckungsgleichen Aufnahme der Zeichnung dieser Ansicht hin und her geschnitten wird, so dass zwar einerseits die minutiöse Ähnlichkeit von Filmbild und Zeichnung auffällt, andererseits aber zugleich auch ihre Differenz, wenn bestimmte Details (eine Leiter, die zuvor nicht an der Wand stand, ein Hemd, das plötzlich in der Hecke hängt, ein Rock, der auf einmal dort liegt, wo vorher ein Laken war) nicht übereinstimmen, und gerade diese Differenz von Filmbild und Zeichnung stellt dann ihre Gemeinsamkeit heraus: dass nämlich beide mediale Repräsentationen von „Realität“ sind, nicht aber diese Realität selbst – so wie, nach Youssef Ishaghpour, ansonsten immer dann, wenn vom „Bild der Wirklichkeit“ die Rede ist, das „Bild“ dabei vergessen wird49, während Greenaways Filme diesem Vergessen aber gewissermaßen eine Wiedererinnerung, eine aletheia des Bildes entgegenzusetzen suchen: „I want to make and see films that acknowledge themselves as films“, so Greenaway, „and do not attempt to pretend to be slices of reality or windows on the world which are dubious and unobtainable objectives at the best of times.“50

48 49

50

Kittler: Optische Medien, S. 170. Ishaghpour, Youssef: J.-L. G., Filmemacher des modernen Lebens. Das Poetische in der Geschichte, in: ders. / Godard, Jean-Luc: Archäologie des Kinos – Gedächtnis des Jahrhunderts, Berlin / Zürich 2008, S. 85-108, S. 94. Greenaway: Cinema is far too rich and capable a medium to be left merely to the storytellers, o.S.; vgl. ders.: Fear of Drowning by Numbers, S. 7.

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System und Mythos

VERTICAL FEATURES REMAKE

THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT

Filmbilder der äußeren Wirklichkeit und Filmbilder von Zeichnungen der äußeren Wirklichkeit

Fungiert etwa Lev Manovich zufolge das Filmbild als verbindlicher Maßstab der Repräsentation von „Realität“, an dem nicht nur alle anderen Repräsentationsformen sich zu orientieren haben, sondern der nach einem Jahrhundert an Bestand und Gültigkeit überdies nicht nur als Maßstab akzeptiert wird, sondern als Realität selbst51, verwirft dagegen Ian Jarvie nicht nur die Metapher des Kinos als einem „Fenster zur Welt“, sondern zudem den Wert des Ausdrucks überhaupt: „Film resembles a window in that it seems to put before your eyes what is happening. But what is happening is not a function of what you see and hear – events are more complex than that. Things seen and heard only have sense, significance, can only be focussed, when we have background knowledge and ideas. Movies are not in any sense a window on the world, any more than what you see through a window is what has happened“52 –

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Manovich, Lev: Cinema and Digital Media, in: Utterson, Andrew (Hg.): Technology and Culture. The Film Reader, London / New York (NY) 2005, S. 27-30, S. 30. Jarvie, Ian: Seeing through movies, in: Philosophy of the Social Sciences 8(1974), S. 374-397, S. 377.

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und auch Alberti spricht von seiner fenestra aperta ja als einem Fenster, durch das betrachtet werden solle, was zu malen, nicht aber, was geschehen sei!

Unexpected Observations – C.S.I. Compton Anstey Dementgegen aber sind es gerade die differierenden (und später angeglichenen!) Details in Mr. Nevilles Zeichnungen, die dem wenn auch zunächst noch unausgesprochen bleibenden Verdacht des Mordes auf eine hintersinnige Art und Weise Vorschub leisten. Lässt sich, wie später in DROWNING BY NUMBERS weiter ausgeführt, der „watery death“ eines Todes durch Ertrinken ja durchaus sowohl als Unfall als auch als Selbstmord oder Mord erklären53, nimmt Mrs. Talmann noch vor dem Fund der Leiche diesen schon vorweg, legt die Folgerung daraus dann aber Mr. Neville in den Mund. Mrs. Talmann:

Mr. Neville: Mrs. Talmann:

„In your drawing of the North side of the house, my father's cloak lies wrapped around a figure of Bacchus. In the drawing of the prospect over which my husband turns an appreciative gaze, you will have noticed that there is unclaimed a pair of riding boots. In the drawing of the park from the East side, it is possible to see leaning against my father's wardroom a ladder usually put to use for the collecting of apples. And in the drawing of the laundry, there is a jacket of my father's slit across the chest. Do you not think that before long you might find the body that inhabited all those clothes?“ [...] „Four garments and a ladder do not lead us to a corpse.“ „Mr. Neville! I said nothing about a corpse.“

Plötzlich und ohne dass dazu ein Grund oder Verursacher bekannt wäre, tauchen in den zu zeichnenden Ansichten sonderbar verstreute Kleidungsstücke auf („someone is getting careless; the garden is becoming a roberoom“, wie Mr. Neville dazu feststellt), was zwar einerseits den curricula Mr. Nevilles zuwiderläuft, nach denen nicht einmal der Kies auf den Wegen in seiner Lage verändert werden darf, die aber, da sie andererseits nun einmal da sind, auch nicht wieder entfernt werden und so in die Zeichnungen mit eingehen. Ohne nun einen trifftigen Grund ihres Auftauchens ausmachen zu können, weist Mr. Neville ihnen jedoch auch keine weitere Bedeutung zu, bis dass auf seine Beteuerung der „Unschuld der Objekte“ („the items are innocent“) Mrs. Talmann ihm entgegnet: „Taken one by one, they could be so construed. Taken together, you could be regarded as a witness to misadventure; more than a witness; an accessory to misadventure.“

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Vgl. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 9.

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Während Mrs. Talmann so, mit Derrida, gewissermaßen eine „performative Interpretation“ von Mr. Nevilles Zeichnungen leistet, die das, was sie interpretiert, zugleich verändert54 – indem sie es nämlich überhaupt erst interpretabel erscheinen lässt, so lassen sich in dieser Interpretation dann Mr. Nevilles Zeichnungen, als Serie betrachtet, mit einem durch die gleichnamige Fernsehserie populär gemachten Begriff gewissermaßen als eine Crime Scene Investigation avant la lettre betrachten55, d.h., nach Julia Layton, als eine „purposeful documentation of the conditions at the scene [of a crime] [...] that could possibly illuminate what happened and point to who did it“ und deren Ziel es ist „to show locations of evidence and how each piece of evidence relates to the rest of the scene“56. Geht es einer Crime Scene Investigation zuvorderst also darum, mögliche Indizien festzustellen – „is there anything that seems out of place?“57 –, so liegt nach Dietrich Schwanitz deren Besonderheit im Unterschied zu „gewöhnlichen Objekten“ darin, „dass sie merkwürdig kontextlos sind und nicht in den Zusammenhang passen wollen [...]. Für sie muss deshalb ein neuer Kontext gefunden werden, eben die Lösung des Falles. [...] Die Objekte werden zu ,trouvailles‘, zu ,objets trouvés‘, die gerade durch ihre Unverbundenheit mit ihrer Umgebung dazu nötigen, neue und unvermutete Verbindungen herzustellen.“58

Die „merkwürdigen Objekte“ in Mr. Nevilles Zeichnungen werden also zu Indizien, indem sie in ein kriminalistisches emplotment eingehen59 – aber erst in ihrer Abbildung und noch vor Entdeckung des immerhin nur möglichen Verbrechens, auf das sie gleichwohl deuten könnten: •

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in den Zeichnungen #1 und 12 sind es Leitern, die zu den Fenstern von Mr. Herberts bzw. Mrs. Talmanns Zimmer führen (und Meuchelmördern ebenso wie Ehebrechern Zutritt verschaffen könnten, wobei noch Mr. Neville Mrs. Herbert und Mrs. Talmann ausdrücklich verdächtigt, die Leitern selber aufgestellt zu haben);

Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main 1995, S. 88. Ein Vergleich, den Greenaway im Zusammenhang mit seinem NIGHTWATCHINGProjekt auch selbst aufnimmt. Vgl. Greenaway, Peter: Nightwatching. A View of Rembrandt’s THE NIGHT WATCH, Rotterdam 2006, wo Rembrandts NACHTWACHE in diesem Sinne wie immer berechtigt als „comparable sinister piece of evidence“ auch mit den Zapruder-Aufnahmen des Kennedy-Attentats verglichen wird. Layton, Julia: How Crime Scene Investigation Works, zitiert nach: http://science.howstuffworks.com/csi.htm/printable (29.03.2009), o.S. Ebd. Schwanitz: Systemtheorie und Literatur, S. 44. Zum Begriff des emplotment vgl. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991, S. 19ff.; ders.: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Conrad, Christoph / Kessel, Martina (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 123-157.

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in Zeichnung #2 ist es ein Umhang Mr. Herberts, der zu den Füßen einer Statue des Bacchus gewickelt liegt (des Gottes der Weines und der Ausschweifung! – „do not drink my Claret“, so die letzten Worte Mr. Herberts an seine Gattin vor seiner Abreise zu vermutlich außerehelichen Vergnügungen); in Zeichnung #3 ist es, in seiner Metaphorizität wohl am eindeutigsten, ein über der Brust aufgeschlitzter Rock von Mr. Herbert; in Zeichnung #5 sind es Mr. Herberts Reitstiefel (die man im Bild tatsächlich gar nicht sieht), während Mr. Talmann – als einziger in sämtlichen Zeichnungen dargestellter Mensch – pfeifend die Aussicht auf das Anwesen genießt („a fine view for my son to inherit“, wie er selber sagt); in Zeichnung #6 ist es Mr. Talmanns Unterhemd, das neben einer Statue des Hermes in einem Baum hängt (des Gottes der Diebe!); in Zeichnung #7 ist es Mr. Herberts reiterlos nach Compton Anstey zurückgekehrtes Pferd (von dem gleichwohl unbegreiflich ist, wie Mr. Neville, der in seinen curricula ansonsten jedwede Bewegung untersagt, es zum Inne- und vor allem zum Stillhalten hat bewegen können); in Zeichnung #8 ist es Mrs. Talmanns Hund, der aus dem Badehaus wie ausgesperrt erscheint (und von dem gleichwohl unbegreiflich ist, wie Mr. Neville ihn hat sehen und dann zeichnen können, da er ja zu diesem Zeitpunkt innerhalb des Badehauses, nämlich zusammen mit Mrs. Talmann in der Wanne war); und in Zeichnung #9 schließlich ist es Mrs. Talmanns Sonnenschirm sowie ihre über die Büsche der Eibenpromenade verstreute Oberbekleidung (die diese für Mr. Neville wie den Zuschauer ebenso offensichtlich wie auch unbefangen selber dort verteilt hat).

Intendiert als quasi-photographische „Indices“ im Sinne Peirce’ (die sie als Zeichnungen natürlich niemals sein können), werden die gezeichneten Objekte so zu „Indikatoren“ im weiteren Sinne (die ihre spezifische Bedeutung erst im Zusammenhang mit ihrem Kontext gewinnen, in welchem sie auf eine mögliche Kausalitätsbeziehung hinweisen) und dann zu einer „Indizienkette“; Mr. Nevilles Arbeit gleicht so einer Crime Scene Investigation, deren Durchführung das in Frage stehende Verbrechen paradoxerweise erst ermöglicht, die nicht Teil der Aufklärung, sondern Teil des Verbrechens ist – und zwar gerade indem die Zeichnungen je nach Interpretation so gut wie jeden der Beteiligten belasten zu können scheinen und so am Ende sozusagen denunziatorisch genau diejenigen Verdachtsmomente ins Spiel bringen, aufgrund deren nicht der / die Täter überführt, sondern vielmehr seine / ihre Tat verschleiert und schließlich einem Unschuldigen angelastet wird – nämlich dem investigator selbst: •

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Mrs. Herbert könnte des Ehebruchs bezichtigt werden (womit ihr Mr. Noyes ja auch droht: „an adulteress with a dead husband has no reputation to relish“), genau wie Mrs. Talmann auch, während Mr. Talmann durch die Zeichnungen nicht nur als ebenso impotenter wie gehörnter Ehemann dargestellt würde, sondern zudem auch noch als Erbschleicher, und schließlich

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Mr. Neville selbst nicht nur ein Wissen um die Verhältnisse auf Compton Anstey, sondern zudem eine Verwicklung in sie und am Ende sowohl Ehebruch als auch, unter dem Motiv einer Verheiratung mit einer reichen Witwe, die Täterschaft des Mordes unterstellt werden könnte – genauso, wie es schließlich auch geschieht.

Indem sie einen Zusammenhang der Objekte als Indizien konstruiert, spricht Mrs. Talmann die Zusammenhänge der Intrige völlig offen aus: sie belastet zum einen ihre Mutter, Mr. Neville zu benutzen, um durch seine Zeichnungen den Eindruck seiner Mitwisser- oder -täterschaft am Mord an Mr. Herbert zu erwecken, und bietet zum anderen an, ihn im wiederum vertraglich festgehaltenen Gegenzuge sexueller Gefälligkeiten durch einen gegenangelegten „interpretative plot“ zu schützen. Mr. Neville aber glaubt weder an die Wahrheit des Einen noch an die Notwendigkeit des Anderen, hält seine Position für unangreifbar und erfreut sich vielmehr der Möglichkeit, jetzt mit Mutter und Tochter schlafen zu können; ja gerade einmal drei Filmminuten später wiederholt er sogar Mrs. Talmanns Interpretationsspiel in leicht modifizierter Form, wenn er gegenüber Mrs. Herbert mit Januarius Zicks ALLEGORIE AUF NEWTONS VERDIENSTE UM DIE OPTIK ein Bild erörtert, das allerdings in Unterschied zu seinen eigenen Zeichnungen als Allegorie ausdrücklich angelegt ist (und das er natürlich eigentlich gar nicht in Händen halten kann, da es erst ein knappes Jahrhundert nach seinem Tode überhaupt gemalt werden wird). Wie später über seine eigenen Absichten bei der Herstellung seiner Zeichnungen spekuliert wird, so spekuliert Mr. Neville zunächst einmal über Mr. Herberts Absichten beim Erwerb des Bildes: Mr. Neville:

Mrs. Herbert: Mr. Neville:

„Your husband surprises me with his eccentric and ecclectic taste. While most of his peers are content to collect portraits, mostly of an edifying family connection, Mr. Herbert seems to collect anything. Perhaps he has an eye for optical theory? Or the plight of lovers? Or the passing of time? What do you think? Perhaps, Madam, he has - and I would stand by him in this - an interest in the pictorial conceit? Can you see why your husband had reason to buy it?“ „It is of a garden, that is probably reason enough.“ „True, true, but what of the events that are happening within it? Shall we peruse it together? Do you see, Madam, a narrative in these apparently unrelated episodes? There is drama, is there not, in this overpopulated garden? What intrigue is here? Do you think the characters have something to tell us? Would you know, Madam, if your daughter had any particular interest in this painting? Madam, could you put a season to it? Madam, do you have an opinion? What infidelity is portrayed here? Do you think that murder is being prepared?“

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Nachdem das Gemälde zu Beginn einmal komplett im Bild gezeigt wird, isoliert dann die Kamera in einer Serie aus close-ups einige Details, die wiederum im Nacheinander sequentialisiert und in ihrer Folge dann von Mr. Neville kommentiert werden. Das Bild wird so „erklärt“, indem, mit Gotthold Ephraim Lessing, das Koexistierende in Konsekutives verwandelt wird60, oder, mit Flusser, eine Szene in einen Prozess, räumliche Verhältnisse in zeitliche, ein Bild in eine Erzählung61. Genau wie Mrs. Talmanns Interpretation von Mr. Nevilles Zeichnungen, so produziert (oder erfindet) auch Mr. Nevilles Interpretation von Zicks Gemälde eine ganz neue Bedeutung, die dann in all ihrer Suggestivität, mit Barthes, „gewissermaßen rückwirkend so sehr auf das Bild produziert wird, dass [sie] als darin denotiert erscheint“62; ein Verfahren, dass zunächst recht anstößig erscheinen, in seinem Prinzip zugleich aber auch ganz einfach der Normalfall jeder Bildbetrachtung sein mag, wenn, wiederum mit Barthes, ein jedes Bild immer nur in der Erzählung existiert, die von ihm wiedergegeben wird und so vielleicht auch nichts anderes sein mag als seine eigene vielfältige Beschreibung63 – so dass Barthes’ Ausgangsfrage, „wie der Sinn in das Bild gelangt“64, dann dahingehend zu beantworten wäre, dass der Sinn weder im Bilder „ist“ noch auch dort „hineingelangt“, sondern vielmehr vom Betrachter erst erzeugt wird – wie es kein Bild ohne Betrachter gibt65. „Ein Bild, was wir sehen“, so Ernst von Glasersfeld, „ist nicht weniger das Ergebnis eigener Handlungen, als ein Bild, das wir malen“66, so dass für das wahrnehmende Bewusstsein ebenso wie auch für alle Kunst und Medien gilt, dass sie „die Wirklichkeit“ bzw. „ihre Wirklichkeit“ nicht einfach nur beobachten oder beschreiben, sondern sie im Zuge ihrer Beobachtung und Beschreibung selbst erst hervorbringen67 – was aber eben nicht heißt, dass von dieser Wirklichkeitskonstruktion aus sei es auf die ihr selbst zugrundeliegenden Motive, sei es auf die Motive ihrer Beobachter irgend „zwingend“ rückzuschließen wäre; es ging Zick ja nun vermutlich ebensowenig um die Darstellung eines Mordes wie Mr. Neville auch.

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Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon, oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in: ders.: Werke. Hg. von Kurt Wölfel, Frankfurt am Main 1967, Band 3: Schriften II. Antiquarische Schriften – Theologische und philosophische Schriften, S. 7-171, S. 99, 106. Flusser: Kommunikologie, S. 124ff. Barthes: Die Fotografie als Botschaft, S. 22. Ders.: Ist Malerei eine Sprache?, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 157-159, S. 158. Ders.: Rhetorik des Bildes, S. 28. Vgl. Baecker, Dirk: Was wissen die Bilder, in: ders.: Wozu Soziologie, Berlin 2004, S. 65-80, S. 66. Glasersfeld, Ernst von: Konstruktion der Wirklichkeit und des Begriffs der Objektivität, in: Engell / Fahle / Neitzel / Pias / Vogl (Hg.): Kursbuch Medienkultur, S. 348-371, S. 362. Engell, Lorenz: Wahrnehmung. Zur Einführung, in: ders. / Fahle / Neitzel / Pias / Vogl (Hg.): Kursbuch Medienkultur, S. 301-307, S. 306.

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Sehen und Wissen Die zentrale Stelle von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT ist sicherlich Mrs. Talmanns direkt an ihre Erwägung der „merkwürdigen Objekte“ und ihres möglichen Bedeutungsgehaltes anschließende „kleine Ansprache“ kurz vor Ende der ersten Häfte des Films, in der die spezifischen Qualitäten und notwendigen (Selbst-) Limitationen eines Malers adressiert werden: Mrs. Talmann:

Mr. Neville:

„Mr. Neville, I have grown to believe that a really intelligent man makes an indifferent painter. A painting requires a certain blindness – a partial refusal to be aware of all the options. An intelligent man will know more about what he is drawing than he will see, and in the space between knowing and seeing, he will become constrained - unable to pursue an idea strongly, fearing that the discerning, those who he is eager to please, will find him wanting if he does not put in not only what he knows, but what they know, as well. You, Mr. Neville, if you are an intelligent man and thus an indifferent painter - will perceive that a construction such as I have suggested could well be placed on the evidence contained in your drawings. If you are - as I have heard - a talented draughtsman, then I could imagine that you could suppose that the objects I have drawn your attention to form no plan, strategem, or indictment.“ „Indictment, madam? You are ingenius. I'm allowed to be neither of the two things that I wish to be at the same time.“

Diese Passage formuliert nach Greenaway gewissermaßen die Kernfrage von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT: „Should an artist draw what he sees or draw what he knows?“68 – eine Frage, die später in THE TULSE LUPER SUITCASES anspielungsreich auch als The Draughtsman’s Conflict adressiert wird69. Sehen und Wissen sind dabei schon etymologisch eng verbunden –

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Zitiert nach: http://greenaway.bfi.org.uk/material.php?theme=2&type=Greenaway& title=draughtsman (29.03.2009), o.S. In THE TULSE LUPER SUITCASES muss sich Tulse Luper während seines Verstecks bei Madame und Monsieur Montessier 1940 in Dinard als Hausmagd verkleiden, da männliche Bedienstete nach den Verfügungen der deutschen Besatzer nicht gestattet sind; eine Verkleidung, die nur schwierig durchzuhalten ist, da zu seinen Pflichten im Hause der Montessiers auch das Modellstehen als Aktmodell gehört, wenn die Montessiers zum gemeinsamen Zeichnen Gäste eingeladen haben, für welche sich dann wiederum auch das Problem stellt, wie sie ihre Zeichnung anfertigen könnten, ohne dabei ihre Gastgeber zu verraten, an deren Tisch sie gleichwohl durchaus speisen wollen: einige zeichnen Luper als Mann (wie ihre Augen es ihnen ja deutlich sagen), andere als Frau (wie die Verordnung der Besatzer es ja vorschreibt), wieder andere, um das Problem auf diese Weise zu umgehen, als Hermaphroditen oder auch vollständig bekleidet. Dieser Widerspruch zwischen Ehrlichkeit und Opportunismus, Vorstellung und Beobachtung, so die kommentierende Luper authority, bringt dann Luper auf die Frage, ob ein Zeichner dasjenige zeichnen solle, was er sieht, oder dasjenige, was er weiß, woraufhin er

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das Wort „wissen“ stammt von der indogermanischen Wurzel „*ueid-“: „erblicken, sehen“, und als „gesehen haben“ schließlich „wissen“70, so dass das vor allem durch Goethe und Fontane bekannte Diktum, dass man nur sehe, was man weiß71, etwa von Winfried Eckel auch dahin ergänzt wird, dass man zugleich nur wisse und nur wissen könne, was man zuvor gesehen (oder eingesehen) hat72: zwar kann man einerseits nur sehen, was man bereits weiß (da man ansonsten gar nicht wüsste, was man sieht, oder noch auch, dass man etwas sieht)73, andererseits aber kann sich dieses Wissen nur als Kondensat vorhergehender Beobachtungen bilden (da man ansonsten gar nicht wüsste, was man weiß, und dazu auch keinen Anlass hätte)74, weshalb dann Michael Wetzels Frage zum „Gleiten zwischen Sehen und Wissen“ in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT: „ob man nun nur wisse, was man sehe, oder nur sehe, was man weiß?“75 in ihrem tertium non datur wohl auch falsch gestellt ist, wenn, mit Ernst Gombrich, Sehen und Wissen sich zwar unterscheiden, jedoch nie völlig trennen lassen76. Gerade die Kunst erscheine dabei aber als Verfahren, zwischen Sehen und Wissen zu vermitteln: „The visual arts“, so etwa Bernard Berenson, „are [...] a compromise between what we see and what we know“: „a compromise between concept and observation“, „sight and concept“ oder auch „retinal vision and conceptual

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ein Stück namens The Draughtsman’s Conflict schreibt, das später auch verfilmt wird – unter dem Titel THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT natürlich. o.A.: Eintrag „wissen“, in: Duden Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache, Mannheim / Lepzig Wien / Zürich 2001, S. 931. Vgl. Gerning, Johann Isaak von: Eintrag #572 vom 30. Januar 1805, in: Goethe, Johann Wolfgang von: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche 28. August 1949. Hg. von Ernst Beutler. Band 22: Gespräche 1752-1817, Zürich 1949, S. 362363, S. 363; Müller, Friedrich von: Eintrag #1416 vom 24. April 1819, in: Goethe, Johann Wolfgang von: Gedenkausgabe. Band 23: Gespräche 1817-1832, Zürich 1950, S. 52; Fontane, Theodor: Brief an Wilhelm Schwartz vom 26. Januar 1873, in: ders.: Briefe in zwei Bänden. Ausgewählt und erläutert von Gotthard Erler, München 1981, Band 1, S. 379-380, S. 380. Eckel, Winfried: Wissen und Sehen. Überlegungen zum Problem literarischer Bildbeschreibung, in: Schmeling, Manfred / Schmitz-Emans, Monika (Hg.): Das visuelle Gedächtnis der Literatur, Würzburg 1999, S. 89-110, S 89. Vgl. Eco: Einführung in die Semiotik, S. 84, 199. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 123, 145f.; Spencer Brown: Laws of Form, S. Xff. Wetzel: Die Wahrheit nach der Malerei, S. 15. Gombrich, Ernst H.: Die Geschichte der Kunst. Neubearbeitete und erweiterte Ausgabe, Stuttgart / Zürich 1986, S. 478. „Sight and knowledge are not at all the same thing“, wie Greenaway zu Recht feststellt (zitiert nach: http://greenaway.bfi.org.uk/material.php?theme=2&type=Greenaway&title= draughtsman (29.03.2009), o.S.), sie schließen sich aber natürlich gegenseitig auch nicht aus. Etwas kann von einem Beobachter zu einer gegebenen Zeit zwar nur gesehen oder nicht gesehen, gewusst oder nicht gewusst werden, es kann aber zugleich gesehen und gewusst werden oder nur eines oder keins von beiden. Es ließe sich vielleicht auch sagen, dass die Unterscheidung von Sehen und Wissen keine „vollständige“ im Sinne Spencer Browns ist (vgl. Spencer Brown: Laws of Form, S. 1; vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 302).

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looking“, und schließlich aber: „a compromise between what one knows and what one sees and between what one sees and what one can reproduce for others“, so dass Berenson auch alle Kunst in Kommunikation einrückt77, die ja mit bewusstseinsmäßigem Sehen wie mit Wissen strukturell gekoppelt ist: hängt einerseits und in Hinblick auf ihre Mitteilungskomponente alle Kommunikation immer von Wahrnehmung ab (Ansprachen müssen gehört, Gesten gesehen, Texte gelesen, Bilder betrachtet werden können usw.), so muss sie andererseits auch immer Rücksicht auf das Wissen bzw. Nichtwissen der Beteiligten nehmen, im Hinblick also darauf, was für diese Information bedeuten kann – und ob sie diese Information von ihrer Mitteilung unterscheiden, die Kommunikation also verstehen können und im Weiteren dann annehmend oder ablehnend behandeln78. An Kommunikation in diesem Sinne ist Mr. Neville allerdings nur wenig gelegen; es geht ihm, der mit seinen Zeichnungen „lediglich“ eine „bloße Abschrift der Natur“ in (anachronistisch gesprochen) „photographischer Treue“ intendiert79, in diesem Zusammenhang ganz professionellerweise lediglich darum, seinen Vertrag zu erfüllen und ein entsprechendes Produkt vorzulegen, so dass seine Arbeit (von seinem Sonderarrangement mit den Damen des Hauses einmal abgesehen) auch ganz innerhalb der zeittypisch normalen Parameter der Beziehung zwischen Künstler und Auftraggeber zu liegen scheint, nach denen der Künstler einfach die Eitelkeiten seiner Auftraggeber zu bedienen und umgekehrt die Auftraggeber einen entsprechenden Preis zu zahlen hatten, so dass nach Patronat und Marktwert beider Reputation erhöht würde, ohne dass dabei nun aber genuin künstlerische Fragen eine große Rolle spielten80 – so dass die teuer angefertigten Kunstwerke durchaus an einer Wand in einem dunklen Gange enden können wie bei Mrs. Pierponts Schwiegervater. Nicht nur strebt Mr. Neville (mit höchstem zeichnerischen Aufwand!) eine sozusagen photorealistische Abbildung des Anwesens an, also, mit Barthes, gewissermaßen die Simulation einer „Botschaft ohne Code“, sondern auch das „reine Denotat“ der Photographie, das als „perfektes Analogon des Wirklichen“ die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant dann tautologisch werden ließe81 – eine Botschaft ohne Botschaft, die in einer reinen Verdopplung dessen bestünde, was sich ohnehin schon sehen lässt, in einer „Kopie der Wirklichkeit“ (als welche Mr. Neville seine Arbeiten selbst wohl auch 77 78 79

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Berenson, Bernard: Seeing and Knowing, London 1956, S. 14, 20, 26, 28, 34. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 14; ders. Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 39, 303; ders.: Was ist Kommunikation, S. 97ff. Gombrich: Kunst und Illusion, S. 52, wobei auch Gombrich die Metapher photographischer „Naturabschrift“ sofort verwirft: „Das photographische Bild ist [...] nicht einmal eine eindeutige Abschrift des Negativs, von dem es gedruckt wird, geschweige denn eine der Natur.“ (ebd., S. 55.) Vgl. Foss, Michael: The Age of Patronage. The Arts in England 1660-1750, Ithaca (NY) 1971, S. 74, 114: „The painter [...], realizing his part of the bargain, was content to preserve the illusions of the rich, that theirs was the power and the glory. [...] The painter made an offering to their vanity; the sitters made a contribution to his wealth. Neither considered overmuch questions of artistry; in a material society the best painter is the richest and most fashionable painter.“ Barthes: Die Fotografie als Botschaft, S. 13f.; ders.: Rhetorik des Bildes, S. 31f., 37f.

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versteht, wie wenn er Mrs. Herberts erste Anfrage mit den Worten ablehnt: „with such an excellent relationship as your husband has with his property, he surely, having the real thing, does not need a copy“). Wenn Mr. Nevilles Zeichnungen allerdings, wie Mrs. Talmann andeutet, über die fremdreferentielle Darstellung von Mr. Herberts Besitz und die selbstreferentielle Darstellung von Mr. Nevilles zeichnerischen Fähigkeiten hinaus als informationstragende Kommunikationen aufgefasst werden statt als bloße „Abschriften der Wirklichkeit“, so werden sie denn auch, mit Luhmann, „mit den üblichen, vielleicht noch gesteigerten Risiken aller Kommunikation“ belastet82 – was dann bedeutet, • •



• •



dass ihnen ein Sinn unterstellt wird, sie also als Resultat einer Reihe kontingenter und Anschlüsse antezipierender Selektionen gesehen werden, dass bei ihnen eine Informations- von einer Mitteilungskomponente zu unterscheiden und dabei voraussetzen ist, dass einerseits die Information sich nicht „von selbst versteht“ und andererseits zu ihrer Mitteilung ein besonderer Entschluss erforderlich gewesen ist, dass diese Selektionen der Information und Mitteilung, nämlich als Selektionen aus Sachverhalten und aus Verhaltens-möglichkeiten, oder, im genaueren Falle von Bildern: als Selektion bestimmter Motive und als Entscheidung ihrer Zurschaustellung83, als Handlungen einer Person zugerechnet werden können, dass dieser Person eine Absicht unterstellt werden kann und dass diese Absicht verantwortet werden muss, und zwar: selbst unabhängig davon, ob „richtig“ verstanden wurde, was der Mitteilende „tatsächlich“ meinte, ja: ob er überhaupt nur irgendetwas etwas meinte, wenn nur die Kommunikation ihm eine Mitteilungsabsicht zurechnet84 – Absichten, so Luhmann, die es unabhängig von einer Interpretation als Absicht gar nicht geben kann, sind „verkehrsnotwendige Fiktionen“, die man zwar erzählen, aber nicht notwendigerweise auch erklären muss, so dass die ausschlaggebende Frage gerade für THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT auch nicht ist, „ob eine Absicht tatsächlich vorliegt oder nicht, sondern: wie es zu erklären ist, dass man Absichten unterstellen und für solche Unterstellungen relativ rasch Konsens finden kann“85.

Wie sehr ein Maler um eine „getreue Wiedergabe der Wirklichkeit“ sich immer auch bemühen und wie talentiert er immer sein mag: „sein Werk“, so André Bazin, „wird immer mit der Hypothek einer unvermeidlichen Subjektivität belastet sein“, und „die Präsenz des Schöpfers hinterlässt stets den Schatten des Zweifels auf dem Bild“86: Anders als von Mr. Neville selber 82 83 84 85

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Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 41. Baecker: Was wissen die Bilder?, S. 67. Luhmann: Was ist Kommunikation?, S. 97ff.; ders.: Soziale Systeme, S. 225ff.; ders.: Die Politik der Gesellschaft, S. 21ff.; ders.: Die Realität der Massenmedien, S. 173. Ders.: System und Absicht der Erziehung, in: ders. / Schorr, Karl Eberhard (Hg.): Zwischen Absicht und Person. Fragen an die Pädagogik, Frankfurt am Main 1992, S. 102-124, S. 106f. Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes, S. 23.

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intendiert, dem ja nur an einer Beobachtung erster Ordnung gelegen ist, d.h. einer Beobachtung äußerer „Realität“ und deren Objekten, werden seine Zeichnungen als Beobachtung zweiter Ordnung aufgefasst, d.h. als selber als interessegeleitet beobachtbare Beobachtung von Beobachtern und deren Interessen, mögen diese in diversen Eitelkeiten bestehen, in Ehebruch oder in Erbschleicherei. Als eigenhändiger Urheber der Zeichnungen und somit verantwortliches „Künstlersubjekt“ wird Mr. Neville so zugleich auch zu derjenigen Adresse, an welche dann die Nachfragen nach der Bedeutung der gezeichneten Objekte und schließlich auch die Mordanklage gerichtet wird: während optische Medien wie Photographie und Film, so Kittler, nichts anderes als „empirische Zufallsverteilungen von Lichtern und Schatten“ speichern, so seien die visuellen Künste der Malerei und Zeichnung immer Vorstellung der Vorstellung eines „Subjekts“87 (die darüber, wie im Falle von Mr. Nevilles curricula, Zufälle nicht ausnutzen, sondern möglichst auszuschließen trachten). Auch wenn Mr. Nevilles technisch gestütztes Bemühen um eine getreue „Abschrift der Natur“ gewissermaßen einem Versuche à la Ranke gleicht, „sein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge erscheinen zu lassen“88 – wenn die Eigenschaften des Beobachters nicht in die Beschreibung seiner Beobachtungen eingehen dürfen, so fragt dann Heinz von Foerster, „wie wäre es möglich, überhaupt eine Beschreibung anzufertigen, wenn der Beobachter nicht die Eigenschaften besäße, die die Anfertigung einer Beschreibung erfordert?“89 Da in jeder Kommunikation neben der Fremdreferenz der Information auch eine Selbstreferenz der Mitteilung aktualisiert wird, tritt neben die Mimesis der Darstellung so auch die „Automimesis“ des Künstlers90, wie dem berühmten toskanischen Sprichwort zufolge jeder Maler nur sich selber malt – ogni dipintore dipigne sè91, so dass sich, auch wenn also Mr. Neville in seinen Zeichnungen ebensowenig vorkommt wie Greenaway in seinem Film, mit Frank Zöllner gleichwohl fragen lässt: „Is there a more impressive way to express oneself than the desperate attempt not to do so?“92

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Kittler: Optische Medien, S. 156. Vgl. Ranke, Leopold von: Englische Geschichte vornehmlich im siebzehnten Jahrhundert, in: ders.: Sämmtliche Werke. Band 15, Leipzig 1877, S. 103. Foerster: Kybernetik der Kybernetik, S. 72. Vgl. Zöllner, Frank: „Ogni pittore dipinge sé“. Leonardo da Vinci and „Automimesis“, in: Winner, Matthias (Hg.): Der Künstler über sich in seinem Werk, Weinheim 1992, S. 137-160. Was zunächst eben keinesfalls ein Postulat des künstlerischen Selbstausdrucks bezeichnet (im späteren Sinne eines ogni buon pitttore dipigne sè), sondern vielmehr als Metapher der unvermeidlichen Selektivität und Beobachterrelativität jeder Wahrnehmung, Erinnerung und Darstellung erst einmal einen fundamentalen Makel menschlicher Natur und dann ganz buchstäblich einen fundamentalen Defekt der Malerei. Vgl. Zöllner, Frank: Vasari, Condivi und Michelangelos Sixtinische Decke: Passion und Triumph des Ausdruckskünstlers, in: ders.: Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle. Gesehen von Giorgio Vasari und Ascanio Condivi, Freiburg im Breisgau 2002, S. 87-123; ders.: „Ogni pittore dipinge sé“. Ebd., S. 149.

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Evidenzen und Probleme Erst ihre Überführung in die Kommunikation also lassen Mr. Nevilles Zeichnungen in dieser Hinsicht „problematisch“ werden, und es ist dann auch in der Kommunikation, dass diese Probleme behandelt werden, wie immer die Beteiligten sie je für sich auch auffassen und sich dann dabei für betroffen halten. Nicht nur sind in wirtschaftlicher Hinsicht Mr. Nevilles Zeichnungen nur soviel wert, wie ihre Käufer zu zahlen bereit sind (wie der mit ihrer Versteigerung betraute Mr. Noyes bemerkt), sie enthalten auch nur soviel Bedeutung, wie ihre Betrachter zu verstehen in der Lage sind93, so dass sich auch ihr Darstellungswert etwa für Mr. Talmann vor allem danach bestimmt, was andere in ihnen sehen könnten – wenigstens, nachdem er von Mr. Noyes auf die Möglichkeit hingewiesen wurde, dass Mr. Neville ihn als einen hintergangenen Ehemann gesehen habe, und er seine Gattin daraufhin zur Rede stellt. Mr. Talmann: Mrs. Talmann: Mr. Talmann: Mrs. Talmann: Mr. Talmann: Mrs. Talmann: Mr. Talmann: Mrs. Talmann: Mr. Talmann: Mrs. Talmann: Mr. Talmann: Mrs. Talmann: Mr. Talmann: Mrs. Talmann: Mr. Talmann: Mrs. Talmann:

„I've been convinced, Sarah, that you have been deceiving me.“ [...] „You must explain your conceit.“ „It is no conceit, Madam, but Mr. Neville’s drawings!“ „I was sure you believed Mr. Neville incapable of complicated meaning. What has he done now?“ „It is mostly what he has undone – it seems to be your person!“ „I have no control over Mr. Neville’s drawings. He draws what he pleases!“ „Mr. Neville is not payed to draw for his own pleasure, nor, Madam, for yours!“ „What makes you think he has done that?“ „Probably the way it looks!“ „How does it look?“ „The way the world sees it!“ „The world! There cannot be that many people who have seen these drawings. Who are these people that represent the world?“ „Seymour, Noyes, the Poulencs!“ „And what did they see?“ „Enough, Madam, to delight them, to exercise their tongues, to discuss patrimony!“ „Or the lack of it.“

Die Zeichnungen scheinen (als Kommunikation durch Kunst) ebenso eine bestimmte Information mitzuteilen wie sie auch weitere Kommunikation (als Kommunikation über Kunst) provozieren: Während weder an der Wahrnehmung noch an den Gedanken Mr. Nevilles irgendjemand anderes teilhaben kann, sind seine Zeichnungen, indem sie als absichtsvoll angefertigte 93

Vgl. Heinz von Foersters „hermeneutisches Fundamentalprinzip“: „Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage.“ (zitiert nach: Müller, Albert / Müller, Karl H.: Im Goldenen Hecht. Über Konstruktivismus und Geschichte. Gespräch mit Heinz von Foerster, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 8(1997), S. 129-143, S. 135.)

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„interpretationsbedürftige Objekte“ aufgefasst werden, die sich gezielt der Beobachtung durch andere empfehlen, von einem „Wahrnehmungs-“ zu einem „Sozialmedium“ geworden94, das dann eben keine mehr oder weniger „verzerrte“ / „unverzerrte“ oder „verfälschte“ / „unverfälschte“ „Realität“ darbietet als diese vielmehr relativ auf ihre Beobachtung hin stellt und diese Beobachtung dann wiederum auch der Beobachtung durch andere aussetzt – und so auch zur Verhandlung stellen kann, ob hier etwa lediglich das Erscheinungsbild des Anwesens beobachtet wurde oder ein Ehebruch oder ein Mord. Entschieden aber wird dies erst durch weitere Kommunikation, so dass auch die „Realität“, die „Wahrheit“ oder „Wahrhaftigkeit der Kunst“ hier weniger in einer „realistischen“ Darstellung der sichtbaren Welt als vielmehr in ihrer Fähigkeit der Koordination ihrer Beobachtung zu liegen scheint95: „Die Realität des Beobachtens ergibt sich [...] nicht aus dem Ausgriff in eine Welt, die unabhängig von dem Beobachter existiert und von allen Beobachtern, wenn sie sich nicht irren, gleichsinnig erfasst wird, weil sie unabhängig von ihnen existiert. Deshalb erlaubt auch die Konvergenz von Beobachtungen keinen Rückschluss auf die Realität ihres Gegenstandes, sondern allenfalls einen Rückschluss darauf, dass Kommunikation stattgefunden hat.“96

In der Aufladung der in den Zeichnungen dargestellten Objekte mit spezifischer Bedeutung, ihrem folgenden emplotment und der schließlichen Überführung der Zeichnungen in die gesellschaftliche Zirkulation entsteht so ein Sinnzusammenhang, durch den „eine zweite Welt der Kommunikation der ersten Welt des Gesehenen überlagert werden“ kann97, womit die „unmittelbare Evidenz des Bildes“98 auch verloren geht – in einer kommunikativen Transformation von Evidenzen in Probleme99, nach der gleichwohl auf einer ganz physischen Ebene auch Köpfe rollen müssen, und mögen schließlich die Umstände sowohl von Mr. Nevilles Engagement als auch von Mr. Herberts Tod für alle Beteiligten mehr oder weniger bekannt sein, die allesamt in einer seltsamen Mischung aus gegenseitiger Täuschung, Erpressung und Komplizenschaft verbunden sind100 – sie werden ganz einfach 94 95

96 97 98 99 100

Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 160, 186ff. Vgl. ders.: Observing re-entries, in: Peter, Georg / Preyer, Gerhard / Ulfig, Alexander (Hg.): Protosoziologie im Kontext. „Lebenswelt“ und „System“ in Philosophie und Soziologie, Würzburg 1996, S. 290-301, S. 296. Ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 78. Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 213. Ishaghpour: J.-L. G., Filmemacher des modernen Lebens., S. 97. Vgl. Luhmann: Evolution und Geschichte, S. 164. Tatsächlich sind die Verhältnisse in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT derart verwickelt und dabei so ungereimt, dass die Hoffnung auf die Möglichkeit einer letztendliche Auflösung des murder mystery getrost wohl aufgegeben werden kann: Mr. Noyes und Mrs. Herbert etwa arbeiten ganz offensichtlich nicht zusammen, da nach Mr. Herberts Ermordung Mr. Noyes Mrs. Herbert erst einmal erpresst und darüberhinaus unter Preisgabe seiner Heiratsabsichten noch mit Mrs. Piepont anbändelt; worin nach der Beerdigung von Mr. Herbert die „discussion of property“ zwischen Mr. Seymour und Mr. Talmann bestand, bleibt unbekannt, wie auch die

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geheim gehalten und öffentlich auch nicht besprochen werden, so dass die Morde als „objektive Tatsachen“ auch sozial nicht relevant sind und keinerlei gesellschaftliche Auswirkungen haben werden101; ebensowenig wie der Umstand, dass Mrs. Talmanns ungeborenes Kind ein „Kuckuckskind“ ist, wie es ja der impotente Mr. Talmann wissen muss und auch für die weitere Gesellschaft offensichtlich auf der Hand liegt. Für die offizielle Zurechnung der Vaterschaft spielt dieses Wissen dennoch keine Rolle: „Quia [mater] semper certa est, etiam si volgo conceperit; pater vero est, quem nuptiae demonstrant“102, und wie groß Mr. Talmanns Schande auch als Hahnrei immer sein mag, so wird, im Falle der Geburt eines Jungen, doch gerade er von dieser suppositio partus profitieren.

Allegorien und Tyranneien Das Verhältnis des Sehens und Wissens der Figuren in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT und dessen kommunikative Koordination ist dabei natürlich übertragbar auf die Rezeptionssituation des Filmes selbst. „In the end“, so Greenaway, „THE DRAUGHTSMAN'S CONTRACT perhaps ought to be called The Filmmaker's Contract. What is the profit to a filmmaker, if he only films what he sees and not what he, and also his audience, undoubtedly know?“103

In dieser selbstreflexiven Wendung ist wohl auch die Bemerkung Mr. Seymours über den angeblichen allegorischen Charakter von Mr. Nevilles Zeichnungen („Mr. Neville has no use for allegory“, wie Mr. Talmann sehr richtig dagegenhält) vielmehr als Beschreibung von Greenaways eigener Vorliebe für besondere symbolische, visuell speziell codierte, ja bisweilen nachgerade kryptische Bildbedeutungen zu verstehen, die er allerdings weniger im Kino, sondern vor allem in der Malerei realisiert sieht: „Denken Sie nur an den holländischen Maler Jan Vermeer. Wenn eine seine Frauengestalten eine Laute hält, an der drei Saiten gerissen sind, dann deutet er damit an, dass sie drei Abtreibungen hinter sich hat. Liegt ein Pantoffel unter ihrem Bett, heißt das, sie leistet sich gerade eine ,gefährliche Liebschaft‘. Wer versteht heute noch diese Botschaften“?104

101 102 103 104

Rolle der Poulencs vollkommen unklar ist; ja nicht einmal die Zusammenarbeit von Mutter und Tochter scheint über allen Zweifel erhaben, wenn etwa Mrs. Herbert gegenüber Mrs. Talmann sich veranlasst sieht, über den Grund ihrer Tränen die wenn auch offenbare Unwahrheit zu sagen („I am grieving because Mr. Herbert is away“). Vgl. Luhmann: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 122f.; ders.: Ökologische Kommunikation, S. 62f. D. 2,4,5 (Paulus 4 ad ed.). Zitiert nach: http://greenaway.bfi.org.uk/material.php?theme=2&type=Greenaway& title=draughtsman (29.03.2009), o.S. Zitiert nach: Dvorak, Cordelia / Kamer, Waldemar: Revolution des Sehens. Interview Peter Greenaway, in: Focus 25(1994), S. 90-93, S. 91.

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Greenaway sieht in der Malerei gewissermaßen eine „hidden language“105, deren vermeintliche Unverständlichkeit dabei aber nur der ihrer Textlastigkeit korrespondierenden visual illiteracy der gegenwärtigen Kultur geschuldet sei: „our educational bias“, so Greenaway, „is all in favour of the word and remarkably little in favour of the meaning of the image“106, wobei gerade die Fähigkeit, ein Bild zu „lesen“, es also über seine bloße Wahrnehmung hinaus als Kommunikation begreifen zu können107, in einem umfassenden erzieherischen Lernprozess erworben werden müsste – „just because you have eyes does not mean you can see“108, wie Greenaway es ausdrückt, wobei allerdings auch festzuhalten ist, dass selbst wenn es solche wie von Greenaway beschrieben raffiniert codierten Botschaften wohl auch geben mag, sie doch jedenfalls niemals auf einem Vermeer-Gemälde zu besichtigen gewesen sind109, so dass Greenaway hier wohl wie Mrs. Talmann eine bewusste Überinterpretation gegebener visueller Zeichen leistet, die er selber erst ins Bild fingiert, wo nicht komplett erfunden hat. Dabei erstreckt sich die Möglichkeit der Überinterpretation, der in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT Mr. Neville ja zum Opfer fällt, natürlich auch auf Greenaways eigene Werke: Auf die „wild interpretations“ angesprochen, die bisweilen von seinen Filmen gemacht würden, stellt Greenaway die Deutungshoheit des Zuschauers heraus: „If you make something for public consumption – however small the audience – it must be theirs to interpret as they wish. You cannot control it.“110 Sollte sich aber THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT wie Mr. Nevilles Zeichnungen selbst auch durchaus „allegorisch“ lesen lassen, so am ehesten vielleicht als Allegorie der Überwindung der von Greenaway sogenannten tyranny of the camera, in der die Kamera im Rahmen der Filmproduktion ein ebensolches „presumptious regime“ führte wie Mr. Neville bei der Anfertigung seiner Zeichnungen auch und dabei als „mimetic tool [which is only] recording what we already know“111 das Kino an das Sichtbare fesselte und darüber jedes Denkbare verdrängte. Nicht nur machten ja nach Greenaways Ansicht die meisten Regisseure ihre Bilder offenbar mit gefesselten Händen und verbundenen Augen112, oft genug machten sie auch überhaupt gar keine Bilder, sondern ließen nur einfach die Kamera laufen113

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Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 95. Ders.: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 6. Luhmann: Systeme verstehen Systeme, S. 94f.; ders.: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 128. Zitiert nach: http://greenaway.bfi.org.uk/material.php?theme=2&type=Greenaway& title=draughtsman (29.03.2009), o.S. Vgl. Kremer: Peter Greenaways Filme, S. 14. Zitiert nach: Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 216. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 11f. „I do generally feel that most filmmakers are going into the studio with a blindfold and their arms tied behind their backs.“ (Greenaway, Peter: Sound and Vision. Podiumsdiskussion im August 2002 in Saas-Fee, zitiert nach: http://www.egs.edu/faculty/greenaway/greenaway-sound-and-vision-2002.html (29.03.2009), o.S.) „In practically every film you experience, you can see the director [...] illustrating the words first, making the pictures after, and, alas, so often not making pictures at all,

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– während es doch vielmehr darum gehe, nicht einfach nur die Augen zu beschäftigen, sondern vielmehr das Denken anzuregen: „The camera is a recording device. It gives us an image of the world that is mimetic, it reproduces what we put in front of it. The camera is not a painter. [...] There is a necessity in a curious way to bypass the lazy, mimetic, passive recording eye – human or mechanical – and jump straight to the brain, the imagination, the seat of creation.“114

Nun ist Mr. Neville zwar natürlich keine Kamera, er ist aber auch kein Künstler, denn dazu fehlt ihm die Einbildungskraft: „Mr. Neville has no imagination“, so Mrs. Talmann: „he draws what he sees“, und wieder ist der Zeichner von zwei zur Auswahl stehenden Dingen keines. Wenn Mrs. Talmann dann aber gegenüber ihrem Gatten die eigene Einflusslosigkeit auf Mr. Nevilles Zeichnungen beteuert („I have no control over Mr. Neville’s drawings; he draws what he pleases“), so unterschlägt sie dabei natürlich, dass sie den Zeichner ebenso manipuliert wie ihren Ehemann: Die Frauen benutzen Mr. Neville gewissermaßen wie eine Kamera, die sie abbilden lassen, was sie ihr vorsetzen, wobei einerseits gerade die Indifferenz des Zeichners einer eventuellen Bedeutung seiner Motive gegenüber deren kalkulierte Inszenierung erlaubt und andererseits, gerade weil Mr. Neville eben keine Kamera ist, es dann auch möglich ist, das „Medium“ für die Botschaft zur Verantwortung zu ziehen. Zwar zeichnet Mr. Neville lediglich das, was er sieht, zugleich aber auch das, was die Frauen die Betrachter denken lassen wollen – so dass die Stellvertreterfigur des Filmemachers in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT dann eben nicht im Zeichner, sondern vielmehr in den Frauen zu suchen wäre, die den Zeichner genau so instrumentalisieren wie nach Greenaway ein Regisseur dies mit der Filmkamera tun sollte. Auch wenn, mit Rudolf Arnheim, im Unterschied zur Zeichnung an die photographische Abbildung die „anspruchsvolle Forderung“ gestellt wird, „sie solle nicht nur dem Gegenstand ähnlich sein, sondern die Garantie für die Ähnlichkeit dadurch geben, dass sie sozusagen ein Erzeugnis dieses Gegenstandes selbst, d.h. von ihm selbst mechanisch hervorgebracht sei“115, so ist doch von der Kamera auch niemals eine „Aufzeichnung der Wirklichkeit“ zu erwarten, die (etwa im Sinne eines Direct Cinema) ohne Eingriff nur beobachtete, was sich auch ohne sie ereignet hätte116. „Put up a camera and everything changes“, so Greenaway: „Pursuit of realism seems to me a dead end.“117 Wie schon Mr. Nevilles curricula den normalen Betrieb auf dem Anwesen ja ganz empfindlich stören und nach Möglichkeit ganz stillzustellen suchen, zeigt auch die Kamera ja keineswegs eine „unveränderte Welt“118: Die Wirklichkeit, wie sie ohne die Anwesenheit der

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but holding up the camera to do its mimetic worst.“ (Greenaway: 105 Years of Illustrated Text, S. 48.) Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S. Arnheim, Rudolf: Systematik der frühen kinematographischen Erfindungen, in: ders.: Die Seele in der Silberschicht, S. 138-157, S. 140. Roth: Der Dokumentarfilm seit 1960, S. 7ff. Zitiert nach: Smith: Food for Thought, S. 98. Flusser: Kommunikologie, S. 185f.

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Kamera wäre, lässt sich durch die Kamera natürlich nicht beobachten, so dass das Problem filmischer „Objektivität“, die durch den an Stelle des Stiftes des Zeichners tretenden pencil of nature (Talbot) doch technisch garantiert zu sein schien, auch dem Dilemma des Ornithologen Hasper Fallbazz aus A WALK THROUGH H vergleichbar ist119: „Fallbazz was a pioneer naturalist, one of the first to promote the ringing of birds to check on their movements. After some twenty years of this practice, in which time Fallbazz and his wife must have ringed some 25 000 birds, he decided that the information gained was not to be trusted. He came to the conclusion that information from a ringed bird was not the same as information from a bird“ –

nur dass natürlich ohne eine Beringung überhaupt keine Information zu haben ist, wie auch die Realität „an sich“ oder „als solche“, d.h. als von ihrer Beobachtung völlig isolierter Gegenstand, natürlich keinerlei beobachtbare Eigenschaften hat120 – was für die Welt genauso gilt wie für ihr Bild. „Objektive Tatsachen“, so lässt sich aus THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT schließen, gibt es daher ebensowenig wie „objektive Beschreibungen“: Die Beobachtung der Welt verändert diese Welt, so wie auch umgekehrt, mit Barthes, das „von Grund auf objektive Bild“ nur eine Utopie ist (insofern kein sei es gezeichnetes, sei es photographisches Bild jemals eine völlig beobachtungs- und wissensunabhängig „isolierte Struktur“ sein kann)121. Schon Mrs. Talmanns Interpretation weist dabei hin auf eine mögliche Unterscheidung der denotativen und der konnotativen Bedeutung von Mr. Nevilles Zeichnungen, die eine Anreicherung seiner „Imitation der Natur“ und ihrer letztlich tautologischen Repräsentationsfunktion (d.h. einer „Weltakzeptanz durch Wiederholung in einem anderen Medium“122) mit „Zusatzsinn“ ermöglicht123 – ein Verfahren, dass seiner sonstigen Bemühung um „Objektivität“ ganz ungeachtet Mr. Neville übrigens auch selbst durchaus geläufig ist, wenn er, die Themen des Grundeigentums und Ehebruchs damit schon anreißend, bereits in seinem zweiten Satz im Film bemerkt: „I hold the delight or despondency of a man of property by putting his house in shadow or in sunlight. Even possibly I have some control over the jealousy or satisfaction of a husband by depicting his wife dressed or undressed.“

Dabei ist gleichwohl zu bemerken, dass Mr. Nevilles Zeichnungen – auch wenn sie im Film ständig so bezeichnet werden – nicht eigentlich Allegorien darstellen, sondern vielmehr als Metaphern, Synekdochen und Metonymien in Anspruch genommen werden: Um die Zeichnungen als Anklage verstehen bzw. missverstehen zu können, kommt es letztlich gar nicht darauf an, wie 119 120 121 122 123

Der übrigens auch später in THE FALLS als Ingenieur Hasp Fallbazz (#33) wiederauftritt. Vgl. Luhmann, Niklas: Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie, Wien 1996, S. 45; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 698. Barthes: Rhetorik des Bildes, S. 37f.; ders.: Die Fotografie als Botschaft, S. 11. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 281, 421, 500. Vgl. Barthes, Roland: Elemente der Semiologie, Frankfurt am Main 1983, S. 75f.; ders.: Die Fotografie als Botschaft, S. 13ff.

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„realistisch“ die Leitern, der Umhang, das Hemd, der Hund oder das Pferd gezeichnet sind, sondern vielmehr darauf, dass man weiß und aktualisiert, wohin die Leitern führen, wem Umhang und Hemd gehören und welchen Zuständigkeitsbereich die Götter haben, an deren Statuen sie sich befinden, in welchen Kontext die Herrenlosigkeit der Tiere einzubetten ist und am Ende, dass man alles zusammenlesen und miteinander verbinden kann; genau so, wie es auch in jeder Filmrezeption ja immer darum geht, „mehr zu sehen als zu sehen ist“ – nämlich die Verbindung der einzelnen Bilder, Einstellungen, Geschehnisse, Erzählschritte etc., so dass „das Nicht-Sichtbare – oder das, was ich weiß – das Sichtbare determiniert“124. In einer Übertragung von der Zeichnung auf das Kino gleicht THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT so gewissermaßen einer Lehrstunde, wie man, mit einer Unterscheidung Umberto Ecos, den „kinematographischen“ vom „filmischen Code“ zum einen abgrenzt (d.h. die „Reproduzierbarkeit der Wirklichkeit durch kinematographische Apparate“ von einer kommunikativen Konditionierung des Filmbildes gemäß bestimmter Darstellungs- und Erzählregeln) und dann zum anderen der „kinemato-graphischen Denotation“ eine „filmische Konnotation“ hinzufügt, d.h. wie der Zuschauer nicht nur dazu gebracht werden kann, bestimmte Dinge im Bild wahrzunehmen, sondern im „Idiolekt“ und im Erzählkontext des Films ihnen besondere Bedeutung zuzuschreiben, indem diese Bedeutung gezielt evoziert und der Zuschauer darauf vorbereitet wird, als auf einen bestimmten Code bezogenen Zeichenkontext genau „diese Sachen zu sehen“ – was oft genug aber auch scheitert, wenn das Publikum, so Eco weiter, im Allgemeinen auf der Leinwand nur dasjenige zu erkennen in der Lage ist, was es dort sieht, und gerade nicht das, was es weiß125. Genau auch dies ist ja, mit Barthes, dann der „fatale Status“ auch des Filmbildes: „dass sich die konnotierte (oder codierte) Botschaft hier ausgehend von einer Botschaft ohne Code entfaltet“126, so dass ebenso fatalerweise auch der Schluss sich nahelegt, das Filmbild sei ganz einfach, was es ist, ohne dass man sich bemühen müsste, eine etwaige Bedeutung zu erkennen127, für die gleichwohl doch eine „richtiggehende Dechiffrierung“ notwendig wäre128. Was Greenaway dabei beim Zuschauer von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT allerdings auch noch durchaus für tolerabel hält (insofern es ihn nicht völlig um die Genießbarkeit des Filmes brächte)129, wird Mr. Neville aber gerade zum Verhängnis: sein mangelndes Referenz- und Kontextwissen nämlich, das für das Erkennen und Verstehen von Bedeutung gleichwohl notwendig ist; „my scholarship is not profound“, 124 125 126 127 128 129

Engell: Bewegen beschreiben, S. 207, 227. Eco: Einführung in die Semiotik, S. 207, 250ff., 309; ders.: Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, München 1987, S. 276. Barthes: Die Fotografie als Botschaft, S. 15. Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien, Reinbek 1995, S. 162. Barthes: Die Fotografie als Botschaft, S. 15. „THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT“, so Greenaway auf Vorwürfe eines intellektuellen Elitismus seiner Filme, „can be seen as an Agatha Christie tale and there is much in the film to enjoy besides the use of conceit and allegory. It’s absurd for people to say ,Christ, I’m not clever enough to catch all these references‘.“ (zitiert nach: Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 217.)

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wie Mr. Neville einräumen muss, als ihm ganz offenbar die Symbolizität des Granatapfels im Persephone-Mythos entgeht, was Mrs. Herbert aber auch kaum überrascht: „I suspected you were innocent in the insight as you have been innocent of much else.“ Das Verhältnis von Sehen und Wissen ist so nach allem Gesagten immer ein ambivalentes, das in einer wechselseitigen Reafferenz besteht: „Von den Dingen, die wir nicht sehen können“, so schon Albertis Empfehlung ganz im Sinne Mr. Nevilles, solle niemand bestreiten, „dass sie den Maler nichts angehen. Der Maler soll sich nur um die Nachbildung dessen bemühen, was man sieht“, doch folge er damit den „Dingen [...], die ganz offensichtlich sind“, so könnte er dem Betrachter gerade darin „noch weit mehr zu denken geben, als er sehen kann“130. Das Verhältnis von Sehen und Wissen bezieht seine Spannung also nicht aus ihrer Abgrenzbar- und Trennbarkeit, sondern vielmehr aus ihrem wechselseitigen Aufruf, ihrer wechselseitigen Infragestellung und ihrer wechselseitigen Verstärkung – wofür dann über die Aktualisierung von Gesehenem und Gewusstem noch hinaus der Einsatz von Imagination notwendig ist, wie Lessing es zusammenfasst: „Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel läßt. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben.“131

Zeigen und Verbergen, Schein und Sein Dabei ist ebenso wichtig wie das, was in einem Bild gezeigt wird, auch dasjenige, was nicht gezeigt wird, was einerseits das zur Darstellung Seligierte gegenüber anderen Möglichkeiten dieser Selektion natürlich konturiert, informationsbezogen zudem dann aber gerade auch die Form eines „beredten Schweigens“ annehmen kann – oder die Form eines Bildes, das den Betrachter sehen lässt, dass er nicht sieht, was er nicht sehen kann. Finden etwa Mr. Nevilles „private Zusammenkünfte“ mit Mrs. Herbert normalerweise innerhalb der Gebäude des Anwesens statt (in Mrs. Herberts Gemach, im Waschhaus, in der Scheune etc.), so einmal doch auch unter freiem Himmel und just an der Stelle, an der Mr. Neville Zeichnung #1 anfertigt. Um die Sicht vom Haus aus abzuschirmen, zieht Mr. Neville einen Sonnenschirm aus dem Boden heraus und legt ihn vor das vorbereitete Lager, auf das er Mrs. Herbert dann zu knien heißt. Die Szene wird aus zwei um 90 Grad versetzten Ansichten aufgenommen, zuerst seitlich, dann frontal, so dass die Geschehnisse hinter dem Schirm zunächst noch sichtbar, dann aber durch den Schirm verdeckt sind, und in einer 34 Sekunden langen Einstellung dann auch unverändert nur das bewegungslose, sichtnehmende Objekt zu sehen ist – wiewohl, wenngleich es nicht zu sehen ist, doch keine Zweifel darüber bestehen, was hinter dem Schirm geschieht (und, wie zu erinnern ist, nur durch eine kalkulierte Entscheidung in der mise en scène nicht auch gezeigt wird) – der Zuschauer weiß ja, was der Vertrag vorschreibt, und er weiß, dass es sich im Film schon zum dritten Male wiederholt (wobei allerdings auch 130 131

Alberti: Über die Malkunst, S. 67, 133. Lessing: Laokoon, S. 21.

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die Darstellungen der vorherigen „privaten Zusammenkünfte“ keinerlei sexuelle Handlungen zeigen, sondern gerade deren Sichtbarkeit verhindernde Perspektiven wählen, vorher abbrechen oder erst nachher einsetzen – es handelt sich hier um vom Zuschauer zu ergänzende „Leerstellen“132 und um Beispiele dafür, wie ein „unvollständiges“ Bild die Phantasie des Betrachters dazu bringen kann, Gewusstes, Erwartetes oder Vermutetes, als „Nichtvorhandenes“ oder „Fehlendes“ aber nicht Sichtbares durch Projektion zu ergänzen133, oder wie in PROSPERO’S BOOKS der Kommentar zum Book of Love feststellt, in dem – ganz nach Art des Montageprinzips – einerseits ein Bild eines nackten Mannes und einer nackten Frau sowie andererseits das Bild zweier sich fassender Hände zu sehen ist: „Everything else is conjecture“ – ein drittes Bild, das der Betrachter selbst herstellt). Auf ganz vergleichbare Weise (und wiederum im Zusammenhang mit sexueller Gewalt) wird die Differenz von Sehen und Wissen am Ende von THE BABY OF MÂCON thematisiert: Nach ihrer Verurteilung zu einer zweihundertundachtfachen Vergewaltigung wird die Tochter unter lauten Schreien von zwei Soldaten in ein offenes Himmelbett gezogen, in dem die „Strafe“ vollstreckt werden soll. Das Bett wird von zwei weiteren Soldaten bewacht, welche dann den Vorhang des Bettes schließen und dem Zuschauer so die Sicht ins Bett verwehren. Die Kamera verweilt für kurze Zeit bewegungslos auf dem geschlossenen Vorhang, fährt dann aber weiter auf das Bett hin zu, woraufhin die Wachen (erstaunlicherweise!) den Vorhang wieder öffnen, so dass jetzt auch das Geschehen innerhalb des Bettes sichtbar wird: die Soldaten und die Tochter, oder vielmehr: ihre Darsteller sitzen einträchtig nebeneinander, die Gewalt ist nicht wirklich, die Schreie nur gespielt. Dann aber kommt der erste der 208 Soldaten ins Bett, und das, was nur gespielt und nur als Vorstellung vermittelt werden sollte, wird nun als Handlung tatsächlich vollzogen: Daughter: Soldier #1: Daughter: Soldier #2: Soldier #1: Soldier #2: Soldier #1: Daughter: Soldier #2:

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„Alright, you oaf, you don’t have to act anymore. The audience cannot see you, fool!“ „You wanted this role so badly, you ought to see it through!“ [...] „Get off, you bastards! For God’s sake, you’re hurting my arm! ... What the hell ... I don’t want to see what you’ve got! Put it away!“ „How long is this scene?“ „Ten minutes.“ „Then hurry up, boy, there’s thirty more waiting behind you!“ „No time for anything complicated.“ „You bastards! You can’t ... No! Wait! Let go of me!“ „Imagine: an audience of three hundred – and none of them knows you’re not acting!“

Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, S. 284ff.; Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München / Wien 1987, S. 63f. Gombrich: Kunst und Illusion, S. 230.

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In genau dem Moment, da der Soldat sich auf die Tochter wirft, fährt die Kamera wieder zurück und die Wächter verschließen den Vorhang erneut. Die weitere Darstellung der Vergewaltigung (in Echtzeit ihrer Dauer im Theaterstück!) erfolgt dann, in den Kategorien Charles Sanders Peirce’, nicht mehr ikonisch (durch eine direkte Ansicht im Filmbild), sondern indexikalisch (visuell durch die sich bewegenden Schatten der Soldaten auf dem Bettvorhang und akustisch durch die Schreie der Darstellerin der Tochter) und symbolisch (durch 208 durchnumerierte Zettel, die nacheinander auf einen langen Sporn gespießt werden, und durch 208 auf einem schachbrettartigen Boden aufgestellte Kegel, die nacheinander umgestoßen werden)134. Beide dieser Beispiele, als Beispiele für die Darstellung von Tod und Sex im fiktionalen Film, oder einer Mischung aus beidem, sind dabei auf diese Weise Beispiele für die spezifische suspension of disbelief des Kinos, die, so Greenaway, zwar notwendig, gleichzeitig aber ihrerseits zu suspendieren ist, so dass der Widerspruch von Sehen und Wissen in der als Täuschung durchschauten Täuschung zugleich aufgeführt und dementiert wird135: „Most actors and actresses in the cinema are asked sooner or later to die or to copulate. But nobody ever believes they die, and most of us don’t believe they copulate. So it’s the most extreme of human activities, but we know rationally that it does not happen. So where is [...] this difference between our imaginative, emotional involvement and our sense of estrangement, our intellectual refusal to accept the truth of those preoccupations? I would like to ask, because in essence, this is the sort of cinema that I want to make. The cinema I want to make will give you [...] the notion of illusion of copulation and / or death, but always remind you that it’s an artefact, that you don’t have to, as it were, totally throw away your rationality.“136

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135 136

Es ließe sich natürlich einwenden, dass die Schatten, sollen sie erfolgreich den Soldaten zugeordnet werden können, nur über ihre Ähnlichkeit zum schattenwerfenden Objekt erkennbar sind, und auch die Repräsentation der Vergewaltigungen durch Zettel und Kegel ikonischer Natur ist, insofern die Vergewaltigungen, ob real oder gespielt, in der Tat mit den Zetteln und den Kegeln ganz klar eine Eigenschaft gemeinsam haben, nämlich ihre Anzahl (um von der Metaphorizität insbesondere der Perforation der Zettel ganz zu schweigen). Dazu aber wäre einerseits zu sagen, dass ein Zeichen durchaus mehreren Zeichenklassen zugleich angehören und dabei je ganz unterschiedliche Funktionen haben kann, und dass andererseits grundsätzlich weder Ikons noch Symbole Aufschluss über die „Realität“ der von ihnen dargestellten Dinge geben können – wie auch selbst die „physische Verbundenheit“ der Indizes mit den Körpern der Schauspieler, auf der, mit Barthes, ja auch die „photographische Referentialität“ des Filmbildes basiert, hier lediglich darüber informiert, dass mehrere Männer sich bewegen und dass eine Frau schreit, nicht aber, ob eine Vergewaltigung stattfindet bzw. ob diese nun real oder gespielt ist (vgl. Peirce, Charles Sanders: Die Kunst des Räsonierens, in: ders.: Semiotische Schriften. Band 1, Frankfurt am Main 1986, S. 191-201, S. 195f.). Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 177f. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 23.

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Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT

Die Unterscheidung von Sehen und Wissen korrespondiert so zugleich auch mit denjenigen von Zeigen und Verbergen und von Sein und Schein: Der Zuschauer von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT weiß in diesem Sinn, obwohl er es nicht sieht, dass in der Fiktion des Films hinter dem Schirm eine Vergewaltigung stattfindet, nicht aber „in Wirklichkeit“ (dass also zwar Mrs. Herbert von Mr. Neville vergewaltigt wird, nicht aber Janet Suzman von Anthony Higgins), so wie der Zuschauer von THE BABY OF MÂCON weiß, dass zwar die Tochter von den Soldaten vergewaltigt wird und auch die Darstellerin der Tochter von den Darstellern der Soldaten, nicht aber Julia Ormond von Richard Blair, Tony Dunham und weiteren Komparsen – selbst wenn dieses Wissen durch ein re-entry in sich selbst zumindest verunsichert wird, wenn also der von seiner Fiktionalität überzeugte Zuschauer des Films weiß, dass die von seiner Fiktionalität ganz gleichermaßen überzeugten Zuschauer des Theaterstücks sich irren, und daraus vielleicht auch einen autologischen Schluss zu ziehen motiviert wird. Es ist in diesem Sinne schließlich nochmals festzuhalten, dass Sehen und Wissen sich wohl unterscheiden, niemals aber völlig trennen lassen137; auf der einen Seite nämlich, so Maurice Merleau-Ponty, „ist die Welt das, was wir sehen, und auf der anderen Seite müssen wir dennoch lernen, sie zu sehen. In diesem Sinne müssen wir das Sehen zunächst in ein Wissen überführen, wir müssen es in Beschlag nehmen und sagen, was dieses Wir, was dieses Sehen heißt, und wir müssen so tun, als wüssten wir von allem noch nichts, als müssten wir in dieser Hinsicht alles erst noch entdecken“138,

so dass letztlich alle Philosophie, so Merleau-Ponty weiter, in einem „Wahrnehmungsglaube[n], der sich selbst befragt“, besteht139; und wenn es also in diesem Sinne Kennzeichen der Philosophie ist, „eine Art der Beobachtung und des Befragens ins Werk [zu setzen], die sich zugleich mit der beobachteten und befragten Welt stets ebenfalls in Frage stellt“, so ist genau dies bei THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT auch der Fall – als Film-Philosophie140.

THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT RELOADED: NIGHTWATCHING Ein Vierteljahrhundert nach THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT produziert Greenaway mit NIGHTWATCHING, ganz untypischerweise beinahe schon ein bio pic über Umstände und Enstehung von Rembrandt van Rijns DIE NACHTWACHE ein halbes Jahrhundert vor den Ereignissen auf Compton Anstey, gewissermaßen eine Art THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT RELOADED – schon der Untertitel der französischen Sprachfassung, MEURTRE DANS UN TABLEAU HOLLANDAIS, ist natürlich eine Anspielung auf den französischen Titel von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT, MEURTRE DANS UN JARDIN ANGLAIS. Der große Unterschied zwischen beiden Filmen allerdings, vom 137 138 139 140

Gombrich: Kunst und Kommunikation, S. 427. Merleau-Ponty, Maurice: Das Sichtbare und das Unsichtbare. Hg. und mit einem Vor- und Nachwort versehen von Claude Lefort, München 1986, S. 18. Ebd., S. 139. Engell / Fahle: Film-Philosophie, S. 222.

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Status Rembrandts als auch historischer Person und desjenigen Mr. Nevilles als rein fiktiver Figur einmal abgesehen, liegt darin, dass, während der Zeichner Mr. Neville sich nach Kräften bemüht, nur und genau das zu zeichnen, was er sieht, und ironischerweise gerade damit die Voraussetzungen dafür schafft, dass seine Zeichnungen als „Indizien“ interpretierbar werden und in einer großen Intrige ihm ein Mord in die Schuhe geschoben werden kann, es sich bei Rembrandts NACHTWACHE – wenigstens nach Greenaways Interpretation – gerade umgekehrt verhält: Rembrandt malt, was er weiß, nämlich: dass die von ihm portraitierten Mitglieder der Schützenkompanie Frans Banning Cocqs (so auch der ursprüngliche Titel der NACHTWACHE) sämtlich in ein ebenso weitreichendes wie haarsträubendes Komplott verstrickt sind: die als Unfall bei einer Schießübung getarnte Ermordung ihres vormaligen Kapitäns Piers Hasselburgh, um über dessen Leiche hinweg ein Pfandgeschäft mit Prinzessin Maria Henrietta von England arrangieren zu können und so in den Besitz der englischen Kronjuwelen zu gelangen. DIE NACHTWACHE sei also, so Greenaways Film, nichts anderes als eine Anklage in Gemäldeform, und zwar (wie in NIGHTWATCHING schon angedeutet und in Greenaways anschließender Dokumentation REMBRANDT’S J’ACCUSE noch weiter ausgeführt wird) ohne dass dies „visual indictment“141 Rembrandts in den letzten vier Jahrhunderten auch nur einem Kunsthistoriker je aufgefallen wäre! – Rembrandts Ausruf: „open your eyes, you fool!“, mit dem die erste Sequenz von NIGHTWATCHING abschließt, meint damit den Zuschauer des Films dann ebenso wie den Betrachter des Gemäldes. Auch im Weiteren nimmt NIGHTWATCHING sich aus wie das direkte Gegenstück zu THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT: Während in Mr. Nevilles Zeichnungen seltsam deplacierte Gegenstände eindringen, einfach weil sie (weshalb auch immer) in der Landschaft plötzlich da sind, und diese Landschaft „unverfälscht“ gezeichnet werden soll, so behält Rembrandt, eben weil er nicht „die Wirklichkeit abmalen“ will, die volle Kontrolle über seinen Bildinhalt: „Nothing ever happens in this painting by accident“, so Greenaway: „It doesn’t contain any information that Rembrandt didn’t want to put there“142 – was dann, während Mr. Neville in seinen Zeichnungen von Compton Anstey selbst nicht dargestellt ist, nicht zuletzt auch für Rembrandts angeblichen Einbau seines Selbstportraits ins Bild gelte, welcher DIE NACHTWACHE noch einmal weder als „getreues Abbild der Natur“ noch auch als konventionelle Repräsentationskunst, sondern selbstreflexiv vielmehr in all ihrer Theatralität als allegorischen Ausdruck der ebenso künstlerischen wie kriminalistischen Beobachtungen Rembrandts kennzeichne und damit seine Zeugenschaft bestätige; Mr. Neville dagegen, so ja Mr. Talmann, habe in seiner Phantasielosigkeit schlichtweg „no use for allegory“ und erst recht nicht für irgendwelche Formen von „allegorical evidence“.

141 142

Greenaway: Nightwatching, S. IX. Kamphuis, Alje: DE NACHTWACHT tot leven gewekt, Fernsehsendung auf Nederland 1 vom 02.06.2006, zitiert nach: http://archief.netwerk.tv/player.php?id= 11061&start=00:00:00&end=00:00:00 (29.03.2009).

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Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT

Während Mr. Neville also, unabhängig davon, was ihm später angedichtet werden kann, in seinen Zeichnungen vor allem absichtslose „Objektivität“ beabsichtigt und allenfalls bei seinem Gastgeschenk eines Granatapfels noch eine „unintended allusion“ konzediert, beruft sich Greenaway bei seiner Deutung der NACHTWACHE als im Unterschied zu sämtlichen vorangegangenen Interpretationsversuchen „endlich erfolgreicher“ vor allem auch auf die in ebendieser Deutung unterstellte Künstlerintention Rembrandts – die Greenaways Deutung von „THE NIGHT WATCH’s true intent and purpose“143, deren Teil sie ja auch ist, dann selbstverständlich auch bestätigt: „The evidence has been finally successfully interpreted. [...] Rembrandt would surely have been finally gratified to see that his great group-portrait was recognised as the J’Accuse indictment it was always intended to be.“144

Werden Mr. Nevilles Zeichnungen aber als verräterisch-verrätselte Indizien, als die sie wenigstens vom Zeichner nie gedacht waren, vorsorglich verbrannt, reicht es bei Rembrandts Gemälde aus, dass dessen Anklage unverstanden bleibt oder vergessen wird; und wo Mr. Neville von den Herren der Gesellschaft eigenhändig geblendet und erschlagen wird, um eine weitere und diesmal: eheliche Verbindung mit der verwitweten Mrs. Herbert zu verhindern, in der der Zeichner das, was er für andere hatte abbilden sollen, selber für sich in Besitz nähme, so wird der selbst gerade verwitwete Rembrandt von ihnen aus Rache für die Abbildung ihres Verbrechens, die eigentlich ja eine Darstellung ihrer hervorragenden gesellschaftlichen Stellung hätte sein sollen, „lediglich“ nur ruiniert – um immerhin in seinen Träumen Mr. Nevilles Schicksal doch zu teilen. Wie in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT Januarius Zicks ALLEGORIE AUF NEWTONS VERDIENSTE UM DIE OPTIK in einer Sequenzierung von Detailaufnahmen auf eine mögliche Erzählung hin untersucht wird (und vor allem: auf eine Vorbereitung zu einem Mord), so in NIGHTWATCHING und REMBRANDT’S J’ACCUSE auch Rembrandts NACHTWACHE. „THE NIGHT WATCH is not a snapshot containing incidental or coincidental information“, so Greenaway: „Every shadow, gesture, contrast, detail, drama, placement and event is considered and presented for a purpose. Some have counted 51 mysterious or ambiguous or problematic events in the painting. But these are only mysterious or ambiguous or problematic if they are not considered to be comprehended as a whole in association with the murder and the conspiracy“145 –

ganz ebenso, wie auch die „merkwürdigen“ Objekte in Nevilles Zeichnungen erst als Serie betrachtet „Sinn“ ergeben, in der sie auf das „misadventure” in Compton Anstey hindeuten; wobei aber nicht vergessen werden sollte, dass ihr emplotment einerseits ja durchaus mehrere Geschichten zulässt, von denen dann jede jeweils eine für verschiedene Beteiligte unbequeme „Wahr143 144 145

Greenaway: Nightwatching, S. XI. Ebd., o.S. Ebd., S. X.

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heit“ bereithält, und andererseits die tatsächlichen Vorgänge, was immer sie genau gewesen sein mögen, ja nicht erhellen, sondern vielmehr verschleiern soll. Während zum einen jede Interpretation ihre Plausibilität nur aus ihrer Ordnung und Darstellung der „Fakten“ beziehen kann, die sie eben interpretiert, so werden diese „Fakten“ zum anderen natürlich immer so placiert und präsentiert, dass sie die Interpretation, zu der sie beitragen sollen, tunlichst auch bestätigen – ein Zirkelschluss der Interpretation146, so dass sich, wenn man Greenaways Verschwörungstheorie erst einmal akzeptiert hat, diese dann natürlich auch durch alle „Fakten“ untermauern lässt. Oder, wie Greenaway in REMBRANDT’S J’ACCUSE hinsichtlich Willem van Ruytenburchs Partisane feststellt, die er (wie in der Tat auch naheliegend) als symbolische Darstellung eines überausgeprägten Sexualtriebs interpretiert: „Once viewed in this fashion, and with this interpretation, it is difficult to see the item otherwise“ – die Frage damit aber immer noch offenlassend, ob DIE NACHTWACHE nicht vielleicht auch ebensowenig Hinweise auf einen Mord enthielte wie die ALLEGORIE AUF NEWTONS VERDIENSTE auch. Dabei bleibt Greenaways Deutung der NACHTWACHE als „forensic enquiry in paint“ und „sinister piece of evidence“147 allerdings nicht unwidersprochen: „Diese Interpretation ist Quatsch!“, so in aller Deutlichkeit etwa Ernst van de Wetering, international anerkannte Rembrandt-Koryphäe und Vorsitzender des Rembrandt Research Project148, der sämtliche Insinuationen Greenaways hinsichtlich einer Verschwörungstheorie der NACHTWACHE entschieden von sich weist und dabei eine klare Trennung der Kompetenzen von Kunst und von Kunstwissenschaft anmahnt (selbst und gerade, wenn die Kunst auf Kunst Bezug nimmt): „Greenaway darf natürlich fantasieren. Aber wenn er sagt, dass die Geschichte, die er erzählt, neue Schlüsse für die Rembrandt-Interpretation gibt, dann finde ich das kriminell, weil man dann die Zuschauer, Kunstbetrachter und Forscher auf eine verkehrte Spur setzt“149 –

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147 148

149

Vgl. White, Hayden: Historizismus, Geschichte und die figurative Imagination, in: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986, S. 123-144, S. 131. Ebd., o.S. Das als Forschungseinrichtung mit dem Ziel eines „mehr oder weniger definitive[n] Katalog[s] der eigenhändigen Werke Rembrandts“ übrigens dem I.R.R. aus VERTICAL FEATURES REMAKE oder auch der V.U.E. Directory Commission aus THE FALLS durchaus verwandt ist – vor allem dann, wenn in den fortlaufenden Forschungsberichten des RRP dieselben Werke sich innerhalb des eigenen Klassifikationssystems von definitiv authentischen zu definitiv abzuschreibenden Gemälden wandeln und umgekehrt, während nur die Kategorie der als zweifelhaft eingeschätzten Werke immer umfangreicher wird. Vgl. Busch, Werner: Wirklich Rembrandt? 400 Jahre nach seiner Geburt gibt der Maler der Forschung noch immer Rätsel auf, in: Der Tagesspiegel vom 24. Juni 2006. Zitiert nach: Hellbrügge, Alexander / Radigk, Thomas: Krimi um Rembrandt! Muss die Kunst-Geschichte umgeschrieben werden? Fernsehsendung in der ARD vom 23.09.2007, zitiert nach: http://www.daserste.de/ttt/beitrag_dyn~uid,1qo7bz4or 2orjzkn~cm.asp (29.03.2009).

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Wahrnehmung und Kommunikation: THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT

was, wie gerade auf die verkehrte Spur gesetzte Forscher eigentlich auch hätten wissen können, andererseits nichts anderes als das ist, was Greenaway schon immer gern getan hat; allerdings auch nie, ohne seinem „ingenious adventuring“ (wie er seine interpretatorische Vorgehensweise in NIGHTWATCHING auch nennt) nicht wenigstens noch allerkleinste Fiktionssignale mitzugeben. So findet man in dem Begleitband, den Greenaway seiner Rembrandt-Interpretation zur Seite stellt, eine Liste von 40 Biographien der in der NACHTWACHE Portraitierten, die sich mitunter ebenso merkwürdig lesen wie die Biographien von THE FALLS150: so kann man neben Informationen zu ihrer Herkunft, Profession etc. etwa erfahren, dass die Portraitierten bärtige Frauen als Haushälterinnen beschäftigten, zweimal täglich ihre Wäsche wechselten oder die NACHTWACHE in Kaffeebohnen bezahlen wollten, oder auch, da das Bild ja insgesamt nur 34 Personen darstellt, weshalb sie in der NACHTWACHE nicht portraitiert sind (oder nur als Abwesende anwesend sind). Von allen Biographierten aber verdienen in diesem Zusammenhang zwei besondere Aufmerksamkeit, nämlich Jacob de Roy (#25), laut Greenaway auch überhaupt die Schlüsselfigur zur Interpretation der NACHTWACHE, und eine eher randständige Figur namens Bloemfeldt (#20). De Roy, mit dem als einer seiner vielen Stellvertreterfiguren sich Greenaway in NIGHTWATCHING noch indirekt, in REMBRANDT’S J’ACCUSE dann aber ganz direkt identifiziert, wird hier beschreiben als „a refined aesthete from Utrecht, a writer never satisfied with his own literary efforts, so that he had never published anything, but he enjoyed imagining that his plots and narratives could be enacted out in real life, hence he encourages Rembrandt to search for and elaborate a conspiracy in THE NIGHT WATCH“151 –

de Roy, so scheint es also, ist in seiner Deutung der NACHTWACHE ganz einfach eine weitere Inkarnation von Greenaways alter ego und master strategist Tulse Luper, wie auch Bloemfeldts sympathetisches Verhältnis zu Rembrandt darin gründe, dass beide, Bloemfeldt als Schauspieler und Rembrandt als Maler, im Grunde nichts als „cheats and fakes“ darstellten: „both mocking the world and, at the same time, exploiting it“152 – so wie Greenaway als Filmemacher, nach Alexander Hellbrügge und Thomas Radigk, nur mit der Unwissenheit und Leichtgläubigkeit des Zuschauers spielt und für sein „Rembrandt-Märchen“ auch noch dokumentarische Authentizität in Anspruch nimmt153 – von öffentlichen Fördergeldern ganz zu schweigen!

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Natürlich handelt es sich um fiktive oder fiktionalisierte Biographien, die den in der NACHTWACHE Portraitierten vielfach auch nicht korrekt zugeordnet sind. Vgl. Dudok van Heel, Bas: Frans Banninck Cocq’s Troop in Rembrandt's NIGHT WATCH - The Identification of the Guardsmen, in: The Rijksmuseum Bulletin 1(2009), S. 43-87. Greenaway: Nightwatching, S. LXI. Ebd., S. LI. Hellbrügge / Radigk: Krimi um Rembrandt!

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System und Mythos

Wie NIGHTWATCHING innerhalb des „Systems Greenaway“ als remake bzw. re-working von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT unter Verkehrung seiner Vorzeichen angesehen werden kann, so ist daneben REMBRANDT’S J’ACCUSE als Greenaways wohl größtes mock documentary zu betrachten, gerade weil Rembrandt (im Unterschied etwa zu Tulse Luper) eine reale historische Person und DIE NACHTWACHE (im Unterschied etwa zu Vertical Features) ein reales Kunstwerk darstellt und Greenaways „interpretative plot“, den er über DIE NACHTWACHE genauso wirft wie Mrs. Talmann den ihren über Mr. Nevilles Zeichnungen, so elaboriert entwickelt, so aufwändig wie überzeugend dargestellt und nicht zuletzt mit aller Gravität, Autorität und Seriosität des grand old man auch höchstpersönlich von ihm selber präsentiert wird, dass es fast unmöglich wird zu glauben, nicht wenigstens Greenaway selber glaube seine Interpretation. Als ebenso erhellend wie auch überhaupt bezeichnend aber darf in diesem Zusammenhang wohl Greenaways Antwort auf die Frage Hanno Rauterbergs betrachtet werden, inwieweit seine Deutung der NACHTWACHE denn überhaupt auf kunsthistorisch gesicherten Erkenntnissen beruhe oder ob er selber Nachforschungen angestellt habe: „Ich forsche eigentlich nie. Fiktionen sind immer interessanter als die Wahrheit.“154 So ließe sich am Ende Greenaways Beschäftigung mit Rembrandt und der NACHTWACHE mit einigem Recht (und den Worten Lee Marshalls) gewissermaßen als „DA VINCI CODE for intellectuals“155 bezeichnen (schon Greenaway selber weist auf diese Parallele hin156) – wobei, passenderweise, das zentrale „Beweisstück“ aus THE DA VINCI CODE, Leonardos DAS LETZTE ABENDMAHL, zwei Jahre nach der NACHTWACHE zum Gegenstand von Greenaways zweitem mise-enlumière-Projekt THE LAST SUPPER werden wird157.

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156 157

Zitiert nach: Rauterberg, Hanno: „Rembrandt war kein Maler.“ Interview mit Peter Greenaway, in: Die Zeit vom 29. Dezember 2005. Marshall, Lee: Nightwatching. Rezension vom 12.09.2007, zitiert nach: http://www.screendaily.com/ScreenDailyArticle.aspx?intStoryID=34536 (29.03.2009). Greenaway: Nightwatching, o.S. Vgl. Kapitel 10, S. 384ff.

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06 Evolution und blinde Flecke: A ZED AND TWO NOUGHTS (1985)

Wie ist es möglich, dass ein bestimmter aktueller Zustand eintritt, obwohl er doch vollkommen unwahrscheinlich ist – und wie kann er erlebt werden? Als reiner Zufall, als bestimmte Wirkung einer bestimmten Ursache oder gar als beabsichtigtes Ergebnis eines vorgefassten Planes? Will man bestimmten Ereignissen so „auf den Grund gehen“, welche Erklärungsmodelle bieten sich dann an? Wie weit reichen Kausalerklärungen und „Fragen nach dem Ursprung“, was können sie als „Postrationalisierungen“ leisten oder nicht leisten, und schließlich: was bedeutet für die Beobachtung des Lebens durch lebende Beobachter in diesem Zusammenhang der unbeobachtbare blinde Fleck ihrer Beobachtungen – nämlich ihr Tod? Mit A ZED AND TWO NOUGHTS kehrt Greenaway nach dem wie immer gebrochenen murder mystery von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT zur experimentelleren Form des catalogue movie zurück: Obwohl mit einer (mehr oder weniger plausiblen) Erzählung versehen, die ihrerseits auch eine Serie von Lehrfilmen beinhaltet, behandelt A ZED AND TWO NOUGHTS als eine Film-Form „jenseits von Spiel- und Dokumentarfilm“, als „Film-Essay“ im Sinne Eisensteins eine Reihe sehr unterschiedlicher Problemstellungen und Fragen in einer „Form der ,Faits divers‘“, die nur als „nicht klassifizierbare Informationen“ klassifizierbare Informationen zu klassifizieren sind, wie auch Darwins Evolutionstheorie zwar als Erzählung modellierbar, ihr „sinnhafter“ Zusammenhang als narrativ-kausaler aber nur eben als Konstruktion eines Beobachters zu leisten ist – ob es dabei nun um die Evolution des Lebens, die Evolution der Medien oder auch die Evolution des „Systems Greenaway“ selbst geht.

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System und Mythos „Das normale Verständnis von Zufall ist Ursachelosigkeit. Das kann jedoch nach moderneren Kausaltheorien, in denen Ursachen auf Attribution, auf Zurechnung, zurückgeführt werden, nicht sinnvoll behauptet werden. Wenn jemand Ursachelosigkeit behauptet, behauptet er nur, dass er nicht in der Lage ist, eine Ursache zu finden oder zuzurechnen. Es ist ein Statement über sein eigenes Unwissen.“ Niklas Luhmann, EINFÜHRUNG IN DIE THEORIE DER GESELLSCHAFT

„Die Wechselwirkungen, die den Organismus eines Hundes am Leben erhalten, sind etwas, was sich unmöglich in vivo erforschen lässt. Um sie genau zu untersuchen, müsste man den Hund schon töten.“ Niels Bohr

Amy Lawrence zufolge darf A ZED AND TWO NOUGHTS als „one of Greenaway’s more challenging (and least popular) films“ gelten1, an dessen Rätselhaftigkeit und eigenartiger „simultaneous resistance and invitation to interpretation“ sich nach Jean Petrolle selbst noch „the most indefatigable poststructuralists and deconstructionists among us“ ihre Zähne ausbeißen – während sie sich doch den Kopf zerbrechen, was in der Welt das alles nur bedeuten mag2. Dabei ist A ZED AND TWO NOUGHTS in seiner dezidierten Verweigerung einer offen auf der Hand liegenden oder gar mitten ins Gesicht springenden „Aussage“ oder auch eines klar zu umreißenden „Inhalts“ vielleicht sogar ein ausgesprochen typischer Greenaway-Film, für welchen dann mit Lewis Carroll sicher gilt, dass man, sofern man nur nicht bereits schon immer (einen) Sinn voraussetzt, ihn dann auch nicht zu suchen braucht – und so viel Zeit und Mühe spart3; ein Ratschlag, den gerade auch die Hauptfiguren von A ZED AND TWO NOUGHTS sehr zu ihrem Schaden aber nicht beherzigen. So wie nach Gilles Deleuze gerade auch der Unsinn einen Sinn hat: denjenigen nämlich, keinen zu haben4, so dient auch in Greenaways Filmen vieles nur dem Zweck der Zweckfreiheit – „the purpose of not serving a purpose, surely quite a valid one“5, so wie die Streifen des Zebras, wie in A ZED AND TWO NOUGHTS ausführlich erörtert wird und auch gerade Darwin einräumt, von ihrer Schönheit einmal abgesehen keinem ersichtlichen 1 2

3

4 5

Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 78. Petrolle, Jean: Z is for Zebra, Zoo, Zed, and Zygote, or Is it Possible to Live Without Ambivalence?, in: Alemany-Galway / Willoquet-Maricondi (Hg.): Peter Greenaway’s Postmodern / Poststructuralist Cinema, S. 159-176, S. 160, 163. „,If there’s no meaning in it‘, said the King, ,that saves a world of trouble, you know, as we needn’t try to find any.‘“ (Carroll, Lewis: Alice’s Adventures in Wonderland, in: ders.: Alice’s Adventures in Wonderland / Through the Looking-Glass, Dingley / London 1998, S. 13-137, S. 133.) Deleuze, Gilles: Logik des Sinns, Frankfurt am Main 1993, S. 94. Morgan: Breaking the Contract, S. 17.

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Evolution und blinde Flecke: A ZED AND TWO NOUGHTS

Zweck dienen – und dabei dennoch als Beleg der Evolutionstheorie fungieren können6! Gerade aber weil ihm keine eindeutig-„monolithische“ Bedeutung zuzuschreiben ist, ist A ZED AND TWO NOUGHTS Petrolle zufolge dann geradezu als Allegorie der Pluri-Interpretabilität interpretabel (und interpretativ damit dann doch noch zu vereindeutigen): „Just as creationism, classical mythology, and Darwinism offer competing narratives to explain the origins of life, a number of narratives might explain the film [...] With its self-conscious, deliberate multivalency, A ZED AND TWO NOUGHTS suggests that the very process of reading a film is an allegory for how human beings strain to make sense of experience.“7

Die Richtigkeit des Argumentes unbenommen, griffe es aber natürlich doch zu kurz, als Interpretation des Films lediglich nur anzugeben, dass eine Vielzahl von Interpretationen möglich wäre (ohne dann aber darüberhinausgehend eine eigene anzubieten), oder der von Lawrence wie immer zu Recht festgestellten „uselessness of reason when faced with the reality of death“8 nur einfach eine uselessness of reason when faced with the ostensible inscrutability of a film zur Seite zu stellen. Anstatt a priori eine plausibel auflösbare Geschichte oder eine klar zu fassende Aussage zu erwarten, ließe sich A ZED AND TWO NOUGHTS mit seinem vielfältigen Themenkatalog etwa der Zyklizität von Geburt und Tod, der Evolution des Lebens und der Medien, der menschlichen Duplizität, der anatomischen und kompositorischen Symmetrie, dem Werk Vermeers etc., mit den Begriffen Sergej Eisensteins9, viel eher als eine Filmform jenseits von Spiel- und Dokumentar6

7 8 9

Für diesen Beleg wird eben keine „Zweckmäßigkeit“ der Streifen in Anspruch genommen, wie eine selber nur „vulgärdarwinistische“ Kritik der Evolutionstheorie sie in Rechnung stellt (so etwa Kuhn, Wolfgang: Stolpersteine des Darwinismus. Ende eines Jahrhundertirrtums, Stein am Rhein 1999, S. 64-69), sondern vielmehr der Umstand, dass sie bei Zebras, Quaggas, Eseln und Pferden in wenn auch unterschiedlicher Ausprägung doch gleichermaßen auftreten und insofern auf einen gemeinsamen Vorfahren aller Pferdearten hinweisen, anstatt dass kreationistisch jede Art für sich und unabhängig individuell erschaffen worden wäre. Vgl. Darwin, Charles: The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. Band 2, London 1871, S. 301f.; ders.: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, London 1859, S. 166f.; Gould, Stephen Jay: Was, wenn überhaupt etwas, ist ein Zebra?, in: ders.: Wie das Zebra zu seinen Streifen kommt. Essays zur Naturgeschichte, Basel / Boston / Stuttgart 1986, S. 351-362; ders.: Wie das Zebra zu seinen Streifen kommt, in: ders.: Wie das Zebra zu seinen Streifen kommt, S. 363-372. Wenn das Zebra also als „Symbol des Scheiterns der Darwinschen Theorie an ihrem Beschreibungs-objekt“ gefasst wird, dessen „bloße Existenz“ sie schon alleine widerlege (Petersen: Jenseits der Ordnung, S. 34), so zeugt dies eben nicht von einer Schwäche der Evolutionstheorie, sondern von nur derjenigen ihrer Kritik, die offensichtlich schlecht informiert ist oder etwas falsch verstanden hat. Petrolle: Z is for Zebra, Zoo, Zed, and Zygote, S. 164. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 72. Nach Greenaways persönlicher Einschätzung übrigens auch „certainly the greatest maker of cinema, a figure you can compare with Beethoven or Michelangelo, and

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System und Mythos

film zu begreifen: als „Nichtspielfilm“ gewissermaßen, als „,Essay‘-Band aus einer Reihe von Themen“, als eine „Form der ,Faits divers‘“, wie sie nach Eisenstein genau dazu geeignet wäre, irgend „,ganzheitliche‘ Sachen“ abzulösen10, wenn sie vielmehr in einem Konglomerat nur als „nicht klassifizierbare Informationen“ klassifizierbarer Informationen bestehen – je unlogischer, desto besser!11 In diesem Sinne sind Greenaways Filme überhaupt auch weniger als filmische Erzählungen denn etwa als catalogue movies zu begreifen12: ging es in THE FALLS u.a. um 92 Möglichkeiten, sich das Ende der Welt vorzustellen (und 92 Möglichkeiten, einen Film darüber zu machen)13, so in A ZED 14 AND TWO NOUGHTS u.a. um 26 Möglichkeiten, ein Set zu beleuchten – und immer aber um eine Erkundung weiterer ungenutzter Möglichkeiten des Kinos, so dass man im Grunde sämtliche Filme Greenaways auch mehr oder weniger als „Experimentalfilme“ betrachten könnte (wiewohl sich andererseits unter Berufung auf Lucien Sève, nach dem der Film sich von allen anderen Künsten dadurch unterscheide, dass er nicht viel mehr Erklärungen zu bieten habe als die Realität selbst15, vielleicht auch sagen ließe, dass Greenaways Filme gerade in ihrer Rätselhaftigkeit wenn auch kontraintuitiv so doch als im höchsten Maße „realistisch“ zu betrachten seien – im richtigen Leben nämlich, so Greenaway, werden einem die meisten Dinge ja auch nicht erklärt16: „The only certainty we have is that there are no certainties.“17).

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not be embarrassed by the comparison“ (Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S.). Eisenstein, Sergej M.: Unser „Oktober“. Jenseits von Spiel- und Dokumentarfilm, in: ders.: Schriften. Band 3. Oktober. Mit den Notaten zur Verfilmung von Marx’ „Kapital“, München 1975, S. 182-187, S. 182; ders.: Notate zu einer Verfilmung des Marxschen „Kapital“, in: ders.: Schriften. Band 3, S. 289-311, S. 290, 296. Vgl. Wanner-Müller, Franziska: Was fasziniert an den „Faits divers“? Interview mit Laurent Delaloye, in: NZZ Folio 10/95, zitiert nach: http://www.nzzfolio.ch/www/ d80bd71b-b264-4db4-afd0-277884b93470/showarticle/62933a0b-00b1-4dc4b91a-95fea4283478.aspx (29.03.2009), o.S. Vgl. Woods, Alan: Arts of Painting. An Interview with Peter Greenaway, in: ders. / Melia, Paul: Peter Greenaway. Artworks 63-98, Manchester 1998, S. 130-141, S. 135. Smith: Food for Thought, S. 99. Vgl. Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 220: „There is a deliberate catalogue of the various ways to light a set in A ZED AND TWO NOUGHTS – by daylight, dawnlight, twilight, candle-light, fire-light, moonlight, starlight, search-light, by cathode-tube, arc-lamp, neon-lamp, projector-beam, car headlamps, fog-lamps, and many others“ – eine insgesamt 26teilige Liste, die Greenaway zusammen mit seinem Kameramann Sacha Vierny aufsetzte, mit dem er bei A ZED AND TWO NOUGHTS auch zum ersten Mal zusammenarbeitete (Greenaway, Peter: Introduction, in: Ein Z und zwei Nullen, Leipzig 2005 (DVD)). Sève, Lucien: Cinéma et méthode, in: Revue internationale de filmologie, 1(1947), S. 42-46, S. 45, zitiert nach: Kracauer, Siegfried: Geschichte – Vor den letzten Dingen, in: ders.: Schriften. Band 4, Frankfurt am Main 1971, S. 64; vgl. ders.: Theorie des Films, S. 106. Poppenberg, Dorothee J. / Weinrichter, Antonio: Der Kontrakt des Zeichners. Gespräch mit Peter Greenaway, in: epd Film 2(1984), S. 18-20, S. 20.

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Survival Machines Wie ambitiös auch das Projekt von Greenaways Œuvre immer sein mag (THE TULSE LUPER SUITCASES etwa bezeichnet Greenaway als sein „grand magnum opus, where I could put everything that I thought I’d learned about the cinema – and indeed life – in one grand, encyclopaedic project“18) und was immer man auch davon halten will: ganz unabhängig davon ist für Greenaway sein eigentliches Lebenswerk auch lange schon erfolgreich abgeschlossen, wie er bereits 1991 im Interview verrät: „[I have] two daughters. My purpose on earth was finished a long time ago. I do believe in that Darwinian idea that we are here as sperm and ovum carriers.“19

Sich selber so als überzeugten Darwinisten (oder vielmehr: eo-Darwinisten) outend20 – das Verhältnis von künstlerischer Produktion und biologischer Reproduktion hatte Greenaway in anderem Zusammenhang schon 1986 in THE BELLY OF AN ARCHITECT behandelt –, erklärt Greenaway Charles Darwin zu einem seiner personal heroes, dem er 1992 mit der Fernsehproduktion DARWIN schließlich auch ein künstlerisches Denkmal setzt: eine Lebens-, Werks- und Wirkungsgeschichte in 18 Film-tableaux, die durch einen Sprechtext aus dem off erzählt wird, und es sind wohl auch die Texte zu den tableaux #16 und #17 („in which Darwin’s Theory of Evolution is considered relevant to our present understanding of ourselves“ bzw. „in 17 18 19

20

Weidle: „The only certainty we have is that there are no certainties“, S. 174. Greenaway: A Life in Fim, o.S.; vgl. Oosterling: Cinema of Ideas, S. 18. Pally: Cinema as the Total Art Form, S. 113. Vgl. Barker: A Tale of Two Magicians, S. 27-30, S. 30: „In a Darwinian sense my purpose on earth is entirely over. I have engendered two daughters. I have passed on the genetic material, so what I do now, between their birth and my death, is just embellishing the nest a little. [...] I am merely engaged – in a cosmic sense – in decoration.“ Allerdings ist Greenaway es auch gelungen, sowohl zwischen seinen Rollen als Familienvater und als Filmemacher als auch hinsichtlich der alternativen Wege der Vererbung und des Erwerbs von Information mit seinem home movie H IS FOR HOUSE gewissermaßen einen Kompromiss zu finden, wenn er eine (gewohnt willkürliche) Zusammenstellung alphabetischer Serien und einige (gewohnt schräge) Kürzestnarrative in eine Sequenz aus Urlaubsaufnahmen seiner Familie einbaut, in denen er dann u.a. auch seiner Tochter spielerisch das ABC beibringt: „H is for ...“ – ein Motiv, das sich später etwa in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT und A ZED AND TWO NOUGHTS wiederholen wird. Die in all ihrer Radikalität vorgetragene Ansicht, dass Menschen in evolutionstheoretischer Hinsicht lediglich „survival machines“ seien – „robot vehicles blindly programmed to preserve the selfish molecules known as genes“ –, stammt in dieser Form und Terminologie natürlich nicht von Darwin selber, sondern vielmehr von Richard Dawkins (The Selfish Gene. 30th Anniversary Edition, Oxford 2006, S. XXI), der darin seinerseits allerdings nichts anderes als eine Paraphrase Darwins sieht: „The Selfish Gene Theory is Darwin’s theory, expressed in a way that Darwin did not choose but whose aptness, I should like to think, he would instantly have recognized and delighted in. It is in fact a logical outgrowth of orthodox neoDarwinism, but expressed as a novel image.“ (ebd., S. XV.)

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System und Mythos

which Darwin’s ideas have changed the significance of Man“), die Greenaways ansonsten noch an vielen anderen Stellen Ausdruck verliehener Bewunderung für Darwin und seine Evolutionslehre am besten auf den Punkt bringen: „Darwin’s evolutionary theories have dramatically obliged us to look at our animal origins and our physical selves with new eyes. [...] Our connections with our animal heritage make us severely doubt notions of there being any purposes to our existence other than that we can ascribe to animals, and since Darwin’s theory suggests the individual is the insignificant servicer of the species, then apparently the necessitiy to reproduce is essentially our only pertinent function. Our programmed sexuality is the prime motivation of our existence. Each individual is only a suitcase for carrying and passing on the genetical code. Post-Darwin, it is not easy to successfully make any other human action or behaviour or achievement significant. In the light of this fact, we have been obliged to re-examine notions of the greatest sensitivity, to reconsider such dearly-held concepts such as conscience, spirit, and soul, concepts which we pride ourselves on possessing to make us a superior animal, capable of communicating with even greater forms of intelligence, mortal or immortal. [...] The aims and ambitions that man has held important for so long, indeed which most of the past 2000 years of Western civilization has been built upon, no longer have the same significance. There can be no validation for good and evil, no fixed moral code, no sacrosanct states of moral consciousness. [...] The ethical imperatives that seemed inviolate are now seen for what they are – constructs for the subjective comfort for the given people at a given time; man-made constructs, not any given or universal prerogatives. [...] Darwin was sure that, despite any heartfelt wish for the contrary, man was not the sum and end of the evolutionary process, and that, in every likelyhood, homo sapiens was in evolutionary terms no more than a link that would continue after him and probably without relationship to him, since evolutionary progress has seen so many dead ends, cul de sacs, and abortive developments, especially in the highly developed species. [...] Galileo and Kopernikus, physicists ans astronomers, shifted the focus from man in his relationship to the universe – it made man lonier than he thought himself to be. But despite the jolt to his self-esteem, it was still possible for man to accomodate his wishful belief in being safely embraced by God-made laws and conditions. Charles Darwin, a biologist, has committed no such condolences. [...] Darwin has given man such a short communicable history and such a long uncommunicable prologue that looking back is no comfort. Looking forward is no comfort either, because evolution appears so directionless, and so apparently purposeless. Darwin has finally put man irredeemably out on his own. […] Darwin has given us a freedom that no social or religious programme has ever given us, for all, if man is on his own, then all the checks we relied on to excuse or explain our own shortcomings and mediocrities have been removed. We are, at least, now free for what we want to be“ –

gerade die biologische Reduktion des Menschen auf eine survival machine21 enthebt ihn also nicht, sondern verpflichtet ihn vielmehr einer selbstverantwortlichen Moralität22! 21 22

Ebd., S. XXI. Vgl. Foerster, Heinz von: Ethik und Kybernetik zweiter Ordnung, in: ders.: Short Cuts, S. 40-66.

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Evolution und blinde Flecke: A ZED AND TWO NOUGHTS

Wird nun auch in diesem Sinne als besonderes Verdienst Darwins herausgehoben, dem vordem ebenso unbezweifelbaren wie alternativlosen „dark creationism of the Old Testament“ entgegen eine umfassende Säkularisierung und Entdogmatisierung der Vorstellung von Herkunft und Stellung des Menschen und damit nichts weniger als eine Revolution: „the Darwin Revolution“ ausgelöst zu haben („was Darwin going to be only another Moses“, so wird in tableau #7 gefragt, „adjusting holy authority to new circumstances, or was he going to replace God entirely?“), so enthält sich Greenaways Film andererseits dann aber selber gerade nicht, Darwins Person in seiner Darstellung nachgerade mythisch zu überhöhen oder eine solche Überhöhung doch zumindest festzustellen, wenn etwa schon das erste tableau mit einer Reflexion darüber anfängt, wie denn Darwin darzustellen sei: „Darwin should always be a bearded and benign figure“, so der off-Text, „much like the figures of mythological and biblical authority he has superseded. He should be like a Moses in a 19th century suit, come down from the mountain with new commandments“,

so wie dann ganz entsprechend auch im letzten tableau, das Darwins Beisetzung in der Westminster Abbey darstellt, die Bibel auf dem Altar durch eine Ausgabe von ON THE ORIGIN OF SPECIES ersetzt ist. Damit aber ist Darwin (der ja in der Tat auch selber einmal Geistlicher werden sollte!) zu eben jenem „neuen Moses“ geworden, der er laut DARWIN ist und nicht ist: Darwin, so will es Greenaways Film, unterstellt seine wissenschaftlichen Erkenntnisse zwar nicht länger der heiligen Autorität religiöser Orthodoxie, aber er schafft auch gerade im Konflikt mit ihr dann eben Religion nicht ab, sondern stiftet nolens volens vielmehr einen neuen, säkularen Glauben – aus Darwinscher Evolutionstheorie ist die „neue Mythologie“ des Darwinismus geworden, die Heilsbotschaft vom Ende aller Heilsbotschaften, und so mag auch Greenaway nicht ausschließen, dass zukünftige wissenschaftliche Entwicklungen die Evolutionstheorie ganz in das Reich der Mythen weisen könnten: „Darwin could well become a credulous Adam, and his stories could become no more or less than pretty myths and romantic metaphors“23 – als welche A ZED AND TWO NOUGHTS sie schon zu guten Teilen auch behandelt. Genau an dieser Stelle aber, d.h. bei der Frage nach der Austausch- und Ersetzbarkeit von wissenschaftlichem und religiösem oder mythischem Diskurs, der Frage nach ihrer eventuellen funktionalen Äquivalenz und Wandelbarkeit ineinander (oder gar: ihrer Identität) setzt A ZED AND TWO NOUGHTS mit seiner seltsamen Geschichte um die zwei verwitweten Zoologen und ehemaligen siamnesischen Zwillinge Oswald und Oliver Deuce ein. Der Film beginnt mit einem Autounfall, bei dem die Ehefrauen beider Brüder sterben: Paula und Griselda Deuce sitzen im Fond eines von einer dritten Frau gesteuerten Wagens, als plötzlich ein „tieffliegender“ Schwan auf seinem Weg zum Zoo, in dem Oswald und Oliver arbeiten und an dessen künstlichen Zierteichen das wilde Tier mit seiner Schar ironischerweise nistete, die Windschutzscheibe des Fahrzeugs durchschlägt; der Wagen kommt von der Fahrbahn ab und rammt ein Straßenschild, Paula 23

Greenaway: Some Organizing Principles, S. 168.

225

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und die in der zehnten Woche schwangere Griselda sterben, die ebenfalls schwangere Fahrerin namens Alba Bewick (!) verliert ihr Kind und ein Bein – ein ebenso schreckliches wie unerklärliches Unglück, um dessen Erklärung oder auch Bewältigung gleichwohl der gesamte Rest des Films bemüht sein wird und das so ein vorzügliches Anfangsproblem abgibt, wie Greenaway erläutert: „We now have the beginnings of a plot to explore many things: the absence of meaning in gratuitous death; is death predetermined?; how do religion and science deal with the problem? Is Genesis or Darwin the most likely myth; what other mythsystems try and answer the question?“24 „Are animals like car crashes – Acts of God or mere accidents – bizarre, tragic, farcical, plotted nowadays into a scenario by an ingenious storyteller, Mr C. Darwin?“25

Zwischen den Polen von Wissenschaft und Mythologie ist der Zoo von A ZED AND TWO NOUGHTS nicht nur eine „dreidimensionale, lebende Enzyklopädie der Tiere“26 mit angeschlossener Forschungsabteilung samt Photolabor (und einigen Tendenzen zur Wunderkammer27), sondern zugleich auch noch Olymp und Capitol, wenn sämtliche Hauptfiguren mit einer Figur der griechisch-römischen Mythologie korrespondieren: •



• • • •

24 25 26 27

28

die einander immer näher rückenden und sich einander immer mehr angleichenden Deuce-Zwillinge (die sich als getrennte siamnesische Zwillinge sogar wieder zusammennähen lassen wollen) mit den Dioskuren Kastor und Polydeukes bzw. Castor und Pollux; die sich nach der Anzahl der Buchstaben des Alphabets 26 Kinder wünschende und schließlich Zwillinge zweier Väter zur Welt bringende Alba Bewick mit Leda und Hera bzw. Juno zugleich; die „Zooprostituierte“ und Verfasserin erotischer Kurzgeschichten Venus de Milo mit Aphrodite bzw. Venus; der Zoodirektor Fallast mit Zeus bzw. Jupiter; der mörderische Tierwärter Van Hoyten mit Hades bzw. Pluto und der Torwächter Plate als „everyone’s pimp and messenger“ mit Hermes bzw. Merkur28.

Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 218. Greenaway: A Zed and Two Noughts, S. 15. Vgl. Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 218. Neben dem Kuriosum eines einbeinigen Gorillas, den der Zoo von Rotterdam, wo A ZED AND TWO NOUGHTS gedreht wurde, tatsächlich auch besaß, versucht der farbenblinde Van Hoyten, einen Zoo mit nur schwarz-weißen Tieren aufzubauen, und Felipe Arc-en-ciel, der als „angelische“ Erscheinung schon dem Namen nach an Noah gemahnt, dessen Arche ja in gewissen Sinne auch als Urbild aller Zoos betrachtet werden kann, erwünscht sich einen Zoo nur mythologischer und Fabeltiere. Vgl. Greenaway: A Zed and Two Noughts, S. 27ff.; Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 218.

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Evolution und blinde Flecke: A ZED AND TWO NOUGHTS

Welchen Erklärungswert aber hat die Evolutionstheorie dem mythologischen Erzählungsreichtum überhaupt entgegenzusetzen – falls sie sich nicht selbst als Tyche allegorisieren wollte?

Evolution – kein Menschenbild „I had, and have“, so Greenaway, „come certainly to believe that there is no better system to answer unanswerable questions than that introduced in THE ORIGIN OF SPECIES.“29 Ob nun diese Ansicht haltbar ist oder auch nicht – die Evolutionstheorie, so stellt zumindest Stephen Jay Gould ihre faszinierenden Aspekte heraus, „ist eine der halben Dutzend ,großen Ideen‘, die von der Wissenschaft entwickelt worden sind. Sie spricht die tiefen Anliegen der Genealogie an, die uns alle faszinieren [...]. Woher kamen wir? Wo ist das Leben entstanden? Wie hat es sich entwickelt? Wie sind die Organismen entstanden?“30 –

Fragen also, von denen Gould auch gleichwohl sagt, dass sie vor allem dadurch faszinieren, als sie in einer Art „erhabenen Starrsinns“ unbeantwortet blieben31 – was gerade auch die Evolutionstheorie nicht ändern wird: indem sie die Evolution zunächst als Tatsache voraussetzt, konstituiert sich die Evolutionstheorie als Theorie, die zwar die Mechanismen zu erklären sucht, welche Evolution möglich machen (so etwa das Zusammenspiel der Funktionen der Variation und Selektion und, wie etwa Luhmann zu Darwin noch hinzufügt, der Stabilisierung32), in dieser Umstellung von Was-Fragen auf Wie-Fragen im engeren Sinne aber eben nicht mehr als Prozesstheorie betrachtet werden kann, die Späteres durch Früheres und dieses durch noch Früheres erklärte, bis sie eventuell bei einem Anfang als Grund und Bedingung der Möglichkeit des Prozesses anlangte33. Fragen nach dem „Ursprung des Lebens“ also, wie sehr sie immer faszinieren mögen, können evolutionstheoretisch gerade nicht beantwortet werden (so dass in diesem Sinne auch der Titel von Darwins ON THE ORIGIN OF SPECIES in hohem Maße irreführend ist34); im Unterschied zu Schöpfungs- und Entwicklungstheorien, 29 30 31 32

33 34

Greenaway: Some Organizing Principles, S. 166. Gould, Stephen Jay: Evolution als Tatsache und als Theorie, in: ders.: Wie das Zebra zu seinen Streifen kommt, S. 251-260, S. 260. Ders.: Wie das Zebra zu seinen Streifen kommt, S. 363. Vgl. Luhmann, Niklas: Systemtheoretische Argumentationen, in: ders. / Habermas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 291-405, S. 364; ders.: Die Politik der Gesellschaft, S. 421f. Gould: Evolution als Tatsache und als Theorie, S. 252ff.; Luhmann: Evolution und Geschichte, S. 150f. Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 292; Thoms, Sven P.: Ursprung des Lebens, Frankfurt am Main 2005, S. 18, 22. Wie nach dem nach Francesco Redi, Lazzaro Spallanzani und Louis Pasteur formulierten „Gesetz der Biogenese“ omne vivum ex vivo (vgl. Collins, Harry / Pinch, Trevor: Der Keim des Anstoßes: Louis Pasteur und die Ursprünge des Lebens, in: dies.: Der Golem der Forschung. Wie unsere Wissenschaft die Natur erfindet, Berlin 1999, S. 101-114;

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System und Mythos

deren Erklärung auf dem Postulat einer (freilich aus unerkennbaren Gründen unerkennbaren) intelligenten Ursache oder eines (zeitlich freilich nicht bestimmbaren) bestimmenden Anfangs fußt, nach denen die Entstehung des Lebens kausal oder final zu erklären wäre, klammert die Evolutionstheorie das Problem des „Anfangs“ als selbstvoraussetzend ganz einfach aus, führt die Differenzierung der evolutionären Mechanismen selbstreferentiell wiederum auf Evolution zurück und beschränkt ihr Erklärungsziel auf ungeplante Strukturänderungen der evoluierenden Systeme in abweichender Reproduktion, d.h. letztlich auf die Beschreibung einer Anwendung von Zufällen auf Zufälle, die immer auch anders hätte ausfallen können35; ihr Angebot besteht laut Luhmann darin, „den Grund, dass etwas ist und nicht nicht ist, in der Unwahr-scheinlichkeit seines Seins zu suchen und die Erklärungslast dafür zu übernehmen. D.h.: Ein Beobachter von Evolution sieht diese als Paradox, als Unwahrscheinlichkeit des Wahrscheinlichen, und formuliert dann sein Gegenstandsverhältnis mit der Frage, wie es trotzdem möglich ist und ob es weiterhin so bleibt, wie es ist.“36

Die Evolutionstheorie behandelt also die „Paradoxie der Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen“37, indem sie zu erklären sucht,

35

36 37

Thoms: Ursprung des Lebens, 9ff.) die Entstehung des Lebens etwa im Sinne einer creatio ex nihilo auch (und gerade!) evolutionstheoretisch nicht erklärbar ist, so heißt es auch in A ZED AND TWO NOUGHTS ganz zu Beginn der „Life on Earth“ series in aller Ratlosigkeit: „It's comparatively easy to comprehend how one species gave way to another, but perhaps more difficult to understand the evolutionary leap necessary to bridge the most sophisticated of the apes with man, and more difficult still to contemplate how life can create itself, apparently, out of nothing.“ Dabei kann diese supponierte „Urzeugung“ allen Lebens, wenn schon theoretisch nicht erklärt, so doch filmisch immerhin in einer Art von doppeltem re-enactment inszeniert werden, wenn parallel zum off-Text der „Life on Earth“ series an der Stelle des Autounfalls das Tigermotiv eines Werbeplakats mit leeren weißen Bögen überklebt wird, auf welcher tabula rasa wie als Mimikry einer leeren Kinoleinwand dann in einem harten Schnitt ein weiteres re-enactment folgt: das Bild der „Ursuppe“ aus der „Life on Earth“ series nämlich (was der evolutionstheoretischen Linie in A ZED AN TWO NOUGHTS zugleich auch den katastrophistischen Dreh einer wiederholten Vernichtung des Lebens mit folgender Neuschöpfung hinzufügt) – dem Leben vielleicht selbst vergleichbar entsteht das Filmbild irreduzibel instantan in einem fiat lux in seiner Projektion. Ders.: Evolution – kein Menschenbild, S. 195; ders.: Evolution und Geschichte, S. 151; ders.: Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution, S. 55; ders.: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 190f. Ders.: Autopoiesis als soziologischer Begriff, S. 141. Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 413.

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Evolution und blinde Flecke: A ZED AND TWO NOUGHTS „wie es möglich ist, dass immer voraussetzungsreichere, immer unwahrscheinlichere Strukturen entstehen und als normal funktionieren können. Ihre Grundaussage ist: dass Evolution geringe Entstehungswahrscheinlichkeit in hohe Erhaltungswahrscheinlichkeit transformiert. Dies ist nur eine andere Formulierung der geläufigeren Frage, wie aus Entropie (trotz des Entropiesatzes) Negentropie entstehen kann.“38

Es geht evolutionstheoretischen Beschreibungen also um eine „Morphogenese von Komplexität“39, deren Beschreibung aber weder in Richtung eines Ursprungs noch in Richtung eines Ziels orientiert ist: da die Evolution einerseits zwar immerhin einen selbstreferentiellen Start der Autopoiesis des Lebens voraussetzt, in dieser Zirkulärfundierung aber das Konzept des „Anfangs“ selber streicht, so können ihre „Ursachen“, einmal in Gang gekommen, mithin einfach „entfallen“, wie andererseits aus der gleichwohl zu konzedierenden „biochemischen Einmalerfindung“ des Lebens aber nicht folgt, was für Lebensformen dann entstehen werden, und erst recht nicht, dass es notwendig einmal Menschen geben müsse40, die dann zumal als „Krone der Schöpfung“ zu betrachten und alleine in der Lage wären, eine Theorie der Evolution zu formulieren – ja vielmehr zwingt Evolutionstheorie den Menschen dann, sich selbst in seiner Existenz als kontingent zu sehen, wie es Brandon Carter ausführt: „Many of the salient developments in our evolution were quite unneccessary, as well as having been intrinsically improbable, in so much as many alternative evolutionary pathways would have been compatible with the ultimate emergence of civilization (e.g. there is no obvious reason why it should not have arisen in egg laying animals). If this interpretation is correct, it means that the apparent existence of an evolutionary ladder is to a large extent an illusion: an artefact of our still unduly anthropocentric imaginations, which lead us to jump too easily to the conclusion that merely because we happen to possess some particular attribute it must be essential for ,higher development‘. (If we had happened to be born – or for that matter, hatched – with wings, they would no doubt be generally regarded as an indispensable status symbol for any life form aspiring to be described as ,advanced‘!)“41

Die Evolutionstheorie ist damit weder als eine optimistische Theorie des Fortschritts noch auch als eine pessimistische Theorie des Verfalls geeignet: während sie sich von jeder Absicht und von allen Heils- oder Verdammnisinteressen „dispensiert“, weder eine Teleologie voraussetzt noch Prognosen ermöglicht, nimmt sie das Entstehen und Vergehen evoluierender Systeme auch „mit Gleichmut hin“ – ohne aber dazu in der Lage zu sein (oder sich auch nur dafür zu interessieren), die Zustände dieser Systeme im Rahmen eines einheitlichen Kausalprozesses zu erklären. Wie immer Evolution für

38 39 40 41

Ebd., S. 414f. Ebd. Ders.: Einführung in die Systemtheorie, S. 78; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 66, 592f. Carter, Brandon: The Anthropic Principle and its Implications for Biological Evolution, in: Philosophical Transactions of The Royal Society of London A310(1983), S. 347-363, S. 362.

229

System und Mythos

einen Beobachter auch als ein solcher Prozess erscheinen und so aussehen mag, • •



als ob dieser Prozess gerichtet abliefe, als ob er ein Ziel verfolge42, oder vielleicht im Gegenteil als „sinnfremde, selektive Mechanik [...], die weder gewählt noch noch gewollt, weder vorausgesehen noch vermieden werden kann, sondern mit dem Material aller menschlichen Bemühungen spielt, um eine an sich unwahrscheinliche Ordnung aufzubauen und zu zerstören“43, oder vielleicht schließlich als „eine gegebene [...], urwüchsige und durch nichts weiter begründbare Kraft“, von der man weiter auch nichts sagen kann, als dass sie eben statt hat44 –

das alles sind dann keine Probleme der Evolution selbst (die einfach tut, was sie tut), sondern nur Probleme ihres Beobachters45, und wenn Greenaway die Evolutionstheorie in diesem Sinne vor allem als „a universal system that offers answers to the big questions“ sieht (die er allerdings dann auch nicht näher spezifiziert)46, so überzieht er selber einfach, was Evolutionstheorie zu leisten anbietet und in der Lage ist: die „big questions“ (wie etwa, mit Paul Gaugin: woher kommen wir? wer sind wir? wohin gehen wir? und vor allem: warum?) werden von der Evolutionstheorie ja nicht etwa besonders originell beantwortet, sie werden vielmehr gerade nicht gestellt, so dass es auch ein wenig billig scheint, die Evolutionstheorie zu einem Mythos aufzublasen, nur um sie dann als solchen zu „entlarven“. Wenn auch mit Ilya Prigogine die Beschreibung von Prozessen zwangsläufig ein narratives Element ins Spiel bringt47, wenn mit Luhmann die sprachliche und damit linearisierende Beschreibung von Evolution zwangsläufig als „Erzählung der Evolution“ auftreten muss48, selbst wenn mit Peter Medawar sämtliche wissenschaftlichen Erklärungen als erfundene Geschichten gelten müssen (die dann skrupulös darauf zu prüfen wären, „ob diese Geschichten von Dingen

42 43 44

45 46 47

48

Luhmann: Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution, S. 66, 70; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 428; ders.: Evolution und Geschichte, S. 150ff. Ders.: Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution, S. 8. Engell: Die genetische Funktion des Historischen in der Geschichte der Bildmedien, S. 45; Luhmann: Was ist Kommunikation, S. 102. Auf die Herkunft etwa der „Triebkraft“ der Evolution befragt, antwortet Luhmann ganz lakonisch: „Das passiert.“ (zitiert nach: Hagen, Wolfgang: „Die Realität der Massenmedien“. Interview mit Niklas Luhmann vom 09.10.1997, zitiert nach: http://www.radiobremen.de/online/ luhmann/realitaet_der_massenmedien.pdf, S. 14 (offline; gespeicherte Kopie im Besitz d. Verf.).) Luhmann: Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution, S. 66. Greenaway: Some Organizing Principles, S. 167. Prigogine, Ilya: Zeit, Chaos und Naturgesetze, in: Gimmler, Antje / Sandbothe, Mike / Zimmerli, Walther C. (Hg.): Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen – Analysen – Konzepte, Darmstadt 1997, S. 79-94, S. 91. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 554.

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Evolution und blinde Flecke: A ZED AND TWO NOUGHTS

handeln, die es wirklich gibt“)49, so ist dies doch noch lang kein Grund dafür, die Evolutionstheorie als einen grand récit zu labeln, dessen charakteristische Heldenfigur und Zukunftsversprechen es ja hier auch gerade nicht gibt50. Wenn auch die wie immer skeptische These vom Ende der Großen Erzählungen selbst vor allem wiederum nur eine Erzählung ist51, so leistet Greenaways Mythos von der Mythizität der Wissenschaft im Allgemeinen und der Evolutionstheorie im Besonderen am Ende genau das, was er nur kritisch vorzuführen vorgibt, nämlich eine „Rückkehr des Narrativen in das Nicht-Narrative“, die sich inszeniert als „Epos eines Wissens, das doch gänzlich unepisch ist“52 – und sei es auch in seinem Scheitern. Gerade in Hinblick auf diejenigen Ansprüche aber, die man an die Evolutionstheorie zwar (irrigerweise) stellen kann, von deren Nichterfüllung man dann allerdings enttäuscht wird (wie eigentlich vorauszusehen gewesen wäre), wird Evolution in A ZED AND TWO NOUGHTS auf drei Ebenen zur Geltung gebracht: erstens als die Evolution des Lebens, zweitens als Evolution der Medien und drittens als Evolution des „Systems Greenaway“ selbst.

Film und Leben – Life on Earth Unter allen möglichen filmischen Motiven, so Siegfried Kracauer in seiner THEORIE DES FILMS, „nimmt eines eine einzigartige Stellung ein: der Fluss des Lebens. Es ist das allgemeinste aller möglicher Motive, und es unterscheidet sich von den übrigen dadurch, dass es nicht nur ein Motiv ist. Dieser Inhalt entspricht einer Grundaffinität des Films. Er ist sozusagen eine Ausstrahlung des Mediums selbst. Als ein Motiv nimmt der Fluss des Lebens in Filmen Gestalt an, die keine andere Absicht haben, als einige seiner Erscheinungsformen darzustellen“53 –

eine medienspezifische „Affinität der Kamera zum ,Leben‘“, mit dem sie ihrerseits auch „wie durch eine Nabelschnur“ verbunden sei und die schon in den Namen früher Aufnahme- und Projektionsapparaturen wie dem Vitaskop, dem Vitagraphen, dem Bioskop, dem Biographen etc. zum Ausdruck komme54. Gemäß dieser „Affinität“ und auch der Direktive Greenaways, nach der das Kino als vorzüglichste Wissensquelle und das beste aller Bildungsmittel gelten darf – „cinema“, so Greenaway, „is the best education anybody could hope for“55 –, führen die Bemühungen der trauernden Zwillinge, das Leben und den Tod zu verstehen, sie dann auch direkt zum Film: um Antworten hinsichtlich der Umstände, der Ursachen, des Grundes, 49 50 51 52 53 54 55

Medawar, Peter B.: Die Kunst des Lösbaren. Reflexionen eines Biologen, Göttingen 1972, S. 136. Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen; ders.: Randbemerkungen zu den Erzählungen. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1144. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 87. Kracauer: Theorie des Films, S. 357. Ebd., S. 54, 109. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 16.

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System und Mythos

des Zweckes und des Sinns des Todes ihrer Frauen zu suchen (wie sie immer nur als „Postrationalisierung“ möglich sind, d.h., mit Ranulph Glanville, als „etwas, was im Nachhinein als Erklärung für stattgefundene Änderungen gesehen werden konnte“56 – was freilich anders als im Nachhinein auch gar nicht möglich ist57), sehen sich Oswald und Oliver durch den gesamten Film hindurch eine achtteilige Dokumentarfilmserie über Entstehung und Entwicklung des Lebens auf der Erde an (wodurch A ZED AND TWO NOUGHTS natürlich auch selbst eine serielle Struktur vom Anfang bis zum Ende erhält). Im Film nicht näher bezeichnet, spricht das Drehbuch von dieser Dokumentarfilmserie als der „Life on Earth“ series – eine Hommage an David Attenborough und seine berühmte Fernsehserie LIFE ON EARTH von 1979, für die Attenborough, der später noch einmal als authority on atural History für A TV DANTE mit Greenaway zusammenarbeiten wird, in A ZED AND TWO NOUGHTS auch selbst den off-Text spricht. Fraglich ist dabei dann allerdings nur, was Oliver und Oswald mit ihrer Filmbetrachtung überhaupt beabsichtigen, wie Alba Oswald direkt anspricht: Alba: Oswald: Alba: Oswald:

„What's all this watching for?“ „We're trying to work it out.“ „What out?“ „Why we should come all this way, slowly and painfully, inch by inch, fraction by fraction, second by second so that my wife should die by a swan“ –

„a very personal view of evolution“ also, wie Alba dann dazu bemerkt, der angesichts der intrinsischen Sinnfreiheit allen Evolutionsgeschehens allerdings kaum eine Aussicht auf befriedigende Resultate hat; „ein Individuum kann eine Absicht haben“, so Ernst Mayr über das von ihm sogenannte „Paradoxon der Evolution“ des Widerspruchs einer scheinbaren Zweckmäßigkeit und gleichzeitigen vollkommenen Zufälligkeit evolutionärer Prozesse, „eine Evolutionslinie aber kann das nicht“58, wie auch Van Hoyten, der sich mit Plate zusammen ebenfalls die „Life on Earth“ series ansieht, die Aussichtslosigkeit des Unternehmens feststellt: Van Hoyten: Plate: Van Hoyten:

56 57 58

„What’s Oliver looking for?“ „I don’t know – an answer to his wife’s death?“ „He’ll not find it here. This is just a straightforward account. ... Darwin was a good story-teller. [...] Have I got to sit through them all? There’s eight parts and this is only the third ... and God – it’s all such a dreary fiction.“

Glanville, Ranulph: Distinguierte und exakte Lügen, in: ders.: Objekte, Berlin 1988, S. 175-194, S. 178, 184. Luhmann, Niklas: Die Weisung Gottes als Form der Freiheit, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 77-94, S. 79. Mayr, Ernst: Zufall oder Planmäßigkeit: Das Paradoxon der Evolution, in: ders.: Evolution und die Vielfalt des Lebens, Berlin / Heidelberg / New York 1979, S. 14-33, S. 31.

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Evolution und blinde Flecke: A ZED AND TWO NOUGHTS

Dabei zeigt Van Hoytens Einwand selbst die Wirksamkeit eines sich fast unwillkürlich einstellenden emplotments, das von der reinen Sukzessivität der wie immer „sachlich“ dargestellten Ereignisse zu einer Kontinuität, von dort zu einer Kausalität und schließlich zu einer Dramatisierung durch eine narrative Struktur führt (selbst wenn, was man durchaus auch von A ZED AND TWO NOUGHTS selbst behaupten könnte, daraus nur eine dreary fiction wird)59: wenn etwa Oliver selbst die Wirkung des Dokumentarfilms als „kathartisch“ angibt, kann dies, mit Aristoteles, ja auch nur funktionieren, wenn man die Evolutionsgeschichte eben erstens als Geschichte im Sinne einer „Fabel“ oder eines „Mythos“ und dann zweitens als Tragödie auffasst60 – als ob für Oliver und Oswald (gewissermaßen in einer extremen Letztform anthropozentristischer Betrachtungsweise) die gesamte Entwicklung allen Lebens nur als Prolog einer Geschichte diente, um ebenso zielgerichtet wie ausweglos schließlich in der Katastrophe des Todes ihrer Frauen zu enden, als ob in einer extremen Letztform der Auffassung einer „immanenten Entelechie“ der Tod der Zweck des Lebens sei61. Dabei ist, wie es ja nur durch Entropie zu einer Steigerung von Komplexität und nur durch die Sterblichkeit der Individuen zu einer Evolution des Lebens kommen kann62, in der Tat dem (phylogenetischen) Aufbau der (ontogenetische) Verfall auch ohnehin schon sozusagen apoptotisch eingeschrieben, wie Greenaways Film in einer Umkehrung der Buchstabenfolge „ZOO“ zu „OOZ“ („ooze“, Schlamm, „Urschlamm“) und der entsprechenden Einführung einer zweiten Filmserie verdeutlicht: Parallel und sozusagen komplementär zu ihrer Rezeption der progredierenden Aufbau- und Entwicklungsgeschichte der „Life on Earth“ series, die 4 Milliarden Jahre der Evolution im Schnelldurchlauf zusammenzieht, produzieren die Deuces ihrerseits Dokumentationen der Reduktion und des Verfalls, nämlich Zeitrafferaufnahmen der Verwesungsprozesse von Lebewesen immer höherer Entwicklung (so dass bei gleichbleibendem Ergebnis die „Fallhöhe“ gewissermaßen immer wächst): von Pflanzen (ein Apfel) über Wirbellose (Garnelen), Fische (zwei Skalare), Reptilien (ein Krokodil) und Vögel (ein Schwan) bis hin zu den Säugetieren (ein Dalmatinerhund, ein Zebra), deren „krönenden Abschluss“ dann der Mensch bildet – zwei Menschen, um genau zu sein – die Deuces selbst (so dass beide Filmserien in ihrer Indienstnahme der von Kracauer sogenannten „enthüllenden Funktionen“ von Vergrößerung und Zeitraffer63, mit Bazin, gewissermaßen ein „natürliches Bild einer Welt“ liefern, „die wir nicht zu sehen verstanden oder nicht sehen konnten“64, das wiederum nach Kracauer zu sehen und zu verstehen zu geben nur das Kino privilegiert ist65). Aber auch hier ist wiederum der Sinn und Zweck der Übung fraglich: Fallast etwa 59 60 61 62 63 64 65

Vgl. White: Metahistory, S. 19ff.; ders.: Der historische Text als literarisches Kunstwerk. Vgl. Arist. Poet. 1449b 24ff. Luhmann: Was ist Kommunikation?, S. 102. Vgl. Coveney, Peter / Highfield, Roger: Anti-Chaos. Der Pfeil der Zeit in der Selbstorganisation des Lebens, Reinbek 1992. Kracauer: Theorie des Films, S. 77f. Bazin: Ontologie des fotografischen Bildes, S. 25. Kracauer: Theorie des Films, S. 12.

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bezeichnet die taphonomische Versuchsreihe der Deuces in aller Deutlichkeit als reine Ersatzhandlung, als „some bogus experiment that satisfies your obsession of grief“, das ansonsten aber ohne jeden praktischen Nutzen oder ersichtlichen Erkenntniswert ist: „What valuable conclusion can be gained from all this rotten meat? Nothing!“ – wogegen aber immerhin zu sagen ist, dass, wenn die Experimente auch vielleicht nichts über die Beobachtungsobjekte aussagen, so sicherlich doch über die Beobachter selbst – schon und vor allem hinsichtlich der Auswahl und der Sequenzierung der Objekte. Auch wenn es Willi Hennig zufolge im Sinne einer „epistemologischen Ontologie“66 die Aufgabe einer wissenschaftlichen Systematik nicht etwa wäre, „in die Fülle der Einzelerscheinungen Ordnung hineinzubringen, sondern die ihr innewohnende Ordnung zu ergründen und darzustellen“67: Während schon für sich kein klassifikatorisches System „Natürlichkeit“ beanspruchen kann (wie etwa der Name von Linnés SYSTEM NATURAE gleichwohl suggeriert68), so bleibt es spätestens der Auswahl des Beobachters überlassen, ob er zur Ordnung seines Materials nun etwa eine evolutionäre Klassifikation, eine phylogenetische Systematik oder eine numerische Taxonomie bevorzugt, wobei dann Michael Schmitt auch klar herausstellt, dass die „Wahl der Methode“ ebenso erfolgt wie die jeweilige „Methode der Wahl“ selbst eingerichtet ist: völlig willkürlich nämlich69, und so auch nur die Wahl z.B. zwischen kladistischer und phänetischer Ordnung darüber entscheidet, ob der Quastenflosser nun dem Thunfisch oder Nashorn näher steht70! In diesem Sinne ist die Folge der Lebewesen in Oliver und Oswalds Verwesungsfilmen sicherlich verschiedenen Klassifizierungen zugänglich, nach denen ihre Einträge sei es gattungsmäßig, anatomiespezifisch oder entwicklungsgeschichtlich in dieser Reihenfolge aufzuzählen wären; dass sie im Drehbuch von Greenaway aber in autoritativen Versalien als Darwin’s Eight Evolutionary Stages of atural Selection angegeben werden71, ist natürlich blanker Unsinn, denn diese hat es selbstverständlich nie in Darwins Werk gegeben – Leistung von Evolutionstheorien ist es ja auch gerade nicht, Phasenmodelle zu konstruieren oder Entwicklungen in Stadien einzuteilen72, wie auch neben dem tatsächlichen Verlauf der Evolution so zahllos viele andere Verläufe ebenso möglich gewesen wären, dass überhaupt von einer scala naturae nicht die Rede sein kann73. Die Ordnung der Experimente der Deuces ist zu großen Teilen vielmehr eine rein persönliche oder „private“: während etwa für den Zoohausmeister Stephen Pipe der Zusammenhang schon der ersten beiden Experimente schlicht nicht nachvollziehbar ist 66 67 68 69 70 71 72 73

Luhmann: Soziale Systeme, S. 379; vgl. auch Eco: Einführung in die Semiotik, S. 357ff. Hennig: Grundzüge einer Theorie der phylogenetischen Systematik, S. 7. Vgl. Kapitel 01, S. 40f. Vgl. Eco: Auf der Suche nach der verlorenen Sprache, S. 234f. Schmitt, Michael: Wie sich das Leben entwickelte. Die faszinierende Geschichte der Evolution, München 1994, S. 15f. Gould: Was, wenn überhaupt etwas, ist ein Zebra?, S. 361. Greenaway: A Zed and Two Noughts, S. 14. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 554; ders.: Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution, S. 7. Carter: The Anthropic Principle and its Implications for Biological Evolution, S. 362.

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(„what's the connection between apples and prawns?“), so kann der Zuschauer dagegen wissen, dass der Apfel als Gegenstand des ersten Experimentes eine Referenz auf den Sündenfall und Evas Biss in den Apfel vom Baume der Erkenntnis ist, über den Oswald und Oliver sich nach der Beisetzung ihrer Ehefrauen auf dem Friedhof unterhalten (so dass die gesamte Versuchsreihe schon von vornherein im Zeichen menschlicher Hybris und des notwendig nachfolgenden Scheiterns steht), und die Schüssel mit Garnelen als Gegenstand des zweiten Experimentes daher rührt, dass laut Alba Paula und Griselda kurz vor ihrem Tod noch Suppenschüsseln und Garnelen gekauft hatten: a very personal view of evolution eben, der ganz entsprechend mit der Selbstbetrachtung der Betrachter selbst abschließt – welcher in A ZED AND TWO NOUGHTS zudem dann aber auch noch eine Selbstbeobachtung des Mediums hinzugestellt wird, mit dem diese Beobachtung erfolgt.

Medienevolution In der letzten Folge der „Life on Earth“ series von A ZED AND TWO NOUGHTS wird der Mensch im Unterschied zu allen bisherigen Lebewesen durch seine Fähigkeit zur Speicherung und Weitergabe nicht nur vererbter, sondern auch erworbener Information beschrieben – „whatever the system he has used“, erklärt der off-Text, „the ability to store and pass on his knowledge is the key to his success“, womit die Anlehnung an Attenboroughs LIFE ON EARTH in A ZED AND TWO NOUGHTS über die bloße Reverentialität von Attenboroughs cameo-Auftritt zur Einführung einer zweiten Evolutionslinie hinausgeht: Während Attenboroughs (ihrerseits übrigens nicht acht-, sondern dreizehnteilige74) Serie mit der Folge THE COMPULSIVE COMMUNICATORS endet, in der mit der Entwicklung des Menschen von der Evolution der Organismen zur Evolution der Gesellschaft und der Kommunikation übergegangen wird: vom Nomadismus zur Sedentarität, von tribalen Gemeinschaften zur Weltgesellschaft, von der Höhlenmalerei zur Schrift, vom Buchund Zeitungsdruck zur Telekommunikation und zum Computer (wobei Attenboroughs Fernsehserie das Fernsehen seltsamerweise einfach übergeht), so reproduziert A ZED AND TWO NOUGHTS in seinem Verlauf bestimmte „Vorläufer“ und frühere Zustände seines eigenen Mediums, des Kinos selbst – gewissermaßen Ernst Haeckels „biogenetischer Grundregel“ folgend, nach der die Ontogenese eines jeden Individuums nichts weiter ist als eine kurze Rekapitulation der Phylogenese seiner Abstammungsgruppe75:

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Anders als bei Greenaway wohl anzunehmen wäre ist die Dreizehnteiligkeit von LIFE ON EARTH weder einer etwaigen zahlenmystischen Motivation noch irgendeiner subtilen kulturellen Referenz geschuldet (und erst recht keinen apokryphen „Evolutionary Stages of Natural Selection“ der Dawinschen Theorie), sondern ganz einfach einer Anpassung an das Vierteljahresschema des BBC-Fernsehprogramms. Haeckel, Ernst: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie. Band 2: Allgemeine Entwickelungsgeschichte der Organismen. 5. Buch: Erster Theil der allgemeinen Entwickelungs-

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76 77 78

mit der Aufnahme und Nachstellung einer Vielzahl von Gemälden Jan Vermeers portraitiert Greenaway zunächst die Malerei des holländischen „Goldenen Zeitalters“ als einen Vorläufer des Kinos: „an early forerunner of cinema“76, der bereits schon zwei der späteren „essentials of cinema“ vorprägte und mit Meisterschaft beherrschte: zum einen die Darstellung nicht statischer Szenen, sondern von „Momentaufnahmen“ aus beweglichen Prozessen, die zum anderen mit der Darstellung des Mediums der Sichtbarkeit, des Lichtes selbst verknüpft ist77 (und die beide auf sich selbst zurückkommen, wenn das Filmbild selbst beweglich wird und selber aus der Projektion von Licht hervorgeht)78, wie umgekehrt Greenaways Kameramann Sacha Vierny in einer Einstellung, in der die Deuces vor Vermeers „Zwillingsgemälden“ DER ASTRONOM und DER GEOGRAPH posieren, in Anlehnung an diejenige Vermeers auch seine „Signatur“ ins Bild einschreibt („SV 85“ ist auf der Wandvertäfelung rechts neben den Gemälden zu lesen, wobei das S in die obere Öffnung des V so eingesetzt ist wie bei Vermeer das I ins V und M) – als wäre das Filmbild selber ein Gemälde;

geschichte. Generelle Ontogenie oder Allgemeine Entwickelungsgeschichte der organischen Individuen (Embryologie und Metamorphologie), Berlin 1866, S. 7. Zitiert nach: Ciment: Interview with Peter Greenaway, S. 32. Greenaway: A Zed and Two Noughts, S. 14. Dabei ist allerdings auch zu bemerken, dass Greenaway das Kino gegenüber der Malerei in gewissem Sinn als Regression, als Rückentwicklung wertet: „I still believe paintig to be the supreme visual art beside which cinema is rather pathetic, unimaginative, very conservative and rather dull“ (zitiert nach: Weidle: „The only certainty we have is that there are no certainties“, S. 161) – eine Haltung, die auch gerade dann zum Tragen kommt, wenn in A ZED AND TWO NOUGHTS Vermeers MALKUNST durch den Chirurgen Van Meegeren als tableaux vivant nachgestellt und photographiert wird (wobei Van Meegeren als Teil des Bildes dieses selber nicht ganz sehen kann – im Unterschied zum Filmzuschauer, der in dem durch die zweite Kamera nicht Van Meegerens, sondern Sacha Viernys aufgenommenen Bild erst das Gesamtmotiv betrachten kann). Dem Namen Van Meegerens entsprechend (in A ZED AND TWO NOUGHTS ist Van Meegeren ein Neffe des berühmten gleichnamigen Vermeer-Fälschers) erscheint so die Photographie (und mithin dann auch das Kino) als „Fälschung“, als unbegabtere Kopistin der Malerei, oder wie auch Flavia Speckler in THE BELLY OF AN ARCHTITECT bemerkt, als sie mit Stourley Kracklite Agnolo Bronzinos ANDREA DORIA ALS NEPTUN photographisch nachstellt: „I can’t paint – but I can take a photograph“ – dies aber wiederum auch als sardonische Kritik der Auffassung, dass alles, was man beherrschen müsse, um Photographien oder gar Filme zu machen, lediglich darin bestünde, eine Kamera halten zu können. Wie Greenaway an anderer Stelle auch in einem Vergleich mit der Literatur verdeutlicht: „Nobody would attempt to read James Joyce or the Bible unless they spoke the language very, very well. If you think about equivalent image terms, this is extraordinarily arrogant: ,I have eyes, I can see ... pick up the camera – I’m a filmmaker.‘“ (Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 16.)

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die gerasterten Hintergründe der Verwesungsaufnahmen sind, wie Greenaway selbst ausführt, eine Reverenz an Eadweard Muybridges Chronophotographie79 (wobei ja Muybridge an der Bewegung lebender Körper innerhalb sehr kurzer Zeiträume interessiert war, die Deuces dagegen an derjenigen von Kadavern über lange Zeit hinweg); den zweiten der Verwesungsfilme, in welchem eine der Garnelen vom Versuch verschwindet, könnte man dann zu Ehren Georges Méliès’ und seiner Zufallserfindung des Stoptricks, wie er erstmals in L’ESCAMOTAGE D’UNE DAME AU THÉÂTRE ROBERT HOUDIN verwendet wurde, vielleicht L’escamotement d`une crevette nennen80 – während Oswald einfach Pfusch an seinem Versuch argwöhnt (tatsächlich wurde die fehlende Garnele von Pipe enfernt und gewaltsam dann an Plate verfüttert), brechen alle weiteren Zuschauer in Gelächter aus, wie Albas Ausruf „one is still alive!“ auf die bewegungs- und damit lebensvorspiegelnde Illusion des Films verweist; und mit der „Life on Earth“ series schließlich, die sich Oliver im Kinosaal des Zoos ansieht, ist A ZED AND TWO NOUGHTS dann in der Gegenwart gelandet.

Dabei ist allerdings auch diese Folge keineswegs im finalistischen Sinne einer „Orthogenese“ zu verstehen (und Greenaways Sichtweise natürlich ein mindestens ebenso personal view of evolution wie derjenige der Deuces auch): Genauso wie der Mensch, wie biologisch hochentwickelt er auch immer sein mag, doch weder als „Krone der Schöpfung“ noch auch als Ziel der Evolution betrachtet werden kann, so wird laut Greenaway das Kino – nach seinem eigenen Dafürhalten ja immerhin „the greatest visual invention of the 20th century“81 und „the supreme 20th century communication medium“82 – in absehbarer Zeit, mit dem Begriff Bruce Sterlings, zu den dead media gehören83, über die die mediale Evolution hinweggegangen ist, wie auch das Kino in der 30 000jährigen Geschichte der Ikonographie nur eine ebenso winzige Rolle einnehme wie der Mensch in den 4 Milliarden Jahren der Geschichte des Lebens: „It is quite possible that in the coming decades cinema will either transform itself completely or disappear. A century of cinema, this is almost nothing in comparison with the history of iconography.“84 79 80 81

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So Greenaway im Audiokommentar der DVD EIN Z UND ZWEI NULLEN. Vgl. Kittler: Optische Medien, S. 229; ders.: Fiktion und Simulation, in: ars electronica (Hg.): Philosophien der neuen Technologie, S. 57-79, S. 69f. Greenaway, Peter: A Life in Film, zitiert nach: http://www.timeoutabudhabi.com/ thismonth/feature.php?id=366 (offline; gespeicherte Kopie im Besitz d. Verf.), o.S. Ders.: The Stairs 1, S. 1. Vgl. Sterling, Bruce: The Life and Death of Media. Vortrag am 19. September 1995 auf dem 6th International Symposium on Electronic Art in Montreal, zitiert nach: http://student.vfs.com/~deadmedia/speech.htm (29.03.2009); ders.: The Dead Media Project. A Modest Proposal and a Public Appeal, zitiert nach: http://www.deadmedia.org/modest-proposal.html (29.03.2009). Zitiert nach: Ciment: Interview with Peter Greenaway, S. 33.

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Verharrt laut Greenaway das Kino schon seit kurz nach seiner Entstehung im Zustand einer stasis, da sich von David Wark Griffith bis hin zu Martin Scorsese im Grunde nichts geändert habe85, so müsse es inzwischen als ein „lebendes Fossil“ betrachtet werden, als Dinosaurier, der seinen eigenen Untergang nicht mitbekommen habe: „The cut-and-paste, narrative, chronologically-plotted, illustrated-text, illusionistic cinema has played itself out. If you believe it is still alive ... consider that they say, a slow-moving, herbivorous and not very bright dinosaur, shot in the head on a Monday, is brain dead for a week, and can manage to wag its tail until Friday, before the last breath leaves its body. Friday will soon be upon us. [...] We should rejoice that the dinosaur is soon to be a fossil.“86

Grund hierfür ist die „Katastrophe“ eines rapiden technologischen Umbruchs, die von Greenaway sogenannte „digital revolution“, wie er sie etwa dem irreversiblen Übergang des Stumm- zum Tonfilm vergleicht: „Once upon a time, cinema faced and tackled and adapted itself to a new technology of sound. The long existing, world-dominant entertainment technology of the socalled Silent Cinema changed almost overnight, and in essence it died. And it is virtually entirely buried. Whether we are going to like it or not, the same may well soon happen to so-called Sound Cinema“87,

wobei A ZED AND TWO NOUGHTS als Kinofilm dessen Sukzessor bereits in sich trägt – das Fernsehen und Video nämlich, deren Emergenz nach Greenaway den Tod des Kinos schon besiegelt hat: „Cinema died on the 31st September 1983 when the zapper, or the remote control, was introduced into the living-rooms of the world“88, wobei in A ZED AND TWO NOUGHTS das Kino und das Fernsehen noch eine friedliche Koexistenz führen: während Oliver sich die „Life on Earth“ series im Kinosaal des Zoos ansieht, schaut Oswald sie sich parallel als Video an, so dass auch die „Wiedervereinigung“ der Deuces sich (natürlich nur im Rückblick so als Vorgriff wahrnehmbar) durchaus als Zusammenführung der „ungleichen Brüder“ des Kinos und des Fernsehens zum Hybriden des digital cinema interpretieren ließe, wie Greenaway sie später auch mit PROSPERO’S BOOKS dann projektierte89 – was wiederum zur Evolution des „Systems Greenaway“ selbst führt.

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Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 4; Oosterling: Cinema of Ideas, S. 11. Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S. Ebd. Ebd., wobei die Datierung dieser Urszene natürlich wieder reine Phantasie ist – den 31. September gibt es kalendarisch selbstverständlich überhaupt nicht. Vgl. zur Bedeutung der Fernbedienung mit erheblicher Früherdatierung ihrer Einführung Engell: Tasten, Wählen, Denken, S. 64ff. Vgl. Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 221: „I want to be able to use both media and currently am working on a version of THE TEMPEST called PROSPERO’S BOOKS to see how the cinema and television vocabularies can be put together.“

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Germs and Ashes Im Aquarium des Zoos erläutern Oliver und Oswald Beta die Fische und ihre Artenvielfalt, wobei sie in einer natürlich vollkommen unzulässigen Argumentation eine evolutionäre Primordialität der Fische feststellen: Beta: Oliver: Beta: Oliver: Oswald:

„Do you keep lots of black-and-white fish?“ „Yes!“ „Zebra-fish?“ „We also have parrot-fish, elephant-fish, rat-fish and tiger-sharks.“ „You see? Fish anticipated everything that was to come. I don’t know why evolution bothered to go on.“

Die Verdrehtheit des Argumentes einmal außer acht gelassen, wie es eine (phänotypische) Ähnlichkeitsbeziehung mit derjenigen einer (genotypischen) Deszendenz verquickt und eine namentliche Bezeichnung mit einer biologischen Verwandschaft, ließe es sich in gewissem Sinne auch auf A ZED AND TWO NOUGHTS innerhalb des „Systems Greenaway“ übertragen, dessen „hologrammatischen“ Charakter90 Greenaway auch selber so fasst: „All the germs and all the ashes of all the films are always contained in all the other films.“91 Entsprechend lassen sich in A ZED AND TWO NOUGHTS zahlreiche Vor- und Rückgriffe innerhalb des „Systems Greenaway“ feststellen: rekrutiert sich das Grundgerüst des Films vor allem aus einer Wiederaufnahme bestimmter Motive und unabgeschlossener Geschichten aus THE FALLS, so ist zugleich auch ein Vorausgriff auf weitere Projekte Greenaways zu sehen, die ihrerseits erzählerisch, motivisch oder inszenatorisch auf A ZED AND TWO NOUGHTS zurückgreifen: •



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der Unfall, bei dem Paula und Griselda Deuce und Alba Bewick durch den Zusammenstoß eines tieffliegenden Schwans mit ihrem Ford Mercury mit dem Kennzeichen ID 26 B/W verunglücken (Mercury für Merkur bzw. Quecksilber, ID für das französische Wort für „Nest“ bzw. den fiktiven Flugpionier Nathan Isole Dermontier, 26 für die Anzahl der Buchstaben des Alphabets, B/W für black and white), erinnert an den tödlichen Unfall Cash Fallbaez’ (#28) in THE FALLS, der Opfer eines Vogelangriffs wird, als ein Schwan die Windschutzscheibe seines Fahrzeugs mit dem Kennzeichen ID 301 zerstört (während Bwythan Fallbutus (#42) auf einem Zebrastreifen (!) von einem CROW-Lieferwagen mit dem Kennzeichen ID 92 überfahren wird); wie die Poulencs aus THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT oder die Bognors aus DROWNING BY NUMBERS eines der zahlreichen Zwillingspaare in Greenaways Filmen, reproduzieren Oliver und Oswald in einer der letzten Einstellungen exakt das Erscheinungsbild der Gebrüder Fallari (#16) aus THE FALLS, und spielt schon ihr Nachname auf den Mythos von Kastor und Polydeukes an (bedeutet „deuce“ im Englischen alleine ohnehin schon eine Zweizahl, so sind sie als Zwillinge dann sozusagen „Poly-

Vgl. Morin: Komplexität als Herausforderung, S. 98. Greenaway: Introduction / Early Films 2.

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Deuces“), so spiegelt die Geschichte der Fallaris diejenige der Dioskuren noch genauer: „Ipson and Pulat Fallari“, so der off-Text von THE FALLS, „were brothers in fiction and half-brothers in fact, or, thanks to Tulse Luper, maybe the other way around – either way they were inseparable [...] thinking of themselves as twins of twins“,













wie ja auch Oliver und Oswald ihrerseits Väter von Zwillingen werden92; der Zoodirektor Fallast ist eine Reinkarnation der gleichnamigen Luper authority aus VERTICAL FEATURES REMAKE sowie des „occasional pianist, professional indexer and itinerant propagandist for a well-known opera company“ Castenarm Fallast (#24) aus THE FALLS; Van Hoyten ist als „keeper of the owls at the Amsterdam Zoo“ noch bestens aus A WALK THROUGH H bekannt, während er in THE FALLS zum „Head of the Ornithological Department“ befördert wurde, in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT dann die Rolle eines holländischen Landschaftsarchitekten einnahm und in THE TULSE LUPER SUITCASES schließlich als belgischer Bahnhofsvorsteher und faschistischer Brigadeoffizier auftritt93; in der Zeitung, die vom Unfall der drei Frauen berichtet, wird als Vortagesereignis der Tod von Stourley Kracklite aus THE BELLY OF AN ARCHITECT annonciert, dem nach A ZED AND TWO NOUGHTS nächsten Film Greenaways; die „Unterredung“ von Oliver und Catharina Bolnes auf der Toilette des Restaurants präformiert das erste erotische Zusammentreffen von Georgina und Michael in THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER; Alba Bewicks zunächst selbst erfundener und dann aber ganz realer neuer Partner Felipe Arc-en-ciel wird der Namenspate des Straßburger Kinos in THE TULSE LUPER SUITCASES; und die Vermeer-Adaptionen und Beleuchtungseffekte von A ZED AND TWO NOUGHTS schließlich weisen bereits voraus auf Greenaways „postkinematographische“ mise en lumière-Projekte NIGHTWATCHING, THE LAST SUPPER und THE WEDDING AT CANA mit Rembrandts NACHTWACHE, Leonardos LETZTEM ABENDMAHL und Veroneses DIE HOCHZEIT ZU KANA.

Zugleich mit dieser Selbstbeobachtung aber zeigt A ZED AND TWO NOUGHTS auch das, was mit aller Selbstbeobachtung einher geht – nämlich ihren blinden Fleck.

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Bei den Fallaris handelt es sich übrigens um die Zwillinge und Trickfilmer Stephen und Timothy Quay. In Greenaways Myth of Tulse Luper nimmt Van Hoyten die Rolle von Tulse Lupers Erzfeind ein; und während Luper vor allem Greenaways alter ego darstellt, personifiziert Van Hoyten „all there is to fear like greed, disloyalty and the unequal distribution of luck“ (Greenaway: Papers / Papiers, Paris 1990, S. 60).

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Das anthropische Prinzip und der totale blinde Fleck „What we can expect to observe“, so Brandon Carter in der Formulierung des von ihm sogenannten „anthropischen Prinzips“, „must be restricted by the conditions necessary for our presence as observers“94 – kann man tautologisch gesprochen nur sehen, was man sehen kann, weil man sehen kann, was man sehen kann, so lässt sich dieser Umstand spezifizierter darin fassen, dass alle Erkenntnis von Realität sowohl einen Beobachter voraussetzt als auch eine Realität, in dieser Beobachter existieren kann95 (und die, so Carters „starkes anthropisches Prinzip“, als Realisierung ihres offenbaren Potentials einen Beobachter früher oder später zwangsläufig auch hervorbringen muss96 – die evolutionäre Unwahrscheinlichkeit des Wahrscheinlichen ist demzufolge also weder kausal noch final, sondern, mit Flusser, programmatisch durch die otwendigkeit des Zufalls zu erklären97). In diesem Sinne bezieht sich dann die Selbstreferentialität der Evolution auch nicht nur darauf, dass die Differenzierung der evolutionären Mechanismen selber evolutionär erfolgt, sondern dass auch die Erkenntnis der Evolution selbst ein Resultat der Evolution ist, die damit mit der Fähigkeit zur Selbstbeobachtung ausgestattet wird und in sich selber wiedereintreten kann, wobei die Beobachtung dann ebenjenen Bedingungen unterliegt, die sie beobachtet: die Selbstbeobachtung der Welt durch einen Physiker kann nur deshalb gelingen, weil dieser selber physikalisch funktioniert, wie auch ein Biologe das Leben nur dann beobachten kann, wenn und solange er am Leben ist98 – wobei genau diese Kondition aber in A ZED AND TWO NOUGHTS am Ende sträflich ignoriert wird. Das filmische Resultat ihres vorletzten Verwesungsexperimentes, der Dekomposition eines Zebras, betrachten Oliver und Oswald in Albas L’Escargot genanntem Garten auf einem eigens dafür eingerichteten Vorführplatz, auf dem sie merkwürdigweise allerdings einen Platz in direkter Linie zwischen Leinwand und Projektor einnehmen. In dieser seltsam dysfunktionalen Anordnung können Oliver und Oswald nun das vollständige 94

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Carter, Brandon: Large Number Coincidences and the Anthropic Principle in Cosmology, in: Leslie, John (Hg.): Physical Cosmology and Philosophy, New York 1990, S. 125-133, S. 126. Seinem Namen entgegen und obwohl es einer anthropozentristisch-kosmologischen Teleologie auf den ersten Blick auch zum Verwechseln ähnlich sieht, ist das anthropische Prinzip keineswegs etwa ausschließlich auf den Menschen zu beziehen – Carter selbst bedauert daher seine nicht mehr rückgängig zu machende Namensgebung und hält rück-blickend dann etwa „self-selection principle“ für eine bessere Bezeichnung (vgl. Carter: The Anthropic Principle and its Implications for Biological Evolution, S. 348). Jensen, Stefan: Erkenntnis – Konstruktivismus – Systemtheorie. Einführung in die Philosophie der konstruktivistischen Wissenschaft, Opladen 1999, S. 15. Carter: Large Number Coincidences and the Anthropic Principle in Cosmology, S. 129. Flusser: Unser Programm, S. 69ff. Luhmann: Geschichte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution, in: ders.: Soziologische Aufklärung 3, S. 178-197, S. 181; ders.: Evolution – kein Menschenbild, S. 204; ders.: Warum „Systemtheorie“?, S. 7; ders.: Einführung in die Systemtheorie, S. 78.

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Bild des Films nicht sehen, weil sie mit ihren eigenen Körpern einen Teil des Projektionsstrahls blockieren bzw. weil sie – für einen weiteren Betrachter – selber Teil der Projektionsfläche sind; wie auch schon bei Van Meegerens photographischer Nachstellung von Vermeers MALKUNST als tableau vivant, bei der er selber Teil des Bildes ist, ist das ganze Bild nur für den Zuschauer des Films erkennbar, nicht aber für die Figuren des Films selbst. Dabei können Oliver und Oswald nach Art einer Kippfigur nur entweder das Filmbild sehen, das dabei ebenso unvollständig ist wie ihre Versuchsreihe, oder aber ihre eigenen Schatten, die ihnen zwar ein Selbstbild geben, eine direkte Ansicht ihrer selber aber vorenthalten; in beiden Fällen sind sie selber dasjenige, was das Bild jeweils vervollständigen würde, dort aber grundsätzlich nicht gesehen werden kann – sie sind selber ihr eigener blinder Fleck, wobei die Sichtung des Films auch nur die letzte Vorbereitung für das letzte Experiment der Deuces ist, nämlich „das unmögliche Experiment für den totalen blinden Fleck“: den Tod nämlich, der, mit Günter Schulte, „experimentell nicht zu erleben ist“99.

A ZED AND TWO NOUGHTS: Der blinde Fleck des Beobachters

Die letzten Versuchsobjekte, die die evolutionäre Stufenleiter abschließen und das Experiment der Reihe komplettieren sollen, sind die Experimentatoren selber: In Ermangelung einer menschlichen Leiche (auf Van Meegerens und Van Hoytens Angebote, Venus de Milo zu diesem Zweck zu töten, gehen Oliver und Oswald nicht ein, während der Körper der an den Folgen ihrer Operationen verstorbenen Alba ihnen von ihrer Tochter Beta und Felipe Arc-en-ciel verweigert wird) führen die Zwillinge das abschließende Experiment menschlicher Verwesung schließlich als Selbstversuch und wiederum in Albas Garten durch. Nachdem sie sich entkleidet und auf einer Liegefläche vor einer Kamera plaziert haben, injizieren die Deuces sich ein tödliches Gift und sterben plangemäß, worauf sich aber zeigt, weshalb der Garten von L’Escargot seinen Namen trägt: kurz nach dem Tod der Brüder wird die Versuchsanlage von Hunderten von Schnecken überzogen, die (ihre biologische Funktion als Destruenten damit ausweitend) einen Kurzschluss in der Elektrik verursachen und so schon nach wenigen Minuten Laufzeit die Versuchsanlage lahmlegen. Das Experiment der Deuces scheitert also an genau demjenigen Phänomen, das es erforschen wollte: dem Phänomen der Reduktion und der natürlichen Zersetzung, der nicht nur die Versuchsobjekte, sondern die gesamte Versuchsapparatur unterliegt, wobei 99

Schulte: Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie, S. 45.

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es aber gerade damit auch noch eine Kerneigenschaft von Evolution enthüllt – dass es nämlich immer zu unerwarteten und unerwartbaren Folgen kommt100. Wie vielleicht dann die „Moral“ von A ZED AND TWO NOUGHTS mit Luhmann auch zusammenzufassen ist: „Die Leute mögen planen, was sie wollen, und ob sie etwas erreichen oder nicht erreichen, ist eine Frage, aber selbst wenn sie ihre Pläne durchsetzen, gibt es trotzdem noch Evolution.“101

Wenn schließlich, mit Wittgenstein, die Lösung des Rätsels des Lebens in Raum und Zeit nur außerhalb von Raum und Zeit gefunden werden kann und auch der Sinn der Welt nur außerhalb der Welt, so mag es durchaus sein, dass die Deuces tatsächlich beides auch gefunden haben – nur dass es ihnen im Leben nichts mehr nützt: „Der Tod“, so Wittgenstein, „ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht“ – und wovon man mangels Kenntnis eben nicht sprechen kann, darüber muss man eben schweigen102.

Geburt und Tod – mettre en œuvre la nature Wenn Kerstin Frommer feststellt, dass in A ZED AND TWO NOUGHTS das Ende schon am Anfang steht und dass am Ende „auch der Neubeginn immer wieder im Exitus mündet“103, so ist das natürlich vollkommen richtig, lässt sich in seiner Zirkularität allerdings auch gerade umgekehrt und damit weitaus weniger pessimistisch sehen – genau wie es in THE BABY OF MÂCON ein und dieselbe Figur des Bischofs ist, der am Anfang der Tochter durchaus aufrichtig vom Wunder der Geburt predigt und sie am Ende zum grausamen Tode durch eine 208fache Vergewaltigung verurteilt. Dabei ist der Gegensatz von Leben und Tod dann aber überführbar in den Zirkel von Geburt und Sterben, wie er in Greenaways Filmen auch allgegenwärtig ist: •

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in A ZED AND TWO NOUGHTS folgt auf den Tod von Paula und Griselda die Geburt der Zwillinge Gamma und Delta (die dem Tode ihrer Väter wiederum vorangeht); THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT handelt von der Zeugung eines Erben (und dem Mord an einem Erblasser); in THE BELLY OF AN ARCHITECT entspricht dem Beginn von Kracklites Krankheit die zeitgleich stattfindende Zeugung seines Kindes (zu dessen Geburt sich Kracklite dann zu Tode stürzt); in DROWNING BY NUMBERS bezweckt Cissie III mit ihrer Heirat nichts anderes, als ein ehelich legitimiertes Kind zu empfangen (und ihren danach überflüssigen Gatten dann zu ertränken);

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Luhmann: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 191, 201. Ebd., S. 191. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, in: ders.: Werkausgabe in 8 Bänden. Band 1, Frankfurt am Main 1984, S. 7-85, S. 82ff. Frommer: Inszenierte Anthropologie, S. 78.

243

System und Mythos • •



in THE BABY OF MÂCON wird die Geburt des Kindes als das Ende einer Zeit der Not gefeiert (die sich nach dem Tod des Kindes wieder fortsetzt); THE PILLOW BOOK endet mit der Geburt von Nagikos Tochter (mit der sie dann dasselbe Bemalungs- und Signierungsritual vollzieht einst wie ihr Vater mit ihr selbst); und schließlich ist das Baby auch das 15. der 92 OBJECTS TO REPRESENT THE WORLD in THE TULSE LUPER SUITCASES bzw. 33. der HUNDRED OBJECTS TO REPRESENT THE WORLD: „To demonstrate a child, perpetual new beginnings, renewal, restart, continuity, motherhood, childhood, delight, vulnerability, responsibility. [...] What could better represent the world so positively than a baby? [...] The baby is the best thing we can be represented by.“104

Das Kind figuriert in Greenaways Filmen so als das Symbol der Autopoiesis des Lebens selbst, und nach der „Grundregel aller Autopoiesis“, dass jedes Ende immer auch zugleich ein Anfang ist105, entspricht den oft grauenvollen Todesfällen in Greenaways Filmen so immer auch ein hoffnungsvoller Neubeginn. Der nur zu häufigen Feststellung ihrer angeblichen „Ahumanität“ entgegen106 eröffnet so auch das perennierende Geburtsmotiv in Greenaways Filmen eine Dimension geradezu philanthrophischer Moralität, die gegenwärtig auch vielleicht so aktuell wie nie zuvor ist: Wenn nur die jetzige Generation von Computern überhaupt imstande ist, die nächste zu berechnen, und diese Entwicklung Friedrich Kittler zufolge schon das Ende des „Weltzeitalters des Menschen“ inauguriert107, so ist es für den Menschen möglicherweise umso mehr auch an der Zeit, sich auf seine eigentliche Kernkompetenz hin zu besinnen – nämlich andere Menschen zu zeugen; der einzige Weg, auf dem der Mensch der in THE BELLY OF AN ARCHITECT zitierten Boulléeschen Direktive, „die Natur ins Werk zu setzen“ („mettre en œuvre la nature“108), jemals wirklich wird entsprechen können – und die im Film Kracklite ja auch nicht in seiner Ausstellung, sondern in seinem Kind verwirklicht.

P.S.: Um am Ende noch die Anfangsfrage von Van Hoyten zu beantworten: Das Zebra ist ein schwarzes Tier mit weißen Streifen109.

104 105 106 107 108 109

Greenaway: 100 Objects to Represent the World, o.S. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 319. Der Filmkritiker David Thomson etwa bezeichnet Greenaway als „an authentic misanthrope [...] thrilled by human squalor“ (Thomson: „Peter Greenaway“, S. 303). Kittler: Die Evolution hinter unserem Rücken, S. 221. Boullée, Étienne-Louis: Architektur. Abhandlung über die Kunst, Zürich / München 1987, S. 63, 65, 83, 134, 152. Vgl. Gould: Wie das Zebra zu seinen Streifen kommt, S. 371f.

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07 Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS (1988)

„How can we know the dancer from the dance?“ Wie kommt es, dass die Instanz des Spielers (der Figur, der Person) erst durch das Spiel (die Erzählung, die Kommunikation) entsteht, an dem er teilnimmt, wie verhält er sich zu ihm und wie konstituiert sich seinerseits das Spiel? Wenn, nach Schiller, der Mensch „in voller Bedeutung des Wortes“ nur da „ganz Mensch“ ist, wo er spielt, wie ist diese Auffassung zu vereinbaren mit der Einsicht in den primären „medialen Sinn“ des Spiels (Gadamer), nach der der „homo ludens“ (Huizinga, Flusser) zugleich immer auch ein „homo lusus“ ist – und in Greenaways Filmen meist: der loser? In DROWNING BY NUMBERS geht es, neben der „moralischen“ Geschichte eines Leichenbeschauers und dreier Gattenmörderinnen gleichen amens, aber verschiedener Generationen, um verschiedene Formen der „Programmierung“ – der Programmierung von Kunstwerken durch Ordnungsprinzipien etwa der narrativen oder numerischen Sequenzierung auf unterschiedlichen Ebenen ebenso wie der Programmierung sozialen Verhaltens in unterschiedlichen Kontexten, und darum, wie diese Formen miteinander koordinierbar sind oder auch miteinander konfligieren können. DROWNING BY NUMBERS ist so einer der eindrucksvollsten Versuche Greenaways „to try and get away from cinema as narrative and to make cinema as sequence“, dessen eigenes Programm sich wiederum als eine spezifische „Ästhetik der Quantität“ oder auch „Informationsästhetik“ (Bense, Manovich) fassen ließe.

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System und Mythos „Es gibt natürlich eine ,Kunst‘ des Erzählers: nämlich die Fähigkeit, Erzählungen (Mitteilungen) aufgrund einer Struktur (eines Codes) hervorzubringen.“ Roland Barthes, EINFÜHRUNG IN DIE STRUKTURALE ANALYSE VON ERZÄHLUNGEN

– „I am not a number, I’m a free man!“ – „Ha ha ha ha ha.“ Iron Maiden, THE NUMBER OF THE BEAST

Nach Ludwig Wittgenstein sind mathematische Gleichungen dadurch charakterisiert, dass von ihnen erstens, da sie streng formalen Gesetzen folgen, keinerlei Überraschungen zu erwarten sind, dass sie zweitens auch keinerlei sinnvolle Gedanken ausdrücken, sondern lediglich ihre eigene Syntax demonstrieren, und dass sie insofern drittens schließlich allesamt dasselbe sagen: nämlich nichts1 – und so auch, nach Friedrich Kittler, nicht einmal einen imaginativen Mehrwert haben können: „Gleichungen sind dazu da, unvorstellbar zu sein.“2 Vielleicht lässt sich vor diesem Hintergrund ganz gut verstehen, was gemeint ist, wenn Greenaways Filme oft beschrieben werden etwa als „beautiful-looking, occasionally provocative, but increasingly arid and hermetic puzzle-movies that have all the passion of a mathematical equation“3 – der Grund für diese behauptete „Unzugänglichkeit“ und „Trockenheit“ mag also darin liegen, dass von Anfang an durch die Verwendung strikter Organisationsprinzipien schon alles weitere so vorentschieden scheint, dass angesichts einer vollständigen Determinierung des Ergebnisses a priori gar nichts übrig bliebe, was der Zuschauer noch entscheiden, beitragen, sich vorstellen oder wenigstens als Überraschung wahrnehmen könnte4, und selbst hinsichtlich einer, beispielsweise: moralischen Interpretation der Filme sorgen spätestens Greenaways Selbstinterpretationen noch für eine autoritative Vereindeutigung und Festlegung: „DROWNING BY NUMBERS is a story of three women who murder their husbands. [...] It is a poetic, amoral tale told morally to support the belief that the good are seldom rewarded, the bad go largely unpunished and the innocent are always abused.“5

Ist dazu noch mehr zu sagen?

1 2 3 4

5

Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, S. 42ff., 54f., 74ff. Kittler: Optische Medien, S. 321. Matwychuk: Faded Greenaway, o.S. Vgl. Salen, Katie / Zimmerman, Eric: Rules of Play. Game Design Fundamentals, Cambridge, MA / London 2004, S. 189: „Uncertainty is a key component of every game. If a game is completely predetermined, the player’s actions will not have an impact on the outcome of the game and meaningful play will be impossible.“ Vgl. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg 1987, S. 19. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 147.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

Tatsächlich sind ja mathematische Gleichungen in ihrer Form des (A=B) ⇒ (B=A) ⇒ (A=A) nichts anderes als Tautologien (die, paradoxerweise, zugleich als „Unterscheidungen, die nicht unterscheiden“, als „Unterscheidungen ohne Differenz“ in ihrer Behauptung einer Selbigkeit des Verschiedenen und einer Verschiedenheit des Selben ihrerseits nichts anderes als Paradoxien sind!), Formen also, die ihren Gegenstand in solcher Art und Weise fixieren, dass sie irgend weiterführende Aussagen über ihn unmöglich machen (oder nach Art des „eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ...“ in einen infiniten Regress münden) und so auch ihre Fremdbeobachtung blockieren – es sei denn, dass der tautologische Kurzschluss asymmetrisiert und noch mit „Zusatzsinn“ kann angereichert werden, indem z.B. die Beobachtung sich selbst befragt, woraufhin sie das, was sie beobachtet, denn eigentlich beobachten will – so dass man eine Gleichung etwa nach X oder nach Y hin auflösen und dann an anderer Stelle weitermachen kann oder eventuell auch gleichsam metamathematisch seine Aufmerksamkeit auf die Anwendung und Beschaffenheit bestimmter Transformationsregeln der Berechnung richtet6. Da Probleme der Beobachtung ja eben immer Probleme des Beobachters sind und nicht Probleme des Beobachteten7, hat auch eine, wenn man so will: „Enttautologisierung“ von Greenaways Filmen also über eine Beobachtung zweiter Ordnung, eine Selbstbeobachtung der Beobachtung zu erfolgen: über eine in der Rezeption der Filme mitlaufende Befragung dieser Rezeption auf ihre eigenen Konditionen (oder auch: Konditionierungen), also gerade über eine Selbst-Aktivierung des Zuschauers, der dafür aber (und damit einer Forderung nach immersiver Identifikation entgegen) sich von seinem Betrachtungsgegenstand muss unterscheiden und dann von dieser Unterscheidung nochmals distanzieren können8, und es ist wohl auch in diesem Sinne, dass Greenaway den daraufhin und gegen ihn gerichteten Vorwürfen begegnet: „Cinema itself is a sort of ritualistic game. People often say that I’m playing a game of which they’re not part – I say, come and play the cinema game with me […] Let’s play it together and enjoy it on all different levels.“9

6

7 8 9

Vgl. Luhmann: Die Autopoiesis des Bewusstseins, S. 59; ders.: Soziale Systeme, S. 631; ders.: Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft, in: ders.: Protest, S. 83, 97; ders.: Autopoiesis als soziologischer Begriff, S. 152; ders.: Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution, S. 12f.; ders.: Die Behandlung von Irritationen: Abweichung oder Neuheit?, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik 4, Frankfurt am Main 1995, S. 55-100, S. 74f. Ders.: Autopoiesis als soziologischer Begriff, S. 148; ders.: Sthenographie und Euryalistik, S. 62. Vgl. ders.: Soziale Systeme, S. 597. Zitiert nach: Barchfeld: Filming by Numbers, S. 153.

247

System und Mythos

Dabei ist allerdings auch deutlich zu betonen, dass es sich eben um ein Spiel handelt und nicht etwa um die Wirklichkeit10: „I want to make and see films that acknowledge themselves as films“, so Greenaway, „and do not attempt to pretend to be slices of reality or windows on the world which are dubious and unobtainable objectives at the best of times.“11 Um für die Eigenart von Greenaways cinema game noch einmal den Vergleich mit der Mathematik zu bemühen: auch diese ist ja, nach David Hilbert und Hermann Weyl, nichts anderes als ein formales Spiel, das sich keineswegs auf reale Objekte oder empirisch erfahrbare Wirklichkeiten bezieht, sondern vielmehr selbst erst „in sich geschlossene Universen“, „künstliche, hypothetische, kontingente Welten“ eröffnet und erzeugt12, und wo Greenaway also „cold, distant, pretentious game-playing“13 vorgeworfen wird – durchaus in diesem Sinne und im Hinblick etwa auf eine ästhetizistische Selbstgenügsamkeit und einen Mangel an „Realismus“ seiner Filme, im Hinblick auf eine Defizit an „psychologischer Tiefe“ der Figuren oder an Sinnhaftigkeit oder Nachvollziehbarkeit ihrer Handlungen, im Hinblick auf ein Fehlen einer (politischen, sozialen ...) message oder auch im Hinblick auf eine Indifferenz gegenüber eventuellen (perzeptiven, kognitiven, ästhetischen, moralischen) Zumutungen an die Zuschauer –, so ist dagegen zu bedenken, dass Greenaway ja selbst nicht eigentlich als Spieler auftritt (der sich etwa filmische Patiencen legte), sondern vielmehr als game designer, der seine Entwürfe einem teilnahmebereiten Publikum vorlegt, und dass in der Tat nach Katie Salen und Eric Zimmerman das Ziel eines erfolgreichen game design die Erzeugung von „sinnvollem Spiel“, von „meaningful play“ ist, d.h., dem Vorwurf eines Ausschlusses des Zuschauers entgegen und vielmehr gerade auf seine aktive Partizipation hin orientiert, „the result of players taking actions in the course of the play“ durch „meaningful kinds of choice-making“ – was aber eben nur und notwendigerweise über die „abstract, core mathematical rules of a game“ erfolgen kann: „the formal structure of a game, the fixed set of abstract guidelines describing how a play functions“14 – so dass nicht alles, aber auch nicht nichts, sondern, innerhalb einiger und unter Ausschluss anderer Möglichkeiten, überhaupt etwas geschehen kann. Und natürlich können Sinn und Ziel des Spieles auch darin bestehen, diese Regeln erst herauszufinden oder zu befragen – und gerade dadurch auch eventuell zu ändern, anstatt sie den Sinn des Spieles nur zu diktieren zu lassen15; ein Spiel dann also „not just 10

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13 14 15

Zur Unterscheidung von Spiel und Wirklichkeit statt derjenigen von Spiel und Ernst vgl. Freud, Sigmund: Der Dichter und das Phantasieren, in: ders.: Gesammelte Werke. Band 12: Werke aus den Jahren 1917-1920, S. 213-223, S. 214; Huizinga: Homo ludens, S. 11, 17. Greenaway: Cinema is far too rich and capable a medium, o.S.; vgl. ders.: Fear of Drowning by Numbers, S. 7. Vgl. Pias, Claus: Wie die Arbeit zum Spiel wird. Zur informatischen Verwindung des thermodynamischen Pessimismus, in: Bröchling, Ulrich / Horn, Eva (Hg.): Anthropologie der Arbeit, Tübingen 2002, S. 209-229, S. 210ff. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 3. Salen / Zimmerman: Rules of Play, S. 33, 41, 117, 139. Vgl. Bateson: Über Spiele und Ernst, S. 52; Gombrich, Ernst H.: Bild und Code: Die Rolle der Konvention in der bildlichen Darstellung, in: ders.: Bild und Auge, S. 274-294, S. 285.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

inside the frame of a game, but with the frame of a game itself“16. Das setzt selbstverständlich einiges an Kompetenz und Wissen schon voraus (man muss z.B. ja, um überhaupt daran teilnehmen zu können, das Spiel von der „spielexternen Realität“, sein Innen und sein Außen voneinander unterscheiden und gleichzeitig aufeinander beziehen können), und so weist Greenaway, möglicherweise gerade auch mit Blick auf das eigene Schaffen, selbst darauf hin, dass „to the uninitiated, the rules and action of a game may seem, at best, impenetrable, at worst ludicrous“, so dass das Spiel zu einem „unplayable game“ zu werden drohte – wenn nicht genau diese Umständlichkeit, Unverständlichkeit und letztlich Lächerlichkeit es ist, die damit ausgestellt und bemerkbar gemacht sein soll17 und das Spiel mit dem Spiel entsprechend auch genau dann glückt, wenn es zu scheitern droht, wenn also deutlich wird, dass es auch in der Tat ein solches ist18. Für viel schlimmer und gefährlicher als eine Tendenz zu expliziter Formalität hält Greenaway dagegen die Gefahr des Spiels, zum bloßen Ritual zu werden, das andere Möglichkeiten des Verlaufs und des Verhaltens nicht bereitstellt, sondern ausschließt, Spannung und Ungewissheit nicht erzeugt, sondern vielmehr eliminiert19, wie wenn er etwa mit kaum verhohlenem Sarkasmus feststellt: „Cinema is an elaborate game with rules. The aim of the game is to successfully suspend disbelief. The audience has been well trained over some eighty years of practice. Necessary circumstances are darkness and a bright projection-bulb and a screen. The audience agree to enter a dark space and sit facing in one direction.“20

Eine solche (recht beschränkte) Grundkonfiguration macht dann den Kinobesuch natürlich sehr berechenbar (!) – auch Alfred Matzerath sieht in diesem Sinne ja den Vorteil etwa des Skatspielens vor allem darin, dass, im Unterschied zu anderen Lebensbereichen, er wenigstens hier schon im Vorfeld genau wissen könne, was ihn so erwarte21. Greenaways cinema game hingegen ist eher eine kreative Verunsicherung: ein Spiel mit den Codes und Konventionen des Kinos als ganz genau dem, was sie nun eben sind: als Spielregeln, die vielleicht nützlich oder hinderlich, zu einengend oder zu wenig Orientierung bietend, zu unterkomplex oder auch unnötig und mitunter unüberschaubar kompliziert sind, in jedem Fall aber auch anders sein könnten, und die man befolgen oder beugen oder unterlaufen oder brechen

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Salen / Zimmerman: Rules of Play, S. 282. So ist das „unplayable game“ auch Exponat #32 von Greenaways Ausstellung HUNDRED OBJECTS TO REPRESENT THE WORLD. So wie auch der eigene Körper vor allem dann erst ins Bewusstsein tritt, wenn etwas juckt oder schmerzt, oder ein Medium sich meist erst dann bemerken lässt, wenn etwas abstürzt oder rauscht. Vgl. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 45ff.; Luhmann: Legitimation durch Verfahren, S. 38ff. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 83. Grass, Günter: Die Blechtrommel, Neuwied am Rhein / Berlin 1959, S. 273.

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System und Mythos

kann; kein regressives l’art pour l’art also, sondern ein reflexives l’art sur l’art22. Die Crux dabei ist dann natürlich die, dass jede Kritik aller normativen Vorgaben oder Codifizierungen (gerade auch etwa: ästhetischer Konventionalisierungen), wie abweichend sie vom Kritisierten auch ansonsten immer sein mag, dennoch, schon um überhaupt formuliert und auch verstanden werden zu können, immer selbst normiert, codiert und standardisiert sein muss – sie ist z.B. auf Zeichengebrauch angewiesen und daher auf ein Medium23, und so unterliegt auch die Kritik des Mediums Film im Medium Film bestimmten filmisch-medialen Grundbedingungen, die für Kritik und Kritisiertes gleichermaßen bindend und, im Unterschied zur Form ihrer eventuellen Inszenierung, mit der einmal getroffenen Entscheidung für die mediale Form des Films weitgehend dann nicht länger disponibel sind – in diesem Zusammenhang spricht Greenaway auch von den von ihm sogenannten Four Tyrannies of the Cinema, die er gleichwohl und z.T. auch gegen alle scheinbare Evidenz als „notwendige“ Beschränkungen des Mediums nicht akzeptieren mag: the Tyranny of the Text, the Tyranny of the Frame, the Tyranny of the Actor und schließlich the Tyranny of the Camera. •

The Tyranny of the Text: „We have not seen any cinema yet”, so Greenaway, „we have only seen 105 years of illustrated text. [...] In practically every film you experience, you can see the director following the text. Illustrating the words first, making the pictures after [...]. Though Derrida said the image has the last word, in cinema, we have all conspired to make sure the word has the first word.“24

Wenn das Kino bislang also in der Hauptsache nur aus „illustriertem Text“ besteht, wie lässt sich dieser Umstand kritisch und vor allem filmisch kommentieren? Greenaway schlägt u.a. folgende Möglichkeiten vor: man filmt umstandslos Text selber, eventuell auch in verschiedenen Stadien seiner Ausarbeitung (wie in DEAR PHONE oder VERTICAL FEATURES REMAKE), oder die Niederschrift des Textes – mitsamt auch seiner (mentalen und / oder kinematographischen) Bildergenerierung (wie in PROSPERO’S BOOKS), oder man macht die schriftlichen Anweisungen des Filmscripts zum Teil eben desjenigen Filmbildes, das in diesen Anweisungen beschrieben wird (wie in 8½ WOMEN).

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23

24

Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 482. In diesem Sinne beschreibt auch Amy Lawrence Greenaway als „self-conscious auteur whose work poses the question: How to make art out of ideas about art?“ (The Films of Peter Greenaway, S. 5.) Vgl. Fuchs, Peter: Die konditionierte Koproduktion von Kommunikation und Bewusstsein, in: ders.: Theorie als Lehrgedicht. Systemtheoretische Essays I, Bielefeld 2004, S. 95-119, S. 100f. Greenaway: 105 Years of Illustrated Text, S. 48.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS •

The Tyranny of the Frame: „We view all the plastic arts through a rigid frame. Since painting separated itself from architecture at the end of the Mediaeval period, it regulated its parameters, with very little exception, to fit four right-angles. And theatre, with a proscenium arch, copied painting; opera and ballet arranged its scenarios and choreography to be seen in association with theatre’s proscenium arch stage-space, and cinema copied the theatre, and television copied the cinema […]. This wholesale practice has become so traditional and orthodox, it is not questioned“25 –

wobei allerdings das Kino als ein strikten industriellen Standards unterworfenes technisches Medium gegenüber der Malerei noch einen großen Nachteil hat: „The painter can pick his own frame, the film-maker is not so lucky.“26 In THE PILLOW BOOK experimentiert Greenaway daher mit einem Changieren des 4:3- und 16:9-Formates als Beschneidung oder Ein- und Ausblendung, und wenn Mrs. Brogan in THE TULSE LUPER SUITCASES einem jungen Liebhaber Zigaretten auf der nackten Brust ausdrückt, so verengt sich parallel zur Kamerafahrt nach rückwärts auch der seitliche Rahmen des Sichtbaren des Filmbildes, als würde sich ein Vorhang schließen – bis dieser sich am Ende wieder öffnet und sich so dann erst herausstellt, dass die auf diese Art gezeigte und verstellte Szene in der Tat nur eine solche ist: eine Theateraufführung innerhalb des Films nämlich. •

The Tyranny of the Actor: „We should not regard the cinema as a playground for Sharon Stone and Sylvester Stallone. [...] We have a cinema whose greatest publicity assets are the actors and the actresses, the so-called stars. But I think there's a way in which cinema deserves a much better deal than that. It is not a virtuoso playground for the personality-cult of the actor or the actress.“27

Eine Möglichkeit, einer solchen Star-Fixierung vorzubeugen, besteht natürlich darin, in seinen Filmen gar keine Schauspieler einzusetzen (wie etwa in DEAR PHONE, WATER WRACKETS oder VERTICAL FEATURES REMAKE), andererseits arbeitet Greenaway durchaus mit Virtuosi oder Stars wie mit John Gielgud (A TV DANTE und PROSPERO’S BOOKS), Ewan McGregor (THE PILLOW BOOK), Helen Mirren und Tim Roth (THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER), Julia Ormond und Ralph Fiennes (THE BABY OF MÂCON) oder Deborah Harry, Isabella Rossellini und Franka Potente (THE TULSE LUPER SUITCASES) – denen aber Greenaway dann natürlich auch die eigenen Worte Schauspieler betreffend in den Mund legen kann:

25 26 27

Ders.: Toward a re-invention of cinema, o.S. Ders.: Papers / Papiers, S. 82. Ders.: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 11.

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System und Mythos „Sooner or later”, so etwa Franka Potente als Trixie Boudain in THE TULSE LUPER SUITCASES, „every actor and actress is obliged to die and to fuck. [...] Yet the actor most certainly does not die and we are pretty certain that they don't fuck. [...] We are asked nonetheless to believe in both. [...] If actors didn’t die or fuck etc., why would we come to the cinema? Cinema would have disappeared ages ago.“



The Tyranny of the Camera: „There’s a way in which the camera is essentially a mimetic tool, which tells us how the world exists, [...] recording what we already know. But making pictures through our eyes, we should remember what Picasso said, make a manifestation, essentially, of what we think.“

So lässt sich die Artifizialität des Filmbildes, das dezidiert dann nicht die Abbildung von „Gegenständen“ ist, sondern die Realisierung eines Plans und einer Überlegung zeigt, auch dadurch demonstrieren, dass man, wie in THE TULSE LUPER SUITCASES, - Zeichnungen, Filmaufnahmen und Computergrafik überlagernd kombiniert, - digitalisierte Filmaufnahmen in Computeranimationen einbettet, die z.B. auch genau das serielle Zustandekommen des Filmbildes aus Einzelbildern demonstrieren, oder - ganze Sequenzen gleich komplett computergeneriert, um so gänzlich vorbildlose Bilder zu erschaffen – etwa tosendes Wasser in einem rotierenden transparenten Koffer. THE TULSE LUPER SUITCASES entsprechen damit auf eindrucksvolle Weise der Definition eines digital cinema, wie Lev Manovich sie gibt: „digital film = live action material + painting + image processing + compositing + 2-D computer animation + 3-D computer animation“,

um daraus zu folgern: „With an artist being able to easily manipulate digitized footage either as a whole or frame by frame, a film in a general sense becomes a series of paintings. [...] As cinema enters the digital age, [...] it is no longer an indexical media technology but, rather, a sub-genre of painting [...] – painting in time. No longer a kino-eye, a kino-brush.“28

Oder, wie Greenaway die digitale Überbrückung der Kamera ausdrückt: „Get rid of the eye, go straight to the brain!“29

28

29

Manovich, Lev: What is Digital Cinema?, in: Mirzoeff, Nicholas (Hg): The Visual Culture Reader. Second Edition, London / New York (NY) 2002, S. 405-416, S. 406, 413. Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

Nun lässt sich zum einen auf Einschränkungen dieser Art, wie kontingent auch immer diese sein mögen, gleichwohl auch nicht verzichten, ohne dass auch dasjenige mitentfällt, was durch sie erst ermöglicht wurde30, doch ist Greenaway zum anderen auch weit davon entfernt, die ja kaum zu leugnende (und gerade so auch in der Kunst dann sichtbar werdende) „Unvermeidlichkeit von Ordnung schlechthin“31 zu beklagen oder schließlich an ihr zu verzweifeln. Und in der Tat: Erhöbe man selbst auch die Regellosigkeit zur Regel (verzichtet man z.B. auf einen festen plot oder ein Drehbuch, sollen Dialoge ausschließlich improvisiert werden, integriert man unvorhergesehene während der Dreharbeiten aufgetretene Ereignisse mit in den Film etc.), so hat man eben dies zur Regel – und so auch, wenn man etwa „neorealistisch“ eine Ablehnung aller Regeln und ein Durchbrechen aller Schemata und Kodifizierungen visiert und dies Zerbrechen dann auf „Wirklichkeit“ zurechnet32. Genau diese Wirklichkeit aber ist „als solche“ unerkennbar und daher z.B. filmisch auch nicht darstellbar: „Realität kann nur sein, wie sie ist – unterscheidungslos und dunkel“33, und mehr läßt sich schon nicht mehr über sie sagen34, während ihre Beobachtung hingegen überhaupt nicht anders möglich ist als eben im Hinblick auf Ordnung35. Eine Denunziation von Ordnung ist gleichwohl natürlich möglich – aber eben auch nur innerhalb der Ordnung36, und so führt Greenaway gewissermaßen, wenn in seinen Filmen überkommene und vielleicht absurde oder gar lächerliche Ordnungsschemata und Konventionen durch noch absurdere und lächerlichere karikiert und überboten werden, mit Nietzsche, ein Spiel und einen Tanz in Fesseln auf – allerdings freilich (und damit eben anders als der von Nietzsche angeführte Chopin) dezidiert nicht, ohne darauf zu verzichten, diese Fesseln dabei wenn nun schon nicht zu zerreißen so doch kräftig zu verhöhnen37. Gerade daraus aber wird ersichtlich, dass es sich bei diesen Konventionen eben nicht um Naturnotwendigkeiten handelt, sondern um „selbsterzeugte Notwendigkeiten“38, eine „self-imposed discipline“39: um Selbstfestlegungen, Selbstlimitationen, um eine Selbstfesselung, deren Kritik dann eben nicht darauf hinausläuft, dass sie überhaupt bestimmte Einschränkungen einführt (ohne welche eine Auswahl aus bestimmten Möglichkeiten ja auch gar nicht möglich wäre40), sondern dass sie, mit Vilém Flusser, in ihrer scheinbaren normativen Alternativlosigkeit viel eher nur „eine Verschleierung der Möglichkeiten [bewirkt], die der filmischen Techno-Imagination

30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40

Luhmann: Soziale Systeme, S. 45. Ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 241. Vgl. Zavattini, Cesare: Einige Gedanken zum Film, in: Kotulla (Hg.): Der Film. Band 2, S. 11-27. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 698. Ders.: Zeichen als Form, S. 46. Vgl. ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 238f. Vgl. Derrida: Cogito und Geschichte des Wahnsinns, S. 60. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter Band, in: ders.: Werke. Band IV.3, Berlin 1967, S. 1-342, S. 256. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 498. Greenaway: The Stairs 1, S. 87. Luhmann: Soziale Systeme, S. 57.

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System und Mythos

offenstehen“41. Zu solchen selbst unnötigen Einschränkungen, die andere Möglichkeiten unnötigerweise nur als ausgeschlossen einschließen oder jedenfalls doch ausblenden, zu derart vielleicht also als ganz normal empfundenen, aber dennoch „gänzlich unsinnigen Restriktionen“42 zählt Greenaway eben das Bestehen auf Erzählung und dann vor allem auf zuschauerseitig identifikationsheischende Erzählung vor allem von „Leidenschaft“ als „limiting, reductive and undersell[ing] the visual potential of cinematic language“43: „Dominant cinema persists in the idea [...] that emotional identification is a necessary formula. People want - in the conventional wisdom - to be ,moved‘ when they go to the cinema - what do they get? Well - for the most part, they get the familiar manipulative emotional cinema - they get sentiment masquerading as emotion - they get well-honed situations that massage prejudices, that comfort by repeating what is familiar, providing the same reassuring emotional experiences by the same recognisable methods. Are there alternatives? Of course there are. What about a cinema that does not start with ,characters‘, that does not start with plot, that does not brand itself in advance as a ,weepie‘ or a comedy or a horror-picture or a thriller? Instead of an exclusive mass-appeal to emotional catharsis, what about a cinema that makes an appeal to some rationality, some delight in ideas, some alternatives to feeling everything - to thinking something?“44

Nochmals gesagt: Es geht Greenaway weder hinsichtlich geltender filmischer Normen und kinematographischer Standards noch hinsichtlich seiner selbst eingeführten Ordnungsprinizipien noch auch hinsichtlich des Verhältnisses beider um die Entscheidung eines durch wen immer vielleicht feststellbaren Widerspruchs von „Freiheit“ und „Zwang“ oder „Totalitarismus“ und „Anarchie“ durch Verabsolutierung des Einen und Eliminierung des Anderen (wodurch ja auch die präferierte Seite der Differenz mit der Differenz zugleich verschwinden würde)45 – wohl aber um das Spannungsverhältnis 41 42

43 44 45

Flusser: Filmerzeugung und Filmverbrauch, S. 101f. So Luhmanns Kritik an „grundlosen Unebenheiten sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten“, die vor jeder weiteren Kritik etwa einer angeblichen Unverständlichkeit wissenschaftlicher Prosa erst einmal zu bereinigen wären (Luhmann: Soziale Systeme, S. 596, Anm. 8) – eine Haltung, der Greenaway mutatis mutandis sich wohl durchaus anschließen würde. Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S. Ders.: Cinema is far too rich and capable a medium to be left merely to the storytellers, o.S. Vgl. dazu eine Diskussion zwischen Greenaway und Wolfgang Schirmacher: Schirmacher: „On one hand, you have these great visionary ideas, these provocations, breaking down things, on the other hand, sometimes it creeps in somehow, this number game, it has to be sixty-two, twenty-four, whatever [...] Why did you need this structure of numbers still? Why don't you trust that when you're exhausted, that's your number? You won't know in advance. Why should it be so many days? Is it for the audience, they need structure and order? This is exactly how government thinks, that you need some rules otherwise it will be anarchy. Why not

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dieser Differenz. Alle Kontingenz und Selbstfestlegung innerhalb eines medialen Bereichs des „So-und-auch-anders-Könnens“ setzen ja einschränkende Strukturen immer schon voraus: „Freiheiten“, so Luhmann, „wachsen nur mit Ordnungen, nicht nur gegen Ordnungen“46, in keinem Falle aber ohne Ordnungen. In seiner Unzufriedenheit mit überkommenen kinematographischen Konventionen und mit Hinweis auf ihre Nicht-Notwendigkeit und Kontingenz: warum (immer nur) so und nicht anders? – sucht Greenaway also nach funktional äquivalenten, ja eventuell gar: überlegenen Alternativen insonderheit zur Narration als filmischem „Programm“ und Organisationsprinzip: „organizing principles that reflect temporal passing more successfully than narrative, that code behaviour more abstractly than narrative, and perform these tasks with some form of passionate detachment“47 – so dass schließlich selbst die Forderung nach Leidenschaft, wie immer paradox, doch auch noch erfüllt wird werden können. Die Organisationsprinzipien, die dazu nun herangezogen werden, bestehen etwa in der Verwendung einer elaborierten Farbcodierung (wie vor allem etwa in THE BELLY OF AN ARCHITECT und THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER) oder (bereits seit INTERVALS und natürlich H IS FOR HOUSE in beinahe jedem Film von Greenaway) alphabetischer Listen oder auch numerischer Serien – für welche letztere DROWNING BY NUMBERS wohl sicherlich das eindrucksvollste Beispiel ist.

46 47

anarchy? In many ways you are the typical anarchist. You have all the strengths and joys of breaking down things, then you turn around, and you have the face of the guy who needs his database in order to feel safe. [...] My question is, do we need this?“ Greenaway „We need alternative systems to a cinema which is enslaved to narrative.“ Schirmacher „Right, but now we are enslaved to numbers …“ Greenaway „Again, as always, Wolfgang, you overemphasize and melodramatize a point beyond any qualification which I'm sure you seriously believe in. These are alternative devices which are used not consistently, but as variations on a theme.“ (Greenaway: Have We Seen Any Cinema Yet?, o.S.) Schirmacher „But what are the new boundaries, after you break out of the old ones?“ Greenaway „Well, we will find this out, Wolfgang, when we get there!“ (Zitiert nach: Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S.) Luhmann, Niklas: Die Funktion der Religion, Frankfurt am Main 1977, S. 177. Greenaway: Some Organizing Principles, S. 161.

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Was sind und was sollen die Zahlen? Während Kittler zufolge mit Zahlen schlichtweg „nichts unmöglich“ ist48, ist Greenaway etwas bescheidener: „Numbers help.“ Denn: „Numbers can mean definable structure, readily understandable around the world“49 – verstehbar von Menschen, heißt das, die im Unterschied zu digitalen Medien noch nichts modulieren, transformieren, synchronisieren müssen, sondern in aller Ruhe Filme anschauen können. Was aber wäre unter einer Zahl denn zu verstehen? Eine Farbe lässt sich wie immer grob als visuelle Sinneswahrnehmung begreifen und ein Buchstabe als geschriebenes Zeichen eines gesprochenen Lautes – was aber ist eine Zahl? Will man zunächst eine begriffliche Definition festlegen oder gar das „Wesen“ der Zahlen bestimmen, so scheint man einem direkten Metaphysikzwang zu unterliegen, wenn etwa nach Augustinus in den Zahlen äußerst rätselhafte Entitäten jenseits von Raum und Zeit und zugleich doch die Grundlagen jeglicher Ontologie zu sehen sind: „Betrachte den Himmel und die Erde und das Meer und was da oben glänzt oder unten kriecht, fliegt oder schwimmt. Es hat Formen, weil es Zahlen hat. Nimm sie ihnen weg, und sie werden zunichte. Woher kommen sie also, wenn nicht von dort, wo die Zahl herkommt? Denn insoweit kommt ihnen Sein zu, wie ihnen Zahlhaftigkeit zukommt. [...] Sieh nun die Schönheit des geformten Körpers an: Zahlen werden festgehalten im Raum. Sieh die Schönheit der Beweglichkeit im Körper: Zahlen bewegen sich in der Zeit. Dringe in die Kunst ein, die sie hervorbringt, und frage in ihr nach Zeit und Raum: Sie ist niemals, sie ist nirgendwo, und doch lebt in ihr die Zahl, aber ihr Reich ist nicht der Raum, und ihr Alter zählt [sic!] nicht nach Tagen.“50

Wie nach pythagoreischer Überzeugung die Zahlen die Prinzipien der Natur seien und alles Seiende aus Zahlen bestehe („Alles ist Zahl“)51, wie der kabbalistischen Mystik zufolge jegliche Schöpfung als Emanation der dynamischen Kräfte der zehn Sephiroth – der „Ziffern“ – zu begreifen ist und insofern „das Wesen der Dinge die Zahl“ sei und „die Identität der Dinge in der Zahl ihre Identität im Wesen“ zeige52 und wie im christlichem Glauben Gott „alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“ habe (Weish 11,20), so fasst Boëthius’ DE INSTITUTIONE ARITHMETICA die kosmogonische Bedeutung der Zahlen so zusammen:

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Kittler, Friedrich: Grammophon Film Typewriter, Berlin 1986, S. 8. Greenaway: Some Organizing Principles, S. 161. Augustinus: De libero arbitrio. Der freie Wille. Lateinisch – deutsch. Eingeleitet, übersetzt und hg. von Johannes Brachtendorf, in: ders.: Opera / Werke. Hg. von Johannes Brachtendorf und Volker Henning Drecoll, Band 9, Paderborn / München / Wien / Zürich 2006, S. 189. Kranz, Margarita / Thiel, Christian: Eintrag „Zahl, Zählen“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel. Band 12, Basel 2004, Sp. 1119-1145, Sp. 1122. Singer, Astuter (Hg.): The Jewish Encyclopedia, New York (NY) 1907, Band 6, S. 590, zitiert nach: Dudley, Underwood: Die Macht der Zahl. Was die Numerologie uns weismachen will, Basel / Boston (MA) / Berlin 1999, S. 53.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS „Alles, was von der ursprünglichen Natur der Dinge zusammengefügt wurde, ist sichtlich nach vernünftigen Zahlen geformt. Das lag dem Schöpfer als anfängliches Muster im Sinn. Daher wurde die Vielfalt der vier Elemente entlehnt, daher der Wechsel der Zeiten, daher die Bewegung der Sterne und der Kreislauf des Himmels“53,

und unter Berufung auf diese altehrwürdigen Quellen kann dann etwa der Numerologe Robert Griesbeck hinsichtlich einer „kosmischen Verbundenheit der Schicksale mit den Zahlen“ schließlich feststellen, dass die moderne Mathematik nur ebenso magisch sei wie die Zahlenmystik des Mittelalters: „Denn wie anders soll man mathematische Gebilde verstehen, die sich quasi unendlich aufblähen, um schlussendlich ihren eigentlichen Anfang wieder am Schwanz zu packen?“54 Gerade diese Rekursivität und Selbstreferentialität aber ist vielmehr Indiz dafür, dass alle Numerologie tatsächlich ebenso magisch ist wie alle Mathematik, nämlich natürlich überhaupt nicht – es sei denn, man versteht Magie mit Keith Thomas ganz einfach als „employment of inefficient techniques to allay anxiety when effective ones are not available“55, also letztlich als seinerseits ganz kontingentes Verfahren zur Unsicherheitsabsorption und Reduktion ansonsten unfassbarer Komplexität. Entgegen einer wie immer mystischen Annahme einer Primordialität (!) der Zahlen und im Anschluss an George Spencer Brown sind die Grundlagen der Arithmetik selber nicht-numerisch zu bestimmen56, und so wird das Problem der Definition der Zahl von Louis H. Kauffman auch folgendermaßen angegangen: „It is through the non-numerical mathematics of the observer - the mathematics of form, reference, self-reference and logic, that arithmetic emerges into the world. [...] What is a number? Language betrays us even as we speak. For the existence of a number is unlike any existence that we call physical or mental. To obtain the isness of number you need to call up the Platonic realm of eternal forms. Where is the number of the Platonic realm in the cosmic telephone directory? You cannot even get a call through to the Platonic realm without the existence of number and you cannot get the existence of number without the Platonic realm.“57

Ausgehend von einer erweiternden Kritik des Russellschen „key concept of a number as an invariant assigned to a collection“ gelangt Kauffman hin zu einer Konzeption der Zahl als dem Ergebnis eines selbstreferentiellen Zählprozesses, der Konstruktion einer rekursiven Unterscheidung von Unterscheidungen, und schließlich: einer Folge der Spencer Brown’schen Injunktion des draw a distinction! Definiert Russell, dass eine Zahl die Zahl einer Menge und die Zahl einer Menge die Menge aller ihr äquivalenten Mengen 53 54 55 56 57

Zitiert nach: Griesbeck, Robert: Numerologie. Ihre Zahlen richtig gedeutet, Niedernhausen 1998, S. 14. Ebd., S. 6. Thomas, Keith: Religion and the Decline of Magic. Studies in popular beliefs in 16th and 17th century England, London 1971, S. 668. Vgl. Spencer Brown: Laws of Form, S. XIX.; ders.: Selfreference, Distinctions and Time, in: Teoria Sociologica 2-3(1993), S. 47-53, S. 49. Kauffman, Louis H.: What is a Number?, in: Cybernetics and Systems 30(1999), S. 113-130, S. 113f.

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sei58, so fragt Kauffman, wie und von wem diese Äquivalenz denn überhaupt erst festzustellen wäre, und gibt darauf dann folgende Antwort: „A set is a special sort of distinction. Sets are concepts held by an observing system. The empty set { } is the bare concept of collecting. [...] We arrive at a concept of number though our ability to compare and distinguish. We can compare and we know it.“59

Das Argument läuft, im Anschluss an John von Neumann, dann wie folgt: Um etwas einer Menge zuordnen (bezeichnen) zu können, muss man zunächst diese Menge definieren (unterscheiden) können, unabhängig von ihren eventuellen Elementen also erstmal eine (leere) Menge konstruieren. Diese leere Menge gibt es (da selbst die Annahme ihrer Nicht-Existenz ein Beweis ihrer Existenz wäre, insofern die Menge der leeren Mengen ja ihrerseits dann selber leer wäre – die Suche also das Gesuchte selbst erzeugte!), und es gibt nur eine solche leere Menge (da alle leeren Mengen nicht nur dieselbe Anzahl an Elementen haben, also äquivalent sind, sondern dieselben Elemente haben, nämlich gar keine, also identisch sind). Infolgedessen gibt es auch nur eine Menge, deren einziges Element die leere Menge ist, und nur eine Menge, deren einzige Elemente die leere Menge und die Menge sind, deren einziges Element die leere Menge ist usw.; aus der leeren Menge folgt also alles weitere: „If there is no empty set in sight, the observer immediately finds one in the act of set formation. This is the pure act of distinction. [...] We arrive at a concept of number through our ability to compare and distinguish. [...] If E denotes the empty set, then the successor sequence E, E', E'', E''', ... provides a unique sequence of sets each having one more member than the previous set. No two of these sets are equal to one another (because they have different members). Each set in this successor sequence becomes a reference set for the corresponding number. Thus the empty set is a reference for 0, E' is a reference for 1, E'' is a reference for 2 and so on. The successors of the empty set provide a specific construction of multiplicities and thereby bring the numbers into mathematical existence“60,

so dass nach Darstellung dieses selbstfundierend-rekursiven Aufbaus Kauffman zu dem Schluss kommt: „The counting process is self-referential. It uses its production to produce itself.“61 Zahlen als buchstäbliche „Leerformen“ der Beobachtung sind dann so die „Namen“, die konfirmierten Kondensate dieses Zählprozesses: Identifikatoren einer Unterscheidung von Unterscheidungen, einer Sammlung von Sammlungen, auf die sich wiederholt vor- und zurückgreifen lässt, die prozessuale Rekursion zu ordnen62. Der Zahl-Begriff ist so zwar nicht identisch, aber, aufgrund auch seiner „adjek58 59 60 61 62

Russell, Bertrand: Einführung in die mathematische Philosophie. Hg. von Johannes Lenhard und Michael Otte, Hamburg 2002, S. 24f. Kauffman: What is a Number?, S. 118. Ebd., S. 120. Ebd. Vgl. Spencer Brown: Laws of Form, S. 1f.; Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 46f.

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tivischen“ Natur63, doch untrennbar verbunden mit einer „Sammlung von gezählten Dingen“64 – etwas (wie immer distinktiv erst selbstkonstruiertes) muss ja gezählt werden, denn, nach Aristoteles: ohne Zählung weder Gezähltes noch Zählbares, also auch keine Zahl65 – seien dies nun mathematische Operationen oder, wie zu Beginn von DROWNING BY NUMBERS, die Sterne am Himmel.

Die Vollzähligkeit der Sterne „Weißt du, wieviel Sternlein stehen An dem blauen Himmelszelt? Weißt du, wieviel Wolken gehen Weithin über alle Welt? Gott, der Herr, hat sie gezählet, Dass ihm auch nicht eines fehlet An der ganzen großen Zahl.“66

In einer kurzen Würdigung dieses berühmten Kinderliedes merkt Norbert Wiener an, dass, während es metereologisch gesehen so etwas wie „Wolken“ überhaupt nicht gebe (und gäbe es sie, so bestünde weder Möglichkeit noch Interesse, sie zu zählen), Sterne hingegen als astronomische Phänomene in der Tat einer sei’s menschlichen, sei’s göttlichen „Durchmusterung“ durchaus zugänglich sind – „ein Stern“, so Wiener, „ist an erster Stelle ein bestimmbarer Gegenstand, ausgezeichnet geeignet, gezählt und katalogisiert zu werden“67. Mit einer solchen Durchmusterung beginnt nun DROWNING BY NUMBERS: Die ersten Bilder des Filmes zeigen einen nächtlichen Sternenhimmel, dann ein seilspringendes Mädchen (das ansonsten namenlose „Skipping-Girl“), das im Rhythmus ihrer Sprünge die Sterne zählt und dabei ihre Namen aufruft: „One – Antares, Two – Capella, Three – Canopus ...“68

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Vgl. Kauffman: What is a Number?, S. 119f. Kranz / Thiel: „Zahl, Zählen“, S. 1121. Aristot. Phys. 223a. Oder, mit Luhmann: ohne die selbstreferentiell Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheidende Form des Systems nichts Beobachtetes oder Beobachtbares, also auch keine Beobachtung, und umgekehrt – was schließlich allerdings nur heißt: ohne System kein System. Hey, Wilhelm: Weißt du, wieviel Sternlein stehen?, in: ders.: Noch funfzig Fabeln für Kinder. In Bildern, gezeichnet von Otto Speckter. Nebst einem ernsthaften Anhange, Dortmund 1978 (Reprint der Ausgabe Hamburg 1837), S. 18f. Wiener, Norbert: Newtonscher und Bergsonscher Zeitbegriff, in: ders.: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine, Reinbek 1968, S. 53-69, S. 53. Dass es sich bei den hundert aufgezählten Sternen um keine astronomisch korrekte Liste handelt, dürfte klar sein – „at least a quarter will never appear on any accredited map of the Universe“ –, sondern vielmehr erneut um einen Raum für Selbst- und Fremdreferenzen, wenn die Sterne die Namen einiger Vorbilder Greenaways (so etwa die Maler R.B. Kitaj, Godfrey Kneller, Hieronymus Bosch und Carel Fabritius) oder auch die seiner eigenen Figuren aus vergangenen oder

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Da aber, wie ja auch das Kinderlied schon nahelegt, die komplette Zahl der Sterne zu bestimmen und sie alle mit Namen zu rufen Gott alleine vorbehalten (Ps 147,4) und, als „occupation without end“69, eine Umfangsdefinition der Menge aller Sterne anzugeben Menschen als Lebewesen mit begrenzter Lebensdauer nicht gegeben ist70, verwendet das Skipping-Girl ein besonderes Verfahren, unendliche in endliche Informationslasten umzuwandeln71, wie sie der vorbeikommenden Cissie I erklärt: Cissie I: Girl: Cissie I: Girl: Cissie I: Girl: Cissie I: Girl: Cissie I: Girl:

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„What are you doing up so late?“ „I’m counting the stars.“ „Do you really know all their names?“ „Yes I do.“ „How many did you count?“ „One hundred.“ „But there are more than a hundred.“ „I know.“ „Why did you stop?“ „A hundred is enough. Once you have counted one hundred, all other hundreds are the same.“

zukünftigen Filmen (Luper, Hoyten, Kracklite, Spica) tragen. Vgl. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 11ff. Ebd., S. 11. „A calculation: the Skipping-Girl counts a star a second – if she lived a biblical lifespan she could not count more than two thousand million – a snip.“ (Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 21.) Vgl. Russell: Einführung in die mathematische Philosophie, S. 18: „Niemand kann alle Menschen oder selbst alle Einwohner von London wirklich aufzählen, und doch ist sehr viel über jede dieser Mengen bekannt. Dies zeigt zur Genüge, dass wir zur Kenntnis einer Menge nicht notwendig ihre Umfangsdefinition brauchen. Bei der Betrachtung der unendlichen Mengen erkennen wir aber, dass für Wesen mit endlicher Lebensdauer eine Aufzählung selbst theoretisch nicht möglich ist. Wir können nicht alle natürlichen Zahlen aufzählen. Sie lauten: 0, 1, 2, 3 und so weiter. Irgendeinmal müssen wir uns mit diesem ,und so weiter‘ zufrieden geben.“ Die Unmöglichkeit einer Aufzählung aller Sterne (als dem, was gezählt wird) korreliert so mit der Unmöglichkeit einer Aufzählung aller Zahlen, mit denen die Aufzählung aller Sterne dann erfolgen könnte (als dem, womit gezählt wird); selbst für die Mittel der Bestimmung einer Umfangsdefinition kann also selber keine Umfangsdefinition gegeben werden, sondern nur eine Inhaltsdefinition, d.h. eine Definition der Elemente einer Menge durch eine gemeinsame Eigenschaft (vgl. Russell: Einführung in die mathematische Philosophie, S. 17): alle Sterne sind Sterne (z.B. im Unterschied zu Kühen) und alle natürlichen Zahlen sind natürliche Zahlen (z.B. im Unterschied zu irrationalen Zahlen). Die reflexive Zählbarkeit von Zahlen, die ihrerseits zu keinem Ende kommen kann, ist dann in der Rede von den all other hundreds impliziert – einhundert, zweihundert, dreihundert und so weiter. Luhmann: Sthenographie und Euryalistik, S. 61.

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Die Vollzähligkeit der Sterne72 wird also nicht etwa dadurch bestimmt, dass jeder Stern einzeln identifiziert und dann so lange gezählt würde, bis kein ungezählter Stern mehr übrig ist, sondern vielmehr durch das vorgefasste Limit einer Sequenz von Ordinalen73; nicht die Sterne werden (surjektiv) durch die Zahlen numeriert, sondern – in bester pythagoreischer Tradition74 – „the stars are invented by the Skipping-Girl for counting“75! – und zwar so lange, bis (injektiv) die vorgefasste „ganze große Zahl“ erreicht, er-zählt und das Maß ihres Zentesimalsystems erfüllt ist (das dann unabhängig vom jeweiligen Gegenstand der Zählung für jede wiederholte Anwendung dasselbe bleibt). Die Welt – so Greenaway gewissermaßen in einer Überbietung Mallarmés – existierte so dann nur, um numerisch erfasst zu werden und in eine Liste einzugehen76; das Verhältnis von Zahl und Gezähltem, von Zeichen und Bezeichnetem, der „Bedeutungsvektor“77 dieser Relation wird also umgekehrt und das Mittel so zum (Selbst-)Zweck, das Ordnungsinstrument zur verursachenden Ursache jener Phänomene, derentwegen es entwickelt worden war78. Die Zählung des Skipping-Girl ist also keine Abbildung der Welt und ihrer Sachverhalte, sondern, mit Flusser, vielmehr eine Projektion: keine Abstraktion konkreter Gegenstände (auf ihre Anzahl), sondern die Konkretisierung abstrakter Begriffe (durch eine fremdreferentielle Kopplung) – nicht Erklärung eines „umweltlichen Umstands“, sondern vielmehr dessen „Einbildung“ und Modellierung79. Die Welt von DROWNING BY NUMBERS wird sich aus lauter Zählungen formieren (neben Bienen, Hundehaaren oder gewaltsamen Todesfällen etwa die Anzahl der Cissie Colpitts verschiedener Generationen; die Jahre seit dem Tod von Cissie I’s erstem Ehemann; die Male, die Jake bis zu seinem Tode unter Wasser gedrückt werden muss; die Bedingungen, unter denen Cissie III sich bereit erklärt, Bellamy zu heiraten; schließlich die Zurückweisungen Madgetts durch alle drei Cissies usw.) – ebenso wie der Film selbst, indem, 72 73 74

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Vgl. Blumenberg, Hans: Die Vollzähligkeit der Sterne, Frankfurt am Main 1997. Kauffman: What is a Number?, S. 127. Vgl. Arist. Metaph. 986a: „Was sie [die Pythagoreer] nun in den Zahlen und den Harmonien als übereinstimmend mit den Eigenschaften (Zuständen) und den Teilen des Himmels und der ganzen Weltbildung aufweisen konnten, das brachten sie zusammen und passten es an. Und wenn irgendwo eine Lücke blieb, schauten sie eifrig darauf, dass ihre ganze Untersuchung in sich geschlossen sei. Ich meine z.B., da ihnen die Zehnzahl etwas Vollkommenes ist und das ganze Wesen der Zahlen umfasst, so behaupten sie auch, der bewegten Himmelskörper seien zehn; nun sind aber nur neun wirklich sichtbar; darum erdichten sie als zehnten die Gegenerde.“ (zitiert nach: Aristoteles: Metaphysik. Nach der Übersetzung von Hermann Bonitz bearbeitet von Horst Seidl, in: ders.: Philosophische Schriften in sechs Bänden. Band 5, Hamburg 1995, S. 15.) Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 33. „To make a savage paraphrase of the idea that everything exists in order to be put into a book, I suggest that everything exists to be put in a list“ (zitiert nach Morgan: Breaking the Contract, S. 15f.). Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, S. 50ff. So auch Umberto Ecos Kritik des „ontologischen Strukturalismus“ (Einführung in die Semiotik, S. 409). Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, S. 14, 52.

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als parallel zur Erzählhandlung laufendes „Suchspiel“, von Anfang bis Ende die Zahlen von 1 bis 100 sukzessive irgendwo im Bild auftauchen und den Film so mit einem auf Bildebene eingebauten time code versehen – „the count is complete and the film is finished“80, genau wie auch das SkippingGirl ihr Spiel bei 100 aufhört (oder: abbricht).

Vom Errechnen einer Wirklichkeit Wenn DROWNING BY NUMBERS so eine (numerische) „Ordnung der Dinge“ anbietet, so ist gleichwohl zu betonen, dass es sich dabei um eine willkürlich auferlegte Ordnung handelt, an der dann sicherlich die eigene Strukturierungsfähigkeit, aber keinerlei „intrinsische Eigenschaften“ des Geordneten erkennbar werden – dem Postulat jener „epistemologischen Ontologien“ entgegen, dass die Realität selbst geordnet sei und es nur noch auf die (z.B.: filmische) Ergründung und Darstellung dieser schon gegebenen, der Welt „innewohnenden“ Ordnung ankäme81. Diese aber nicht nur anzunehmen, sondern sie auch noch nach genau den Mitteln der eigenen Darstellung zu modellieren, d.h. die Eigenschaften eines Beschreibungssystems, das in den Rang eines universalen Erklärungsmodells etwa der Bedeutungen von „Geist“ oder „Realität“ erhoben wird, zur Eigenschaft des zu beschreibenden Gegenstandes selbst zu hypostasieren82, ist darüberhinaus auch Haltung der Zahlenmystik und der Numerologie, nach der „die Zahl [...] das in der Natur der Ratio selbst begründete Prinzip rationaler Tätigkeit [ist], so dass aufgrund der Abbildhaftigkeit des endlichen gegenüber dem unendlichen Geist die Operationen des Zählens und Rechnens zum Modell für die göttliche Schöpfung werden“83

und mit der Annahme eines „status of number as something both underlying and transcending reality“84 man von einem heuristischen zu einem symbolischen Modell der Darstellung dann nicht mathematischer, sondern ontologischer Verhältnisse und von der Konzeption eines mathematisch beschreibbaren zur Konzeption eines selbst nach mathematischen Prinzipien geordneten Kosmos gelangt. Ob man in diesem Sinne nun etwa mit Galileo Galilei annimmt, das Universum sei ein Buch, das in der Sprache der Mathematik geschrieben ist85, oder mit Konrad Zuse den Kosmos als eine „gigantische Rechenmaschine“ aufzufassen geneigt ist86; zwar sind die 80 81 82

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Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 31. Vgl. Kapitel 01, S. 40f. Vgl. Krämer, Sybille: Zentralperspektive, Kalkül, Virtuelle Realität. Sieben Thesen über die Weltbildimplikation symbolischer Formen, in: Vattimo, Gianni / Welsch, Wolfgang (Hg.): Medien – Welten – Wirklichkeiten, München 1998, S. 27-37, S. 34. Kranz / Thiel: „Zahl, Zählen“, S. 1129f. Butler: Numerological thought, S. 1. Galilei, Galileo: Il Saggiatore, zitiert nach: Fölsing, Albrecht: Galileo Galilei – Prozess ohne Ende. Eine Biographie, München 1983, S. 14. Zuse, Konrad: Der Computer – mein Lebenswerk, Berlin / Heidelberg / New York (NY) 1984, S. 93.

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Zahlen, so ganz eindeutig Richard Dedekind, nur und nichts anderes als „eine freie Schöpfung des menschlichen Geistes“87, aber „the pretence that numbers are not the humble creation of man“, so wiederum Greenaway, „but are the exacting language of the Universe and therefore possess the secret of all things, is comforting, terrifying and mesmeric.“88 In der Tat haben Zahlen ja gegenüber Dingen (und zumal auch Sternen) einen entscheidenden Vorteil: „Sie sind so leicht handhabbar, sie lassen sich kombinieren und zerlegen ohne jede Manipulation der Realität, dass eine fast unwiderstehliche Tendenz aufkommt, sie mit besonderen Bedeutungen zu beschweren, also mit mystischem Zusatzsinn anzureichern.“89 Im Unterschied aber zur reinen Zahlenmystik, die sich lediglich mit den mystischen Eigenschaften der Zahlen befasst (welche neben der Mystik dann allerdings auch keinerlei weitere Anwendungen besitzen), ist nach Underwood Dudley die Numerologie dann als die Verwendung von Zahlen zu definieren, um Informationen über nicht-numerische Realitäten zu erhalten: als Glaube daran, „dass die Zahlen Dinge geschehen lassen“, ja „die Natur der Welt diktieren“, und „dass Muster nicht durch Zufall entstehen können“90. Wenn dergestalt also jeder Zahl eine als „wesenhafte“ nicht-beliebige Eigenschaft zugeordnet wird – der 1 etwa die Ursprünglichkeit, der 2 der Widerstreit, der 3 die Liebe usw.91 –, so verleiht die numerologische Interpretation der Welt dann umgekehrt die Freiheit, in praktisch jeden Kontext praktisch unbegrenzte Zusatzbedeutungen einzuführen und so etwa in der Anzahl der elf Spieler einer Fußballmannschaft zusammen mit der Einrichtung des Elfmeters einen „Hinweis auf die menschliche Unvollkommenheit“ zu sehen92 – mit dann möglicherweise mehr oder weniger gleichem Recht, wie man andererseits auch in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT einen allegorischen Kommentar des englischen Ligafußballs sehen kann93. Gerade hierdurch 87 88 89 90 91

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Dedekind, Richard: Was sind und was sollen die Zahlen?, Braunschweig 1969, S. 17. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 23. Luhmann: Intersubjektivität oder Kommunikation, S. 175. Dudley: Die Macht der Zahl, S. 8f., 25, 105. Endres, Franz Carl / Schimmel, Annemarie: Das Mysterium der Zahl. Zahlensymbolik im Kulturvergleich, München 1997. Natürlich wirft dies dann die schon in Endres’ und Schimmels Titel implizierte Frage auf, wie wesensgemäß und nicht-beliebig diese Zuordnung dann selber ist, und so weist Dudley als eigentliches Hauptproblem etwa der Gematrie auch aus, einen vernünftigen Grund dafür zu finden, in der gematrischen Dechiffrierung ausgerechnet den gerade benutzten und keinen anderen Schlüssel zu verwenden (Die Macht der Zahl, S. 55). Endres / Schimmel: Das Mysterium der Zahl, S. 207f. Vgl. Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 217. Dass der numerologische Überfluss möglicher Referenzen nur von der reinen Bedeutungslosigkeit der Zahlen zur reinen Beliebigkeit ihrer Assoziationen hinführt, stellt in aller gebotenen Kürze auch der allzu abgehobener intellektueller Spielereien sicherlich unverdächtige Gangsta-Rapper Bushido klar: „Auf die Frage, warum er [sein] Album ,7‘ genannt hat, bekommt man nur ein müdes Gähnen als Antwort. Es ist sein siebtes Solo-Album, Bushido hat sieben Buchstaben, es gibt sieben Todsünden, die sieben Tugenden des Bushido, sieben Weltmeere und sieben Brücken, über die man gehen kann. ,Sucht euch einfach was aus.‘“ (zitiert nach: http://www.sonybmg.de/ artists2.php?iA=4&artist=374368 (29.03.2009))

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aber, d.h. durch die Möglichkeit zur Korrelation ansonsten auch vollkommen beziehungsloser Gegenstände94, erscheint die Numerologie auch als ein wie maßgeschneidertes Vehikel für Greenaways spezifische Vorlieben des „symbolic meaning“ und „irresponsible list-making“: „A great use of numerology was for categorization. [...] Lists of things were made that fell under a certain number, and thenceforth that number could connote the things in the list. [...] The numbers involved had to correspond in some intelligible symbolic way to the entities they grouped; and furthermore, since numbers were part of God’s plan, they could show, correctly interpreted, why things were as they were.“95

Mit dem „Prägnanzerlebnis“ der Erkennbarkeit bestimmter numerischer Konfigurationen entsteht so ein numerologisches „Nichtzufälligkeitsbewusstsein“, das eine festgestellte Ordnung auf eine postulierte Gesetzmäßigkeit zurückführt und diese dann auf eine supponierte Absicht96, die sich wiederum mit gleicher Geste sowohl einem Deus artifex als auch einem artista divino zuschreiben lässt97. Entsprechend schreibt dann etwa Jean Petrolle (in deren Interpretation gerade „the filmmaker’s announcement of intention“ durch einen „postmodernen“ Bezugshintergrund zwar theoretisch eher abgewertet wird, praktisch aber nur schwer verzichtbare Argumentationsgrundlage darstellt), in einiger Mystifikation und die Grenzen von Mathematik und Numerologie schon fast wie vorsätzlich verwischend, über die numerischen Korrelationen in A ZED AND TWO NOUGHTS: „That the Greek alphabet should have as many letters as there are bona fide Vermeers exemplifies the strange coincidences latent in number systems. The film’s playfulness with numbers evokes the remarkable curiosities apparent to anyone who studies numbers closely; mathematics is devoted to revealing those uncanny patterns“98, 94

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Welche genau auch den Grund für Greenaways Interesse an alphabetischen Serien darstellt: „The alphabetical index is an extremely primitive way of organising information, and, in some ways, it’s totally absurdist. Wherever else in any epistemological collection can you put happiness, hysterectomy, His Holiness, Heaven and Hell, all completely disparate ideas, but all simply united by their initial?“ (Introduction / Early Films 1.) Genauso gut aber lassen sich etwa die Voyager-Sonde und die Cheops-Pyramide auch dadurch miteinander verbinden, dass man sie hinsichtlich ihres Volumens miteinander vergleicht – oder auch dadurch, dass man sie ganz einfach im selben Satz auf derselben Buchseite erwähnt (womit erneut die Suche das Gesuchte selbst erzeugte). Vgl. Greenaway: Introduction, in: ders.: Hundred Objects to Represent the World, o.S. Butler: Numerological thought, S. 11f. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 379; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 417f. Vgl. Kris / Kurz: Die Legende vom Künstler, S. 64ff.; Zöllner: Vasari, Condivi und Michelangelos Sixtinische Decke, S. 122f. Petrolle: Z is for Zebra, Zoo, Zed, and Zygote, S. 167. In der Tat ist etwa für Keith Devlin (Muster der Mathematik. Ordnungsgesetze des Geistes und der Natur, Heidelberg / Berlin 1997) die Mathematik geradezu the science of patterns – so der Originaltitel seines Buches: „Mathematik ist die Wissenschaft von den Mustern. Der Mathematiker untersucht abstrakte ,Muster‘ – Zahlenmuster, Formenmuster,

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und Greenaway selber fragt angesichts der dreifachen Cissie Colpitts (für deren fiktionale Existenz er ja immerhin doch selbst verantwortlich zeichnet – tatsächlich sind die drei Cissies in DROWNING BY NUMBERS eine Art „Reinkarnation“ von Cissie Colpitts a.k.a. Propine Fallax (#29) aus THE FALLS, die, „despite attempts to amalgamate them into one person“, schon damals in dreifacher Ausfertigung existierte): „The magic of the women – why do they come in threes? To mock the patriarchal theological trinity? Three sirens, three graces, three muses and three witches in Macbeth?“ Vielleicht etwa deshalb, weil die 3 eine „weibliche“ Zahl ist?99 Gegen solcherart verborgene Strukturen, heimliche Absichten, magischen Einfluss oder gar mystische Wesenheiten implizierende Suggestivfragen bringt Dudley die denkbar einfachere Begründung von Richard K. Guys „Gesetz der kleinen Zahlen“ in Anschlag: „Es gibt nicht genug kleine Zahlen, um alle Anforderungen zu erfüllen, die an sie gestellt werden“ – was auf die Numerologie angewendet schlicht besagt, dass zufällige numerische Übereinstimmungen ganz einfach überall auftreten können und alle Fragen nach Ursachen oder Motiven hierfür nicht beantwortbar und überhaupt auch gänzlich sinnlos sind100. So gibt Dudley ein Beispiel der Aufzählung vollkommen beliebiger Tripel: drei Glaubensbekenntnisse, drei Schiffe des Columbus, drei Schicksals- und Rachgöttinnen, drei Musketiere, drei Marx Brothers usw. usf., um schließlich mit der Aussicht abzubrechen:

99

100

Bewegungsmuster, Verhaltensmuster usw. Solche Muster sind entweder wirkliche oder vorgestellte, sichtbare oder gedachte, statische oder dynamische, qualitative oder quantitative, auf Nutzen ausgerichtete oder bloß spielerischem Interesse entspringende. Sie können aus unserer Umgebung an uns herantreten oder aus den Tiefen des Raumes und der Zeit oder aus unserem eigenen Inneren.“ (S. 3f.) Zugleich aber weist Devlin darauf hin, dass einerseits nach erfolgter Erkennung, Abstraktion und Axiomatisierung dieser Muster auch keinerlei Notwendigkeit mehr besteht, etwas über die Phänomene zu wissen, die zu dieser Formalisierung den Anlass gegeben haben (S. 63f.), und dass andererseits diese Muster sich überhaupt überall finden lassen, wo man nur nach ihnen sucht (S. 238) – so dass also berechtigte Zweifel angebracht sind, ob das „Prägnanzerlebnis“ der Mustererkennung schon Realitätsbezug garantieren und diese Muster so tatsächlich „von der Wirklichkeit geliefert“ werden könnten (vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 379; Baecker, Dirk: Wie steht es mit dem Willen Allahs?, in: ders.: Wozu Systeme?, S. 126-169, S. 161). Quaerendo invenietis! Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 59, 93 – damit allerdings der orthodoxen pythagoreischen Auffassung gerade widersprechend, nach der umgekehrt, mit Ausnahme der 1, ungerade Zahlen „männlich“ und gerade Zahlen „weiblich“ sind. Gerade das aber ist dann auch das Grundproblem eines jeglichen „okkulten Symbolismus“: im Angesicht der arbiträren, variablen, und in letzter Konsequenz dann: rein persönlich bestimmten Regeln etwa numerologischer Interpretation einen vernünftigen Grund dafür zu finden, weshalb nun gerade diese und keine andere Codifizierung zu verwenden sei (vgl. Vickers, Brian: Analogy vs. Identity: The Rejection of Occult Symbolism 1580-1680, in: ders. (Hg.): Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance, Cambridge / London / New York (NY) / New Rochelle / Melbourne / Sydney 1984, S. 95-163, S. 121; Dudley: Die Macht der Zahl, S. 55). Dudley: Die Macht der Zahl, S. 87, 91.

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System und Mythos „Es gibt noch unzählige andere Dinge, die in Dreiergruppen vorkommen. Was schließen wir daraus? Natürlich nichts. Diese Aufzählung besitzt überhaupt keine Bedeutung, also erst recht keine tiefere. [...] Es gibt so viele Dinge auf der Welt, daher ist es nicht überraschend, dass einige von ihnen in Dreiergruppen auftreten. Numerologen dagegen glauben, dass es tiefere Gründe dafür gibt, dass Dinge in Dreiergruppen vorkommen. Sie können nicht akzeptieren, dass einige Mengen aus drei Elementen bestehen, weil sie aus einer kleinen Anzahl von Elementen bestehen müssen. Die Musketiere könnten sehr gut zu viert sein, man muss nur d’Artagnan dazurechnen. Bevor Gummo und Zeppo ausstiegen, gab es fünf Marx Brothers. Es ist purer Zufall, dass sie zu dritt sind“101,

und so sind auch die von Petrolle und Greenaway beobachteten „remarkable curiosities“ eben nichts weiter als pure Zufälle – d.h. Ereignisse außerhalb einer systemischen Vorwegkoordination102, die lediglich im Nachhinein sich wie sinnvoll auch immer miteinander assoziieren lassen (wohingegen es gewiss kein Wunder darstellt, dass sämtliche einander äquivalenten Mengen dieselbe Anzahl an Elementen aufweisen, und erst recht kein mathematisches, was irgendwie mit bestimmten formalisierbaren arithmetischen Eigenschaften der Zahlen dieser Mengen zu tun hätte – aber rein gar nichts damit, was die Elemente dieser Menge zumal als nicht-mathematische Objekte jeweils „sind“ oder bedeuten103). Gerade die vollkommene semantische Unbestimmtheit der Zahlen als „reinen Abstraktionen“104, ihre „Befreiung von jedem anderem Inhalt“ als ihrer bloßen Unterscheid- und Relationierbarkeit105 aber ist es, die dann geradezu dazu einlädt, von ihnen als Bedeutungsträgern prinzipiell beliebigen Inhalts extensiv Gebrauch zu machen – die Zahlen sind, mit Lévi-Strauss, in diesem Sinne gewissermaßen „Symbole im Reinzustand“ eines „symbolischen Nullwertes“ (!), dessen Funktion es gerade ist, „sich der Abwesenheit von Sinn entgegenzusetzen, ohne selber irgendeinen bestimmten Sinn mitzubringen“, und der so dazu befähigt, „einen wie immer gearteten symbolischen Inhalt aufzunehmen, [...] der ein beliebiger Wert sein kann“106 –, weshalb auch Zahlen mitsamt ihrer nahezu unbegrenzten Verweis- und Assoziationsmöglichkeiten immer wieder eine wichtige kompositionelle Rolle in Greenaways Filmen spielen:

101 102 103 104 105 106

Ebd., S. 92. Luhmann: Geschichte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution, S. 184; ders.: Einführung in die Theorie der Gesellschaft, S. 189. Vgl. Devlin: Muster der Mathematik, S. 59ff. Ebd., S. 59. Dedekind: Was sind und was sollen die Zahlen?, S. 17. Lévi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, S. 40. Es ist dabei bezeichnend, dass Lévi-Strauss den „symbolischen Nullwert“ natürlich wiederum durch den symbolischen Wert der Null symbolisiert.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS •













In THE BELLY OF AN ARCHITECT ist es die 7 (naheliegenderweise vielleicht nach den Septem Montes Romae, vielleicht aber auch, wie Greenaway an anderer Stelle ausführt, in Anklang an die sieben Tage der Woche, die sieben Farben des Regenbogens, die sieben Weltmeere, die sieben Zwerge, die sieben Todsünden, Shakespeares seven ages of man oder die sieben Weltwunder107); in A ZED AND TWO NOUGHTS die 8 und die 26 (nach acht wenn auch weder von Darwin noch sonstiger Zoologie so als kategorisch ausgewiesenen Evolutionsstufen sowie der Anzahl der Buchstaben des Alphabets); in VERTICAL FEATURES REMAKE (aus bestimmten schriftbildlichen, aber auch metaphorologischen und zahlenmystischen Gesichtspunkten) die 11108; in INTERVALS, THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT, THE BABY OF MÂCON und in THE PILLOW BOOK die 13 (in Anlehnung an das (angebliche) Kompositionsprinzip von Antonio Vivaldis VIER JAHRESZEITEN109, als das duodekadische Maß überschreitende Unglückszahl sowie unter zweifelhafter Berufung auf fiktive biblische Erzählungen); in PROSPERO’S BOOKS die 24 (als „Zahl der Totalität“110 mit Referenz etwa auf die Anzahl der Buchstaben des griechischen Alphabets oder der Stunden des Tages oder auch die Projektionsfrequenz des Filmbildes); in A WALK THROUGH H, THE FALLS und THE TULSE LUPER SUITCASES die 92 (als Hommage an John Cages INDETERMINACY, was, wie die Legende es will, sich als zwar Zählfehler, dafür aber zufälligerweise auch als Ordnungszahl von Uran herausstellte111); und in DROWNING BY NUMBERS sind es die schon diskutierte 3 – drei Frauen, drei Ehemänner, drei Morde, drei Obduktionen, drei Beerdigungen, drei Zurückweisungen – und die 100: „Why one hundred? Well, it is a number of orthodox convenience.“112

107 108 109

110 111 112

Greenaway, Peter: Drowning by Numbers, London / Boston (MA) 1988, S. 109. Vgl. Kapitel 02, S. 88, 117. Greenaway: Some Organizing Principles, S. 161f., wobei das behauptete 13erPrinzip jedenfalls durch die von mir dazu gesichtete Literatur freilich nicht belegt werden konnte. Vgl. Braun, Werner: Antonio Vivaldi: Concerti grossi, op. 8, Nr. 1-4. Die Jahreszeiten, München 1975, und Zilkens, Udo: Antonio Vivaldi. Zwischen Naturalismus und Pop. Die vier Jahreszeiten im Spiegel ihrer Interpretationen durch Musiktheoretiker und Musiker, in Bearbeitungen und auf Plattencovern. Mit einer Diskographie von Roger-Claude Travers, Köln-Rodenkirchen 1996, die beide statt des 13er- vielmehr ein 12er-Prinzip angeben (4 x 3 Sätze), das allerdings auch ausdrücklich nicht als Verweis auf die zwölf Monate des Jahres zu verstehen sei, sondern sich vielmehr aus der von Vivaldi selbst entwickelten und so für die gesamte Barockzeit verbindlichen Form des Solokonzertes ergebe. Endres / Schimmel: Das Mysterium der Zahl, S. 250 Greenaway: Some Organizing Principles, S. 164f. Ebd., S. 173.

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System und Mythos

Nun ist eben diese letzte Selbstaussage Greenaways zwar nicht gerade eine Offenbarung genialer künstlerischer Intention (geschweige denn göttlichen Willens), beschreibt dafür aber das Zentesimalsystem mit der Kennzeichnung einer „orthodox convenience“ als genau das, was es auch ist – als Norm und Standard, als zwar verbindlicher, historisch aber kontingenter Code, für welchen Kittler zufolge mit der Einsicht in die Selbstreferentialität jedweder Zeichensysteme die Frage eben nicht mehr lautet, „wofür dieses oder jenes Zeichen steht und wer es zum Bedeuten gebracht hat (ob Götter oder Menschen, fragten sich die Philosophen von Platon bis Occam)“, sondern wie dieses System selbst beschaffen ist und funktioniert und was es leisten kann – und zwar als eines unter vielen anderen möglichen113. Dass dagegen der Film DROWNING BY NUMBERS kompositorisch auf den Zahlen 3 oder 100 basiert, besagt nun aber wirklich nichts für den Aufbau des Kosmos im Ganzen. Aber dies ist ja nach Luhmann auch Funktion der Kunst: eine Darstellung nicht dessen, wie die Welt ist; sondern wie sie, mit dem Kunstwerk als Rahmen für die Beobachtung ihrer Beobachtungsmöglichkeiten, auch anders oder stattdessen gesehen werden könnte114 – so dass man nicht nur sieht, was man eben sieht, sondern auch sehen kann, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann – und zwar erst recht nicht, wie gerade in DROWNING BY NUMBERS vorgeführt wird, alles zur selben Zeit.

Zählen und Erzählen „Between the cultural practices of telling and counting“, so Wolfgang Ernst, „one finds both an affinity and a disjunction“115: In DROWNING BY NUMBERS nimmt die Differenz von Zählen und Erzählen den gleichen Stellenwert ein wie in The DRAUGHTSMAN’S CONTRACT diejenige von Sehen und Wissen, und vermittelt also hier wie dort die Differenz erst den Zusammenhang116, so muss auch gerade, wenn es darum geht, die Aufzählung als Alternative zur Erzählung zu etablieren, diese als dasjenige, wogegen es jene ja abzusetzen gilt, auch irgendwie mitgeführt werden, weshalb in DROWNING BY NUMBERS als Versuch „to try and get away from cinema as narrative and to make cinema as sequence“117 die Erzählung auch nicht einfach gestrichen wird (wie z.B. noch in INTERVALS), sondern Zählung und Erzählung innerhalb desselben Films relationiert werden: „narrative and number count both propel the film along“118, wenn freilich auf sehr verschiedene Weise. Während etwa bei VERTICAL FEATURES REMAKE die vier ihrerseits nicht-narrativen Filmeim-Film in eine Rahmenerzählung eingebettet werden oder umgekehrt in 113

114 115 116 117 118

Vgl. Kittler, Friedrich: Buchstaben → Zahlen → Codes, in: Brüning, Jochen / Knobloch, Eberhard (Hg.): Die mathematischen Wurzeln der Kultur. Mathematische Innovationen und ihre kulturellen Folgen, München 2005, S. 65-76, S. 70. Vgl. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 621ff.; ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 238ff., 335, 494. Ernst, Wolfgang: Telling vs. Counting? A Media-Archaeological Point of View, in: Intermédialités 2(2003), S. 31-44, S. 31. Vgl. Luhmann: Systeme verstehen Systeme, S. 83. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 31. Ders.: Fear of Drowning by Numbers, S. 5.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

DEAR PHONE vierzehn mehr oder weniger abstruse Kurzerzählungen nicht abgeschlossen je für sich, sondern erst als Elemente einer übergreifenden Serie Signifikanz gewinnen, werden dagegen in DROWNING BY NUMBERS Zählung und Erzählung parallelgeschaltet; zwar wird ebenso über das Zählen geredet wie auch bestimmte Reden gezählt werden, bezeichnendes Merkmal des Films aber ist die Gleichzeitigkeit des Ablaufs der Erzählhandlung mit dem von den Geschehnissen unabhängig mitlaufenden time code des Films, wie er durch die von Anfang bis Ende irgendwo im Bild auftauchenden Zahlen von 1 bis 100 dargestellt wird – in diesem Sinne wird man für DROWNING BY NUMBERS von einem Paradefall von „doppelter Codierung“ sprechen können! Diese Parallelisierung bedeutet, trotz oder gerade wegen ihrer definitionsgemäßen Überschneidungsfreiheit, zugleich auch ein Konfligieren beider Ebenen, ganz einfach deshalb, weil der Zuschauer seine Aufmerksamkeit – ein bekanntlich „knappes Gut“, das nicht vermehrt, sondern nur verteilt, und damit nur geschwächt werden kann119 – nicht auf zwei gleichzeitig ablaufende Prozesse zugleich lenken kann: Folgt man der Handlung oder dem Zahlensuchspiel? Lässt man sich vielleicht vom Dialog ablenken, um die nächste Zahl zu finden, findet dann aber den Erzählanschluss nicht mehr, weil man inzwischen den Faden verloren hat? Ist man eher dazu bereit, einen eventuellen plot point oder die nur für Sekundenbruchteile sichtbare Nummer 19 zu verpassen, die im Bildhintergrund auf einen Kaninchenstall gemalt ist, an dem die Kamera im Eiltempo vorbeirast? (Das Skipping-Girl selbst ist ihrerseits so von ihrem Zählspiel absorbiert, dass sie weder Jake und Nancy Beachtung schenkt, die zu Beginn des Films lauthals an ihr vorüberwanken, noch auch dem Auto, von dem sie schließlich überfahren wird – die Differenz von Zählung und Erzählung korrespondiert so auch mit derjenigen von Spiel und Wirklichkeit, die damit zugleich auch ein re-entry erfährt, wenn innerhalb der fiktionalen Realität der Erzählung eine Figur den Sinn für die reale Realität verliert.) Die Unterscheidung von Zählung und Erzählung wird so in DROWNING BY NUMBERS zur Zwei-Seiten-Form, deren interne Grenze man überschreiten kann oder auch nicht, innerhalb der man auch zwischen ihren Seiten ständig oszillieren kann, deren Einheit sich aber nur um den Preis beobachten lässt, aus dieser Unterscheidung auszutreten – und damit weder dem einen noch dem anderen zu folgen. Tut man aber dies, so lässt sich zudem noch ein reentry der Unterscheidung von Zählung und Erzählung in sich selbst und damit eine Dekonstruktion dieser Unterscheidung feststellen120 – in dem sicherlich einleuchtenden Sinne, dass es keine Erzählung als Gegensatz zur Zählung geben kann, weil eben auch Erzählung immer Zählung – Unterscheidung, Ordnung, Reihung, Aufzählung121 – oder umgekehrt, so

119 120

121

Werber, Niels: Zweierlei Aufmerksamkeit in Medien, Kunst und Politik, in: Kunstforum 148(1999/2000), S. 139-151, S. 140. Zu einem „re-entry of narrative as calculation“ in medienarchäologischer Perspektive vgl. Ernst: Telling vs. Counting?, S. 42ff., zur dekonstruktivistischen „Inszenierung von re-entries“ vgl. Jahraus: Theorieschleife, S. 53ff. Vgl. Ernst: Telling vs. Counting?, S. 32ff.

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System und Mythos

Greenaway, der „Prototyp aller Aufzählung“, die Folge der Menge der natürlichen Zahlen122, zugleich der Prototyp aller Erzählung ist: „Counting is the most simple and primitive of narratives – 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 – a tale with a beginning, a middle and an end and a sense of progression – arriving at a finish of two digits – a goal attained, a denouement reached.“123

Und in der Tat: auch Eberhard Laemmert zufolge besteht das basale „Grundelement allen Erzählens“ zunächst einmal in der „einfache[n] Abfolge der Begebenheiten“, d.h. in der Geschichte oder story einer Erzählung – wobei Laemmert allerdings auch klar macht, dass diese Abfolge, will sie denn als Grundlage einer Erzählung dienen, gerade nicht einfach bloße Aufzählung oder beliebige Kompilation sein kann, sondern unter ihren Elementen schon eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit, einen „Stoffzusammenhang“ enthalten muss, der daraufhin mit einem „Sinnzusammenhang“ kann überformt werden, so dass sich die Fabel bzw. der plot der Erzählung ergibt – die „unter ein Ordnungsprinzip gestellte Erzählfolge“124. Um also narrative Bedeutung zu erhalten, bedarf eine Folge von Ereignissen, in der Begrifflichkeit von Hayden White, immer erst noch eines emplotments, einer Kennzeichnung als Elemente einer bestimmten narrativen Struktur – und sei dies in der Minimalform einer „ironischen Chronik“, d.h. in einer „bewusste[n] Interpretation der Ereignisse als solche, die keine andere Bedeutung haben als ihre Serialität“125, d.h. ihre bloße Reihenform selbst – und damit aber eben ihre Zahlhaftigkeit126. Die Frage, ob die Folge der Zahlen von 1 bis 10 tatsächlich mit Berechtigung als Minimalnarrativ gesehen werden kann – ob sie also etwa auch die „epische Grundkraft des Fortschreitens von Begebenheiten“ innerhalb einer „von einer Strebekraft durchwirkte[n] Handlung“ aufweisen kann, die Laemmert zur conditio sine qua non jedweden Erzählwerks macht127 –, ist also mithin eine Frage der Interpretation, d.h. ob etwa „1“ (kausalisierend) als „Anfang“ und „10“ (finalisierend) als „Ende“, „Ziel“ oder „Auflösung“ interpretiert wird, oder nicht – selbst formale Beschreibungen, als deren Merkmal Sybille Krämer 122 123 124 125

126

127

Brüning, Jochen: Wissenschaft und Sammlung, in: Bredekamp, Horst / Krämer, Sybille (Hg.): Bild – Schrift – Zahl, München 2003, S. 87-113, S. 99. Ders.: Fear of Drowning by Numbers, S. 23. Laemmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1993, S. 25f. White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, S. 127, 143ff. Chroniken, so White an anderer Stelle, „haben strenggenommen ein offenes Ende und sind grundsätzlich ohne Eröffnungsphase; sie ,beginnen‘, sobald der Berichtende anfängt, Ereignisse festzuhalten. Sie kennen weder Höhepunkte noch Auflösungen und sind endlos fortsetzbar“; gerade darin aber – für jede Erzählung ließe sich ja fragen, was vor ihrem Anfang und nach ihrem Ende noch passierte, was zugleich die Bedeutung der erzählten Ereignisse verschöbe – erweise sich dann „die Erzählstruktur des Epos [...] als die implizite Form der Chronik selbst“. (White: Metahistory, S. 20f.) Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Birgit Recki. Band 6, Hamburg 2000, S. 40. Laemmert: Bauformen des Erzählens, S. 21.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

gerade angibt, dass sie keine Geschichten erzählen können, müssen ja als „interpretationsfrei“ auch erst einmal interpretiert werden128. Soll aber eine Folge von Ereignissen den fundamentalen Anforderungen einer narrativen Bedeutsamkeit entsprechen können, so genügt im Grunde in der Tat schon das Vorhandensein einerseits einer Menge von Einzelereignissen einer Geschichte und andererseits ihrer „Emplotmentierbarkeit“ in eine Fabel, also „the chain of events in a story and the principle which knits it together“129 – und sei dies nur die Bildungsvorschrift der Nachfolgerfunktion v(n) := n+1, wie auch nach Vilém Flusser das grundlegende (und auch das einzige!) konzeptuelle Prinzip der Erzählung nur in demjenigen eines „und dann“ besteht, also gerade demjenigen der „Kalkulation“130.

Kalkulation und Temporalisierung In der grundsätzlichen Anweisung dieser Kalkulation: „Reiße Symbole aus ihrem Kontext im Bild heraus und ordne sie in willkürlicher Reihenfolge in eine von links nach rechts laufende Zeile so, dass eins vom andern klar getrennt bleibt!“,

bestimmt Flusser Erzählungen als Prozesse, die räumlich-bildliche Sachlagen („Szenen“) „ausrechnen“, indem sie deren Elemente isolieren („rationalisieren“) und dann in linearer Reihenfolge ordnen („kalkulieren“) – „sie folgen eins dem anderen wie Perlen auf einer Schnur“, oder eben calculi in einem Abakus –, also, in einem „Sprung in die Zeile“, „imaginative“ in „kalkulatorische“ und damit räumliche in zeitliche Verhältnisse überführen, prozessualisieren, temporalisieren131 (so wie nach Laemmert überhaupt auch das „Gerüst“ eines jeden Erzählwerks ein Geschehen in der Zeit sein muss und der Schriftsteller „seine Ideen und Meinungen, seine Raum- und Charaktervorstellungen in zeitliche Vorgänge, in Geschehen umzusetzen oder doch einzubetten [hat], wenn er sie erzählbar machen will“132 – wie Greenaway dann umgekehrt auch geltend macht, dass schlichtweg alles zeitliche Geschehen narrative Form habe133) – so dass, so Flusser, erst die derart „kalkulierende“ Erzählung in ihrer alphabetischen Schriftform die Konzeption eines „historischen Bewusstseins“ als derjenigen einer „linearen Zeit der Geschichte“ überhaupt auch möglich macht: Geschichte, so Flusser, ist „eine Funktion des Schreibens und des sich im Schreiben ausdrückenden

128 129 130 131 132 133

Vgl. Krämer, Sybille: Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriss, Darmstadt 1988, S. 1. Muir, Edwin: The Structure of the Novel, London 1949, S. 16, zitiert nach: Laemmert: Bauformen des Erzählens, S. 25. Flusser: Kommunikologie, S. 126. Ebd., S. 88, 124ff. Laemmert: Bauformen des Erzählens, S. 21. „Anything that moves through time could be said to have a narrative.“ (Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S.)

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System und Mythos

Bewusstseins“; „Texte machen Geschichte, indem sie ihre eigene lineare Struktur in den Umstand hineinprojizieren.“134 Die Kalkulation von Szenen zu Prozessen

Quelle: Flusser: Kommunikologie, S. 124, 126.

Das bedeutet umgekehrt zugleich natürlich auch, dass – im Unterschied etwa zu einem Gemälde, das als „synchronisierte Botschaft“135 in fixierter Form nicht nur durch eine „Simultanpräsenz“ all seiner bedeutungstragenden Elemente gekennzeichnet ist136, sondern diese alle auch gleichzeitig zur Verfügung stellt –, die „Textform“ an eine bestimmte Reihenfolge ihrer Rezeption, an das Vorher/Nachher des linearen Prozesses des Lesens von links nach rechts und Zeile für Zeile Seite für Seite gebunden ist137 (wie sich, nach Luhmann, Kunstwerke überhaupt auch danach unterscheiden lassen, „ob die Reihenfolge des stimulierten Erlebens beliebig ist oder nicht“138). Bilder erfordern vom Rezipienten ein „Diachronisieren von Synchronie“ (eine Analyse des Bildinhaltes und der Relationen zwischen seinen Elementen in beliebiger, umkehrbarer und z.B. auch gegenläufiger Reihenfolge), Texte ein „Synchronisieren von Diachronie“ (eine Synthese aufeinanderfolgender Buchstaben zu Wörtern und aufeinanderfolgender Wörter zu Sätzen)139, und kann ein Bild mitsamt seiner Gestalt wie immer grob im Ganzen überblickt werden, lässt sich „das organisierende Prinzip des Textganzen“, aus dem heraus sich „die Spezifik der Textgestalt und deren Sinnpotential“ erst konstituiert, prinzipiell nur „Zug um Zug“ erschließen140. Ist aber gegenüber einem Gemälde bei einem Text zunächst nur die Reihenfolge erlebbarer Stimuli vorgegeben (die immerhin partiell missachtet werden kann – man kann z.B. die Kapitel eines Buches in anderer als chronologischer Reihenfolge lesen, kann Seiten überspringen oder bereits Gelesenes 134

135 136 137 138 139 140

Flusser: Die Schrift, S. 12; ders.: Kommunikologie, S. 64. Vgl. ders.: Alphanumerische Gesellschaft, in: ders.: Medienkultur, S. 41-60, S. 44; ders.: Filmerzeugung und Filmverbrauch, S. 92ff. Ders.: Kommunikologie, S. 118. Sill: Literatur als Beobachtung zweiter Ordnung, S. 69. Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 54. Luhmann: Ist Kunst codierbar?, S. 162. Flusser: Kommunikologie, S. 118f. Sill: Literatur als Beobachtung zweiter Ordnung, S. 80.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

noch einmal lesen), so wird diese noch bei einem Film nach Maßgabe strikter Irreversibilität verfestigt (man kann bei der Vorführung eines Films im Kino nicht vor- oder zurückblättern oder pausieren – was erst mit dem Video- und dann dem DVD-Player eine Entsprechung findet) und zudem auch noch die Dauer des Erlebens vorbestimmt (der Film ist selbst schon temporalisiert und läuft gleichzeitig mit den Beobachtungsoperationen seiner Betrachter ab, und man kann, anders als bei der Lektüre eines Textes, nicht „langsamer“ oder „schneller“ zuschauen – was erst durch die slow motion und fast forwardFunktionen von Video- oder DVD-Playern ausgeglichen wird). Diese „Realzeitabhängigkeit“141 bestimmt Greenaway als die spezifische time frame situation des Films – und gibt diese auch zugleich als einen seiner größten Makel an: „Cinema (up until now) can only offer one phenomenon at a time for the imagination of a listener-viewer, and can only offer it in a time-frame that is entirely dominated by the film-maker. This to me is a severe limitation when compared to the myriad possibilities otherwise on offer at a single time – certainly for the imagination of a reader of literature. The viewer and the reader always have control of the amount of time they want to spend looking at a painting or reading a book – looking at the MONA LISA or reading WAR AND PEACE. This could not be said about our ability to comprehend CITIZEN KANE.“142

Zusätzlich also zum Problem der Ungleichzeitigkeit besteht für den Film auch das besondere Problem der Dauer – man sieht im Film nur, was man sieht, solange man es sieht, bis es verschwunden ist und auch nicht wiederkommt (wie diese Fluktuation ja in DROWNING BY NUMBERS besonders auch im Suchspiel des number count erfahrbar wird) – was es gegenüber einem Text auch schwerer macht, über Zeitdistanzen hinweg Strukturkorrespondenzen zu erfassen, die den Film in seinem zeitlichen Verlauf bestimmen, wenn man das Betrachtete eben nicht stillstellen, zurückgehen und sich vergewissern kann, sondern nur versuchen, sich richtig zu erinnern143. Die Anweisung aus VERTICAL FEATURES REMAKE etwa, einen Film aus elf Sequenzen von je elf Einstellungen zusammenzustellen, deren jeweilige Länge gemessen in der Anzahl ihrer frames der Folge der Vielfachen von 11 bis zum Quadrat von 11 = 112 = 121 entsprechen soll, zeugt zwar von sicherlich von der Akkuratesse der Komposition, hat für die praktische Umsetzung und den zuschauerseitigen Nachvollzug aber einen entscheidenden Nachteil: „elegant mathematical schemes are not visible to the viewer“144 (der mit der Aufgabe, instantan Sequenzen zu identifizieren, zu gruppieren und zu relationieren oder gar einzelne frames zu zählen nach menschlichem Ermessen ganz einfach überfordert ist) – es sei denn, man fügt sie, wie dann in VERTICAL FEATURES REMAKE auch geschehen, diagrammatisch in die Bildebene mit ein (welche sie ja definieren sollen).

141 142 143 144

Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 306. Greenaway: The Stairs 1, S. 3. Vgl. Sill: Literatur als Beobachtung zweiter Ordnung, S. 75f.; Luhmann: Soziale Systeme, S. 76. Greenaway: Some Organizing Principles, S. 162.

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System und Mythos

VERTICAL FEATURES REMAKE – Das 11er Schema

Folgt nun in gleicher Weise – wie in DROWNING BY NUMBERS – eine Erzählung einem bestimmten strukturellen Aufbau, so ist diese Struktur auch greifbar nur durch die Ereignisse, in denen sie sich artikuliert, und die sich aber eben sukzessive nur erzählen lassen – im Unterschied zur nur beschreibbaren Struktur145, die erst in Greenaways filmischem Selbstkommentar von FEAR OF DROWNING BY NUMBERS selbst wiederum verbildlicht wird, indem je drei motivisch identische, zeitlich aber auseinanderliegende Einstellungen im Infererierungs- oder split screenVerfahren synchronisiert und unter Veränderung der Größe und des Seitenverhältnisses des Bildformats in einem Bild zusammengezogen werden.

145

Vgl. Koselleck, Reinhart: Ereignis und Struktur, in: ders. / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.): Geschichte – Ereignis und Erzählung. Poetik und Hermeneutik V, München 1973, S. 560-571, S. 560, 565.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

DROWNING BY NUMBERS / FEAR OF DROWNING BY NUMBERS – Das 3er Schema

In diesen re-entries der Bildungsvorschrift in das Bild erfolgt die Sichtbarmachung des Unsichtbaren (der formalen Struktur der Filme) in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (der fluktuierenden Ereignisse der verschiedenen Einstellungen) und somit eine reflexive Unterscheidung von Struktur und Prozess. Strukturen sind dabei als negentropisch-selektive Einschränkungen zu verstehen: sie reduzieren „offene“ Komplexität, indem sie bestimmte Möglichkeiten der Relationierung bestimmter Elemente exkludieren; sie geben vor, was für eine Verknüpfung nicht in Frage kommt, ohne aber damit schon alle Unbestimmtheit eliminierend exakt und positiv auch festzulegen, was mit einem Element unter Ausschaltung aller anderen Möglichkeiten verknüpft werden muss – ansonsten wären sie im Angesicht einer alternativlosen Notwendigkeit ganz einfach unnötig146 (und so beschwert sich auch die Luper authority Fallast in VERTICAL FEATURES 146

Luhmann: Soziale Systeme, S. 74, 383ff.

275

System und Mythos

REMAKE, das erste remake des I.R.R. sei „not structured rigorously enough“, also zu wenig streng, also noch zu viele Möglichkeiten offenlassend – obwohl Lupers Anweisungen ja gerade diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen hatten!). Seligieren Strukturen die Verknüpfbarkeit bestimmter Elemente also nach der Unterscheidung konform / abweichend, so ist für Prozesse die Unterscheidung vorher / nachher ausschlaggebend: sie bestehen aus Sequenzen irreversibler Ereignisse, die zeitlich aufeinander aufbauen, so dass ein je aktuelles Ereignis einerseits durch die vorangegangenen bestimmt ist und andererseits ein Anschlussereignis in Erwartung stellt, das mehr oder weniger wahrscheinlich, aber eben nicht beliebig ausfallen kann, und sich vom vorangegangenen auch irgend unterscheiden und so Neues bieten muss147 (so wie in VERTICAL FEATURES REMAKE die remakes sich im Nacheinander voneinander abheben und so aufeinander Bezug nehmen, das zweite auf das erste antwortet und dann das dritte und das vierte nach sich zieht). Dabei ist durch diese Modellierung und Differenzierung der Begriffe auch schon angezeigt, dass beide sinnvoll nur im wechselseitigen Bezug verwendet werden können: Strukturen sind nur sinnvoll, wenn sie über Zeitdistanzen wiederholt verwendet werden, Vergangenes erinnerbar und Zukünftiges erwartbar machen können (also nur innerhalb von Prozessen), und nur nötig, wenn nicht alle Elemente eines Systems zugleich verknüpft werden können, sondern nur prozessual im Nacheinander – wie umgekehrt auch ein Prozess zumindest immer temporal schon strukturiert ist. Beide, Struktur und Prozess, verweisen also auf ihr Miteinander in der Zeit, zu der sie unterschiedliche Zugänge anbieten: „Die Differenz von Struktur und Prozess dient [...] der Rekonstruktion der [...] Differenz von Reversibilität und Irreversibilität in einer irreversibel angesetzten Zeit. Strukturen halten Zeit reversibel fest, denn sie halten ein begrenztes Repertoire von Wahlmöglichkeiten offen. Man kann sie aufheben oder ändern oder mit ihrer Hilfe Sicherheit für Änderungen in anderen Hinsichten gewinnen. Prozesse markieren dagegen die Irreversibilität der Zeit. [...] Sie können nicht rückwärts laufen“148,

so dass tatsächlich auch Strukturen das einzige sind, was überhaupt prozessual geändert werden kann – einmal eingetretene Ereignisse dagegen, aus denen ein Prozess besteht, können weder ungeschehen gemacht noch an ihrem sofortigen Vergehen gehindert werden, so dass auch prinzipiell an ihnen nichts zu ändern ist149 (wie auch in VERTICAL FEATURES REMAKE zwar für jedes neue remake in der Folge die Struktur geändert wird – nicht aber das je vorangegangene remake selbst, auf Grund dessen festgestellter Mangelhaftigkeit die strukturelle Änderung ja erst notwendig erschien!). Genau diese durch Strukturierung und Prozessualisierung von Ereignissen bewirkte Kombination von Unbestimmtheit und Bestimmtheit150, von Erwartbarkeit und Überraschung aber ist es dann, was durch Sequenzierung und emplotment auch eine Erzählung leistet:

147 148 149 150

Ebd., S. 73ff., 388. Ebd., S. 73f. Ebd., S. 472; ders.: Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, S. 276. Vgl. ders.: Soziale Systeme, S. 230.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS „Erzählen [...] fordert die Schaffung von Zusammenhang, so dass in der Erzählung eins aus dem anderen hervorgeht. Nur so können Erzählungen funktionieren oder gar spannend werden, denn nur so kann ein Zuhörer aus einem Ereignis auf das nächste schließen, das folgen könnte. Erzählen beruht auf dem Wecken und Steuern von Erwartungen. Eine überraschende Wendung etwa nimmt eine Erzählung nur dann, wenn die Erwartungen der Zuhörer in eine andere Richtung gelenkt wurden als diejenige, die der Fortgang der Handlung dann tatsächlich nimmt. Solch methodische Handhabung von Erwartung, Erfüllung und Enttäuschung ist die Struktur der Erzählung.“151

Eine Erzählung, ob spannend oder auch voraussehbar, besteht also in der aktuellen Strukturierung eines laufenden Prozesses; das Besondere an DROWNING BY NUMBERS aber ist nun das, dass nicht nur (wie in VERTICAL FEATURES REMAKE oder FEAR OF DROWNING BY NUMBERS expliziert) der Prozess der Erzählung seine eigene Struktur noch reflektiert, sondern auch dasjenige Unsichtbare sichtbar gemacht wird, das über seine eigene paradoxe Form der Gleichzeitigkeit von Gleichzeitigkeit und Ungleichzeitigkeit152 ein solches re-entry der Struktur in den Prozess erst möglich macht, nämlich, als „blinden Fleck“ der Erzählung, der daher erst in Absehung von ihr kenntlich wird, Zeit selbst – sofern diese nichts anderes „ist“ als ihr Maß, das wiederum auf der Wiederholung periodischer Ereignisse basiert153, und im Falle von 151 152

153

Engell, Lorenz: Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt am Main / New York (NY) / Paris 1992, S. 101. Luhmann, Niklas: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 92-125; ders.: Soziologie des Risikos, Berlin / New York (NY) 1991, S. 44f. Vgl. Feynman, Richard Phillips / Leighton, Robert B. / Sands, Matthew: Feynman Vorlesungen über Physik. Band 1: Mechanik, Strahlung, Wärme. Definitive Edition, München / Wien 2007, S. 58: „Was ist Zeit? Es wäre schön, wenn wir eine gute Definition von Zeit finden könnten. Webster definiert ,eine Zeit‘ als ,eine Periode‘, und Letztere als ,eine Zeit‘, was nicht sehr nützlich zu sein scheint. [...] Vielleicht ist es genauso gut, wenn wir der Tatsache ins Auge sehen, dass Zeit eines der Dinge ist, welche wir wahrscheinlich nicht definieren können [...] Was wirklich zählt ist, ist ohnehin nicht, wie wir Zeit definieren, sondern wie wir sie messen. Eine Möglichkeit der Zeitmessung ist die Verwendung eines Vorganges, der sich auf reguläre Weise immer wiederholt – etwas, das periodisch ist. [...] Alles was wir sagen können ist, dass wir finden, dass eine Regularität von einer Art zusammenpasst mit einer Regularität von einer anderen Art. Wir können einfach sagen, dass wir unsere Definition der Zeit basieren auf der Wiederholung eines offensichtlich periodischen Ereignisses.“ Vgl. Spencer Brown: Selfreference, Distinctions and Time, S. 51f. „The first time is measured by an oscillation between states. The first state, or space, is measured by a distinction between states. [...] Even in the latest physics, a thing is no more than its measure. A space is how it is measured; similarly, time is how it is measured. The measure of time is change“ – wobei natürlich die Messsysteme der Zeit auch selber dem (historischen) Wandel unterworfen sind. Wie etwa am Ende von Greenaways DEATH IN THE SEINE festgestellt wird (das in seiner Auflistung von (natürlich vollkommen fiktiven) Todesfällen durch Ertrinken im Paris der Jahre 1795-1801 gewissermaßen die watery deaths von DROWNING BY NUMBERS mit der Registratur von THE FALLS kombiniert): „It is pertinent that the record of the deaths of

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System und Mythos

DROWNING BY NUMBERS: auf dem sukzessiven Auftauchen der Zahlen im number count, dessen Ereignisse zwar nur darin bestehen, dass sie eben eintreten (auf den Fortgang der Erzählhandlung haben sie dabei keinerlei Auswirkungen), wobei aber dieses Eintreten selber wiederum Ereignis ist, nämlich Ereignis der Beobachtung154. Unsere Vorstellung von Zeit, so Gerald James Whithrow, „hängt [...] eng damit zusammen, dass unsere Denkweise aus einer linearen Folge diskreter Aufmerksamkeitszustände besteht. Dies führt dazu, dass wir Zeit ganz natürlich mit Zählen asoziieren, welches die einfachste Form eines Rhythmus darstellt“ –

wobei aber schon für Aristoteles, so Whithrow weiter, Zeit nicht nur eine einfache Reihenfolge, sondern vielmehr eine „Reihenfolge im Hinblick auf ein Zählen“ darstellt – und „wenn niemand da ist, der das Zählen übernimmt, kann nichts gezählt werden“155. Zeit ist so das Konstrukt eines Beobachters, dessen basale temporale Unterscheidungsform diejenige von vorher und nachher darstellt, mit welcher in der Zeit Ereignisse identifiziert werden156, so dass Zeitmessung, wenn Zeit auf diese Weise immer von Ereignissen abgeleitet wird (und nicht umgekehrt!), nichts anderes ist als ein kontinuierliches Zählen von Zeiteinheiten157: „Die Zeitmessung punktualisiert (oder digitalisiert) jenes Zwischen, das im Vorher/Nachher-Schema die Gleichzeitigkeit zu vertreten hat. Sie bildet Reihen – nicht aus Vorhers und Nachhers, sondern aus den Zeitpunkten, die jeweils die Differenz von Vorher und Nachher markieren“158 –

so wie in DROWNING BY NUMBERS das Auftauchen der 50 signalisiert, dass schon 49 Zahlen vorangingen und noch weitere 50 folgen werden159.

154

155 156 157 158 159

these unfortunates fitted a new and bold way of measuring time – the calendar of the revolutionary era. But in the same year the mortuary notes ceased, so did the calendar. It could be said that these bodies that floated in the Seine did so in a time that no longer exists because it is no longer measured.“ Vgl. Engell, Lorenz: Die Langeweile und der Krieg. Fernsehen und das Ende der Spaßgesellschaft, in: Karschnia, Alexander / Kohns, Oliver / Kreuzer, Stefanie / Spies, Christian (Hg.): Zum Zeitvertreib. Strategien – Institutionen – Lektüren – Bilder, Bielefeld 2005, S. 19-32, S. 21f. Whitrow, Gerald James: Die Erfindung der Zeit, Hamburg 1991, S. 85. Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, S. 106; ders.: Die Behandlung von Irritationen, S. 83; ders.: Anfang und Ende, S. 17. Whitrow: Die Erfindung der Zeit, S. 34, 198. Luhmann: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, S. 104. Ein durch die serielle Limitierung zugleich auch Vorausschau ermöglichendes Verfahren, das in Greenaways Filmen so desöfteren verwendet wird. Vgl. etwa zu THE TULSE LUPER SUITCASES Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S.: „We have 92 characters, 92 suitcases, and also we're going to have 92 events. Of course it is a game playing in one particular way and I can see or imagine already the audiences saying ,My god, they've got to 46, we've got to go for another 46.‘ So I find it entertaining and fascinating you all, in order to allow you to keep all your enthusiasms alive until very end.“

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

Der Film DROWNING BY NUMBERS ist so nicht nur zeitlich situiert (er wurde z.B. 1988 produziert, hat eine Dauer von etwa 118 Minuten und lässt sich heute oder morgen und auch wiederholt anschauen) und operiert auch nicht nur zeitlich (er hat eine bestimmte frame rate oder Projektionsfrequenz, schließt von seinem Anfang bis an sein Ende Einstellung an Einstellung aneinander); er beobachtet auch Zeit (er präsentiert die erzählte Zeit der aufeinander folgenden Handlungen und Geschehnisse seiner Erzählung, sei es in chronologischer oder versetzter Reihenfolge, sei es in Vor- oder Rückgriffen, sei es kontinuierlich oder diskontinuierlich, aber auf jeden Fall im Nacheinander) und er beobachtet noch seine Beobachtung von Zeit: er misst die Zeit, er zählt und generiert und quantifiziert so seine „Eigenzeit“160. „The film counts“, so Greenaway: „When you reach 50 in the number count, you know you are half way through the narrative, when you are in the 90s, you know the story has not far to go and when you reach 100, narrative and number count arrive neatly at a photo-finish“161 –

womit übrigens auch ein von David Lodge festgestellter Unterschied zwischen erzählendem Kino in Filmform und erzählender Literatur in Buchform aufgehoben wird162. Dabei zählt der number count in DROWNING BY NUMBERS zwar natürlich nicht nach Seiten, aber auch nicht nach Sekunden, Minuten oder Stunden (die als Maßeinheiten auch natürlich ihrerseits nichts anderes als kontingente Konventionen sind163), sondern in der „Eigenzeit“ des Films, deren Einheiten sich aus einer Unterteilung seiner Gesamtlänge von Anfang bis Ende in 100 ungefähr gleich lange Segmente ergeben, bei einer Laufzeit von 118 Minuten also in Intervalle von durchschnittlich ca. 71 Sekunden164, so dass für DROWNING BY NUMBERS mit seiner Parallelisierung von Erzählhandlung und number count insonderheit 160 161 162

163 164

Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 255; ders.: Die Realität der Massenmedien, S. 26. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 25. Lodge, David: Changing Places. A Tale of Two Campuses, Harmondsworth 1978, S. 251: „That’s something the novelist can’t help giving away, isn’t it, that his book is shortly coming to an end? It may not be a happy ending, nowadays, but he can’t disguise the tell-tale compression of the pages. [...] I mean, mentally you brace yourself for the ending of a novel. As you’re reading, you’re aware of the fact that there’s only a page or two left in the book, and you get ready to close it. But with a film there’s no way of telling [...] which frame is going to be the last. The film is going along, just as life goes along, people are behaving, doing things, drinking, talking, and we’re watching them, and at any point the director chooses, without warning, without anything being resolved, or explained, or wound up, it can just ... end.“ Und DVD-Technologie mit der Möglichkeit zur Restlaufzeitanzeige gab es 1988 ja noch nicht. Whitrow: Die Erfindung der Zeit, S. 19. Ein reiner Durchschnittswert, natürlich, denn tatsächlich treten die Zahlen z.T. auch sehr gehäuft auf, mitunter in derselben Einstellung etwa drei oder vier, oder längere Zeit auch gar nicht. Gegenüber den exakten frame counts in VERTICAL FEATURES REMAKE ist der number count in DROWNING BY NUMBERS also weitaus weniger streng.

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System und Mythos

auch gilt, was Ernst über das Verhältnis von narrativisch bemessener erzählter und chronometrisch messbarer Erzählzeit sagt: „The conjunction between telling stories and counting time is more than just a word game: words like conter, contar, raccontare, erzählen, to tell are testimonies of a way of perceiving realities that oscillate between narrative and statistics.“165

Von besonderer Bedeutung bei dieser Oszillation ist allerdings vor allem gegenüber literarischer Erzählung die mediale Spezifität des Films. Gemein mit der Literatur haben Filme zwar eine grundlegende „Textualität“, d.h., mit Moritz Bassler und im Anschluss an Jan Assmann, die „Fähigkeit, sinntragende Konstellationen in Objektform zu speichern“, die Kommunikationsprozesse „ent-ereignet“ und erst in der Rezeption sich „re-ereignen“ lässt166: die Reihenfolge der Einzelbilder eines Filmstreifens ist ebenso unabänderlich festgelegt wie diejenige der Buchstaben eines gedruckten Textes, im Unterschied zu diesen aber ist es nun eben nicht der Filmstreifen, der zu betrachten ist – dieser ist als immerhin noch linearer „Textcode“ nur ein „Prätext“, der menschenseitig auch schon nicht mehr lesbar ist167 –, sondern erst die Projektion, in der der „Filmcode“ sich erfüllen kann. Über die Möglichkeiten der Literatur hinaus nämlich kann der Film – und das erst macht Flusser zufolge auch das Neue an ihm aus – „nicht nur Gewesenes oder möglich Gewesenes erzählen, sondern möglich Gewesenes jetzt ablaufen lassen [...] nicht nur Geschehenes (Mögliches und Wirkliches) erzählen, sondern (allerdings als Trompe l’œuil auf einer Höhlenwand) Geschehenes machen. [...] Daher erzählt der Film nicht Geschehen, sondern stellt Geschehen vor und macht es vorstellbar: er macht Geschichte.“168

In diesem besonderen Sinne, dass sie (im Unterschied etwa zu Literatur und Malerei) selber in physikalischer Zeit arbeiten (und so auch diese Zeit zu manipulieren imstande sind)169, temporalisieren Filme Komplexität170, d.h. sie leisten eine Anpassung der selektiven Ordnung der operativen Verknüpfung ihrer Elemente an die Irreversibilität der Zeit171. Zwar sind (einzelne) Filme (noch) keine Systeme – als Objekte mit dem Sonderstatus eines Kunstwerks sind sie allenfalls „Kompaktkommunikationen“, bzw. sind sie auch noch keine Kommunikation, sondern erwarten Kommunikation vielmehr172 –, wohl aber lassen sie sich als strukturierte Prozesse auffassen, 165 166 167 168 169 170 171 172

Ernst: Telling vs. Counting?, S. 33. Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst, S. 631; Bassler: Systeme kann man nicht lesen, S. 393, 396, 399. Vgl. Kittler: Optische Medien, S. 197. Flusser: Gesten, S. 156ff. Kittler: Optische Medien, S. 228f. Vgl. Engell: Bewegen beschreiben, S. 274. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 77f. Vgl. ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 62f.; Baecker: The Reality of Motion Pictures, S. 564. Man kann allerdings auch sagen: ein Kunstwerk erwartet Kommunikation nicht nur, es macht auch Kommunikation erwartbar, und in diesem Sinne eines „spezialisierten Angebots“ als „Kommunikationsofferte“

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

und zwar: als immer schon temporal strukturierte Prozesse, d.h. als irreversible Sequenzen nach Maßgabe eines bestimmten Möglichkeitsspielraums relationierter Ereignisse173, nämlich als solcher immer schon zeitlich artikulierter Einstellungen174. „A film“, so Greenaway, „is an artificial construction decided upon by the film-maker’s use of time“, was DROWNING BY NUMBERS auf ganz besondere Weise deutlich macht: „The numbers represent the ticking away of the frames, the seconds, the minutes, the allotted time for the narrative to take place“175, also die unausweichliche Begrenztheit und Irreversibilität der Zeit. Es geht in DROWNING BY NUMBERS daher auch nicht zuletzt um eine „tyranny of time over narrative“176 – wie Greenaway sie einerseits an John Cages INDETERMINACY bewundert, wo insgesamt 90 z.T. erheblich unterschiedlich umfangreiche Erzählungen in jeweils genau einer Minute entsprechend langsam oder schneller vorgetragen werden, wie sie genauso aber auch etwa die eineinhalb- bis zweistündige Normalform des Spielfilms vorgibt, die Greenaway als vermeintlichen „apogee of cinematic effort“177 wiederum in Frage stellt.

Gesellschafts-Spiele – homo ludens oder homo lusus? Es gibt eine soziale Praxis, so Dirk Baecker, „die auf ihre Weise dem zu entsprechen scheint, was Spencer Brown unter dem Titel des ,re-entry‘ untersucht: das Spiel. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen: Vermutlich ist das Spiel nicht nur eine soziale Praxis unter anderen, sondern die soziale Praxis schlechthin, die in allen anderen sozialen Praktiken vorausgesetzt werden können muss.“178

173 174 175 176 177

178

bestimmen Plumpe und Werber das künstlerische Werk auch nicht als konkretes individuelles Artefakt, sondern als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium (Plumpe / Werber: Literatur ist codierbar, S. 26, 34, 36). Zum Verhältnis von Struktur und Prozess siehe Luhmann: Soziale Systeme, S. 73ff., 383ff., 472. Engell / Fahle: Film-Philosophie, S. 224. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 25. Ders.: Some Organizing Principles, S. 164. Ders.: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 34. Vgl. zur seriellen Form der TULSE LUPER SUITCASES ebd., S. 29: „I want to make four 2-hour films – I want, in fact, to make one 8-hour film, but that's going to be suicide for me in the cinema, maybe even Spielberg would find it difficult to make an 8-hour film. So in pragmatic terms, I have got to break it up, so we’re going to end up making four 2-hour films.“ Baecker, Dirk: Das Spiel mit der Form, in: ders.: Probleme der Form, Frankfurt am Main 1993, S. 148-158, S. 152.

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System und Mythos

Das Spiel, so Baecker, gerade weil es als besondere soziale Praxis unter anderen und zugleich als Modell aller sozialen Praxis179 an sich selber alle Sozialität als konditionierte (Doppel-)Kontingenz vorführt, ist „das soziale Phänomen schlechthin“180, und genau um dieses Phänomen geht es dann DROWNING BY NUMBERS auch: „The film is about the games people play, and if not directly the games – then the characteristics of games and game-playing – the rituals, the role-playing and competitiveness, the acknowledgement of conventions and the display of orthodoxies [as] ways to conduct human relations by a system of rules and approaches which if not all coded definitively in an instruction-manual then at least acknowledged through convention and usage.“181

Es geht also, anhand ihres Modells im Spiel, um die Programme der Gesellschaft, also die Vorschriften „richtigen“, d.h. sozial abnehmbaren Verhaltens, die immer dort erforderlich werden, wo das Verhalten mehrerer Personen geregelt, erwartbar gemacht und aufeinander bezogen und abgestimmt werden muss182: „Human relationships are patterned and cross-patterned and restricted and de-limited and caged and freed again by the elaborate conventions, rules and games which we call Civilisation … the rules and the games are often absurd and farcial – sometimes they are tragic – yet we tacitly acknowledge that they are necessary.“183

Damit in ihm nicht alles, aber auch nicht nichts geschehen kann, ist jedes Spiel bestimmt durch seine Regeln, und die Teilnahme an ihm nur durch dasjenige möglich, was Salen und Zimmerman die lusory attitude des Spielers nennen, d.h. das Anerkennen regelbestimmter Einschränkungen eigener Verhaltensmöglichkeiten: „Play is free movement within a more rigid structure. Play emerges both because of and in opposition to more rigid structures“184, weshalb ein Verzicht auf solche „zwingenden“ Strukturen immer auch ein Verzicht auf dasjenige wäre, was davon zu unterscheiden ist (und ohne diese Unterscheidung nicht zu haben wäre): auf Freiheit nämlich185, deren beider Verhältnis sich innerhalb von DROWNING BY NUMBERS noch einmal im Verhältnis der unterschiedlichen „Systeme“ von number count und Erzählhandlung widerspiegelt:

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Ein re-entry, dessen Paradoxie nur in einer Unterscheidung des Selben zu invisibilisieren ist: Spiele, so Marshall McLuhan, „müssen sich von der Gesamtsituation als deren Modell abheben, damit der Spielcharakter gewahrt bleibt“ (McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 276). Baecker: Das Spiel mit der Form, S. 152. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 83. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 432f.; ders.: Ökologische Kommunikation, S. 104. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 7. Salen / Zimmerman: Rules of Play, S. 99, 311. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 498.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS „Narrative and number-count both propel the film along – the narrative obeying the free-will choices made by the characters … and the implacable number-count – the limits of free-choice. However freewill is exercised – there are severe limitations.“186

Als Medium, das innerhalb seines Bereichs die Bildung von bestimmten Formen möglich macht („jedes Spiel“, so Lévi-Strauss, „ist durch die Gesamtheit seiner Regeln bestimmt, die eine praktisch unbegrenzte Zahl von Partien ermöglichen“187), lässt sich das Spiel also durchaus als eine „Arena für die Betätigung individueller Freiheit“ betrachten – für die gleichwohl ein Eintrittspreis zu zahlen ist188: Die Teilnahme an einem Spiel, so Marshall McLuhan, macht den Spieler automatisch zum „Teil eines dynamischen Mechanismus in einer künstlich geschaffenen Situation“: „ein Spiel ist ein Automat, der erst funktionieren kann, wenn die Spieler sich bereit erklären, eine Zeitlang zu Marionetten zu werden“189, so dass das Spiel begriffen werden kann als eine Einheit der Differenz von game und play, von Notwendigkeit und Freiheit, oder besser: von Notwendigkeit und Kontingenz190. Die Gesellschaft in diesem Sinne mit der Metapher des Spiels zu beschreiben, ist dabei nun sicher weder neu noch ungewöhnlich, nach Flusser aber für die Gegenwart in besonderer Weise doch bezeichnend, insofern er ihr eine spezifische „Tendenz zur ,Ludizität‘“ bescheinigt, die das Spiel zum bevorzugten Erkenntnismodell und die Theorie des Spiels zur „universalen Metatheorie“ erhebe: „Wir haben die Tendenz, die uns umgebende Wirklichkeit als einen Kontext von Spielen zu sehen, etwa wie das achtzehnte Jahrhundert in ihr einen Kontext von Mechanismen sah und das neunzehnte Jahrhundert einen von Organismen. [...] Wir sehen die Gesellschaft nicht als einen Mechanismus und uns selbst darin als nicht als Rädchen, wir sehen sie auch nicht als einen Organismus und uns selbst darin als Organ, sondern wir sehen sie als ein programmiertes Spiel und uns selbst darin als Schachstein oder Marionette.“191

Wenn, mit Flusser, für den Menschen das Leben selbst als die „Teilnahme an symbolischen Spielen“ bestimmt werden kann (d.h. an Kommunikation)192, kann umgekehrt das Spiel auch als „Modell des In-der-Welt-Seins des Menschen“ überhaupt verstanden werden, der so als „Spieler“ zu begreifen ist, „welcher sich im Schnittpunkt zahlreicher verschieden gearteter Spiele befindet“ – so etwa Politik, Wirtschaft, Kunst oder das Recht193. War noch 186 187 188 189 190 191 192 193

Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 6f.; vgl. ebd., S. 25. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 45. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 384. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 273f. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 498. Flusser: Unser Spiel, S. 120f. Ebd., S. 125. Flusser: Kommunikologie, S. 331ff. Flussers Konzeption der Gesellschaft, so mag hieraus deutlich werden, ist damit, wenn auch weitaus weniger komplex und zugleich mit weitaus mehr „Unbestimmtheitsstellen“, so doch in weiten Teilen kompatibel zur soziologischen Systemtheorie Luhmannscher Prägung, wenngleich die jeweiligen Zentralbegriffe von „System“ und „Spiel“ gewiss nicht einfach

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System und Mythos

für Friedrich Schiller der Mensch angesichts der „Zerrüttung“ sowohl des Individuums als „Bruchstück“ seiner Gattung als auch der Gesellschaft als einer „Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser, Teile“ nur „in voller Bedeutung des Wortes“ Mensch dort, wo er spielt (und also die wie immer paradoxe „Freyheit“ hat, „zu seyn, was er seyn soll“, nämlich diese „Freyheit“ selbst als die verwirklichte „Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seyns“, also des „Subjektes“)194, so dass das Spiel, mit Georg Lukács, hier die Antwort auf die „Grundfrage der klassischen Philosophie“ darstellt, „wie der gesellschaftlich vernichtete, zerstückelte, zwischen Teilsystemen verteilte Mensch gedanklich wieder hergestellt werden soll“195 –, so ist es also gerade umgekehrt nun so, dass, gerade weil der Mensch sich unter den Teilsystemen der Gesellschaft weder komplett „einfügen“ noch auch partiell „verteilen“ lässt196, das Individuum sich sozial als Teilnehmer an vielen verschiedenen Spielen zur Geltung bringt, d.h. als mehr oder weniger komplexe Person, die in verschiedenen Kontexten verschiedene Rollen einnehmen kann, welche mehr oder weniger miteinander in Einklang zu bringen sind, einander ausschließen, widersprechen oder auch konfligieren können (so wie etwa Hardy als Teilnehmer von Hangman’s Cricket im selben Spiel sowohl als Dunce als auch als Businessman auftritt, Madgett als Leichenbeschauer von den drei Cissies benutzt, als Liebhaber aber von ihnen verschmäht wird, oder Smut, da er seine Partie Reverse Strip Jump nicht unterbrechen will, das währenddessen läutende Telefon ärgerlicherweise nicht beantworten kann – genau wie auch der Zuschauer von DROWNING BY NUMBERS, mit Flusser, im „Schnittpunkt“ der Spiele der Erzählung und des number count des Films steht und seine Teilnahme an diesen Spielen irgendwie koordinieren muss)197.

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196 197

gleichzusetzen sind (wenngleich, so Salen und Zimmerman, „all games can be understood as systems“ – „games are intrinsically systemic“ (Salen / Zimmerman: Rules of Play, S. 50)). Bestimmt Flusser etwa zwar das Spiel auch als „System“, das zum einen ein Repertoire von Elementen gemäß den Regeln einer bestimmten Struktur kombiniert und sich zum anderen dabei von einer Umwelt („Geräusch“) abgrenzt, so fasst er darunter neben dem, was auch in systemtheoretischer Begrifflichkeit als gesellschaftliches Interaktions-, Organisations- oder Funktionssystem beschreibbar ist, in eher semiotischer Stoßrichtung dann vor allem symbolische „Codes“ (der Sprache, der Schrift, des Bildes, des Films, der Mathematik, der Musik, der Architektur, der Mode etc.), deren Gesamtheit dann eine „Kultur“ ausmacht (Flusser: Kommunikologie, S. 330ff.). Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Stuttgart 2000, S. 21ff., 44, 62f., 84. Lukács, Georg: Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats, in: ders.: Werke. Band 2. Frühschriften 2: Geschichte und Klassenbewusstsein, Neuwied / Berlin 1968, S. 257-397, S. 319. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 744, 765, 1066. Ders.: Soziale Systeme, S. 286, 429ff.; ders.: Die Form „Person“, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 137-148, S. 142; ders.: Inklusion und Exklusion, in: ders.: Soziologische Aufklärung 6, S. 226-251, S. 229.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

Lässt sich DROWNING BY NUMBERS nun in diesem Sinne als Komplex aus insgesamt 10 Spielen198, die zwar voneinander unabhängig, zugleich aber miteinander auch gekoppelt sind199, formal durchaus einer in autonome, zugleich aber strukturell gekoppelte Teilsysteme differenzierten Gesellschaft vergleichen200, so wird innerhalb des Films im Spiel von Hangman’s Cricket in weiter komplexitätsreduzierter Form, oder, mit McLuhan: in ihrem „naturgetreuen Modell“ en miniature noch einmal Gesellschaft selbst gespielt201. „The object of Hangman’s Cricket ist for each competitor to retain his allotted nine lives by scoring runs with the ,Cat‘, or bat, defending his lower leg from being struck by the ball. There is no limit to the number of players as long as each has an identity agreed by the two referees. Each identity has its own characteristic which must be obeyed. The more important identities are the Emperor, the Widow, the Judge, the Hangman, the Ghost, the Red Queen, the Fat Lady, the Dunce, the Businessman, the Adulterer, the Harlot, the Gravedigger, the Maiden, the Twins, the Chinaman, the Savage, the Cook, the General, the Prisoner, the Beggarman, the Thief and the Priest. [...] The full flavour of the game of Hangman’s Cricket is best appreciated after the game has been played for several hours. By then every player has a fair understanding of the many rules and knows which character he wants to play permanently. Finally an outright loser is found and is obliged to present himself to the Hangman ... who is always merciless.“

Zunächst muss in Hangman’s Cricket jeder Spieler eine Spielfigur, eine bestimmte Identität wählen, als welche er sich durch das Anlegen einer bestimmten Maske identifizierbar macht; d.h. er muss eine persona annehmen, die ihm eine bestimmte Rolle zuweist, indem eine Verbindung der Maske mit ihrem Träger, der Rolle mit ihrem Inhaber und einer bestimmten Erscheinung mit einem bestimmten Handeln eingerichtet wird202. Ihre unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten bestimmen dann auch die Beziehungen der Spieler untereinander –

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200 201 202

Es handelt sich, vom metanarrativen Spiel des number count und dessen mise en abyme im Spiel des Skipping-Girl einmal abgesehen, im Einzelnen um die Spiele Dawn Card-Castles, Reverse Strip Jump, Sheep and Tides, The Great Death Game, Dead Man's Catch, Bees in the Trees, Hangman's Cricket, The Hare and Hounds, Tug of War und The Endgame, die aber auch nur einen Bruchteil der Hunderte von Spielen aus Madgett und Smuts encyclopedia of games darstellen; alleine Smut erfindet mindestens vier neue Spiele am Tag (Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 89). Während die Schnitzeljagd von The Hare and Hounds sich durch die gesamte zweite Hälfte des Film zieht und am Schluss zum Tug of War hinführt, markiert etwa Smuts Selbsttötung im Endgame zugleich auch einen Zähler im Great Death Game. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 776ff. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 270, 280. Vgl. Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004, S. 181f.

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System und Mythos „the Adulterer can only pair with the Harlot when each has an even number of lives above twelve, though the Dunce can cancel this, provided the Sailor is not batting“,

so ein exemplarischer Auszug aus den Regeln, wobei aber gerade auch die Ungleichheit der Rollen der Figuren eine Rolle spielt: „The runs of each player are governed by luck and by a player's own ability but, most importantly, are also circumscribed by the condition, favour and handicap of his place in society.“203

Nun ist natürlich Hangman’s Cricket in erster Linie eine mise en abyme von DROWNING BY NUMBERS selbst, in der die Spielfiguren den Figuren der Erzählung und die Spielregeln ihren Beziehungen untereinander entsprechen (wobei am Ende des Films es der Erfinder des Spiels selber ist, der als der outright loser ausgemacht wird und, wie die Regeln es ja vorsehen, stirbt)204, zugleich aber auch eine durchaus konvenable Veranschaulichung des Gesellschaftsspiels sozialer Interaktion und seiner Einbindung seiner Teilnehmer als Personen, wenn der Begriff der Person dabei eine „individuell attributierte Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten“ mit einer entsprechenden „Identifikation eines Komplexes von Erwartungen“ bezeichnet:

203 204

Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 101ff. Wie zugleich Madgett natürlich auch die Stellvertreterfigur Greenaways in DROWNING BY NUMBERS ist, dessen Spiele von „normalen“ Spielen, auf die sie sich bisweilen auch beziehen, ebenso abweichen wie Greenaways cinema game von dem des narrationsbasierten mainstream-Kino: „Cinema itself is a sort of ritualistic game. People often say that I’m playing a game of which they’re not part – I say, come and play the cinema game with me […] Let’s play it together and enjoy it on all different levels“ (zitiert nach: Barchfeld: Filming by Numbers, S. 153), wobei aber Offerten solcher Art, wie DROWNING BY NUMBERS ja auch zeigt, oftmals auf Ablehnung stoßen. Auf Bellamys Frage etwa, weshalb anstatt des undurchschaubar komplizierten Hangman’s Cricket nicht einfach „normales“, „richtiges“, „echtes“ Cricket („proper cricket“, „real cricket“) gespielt werden könne, antwortet Madgett, dieses hätte einfach „not enough imagination“, so dass, um das Spiel interessanter und damit eigentlich erst spielenswert zu machen, auch das komplizierte Reglement gerechtfertigt sei: „anything worth learning takes a little time.“ Da aber die Bereitschaft dazu, sich auf ein solches Spiel einzulassen, nun leider nicht einfach vorausgesetzt werden kann, so müssen potentielle Mitspieler mit der Aussicht auf einen Gewinn geködert werden wie die Mitglieder der Water Tower Conspiracy beim Tug of War („Come on, Madgett – you’ll never get them to play.“ – „If the stakes are high enough, they will“), und dieser Köder besteht dann in der Aussicht auf einen plausiblen Abschluss einer Erzählung („You win and you’ll get your explanation“) – der in Greenaways Filmen jedoch zumeist vorenthalten wird, so dass ein daraufhin gerichteter Zuschauer sich ebenso betrogen fühlen mag wie Madgett und die Water Tower Conspiracy selbst auch; er hat dann allerdings, um im Bilde zu bleiben, einfach aufs falsche Pferd gesetzt.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS „Das Personsein erfordert, dass man mit Hilfe seines psychischen Systems und seines Körpers Erwartungen an sich zieht und bindet [...]. Je mehr und je verschiedenartigere Erwartungen auf diese Weise individualisiert werden, um so komplexer ist die Person.“205

Die Form der Person bezeichnet in diesem Sinne einen Menschen, insoweit und nur insoweit er mitsamt seinen eventuellen psychischen und körperlichen Befindlichkeiten kommunikations-intern behandelt und für relevant gehalten wird206 (dass Hardy etwa nur unwillig an Hangman’s Cricket teilnimmt, spielt für den erfolgreichen Ablauf des Spiels solange keine Rolle, wie er sich dabei an die Regeln hält bzw. bis er aussteigt, wie es auch für das Spiel nur wichtig ist, dass er ein Knie hat, unterhalb dessen er vom Ball getroffen werden kann, nicht aber, dass er einen ausgesprochen kleinen Penis hat – was wiederum für seine Beziehung mit Cissie 2 von Wichtigkeit zu sein scheint207). Das Problem einer spielexternen, „wahren“ Identität der Spielteilnehmer hingegen, die von Flusser sogenannte „Zwiebelfrage“: „was bin ich unter allen Masken?“208, ist dagegen spielintern ganz schlichtweg unerheblich, da es dem Gesellschaftsspiel der Kommunikation (dem auch nur präsentierte, fiktive oder „gemogelte“ Identitäten auch vollauf genügen) weder auf ein „authentisches Selbst“ der Teilnehmer noch auch auf eine „Superidentität“ ankommt, die als übergeordnete Instanz des individuellen Rollenmanagements dann deren Selektion und Wechsel zu verwalten hätte, sondern vielmehr nur darauf, dass als „Gewähr für angepasste Verhaltenskontinuität“ eine verbindliche und konsistente Selbstdarstellung der Person geleistet wird209. Dass dies für die Betroffenen mitunter eine mehr als heikle Angelegenheit sein kann (vor allem dann, wenn über einen Rollenwechsel nicht mehr länger disponiert werden kann und, wenn man zu „sein“ hat, als was man in der Kommunikation erschienen war, die

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Luhmann: Soziale Systeme, S. 286, 429ff.; ders.: Die Form „Person“, S. 142. Ders.: Inklusion und Exklusion, S. 229. Die Störung eines Spiels dagegen durch die Nichtbeachtung seines Relevanzbereiches lässt sich sehr schön etwa an Loriots Skatrunde beobachten, wenn Herr Moosbach, auf dessen Teilnahme als „dritter Mann“ die Herren Striebel und Vogel gleichwohl angewiesen sind, sich nicht nur als vollkommen unfähiger Spieler erweist (der dazu mitten im Spiel das Spiel wechseln und anstelle von Skat „Schnippschnapp“ spielen will), sondern zudem auch noch als Patient, Erzieher, Moralist, Psychologe und am Schluss sogar als Zauberkünstler zur Geltung bringen will – womit er mit seinem fortlaufenden metagaming (Salen / Zimmerman: The Rules of Play, S. 489) nicht nur das Spiel stört und unterbricht, sondern zudem noch seine materielle Grundlage zerstört (und, wie über das Gezeigte zu vermuten, spielextern sich selber der Gefahr einer gehörigen Tracht Prügel aussetzt, für die sein spielrelevantes Verhalten nur noch Anlass ist). Flusser: Gesten, S. 168f. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 658; ders.: Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, S. 342; ders.: Soziale Systeme, S. 570; vgl. Fuchs, Peter: Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie, in: ders.: Konturen der Modernität. Systemtheoretische Essays II, Bielefeld 2005, S. 37-61, S. 52f.

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Beschränkungen des Spiels so Zwangscharakter annehmen)210, zeigen Greenaways Filme allerdings in aller Deutlichkeit, wenn etwa in THE TULSE LUPER SUITCASES Luper während seiner Gefangenschaft in Vaux von seinem Aufseher in die Rolle des Mannes in der eisernen Maske (!) gezwungen wird („You now have a prisoner to be kept in perpetual imprisonment – imprisonment everlasting!“) oder in THE BABY OF MÂCON die Darstellerin der Figur der Tochter in ihre eigene Rolle: „You wanted this role so badly, you ought to see it through!“ Zugleich aber zeigen diese Schwierigkeiten auch, dass, wie Personen nicht die Produzenten, sondern erst Produkte der Gesellschaft sind211 (insofern, mit Peter Fuchs, kein „Subjekt“, sondern die Kommunikation die über soziale Adressen „disponierende Instanz“ ist212), so auch die Spieler nicht Subjekte, sondern Medien des Spiels darstellen213, das dann, mit Gilles Deleuze, auch nicht mehr primär als besondere „Dimension der menschlichen Existenz“ erscheint, sondern vielmehr als „die Qualifikation von Orten oder Stellungen, die jene zu [...] Spielern machen, welche sie eingenommen haben, sie jedoch nur sekundär eingenommen haben, da sie ihre Rollen gemäß einer Ordnung [...] innehaben, welche die Struktur selbst ist. [...] Wenn es evident ist, dass konkrete Menschen die Plätze eingenommen haben und die Elemente einer Struktur ausführen, so tun sie das, indem sie die Rolle einhalten, die der strukturale Ort ihnen zuweist [...] und den strukturalen Verhältnissen als Träger dienen: [...] Das wahre Subjekt ist die Struktur selbst“214,

wie auch Hans Georg Gadamer die Yeats’sche Frage nach der Unterscheidung des Tänzers und des Tanzes215 mit der Bestimmung des Spiels als eines „medialen Vorgangs“ und der eindeutigen Feststellung des „Primat[s] des Spieles vor den es ausführenden Spielern“ beantwortet: „Das Subjekt des Spiels sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spieler lediglich zur Darstellung. [...] Es ist das Spiel, das gespielt wird oder sich abspielt – es ist kein Subjekt dabei festgehalten, das da spielt. [...] Die Seinsweise des Spiels ist also nicht von der Art, dass ein Subjekt da sein muss, das sich spielend verhält, so dass das Spiel gespielt wird. Vielmehr ist der ursprünglichste Sinn von Spielen der mediale Sinn. [...] Das eigentliche Subjekt des Spieles [...] ist nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst“216,

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Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 215; ders.: Vertrauen, S. 82. Nassehi: Die Zeit des Textes, S. 59. Fuchs: Adressabilität als Grundbegriff, S. 53. „Der Mensch - das Medium der Gesellschaft“, so entsprechend auch der Titel eines von Peter Fuchs und Andreas Göbel herausgegebenen Sammelbandes (Fuchs, Peter / Göbel, Andreas (Hg.): Der Mensch - das Medium der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1994). Deleuze, Gilles: Woran erkennt man den Strukturalismus?, Berlin 1992, S. 16, 26. Yeats, William Butler: Among School Children, in: ders.: Poems. Hg. von Alexander Norman Jeffares, Dublin 1989, S. 323-325, S. 325. Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 108ff.

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so dass der homo ludens also zugleich immer auch ein homo lusus ist: „Alles Spielen“, so Gadamer weiter, „ist ein Gespieltwerden. Der Reiz des Spieles, die Faszination, die es ausübt, besteht eben darin, dass das Spiel über den Spielenden Herr wird“217 – wie es allerdings in allen Filmen Greenaways mit meist fatalen Folgen so auch eintrifft. Es mag mit einer solchen Hervorhebung der strukturalen und medialen vor der anthropologischen Dimension des Spiels dann auch zusammenhängen, dass, einer geläufigen Kritik zufolge, Greenaways Figuren in gewissem Sinne Spielfiguren gleichen, dass sie also nur als manipulable Instanzen innerhalb eines bestimmten scheme fungieren (sei dies von Greenaway selber, sei es von anderen seiner Figuren inszeniert), nicht aber als identifikationsfähige Darstellungen „ganzer Menschen“ zählen (die wenigstens über ein gewisses Mindestmaß charakterlicher Komplexität verfügten). So adressieren etwa Jonathan Hacker und David Price ausdrücklich das von ihnen festgestellte „significant problem of inadequate characterization“, wonach die Figuren seiner Filme lediglich nur „awkward pawns within Greenaway’s intellectual game-playing“218 seien (man denke nur an Mr. Neville in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT, dessen Berufsbezeichnung im Englischen zugleich auch eine Figur im Dame-Spiel benennt219) – und auch Greenaway selber gibt bereitwillig zu, dass seine Figuren „eher Symbole oder Embleme als vollblütige, dreidimensionale Charaktere“ seien220, erklärt dies aber wiederum mit Hinweis auf seine Abneigung gegenüber dem „psychologischem Realismus“ eines motivationsfixierten „psychological story-telling mode“221 als einer ihre selbstproklamierte conditio humana einseitig und nur unergiebig darstellende „sort of pocketbook Freud“222. Die 92 Charaktere in THE TULSE LUPER SUITCASES etwa entsprechen 92 figurativen „Archetypen“ (der Vater, die Mutter, der Tyrann, der Rebell, der Detektiv, der Mörder, die Hure, die Heilige ...) aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (Familie, Politik, Kriminalistik, Wissenschaft, Religion ...), so dass schon aus dem schieren Umfang des Ensembles von Figuren offenbar wird, dass es nicht um eine individuelle psychologische Ausarbeitung einer jeden einzelnen von ihnen gehen kann, sondern vielmehr um ihrer aller Versammlung in einer Art von Katalog – wobei aber gerade eine Zusammenstellung solcher Typen hinsichtlich der ihrer sich bedienenden Gesellschaft durchaus auch aufschlussreicher sein kann als eine wie immer partielle Realisierung ihres Angebotes.

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Ebd., S. 112. Hacker / Price: Peter Greenaway, S. 195. Vgl. Barchfeld: Filming by Numbers, S. 84; Görling, Reinhold: Barocke Perücken und postmoderne Spielregeln. Peter Greenaways THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT, in: Felix (Hg.): Die Postmoderne im Kino, S. 185-199, S. 193ff. Poppenberg / Weinrichter: DER KONTRAKT DES ZEICHNERS, S. 20. Greenaway: Cinema is far too rich and capable a medium, o.S. Turman, Suzanna: Peter Greenaway, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 147-153, S. 152.

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Das Spiel des Lebens und The Great Death Game Ist es einerseits das Spiel, das grundlegend für alle Sozialität erscheint, so ist es zugleich auch das, was den Menschen selbst am Leben erhält: „Wir sind absurderweise in einer absurden Welt“223, so Flusser, gegen deren völlige Sinnlosigkeit und Irrationalität nur ihrerseits nur ebenso absurde Spiele aufgewendet werden können224 – der absurde Mensch wird so zum homo ludens225. Sinn des Spieles dabei ist es, „Ordnung in die Welt zu bringen, also ihrer Tendenz zum Wahrscheinlichen die Unwahrscheinlichkeit des Regelmäßigen entgegenzusetzen“ und am Ende so „das Leugnen der Entropie in der Welt, in der wir uns befinden“226: Das Spiel, so Johan Huizinga, „schafft Ordnung, ja es ist Ordnung“227, während nach Flusser als Gegenbegriff zum Spiel als „Anti-Spiel“ nur noch das reine Chaos zu betrachten ist228. Das Spiel ist so ein Modus, in dem Entropie in Information überführt wird229 und ein Zustand reiner Zufallsbestimmtheit in eine „planmäßig kontrollierte Situation“230; die Einführung von Regeln und Zielen tauscht eine völlige Unvorhersehbarkeit allen damit gleichwahrscheinlichen Geschehens ein gegen eine relative Ungewissheit innerhalb gewisser vorbestimmter Grenzen231, gegenüber denen wiederum, so Huizinga, „kein Skeptizismus möglich“ ist232, Unsicherheiten also auch nicht nötig sind. In DROWNING BY NUMBERS dienen Spiele so für Madgett, der sich ansonsten vor den Problemen der Welt auch gerne buchstäblich unter die Bettdecke verkriecht, ebenso zur Ordnung und Strukturierung des Lebens wie zur Flucht vor seiner bedrohlich erscheinenden Chaotizität233: „Let him play – it helps his insecurity“, so auch in diesem Sinne über Madgett Cissie I zu Cissie II234. Die größte Unsicherheit im Leben aber ist der Tod: „Any event is a good excuse for a game“, so Greenaway: „Even – and especially – death.“235 In dieser Sicht erscheint das Spielen geradezu als Überlebensfrage: Das Spiel, so Flusser, indem es die „an und für sich bedeutungslose, unbedeutende Natur unserem Bedürfnis gemäß mit Bedeutung füllt“, lässt den Menschen seine „Einsamkeit zum Tode“, „die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode

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Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, S. 52. Ders.: Unser Spiel, S. 124ff. Vgl. Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos, Reinbek 1999. Flusser: Kommunikologie, S. 257ff. Huizinga: Homo ludens, S. 19. Flusser: Kommunikologie, S. 331. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 79f., 386. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 280. Salen / Zimmerman: Rules of Play, S. 189. Huizinga: Homo ludens, S. 20. Vgl. Meißner, Tobias O.: Kontrollfreaks, in: ders. / Mertens, Mathias: Wir waren Space Invaders. Geschichten vom Computerspielen, Frankfurt am Main 2002, S. 14-17. Greenaway: Drowning by Numbers, S. 23; vgl. ders: Fear of Drowning by Numbers, S. 3. Ebd., S. 5.

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verurteilten Lebens vergessen“236, und selbst wenn ein Spiel den Tod auch explizit zu seinem Gegenstande macht, so nimmt es ihm dabei doch wenigstens ein Stück weit seinen Schrecken, indem es ihn als die Unerfahrbarkeit schlechthin, als den totalen blinden Fleck des Lebens und der Existenz237 in das vertraute Leben überführt und damit referierbar, handhabbar, symbolisch erfahr- und wiederholbar, ja sogar reversibel scheinen lässt. Sei es der gespielte, sei es der reale Tod (wie es einerseits etwa im Spiel von Hangman’s Cricket Aufgabe des Spielers ist, seine neun „Leben“ so weit als möglich zu erhalten, um am Ende nicht dem Hangman vorgeführt zu werden, oder andererseits das Great Death Game in einer statistischen Erfassung der Häufigkeit gewaltsamer Todesfälle an bestimmten Wochentagen besteht): das Spiel mit dem Tod setzt ja voraus, dass der Spieler immerhin am Leben ist – zumindest bis zu seinem Ende, und sind in DROWNING BY NUMBERS nun Madgett und Smut zwar einerseits die „master-game-player“238 des Films, so andererseits die eigens von ihnen selbst erfundenen Spiele aber zugleich auch die Vehikel ihres Untergangs. Zuerst nimmt sich Smut aus Trauer über den Tod des Skipping-Girl, an dem er sich die Schuld gibt239, in einem passenderweise Endgame genannten Spiel das Leben: „The object of this game is to dare to fall with a noose around your neck from a place sufficiently off the ground such that a fall will hang you. [...] This is the best game of all because the winner is also the loser and the judge’s decision is always final.“

Indem das Ziel des Spiels im Tod des Spielers selbst besteht, erhängt sich Smut mit dem Seil des Skipping-Girl an einem Baum240 – allerdings nicht, ohne sich vorher noch selbst als Zähler in seinem Great Death Game zu markieren241, dessen Spielregeln entsprechend auch das ursprünglich als Spektakel zur Beisetzung von Jake, Hardy und Bellamy gedachte Feuerwerk 236 237 238 239

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Flusser: Kommunikologie, S. 10, 13. Vgl. Schulte: Der blinde Fleck in Luhmanns Systemtheorie, S. 27ff., 45. Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 3. Das Skipping-Girl wird von einem Auto überfahren, nachdem Smut ihr geraten hatte, weiter auf die Straße zu gehen, um mehr Raum zu haben und ihr Seil besser schwingen zu können (Greenaway: Drowning by Numbers, S. 83; ders.: Fear of Drowning by Numbers, S. 105; im Film fehlt diese Szene); zudem stirbt sie an einem Freitagabend, ironischerweise also genau zu der laut Statistik des Great Death Game vor gewaltsamen Todesfällen sichersten Zeit, wie Smut ihr nur Sekunden vor ihrem Tod auch noch versicherte. Laut Drehbuch (Greenaway: Drowning by Numbers, S. 122) bricht Smut sich zwar in einer Astgabel das Genick, ohne dass das Seil dabei beteiligt wäre, auf dem auf der gleichen Seite abgedruckten Standbild aber hängt er deutlich am Seil, und ist im Film Smuts Leiche zwar nur ab den Schultern abwärts zu sehen, so zeigen doch die rotierenden Pendelbewegungen seines Körpers, dass er keinesfalls in einer Astgabel hängen kann. Da diese letzte Sequenz von DROWNING BY NUMBERS an einem Samstag spielt, scheint Smut allerdings gegen seine eigenen Regeln zu verstoßen, denn während er zur Markierung seines Todes gelbe Farbe verwendet, sind Samstage den Regularien des Great Death Game zufolge ausdrücklich als „red paint days“ zu führen – eine strenge Unterscheidung, auf die er noch bei Hardys Tod ausdrücklich hinweist.

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nun seinen eigenen Tod zelebriert – und zudem den seines Vaters, da Smut, indem er das Spiel verlässt, um sich von einem Polizeibeamten über den Tod des Skipping-Girl informieren zu lassen, gleichzeitig auch noch die Niederlage Madgetts und der Cissies im Spiel Tug of War verursacht. Madgett hatte, indem er sich damit selbst zum Spieleinsatz gemacht hat („What are we playing for?“ – „Me, and what’s left of my reputation“), den Mitgliedern der sogenannten Water Tower Conspiracy (einer Madgetts offizielle Erklärungen der Todesursachen anzweifelnden Gruppe von Verwandten der Verstorbenen oder durch die Todesfälle sonstwie Betroffenen) im Falle ihres Sieges die Aufklärung über die wahren Umstände der drei Todesfälle versprochen, die sie dann allerdings ebensowenig erhalten wie Madgett die ihm in Aussicht gestellten sexuellen Gratifikationen – die drei Cissies flüchten mit Madgett in einem Boot aufs Wasser, wo sie zunächst eine Seebestattung ihrer Ehemänner durchführen und dann das Boot fluten und davonschwimmen – den resignierten Madgett zurücklassend, der als Nichtschwimmer nur noch seinen Untergang erwartet. Während jedes Spiel zu seiner Durchführung einen speziellen „Spielplatz“ innerhalb bestimmter Grenzen erfordert, der es vom „normalen Leben“ abhebt242 und sich entsprechend über eine immer mitlaufende Metakommunikation der Mitteilung „Dies ist ein Spiel“ konstituiert243, so muss Madgett umgekehrt erst explizieren, wenn und dass er keine Spiele spielt – so etwa, wenn er Cissie I Avancen oder Cissie II einen Heiratsantrag macht („I am not playing games at this particular time“) oder wenn er seine Entscheidung annonciert, die weitere Deckung der drei Cissies vom Ausgang des Tauziehens im Tug of War abhängig zu machen („I’m not playing games anymore – I’ve had enough of game-playing – this is serious“). Das Tug of War ist damit, paradoxerweise, gewissermaßen auch das game to end all games; wie nach Huizinga der Gegensatz von Spiel und Ernst stets schwebend ist und immer eines in das andere umschlagen kann244, so besteht hier, mit Bateson, eine „komplexere Form“ des Spiels, das auf der Prämisse „Dies ist ein Spiel“ nicht einfach fraglos aufbaut, sondern sie vielmehr selbst in Frage stellt und um diese Frage herum kreist: „Ist dies ein Spiel?“245 – eine Frage, wie sie etwa auch in THE BABY OF MÂCON behandelt wird, wenn, unsichtbar für das Theaterpublikum im Film, die der Figur der Tochter zugedachte Vergewaltigung an ihrer Darstellerin tatsächlich vollzogen wird; wie ein Soldat dazu bemerkt: „Imagine: an audience of three hundred – and none of them knows you’re not acting!“ Von Cissie I und Nancy wird Madgett als „turning everything into a game“ und „always playing games“ beschrieben; wenn aber alles Spiel ist (so das Ergebnis Huizingas246), muss dieses Spiel sehr ernst genommen werden, da mangels einer Metaebene kein Ausstieg möglich ist247 und Flusser zufolge der homo ludens, dessen Leben so zum Spiel geworden ist, damit ein solches Spiel spielt, dessen Spielball er auch selber ist und das eine solche 242 243 244 245 246 247

Huizinga: Homo ludens, S. 18ff. Bateson: Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, S. 244. Huizinga: Homo ludens, S. 17. Bateson: Eine Theorie des Spiels und der Phantasie, S. 247. Huizinga: Homo ludens, S. 230. Vgl. Flusser: Unser Spiel, S. 125f.; Jahraus: Theorieschleife, S. 50.

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Komplexität aufweist, dass er immer in Gefahr steht, von diesem Spiel verschluckt zu werden248. In seinem Amt als Leichenbeschauer, der Todesfälle für natürlich oder unnatürlich erklären kann, versucht Madgett sich auf die „extime“ Rolle des Schiedsrichters zurückzuziehen, der wenngleich innerhalb des Spiels so doch vom Spielgeschehen ausgeschlossen ist, darübersteht, also auch nicht betroffen wird: „The coroner’s office is inviolate“, woraufhin Cissie I allerdings wie selbstverständlich höhnisch nur versetzen kann: „Of course it’s not.“ In den Spielen der Gesellschaft gibt es keinerlei exemte Positionen: auch wer, wie der Schiedsrichter, angeblich „nur“ beobachtet, nimmt gerade damit am Spiel teil249, wie Madgett auch in Hangman’s Cricket selbst noch ausdrücklich geltend macht, dass gegenüber seiner modifizierten Version die normale Form des Spiels unter anderem den Nachteil hätte, dass der Schiedsrichter nicht selber ins Geschehen eingreifen darf („the umpire is not allowed to catch“250). Bei all seinem Erfindungsreichtum und Geschick, sofern es wenigstens um seine eigenen Spiele geht, ist Madgett selbst verstrickt in das „matrimonial game“ des Gattenmords der Cissies, aus dessen „personal involvement“ er auch nicht mehr aussteigen kann: „You’re up to your neck in this! [...] We’re not letting you go that easily“, wie ihm die Cissies in aller Deutlichkeit auch klarmachen, womit er, der „master-game-player“ und magister ludi, in ihnen schließlich seine Meister gefunden hat: „You’re much better at playing games than I am“ – sie können nämlich mogeln, während für Madgett die Aufgabe des Spielens Aufgabe des Lebens selbst ist. Wenn alle Spiele asymmetrisierend wirken251, kann man vielleicht, in dieser Hinsicht einiges Licht sowohl auf DROWNING BY NUMBERS als auch auf THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT werfend, das „matrimonial game“ in diesen Filmen Greenaways mit Alan Macfarlane in der Tat als Spiel beschreiben: „a game which [...] ha[s] slightly different ends for men and for women“252 und das in beiden Filmen als eine „Verschwörung der Frauen“ (so der deutsche Verleihtitel von DROWNING BY NUMBERS) mit dem Tod der (männlichen) Spieler endet, die sich in ihm verfangen haben. „You see, Mr. Neville, you are already beginning to play the game rather skilfully“, so lockt Mrs. Talmann den Zeichner in die Falle, aber wie Madgett selbst und kurz vor seinem Tod noch anmerkt: „God – haven’t I told you – all games are dangerous“ – vor allem dann, wenn das Ziel des Spiels der Tod des Spielers ist.

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Flusser: Unser Spiel, S. 124. Vgl. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 86f. Greenaway: Drowning by Numbers, S. 55. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 47f. Macfarlane: Marriage and Love in England, S. 260.

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„Ästhetik der Quantität“ – Informationsästhetik – Database Imagination Um gegen Ende des Kapitels noch einmal auf seinen Anfang und die „Mathematisierung“253 von Greenaways Filmen zurückzukommen, so mag es also vielleicht bisweilen durchaus scheinen, als hätte Greenaway ihnen mit ihren strikten Organisations-prinzipien eine Art „Monotoniegesetz“ auferlegt254 – Rainer Rother etwa sieht hier eine „Ästhetik der Quantität“ ins Werk gesetzt, die Greenaways Filme sämtlich und von vornherein zum (erzählerischen) Scheitern verurteilt: „Als Erzählungen sind Greenaways Filme immer schlecht, nämlich unvollständig. Sie sind ,unbefriedigend‘, weil die Erzählung hier immer schon ,tot‘ ist, nicht als Geschehen, das erst im Ende zur Ruhe kommt, aufgefasst wird – damit als ein Erlösungsprozess zur Ruhe, sondern vorweg als bloße, daher tote, beliebig auffüllbare Ordnung, als Schema. [...] Quantität kennt keine Entwicklung, nur die Addition. [...] Der Übergang von einem Buchstaben zum andern, von dieser Zahl zur nächsten ist der Stellenwechsel in einem gegebenen Rahmen, ein bloß quantitativ bestimmter Wechsel, ein Mehr oder Weniger, nie etwas Anderes, etwas Neues. Alle Zahlen sind gleich (nicht identisch), auch alle Buchstaben. Entwicklung resultiert nicht aus einem Stellenwechsel, sondern ist Folge von Übergängen in einen neuen Zustand.“255

Was Greenaways Filme dann in diesem Sinne böten, sei so nur eine äußerlich-formal bestimmte Progression, aber eben keine intrinsisch motiviert fortschreitende Handlung, wie sie nach Laemmert doch die Grundlage eines jeden Erzählwerks bildet256; statt Handlung und Bedeutung aber gäbe es in Greenaways Filmen nur Programm und Exekution, so dass Rother zu dem Schluss kommt, was seiner Ansicht nach „das Projekt des Filmemachers Greenaway ausmacht: schlechthin entwicklungslose Filme zu schaffen“257. 253 254

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Vgl. Luhmann: Die Behandlung von Irritationen, S. 74. Natürlich ein mehr oder weniger gelungenes Wortspiel, das aber immerhin in einiger Analogie zumindest „Höhen und Tiefen“ oder „überraschende Wendungen“ im plot ausschließt: Das mathematische Monotoniegesetz besagt, dass das Größenverhältnis zweier reeller Zahlen a, b bei ihrer beidseitigen Addition mit demselben Summanden bzw. ihrer beidseitigen Multiplikation mit demselben Faktor c gleich bleibt, also a < b ⇒ (a + c) < (b + c) bzw. a < b ⇒ ac < bc. Als monoton werden so Funktionen oder Folgen bezeichnet, deren Werte immer nur entweder steigen oder fallen. Rother: Ästhetik der Quantität, S. 37f. Laemmert: Bauformen des Erzählens, S. 21. Rother: Ästhetik der Quantität, S. 38f. Dass Greenaways Filme als Erzählungen vielleicht nicht eben zu den größten Perlen dieser Kunst gehören, sei natürlich unbestritten, zugleich aber ist es dann auch wenig ergiebig, sie eben von diesem Standpunkt aus zu werten, zumal wenn Rother dazu selbst bemerkt, dass sie im Grunde auch gar keine Erzählungen sind. Greenaways Filme funktionieren, so Rother, „als ob sie Erzählungen wären“, oder: wie eine Erzählung, aber nicht als Erzählung (S. 37). Es mag dann erstaunen, dass Greenaways Filme im Folgenden

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Nun stimmt es sicherlich, dass in Greenaways Filmen zumal erzählerische Fremdreferenzen oftmals mehr oder weniger (und mehr oder weniger offen) nur als Vorwand benutzt werden, um alternative (nichtnarrative) Möglichkeiten ihrer Ordnung vorzuführen258, und ihnen insofern auf Kosten einer „originellen“, „lebhaften“ Erzählung ein „schematischer“ Charakter eignet259 – der auch mitunter vielleicht so weit geht, dass die erzählten Handlungen, wenn sie denn nur eine vorbestimmte Ordnung auffüllen, selbst aufhören, Erzählhandlungen zu sein: „Eine Handlung in der Perspektive des Schemas, welches sie realisiert, zu beschreiben heißt: diese Handlung konstituiert keinen Eigen-Sinn; sie gilt nicht als ein Ereignis, das den Charakter einer Geschichte hat, sondern entlehnt ihre Bedeutung der Einhaltung eines Schemas. Sie wird dadurch zu einem Verfahren“260,

und in der Tat sind Greenaways Filme in diesem Sinne dann vielleicht auch als Verfahren zu begreifen und weniger als Erzählungen – aber eben als solche Verfahren, die es ihrerseits ermöglichen, auch Erzählung als Verfahren zu begreifen: die Erzählung gleich welcher Ereignisse, die nur mithilfe einer grundlegenden „fiktiven Matrix“ zu verknüpfen sind, die immer selbst nach gattungs- oder genrespezifischen emplotments erfolgen muss, setzt ja dadurch den je eigenen Schematismus dieser Gattungen und Genres immer schon voraus261. Wie Greenaway dazu bemerkt:

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trotzdem nach ebenjenen Maßstäben beurteilt werden, die sie offenkundig doch in Frage stellen, und dass, wenn für sie schon die Inszenierung einer „Unvereinbarkeit“ z.B. von Erzählung und Statistik festzustellen ist, der Erzählung dennoch dergestalt der Vorzug gegeben wird, als dass jene nur in diese „einbreche“ – was dann, für Rother, eben keine möglicherweise gelungene Darstellung der Differenzform von Erzählung und Statistik, sondern lediglich eine schlechte Erzählung ergibt. Ein derartiges Abstellen der Bewertung auf Erzählung kann so natürlich nicht berücksichtigen, was außerhalb der Erzählung liegt oder was der Erzählung sich entzieht, und wenn es für den Film auch noch so wichtig ist – auch in DROWNING BY NUMBERS wird ja das Konfligieren von Zählung und Erzählung selber nicht etwa erzählt. Generell aber sind für Rother Konflikte dieser Art, wie sie schon in Greenaways Kurzfilmen inszeniert wurden, auch lediglich ein „witziger Effekt“, der inzwischen abgenutzt zur bloßen „Spielerei“ verkommen sei – wobei Greenaway, nach Rother, auch überhaupt besser daran getan hätte, sein Leben lang nur weiter experimentelle Kurzfilme zu drehen, oder wenigstens rechtzeitig aufzuhören. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 238. Vgl. exemplarisch zur ebenso simplen wie repetitiven Erzählstruktur von DROWNING BY NUMBERS Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 5, 107: „The film is constructed from three overlapping narratives – each narrative holding the same sequence of events – three drownings, three autopsies, three funerals and three reckonings – or three un-reckonings, because Madgett each time is denied his pound of sexual gratification. [...] The film is very simply constructed, it has a prologue, three acts and an epilogue.“ Krämer: Symbolische Maschinen, S. 2. Vgl. White, Hayden: Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen, in: ders.: Auch Klio dichtet, S. 145-160, S. 150; Kluge, Alexander: Zur realistischen Methode, in:

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System und Mythos „Revenge ordained and completed, wrongs righted, retribution obtained, success rewarded, innocents exonerated, finishing with happy closures - these are structures that are repeated over and over and over again - and they are structures that have previously been invented, employed and elaborated by the 19th century literary giants, Dickens, Balzac, Zola, Tolstoy. When we are brought to realize that most cinema is illustrated text – we then have a further demoralisation, to discover that of all these texts illustrated by cinema, few, if any, have advanced to even the early years of literary excitements of the 20th century. None, for example, appear to have approached James Joyce.“262

Man könnte dann in diesem Sinn auch vielleicht sagen: Greenaways Filme demonstrieren Erzählung mit Blick auf z.T. simpelste, basalste plotStrukturen, um dann mit Blick auf funktionale Äquivalente der Ausrichtung und Strukturierung eines Films den Beweis der Kontingenz ihrer Verwendung zu erbringen263 – und wo, wie bei Rother, festgestellt wird, dass Greenaways Filme langweilige Erzählungen seien, kann damit nur zu guten Stücken (und auf seine Art originelle Weise!) demonstriert werden, dass, als Filmform, Erzählung selbst langweilig ist (und es rezipientenseitig so vielleicht noch eine Überraschung darüber gibt, dass jede zumindest erwartete Überraschung ausbleibt und das Geschehen sich in einer unvorhergesehenen Vorhersehbarkeit entwickelt)264. Man kann dann auch, anstatt dies als Makel anzukreiden, in Greenaways Filmen eine nachgerade vorsätzliche Produktion erzählerischer Langeweile sehen, für die er sich bewusst zweier zu diesem Zwecke hochzuverlässiger (und in der Tat: quantitativ funktionierender, Quantität dann aber in Qualität umschlagender) Formen bedient, nämlich derjenigen von Inflation und Deflation, d.h. einerseits einer Vorenthaltung von Ereignissen und andererseits einer Ereignisüberflutung in

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Wagner, Karl (Hg.): Moderne Erzähltheorie. Grundlagentexte von Henry James bis zur Gegenwart, Wien 2002, S. 271-291, S. 275f. Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S. Zur Unterscheidung von Demonstration und Beweis vgl. Spencer Brown: Laws of Form, S. 80f. Vgl. Engell: Die Langeweile und der Krieg, S. 30. Was aber nicht heißen soll, dass die Form der Erzählung überhaupt und gänzlich abzulehnen wäre – nur dass sie in einem dafür geeigneten Medium stattfinden solle. Das ist für Greenaway aber nicht Film, sondern die Literatur: „We all know that literature is superior to cinema as a form of storytelling. It empowers the imagination like no other. If you want to be a storyteller, be an author, be a novelist, be a writer, don't be a film director. Cinema is not the greatest medium for telling stories. It is too specific, leaves so little room for the imagination to take wing other than in the strict directions indicated by the director. Read ,he entered the room‘ and imagine a thousand scenarios. See ,he entered the room‘ in cinema-as-we-know-it, and you are going to be limited to one scenario only. The cinema is about other things than storytelling. What you remember from a good film […] is not the story, but a particular and hopefully unique experience that is about atmosphere, ambience, performance, style, an emotional attitude, gestures, singular events, a particular audio-visual experience that does not rely on the story.” (Greenaway: 105 Years of Illustrated Text, S. 48.)

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hoher Dichte und Geschwindigkeit, ein Changieren also zwischen Übermaß und Mangel, Retention und Exzess265: „I am anti-narrative in the cinema and I use two techniques. I give you so much information that you can't possibly handle it or I strip down things so economically that there is virtually nothing there“266 –

die Erzählung funktioniert also genau dann, wenn sie nicht funktioniert – wie exemplarisch einerseits z.B. in THE FALLS oder THE TULSE LUPER SUITCASES, wo derart viele Ereignisse und Figuren ins Spiel kommen, dass man unweigerlich die Übersicht verliert, ohne aber dass die einzelnen Handlungsstränge jemals abgeschlossen würden, andererseits z.B. in A ZED AND TWO NOUGHTS oder 8½ WOMEN, wo eigentlich so gut wie nichts passiert, was einen plot so richtig irgendwie voranbrächte. Andererseits aber lässt sich auch für Greenaways Filme, welcher wie immer nicht-erzählerischer Organisationsprinzipien sie sich auch bedienen, gerade eine reine „Nummern- oder Reihenstruktur ohne jede Gradation oder innere, auf Finalität zwingend abzielende Logik“, wie sie Rother ja bemängelt (und Lorenz Engell etwa für den Porno- oder Actionfilm bestimmt)267, gerade nicht ausmachen. Rother selber diagnostiziert hier – ohne dabei aber einen Widerspruch zu seiner These der erzählerischen Entwicklungslosigkeit oder eine Verallgemeinerbarkeit auf narrativisches emplotment generell auch festzustellen – eine „Logik des Verfalls“, wie sie sich im immer rekurrenten Tod der (männlichen) Protagonisten niederschlägt: „Der Tod des Zeichners, der Zwillinge, des Architekten, der Ehemänner und des Leichenbeschauers [...] In Greenaways Filmen ist der Tod gesetzt. Er muss nicht glaubwürdig sein, doch muss er sein, weil die gewählte Form der Verfallsgeschichte nur in ihm zu Ende kommt.“268

Ganz abgesehen davon, dass man mit gleichem Recht natürlich auch sagen könnte, dass generell die Wahl etwa der Form der Komödie an deren Ende eine Lösung erfordert oder die Wahl der Form der Tragödie am Ende eine Katastrophe (wie glaubwürdig diese dann auch immer sein mögen): In der Tat verfügen Greenaways Filme zwar über eine „Teleologik“, durch die ein Ende projektiert werden kann, das seinerseits dann den ihm vorausgegangenen Prozess identifiziert – gerade DROWNING BY NUMBERS etwa sei, so Greenaways Selbstbeschreibung, „shaped like a long slow spiral, 265 266

267 268

Engell: Die Langeweile und der Krieg, S. 23; vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 386; ders.: Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 238. Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S. Diesen beiden „Formen zur Produktion von Langeweile“ gesellt sich dann eine dritte noch hinzu, nämlich, wie sich gerade an der repetitiven Erzählstruktur von DROWNING BY NUMBERS exemplarisch festmachen lässt, die Form der Produktion von Redundanz, die Wiederholung des Ähnlichen oder des Gleichen (vgl. Engell, Lorenz: Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens, Frankfurt am Main / Bern / New York / Paris 1989, S. 261; ders.: Die Langeweile und der Krieg, S. 23). Engell: Vom Widerspruch zur Langeweile, S. 104. Rother: Ästhetik der Quantität, S. 36.

297

System und Mythos

uncoiling to its end“269 –, aber sie beanspruchen darüberhinaus dann keine zumal erzählerische Teleologie, die diesen Prozess dann auch noch (glaubwürdig) erklärte270 (was Rother die narrative „Befriedigung des konventionellen Films“ nennt: die retroaktiv erfolgende Vernotwendigung des erzählten Geschehens271, während in Greenaways Filmen die erwartete auflösende „Erklärung“ der Erzählung in den allermeisten Fällen nur als Köder dient, ganz so, wie Madgett sie den Mitgliedern der Water Tower Conspiracy verspricht – um die sie dann trotz ihres Siegs doch betrogen werden). Natürlich haben Greenaways Filme wie alle Filme und auch jede Erzählung irgendwann einmal ein Ende und in diesem Sinn eine notwendige, dabei aber doch sinn- und selbstbestimmte finalisierende Begrenzung272; sie können nicht endlos weitergehen; sie enthalten, wie eben auch das Spiel des Skipping-Girl, eine „Stoppregel“; sie „terminieren“, und orientieren sich dabei in der Tat, wie Greenaway es ausdrückt, an den „Cagean principles of a given system taken to exhaustion“273, d.h. sie beschreiben einen erschöpfenden Durchlauf durch eine je bestimmte Einheit: • •





• • • • •

in DROWNING BY NUMBERS ist es Folge der natürlichen Zahlen die von 1 bis 100; in THE FALLS ist es die numerisch bestimmte Menge bestimmter alphabetisch indizierter Biographien von #1 Orchard Falla bis #92 Anthior Fallwaste; in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT ist es die festgelegte Zeit vom Abschluss bis zur Erfüllung der Verträge zwischen Mr. Neville und Mrs. Herbert und Mrs. Talmann durch die Anfertigung von 12 Zeichnungen; in A ZED AND TWO NOUGHTS ist es die Darstellung der (angeblichen) acht Stufen der biologischen Evolution vom Beginn des Lebens bis hin zum Menschen (mitsamt ihrer Dekomposition); in THE BELLY OF AN ARCHITECT sind es die neun Monate von Louisa Kracklites Schwangerschaft; in THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER ist es die Wochenkarte eines Restaurants von Freitag bis Freitag; in THE BABY OF MÂCON ist es die Aufführung eines Theaterstücks von Anfang bis Ende in konventioneller Einteilung in drei Akte; in PROSPERO’S BOOKS sind es die 24 Bände von Prosperos Bibliothek; und in THE TULSE LUPER SUITCASES sind es die 92 Koffer Tulse Lupers.

269 270

271

272 273

Greenaway: Fear of Drowning by Numbers, S. 107. Vgl. Luhmann, Niklas: Suche nach der Identität und Identität der Suche – Über teleologische und selbstreferentielle Prozesse, in: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hg.): Identität. Poetik und Hermeneutik VIII, München 1979, S. 593-594, S. 593. Rother: Ästhetik der Quantität, S. 37: „Das ist die Befriedigung des konventionellen Films: dieser Anfang konnte nur in diesen Schluss münden [...]: diese Figuren, diese Konflikte zu Beginn, daher auch dieses Ende“. Vgl. Schwanitz: Zeit und Geschichte im Roman – Interaktion und Gesellschaft im Drama, S. 193ff. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 484ff.; ders.: Geschichte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution, S. 194; ders.: Suche nach der Identität. Greenaway: Some Organizing Principles, S. 163.

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Allerdings sind diese Ordnungen auch keineswegs dann sämtlich alles festlegend noch auch je komplett verlässlich oder unabänderlich274, sondern erweisen sich vielmehr als z.T. sehr störanfallig oder wandelbar, als Unsicherheit eher verstärkend als vermindernd, ja als geradezu dysfunktional oder auch mit Nebenwirkungen bis hin zum fatalen Bumerang-Effekt behaftet: •















in THE FALLS enthält das V.U.E. Directory lauter Lücken, Schreibfehler, Irrtümer, Widersprüche, Doppeleinträge, unavailable biographies, unbestimmte last minute entries oder auch pernicious inclusions of fictional characters; in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT wird das strikte Regime von Mr. Neville durch die Streuung nur scheinbar zufällig auftauchender Objekte gestört, wie auch die von ihm eingegangenen Verträge nur einem von ihm nicht eingesehenen Zweck dienen, und er selber über die ursprüngliche Vereinbarung noch hinaus anbietet, eine 13. Zeichnung anzufertigen; in A ZED AND TWO NOUGHTS scheitert das Experiment der DeuceZwillinge durch genau dasjenige Phänomen, welches es abbilden wollte, nämlich das Phänomen der Reduktion und der natürlichen Zersetzung, das schließlich in Gestalt von Hunderten von Schnecken die Versuchsanlage lahmlegt; in THE BELLY OF AN ARCHITECT ist die Periode der Schwangerschaft seiner Frau zugleich auch die des Siechtums Stourley Kracklites, in dessen Bauch kein Baby, sondern ein Krebsgeschwür heranwächst; in DROWNING BY NUMBERS kann man von den Zahlen des number count nie wissen – und genau das macht ja den Reiz des Suchspiels aus –, wann und wo genau oder zu wievielt sie auftauchen werden; in THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER findet Albert Spica seinen Nebenbuhler Michael, den er zuvor ermordet hat, ganz außerplanmäßig auf die Karte seines eigenen Restaurants gesetzt (und sich selbst gezwungen, ihn zu essen); in THE BABY OF MÂCON ist es der Ehrgeiz der Schauspielerin, der ihr den Tod bringt (mitsamt der Möglichkeit der Schauspieler, nur so zu tun, als täten sie nur so, so dass das Spiel kein Spiel mehr ist); in PROSPERO’S BOOKS wird Prosperos Bibliothek, in Mailand Refugium einer politisch enthaltsamen vita contemplativa und erst auf der Zauberinsel Instrument der Macht, am Schluss von diesem selbst zerstört (mit Ausnahme des letzten Bandes, der unbemerkt von Caliban gerettet wird); und

274

Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe. Band 1, S. 225-618, S. 279ff.: „[Ein Spiel] ist nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibt ja auch keine Regel dafür z.B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln. […] Und gibt es nicht auch den Fall, wo wir spielen und – ,make up the rules as we go along'? Ja auch den, in welchem wir sie abändern – as we go along. […] Eine Regel steht da, wie ein Wegweiser. – Lässt er keinen Zweifel offen über den Weg, den ich zu gehen habe? […] Er lässt manchmal einen Zweifel offen, manchmal nicht. Und dies ist nun kein philosophischer Satz mehr, sondern ein Erfahrungssatz.“

299

System und Mythos •

in THE TULSE LUPER SUITCASES schließlich erweisen sich die 92 Koffer am Ende allesamt als fakes.

Die ordnungsgenerierende Struktur schließt Unvorhersehbares also keineswegs aus – oft hat ja gerade auch die Ordnung selbst Effekte, die sie, wie exemplarisch in VERTICAL FEATURES REMAKE, selber nicht miteinberechnet hat, und die wiederum zu einer Umordnung der Ordnung führen –, vielmehr ist Unsicherheit, so Luhmann, geradezu Bedingung von Struktur: „Mit der Ausmerzung jeder Unsicherheit würde auch die Struktur sich selbst aufheben, denn ihre Funktion liegt gerade darin, die autopoietische Reproduktion trotz Unvorhersehbarkeit zu ermöglichen. Insofern entsteht mit Strukturbildung immer auch ein dazu nötiges Maß an Unsicherheit, und man wird, nicht ohne Schadenfreude, gerade an sicherheitsfanatischen Strukturbildungen wie Bürokratien und Rechtsordnungen feststellen können, wie mit der Zunahme der Bürokratisierung und der Verrechtlichung sich auch die Unsicherheit multipliziert. [...] Ohne Überraschungsmomente gäbe es deshalb keine Strukturbildung, weil nichts vorkäme, was zu verknüpfen wäre.“275

„To have structure is to have uncertainty“ und „to increase structure is to increase uncertainty“, so Wendell R. Garner276; das Verhältnis von Struktur und Unsicherheit oder von Ordnung und Chaos ist daher als dasjenige einer wechselseitigen Steigerung zu betrachten, in dem nicht das eine zu- und damit das andere abnimmt (wobei auch der Extremfall einer totalen Ordnung bzw. eines völligen Chaos wohl weder zu verwirklichen noch auch nur zu wünschen wäre), sondern das mehr von beiden zugleich ermöglicht277 – und gerade was die „Schadenfreude“ über jene „sicherheitsfanatischen Strukturbildungen“ zumal der Bürokratie betrifft, so ist ja besonders auch THE FALLS beißendster Spott über den „Verwaltungswahnsinn“278 behördlicher Ordnungswut mitsamt gleichzeitiger Selbstsabotage. Möglicherweise aber schwebt Rother in seiner Rede von einer „Ästhetik der Quantität“ auch so etwas wie die sogenannte „Informationsästhetik“ der 1960er Jahre vor, deren Ansatz eben einer Quantifizierbarkeit des Ästhetischen – heute, nach Markus Rautzenberg, weithin nur noch der Lächerlichkeit preisgegeben279 – von ihrem wohl prominentesten Vertreter Max Bense so umrissen wird: 275 276 277 278

279

Luhmann: Soziale Systeme, S. 390f. Garner, Wendell R.: Uncertainty and Structure as Psychological Concepts, New York (NY) 1962, S. 339, zitiert nach: Luhmann: Soziale Systeme, S. 418. Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 205. Vgl. Rehberg, Karl-Siegbert: Konservativismus in postmodernen Zeiten: Niklas Luhmann, in: Burkart, Günter / Runkel, Gunter (Hg.): Funktionssysteme der Gesellschaft. Beiträge zur Systemtheorie von Niklas Luhmann, Wiesbaden 2005, S. 285-309, S. 289f. Rautzenberg, Markus: „We’re not laying pipes, we’re talking about poetry!“ Informationsästhetik zwischen Travestie und Innovation. Vortrag am 25. Juni 2005 auf der Tagung „Travestien der Kybernetik. Die Macy-Konferenzen und ihr Einfluss“ in Berlin, zitiert nach: http://www.expolar.de/kybernetik/TravestienDerKyberneti. data/Bibliothek/input_papers/Rautzenberg_ InfoAesth.pdf (29.03.2009), S. 1.

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS „Die ,Informationsästhetik‘, die mit semiotischen und mathematischen Mitteln arbeitet, kennzeichnet die ,ästhetischen Zustände‘, die an Naturgegenständen, künstlerischen Objekten, Kunstwerken oder Design beobachtbar sind, durch Zahlenwerte und Zeichenklassen, d.h. aber, sie definiert sie als eine besondere Art von ,Information‘, eben als ,ästhetische Information‘“ –

so etwa „die Verteilung der Farben auf einem Bild Tizians, die Wortfolge in einem dichterischen Text oder das System der Noten einer Sonate Beethovens“, so dass es ermöglicht werden sollte, ein Kunstwerk „praktisch [...] mit den gleichen Mitteln [zu] beschreiben wie die Thermodynamiker ein Gas“280. Von der Analysemethode zur Poetik gewendet, brachte die Informationsästhetik es dann zu Verfahren zur Generierung sogenannter „stochastischer Texte“ oder „künstlicher Poesie“, als deren Ziel es wiederum dann angegeben war, unter dezidiertem Verzicht auf sinnhaft interpretierbare Information „der Außenwelt semantische Verluste beizubringen, um ästhetische Gewinne zu erzielen“ und dazu „Seiendes durch Häufigkeiten, Qualitäten durch Quantitäten, Gegenstände durch Zeichen, Eigenschaften durch Funktionen, Kausalität durch Statistik“ zu ersetzen281. Nun ist dazu aber anzunehmen, dass Greenaway sich gerade über solche Rationalisierungs- und Formalisierungsbemühungen (wie exemplarisch etwa George David Birkhoffs berühmtes aesthetic measure M = O/C als „the density of order relations in the aesthetic object“282), die letztlich (so die Kritiker) nur in einen „absurden Formelfetischismus“283 mündeten, wohl trefflich lustig machen würde; andererseits aber mag es sich vielleicht auch bei der Ansicht, es handele sich bei der „Informationsästhetik“ nur um „ein dem kybernetischen Paradigma geschuldetes szientifisches Missverständnis“284, nur selber um ein Missverständnis handeln. So stellt auch Bense, dem Vorwurf steriler Formelhaftigkeit entgegen, klar heraus – und Greenaway würde dem wohl zustimmen –, dass nicht der bloße Aspekt der Quantifizierung und Berechenbarkeit, sondern, wesentlich darüber hinaus, derjenige der Innovation die „ästhetische Information“ ausmacht – und zwar explizit im Unterschied zu einer formalen Kalkülisierbarkeit:

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Bense, Max: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik. Grundlegung und Anwendung in der Texttheorie, Reinbek 1969, S. 7, 32; ders.: Die Programmierung des Schönen, Baden-Baden 1960, S. 13. Ders.: Manifest einer neuen Prosa, in: Augenblick 4(1960), S. 20-22; ders.: Jabberwocky. Text und Theorie. Folgerungen zu einem Gedicht von Lewis Carroll, in: ders.: Radiotexte. Essays, Vorträge, Hörspiele. Hg. von Caroline Walther und Elisabeth Walther, Heidelberg 2000, S. 63-83, S. 71. Birkhoff, George David: Aesthetic Measure, Cambridge (MA) 1933, S. 4. Rautzenberg: Informationsästhetik zwischen Travestie und Innovation, S. 2. Ebd.

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System und Mythos „Vollkommene Theorien, dargestellt in einer Präzisionssprache, deren Syntax ein Logikkalkül ist, entwicklen sich aus Axiomen, die ein System von Tautologien bilden und keine Information geben, denn nichts Unvorhersehbares, nur Ableitbares ergibt sich aus ihnen, Ableitbares im Sinne purer Umformung. Aber ästhetische Information kann in keinem Falle ein System von Folgerungen bilden; man kann sie nicht vorhersehen, nicht ableiten; das unterscheidet sie genau von einem technischen Gebilde; sie ist entweder eine überraschende Innovation oder keine Kunst und nur so weit ein Kunstwerk Innovation enthält, gibt es ästhetische Information“285,

die eben immer auch „realisiert“ (ins Werk gesetzt), nicht bloß in „Ideation“ entworfen und „codiert“ (abstrakt geregelt) sein muss, insofern sie vorher nicht gegeben, ja vorher unvorstellbar ist286. Eine „Ästhetik der Quantität“, wie Rother sie dagegen vorstellt, wäre also in zentralen Punkten das genaue Gegenteil dessen, was nach Bense eine Informationsästhetik leisten sollte – und trifft schließlich auch nicht Greenaways Filme: Was Rother Greenaways Filmen als letztlich inhaltsleeren Formalismus vorwirft, liest sich eher wie eine nachträgliche Kritik am structural film – nach P. Adams Sitneys Definition eine Art Kino „in which the shape of the whole film is predetermined and simplified, and it is that shape which is the primal impression of the film […], and what content it has is minimal and subsidiary to the outline“287 –,

dessen Verfahren Greenaway dann (sehr zu dessen Schaden) in den Erzählfilm importiert habe. Über den structural film aber ist Greenaway eben schon mit VERTICAL FEATURES REMAKE frühzeitig hinausgegangen – und zwar nun keineswegs primär wegen genuin erzählerischer Defizite, sondern vielmehr auf Grund seiner Humorlosigkeit288. 285

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Bense: Die Programmierung des Schönen, S. 25. Vgl. ders.: Kunst und Intelligenz, in: ders.: Ausgewählte Schriften, Bd. 1: Philosophie, Stuttgart 1998, S. 350-361, S. 352: „Der Begriff der Information selbst ist [...] verknüpft mit dem Begriff der Überraschung, des Unvorhersehbaren, des Neuen, der Innovation, der Originalität, die durch eine bestimmte Verwendung statistischer Vorstellungen und Verfahren der Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht nur begrifflich, sondern auch numerisch zugänglich werden.“ Bense: Die Programmierung des Schönen, S. 61; ders.: Kunst und Intelligenz, S. 356. Sitney, P. Adams: Visionary Film, New York (NY) 1974, S. 407f. Vgl. http://www.tate.org.uk/britain/artistsfilm/programme4/structuralfilm.htm (29.03.2009): „Peter Greenaway was never directly associated with structural film, but he was certainly aware of it. [...] Many of Greenaway's later films seemed to mock the seriousness and apparent lack of humour in structuralism“ - der structural film, so Peter Sainsbury, „misconceived [...] impleasure as seriousness and structure as meaning“ (Sainsbury, Peter: A WALK THROUGH H. Views, enthalten in: Greenaway: Early Films 1.). Vgl. auch Greenaways Selbstbeschreibung von VERTICAL FEATURES REMAKE unter http://greenaway.bfi.org.uk/material.php?theme=1&type= Greenaway&title=vertical (29.03.2009), die den structuralism des structural film vor allem als ideologische Zugangsvoraussetzung zu Fördermitteln beschreibt: „VERTICAL FEATURES REMAKE is a love-hate, or more appropriately, celebration-criticism,

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Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

Eine andere, neuere Form der „Informationsästhetik“ allerdings, die sich dann in der Tat gewinnbringend auf Greenaways Filme anwenden ließe, wäre etwa das, was Lev Manovich (ohne seinerseits dann dabei explizit auf Bense zu verweisen) info-aesthetics nennt – „a theoretical analysis of the aesthetics of information access as well as the creation of new media objects which ,aestheticize‘ information processing“289.

Wo nämlich Rother ob ihrer „Mathematisierung“ oder „Arithmetisierung“, mit Hegel, in Greenaways Filmen nur ein „geistloses Spiel“290 ohne wirklichen konkreten Gegenstand erkennen kann – für Hegel besteht ja im rechnenden Zählen als dem reinen Gedanken äußerster gedanklicher Selbstentäußerung geradezu das Gegenteil begrifflich-begreifenden Denkens, das in völliger Gedankenlosigkeit und Abkehr von allem Sinnlichen nichts täte als nur eine kontingente Reihung des Kontingenten zu bewerkstelligen, „das keiner Notwendigkeit Fähige zu verknüpfen“291 –, so lässt sich dagegen mit Manovich dann einwenden, dass genau hierin, d.h. eben in der von Hegel monierten numerischen „Abstraktion von der sinnlichen Mannigfaltigkeit“ und „Gleichgültigkeit des Verknüpften gegen die Verknüpfung, der die Notwendigkeit fehlt“292, gerade eine Kerneigenschaft sogenannter database logic, wie sie nach den Prinzipien numerischer Codierung, modularer Organisation, Automation, Variabilität und Transcodierbarkeit mit den neuen elektronischen Medien und vor allem natürlich dem Computer einhergeht,

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292

of structural method, unthinkingly and stupidly dominant in film circles at that time. If you claimed to be a structuralist your credentials were good enough to receive film-financing. Five years before you had to be a good Marxist-Socialist Feminist and then the coffers would be open, five years later, you could get financed if you demonstrated Political Correctness and a love of California.“ Manovich, Lev: The Language of New Media, Cambridge (MA) 2001, S. 217. Zitiert nach: Assmann, Aleida: No importance in being earnest? Literary theory as play theory, in: REAL 13(1997), S. 175-184, S. 182. „Die Arithmetik [...] hat keinen konkreten Gegenstand, welcher innere Verhältnisse an sich hätte, die zunächst für das Wissen verborgen, nicht in der unmittelbaren Vorstellung von ihm gegeben, sondern erst durch die Bemühung des Erkennens herauszubringen wären. Sie enthält nicht nur den Begriff und damit die Aufgabe für das begreifende Denken nicht, sondern ist das Gegenteil desselben. Um der Gleichgültigkeit des Verknüpften gegen die Verknüpfung, der die Notwendigkeit fehlt, willen befindet sich das Denken hier in einer Tätigkeit, die zugleich die äußerste Entäußerung seiner selbst ist, in der gewaltsamen Tätigkeit, sich in der Gedankenlosigkeit zu bewegen und das keiner Notwendigkeit Fähige zu verknüpfen. Der Gegenstand ist der abstrakte Gedanke der Äußerlichkeit selbst. Als dieser Gedanke der Äußerlichkeit ist die Zahl zugleich die Abstraktion von der sinnlichen Mannigfaltigkeit; sie hat von dem Sinnlichen nichts als die abstrakte Bestimmung der Äußerlichkeit selbst behalten; hierdurch ist dieses in ihr dem Gedanken am nächsten gebracht; sie ist der reine Gedanke der eigenen Entäußerung des Gedankens.“ (Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Wissenschaft der Logik I, in ders.: Werke in zwanzig Bänden. Band 5, Frankfurt am Main 1969, S. 244.) Ebd.

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d.h. der „Datenbank-als-einer-symbolischen-Form“, ja einer database imagination zu sehen ist293, die sich mit vorgängigen z.B. literarischen oder filmischen Äquivalenten zwar vergleichen, aber selbst nach deren zumal narrativen Standards nicht mehr messen lässt: „After the novel, and subsequently cinema, privileged narrative as the key form of cultural expression of the modern age, the computer age introduces its correlate – database. Many new media objects do not tell stories; they don't have beginning or end; in fact, they don't have any development, thematically, formally or otherwise which would organize their elements into a sequence. Instead, they are collections of individual items, where every item has the same significance as any other. [...] The user experience of such computerized collections is therefore quite distinct from reading a narrative or watching a film or navigating an architectural site. Similarly, literary or cinematic narrative, an architectural plan and database each present a different model of what a world is like. Following art historian Ervin Panofsky's analysis of linear perspective as a ,symbolic form‘ of the modern age, we may even call database a new symbolic form of a computer age [...], a new way to structure our experience of ourselves and of the world“294,

die sich von älteren und narrativen Formen dann insofern (und in aller Schärfe) unterscheidet, als dass sie, mit Luhmann, viel eher Medium (lose gekoppelter Elemente) als (deren festgefügte) Form ist: „As a cultural form, database represents the world as a list of items and it refuses to order this list. In contrast, a narrative creates a cause-and-effect trajectory of seemingly unordered items (events). Therefore, database and narrative are natural enemies. Competing for the same territory of human culture, each claims an exclusive right to make meaning out of the world.“295

Genau in Hinblick auf diesen Konflikt von formerzwingender Erzählung296 und medienförmiger Auflistung sieht Manovich in Greenaway nun einen herausragenden Vertreter eines „database cinema“, ja neben Dziga Vertov geradezu den „major ,database filmmaker‘ of the 20th century“ – dessen Anliegen es nun eben nicht sei, „schlechthin entwicklungslose Filme zu schaffen“, sondern vielmehr „to create a database in its most pure form: a set of elements not ordered in any way“, die sich dafür nur umso besser immer anderen und immer neuen Ordnungen zuführen lassen – oder auch immer anderen und immer neuen Erzählungen297, indem sie, in den Worten 293 294 295 296 297

Manovich: The Language of New Media, S. 235. Ebd., S. 218f. Ebd., S. 225. Zum „Formzwang“ literarischer „Akte des Fingierens“, „einem Unbestimmten Bestimmungen aufzuerlegen“, vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 393. Manovich: The Language of New Media, S. 237ff. Weshalb Manovich auch meint, dass, mit einem solchen Vorhaben, Greenaway notwendigerweise über das Kino hinausgehen und sich Ausstellungen und Installationen zuwenden musste, denn „if the elements exist in one dimension (time of a film, list on a page), they will be inevitably ordered. So the only way to create a pure database is to spatialize it, distributing the elements in space“ (ebd, S. 238), z.B. dem Raum eines Museums

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Karlheinz Stierles, als ein „unabschließbares Feld von Darstellbarkeiten“ genutzt werden, die, unterhalb noch einer narrativen „Sinnschwelle“, nicht selbst schon intentional relationiert sind, sondern „lediglich und in unabsehbarer Vielfalt Verknüpfungsmöglichkeiten bereitstellen“298. Wie in THE TULSE LUPER SUITCASES erläutert wird: „The imagination of the reader is excited. Lists can be re-organized, catalogues up-dated, and inventaries can embrace everything“, und Greenaway, in erneuter Anspielung auf Mallarmé, auch selbst dazu bemerkt: „As one way of reconsidering narrative – to make a savage paraphrase of the idea that everything exists in order to be put into a book – I suggest that everything exists to be put in a list, that if you wait long enough everything will find itself in a list somewhere or other and that if you are genius enough everything will appear in every list.“299

Zu einer solchen Auffassung der „Welt als Liste“ merkt François Jullien an, dass Listen ganz allein durch ihre Aufzählung schon eine Art von Selbstgenügsamkeit besitzen, der gegenüber dann die Frage ihrer Erklärung, ihres Sinnes oder Zweckes gänzlich nutzlos ist300 – in ihrer Aufzählung ganz gleich welchen Inhalts folgen sie dem arithmetischen „bare concept of collecting“301, dessen Motivierung letztlich ebenso irrelevant wie unerklärlich scheint302. In diesem Sinne bezeichnet Jullien die Liste auch als „elementarste Formgebung des Wissens“303, die in zwei grundsätzlichen

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300 301 302 303

(wie etwa mit 100 OBJECTS TO REPRESENT THE WORLD) oder auch gleich einer ganzen Stadt (wie etwa mit THE STAIRS). Da aber auch solche Spatialisierungen schließlich für bestimmte „Trajektorien“ (Ausstellungsrundgänge, Stadtspaziergänge, a Walk through H ...) in Anspruch genommen und somit temporalisiert werden müssen und so letztlich wiederum Erzählungen ergeben (vgl. ebd., S. 239), betont Manovich an Greenaways Werk dann weniger die Differenzform von database und Erzählung, sondern eine experimentelle Untersuchung der Möglichkeit ihres Zusammenwirkens („how database and narrative can work together“) oder auch ihrer Versöhnung („how to reconcile database and narrative forms“) oder gar ihrer Verschmelzung („how to merge database and narrative into a new form“) (ebd., S. 238, 239, 243). Stierle, Karlheinz: Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte, in: Koselleck / Stempel (Hg.): Geschichte, S. 530-534, S. 531f. Zitiert nach Morgan: Breaking the Contract, S. 15f. Genau hierin sieht auch Hayden White die Aufgabe der Historiographie, die letztlich die gleiche sei wie diejenige der Belletristik (Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen, S. 145): während die „historische Tatsache“ nur als „eine ungeordnete Ansammlung von lediglich durch ihr Nebeneinander verbundenen Bruchstücken“ existiere (ebd., S. 149), so lebe die Geschichtsschreibung „von der Entdeckung all der möglichen Plotstrukturen, die herangezogen werden können, um den Ereignisfolgen verschiedene Bedeutungen zu verleihen“ (Der historische Text als literarisches Kunstwerk, S. 143). Jullien, François: Die praktische Wirkkraft der Liste: von der Hand, vom Körper, vom Gedicht, in: ders. (Hg.): Die Kunst, Listen zu erstellen, Berlin 2004, S. 15-50, S. 23. Kauffman: What is a Number?, S. 118. Vgl. Spencer Brown: Laws of Form, S. 60; Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 55. Jullien: Die praktische Wirkkraft der Liste, S. 17.

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Ausprägungen auftreten kann: einerseits in fremdreferentieller Orientierung als „die autoritäre Liste, die uns als eine passive Aufzeichnung von Kräfteverhältnissen aufgedrängt wird“, andererseits in selbstreferentieller Orientierung als „die erfinderische Liste, die sich frei mit der Ordnung der Dinge vergnügt“304, und in der Tradition alter japanischer Literatur, wie Greenaway sich ihr auch in THE PILLOW BOOK zugewendet hat, beschreibt Jacqueline Pigeot so eine „Kunst der Liste“, die in der „Paarung von disparaten Elementen ohne Hierarchisierung“ gemäß der „Summe aller Verfahrensweisen der Auswahl und der Neuanordnung“ dieser Elemente besteht, und zwar mit deutlichem Interesse für „heteroklite Listen“, innerhalb derer die Anordnung der Elemente der Liste alleine durch die „Laune des Listenmachers“ geregelt wird305: „Scheinbar dazu bestimmt, nur ein Katalog zu sein, in dem die Realitäten der Welt so aufgezeichnet werden, wie sie sind, wird die Liste in dieser Tradition kreativ. Von einem schlichten Konservatorium der Dinge verwandelt sie sich in ein Instrument, das in der Lage ist, sie zu reorganisieren. [...] Letzten Endes besteht das Spiel darin, eine instabile Kombination zu präsentieren, die ständig davon bedroht ist, zu explodieren, und die immer wieder allein von der Virtuosität des Listenmachers zusammengehalten wird“306 –

ein ideales Betätigungsfeld für Greenaway also. Lässt sich aber gerade im gegenüber der Literatur in visueller und temporaler Form ja ungleich bestimmteren Medium des Films herkömmlicherweise nur auf die Arbitrarität und Kontingenz der je gewählten (narrativen) Form hinweisen, deren unmarked space dann gleichwohl unsichtbar bleibt – „read ,he entered the room‘ and imagine a thousand scenarios”, wie Greenaway die erzählerischen Vorzüge der Literatur erläutert, „see ,he entered the room‘ in cinema-as-we-know-it, and you are going to be limited to one scenario only”307 –, so fiele, im Sinne Greenaways, eine „Ästhetik der Quantität“ mit einer „Informationsästhetik“ auch dann zusammen, wenn Information ganz technisch aufgefasst wird als das Maß der Wahlfreiheit bei der Selektion einer Botschaft308, die es eben nicht nur produzenten-, sondern genauso rezipientenseitig zu erhöhen gelte – weshalb der Film, der nach Manovich sich noch an der Schnittstelle zwischen Narration und database befinde309, vom invarianten old media-Artefakt zum variablen new media object sich wandeln müsse310, was dann auch mit einer 304 305

306 307 308 309 310

Ders.: Einleitung, in: ders. (Hg.): Die Kunst, Listen zu erstellen, S. 7-14, S. 14. Pigeot, Jacqueline: Die explodierte Liste: die Tradition der heterogenen Liste in der alten japanischen Literatur, in: Jullien (Hg.): Die Kunst, Listen zu erstellen, S. 73-121, S. 79, 92, 99. Ebd., S. 113ff. Greenaway: 105 Years of Illustrated Text, S. 48. Vgl. Eco: Einführung in die Semiotik, S. 54f. Manovich: The Language of New Media, S. 237f. Zur Unterscheidung von old media und new media siehe ebd., S. 27ff., hier besonders S. 36: „Old media involved a human creator who manually assembled textual, visual and/or audio elements into a particular composition or a sequence. This sequence was stored in some material, its order determined once and for all.

306

Temporalisierung und Programmierung: DROWNING BY NUMBERS

(wenigstens annäherungsweisen) „Resymmetrisierung der asymmetrischen Funktionsrollen von Produzent und Rezipient“ einhergeht311: „If I make you a film which has 25 different endings, and I allow you to choose the ending, what price your choice, because I’ve made the endings anyway. But there does come a time when if you make 250 endings, or let’s say it might even be possible to make 2 500 endings, there does come a time when we get the sensation that quantity becomes quality.“312

311 312

Numerous copies could be run off from the master, and, in perfect correspondence with the logic of an industrial society, they were all identical. New media, in contrast, is characterized by variability. Instead of identical copies a new media object typically gives rise to many different versions.“ Werber, Niels: Neue Medien, alte Hoffnungen, in: Merkur 47(1993), S. 887-893, S. 889. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 21.

307

08 Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS (1991)

„We are such stuff as dreams are made on“: Wie ist es (operativ) möglich, (beobachtbare) Realitäten zu konstruieren und diese nach „Sein“ und „Schein“ bzw. als „Realität“ und „Realitätsillusion“ oder als „reale“ und „imaginäre Realitäten“ zu unterscheiden? Wie verhalten sich Kino, Literatur, Theater und Computer, Information und Archivierung, Wissen und Macht oder auch Magie und Medienkompetenz? Und schließlich (mit Foucault gefragt): Was ist ein Autor, der diese Unterscheidungen und Relationierungen dann durchführen (und verantworten) können müsste? Innerhalb des „Systems Greenaway“ nimmt PROSPERO’S BOOKS insofern eine Sonderstellung ein, als dass hier – von der Fernsehproduktion A TV DANTE einmal abgesehen – zum ersten und einzigen Mal eine literarischdramatische Vorlage adaptiert wird, wenngleich auch, den Gepflogenheiten üblicher Literaturverfilmung damit durchaus entgegen, weniger als Erzählung einer Geschichte denn ausdrücklich und buchstäblich als Text in seiner iederschrift. Zudem wird in PROSPERO’S BOOKS erstmals die digitale post-production-Technologie der graphic paint box eingesetzt, was auch die Wende des „Systems Greenaway“ zu einem digital cinema markiert – ein elektronisch-filmischer „Ersatz für die Träume“ sozusagen, mit (und gegen) Hofmannsthal gesprochen, „von der Ziffer zur Vision“.

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System und Mythos „Wenn man im Altertum eine Enzyklopädie geschaffen hätte, wie man so viele große Dinge geschaffen hat, und wenn aus der berühmten alexandrinischen Bibliothek nur dieses Schriftwerk allein auf uns überkommen wäre, dann hätte es uns – das wagen wir zu behaupten – über den Verlust aller übrigen Werke hinwegtrösten können.“ Jean Lerond D’Alembert, EINLEITUNG ZUR ENZYKLOPÄDIE

„Brief, there is nothing in his wit-fraught book / Whose sound we would not hear, on whose worth look [...] / But why do I dead Shakespeare’s praise recite? / Some second Shakespeare must on Shakespeare write.“ Leonard Digges, UPON MASTER SHAKESPEARE, THE DECEASED AUTHOR, AND HIS POEMS

„Der Fitteste im Business, der is’ un’ der bleibt / Der die Scheiße produziert, kontrolliert, un’ ’se schreibt.“ Moses Pelham, WEN HASST DU AM LIEBSTEN?

„We have not seen any cinema yet“, so Greenaway in einer (beharrlich wiederholten) Fundamentalkritik des Kinos, „we have only seen 105 years of illustrated text. And recorded theater. And theater is primarily a matter of text. In practically every film you experience, you can see the director following the text. Illustrating the words first, making the pictures after, and, alas, so often not making pictures at all, but holding up the camera to do its mimetic worst. Though Derrida said the image has the last word, in cinema, we have all conspired to make sure the word has the first word.“1

In dieser conspiracy des Kinos erscheint der Filmemacher als Truffautscher metteur-en-scène: als „the gentleman who adds the pictures“2, und das Kino selbst als ein rein illustratives Medium, das sich im ständigen Rückbezug auf die Literatur die eigene Existenzberechtigung entzieht: „Why illustrate a great piece of writing whose very advocacy and evocation and efficacy lies within its very existence as writing? [...] A good film-maker should be a prime creator – a composer, not a conductor“3, 1 2

3

Greenaway: 105 Years of Illustrated Text, S. 48. Truffaut, François: A Certain Tendency of the French Cinema, in: Nichols, Bill (Hg.): Movies and Methods. An Anthology, Berkeley / Los Angeles / London 1976, S. 224-237, S. 233. Greenaway: 105 Years of Illustrated Text, S. 50.

310

Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS

dessen Tätigkeit sich dann in filmischem Literatur-Recycling erschöpfte. Wenn aber Greenaway erstens für den Filmemacher den Status eines „ersten Schöpfers“ proklamiert und zweitens für das Kino insgesamt als Desiderat ein „rein filmisches Kino“ einsetzt, „das seine Strukturen und Strategien, seine Inhalte und Formen vollständig von einer filmischen Perspektive aus erträumt und diese nicht bei einer Erzählung oder einer anderen literarischen Grundlage ausleiht“4 –

warum also gerade von ihm eine weitere Shakespeare-Verfilmung, die doch, mit Siegfried Kracauer, in ihrer immer weiter sich fortsetzenden „ununterbrochenen Reihe“ nachgerade als Paradigma der Unterwerfung des Films unter die „theatralische Story“ gelten kann?5 Die Antwort darauf ist, dass PROSPERO’S BOOKS als Verfilmung von Shakespeares THE TEMPEST, den Gepflogenheiten üblicher Literatur- und Theaterverfilmung damit durchaus entgegen, ausdrücklich und buchstäblich Verfilmung eines Textes und nicht einer Aufführung ist6, und näher: der Entstehung und der Aufzeichnung dieses Textes und daneben erst in zweiter Linie auch seiner Erzählhandlung: PROSPERO’S BOOKS zeigt und handelt davon, wie Shakespeares Dramenfigur Prospero auch ihrerseits ein Drama konzipiert und niederschreibt, wobei dieses Drama nichts anderes ist als Shakespeares THE TEMPEST selbst. Der primäre Gegenstand des Films ist also der Text von THE TEMPEST in seiner aktuell vollzogenen Niederschrift: „the master material on which all the magic, illusion and deception of the play is based. Words making text, and text making pages, and pages making books from which knowledge is fabricated in pictorial form“7.

Es geht in PROSPERO’S BOOKS also, mit Wolfgang Iser, um die Realisierung des Imaginären im Fiktiven8 und dabei um die Übersetzung von Texten in andere Texte ebenso wie von Bildern in andere Bilder und von Textualität in Bildlichkeit, von Literarizität in Kinematographizität, von „literarische[n] Halluzinationen in filmische Positivitäten“9, und schließlich: um „die Metamorphose der literarischen Imagination zu filmischer Magie“10. Wie es zu Anfang von Greenaways Fernsehproduktion A TV DANTE heißt: „A good old text always is a blank for new things“, und im Falle von PROSPERO’S BOOKS markiert nun die Bearbeitung von Shakespeares TEMPEST nicht nur eine 4

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6 7 8 9 10

Spielmann, Yvonne: Film, eine Kunst nach Regeln? Interview mit Peter Greenaway, in: Adam, Ken / Bordwell, David / Greenaway, Peter / Lang, Jack: Der schöne Schein der Künstlichkeit, Frankfurt am Main 1995, S. 71-116, S. 105. Vgl. Kracauer: Theorie des Films, S. 288. Bis 1991, dem Produktionsjahr von PROSPERO’S BOOKS, verzeichnet die Internet Movie Database insgesamt 521, bis 2009 gar 731 Shakespeare-Verfilmungen (http://www.imdb.com/name/nm0000636/ (29.03.2009)). Spielmann: Film, eine Kunst nach Regeln?, S. 93. Greenaway, Peter: Prospero’s Books, London 1991, S. 9. Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Kittler: Optische Medien, S. 247. Kremer: Peter Greenaways Filme, S. 99.

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System und Mythos

Neuinterpretation des Stückes, sondern auch den Übergang des „Systems Greenaway“ zum digital cinema und damit zu einer Form von visueller Komplexität, wie sie, so Tony Howard und Michel Bodmer unisono, zuvor im Kino auch noch nie zu sehen war11 (was damit dann zugleich auch vor die Frage führt, ob PROSPERO’S BOOKS denn überhaupt auch noch als Kino anzusehen sei12 – wie Greenaway THE TEMPEST vor allem als den Abschied Shakespeares vom Theater interpretiert, als „leave-taking of the theatre and a farewell to the role-playing and the manufacturing of illusion through words“13, so mag PROSPERO’S BOOKS als Greenaways Abschied vom herkömmlichen celluloid cinema betrachtet werden: „We are now in the midst of a revolution which is moving from celluloids to electronics“, so Greenaway, „so all this wretched stuff [gemeint sind Filmstreifen, A.R.W.] would totally disappear“14 – genauso wie nach Prosperos Monolog „the great globe itself, / Yea, all which it inherit, shall dissolve; / And, like this insubstantial pageant faded, / Leave not a rack behind“15 – womit wohl nicht zuletzt auch Shakespeares Globe Theatre gemeint war). „Der Vorlage gerecht zu werden“ kann also im diesem Fall nicht heißen, eine wie immer geartete „Treue zum Original“ zu wahren, demgegenüber sich der Film dann ja nur als Kopie auswiese, sondern vielmehr, Shakespeares Drama einen Film gegenüber zu stellen, der ebenso kongenial wie inkommensurabel wäre. In diesem Sinne einer Auseinandersetzung Greenaways mit Shakespeare sieht auch Adam Barker PROSPERO’S BOOKS vor allem als „a tale of two magicians“16, und wie Canopy Fallbenning (#34) vorausschauend schon in THE FALLS feststellt: „It is difficult for one magician to accomplish successfully another’s magic.“

All the World’s Information – un ,fantastique‘ de bibliothèque Im Exil seiner Zauberinsel ist Prospero bei Greenaway „not just […] the master manipulator of people and events but […] their prime originator. On his island of exile, Prospero plans a drama […]. He invents characters to flesh out his imaginary fantasy to steer his enemies into his power, writes their dialogue, and having written it, he speaks the lines aloud, shaping the characters so powerfully through the words that they are conjured before us. The division between

11

12 13 14 15 16

Howard, Tony: Shakespeare on Film and Video, in: Wells, Stanley / Orlin, Lena Cowen (Hg.): Shakespeare. An Oxford Guide, Oxford 2003, S. 607-619, S. 612; Bodmer, Michel: Technik und Handwerk. Peter Greenaway und William Shakespeare, in: filmwärts 21(1992), S. 29-35, S. 30. Bodmer: Technik und Handwerk, S. 30; Rother: Ästhetik der Quantität, S. 39. Greenaway: Prospero’s Books, S. 9. Zitiert nach: Weidle: „The only certainty we have is that there are no certainties“, S. 162. Shakespeare, William: The Tempest, IV.1, zitiert nach: ders.: The Complete Works. Hg. von Gary Taylor und Stanley Wells, Oxford 1988, S. 1167-1189, S. 1184. Barker: A Tale of Two Magicians.

312

Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS fact and fiction becomes indistinguishable; the characters walk and gesture, act and react, but still they do not speak.“17

Sämtliche Figuren bewegen ihre Lippen synchron zu den Worten, die von Prosperos Stimme gesprochen werden; er legt ihnen die Worte buchstäblich in den Mund und damit ihre Handlungen fest – sie sind die Manifestationen seiner eigenen Fiktionen. Wie das göttliche Wort selbst, so unterläuft auch Prosperos Sprechen die Differenzen von Kommunikation und Handlung und von Bewusstsein und Kommunikation: was er spricht, das geschieht, und was er sagt, das wird von seinen Figuren auch gedacht18. Prosperos Machtquelle hierzu aber liegt in seiner Exilbibliothek, die ihm für seine Verbannung zugebilligt wurde: jene „volumes that / I prize above my dukedom“19, „his powerhouse of magic“, „the books that have made him what he is“20 – oder umgekehrt, wie Caliban auch feststellt: „without them / he’s but a sot, as I am, nor hath not / one spirit to command“21. Von diesen Büchern handelt Greenaways Film: In Shakespeares Drama nicht weiter spezifiziert, wird ihre Anzahl in PROSPERO’S BOOKS auf 24 Bände bestimmt, bei denen es sich allesamt um obskure Enzyklopädien mit Titeln wie Love of Ruins, The Book of Water oder An Alphabetical Inventory of the Dead handelt, die jeweils nach ihrem Inhalt und den Umständen ihres Entstehens und ihrer Nutzung in kurzen inserts näher beschrieben werden, welche dann wiederum den Film mit einer seriellen Struktur ausstatten. Für die Wahl der 24 nennt Greenaway selber zwei Verweismöglichkeiten: „Initially it’s a piece of irony. Godard suggested that cinema is truth twenty-four times a second. […] If you are also familiar with the Dewey system of organizing books, they, too, have a modicum of twenty-four [...]. So the whole screed of bibliographical business is bound up into twenty-four sections“22,

17 18 19 20 21 22

Greenaway: Prospero’s Books, S. 9. Vgl. Engell: Ausfahrt nach Babylon, S. 287. Shakespeare: The Tempest, I.2, S. 1171. Greenaway: Prospero’s Books, S. 79, 81. Shakespeare: The Tempest, III.2, S. 1181. Zitiert nach: Weidle: „The only certainty we have is that there are no certainties“, S. 165f. Hier handelt es sich allerdings um eine Greenawaytypische gezielte Fehlinformation, denn das System der Dewey Decimal Classification funktioniert, wie sein Name schon sagt, natürlich dezimal, nicht duodezimal.

313

System und Mythos

so dass die 24 in diesem Sinn als „Zahl der Totalität“ fungiert23: „These twenty-four volumes could easily be seen to contain all the world’s information“24, so dass Prospero die Gesamtheit des verschriftlichten Wissens der Menschheit zur Verfügung steht, nach dem er seine eigenen Fiktionen inszeniert, so wie er etwa aus Buch #21, dem großen Book of Mythologies, aus dem gesamten Figuren- und Geschichtsvorrat antiker Mythen schöpfen kann: „A Book of Mythologies. This is a large book. Prospero on some occasions has described it as being as much as four metres wide and three metres high. It is bound in a shining yellow cloth that, when polished, gleams like brass. It is a compendium, in text and illustration, of mythologies with all their variants and alternative tellings; cycle after cycle of interconnecting tales of gods and men from all the known world, from the icy North to the deserts of Africa, with explanatory readings and symbolic interpretations. Its authority and information is richest in the Eastern Mediterranean, in Greece and Rome, in Israel, in Athens and Rome, Bethlehem and Jerusalem, where it supplements its information with genealogies, natural and unnatural. To a modern eye, it is a combination of Ovid's METAMORPHOSES, Frazer's THE GOLDEN BOUGH and Foxe's BOOK OF MARTYRS. Every tale and anecdote has an illustration. With this book as a concordance, Prospero can collect together, if he so wishes, all those gods and men who have achieved fame or infamy through water, or through fire, through deceit, in association with horses or trees or pigs or swans or mirrors, pride, envy or stickinsects.“

Die Exilbibliothek wird in Greenaways Film gegenüber Shakespeares Dramenvorlage in ihrer Bedeutung also erheblich aufgewertet, ja, es handelt sich bei PROSPERO’S BOOKS, mit Michel Foucault, überhaupt um un „fantastique“ de bibliothèque: um eine „Bibliotheksphantastik“, deren Imaginativität sich als ein genuines „Phänomen der Bibliothek“ in einem „Zwischen-den-Texten“ bildet, so dass das Buch, das Prospero zu schreiben im Begriff ist, auch ein solches ist, „das sich von Beginn an im Raum des Wissens konstituiert: Es existiert in einer fundamentalen Beziehung zu den Büchern. [...] Es öffnet den Raum einer Literatur, die allein im Netz des bereits Geschriebenen und durch dieses existiert; [...] Es ist weniger ein neues Buch, das neben die anderen zu stellen wäre, als vielmehr ein Werk, das sich über den ganzen Raum der existierenden Bücher erstreckt“ –

23

24

Vgl. Endres / Schimmel: Das Mysterium der Zahl, S. 250: „Vierundzwanzig ist die Zahl der Totalität. Sie ist mit den vierundzwanzig Stunden des Tages und der Nacht verbunden [...]. Als wichtige Zahl tritt Vierundzwanzig in der Apokalypse auf, wo die 24 Ältesten erscheinen, die die doppelte Harmonie von Priester und König verkörpern, wie Vierundzwanzig auch sonst gern als Zahl der großen Harmonie (2x12) zwischen Himmel und Erde erklärt wird. Für Pythagoras umfasst sie die Gesamtheit der Glieder des Himmels; ist sie doch auch die Anzahl der Buchstaben des griechischen Alphabets und der musikalischen Töne.“ Greenaway: Some Organizing Principles, S. 172.

314

Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS

eine summa aller Bände der Bibliothek und zugleich ein Traum von weiteren Büchern25. Tatsächlich aber, wie sich am Ende herausstellt, handelt es sich bei Prosperos Drama um nichts anderes als um THE TEMPEST selbst, das er am Schluss nach seiner Fertigstellung als 24. und letztes seiner Bücher in den 23. und damit komplettierten Band noch einfügt, in welchem dafür just am Anfang auch noch 19 Seiten freigelassen sind: in das nun um das 36. Stück ergänzte Book of Thirty-Five Plays nämlich, das wiederum nichts anderes ist als das First Folio, die erste Gesamtausabe von Shakespeares Dramen von 1623, als dessen Autor Prospero als „Shakespearean self-portrait“26, als alter ego Shakespeares nun auch vollends deutlich wird. Dieses eine Buch aber, in das alle anderen seiner Bücher eingegangen sind, so erklärt am Ende von PROSPERO’S BOOKS der off-Kommentar, ist zugleich auch das einzige, das von Prosperos Büchern überliefert werden konnte („whilst all the other volumes have been drowned and destroyed, we still do have these last two books, safely fished from the sea“) – womit auch PROSPERO’S BOOKS noch einen Hinweis auf die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der Werke Shakespeares gibt, in der, Douglas Lanier zufolge, seine Dramen vor allem zu Lesedramen, zu reiner Literatur und schließlich dann zu deren Inbegriff gemacht wurden. „Shakespeare has come to us principally as a book“, so Lanier, doch nicht als irgendein Buch: „it has become the quintessial text, the Ur-book, the model for English literary textuality, not a script but secular scripture“27, und so verstärkt auch Greenaways Film den Nimbus der Werke Shakespeares als „Grundbuch einer literarischen Imaginations-Kultur, [...] Buch und gleichzeitig Über-Buch, das die Möglichkeiten literarischer Magie vollständig beinhaltet“, ja als verwirklichte Idee „des einen Buches, des Buchs der Bücher, des ‚absoluten Buches‘ im Sinne der deutschen Frühromantik und des französischen Symbolismus, der säkularen Bibel literarischer Imaginations-Kultur, in der alle anderen Bücher archiviert sind und aus dem sie wieder entstehen können“28,

d.h., mit Friedrich Schlegel, als Idee eines „System[s] von Büchern“, in welchem letztlich „alle Bücher nur Ein Buch“ sind29 – wobei eine besondere Ironie des Films ganz sicher darin liegt, wie Prosperos Abfassung des Textes dargestellt wird:

25 26 27

28 29

Foucault: Nachwort zu Gustave Flaubert, S. 121ff. Greenaway: Prospero’s Books, S. 9. Lanier, Douglas: Drowning the Book. PROSPERO’S BOOKS and the Textual Shakespeare, in: Shaughnessy, Robert (Hg.): Shakespeare on Film, London 1998, S. 173-195, S. 175. Kremer: Peter Greenaways Filme, S. 148, S. 189. Schlegel, Friedrich: Ideen, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Band I.2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), München / Paderborn / Wien / Zürich 1967, S. 256-272, S. 265.

315

System und Mythos „Prospero is seen writing the text of THE TEMPEST with a truncated quill, [...] producing a longhand manuscript that – like all other Shakespearean manuscripts – has never been seen“30,

so dass in diesem Sinne PROSPERO’S BOOKS sicher auch als wie immer ironisches re-enactment einer Urszene der neueren englischen Literatur zu sehen ist.

Das Archiv Prosperos Zauberinsel stellt, in einem re-entry einer Unterscheidung wiederum Foucaults31, gewissermaßen eine Utopie der Heterotopien dar: als fiktive „Plazierung ohne wirklichen Ort“ zwar eindeutig utopischen Charakters, fungiert sie innerhalb dieser Fiktion jedoch heterotopisch, d.h. als eine „tatsächlich realisierte Utopie“ – Heterotopien, so Foucault, sind „wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können, [die] an einem einzigen Ort mehrere Räume, mehrere Plazierungen zusammenzulegen [vermögen], die an sich unvereinbar sind“32,

so wie es ganz sinnfällig etwa im Theater und im Kino auch der Fall ist: „So lässt das Theater auf dem Viereck der Bühne eine ganze Reihe von einander fremden Orten aufeinander folgen; so ist das Kino ein merkwürdiger viereckiger Saal, in dessen Hintergrund man einen zweidimensionalen Schirm einen dreidimensionalen Raum sich projizieren sieht.“33

Als utopischer Ort innerhalb der Heterotopien des Theaters oder Kinos aber lässt die Insel sich auch wiederum als Heterotopie bestimmen; nicht nur wie Theater und Kino als Heterotopie des Raumes (so zeigen Prosperos Zauberspiegel u.a. auch die Hochzeit Claribels in Tunis), sondern zudem auch wie das Museum und die Bibliothek als Heterotopie der Zeit, nämlich der „sich endlos akkumulierenden Zeit“, hinter welcher die Idee steht,

30 31 32 33

Greenaway: Prospero’s Books, S. 32. Foucault, Michel: Andere Räume, in: Wentz, Martin (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt am Main 1991, S. 65-72, S. 68ff. Ebd., S. 68ff. Ebd., S. 70.

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Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS „alles zu akkumulieren, die Idee, eine Art Generalarchiv zusammenzutragen, der Wille, an einem Ort alle Zeiten, alle Epochen, alle Formen, alle Geschmäcker einzuschließen, die Idee, einen Ort aller Zeiten zu installieren, der selber außer der Zeit und sicher vor ihrem Zahn sein soll, das Projekt, solchermaßen und eine fortwährende und unbegrenzte Anhäufung der Zeit an einem unerschütterlichen Ort zu organisieren“34.

Wie Prospero nach dem Buch #3 aus seiner Bibliothek, A Memoria Technica called Architecture and other Music, seine Insel selbst zu einem historistischen „Bibliothekspalast“ gestaltet hat („a palace of libraries that recapitulate all the architectural ideas of the Renaissance“), so ist diese Bibliothek zugleich auch als ein riesiges Museum eingerichtet, oder vielmehr: als eine Art theme park, gewissermaßen ein Renaissance-Disney World, denn anders als im Museum sind hier nicht die gesammelten Objekte selber ausgestellt, sondern ihre Nachbildungen, die Prospero nach den Vorgaben seiner Bücher hervorgezaubert bzw. Greenaway als visuelle Zitate von Gebäuden und Gemälden eingesetzt hat: Giovanni Battista Piranesis TREPPEN, Antonello Da Messinas HIERONYMUS IM GEHÄUS, Sandro Botticellis GEBURT DER VENUS u.a. – wobei Prosperos Bibliothek als Nachbildung der Florentiner BIBLIOTHECA LAURENTIANA Michelangelos auch selber Teil ihrer Ausstellung ist, ja Prospero selbst, der Museumsdirektor und Ausstellungskurator, auch seine eigene Erscheinung zum Zitat etwa von Giovanni Bellinis LEONARDO LOREDAN oder Georges de la Tours DER BÜßENDE HEILIGE HIERONYMUS und damit sich selber zum Objekt seiner eigenen Inszenierung gemacht hat.

34

Ebd.

317

System und Mythos

Prospero im Zaubermantel

Giovanni Bellini: LEONARDO LOREDAN

Prosperos Schreibstube

Antonello Da Messina: HIERONYMUS IM GEHÄUS

Prosperos Bibliothek

Michelangelo: BIBLIOTHECA LAURENTIANA

PROSPERO’S BOOKS: einige visuelle Zitate

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Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS

Markiert das Archiv (gerade also auch im Falle von Prosperos Insel) nun jenen Ort, „von dem her die Ordnung gegeben wird“35 – das Wort „Archiv“ geht etymologisch auf das griechische arché zurück, was neben „Anfang“, „Ursprung“ auch „Herrschaft“ und, Greenaways Faible für alles Bürokratische damit nur entgegenkommend, „Behörde“ oder „Amtsstelle“ bedeutet36 –, so fällt auch Prospero mit seiner exklusiven „archontischen Macht“ und „archivarischen Gewalt“ eine nahezu unbeschränkte „Konsignations-“ und Interpretationsmacht zu37; sein „Generalarchiv“, dessen Status als „institutionalisiertes Gedächtnis“ nach Aleida Assmann zwischen einem „Funktions-“ und einem „Speichergedächtnis“ anzusetzen ist – „je nachdem, ob es eher als Herrschaftsinstrument oder als ausgelagertes Wissensdepot organisiert ist“38 –, umfasst so, in den Begriffen Max Schelers, „Herrschafts-“ und „Bildungswissen“ gleichermaßen39, wobei aber auch diese Wissensformen wiederum nicht wesentlich, sondern vielmehr pragmatisch und kontextuell zu unterscheiden sind: zieht Prosperos unablässige Studienlektüre abseits seiner politischen Verpflichtungen als Herzog Mailands zunächst einmal seinen Sturz und seine Exilierung nach sich, schlägt sein so teuer erlangtes Bildungswissen im Exil der Zauberinsel dann in absolutes Herrschaftswissen um, mit dem er sich die Insel und ihre Geister unterwerfen kann. Wie aber Assmann zufolge die Bedingung der Möglichkeit eines jeden Archivs in hypomnestischen „Aufzeichnungssystemen“ liegt und allen voran in der Technik der Schrift40, so wird auch Prosperos Schreib- und Lesekundigkeit vom universalen Bildungsattribut zum exklusiven Privileg und damit Herrschaftsfunktion41: wie der Text das master material, so ist die Schrift die master technology in PROSPERO’S BOOKS42.

35 36 37 38 39

40 41 42

Derrida, Jacques: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 9. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisse, München 1999, S. 343. Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 11ff., 18. Assmann: Erinnerungsräume, S. 345. Vgl. Scheler, Max: Die Formen des Wissens und die Bildung, in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Manfred S. Frings, Band 9, Bonn 1995, S. 85-119, S. 114: „D[as] Werden und d[ie] Vollentfaltung der Person, die ‚weiß‘ – das ist ‚Bildungswissen‘ [...] Das Werdensziel der praktischen Beherrschung und Umbildung der Welt für unsere menschlichen Ziele und Zwecke [...]. Das ist das Wissen der positiven ‚Wissenschaft‘, das Herrschafts- oder Leistungswissen.“ Assmann: Erinnerungsräume, S. 343; vgl. Derrida: Dem Archiv verschrieben, S. 25. Vgl. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 134. In diesem Sinne erinnert Walter J. Ong auch daran, „das Schreiben in der Weise als Technologie zu begreifen, in der wir gewöhnlich das Drucken sowie die Computertechnik als Technologie auffassen“, ja als die „wichtigste technologische Entwicklung der Menschheit“ überhaupt (Ong, Walter J.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, S. 84, 87).

319

System und Mythos

Manipulationen im Symbolischen Stephen Greenblatt zufolge gibt es ein „quintessentielles Zeichen“ der Macht: die Fähigkeit nämlich, der Welt die eigenen Fiktionen aufzuzwingen, „the ability to impose one’s fictions upon the world: the more outrageous the fiction, the more impressive the manifestation of power“43. Prosperos in diesem Sinne beinah grenzenlose Macht ist dabei eine genuine vis verborum, wie sie einer Überhöhung der Kulturtechniken des Lesens und Schreibens in einer Buch- und Schriftmagie entstammt: Während einerseits das mittelenglische „grammarye“ oder „grammar“, das sich auf das Lernen aus Büchern bezog, auch „okkulte“ oder „magische Lehre“ bedeutet44, sieht andererseits Helmut Glück die Eignung der Schrift und des Schreibens als „Mittel und Gegenstand zauberischer und mystischer Aktivitäten“ im „ganz technischen Grund“ der schriftlichen Fixier- und Manipulierbarkeit von sprachlichen Ausdrücken jeder beliebigen Art45, die dann in einer Identifizierung oder Verwechslung von Zeichen und Bezeichnetem, von Worten und Dingen, Symbolen und Realitäten46 zur wie immer paradoxen Vorstellung einer „Schrift der Natur“ führt (wenn Buchstaben ja, so Sigmund Freud, in freier Natur auch gar nicht vorkommen47 und die Schrift mit Walter J. Ong so vielmehr als das Künstliche par excellence gesehen werden kann48): So wie in der okkulten Schriftmagie die Metapher vom liber mundi selber eben nicht metaphorisch, sondern (metaphorisch gesprochen) buchstäblich genommen wurde, so wurden auch die Buchstaben über ihren Status als elementa im Sinne von Reihengliedern in der Zeile hinaus als das betrachtet, wofür sie wiederum nur als Metapher dienten, nämlich als Grundbestandteile, als Elemente selbst der physischen Natur49 (so dass Prospero in diesem Doppelsinn, wie auch THE TEMPEST nahelegt, als Autor als „commander of the elements“ betrachtet werden kann50): „The word is reified, turned into a concrete object with magical powers. In Cornelius Agrippa’s DE OCCULTA PHILOSOPHIA, the letters of the Hebrew alphabet, which he takes to be the holiest language, represent the actual structure of the universe, so that ,manipulations of them have intrinsic power‘. To rearrange language is to rearrange reality. [...] Words are treated as if they are equivalent to things and can be substituted for them. Manipulate the one and you manipulate the other.“51 43 44 45 46 47 48 49 50

51

Greenblatt, Stephen: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1980, S. 13. Ong: Oralität und Literalität, S. 95. Glück, Helmut: Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie, Stuttgart 1987, S. 187. Vgl. Vickers: Analogy vs. Identity. Freud: Die Traumdeutung, S. 284. Vgl. Ong: Oralität und Literalität, S. 84. Vgl. Lumpe, Adolf: Eintrag „Elementum“, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Band IV, Stuttgart 1959, Sp. 1073-1100, Sp. 1073f. Vgl. Shakespeare: The Tempest I.1, S. 1169: „If you can command these elements to silence and work peace of the present, we will not hand a rope more. Use your autority.“ Vickers: Analogy vs. Identity, S. 95, 106.

320

Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS

Die praktische Anwendbarkeit der Schriftmagie ist dabei allerdings nur recht begrenzt: Da sie ja, so Kittler mit Lacan, faktisch nur im Symbolischen operieren und nur im Imaginären Wirkung haben kann, hat die literarische und zumal dichterische „Herrschaft über den Signifikanten“ – der Rhetorik mancher Selbstbeschreibung, wie sie gerade auch im TEMPEST vorliegt, auch entgegen – eben keinen „automatischen Effekt auf Signifikate oder gar Referenten“52: Die Macht der Literatur besteht, mit Wolfgang Iser, in einer Realisierung des Imaginären im Fiktiven53, nicht einer Realisierung des Fiktiven im Realen, die ihrerseits nur als Fiktion geleistet werden kann – wie es in PROSPERO’S BOOKS ja auch geschieht, wo Prosperos Verse, d.h. seine „Manipulationen im Symbolischen“ durchaus zu „Manipulationen am Realen“ werden54, womit dann aber, wenigstens „symbolisch“, die Kunst des Magiers mit der Macht Gottes konkurriert und wiederum der artista divino mit dem Deus artifex55.

Materia prima und materia ultima Die Schöpfung der Welt des TEMPEST aus Prosperos Wort und die Rolle des Textes als dem master material von PROSPERO’S BOOKS rufen als Referenz natürlich die biblischen Kosmogonien der Genesis und des Johannesevangeliums auf, wie sie etwa der Metapher von der Welt als liber Dei auch zugrundeliegen, d.h. den Beginn der Welt durch einen göttlichen Sprechakt: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; / die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. / Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht“ (Gen 1,1-3)

und die substantielle Begründung aller Existenzen im Gotteswort: „Im Anfang war das Wort, / und das Wort war bei Gott, / und das Wort war Gott. / Im Anfang war es bei Gott. / Alles ist durch das Wort geworden / und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist“ (Joh 1,1-3),

wobei die alt- und neutestamentliche Beschreibung allerdings in einem wesentlichen Punkte divergieren: Wird bei Johannes der „Anfang“ durch die voraussetzunglose Autogenese des logos als einer (sprachlichen) Ordnung causa sui angesetzt, so ist bei Mose immerhin schon etwas vorhanden, was einer Ordnung erst zu unterwerfen ist: das Wasser der „Urflut“ nämlich, auf welchem der Geist Gottes schwebt, und das von Gott nicht selbst erschaffen, sondern, so Wolfgang Detel, „als Urelement schon immer da ist“56. Das Wasser ist so einerseits „Urstoff der Schöpfung“, andererseits „Chaos, von

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Kittler: Fiktion und Simulation, S. 62. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 22. Kittler: Fiktion und Simulation, S. 62, 73f. Vickers: Analogy vs. Identity, S. 133. Detel, Wolfgang: Das Prinzip des Wassers bei Thales, in: Böhme, Hartmut (Hg.): Kulturgeschichte des Wassers, Frankfurt am Main 1988, S. 43-64, S. 45.

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Gott besiegt“57; Gott scheidet das Wasser vom Wasser und dann das Wasser vom Land58, aber er hat es, anders als das Licht, nicht selbst hervorgerufen – wobei allerdings auch das Licht erst einer Unterscheidung von der ihm vorausgehenden Finsternis bedarf59. Weisen die biblischen Kosmogonien so das Wort wie auch das Wasser als die „Ur-Materialien“ der Welt aus, so werden in der Darstellung des Prozesses der Fiktionsfertigungen Prosperos in PROSPERO’S BOOKS dann beide Konzeptionen kombiniert: Das Wort ist der Anfang des Dramas, aber das Wasser ist die Quelle des Wortes, und bis das Licht des Projektionsstrahls auf die Leinwand trifft, so liegt im Anfang über allem Wasser tiefe Finsternis. Das erste Bild von PROSPERO’S BOOKS zeigt nichts als ein leeres Schwarz, von dem erst, als ein Tropfen hineinfällt, klar wird, dass es sich um eine Wasseroberfläche handelt: Wahrnehmung ist immer Wahrnehmung einer Differenz60, die hier von den ins ansonsten unterschiedslose Schwarz des Wassers fallenden Tropfen ausgelöst wird, so dass aus einem ununterscheidbaren Nichts ein differenzier- und damit wahrnehmbares Etwas wird. Zwischen die Bilder der weiter herabfallenden Tropfen werden nun Bilder von Prosperos schreibender Hand und einem wasserblauen Tintenglas geschnitten, in das eine Feder getaucht wird. Prosperos bloße Hand streckt sich aus, wie um die Wassertropfen aufzufangen, dann erscheint als erstes Buch das Book of Water, ein Buch vom Wasser und ein Buch aus Wasser gleichermaßen, dessen (thematischen) Gegenstand seine eigene (materielle) Gegenständlichkeit bildet: es handelt, so wie auf ihre Weise auch THE TEMPEST und PROSPERO’S BOOKS, von dem, woraus es ist. Die Montage dieser Sequenz interrelationiert das Wasser als „Ursprungs-Materie“ mit der Möglichkeit ihrer „Unter-Scheidung“, ihrer Formgebung durch technische Manipulation, die, indem das Wasser mit der Tinte im Glas identifiziert wird, nicht durch die bloße Hand, sondern erst durch das Instrument der Feder im Schreiben und in der Schrift stattfindet. Zunächst ebenso diffus und formlos und unfixiert wie nach Iser das Imaginäre, das als die „konstitutive Energie des fiktionalen Textes“ um wirksam zu werden immer erst in eine bestimmte Gestalt zu überführen und in Form zu bringen ist61, werden die Wasser durch Prosperos instrumentellen Eingriff erst „geschieden“, die ansonsten unfassbare und amorphe Flüssigkeit wird „quantisiert“ und in die Form diskreter Buchstaben gebracht. 57 58

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Böhme, Hartmut: Umriss einer Kulturgeschichte des Wassers, in: ders. (Hg.): Kulturgeschichte des Wassers, S. 7-42, S. 14. „Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser. / Gott machte also das Gewölbe und schied das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es / und Gott nannte das Gewölbe Himmel. [...] / Dann sprach Gott: Das Wasser unterhalb des Himmels sammle sich an einem Ort, damit das Trockene sichtbar werde. So geschah es. / Das Trockene nannte Gott Land und das angesammelte Wasser nannte er Meer. Gott sah, dass es gut war.“ (Gen 1,6-10) „Gott schied das Licht von der Finsternis / und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht.“ (Gen 1,4-5) Jahraus: Literatur als Medium, S. 319. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 21f., 47, 393f.

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Das Wasser ist also die Quelle des fixierten Wortes, doch in diese Quelle münden die Schriften dann auch schließlich wieder ein, wenn Prospero am Ende seiner Magie abschwört, seine Schreibfeder als „Zauberstab“ zerbricht und seine Bücher allesamt „ertränkt“: „I’ll break my staff, / Bury it certain fathoms in the earth, / And deeper than did ever plummet sound / I’ll drown my books.“62

Mit der Zerstörung seines Manipulationsinstruments einher geht auch die buchstäblich buchstäbliche Auflösung von Prosperos Fiktionen: Nachdem die instrumentelle Formationsgewalt über die zu Buchstaben getrocknete Flüssigkeit aufgegeben wird, zerlaufen die Zeichenstrukturen der von Prospero im Wasser „ertränkten“ Bücher wieder in der gestaltlosen Flut, die in PROSPERO’S BOOKS ganz wie auch wiederum am Anfang, nämlich am Anfang aller Philosophie beim Vorsokratiker Thales, nicht alleine nur materia prima ist, sondern gleichzeitig auch materia ultima: „Als grundlegendes Element soll nämlich das Wasser nicht nur ein Stoff sein, ,aus dem alles Seiende als dem Ersten entsteht‘ [...]; vielmehr hat Thales [...] das Wasser auch als Element angesehen, aus dem alles Seiende (letztlich) besteht, in das alles Seiende als in das Letzte vergeht, das selbst weder entsteht noch vergeht.“63

Als invariantes Medium für unausschöpfbar variable Formen64 ist das Wasser Medium der Schrift so wie das Imaginäre Medium der Fiktion: Die buchstäbliche Liquidierung, die Auflösung und Wiederverflüssigung der in Tinte geschriebenen Zeichen im Wasser stellt so zugleich die „freie Zirkulation“ des textuell fixierten Imaginären wieder her, das dann aus seiner Form herausgelöst in eine „unendliche Bedeutungsflut“65 so wiedereingeht und einer freien Komposition, Dekomposition und Rekomposition auch wieder zugänglich gemacht wird66: die fest gekoppelte Form löst sich ins nur lose gekoppelte Medium wieder auf und wird damit für unvordenklich Weiteres erneut verfügbar. Auf der Ebene nicht der Bücher, sondern des Films selbst entspricht dieser Auflösung die letzte Sequenz von PROSPERO’S BOOKS, die ihrerseits in einem langsamen dissolve endet. Nach Prosperos Schlussmonolog, in welchem er in einer Direktansprache das Publikum um seine Gunst bittet, läuft der freigelassene Ariel als Allegorie der Imagination aus der Tiefe des Raumes auf die zurückfahrende Kamera zu, wobei er sich einerseits nach seiner dreifachen Erscheinungsform im Film in diejenige eines kleinen Kindes zurückverjüngt, andererseits aber seine Bewegungen durch eine extreme slow motion auch immer ruckhafter werden, während er über die Kamera hinweg aus dem imaginären Bildraum auf der Leinwand heraus in 62

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Shakespeare: The Tempest, V.1, S. 1186, wobei der Schluss dieser Passage in einem seltenen Eingriff in die Textvorlage für den Film verändert und in den Plural gesetzt wurde, so dass aus einem Buch der Bücher viele wurden. Detel: Das Prinzip des Wassers bei Thales, S. 52f. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 209. Vgl. Foucault: Was ist ein Autor, S. 228. Ebd.

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den realen Zuschauerraum des Kinos hinein zu springen scheint und hinter ihm das Filmbild von der Szene auf Prosperos Insel auf das Bild einer grob texturierten leeren Leinwand überblendet – die aus der Fiktion des Filmes abgezogene und zum Zuschauer zurückgekehrte Imagination hinterlässt eine zur tabula rasa gewordene Leinwand, die schließlich wieder in das Schwarz des Anfangs übergeht und erst zur nächsten Projektion wieder zum Schauplatz werden wird, wenn dann erneut, wie Hugo Münsterberg es formuliert, „unsere Phantasie selbst auf die Leinwand projiziert“ wird67. Wie Prospero in seinem berühmten Monolog es fasst: „We are such stuff / As dreams are made on, and our little life / Is rounded with a sleep“68 – was nicht zuletzt und möglicherweise sogar noch mehr als fürs Theater für den Film und die „imaginären Signifikanten“ seiner Bilder und Figuren zutrifft69. War Ariel zuvor auch schon zu sehen, wie er gegen alle physikalische Möglichkeit (visuell aber ermöglicht durch das digitale imaging der graphic paintbox) mit seinem Finger eine Figur auf eine Wasseroberfläche zeichnet, so als wäre sie aus Sand, so war schließlich auch der ganze Film, platonisch gesprochen, „ins Wasser geschrieben“70 – es war nur ein Spiel, von dem nichts übrig geblieben ist, wie Prospero vorher bereits voraussagte: „These our actors, / As I foretold you, were all spirits, and / Are melted into air, thin air; / And like the baseless fabric of this vision, / The cloud-capped towers, the gorgeous palaces, / The solemn temples, the great globe itself, / Yea, all which it inherit, shall dissolve; / And, like this insubstantial pageant faded, / Leave not a rack behind“71 –

so wie die mangelnde Speicherfähigkeit der Kinoleinwand, die Bilder zwar sichtbar machen, aber nicht festhalten kann72, der mangelnden Spurenfähigkeit des Wassers entspricht, dessen Oberfläche sich immer automatisch wieder glättet und so auch alle Differenzen und Informationen tilgt, die einzuschreiben man versuchen will73. 14 Jahre nach PROSPERO’S BOOKS wird dieser Topos ganz im Doppelsinn des Englischen im Multimedia-Projekt WRITING ON WATER wieder aufgenommen, einer Aufführung zum zweihundertsten Jahrestag der Schlacht von Trafalgar im Oktober 2005 in London74, bei der Greenaway mit dem Komponisten David Lang und dem Kalligraphen Brody Neuenschwander zusammenarbeitete, der eben auch schon die Handschriften in PROSPERO’S 67

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Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel, in: ders.: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie und andere Schriften zum Kino. Herausgegeben von Jörg Schweinitz, Wien 1996, S. 29-106, S. 59. Shakespeare: The Tempest, IV.1, S. 1184. Vgl. Metz: Der imaginäre Signifikant, S. 45f. Plat. Phaid 276c. Shakespeare: The Tempest, IV.1, S. 1184. Vgl. Kittler: Optische Medien, S. 82f., 155. Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, S. 210. Die Premiere fand im Rahmen der Eröffnung der Lloyd's Nelson Collection Exhibition bei Lloyd's am 15. September 2005 statt, gefolgt von einer öffentlichen Aufführung in der Queen Elizabeth Hall am 29. Oktober 2005. Seither ist die Aufführung noch einmal am 16. Mai 2008 im Concertgebouw in Brügge wiederholt worden.

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BOOKS besorgt hatte. WRITING ON WATER war die Aufführung eines von David Lang komponierten Musikstücks durch das London Sinfonietta Orchestra, zu dem Greenaway aus Textstücken von Herman Melvilles MOBY DICK, Samuel Taylor Coleridges RIME OF THE ANCIENT MARINER und wiederum Shakespeares THE TEMPEST ein Libretto zusammengestellt hatte. Parallel zur orchestralen Aufführung des Stückes schrieb Neuenschwander Teile der Texte – Sätze, Satzteile, einzelne Wörter – mit verschiedenen Pinseln auf ein spezielles Transparentpapier, dessen Schriftbild über einen visualizer dann in Echtzeit über ebenfalls in Echtzeit per touchscreen von Greenaway montierte Video-Clips gelegt wurde, die wiederum Aufnahmen von sich bewegenden Wassern zeigten (es handelte sich dabei um dasselbe durch die Firma BeamSystems entwickelte System, das auch in den TULSE LUPER VJ PERFORMANCES zum Einsatz kommt), und deren composite images schließlich auf mehrere verschiedene Leinwände projiziert wurden; ein hochkomplexer Versuchsaufbau also, der es aber möglich machte, in je verschiedener Hinsicht auf je unterschiedliche Weise in je unterschiedlichen Medien mit, auf und über Wasser zu schreiben: „Writing on Water would always be an impossible piece of magic“, wie Greenaway dazu bemerkt, „but supported here with film, music and appropriated quotes from celebrated authors you might almost believe it could be done.“75

WRITIG O WATER: Greenaway am touchscreen, euenschwander am visualizer und das Orchester im multimedia environment 75

Zitiert nach: http://www.lloyds.com/News_Centre/Press_releases/Lloyds_unveils_ new_exhibition_to_celebrate_Nelson_bicentenary.htm (29.03.2009).

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Medium und Form, Operation und Beobachtung, Fiktion und Simulation Der Umstand, dass Medien nur an den durch sie ermöglichten Formen, nicht aber „an sich“ beobachtet werden können, lässt sich sehr schön daran verdeutlichen, dass in gewissem Sinne PROSPERO’S BOOKS ihm seine Entstehung überhaupt verdankt76: Anfang der Neunzigerjahre nämlich hatte die japanische Rundfunkgesellschaft NHK zwar ein nagelneues state of the art HDTV-equipment für digitale post-production angeschafft, aber keine Ahnung, was man damit denn nun alles anfangen könnte, so dass zum beiderseitigen Vorteil Greenaway die NHK-Einrichtungen kostenlos nutzen durfte, um ein erstes Referenzprodukt zu fertigen – auf dem freien Markt hätte schon allein die Studiozeit das komplette Filmbudget gesprengt! –, so dass es bei PROSPERO’S BOOKS also, wie Maurice Godelier über die Mythen sagt, zu einem Teil durchaus auch um die Eingliederung „objektiven Materials“, das „letztlich nur noch ein Alibi oder ein Vorwand zu sein scheint“, in einen „demonstrativen Diskurs“ formaler Möglichkeiten ging77. In diesem Sinn ist PROSPERO’S BOOKS dann auch vor allem eines: eine Selbstbeschreibung des digital cinema in seiner Beschaffenheit und seinen Möglichkeiten, die als solche dann sehr gut mit Andy und Larry Wachowskis THE MATRIX zu vergleichen ist, wobei neben ihren Gemeinsamkeiten gerade auch die Differenz der Filme instruktiv ist: Während der Prospero von PROSPERO’S BOOKS ein mehr oder weniger konventioneller Schriftmagier ist, so ist der Neo der MATRIX, mit Frank Hartmann, ein „Maschinenflüsterer“, der „den unbewussten maschinellen Code so beherrscht, dass er ihn sehr wohl zur souveränen Anwendung und damit zur Beherrschbarkeit bringen kann“78, und während in PROSPERO’S BOOKS das digital cinema sich als Nachfolger oder technische Realisierung eines mystifizierten literarischen Schriftmediums beschreibt, so in THE MATRIX dagegen als Vorstufe oder imaginäre Vorwegnahme einer ebenso mystifizierten „virtuellen Realität“; einmal als Zaubermärchen, einmal als science fiction thriller, wobei PROSPERO’S BOOKS an das Paradigma der „Dichtung als Ersatz sinnlicher Medien“ anknüpft79, THE MATRIX dagegen die mediale Ersetzbarkeit der Sinne selbst thematisiert: in PROSPERO’S BOOKS geht es um die „magische“ Herstellung von Bildlichkeit auf kognitiver, in THE MATRIX um die technologische Herstellung von Bildlichkeit auf neuronaler Ebene; Prosperos Magie überbrückt die Zeichenebene der Literatur, wenn seine schriftlich niedergelegten Imaginationen in den Zauberspiegeln direkt visualisiert werden, die Technologie der Matrix überbrückt den sensorischen Apparat des

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Vgl. Barker: A Tale of Two Magicians, S. 28. Godelier: Mythos und Geschichte, S. 313, 319. Hartmann, Frank: Vom Sündenfall der Software. Medientheorie mit Entlarvungsgestus: Friedrich Kittler, zitiert nach: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/ 6/6345/1.html (29.03.2009), o.S. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 138.

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Organismus, wenn ihr Informations-output direkt in Hirn und Nervensystem ihrer „Subjekte“ eingespeist wird80. Die „Realität“ von Prosperos Fiktionen lässt sich, in Anlehnung an Luhmann, in einem doppelten Sinne fassen: einerseits als der operative Prozess von Prosperos Fiktionsfertigungen (wie sie nur auf Grund der von ihr in Anspruch genommenen Technologie der Schrift auch möglich sind, insofern also gelesen und geschrieben wird), und andererseits als dasjenige, „was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint“81 – wofür es aber gerade im Fall der Literatur wiederum auch ein spezielles Medium erfordert. Dichtung nämlich, so Friedrich Kittler, „genießt in den Ästhetiksystemen eine Sonderstellung. Andere Künste definiert jeweils ihr sinnliches Medium (Stein, Farbe, Baustoff, Klang) [...] Gerade die Übersetzung anderer Künste in ein unsinnliches Medium macht Dichtung aus. Dieses Medium führt den Namen Phantasie oder Einbildungskraft. [...] Einbildungskraft ist eben der wunderbare Sinn, der uns alle Sinne ersetzen kann“82

und dessen Leistungsfähigkeit sich exemplarisch an Prosperos Buch #2 erweist: dem Book of Mirrors, in dem Prosperos Fiktionen auch erstmalig visuelle Gestalt annehmen: „Bound in a gold cloth and very heavy”, so seine Beschreibung, „this book has some eighty shining mirrored pages; some opaque, some translucent, some manufactured with silvered papers, some coated in paint, some covered in a film of mercury that will roll off the page unless treated cautiously. Some mirrors simply reflect the reader, some reflect the reader as he was three minutes previously, some reflect the reader as he will be in a year's time, as he would be if he were a child, a woman, a monster, an idea, a text or an angel. One mirror constantly lies, one mirror sees the world backwards, another upside down. One mirror holds on to its reflections as frozen moments infinitely recalled. One mirror simply reflects another mirror across a page. There are ten mirrors whose purpose Prospero has yet to define.“

Als schriftloses „Bilderbuch“, auf dessen Seiten nur verschiedene Spiegel befestigt sind, repräsentiert das Book of Mirrors zum einen den alten Topos vom Text als einem „Spiegel des Lesers“, der dessen „inneres Gesicht“ offenbart83, wie in neuerer Zeit dann Marcel Proust ihn auch noch einmal formuliert hat:

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Als Metapher vorbildloser computer generated imagery, in deren Herstellungsprozess, mit Lorenz Engell, der Computer auch die Kamera „ersetzt“ (Engell: Vom Widerspruch zur Langeweile, S. 200), so übrigens ein Postulat von Greenaway: „Get rid of the eye, go straight to the brain!“ (Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S.) Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 12ff. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 144ff. Vgl. Esposito, Elena: Fiktion und Virtualität, in: Krämer, Sybille (Hg.): Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt am Main 1998, S. 269-296, S. 288.

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System und Mythos „In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können“84,

wobei gerade als „optisches Instrument“ das Book of Mirrors zum anderen auch mithin ein Paradigma darstellt: das Paradigma nämlich des romantischen Lektüretechnik des „Verstehen – Vorstellen – Bilder halluzinieren“, in welcher der Buchstabe des Texts zu „überspringen“ ist, „bis irgendwo zwischen den Zeilen eine Halluzination erscheint“: das „reine Signifikat“ der alphabetischen Zeichen, die von diesem während der Lektüre selber „abfallen“ sollen „wie Schlacke“, so dass nur eine „optische Halluzinose“ übrigbleibt, kurz: in der es so zu lesen gilt „als wäre der Text ein Film“85. In dieser „magischen“ Transformation literarischer Schriftlichkeit zu filmischer Bildlichkeit aber stellt PROSPERO’S BOOKS nur dar, was nach Hugo von Hofmannsthal seit je Funktion des Kinos war: die Wandlung von der Ziffer zur Vision nämlich, die dem Rezipienten so keine abstrakten Schriftzeichen zumutet, sondern gewissermaßen als Ersatz für die Träume unmittelbar „erlebbare“ Bilder bietet86; eine Wendung, die, von Hofmannsthal 1921 mit Bezug auf den Stummfilm geprägt, natürlich auch noch eine andere Bedeutung annimmt, wenn 70 Jahre später im digital cinema nicht einfach Texte filmisch illustriert, sondern Bilder tatsächlich berechnet werden. Während jedoch der Text als master material von Prosperos Fiktionen immer präsent ist, verbirgt PROSPERO’S BOOKS zugleich, was ihm auch selber seine Bildlichkeit ermöglicht: die Schrift des digitalen Codes nämlich, wie sie als master material der Illusion dann in THE MATRIX dargestellt wird (wobei dann auch ein „Rückfall“ festzustellen ist, wenn Cypher aufgrund der beschränkten Kapazitäten des image translator-Systems die Matrix nicht als virtual reality-Simulation, sondern im data shower ihres Quellcodes betrachtet – und sich prompt das romantische Lektüreparadigma „optischer Halluzinose“ wiedereinstellt: „You get used to it“, so Cypher, „I don't even see the code. All I see is blonde, brunette, redhead“ – wobei auch die Woman in the Red Dress, der Neo in einer Trainingssimulation begegnet, als Kreation des Programmierers Mouse keine andere Existenz hat als der Boatswain, mit dessen Aufruf Prospero sein Drama beginnt). Schließlich aber identifizieren sich PROSPERO’S BOOKS wie auch THE MATRIX beide mit der Illusionsmaschinerie, die sie selbst darstellen, indem sie ihre Bildstörung simulieren und in der Störung erst als Medium erkenntlich machen – THE MATRIX zeigt komplett das Bild ausfüllend numerischen Code als system failure eines Bildausfalls, und PROSPERO’S BOOKS erweist die Kinoleinwand selbst als größten aller Zauberspiegel, dessen frame man nicht beachtet hat und im Zerspringen erst bemerkt.

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Proust, Marcel. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 10: Die wiedergefundene Zeit, Frankfurt am Main 1979, S. 3996. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 88, 106, 142, 147; Assmann: Erinnerungsräume, S. 190f. Hofmannsthal, Hugo von: Der Ersatz für die Träume, in: ders.: Gesammelte Werke in 10 Einzelbänden. Band 9: Reden und Aufsätze 1914-1924, S. 141-145, S. 141f.

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Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS

PROSPERO’S BOOKS / THE MATRIX : Illusionsmaschinerien im simuliertem Absturz

Dabei sind THE MATRIX und PROSPERO’S BOOKS natürlich nur Fiktionen der Simulation: ist diese ja nach Baudrillard dadurch gekennzeichnet, dass zwischen „Imaginärem“ und „Realem“ nicht mehr zu unterscheiden ist87, kann innerhalb der Fiktion diese Unterscheidung zwar beliebig kollabieren; sie muss aber intakt bleiben, wenn die Fiktion selbst zu unterscheiden ist – von einer filmexternen Wirklichkeit etwa, in der es keine multiple frameoder auch bullet time-Effekte wahrzunehmen gibt. Eine solche Simulation aber, in der auch Kunst nicht mehr als Kunst erkennbar wäre, ist weder als „Verblendungszusammenhang“ noch auch als „second life“ für Greenaway von Interesse: „We need virtual unreality, not virtual reality.“88

Technologien des Imaginären Jedes Medium, so Lorenz Engell, „macht etwas Bestimmbares vorstellbar, es greift in unseren Imaginationshaushalt ein. Medien sind auch stets implizit begriffen worden als ihrerseits technisch verfertigte und bedingte Fiktionen, wie als Instanzen der Vorstellungsproduktion, als Apparate und Dispositive der Utopien, der Phantasiemaschinen, als Traumfabriken, als Wunschmaschinen, kurz, die Techniken und Technologien des Imaginären.“89

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Baudrillard: Die Präzession der Simulakra, S. 10, 51. Zitiert nach: Alemany-Galway / Willoquet-Maricondi (Hg.): Peter Greenaway’s Postmodern / Poststructuralist Cinema, S. 1. Engell, Lorenz: Technologien des Imaginären, in: ders.: Ausfahrt nach Babylon, S. 207-229, S. 208f.

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System und Mythos

Für PROSPERO’S BOOKS liegt diese „Phantasiemaschine“ in der graphic paintbox der Firma Quantel, der hardware-Implementierung eines digital paint program, so wie Ariel die Allegorisierung der Phantasie in einer Dramenfigur ist – und, wie man wohl sagen kann, die Personifikation der paintbox selbst, wenn die Imagination, mit Flusser, vom Menschen in die Apparate ausgelagert ist, um dort perfektioniert zu werden90: so wie die Einbildungskraft der „wunderbare Sinn“ ist, der „alle Sinne ersetzen kann“91, so ist der Computer dasjenige Medium, dass alle anderen Medien emulieren kann, und so wie Prosperos Schrift die Wörter in „optisch-akustische Halluzinationen“ verzaubert92, so schreibt der Digitalcode Bilder und Töne, Schrift und Sprache gleichermaßen93 – „als ob sich die Einbildungskraft verselbstständigt hätte“ und „man den eigenen Träumen von außen zusehen könnte“94 (so Flusser). Solchermaßen also in der Figur des Ariel verdichtet, lässt sich in PROSPERO’S BOOKS auch sehen, wie, mit Nietzsche, unser Schreibzeug selbst an unseren Gedanken mitarbeitet95 – vollkommen deutlich etwa dann, wenn in der Niederschrift von Prosperos Drama Ariel selbst die Federführung übernimmt und mit eigener Hand in Prosperos Buch schreibt, unmittelbar bevor auch Prospero der Magie abschwört und sein Schreibgerät zerbricht. Ohne aber über Ariel gebieten zu können, ist alle Zaubermacht für Prospero dahin: „Now my charms are all o’erthrown, / And what strenght I have’s mine own, / Which is most faint. [...] Now I want / Spirits to enforce, art to enchant; / And my ending is despair / Unless I be relieved by prayer.“96

Mit Sigmund Freud ließe sich Prospero so als „Prothesengott“ beschreiben: „recht großartig“ also, wenn er seine „Hilfsorgane“ anlegt – und recht jämmerlich dann ohne sie, wie Friedrich Kittler Freud ergänzt97. Was aber Prospero sein Ariel, ist Greenaway die graphic paintbox: „For Greenaway“, so Peter S. Donaldson, „the [electronic] technologies [...] are analogs of Prospero’s generative magic. [...] Prospero is a double for Greenaway, the digital cinema artist, as much as for Shakespeare the playwright“,

was dann zugleich auch einen historischen Bezug zwischen der Zeit Shakespeares und der Gegenwart des späten 20. Jahrhunderts möglich mache:

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Flusser, Vilém: Bilderstatus, in: ders.: Medienkultur, S. 69-82, S. 73. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 146. Ders.: Grammophon Film Typewriter, S. 247. Assmann: Erinnerungsräume, S. 211. Flusser: Eine neue Einbildungskraft, S. 123f. Nietzsche: Brief an Heinrich Köselitz. Shakespeare: The Tempest, V.1. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Gesammelte Werke. Band 14: Werke aus den Jahren 1925-1931, S. 419-506, S. 451; Kittler: Optische Medien, S. 22.

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Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS „By associating Prospero’s ,magic‘ with the ability of the new medium of digital cinema to create enhanced illusions of life, Greenaway recasts central questions of the play in contemporary terms. And by associating his own electronic medium with earlier wonder-working technologies [...] the film suggests that we are still living in the era of Renaissance magic“98 –

wobei allerdings hinzuzufügen ist, dass zur Zeit der Renaissance Magie und Wissenschaft überhaupt auch erst begannen, sich gegeneinander auszudifferenzieren99. Was heute hingegen „an den Medien als Magie erscheint“, so Michael Wetzel, „ist letztlich nichts anderes als Nachrichtentechnik, die als funktionales Moment den Geräten eingeschrieben ist“100 – aber gerade damit ein modernes Arcanum, wenn es Kennzeichen der Apparate ist, dass sie, mit Flusser, funktionell zwar sehr einfach sein mögen, strukturell aber komplex sind: „Die Bedienung ist einfach, aber die Gründe, warum die Kiste funktioniert, sind undurchsichtig.“101 Gerade der Computer ist in diesem Sinne ja mit Luhmann als eine „unsichtbare Maschine“ zu verstehen, an die sich „oberflächlich“ zwar Befehle richten lassen, etwas zu tun oder sichtbar zu machen, die sich selber dabei aber aller Sichtbarkeit entzieht, insofern ihre internen Abläufe schlicht nicht mehr nachvollziehbar sind102 – die technischen Medien sind so vor allem auch black boxes, und wenn auch Greenaway die Möglichkeiten eines Mediums ausdrücklich und sehr eng mit seiner technischen Verfasstheit koppelt („a medium is governed and shaped and perceived by the characteristics of its technology“103), so schränkt er die Rolle der Technik dann allerdings auch schnell wieder als relativ auf ihre Verwendung ein, wie er gerade an der graphic paintbox herausstellt, die er vor allem als medientechnische Verstärkung ganz traditioneller Künste sieht: „This machine, as its name suggests, links the vocabulary of electronic picture-making with the tradition of the artist’s pen, palette and brush, and like them permits a personal signature. [...] Its potential, as always, depends on the audacity, imagination and pictorial sophistication of the user“104,

von dem ansonsten aber scheinbar nichts verlangt wird, und vor allem (was vielleicht das Beste ist): „no special technical ability is necessary to operate the machine“105. Dabei hält Greenaway die elektronischen Medien augenscheinlich für ganz traditionelle Werkzeuge: 98

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Donaldson, Peter S.: Shakespeare in the Age of Post-Mechanical Reproduction, in: Boose, Lynda E. / Burt, Richard (Hg.): Shakespeare, the Movie. Popularizing the plays on film, TV, and video, London 1997, S. 169-185, S. 169ff. Vgl. Vickers (Hg.): Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance. Wetzel, Michael: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Von den literarischen zu den technischen Medien, Weinheim 1991, S. 91. Flusser: Kommunikologie, S. 200; vgl. ders.: Für eine Phänomenologie des Fernsehens, S. 106. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 304. Vgl. Baecker: Niklas Luhmann in der Gesellschaft der Computer, S. 129f. Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S. Ders.: Prospero’s Books, S. 28. Ebd., S. 28.

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System und Mythos „The actual technology per se doesn’t necessarily make a product that is valuable, of course; it’s the imagination and resources that are put into it. And you have to be careful that it doesn’t become all technology and nothing else. Technology should just be the tool, not the master“106,

so wie ja auch für das Verhältnis von Prospero und Ariel die klare Hierarchie von „slave“ und „master“ gilt. Dass aber in diesem Sinne „die Maschine als Sklavin den Menschen für die schöpferische Tätigkeit befreien wird“, malt sich nach Flusser nur noch der „fortschrittsgläubige Optimismus“ weiter aus107: Obwohl Greenaway selbst ständig predigt, dass es zu einer von ihm selbst als dringend notwendig angesetzten Neuerfindung des Kinos weder alten Wein in neuen Schläuchen noch auch neuen Wein in alten Schläuchen, sondern neuen Wein in neuen Schläuchen bräuchte108, so ist es doch, mit Geoffrey Winthrop-Young, gleichwohl nur schwer möglich, in seiner „fortgesetzten Betonung der Wichtigkeit des Künstlerischen bzw. der Freisetzung menschlicher Kreativität durch neue Möglichkeiten“ nicht auch den Versuch zu sehen, „alte Ideen von Originalität, Subjektivität und Schöpferkraft in eine neue Medienlandschaft einzuschmuggeln, die schon auf technischer Ebene diese Ideen verbietet, weil die Eigenlogik der Apparate den Menschen an den Rand drängt“109,

indem etwa die Rolle des Subjekts oder Bewusstseins auf diejenige eines „Unterbrecherkontaktes“ oder auch der „klickenden Instanz“ beschränkt wird110: Wenn Greenaway Prosperos Schreibfeder als „precursor of the electronic stylus“ beschreibt111, mit welchem er als human interface device eines pen tablet auf der paintbox operiert, so ist dazu festzuhalten, dass im Unterschied zu Prosperos Befehlen Greenaways Befehle ja eben nicht schriftlich erfolgen und Greenaway am graphic user interface die Schrift vielmehr entzogen ist – wie immer er dem, was sich „in der Maschine schreibt“, über das Eingabegerät auch seine „Handschrift“ zu geben versuchen mag112. Während er all seine Künstler-Figuren – mit Ausnahme eben Prosperos – durchgehend an genau denjenigen „magischen Spielen“ zugrundegehen lässt, die sie irrig zu beherrschen glauben113, so scheint es für Greenaway selbst jedenfalls keinen Grund zu geben, im Umgang mit den neuen Medien seine eigene Souveränität als tool master und „Werkzeugherr“ nur irgend auch in Frage zu stellen114: Greenaway, der ja nach eigener Aussage vor allem die von ihm selber sogenannte laptop generation ansprechen will und auch 106 107 108 109 110 111 112 113 114

Zitiert nach: Weidle: Manierismus und Manierismen, S. 123. Flusser: Gesten, S. 34. Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S. Winthrop-Young: Friedrich Kittler zur Einführung, S. 98. Wetzel: Die Enden des Buches, S. 88; Fuchs: Die konditionierte Koproduktion von Kommunikation und Bewusstsein, S. 106, Anm. 32. Greenaway: Prospero’s Books, S. 32. Vgl. Wetzel: Die Enden des Buches, S. 88f. Flusser: Kommunikologie, S. 200; ders.: Für eine Phänomenologie des Fernsehens, S. 106. Winthrop-Young: Friedrich Kittler zur Einführung, S. 144.

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Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS

ansonsten zu betonen niemals müde wird, die neuen Medientechnologien seien wie geradewegs für ihn allein erfunden worden115, betrachtet Technik offenbar vor allem als kausale Simplifikation und als Entlastung116, um ganz wie Prospero mit Ariel die praktische Umsetzung seiner Projekte an „dienstbare Geister“, d.h. technologisch kundige Spezialisten zu deligieren, in deren Händen sie ihn weiter auch nicht mehr zu kümmern braucht – wobei der Nimbus eines „Propheten der Medienrevolution“117, mit dem sich Greenaway ja gern umgibt, offenbar von einem Defizit an praktischer Medienkompetenz auch kontrastiert wird, wie etwa Greenaways einstmalige Assistentin Eliza Poklewski Koziell zu erzählen weiß: „Mentally, he’s light years ahead, but the other day he called me at midnight because he couldn’t get into his e-mail.“118

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Vgl. in einiger Zurückhaltung noch etwa Spieler, Reinhard: CD-ROM im OmnimaxFormat. Interview mit Peter Greenaway, in: Kunstforum International 133(1996), S. 281-287, S. 285: „[Manchmal] kommt es mir [...] so vor, als hätte man die CDROM speziell für mich erfunden“, oder schon bestimmter Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S.: „I think that the DVD is invented just for me“ – wobei dann allerdings hinzuzufügen ist, dass die allermeisten DVD-releases von Greenaways Filmen leider nur vollkommen gewöhnliche, sehr sparsame, nachgerade erbärmliche oder auch überhaupt gar keine DVD-gemäßen special features aufweisen, so dass Greenaways Aussage vielleicht auch der in A ZED AND TWO NOUGHTS geäußerten Ansicht beizustellen wäre, nach der der Buchstabe Z speziell für Zebras erfunden worden sei. Vgl. Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos, Berlin / New York (NY) 1991, S. 97f.; Halfmann, Jost: Kausale Simplifikation. Grundlagenprobleme einer Soziologie der Technik, in: ders. / Bechmann, Gotthard / Rammert, Werner (Hg.): Technik und Gesellschaft. Jahrbuch 8: Theoriebausteine der Techniksoziologie, Frankfurt am Main 1995, S. 211-226; ders.: Technik als Medium, in: Burkart / Runkel (Hg.): Funktionssysteme der Gesellschaft, S. 223-238; Japp, Klaus P.: Die Technik der Gesellschaft? Ein systemtheoretischer Beitrag, in: Rammert, Werner (Hg.): Technik und Sozialtheorie, Frankfurt am Main 1998, S. 225-244. Nitsche: Hitchcock – Greenaway – Tarantino, S. 133. Zitiert nach: Tanner, Mike: The Auteur, the Hype, His Aide, Her Skepticism, zitiert nach: http://www.wired.com/culture/lifestyle/news/1997/05/3937 (29.03.2009), wie augenscheinlich Greenaway auch überhaupt die Beschäftigung mit dem Internet zu einem Gutteil an seine Assistentin deligierte – nicht zuletzt (und durchaus erstaunlicherweise) auch deshalb, weil Greenaway das schlicht zu langweilig ist: „After a while it does become sheer exhausting, the banality and boredom of it all is like listening to people's late night radio conversations.“ (zitiert nach Luksch, Manu: The Medium is the Message. Interview with Peter Greenaway, zitiert nach: http://zakka.dk/euroscreenwriters/interviews/peter_greenaway_02. htm (29.03.2009))

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System und Mythos

Die Rückkehr des Autors? Welche Rolle spielt die Hauptfigur von PROSPERO’S BOOKS, wenn nicht die eines „Regulators des Fiktiven“119? Im Drehbuch jedenfalls bezeichnet Greenaway den Status Prosperos mit vielen Namen: „omnipotent magician“, „master manipulator“, „prime originator“, „inventor“, „writer“, „playwright“, „dramatist“, nur mit einem nicht, von dem man doch annehmen könnte, dass er alle vorigen miteinbegriffe: demjenigen des Autors nämlich, so dass es beinah scheint, als würde hier ein großes Wort gelassen ausgelassen – was nur umso erstaunlicher ist, als dass der Film dann selber wie kein zweiter die Foucaultsche Frage provoziert: Was ist ein Autor? Wenn, Ingo Stöckmann und Niels Werber zufolge, bei aller Konfusion nach zwei Jahrtausenden der Arbeit am Begriff im aktuellen Theorieangebot wenigstens der Literaturwissenschaft zur Frage des Autors im Grunde nur die Auswahl zwischen zwei diametralen Positionen möglich ist, nämlich einer hermeneutischen und damit mehr oder weniger traditionellen, die relativ unbeirrt am direkten Zusammenhang von Leben und Werk eines Autors festhält, und einer antihermeneutischen und damit im weitesten Sinne (post-)strukturalistischen, die mit Hinweis auf die Subjektlosigkeit der Sprache den Autor schlicht für tot erklärt120, so lässt sich Greenaways Darstellung Prosperos weder dem einen noch dem anderen Lager zuordnen, sie findet aber auch keinen „dritten Weg“, der irgendwie „zwischen“ diesen Positionen verliefe oder sie auch gar synthetisch aufhöbe – sie macht den Begriff vielmehr zur Aporie, indem er die Souveränität des Autors ebenso zur Geltung bringt wie seine Abhängigkeit und seine Apotheose ebenso inszeniert wie seine Liquidierung, so dass auf die Figur von Greenaways Prospero etwa die genieästhetische Unterscheidung von „Original-Genie“ und „gelehrsamem Nachahmer“ ebensowenig anwendbar ist wie die (post-)strukturalistische von „Autor“ und „Schreiber“. Wie der exemplarische Versuch einer Applikation der Kriterien von Edward Youngs GEDANKEN ÜBER DIE ORIGINALWERKE und Roland Barthes’ DER TOD DES AUTORS zeigt, ist Prospero einerseits unmöglich als ein „Original-Scribent“ zu sehen, welcher ohne alle Referenzen als „sein eigener Stamm-Vater“ allein „den edeln Titul des Autors“ ja verdiente121, wie er aber andererseits als genau der „Autor-Gott“ auftritt, gegen den Barthes seine Kritik richtet122. Obwohl seine Macht genau wie die des Barthes’schen „Schreibers“ nur darin besteht, „die Schriften zu vermischen“123, ist Prospero mit Young doch gleichwohl unumschränkter „Meister des Werks“124, der kraft seiner „schöpferischen Gewalt“ nicht nur „willkürlich über sein Reich von Chimären herrschen“ kann125, sondern auch sein Publikum vollkommen in der Gewalt hat: „die Feder eines Original-Scribenten“, so Young, „ist

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Foucault: Was ist ein Autor?, S. 229. Vgl. Stöckmann / Werber: Das ist ein Autor!, S. 233ff. Young, Edward: Gedanken über die Originalwerke, Heidelberg 1977 (Reprint der Ausgabe Leipzig 1760), S. 48f., 59. Ebd., S. 190. Barthes: Der Tod des Autors, S. 185. Young: Gedanken über die Originalwerke, S. 27. Ebd., S. 36.

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Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS

gleich Armidens Stabe“126, so dass der Leser nicht mehr selber denkt, bis dass „der Zauberer die Feder niederleget“, um aus dem Traume dann „zu bloßen Realitäten“ wiederzuerwachen und, wie Caliban, den Wechsel zu beseufzen127. Mag mit Barthes die Schrift den Ursprung jeder Stimme zerstören, so kann es in PROSPERO’S BOOKS doch niemals einen Zweifel darüber geben, wer spricht128; und während bis auf Buch #8 (das apokryphe Vesalius’s Lost Anatomy of Birth) ansonsten keine von Prosperos Büchern mit einer Autorangabe versehen sind (nur das Buch #15 enthält als A Book of Utopias passenderweise ein Vorwort von Thomas Morus), so trägt das Book of Thirty-Five Plays ausdrücklich auch nicht nur den Namen, sondern zudem auch noch das Konterfei von William Shakespeare, der wörtlich auch als Autor addressiert wird: „This is a thick, printed volume of plays dated 1623. All thirty-six plays are there save one - the first. Nineteen pages are left blank for its inclusion. It is called The Tempest. The folio collection is modestly bound in dull green linen with cardboard covers and the author's initials are embossed in gold on the cover - W.S.“

Zwar ereignet sich der „Tod des Autors“ in PROSPERO’S BOOKS tatsächlich, ja er ereignet sich als Selbstmord, oder, mit McLuhan: als mediale Selbstamputation129, indem Prospero im Sturm der Schriften von seiner eigenen Feder die Kehle durchschnitten wird, indem das von eigener Hand geführte Instrument der Schrift als der Entkörperlichung der Sprache das Organ der Stimme zerstört und der „Autor“ damit buchstäblich entleibt wird, doch ist dieser „Tod des Autors“ gleichwohl nur Phantasma, das Prospero den textgeboren- und -gebundenen Figuren Caliban, Trinculo und Stephano zugesteht, die sich in seiner Geschichte natürlich erfolglos gegen ihn auflehnen. Der „Tod des Autors“ bleibt in seiner Inszenierung so wie alles andere Fiktion, ja eine Fiktion zweiter Ordnung: der Tod des Autors wird vom Autor selbst fingiert, ist selbst nur eine seiner eigenen Fiktionen.

PROSPERO’S BOOKS: Der Tod des Autors – von diesem selber nur fingiert

126 127 128 129

Ebd., S. 16. Ebd., S. 18. Ebd., S. 185. Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 61.

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System und Mythos

A Tale of Two Magicians Dabei bezieht PROSPERO’S BOOKS bei allen dekonstruktivistischen Tendenzen und Raffinements seine Interpretation von Shakespeares TEMPEST auch zu einem Großteil gerade aus der hermeneutisch ganz traditionellen „Identifikation von Werkbedeutung und Autorbiographie“, nach welcher aus dem Leben eines Künstlers auch sein Werk nur zu verstehen sei130: „Prospero, omnipotent magician, inventor and manipulator of the characters, can be conceivably appreciated as a Shakespearean self-portrait. Prospero is the last major role that Shakespeare invented, reputedly, in the last complete play that he wrote, and there is much, both in the character and in the play, that can be understood as a leave-taking of the theatre and a farewell to the role-playing and the manufacturing of illusion through words.“131

Portraitiert Greenaway seinen Prospero nun als alter ego Shakespeares – „at times they are indivisibly one person“132 – so erstreckt sich diese „deliberate cross-identification“ zwischen Figur und Autor natürlich auch auf Greenaway selber: Donald S. Peterson zufolge ist der Prospero von PROSPERO’S BOOKS „a double for Greenaway, the digital cinema artist, as much as for Shakespeare the playwright“133, wie Jonathan Romney ihn auch entsprechend in die lange, mit Greenaways alter ego Tulse Luper beginnende Reihe der Künstlerfiguren und magister ludi seiner Filme stellt – „all figured as projections of Greenaway’s own self-questioning aspirations to transcendental authorship“134. Der fragliche Autor-Status Greenaways aber ist dabei nur ambivalent zu werten: „The name ,Greenaway‘“, so Mary Alemany-Galway und Paula Willoquet-Maricondi, „is undeniably associated with authorship, with the director as author, and with ,signature‘ films“135, wobei Greenaway selber allerdings den geläufigen Begriff des filmischen auteur in einem ebenso wie PROSPERO’S BOOKS im Jahre 1991 erschienenen Interview weit von sich weist und kurzerhand dorthin zurückschickt, woher François Truffaut ihn 1954 noch entlehnte, nämlich an die Literatur136: 130

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Martinez, Matias: Einleitung zu Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: ders. / Jannidis / Lauer / Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 181-184, S. 181; Gadamer: Wahrheit und Methode, S. 67. Greenaway: Prospero’s Books, S. 9. Ebd. Donaldson: Shakespeare in the Age of post-mechanical Reproduction, S. 171. Romney, Jonathan: Prospero’s Books, in: Sight & Sound 5(1991), S. 44-45, S. 45. Alemany-Galway / Willoquet-Maricondi: Preface, S. VII. Truffaut, François: Fünfzig Jahre französischer Film, in: ders.: Die Lust am Sehen, S. 56-60, S. 59: „Indem ich auf das Kino eine Erklärung des Schriftstellers Jean Giraudoux anwandte – ,Es gibt keine guten Theaterstücke, es gibt nur gute Autoren‘ –, entwarf ich zu dieser Zeit gemeinsam mit meinen Freunden von den Cahiers du Cinéma die Theorie der ,Autorenpolitik‘, mit der wir jene Filmemacher rehabilitieren wollten, die sich sehr eng am Schreiben der Drehbücher der Filme, bei denen sie Regie führten, beteilgten, jene, die sich ,in der ersten Person‘ ausdrückten [...].“ Vgl. Kamp, Werner: Autorkonzepte in der Filmkritik, in: Jannidis, Fotis / Lauer, Gerhard / Martinez, Matias / Winko, Simone (Hg.): Rückkehr des

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Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS „The word ,auteur‘ has acquired – perhaps from those who are frightened of it – dangerous overtones of indulgence. After all, it means no more than ,author‘. You can – without fear or argument – use the word to describe the maker of a novel“137 –

wobei natürlich anzunehmen ist, dass Greenaways Zurückweisung des Begriffs nicht etwa deswegen erfolgt, weil er gattungsmäßig oder medienspezifisch so vollkommen fehl am Platze wäre, sondern vielmehr aus der in den 37 Jahren seit Truffauts UNE CERTAINE TENDANCE DU CINÉMA FRANÇAIS zu gewinnen gewesenen Einsicht heraus, dass der Begriff des Autors schon innerhalb der Literaturwissenschaft inzwischen so belastet ist, dass man sich durch einen Begriffsimport noch weitaus mehr Probleme einhandelte als man an Dignität vielleicht gewönne – ganz abgesehen davon, dass die unbekümmerte Sorglosigkeit, wie sie Greenaway in anders als gespielt nicht vorstellbarer Naivität zur Schau stellt, wohl von keinem einzigen Literaturwissenschaftler mehr geteilt werden könnte138. Dabei zeigt sich Greenaway andernorts auch irritiert über den Status, den der Künstler als „Persönlichkeit“ genießt: „It has always surprised me that we live in democracies [...] but in a way our artistic practices are still oligarchic or monarchial or Renaissance based. We still worship Stravinsky, we still bow down to Corbusier, we still admire Mondrian. In a sense we still regard these as significant Renaissance figures, who have a sort of tyranny over our imagination“139 –

wenngleich dieser tyranny of the artist (der entsprechend den vier tyrannies of the cinema vielleicht noch die fünfte einer tyranny of the film-maker hinzuzufügen wäre140) auch durch eine Proklamation des „Todes des Autors“ nicht beizukommen ist, wie Greenaway an anderer Stelle erklärt: „Death of the author - it's a sort of French philosophical attitude of the last 60 years. But I think that the human psyche is always interested in a Stravinsky, a Picasso, a Corbusier - it's part of human nature. Someone who has the imagination and the discipline to concentrate and put forward imaginative ideas in one singular place and spend their lives doing it, there has always been a fascination for those people, so I don't really believe in the death of the author. Consider the other situation, practically everyone in the world has now got a camera and that camera's even associated with

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Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999, S. 441-464, S. 459: „Die Vorstellung des gestaltenden auteur als leitendes Prinzip in der Filmkritik stellt das Medium Film in den Kontext der klassischen Künste und macht die Künstlerpersönlichkeit, wie sehr sie auch in außerpersönliche Zusammenhänge verstrickt sein mag, zur rezeptionsleitenden Instanz.“ Hacker / Price: Discussion with Peter Greenaway, S. 210. Vgl. Stöckmann / Werber: Das ist ein Autor!, S. 233ff. Oosterling: Cinema of Ideas, S. 9. So jedenfalls Greenaway auf meine Anfrage hin im Rahmen seiner Thyssen-Lecture am 9. Februar 2007 in Berlin.

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System und Mythos the telephone that they hold to their ear, but there still are only about 100 good photographers in the world and that sort of situation will always be with us“141 –

die „kulturelle Stabilität des Autors“, die Ingo Stöckmann und Niels Werber feststellen142, erscheint in diesem Licht für Greenaway geradezu als „anthropologische Konstante“. Prospero ist als Gelehrter wie als Künstler wie als Magier, kurz: als das Bild des uomo universale und des „Renaissancemenschen“143 natürlich genau der artifex doctus, als den Greenaway sich nur zu gerne selber stilisiert144 und den er nachgerade zum Modell des Filmemachers macht, von welchem (wie übrigens dann dann auch vom Zuschauer!) genau das zu verlangen wäre, was auch Vitruv vom Architekten fordert145; doch während sämtliche seiner Figuren, die ja immer auch als Platzhalter für den Filmemacher fungieren146, sich immer mit den Problemen ihrer Autorschaft konfrontiert sehen (und zumeist daran zugrundegehen), zieht Greenaway sich selber dann sofort zurück, wann immer seine eigene Position zur Verhandlung steht – „let's keep me out of this!“147 –, wobei dann gerade auch zu fragen wäre, inwieweit ein Projekt, das wie Greenaways Filme zu einem Hauptteil in der Darstellung künstlerischen Scheiterns beinahe als Notwendigkeit besteht, dann selber als gelungen angesehen werden kann, oder, in Anknüpfung an Sigmund Freud und Peter Sloterdijk, ob die selbstzugefügte „Kränkung künstlerischer Eigenliebe“ sich nicht vielmehr durch einen Gewinn an „Aufklärungsnarzissmus“ kompensieren und so in ein Privileg ummünzen ließe148: „Greenaway“, so auch in diesem Sinne Amy Lawrence, „deconstructs the figure of the author at the very moment he is establishing himself as an auteur.“149

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Borley, Emma: Peter Greenaway in Interview, zitiert nach: http://www.bbc.co.uk/cambridgeshire/content/articles/2005/07/19/peter_ greenaway_full_interview_feature.shtml (29.03.2009), o.S. Stöckmann / Werber: Das ist ein Autor!, S. 234. Vgl. Garin, Eugenio: Der Philosoph und der Magier, in: ders.: (Hg.): Der Mensch der Renaissance, Frankfurt am Main / New York (NY) / Paris 1990, S. 175-214. Vgl. Kremer: Peter Greenaways Filme, S. 10f. Also eine die Musik, die Zeichenkunst, die Skulptur, Philologie, Philosophie, Geschichte, Geometrie, Optik, Astronomie und Astrologie, Mathematik, Medizin, Meteorologie und Jurisprudenz umfassende enkyklios paideia (Vitr. De architectura 1.1; vgl. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 15f.) „Perhaps THE BELLY OF AN ARCHITECT could have been called maybe The Belly of a Film Maker, THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT could have been called maybe The Film Maker’s Contract.“ (zitiert nach: Woods: Arts of Painting, S. 131.) Zitiert nach: Hawthorne: Flesh And Ink, o.S. Vgl. Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse; Sloterdijk, Peter: Kränkung durch Maschinen. Zur Epochenbedeutung der neuesten Medizintechnologie, in: ders.: Nicht gerettet. Versuche nach Heidegger, Frankfurt am Main 2001, S. 338-366, S. 345ff. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 17.

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Konstruktion und Illusion: PROSPERO’S BOOKS

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Greenaways Autorenbild, so wie es gerade auch in PROSPERO’S BOOKS entworfen ist, sich zwischen Souveränität und Hybris, Genialität und Technik, Werkherrschaft und Subjektschwund in einem Spannungsfeld nicht aufhebbarer Widersprüche einrichtet – wofür Sidney Homan zufolge allerdings auch gerade Shakespeare wiederum das Modell abgeben kann: „Shakespeare held many and various notions about his profession, a healthy bag of conflicting ideas rather than a single-minded notion.“150

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Homan, Sidney: When the Theater Turns to Itself. The Aesthetic Metaphor in Shakespeare, East Brunswick (NJ) 1981, S. 43.

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09 Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES (2003ff.)

„There is no history, there are only historians“: Was ist und wie wird Geschichte hergestellt (und dann verbindlich gemacht oder auch „geretcont“) – sei es die Geschichte des 20. Jahrhunderts, eine Systemgeschichte oder die Geschichte eines Mediums? Wie lassen sich historische Fakten und Fiktionen unterscheiden, wenn, mit Isaiah Berlin, „history is what historians do“ und dann mit Oscar Wilde „the proper occupation of the historian“ darin besteht „to give an accurate description of what has never occured“? Wie hätte jede historiographische Erzählung immer auch anders erfolgen, immer auch anders gemacht werden können – und in welchem Medium könnte sie stattfinden? In einem Buch oder in einem Film, in einer Ausstellung oder auf einer DVD, über eine website oder als Computerspiel? Und sollte man die Auswahl der medialen Form der Repräsentation von Vergangenheit schließlich davon abhängig machen, ob das jeweilige Medium selbst noch eine Zukunft hat? Das multimediale Großprojekt THE TULSE LUPER SUITCASES nimmt Greenaways in A WALK THROUGH H, VERTICAL FEATURES REMAKE und THE FALLS begonnenen „Myth of Tulse Luper“ wieder auf, indem ein internationaler Forscherverbund die Lebensgeschichte dieses „außergewöhnlichen Mannes“ rekonstruieren will, um dadurch die „wahre atur des 20. Jahrhunderts“ zu ergründen. Da diese „atur“ aber vor allem im Kino begründet liegt, das Jean-Luc Godard zufolge das 20. Jahrhundert „existieren ließ“, so leistet THE TULSE LUPER SUITCASES entsprechend vor allem eine Selbsthistorisierung des „Systems Greenaway“ sowie, gewissermaßen als Beitrag einer Sorge des Kinos um das Überleben seiner eigenen Evolution, eine Selbstaufhebung des Kinos in seinem Umbau zu einem digital cinema, indem es nichts weniger als „the first masterpiece bench mark of the new visual technologies“ des 21. Jahrhunderts markieren soll: „the first new media masterpiece“.

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System und Mythos „Past events, it is argued, have no objective existence, but survive only in written records and in human memories. The past is whatever the records and the memories agree upon.“ George Orwell, NINETEEN EIGHTY-FOUR

„Anybody can make history. Only a great man can write it. [...] The one duty we owe to history is to rewrite it.“ Oscar Wilde, THE CRITIC AS ARTIST

„L’art du dix-neuvième – le cinéma – fit exister le vingtième qui par lui-même exista peu.“ Jean-Luc Godard, HISTOIRE(S) DU CINEMA

Im Jahre 2003 stellt Greenaway im Rückblick auf sein bisheriges Schaffen für seine frühen Filme fest: „Truffaut once said that a film-maker always gives himself away with his first film, and my early films certainly set up all the leitmotivs, recipes, agendas, obsessions and fascinations of all the subsequent years of film-making“,

die Greenaway dann im Begriff des catalogue movie zusammenfasst: „Most of the subsequent movie-making for me is structured around a list or a catalogue - where the items or events or ideas are approached, ticked off and moved on - using narrative if necessary, using chronological time if necessary, but always essentially fulfilling the obligations of completing a list that is introduced in some form of originating prologue, with the unspoken but clear declaration that what you are about to see is more of the condition of how than what.“1

Von diesen frühen Filmen aber schließlich sei THE FALLS „the ultimate one“ gewesen – „the encyclopedia that would bring everything together“2: „a disparate collection of anecdotes, facts, apocrypha, fictions, visual, musical and aural fragments, incomplete projects, unfinished films, present concerns and future intentions“3 –

und die ihrerseits nun eine Neuauflage zu erfahren im Begriff sei:

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Zitiert nach: http://greenaway.bfi.org.uk/intro.php?isec=about-greenaway-words (29.03.2009). Zitiert nach: Rodman, Howard A.: Anatomy of a Wizard, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 120-128, S. 121. Greenaway: The Falls. Synopsis, o.S.

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Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES „THE FALLS is the magnum opus of this time, now recreated in essence with all the new technologies of the 21st century in THE TULSE LUPER SUITCASES - a project of peripatetic, picaresque encyclopaedia. I had always vowed to remake this essay every ten years - a goodly time to update a directory [...] and now it's 2003 and time to make a remake.“4

In einer Art Selbstanwendung des Prinzips aus VERTICAL FEATURES REMAKE also ist in THE TULSE LUPER SUITCASES gewissermaßen eine Art von remake von THE FALLS zu sehen, und war dieser Film schon mehr als Demonstration von 92 ways to make a film denn als geschlossene Geschichte angelegt5 – „perhaps [...] it is less a directory than an inventory of audio-visual possibilities“6, so Greenaway –, so trifft dies auf THE TULSE LUPER SUITCASES als „visual catalogue“ eines digital cinema à la Greenaway auch noch einmal in vollem Maße zu7. Gewissermaßen in Nachfolge des Ausstellungskatalogs von HUNDRED OBJECTS TO REPRESENT THE WORLD, der sich auch selbst als Exponat enthält, lassen sich THE TULSE LUPER SUITCASES so verstehen als ein Katalog der Kataloge, der selber in sich selber noch verzeichnet ist8 – der wirklich ultimative catalogue movie Greenaways, ein gigantischer Mythos in Form einer gigantischen Liste9, der in einer nachgerade hegelhaften Wendung auf sich selbst seine Vollendung fände, wenn das möglich wäre; in ihrer expliziten Selbstreflexivität jedenfalls erlauben die TULSE LUPER SUITCASES dem Betrachter, mit Friedrich Schelling, Greenaways kinematographischer Mythologie in ihrer „Selbstentwicklung“ nachzufolgen, die sie sich selbst noch einmal vorführt, d.h. eine Beobachtung dritter Ordnung als Beobachtung einer „sich selbst erklärenden Mythologie“10.

Lebens- und Totalgeschichten „In the last century“, so die Einführung von THE TULSE LUPER JOURNEY, dem online game-Segment der TULSE LUPER SUITCASES,

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Zitiert nach: http://greenaway.bfi.org.uk/material.php?theme=1&type=Greenaway& title=falls (29.03.2009). Smith: Food for Thought, S. 99. Greenaway, Peter: Plans and Conceits ... of Doubtful Authenticity, London 1982, zitiert nach: http://www.petergreenaway.org.uk/falls.htm (29.03.2009). „Ultimately“, so dazu auch Lev Manovich, „a digital film becomes a list of different effects.” (Manovich: The Language of New Media, S. 236, 242.) Vgl. Luhmann: Sthenographie und Euryalistik, S. 60. Zum listenförmigen Mythos in der Antike etwa als Träger von „Geschichten von Inzest und Mord“ vgl. Lambert, Wilfried George: Der Mythos im Alten Mesopotamien, sein Werden und Vergehen, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 26(1974), S. 1-16, S. 10ff. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Mythologie, in: ders.: Sämmtliche Werke. Band II.2, Augsburg / Stuttgart 1857, S. 138f.

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System und Mythos „an extraordinary man called Tulse Luper archived his entire life in 92 suitcases. Although his life is still a mystery, we know that he was present at key historical events. Spending his life as a professioal prisoner, he managed to collect a large amount of objects and store them in suitcases. In a way, the suitcases represent the world according to Tulse Luper. By gathering and researching the suitcases, we hope to reconstruct Tulse’s life and through that discover the true nature of the 20th century.“11

Wenn, einer damaligen Filmkritik zufolge, Greenaways PROSPERO’S BOOKS eine Art „TERMINATOR 2 for the art-house circuit“ darstellt12, dann sind THE TULSE LUPER SUITCASES gewissermaßen FORREST GUMP – eine fiktionale Verschränkung von besonders „schwacher“, d.h. biographisch-anekdotischer Geschichte mit besonders „starker“, d.h. Welt- oder „Totalgeschichte“13: wie schon in VERTICAL FEATURES REMAKE arbeitet ein internationaler Forscherverbund an einer Erforschung des Lebens und Werks Tulse Lupers, um anhand einer Rekonstruktion der Lebensgeschichte dieses „außergewöhnlichen Mannes“ dann die „wahre Natur des 20. Jahrhunderts“ zu ergründen, und wie schon in THE FALLS ist diese Untersuchung in 92 Teile unterteilt, indem sie sich auf 92 Koffer stützt, die Luper auf den Stationen seines turbulenten Lebens je einmal gepackt hatte. Gemäß dem Motto der TULSE LUPER SUITCASES („there is no such thing as history, there are only historians“) wächst dieses Unternehmen sich natürlich aus zu einer satirischen Kritik eines Anspruchs historiographisch-wissenschaftlicher Beschreibungen auf das Privileg „authentischer Realitätserkenntnis“ oder sogar „objektiver Wahrheit“; ironischerweise allerdings nur, um sich seinerseits als „a defining work at the beginning of the new age of post-television technologies“14 (so Greenaways nicht eben bescheidene Selbsteinschätzung seines Werks, das er durchaus mit Dantes GÖTTLICHER KOMÖDIE, Michelangelos JÜNGSTEM GERICHT oder Joyce’ ULYSSES in eine Reihe stellt15), als „the first masterpiece bench mark of the new visual technologies“16 oder auch „the first new media masterpiece“17 dann dennoch selbst: historisch zu verorten. Seiner trademark catchphrase des „the cinema is dead“ fügt Greenaway in Hinblick auf die Konditionen sozusagen einer Sorge des Kinos um das Überleben seiner eigenen Evolution18 hier nun doch noch ein „long live cinema“ hinzu: „If the cinema intends to survive“, so Greenaway, „it has to see itself as only part of a multi-media cultural adventure“19, so dass auch innerhalb von seinem multimedialem Großprojekt dem Film nun nicht etwa die privilegierte Sonderstellung eines „Leitmediums“ mehr zukommt, sondern er eben nur eine mediale Form unter den vielen andern des Gesamtkonzeptes darstellt – seien dies nun Inszenierungen (wie THE CHILDREN OF 11 12 13 14 15 16 17 18 19

www.tulseluperjourney.com/game (29.07.2008). Brown, Geoff: Such stuff as dreams are made on, in: The Times vom 29.08.1991. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 300f. Greenaway: Have we seen any cinema yet?, o.S. Ders: Toward a re-invention of cinema, o.S. Ebd. Ders.: The Tulse Luper Suitcase, o.S. Vgl. Luhmann: Observing re-entries, S. 298. Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S.

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Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES

URANIUM im Museum Villa Croce in Genua 2005), performances (wie die TULSE LUPER VJ PERFORMANCES, mit denen Greenaway seit 2005 auf Welttournee geht), Ausstellungen und Installationen (wie TULSE LUPER AT COMPTON VERNEY in Warwickshire 2004), Buchpublikationen (darunter Ausstellungskataloge, Bildbände, Filmscripts und Libretti), DVDs (wie die 2004 produzierte DVD zu Koffer #46, GOLD), verschiedene websites (wie http://www.tulselupernetwork.com, http://www.tulseluperinvenice.net und http://www.tulseluperinturin.net) oder auch Computerspiele (wie das online game THE TULSE LUPER JOURNEY (http://www.tulseluperjourney.com)) – ein Angebot also, das schon ob seines schieren Umfangs rezipientenseitig im Grunde gar nicht zu bewältigen ist20. Im filmischen Segment dieses inter-, trans- und multimedialen Gesamtprojektes jedenfalls bieten THE TULSE LUPER SUITCASES sich zunächst in narrativer Form an – allerdings nicht, ohne schon in der Einführungssequenz durch eine der ständig das filmische Geschehen kommentierenden Luper authorities auch auf die Optionalität des Angebotes hinzuweisen: „If you wanted to see the Tulse Luper story as fiction, it could be told as an episodic narrative of a man and his prisons. The story starts in 1921 when Luper was 10, and perhaps it is still not finished.“

Man kann THE TULSE LUPER SUITCASES also als Fiktion, also als Beobachtung imaginärer Realität auffassen, muss das aber nicht (so wie man sie z.B. auch als mediale Selbstreflexion, also als Beobachtung realer Realität auffassen kann); und auch die Form ihrer Organisation als „episodic narrative“ und dessen Form der Darstellung als Film ist dann nur eine unter anderen möglichen. Und wenn man sich dann einmal für die Form des narrativen Films entschieden hat, gibt es natürlich unzählige Möglichkeiten, diesen Film zu realisieren, von denen man aber eben nur eine auch tatsächlich umsetzen kann. Der Film THE TULSE LUPER SUITCASES hat sich für die Möglichkeit entschieden, dieses Entscheidungsproblem selbst darzustellen (und natürlich ist auch diese Darstellungsform nur eine Möglichkeit unter unzähligen anderen, d.h. die Darstellung ist von dem Problem, das sie 20

„I want my ideal audience“, so Greenaway dazu, „to watch the four films, buy the CD-ROMs, buy the DVDs, plug into the TV channel, buy the books and watch the television. I want also to be able to make sure that the actual characteristics of all these different media all intermesh satisfactorily. And there are a whole series of devices where I want to be able to take the material backwards and forward from one media to another. The suitcases will be introduced in a narrative film on a big screen. But I don't want to spend masses of time opening and closing suitcases. So you will be able to open and close the suitcases on CD-ROM, or the Net site or a DVD. Take those suitcases #46, two forty-sixes makes 92, so it is right in the middle. Suitcase #46 contains […] ninety-two gold bars stolen from the Jews during the time of the Holocaust. Every single gold bar inside the suitcase has a story. Every one of these stories is now being written by me, and each one is a feature length. So imagine when you open suitcase #46, there are 92 feature lengths films with in a suitcase and of course there are another ninety-one other suitcases. So you can see the huge mound, the necessary huge pyramid of material that has to be generated.“ (Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S.)

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darstellt, selbst betroffen, ist also gewissermaßen ein Spezialfall ihres eigenen Gegenstandes): der Film THE TULSE LUPER SUITCASES beginnt mit der Darstellung des Vorsprechens für den Film THE TULSE LUPER SUITCASES, und in allerlei Mehrfachüberblendungen, Montagen, Inferierungs-konstruktionen, split screens sowie der Greenaway-typischen multiple frame und multiple layer-Technik wird daraus dann eine Darstellung der Gleichzeitigkeit des gleichzeitig Unmöglichen, indem ständig drei oder mehr alternative Fassungen des aktuellen Geschehens simultan ablaufen oder unterschiedliche Blickwinkel auf denselben Gegenstand gegeben werden – wie gerade auch in den (so übrigens schon seit A TV DANTE bekannten) immer wiederkehrenden, in kleineren quadratischen frames in das laufende Filmbild eingebetteten Dreifach-Aufnahmen der das aktuelle Geschehen kommentierenden Luper authorities.

THE TULSE LUPER SUITCASES: 3 mögliche Darstellerinnen der Passion Hockmeisters, 9 mögliche Anläufe einer Razzia und 3 mögliche Ansichten der Luper authority Thomas John Imox.

Was immer hier gesagt wird, sagt der Film über sich selber, es wäre immer auch anders möglich gewesen – und zwar einschließlich dieser Aussage selbst. Die Unterscheidungen z.B. von Schauspieler und Figur, von Fiktion und Realität, von Medium und Form erfahren auf diese Weise einen reflexiven Wiedereintritt in sich selbst, und schon in seinen allerersten 346

Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES

Minuten gewinnt der Film so eine selbstreferentielle, hyperkomplexe Form21, d.h. er startet mit der Darstellung der Vielheit von Möglichkeiten seiner Darstellung, er beginnt mit der Beobachtung des Mediums seiner Beobachtung, und also: einer Selbstbeobachtung, die im weiteren Verlauf des Films auf dasjenige System noch ausgeweitet wird, von dem er selber Element ist – und da alle Selbstbeschreibung das Beschriebene nur weiter fortsetzt, perhaps it is still not finished.

Mythologie, Kunst und der Richterstuhl der Geschichte THE TULSE LUPER SUITCASES kreuzen die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit Greenaways Privatmythologie und prüfen damit beider Kompabilität – oder auch ihre wechselseitige Überführbarkeit ineinander: „I’m interested in how history becomes mythology“22, so Greenaway. Der Unterschied zwischen „Mythos“ und „Geschichte“ aber, sofern damit nicht nur der „einfache“ Unterschied zwischen „Fiktion“ und „Realität“ gemeint ist23, scheint dabei nur schwierig auszumachen: „Wo hört die Mythologie auf“, so fragt Claude Lévi-Strauss ganz exemplarisch, „und wo fängt Geschichte an?“24 Beide beziehen sich auf die Vergangenheit, und beide verwenden dazu, nach Niklas Luhmann und Hayden White, für ihre Beobachtungen die Unterscheidung von „vertraut“ und „unvertraut“25 – was letztlich aber auch nur eine allgemein „lebensweltliche“ Unterscheidung zu sein scheint26, so dass Lévi-Strauss auch seine Unterscheidung mit der Feststellung beginnt, dass eine „einfache“ Unterscheidung im Sinne eines klaren Gegensatzes so nicht möglich ist. Zwar ließe sich zum einen die Mythologie als ein „geschlossenes System“ vorstellen, in welchem nur „ein und dieselben mythologischen Elemente immer neu kombiniert werden“, während die Geschichte im Unterschied dazu ein „offenes System“ darstelle, in das jeweils immer neue Elemente einzuführen wären – so dass nach historischem Verständnis „sich die Zukunft immer und zunehmend mehr von der Gegenwart unterscheiden“ solle, während es die Funktion der Mythologie wäre, „sicherzustellen, dass 21 22 23

24 25 26

Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 638; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 22, 876. Zitiert nach: Oosterling: Cinema of Ideas, S. 15. Diesen (selbstverständlich ganz zentralen) Unterschied fast Heinz von Foerster so: „Was ist nun der Unterschied zwischen einer Fiktion und einem Faktum? Wenn ich von einem Faktum berichte, bin ich eingeladen, es zu bezweifeln. Wenn ich aber von einer Fiktion spreche: Der Zweifel taucht nie auf.“ (Zitiert nach: Müller / Müller: Im Goldenen Hecht, S. 130.) Gleichzeitig gilt aber natürlich auch, dass eine Rede von „realen Fakten“ schlichtweg keinen Sinn machte, gäbe es nicht auch Fiktionen: „Die ,reale Wirklichkeit‘ ist kein originäres Datum, sondern existiert nur, wenn sie von etwas anderem unterschieden wird, das nicht ebenso real ist.“ (Esposito: Fiktion und Virtualität, S. 271.) Lévi-Strauss: Wenn der Mythos Geschichte wird, S. 50. Vgl. Luhmann: Brauchen wir einen neuen Mythos?, S. 256; White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, S. 131f., 146. Vgl. Luhmann, Niklas: Die Lebenswelt – nach Rücksprache mit Phänomenologen, in: Peter / Preyer / Ulfig (Hg.): Protosoziologie im Kontext, S. 268–289.

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die Zukunft der Gegenwart und der Vergangenheit so treu wie möglich folgt“27, und das Projekt der Mythologie auch schließlich in nichts anderem bestehe als in einer „Verschwörung gegen die Zeit“, die nicht nur „wiederzufinden“, nicht nur „aufzuheben“, sondern schließlich gänzlich „abzuschaffen“ wäre28. Zum anderen aber ließe sich mit gleichem Recht auch die Geschichte keineswegs als Gegensatz, sondern vielmehr als Fortführung der Mythologie begreifen29, denn wie ein Mythos durch die Gesamtheit seiner Fassungen definiert sei30, so auch die Geschichte im Grunde nur durch die Gesamtheit ihrer Darstellungen, so dass man konzedieren müsste, dass es die „historische Realität“ als den externen, „realen“ Referenten einer (einzelnen) Geschichtsdarstellung ebensowenig gibt wie die „ursprüngliche“ oder „authentische“ Fassung eines Mythos. Sobald man sich etwa vornimmt, so Lévi-Strauss, z.B. die Geschichte der Französischen Revolution zu schreiben, „weiß man (oder sollte es wissen), dass sie nicht gleichzeitig und mit demselben Anspruch die des Jakobiners und die des Aristokraten sein kann. Der Hypothese zufolge sind ihre jeweiligen Totalisierungen (deren jede sich antisymmetrisch zur anderen verhält) gleicherweise wahr. Man muss also zwischen zwei Parteien wählen: entweder einer von beiden oder einer dritten (denn es gibt ihrer unendlich viele) den Vorrang geben und darauf verzichten, in der Geschichte eine Gesamttotalisierung partieller Totalisierungen zu suchen; oder allen eine gleiche Wirklichkeit zuerkennen: doch nur, um zu entdecken, dass die Französische Revolution, so, wie man von ihr spricht, nicht existiert hat.“31

Nicht die einzelne historiographische Darstellung kann Lévi-Strauss zufolge den in ihr dargestellten historischen Geschehnissen Glaubwürdigkeit verleihen (im Unterschied zu fiktionalen Erzählungen, die ihr diegetisches Universum in seiner Einzigartigkeit durchaus auch selbst erfinden können), sondern erst ihre Integrierbarkeit in eine kohärente Serie anderer weiterer Darstellungen, so dass etwa die Französische Revolution auch nur mehr oder weniger das „ist“, als was sie aus der Gesamtheit aller ihrer Darstellungen hervorgeht (so dass ihr „Sein“ sich auch mit jeder neuen Darstellung verändert und so ein sozusagen „dauerhaft vorläufiges“ bleibt)32. Das alleine aber macht dann die Französische Revolution, wenn vielleicht auch wiederum zu einer Art historiographischer Fiktion, so doch noch lange nicht zum Mythos. Dazu nämlich wird sie erst, wenn aus der Serie ihrer Ereignisse sich eine „Dauerstruktur“ bildet, die dann nicht nur das Bild der Franzö27 28 29 30 31 32

Lévi-Strauss: Wenn der Mythos Geschichte wird, S. 53ff. Ders.: Der nackte Mensch, S. 709. Ders.: Wenn der Mythos Geschichte wird, S. 56. Ders.: Die Struktur der Mythen, S. 238f. Ders.: Das wilde Denken, S. 297. Lévi-Strauss: Das Rohe und das Gekochte, S. 27. Anders ausgedrückt: „Die Geschichtsschreibung lebt von der Entdeckung all der möglichen Plotstrukturen, die herangezogen werden können, um den Ereignisfolgen verschiedene Bedeutungen zu verleihen“ (White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, S. 143), oder noch anders: „Die Geschichte rollt und ist verschieden, verschieden, verschieden und verschieden. Dann ist die Geschichte etwas Dynamisches.“ (Heinz von Foerster, zitiert nach: Müller / Müller: Im Goldenen Hecht, S. 131.)

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sischen Revolution auf eine nicht mehr zu ändernde Weise festlegt, sondern dieses Bild der Vergangenheit auch noch zum Maßstab der Gegenwart macht: als „ein Schema, das dauernde Wirkung besitzt, die es ermöglicht, die Sozialstruktur des heutigen Frankreich, die sich daraus ergebenden Antagonismen zu interpretieren und die Grundzüge der zukünftigen Entwicklung abzulesen“33,

so dass historisch neue Zustände ihrer historischen Spezifik ungeachtet grundsätzlich als Näherungen an bzw. Abweichungen von einem angenommenen älteren Zustand behandelt werden, dessen „Realität“ und Geltung dabei nicht mehr zur Verhandlung steht. Die eventuelle „Mythisierung“ der Geschichte besteht also nicht im etwaigen Versuch einer „objektive[n] Wiederherstellung tatsächlicher Ereignisse“ (die so ohnehin niemals gelingen kann), sondern vielmehr in einer bestimmten „Art, die Vergangenheit zu interpretieren, um die Gegenwart zu erklären und zu kritisieren und eine Zukunft zu formulieren“34. Wenn Greenaway also danach fragt, wie aus Geschichte Mythos wird, so kann darunter zu verstehen sein, wie ein wenn auch fragliches, so aber jedenfalls doch diskutables Bild der Vergangenheit in dasjenige einer in ihrem Hergang nicht mehr bezweifelbaren und in ihrer Relevanz für die Gegenwart alternativlosen Vergangenheit transformiert wird: zum Mythos wird eine Geschichte, die nicht mehr bezweifelt wird oder nicht mehr bezweifelt werden darf oder auch nicht mehr bezweifelt werden kann; der Mythos, so in diesem Sinne Roland Barthes, verwandelt Geschichte in atur35. In Greenaways Filmen aber wird diese mythische Verwandlung ganz einfach dadurch denunziert, dass sie selber reflektiert und dargestellt und dabei sogar zelebriert wird und Geschichte so nicht in Natur, sondern vielmehr in reine Kunst verwandelt wird. Ist Geschichte (und vor allem: Kunstgeschichte) nun in allen Filmen Greenaways präsent – „there is a sense in which the past is reconsidered in all my movies“36, so Greenaway –, so soll dies allerdings nun keineswegs bedeuten, dass es den Filmen etwa auf besondere historische Korrektheit oder Authentizität ankäme (ein Ziel, das, wenn gesetzt, vermutlich nicht mehr oder weniger erreicht, sondern nur mehr oder weniger verfehlt werden kann37): „Historical exactness is neither asked for, nor pursued.“38 THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT etwa ist als bestes Beispiel hierfür nachgerade angefüllt mit Verweisen auf die britische Geschichte: Das Jahr der Erzählhandlung 1694 ist neben dem Gründungsjahr

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Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 230. Ders.: Die strukturalistische Tätigkeit, S. 266f. Barthes: Mythen des Alltags, S. 112f. Zitiert nach: Ranvaud, Don: Peter Greenaway Interviewed, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 42-49, S. 44. Vgl. Wildt, Michael: Das Erfundene und das Reale. Historiographische Anmerkungen zu einem Spielfilm, in: Historische Anthropologie 3,2(1995), S. 324-334, S. 332. Greenaway: The Baby of Mâcon, S. 5.

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der Bank of England 39 auch das Todesjahr von Mary II, deren Ehe mit William III ebenso kinderlos geblieben war wie die der Talmanns und so eine neue Regelung der Thronfolge erforderte; auf Williams Tod durch einen Sturz von seinem Pferd, das angeblich über einen Maulwurfshügel stolperte, wird wiederum in einer Unterhaltung zwischen Mr. Neville und Mrs. Herbert angespielt; Mr. Talmann und van Hoyten, ein Deutscher und ein Holländer, verweisen auf die Häuser von Hannover und Oranien-Nassau, die nach den Stuarts den englischen Thron bezogen; und die Erwähnung eines Lord Charborough, in dessen Diensten Mr. Neville auch angeblich steht, mag schließlich auf die im Haus von Charborough geführte Verschwörung gegen die Stuarts anspielen, die schließlich in die Glorious Revolution mündete. Andererseits aber sind bei all diesen historischen Referenzen weder die pompös-barocke Kleidung und Perücken der Figuren noch auch Mr. Nevilles Stil und Zeichenwerkzeug zeitgemäß; Januarius Zicks Gemälde ALLEGORIE AUF NEWTONS VERDIENSTE UM DIE OPTIK, das Mr. Neville Mrs. Herbert präsentiert, wurde erst um 1785, also ein knappes Jahrhundert nach der Handlung des Films vollendet; auch der sogenannte Married Women's Property Act, auf den Greenaway selbst hinweist, wurde nicht 1694, sondern vielmehr erst 1870 und in erweiterter Form dann noch einmal 1882 ratifiziert; und in der legendären unveröffentlichten 4-Stunden-Fassung von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT schließlich soll sich sogar eine Einstellung finden, in der Mr. Talmann ein für das Produktionsjahr 1982 auf der Höhe der Zeit stehendes schnurloses Telefon benutzt40.

THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT: Mr. Talmann telefoniert – sehr zu Mr. oyes’ Missfallen

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Fast alle Arbeiten über THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT nennen diesen von Greenaway natürlich selber eingeführten historischen Bezug, aber keine erklärt, was dieses Ereignis denn nun mit dem Film zu tun hätte – auch die vorliegende Arbeit wird das Rätsel wohl ungelöst lassen müssen und kann nur mit der Anekdote aufwarten, dass der erste Geschäftssitz der Bank in Walbrook direkt über einem erst 1954 entdeckten römischen Tempel des Mithras lag, einer ursprünglich persischen Gottheit, die als Gott und Schirmherr der Verträge galt und deren Name auch „Vertrag“ bedeutet. Vgl. http://petergreenaway.org.uk/draughtsman.htm (29.03.2009); hierher stammt auch das auf dieser Seite abgebildete Filmstandbild.

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Auf historische Authentizität wird damit in Greenaways Filmen nur wenig Wert gelegt: „I don’t think there is much point in reproducing a period for its own sake“41, so Greenaway – die Kunst habe also nicht der Inszenierung der Geschichte zu dienen (und dann auch noch geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen), richtig sei vielmehr der umgekehrte Weg: „The whole world and its information is there to be used and reused and refurbished in order to make intelligent, sophisticated art works“42 – die Bestände der Geschichte bilden darin sicher keine Ausnahme. Ganz im Sinne Greenaways spricht Gotthold Ephraim Lessing in der HAMBURGISCHEN DRAMATURGIE schon überdeutlich aus, um wie weit sich der Dichter um „die historische Wahrheit“ zu bekümmern habe: nicht weiter nämlich, „als sie einer wohleingerichteten Fabel ähnlich ist, mit der er seine Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, dass er sie schwerlich zu seinem gegenwärtigen Zwecke besser erdichten könnte. [...] Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, untersuchen; ihn vor den Richterstuhl der Geschichte führen, um ihn da jedes Datum, jede beiläufige Erwähnung, auch wohl solcher Personen, über welche die Geschichte selbst im Zweifel ist, mit Zeugnissen belegen zu lassen: heißt ihn und seinen Beruf verkennen, heißt von dem, dem man diese Verkennung nicht zutrauen kann, mit einem Worte, schikanieren.“43

Die Geschichte sei, so Lessing, da es der Dichtung auf ihre „korrekte“ Darstellung gar nicht ankomme und sie eine solche ja auch gar nicht prätendiere, so nichts anderes als ein „Repertorium von Namen, mit denen wir gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind“44, und als solches „Repertorium“ wird sie von Greenaway nach Art einer ihrerseits ja eben mythopoietischen bricolage45 dann ebenso weidlich wie eklektizistisch auch genutzt. Die Darstellung von Darwins Arbeitszimmer in DARWIN etwa erhebt nach Selbstauskunft des Films von vornherein keinerlei Anspruch auf eine „exact reproduction“ des entsprechenden Raumes in Down House, sie sei vielmehr „an imaginary composite mid-19th century working place which may reproduce in essence all the scholarly working-places of mid- and late-19th century figures like Darwin’s near-contemporaries Marx, Ruskin, Prince Albert, Shaw, H.G. Wells, Tolstoi, or even Freud“,

wie auch Prosperos Bibliothek in PROSPERO’S BOOKS in einem „Bibliothekspalast“ besteht, „a palace of libraries that recapitulate all the architectural ideas of the Renaissance“ – in den allerdings auch Späteres problemlos noch

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Zitiert nach: Jaehne: The Draughtsman’s Contract, S. 24. Zitiert nach: Oosterling: Cinema of Ideas, S. 8. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke. Band 2: Schriften I. Schriften zur Poetik – Dramaturgie – Literaturkritik, S. 121-533, S. 196f., 216. Ebd. S. 217. Vgl. Lévi-Strauss: Das wilde Denken, S. 29ff.

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mit eingehen kann, da Prospero, wie Greenaway erklärt, als Magier natürlich in die Zukunft sehen kann46. Die Gefahren eines überambitionierten re-enactment der Geschichte, das man darüber selbst für wirklich zu nehmen in Gefahr geraten kann, zeigt dagegen die vierte Episode der TULSE LUPER SUITCASES, in der Luper im Jahre 1940 von der deutschen Armee im Schloss von Vaux-le-Vicomte gefangengehalten wird. Da anlässlich des ersten Jahrestags des Einmarschs in Polen der Oberbefehlshaber der deutschen Besatzungsmacht in Nordfrankreich, Generalfeldmarschall von Planting, Vaux besuchen wird, entschließt sich der Kommandant von Vaux, General Foestling, ein passionierter Amateur-Historiker, zu einer aufwändigen Neuinszenierung des legendären Einweihungsfestes von Vaux-le-Vicomte am 17. August 1661 in „Originalkostümen“, in der Luper Ludwig XIV. darstellen soll und Foestling selbst Nicolas Fouquet, den Herrn von Vaux und königlichen Finanzminister – der nur drei Wochen nach der Feier von Ludwig verhaftet, mehrerer Staatsverbrechen angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde; einer Legende zufolge soll Fouquet sogar der „Mann in der eisernen Maske“ gewesen sein. Spottet Luper zunächst noch über Foestlings ebenso ehrgeiziges wie kostspieliges Unternehmen: „I suspect, Herr Foestling, had Fouquet behaved the way you are behaving, he would have been arrested for extreme pomposity. [...] I believe you, Herr Foestling, to be imprisoned by an obsession. You are prisoner of a fictitious history“,

so lässt Foestling daraufhin in einer Umkehrung der Geschichte wie auch der Legende Luper als Ludwig XIV. die eiserne Maske aufsetzen, um noch über alle geschichtlichen Zeiten hinaus ein Urteil für die Ewigkeiten auszusprechen: „Tables are turned. History is righted. [...] Our prisoner, gentlemen, has assumed even greater importance than you ever dared imagine. You now have a prisoner to be kept in perpetual imprisonment. Imprisonment everlasting! And you are to be his jailers forever. Everlasting!“

Offenbar hatte die ganze Inszenierung nur den Zweck, Foestlings privater Phantasie eines alternativen Geschichtsverlaufs Gestalt zu verleihen (und diese dabei mit seiner gegenwärtigen Aufgabe Luper betreffend zu verbinden wie das Angenehme mit dem Nützlichen). Am Ende allerdings erweist sich Foestlings wie immer aufwändiger „attempt to remake history“ nicht nur als makelbehaftet (so muss sich Foestling etwa selbst auch darauf hinweisen lassen, dass er seinen Hut in falscher Richtung trägt), sondern als verhängnisvoller Bumerang, wenn der eintreffende von Planting ihn wegen maßloser Verschwendung knapper Ressourcen umgehend seines Kommandos enthebt und ihn gefangennehmen lässt:

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Greenaway: Prospero’s Books, S. 21, 54.

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Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES „In your concern to alter a historical verdict, you have merely succeeded in confirming one. We can quite safely say that you have inded repeated Fouquets mistakes. And if Fouquet and Foestling are one, then you will know history's verdict is the same now as then.“

Freiwillig, sich resignierend in seine gegenwärtige wie historische Rolle fügend, übernimmt Foestling dann von Luper die eiserne Maske und nimmt sich selbst durch einen Schuss in den Mund das Leben. Der Versuch, die Geschichte nachträglich und rückwirkend zu ändern, hat schließlich die Geschichte lediglich nur wiederholt; der Versuch aber, sie in einer ReInszenierung wiederholbar zu machen, ist dagegen an der (historischen) Realität gescheitert. Nur soll aber Greenaways Absage an ein „authentisches“ Historienkino weder die mögliche Streitfrage entscheiden, ob auf die mediale Darstellung der Vergangenheit bezogen vielleicht nur das Kino in der Lage wäre, „die ganze Lebendigkeit der Vergangenheit zurückzugewinnen“ oder ob nicht vielmehr jede „verfilmte Geschichte“ nur immer lediglich „ein Witz“ sein könne47, noch auch einer Vorstellung Vorschub leisten, im Gegensatz zu vor allem suggestiven Filmbildern sei allein die Schrift „das einzig ,realistische‘ Medium, historische Wirklichkeiten angemessen darstellen zu können“48. „History is what historians do“49 – so tautologisch Isaiah Berlins zum Motto der TULSE LUPER SUITCASES auch ganz hervorragend passende „Definition“ von Geschichte zunächst scheinen mag, so macht sie dennoch deutlich, dass „Geschichte“ (im wissenschaftlichen Sinne) weder in Büchern noch in Filmen „existiere“, sondern vielmehr, mit Ian Jarvie, nur und einzig innerhalb laufender geschichtswissenschaftlicher Kommunikation: „History is mostly debates between historians about just what did exactly happen, why it happened, and what would be an adequate account of its significance“ – „real history“ also gibt es nicht als „wirklich Gewesenes“ und auch nicht als dessen wie immer geartete Darstellung, sondern nur als „debate about historical problems, which is what history is really all about“50. Es braucht also auch gar nicht um eine Bestärkung oder Widerlegung einer möglichen Behauptung zu gehen, die Wörter einer Druckseite seien zur Darstellung der Vergangenheit besser oder schlechter geeignet als die Bilder eines Films51 – die Schrift ist nur einfach dasjenige Medium, das sich für den wissenschaftlichen Diskurs besonders eignet, in welchem Thesen vorgebracht und widerrufen, geprüft und reflektiert, angegriffen und verteidigt werden können und man sich zustimmend oder ablehnend, sich anschließend oder abgrenzend, über große Zeitdistanzen hinweg oder in aktuellen Debatten auf

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Rosenstone, Robert A.: Geschichte in Bildern / Geschichte in Worten: Über die Möglichkeit, Geschichte zu verfilmen, in: Rother, Rainer (Hg.): Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino, Berlin 1991, S. 65-83, S. 68f.; vgl. Jarvie: Seeing through movies, S. 378. Wildt: Das Erfundene und das Reale, S. 325. Berlin, Isaiah: History and Theory. The Concept of Scientific History, in: History and Theory. Studies in the Philosophy of History 1(1960), S. 1-31, S. 1. Jarvie: Seeing through movies, S. 377f. Rosenstone: Geschichte in Bildern / Geschichte in Worten, S. 67.

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andere relevante Schriften beziehen kann52 (so dass auch Niklas Luhmann die Publikation von Texten schlichtweg zum „basalen Element wissenschaftlicher Produktion, zur Operation der Autopoiesis von Wissenschaft“ erklärt53 – wogegen nur die Luper authority Rastelin in VERTICAL FEATURES REMAKE zur Kritik am zweiten remake des I.R.R. auch ihrerseits dann einen Film macht (welcher dann auch keinerlei Beachtung findet)). Dabei unterscheidet der Code der Wissenschaft Wahres und Unwahres an wissenschaftlichen Texten, der Code der Kunst Schönes und Hässliches (oder auch Langweiliges und Interessantes) an Kunstwerken – Authentizität aber, so Michael Wildt, „können Historiker für ihre Produktion ebensowenig beanspruchen wie Regisseure“54. Wenn ein großes Werk der Geschichtsschreibung oder der Geschichtsphilosophie veralte, so Hayden White, dann werde es als Kunst wiedergeboren55 – Greenaways Filme hingegen inszenieren eine Wiedergeburt der Geschichte selbst als Kunst.

The Myth of Tulse Luper Seit Greenaways frühen Experimentalfilmen A WALK THROUGH H und VERTICAL FEATURES REMAKE tritt die Figur Tulse Luper als sein alter ego auf: „Tulse Luper“, so Greenaway, „without too many confessions, in a sense, is a fictive version of me“56, und so wundert es auch nicht, dass der fiktive Luper wie sein Vorbild Filme dreht; es wundert aber schon, dass er dieselben Filme wie sein Vorbild dreht. Angefangen mit VERTICAL FEATURES REMAKE und WATER WRACKETS wird Tulse Luper im weiteren Verlauf des Films noch sämtliche Filme Greenaways von THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT bis hin zu PROSPERO’S BOOKS entweder selber machen oder vorbereiten oder irgendwie veranlassen; die TULSE LUPER SUITCASES sind also gewissermaßen das prequel aller Filme Greenaways und gleichzeitig der Grand arrative, der im Sinne einer retroactive continuity57 sein gesamtes Werk mit einer internen (!) Metaerzählung ausstattet – und damit diese Vielheit als Gesamtheit, Ganzheit, Einheit kennzeichnet und sichtbar macht. THE TULSE LUPER SUITCASES sind so ein Film unter anderen und zugleich auch die Menge selbst, die sie beinhaltet; es wird hier, mit Russells und Whiteheads Theorie logischer Typen,

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Vgl. Jarvie: Seeing through movies, S. 377; Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 105f. Ebd., S. 105f. Wildt: Das Erfundene und das Reale, S. 332. White: Historizismus, Geschichte und die figurative Imagination, S. 144. Greenaway: Cinema is dead – long live cinema, o.S. D.h. „the common situation in pulp fiction (esp. comics or soap operas) where a new story ,reveals‘ things about events in previous stories, usually leaving the ,facts‘ the same (thus preserving continuity) while completely changing their interpretation. For example, revealing that a whole season of Dallas was a dream was a retcon.“ (Raymond, Eric S.: Eintrag „retcon“, in: ders.: The New Hacker’s Dictionary, Cambridge (MA) / London 1996, S. 384-385, S. 384.)

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Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES „etwas über alle Fälle einer Art ausgesagt; und aus dem, was ausgesagt wird, scheint dann ein neuer Fall hervorzugehen, der von derselben Art ist und zugleich nicht ist, wie die Fälle, deren Gesamtheit die ursprüngliche Aussage betraf“,

weshalb diese Gesamtheit im Sinne von Russell und Whitehead auch eine „illegitime Gesamtheit“ ist58. Genau dies aber konstituiert dann Greenaways Œuvre als System im Sinne Luhmanns: „Es handelt sich in einem solchen Falle nicht nur um ein Phänomen, das ein Beobachter, der es darauf anlegt, unterscheiden kann. Sondern das System unterscheidet sich selbst.“59

Wie aber zur solchermaßen „logisch paradoxen Existenz“ eines jeden Systems nicht nur gehört, es selbst zu sein und nicht zu sein, sondern zudem noch: selbst mehr zu sein, als es selbst ist, indem es auch von seinen nichtverwirklichten Möglichkeiten lebt60, von seinen „Potentialisierungen“ im Sinne Yves Barels61, so enthalten auch THE TULSE LUPER SUITCASES nicht nur sämtliche Filme, die Greenaway gemacht hat, sondern zudem auch diejenigen, die er nicht gemacht hat bzw. die über das Projektstadium hinaus niemals verwirklicht wurden oder zum Teil in andere Projekte eingingen: so beinhaltet Koffer #16 Luper’s lost films, unter denen man neben unrealisierten Vorhaben wie etwa The Man Who Met Himself auch das verschollene Original von Vertical Features findet oder auch den legendären TREE, der als einer der allerersten Greenaway-Filme überhaupt gilt, von diesem aber streng unter Verschluss gehalten wird62. Schließlich aber enthalten THE TULSE LUPER SUITCASES in genau dieser versammelnden Funktion einer rückblickenden Zusammenfassung auch sich selbst – wie kurz vor Öffnung der letzten noch fehlenden Koffer die Luper authority Thomas John Imox ihrerseits im Rückblick auf die Ergebnisse der internationalen Luper-Forschung erklärt:

58 59 60

61 62

Russell / Whitehead: Principia mathematica, S. 89. Luhmann: Die Realität der Massenmedien, S. 49. Ders.: Sinn, Selbstreferenz und soziokulturelle Evolution, in: ders.: Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie. Hg. von André Kieserling, Frankfurt am Main 2008, S. 7-71, S. 27. Barel: Le paradoxe et le système, S. 185f. Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 101; ders.: Weltkunst, S. 39. Mit Derrida wäre Greenaways Œuvre so auch als gewissermaßen „virtuelles Werk“ zu sehen – d.h. als „ein Mögliches, das nur unter der Bedingung das Vermögen hat zu sein, dass es als Mögliches möglich bleibt [...], das das Mögliche als solches vollendet, also ohne es zu löschen oder vielmehr in der Realität zu erfüllen“ (Derrida, Jacques: Kraft der Trauer. Die Macht des Bildes bei Louis Marin, in: ders.: Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt. Hg. von Peter Engelmann, Wien 2007, S. 179-207, S. 184).

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System und Mythos „The Martino Knockavelli-sponsored exhibitions of Luper and his life continued throughout the 1980s and 1990s, but the first exhibition of the definitive collection of all 92 suitcases was not held until 2004 in Compton Verney in Warwickshire, England. […] Certainly, these 92 suitcases are the basis of intensively examining Tulse Luper, his life, and sometimes his times – the times of uranium from 1928 to 1989, covering the first chapter of that emotive element from its discovery, if one could ever be said to discover uranium, to Hiroshima, to the end of the cold war. Luper could be said to be a child of uranium. And this intensive examination of Luper continues in many different ways, and certainly in exhibitions like this one, an ambitious project called The Tulse Luper Suitcases.“

THE TULSE LUPER SUITCASES werden, als fiktives literarisches Werk des ebenso fiktiven Autors Leasting Fallvo, erstmals 1980 in Greenaways THE FALLS erwähnt und als eigenständiges Projekt fast ebensolange angekündigt63; insofern handelt es sich tatsächlich um die nachträgliche Objektivierung einer ursprünglichen Fiktion. Wie er nun schließlich realisiert worden ist, berichtet der Film THE TULSE LUPER SUITCASES kurz vor seinem Ende von einem Projekt namens The Tulse Luper Suitcases, dessen Teil er offensichtlich ist – die Aufnahmen zeigen Greenaways Ausstellung in Compton Verney –, und parallel dazu erlebt der Betrachter ein re-entry des Bildes ins Bild und des Films in den Film, indem der Film sich selbst auf allen Ebenen um sozusagen jeweils eine Realitätsebene zurücksetzt und verdoppelt: die Luper authority, die eben noch in ihrem kleinen quadratischen frame erschien, der sich vor dem Hintergrund des Hauptbildes des Films abhob, befindet sich nun selbst im Hauptbild, und zwar vor dem Hintergrund einer Leinwand, auf die ein Film projiziert wird, und dieser Film ist natürlich kein anderer als THE TULSE LUPER SUITCASES selbst – die Tulse Luper Suitcases enthalten sich also selber als ihr eigenes Exponat! Und damit nicht genug: Geht es dem ganzen Projekt ja um eine Rekonstruktion des Lebens Lupers, wie der Zuschauer es bisher als Film betrachten konnte, so enthält der letzte der 92 Koffer, der alle vorangegangenen noch einmal ebenso rekapituliert wie THE TULSE LUPER SUITCASES selbst alle vorherigen Filme Greenaways, denn auch genau dies: Luper’s life – in einer Serie von 92 Items, deren letztes dann in einer Rolle 16 mm-Film besteht. Die Erforschung der Tulse Luper Suitcases ist so am Ende die Erforschung eines Films, des Films vielleicht, auf jeden Fall aber des Films THE TULSE LUPER SUITCASES selbst, und der besondere Dreh dabei ist der, dass der im Koffer gefundene Film als Teil der Serie nicht nur deren Gesamtheit mitenthält und darstellt (so wie entsprechend auch THE TULSE LUPER SUITCASES sich selbst und sämtliche andere Filme Greenaways), sondern dass er, als „a new truth“, zudem noch eine andere, eine NegativVersion dieser Gesamtheit, seiner selbst und Lupers Leben enthält – nämlich seinen Tod, der die Geschichte nun nicht abschließt, sondern gewissermaßen rückwirkend auch nur eben als Geschichte kennzeichnet und sie so letztlich erst ermöglicht hat. Die 16. Episode der TULSE LUPER SUITCASES, die der Filmstreifen enthält und die die versammelten Luper authorities dann 63

Schon 1985 etwa spricht Greenaway im Interview mit Michel Ciment von einem aktuellen Projekt namens The Suitcase of Tulse Luper (Ciment: Interview with Peter Greenaway, S. 29).

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Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES

sogleich auch sichten (aber wer hat diesen Film gemacht – und auch der Einteilung der TULSE LUPER SUITCASES in 16 Episoden angepasst?), ist identisch mit der ersten, mit der einen Ausnahme, dass Luper stirbt, bevor er seine Abenteuer überhaupt erleben kann – so wie ja auch nach Borges kein Werk vollständig wäre, welches nicht auch seine Selbstwiderlegung mitenthielte64. Stürzt in der ersten Episode, in der der junge Tulse Luper und Martino Knockavelli Krieg spielen, eine Gartenmauer über Tulse zusammen, aus deren Trümmern er aber sofort auch wieder unverletzt hervorkommt, so stellt am Ende sich heraus, dass diese Fassung der Geschichte nur eine Fiktion war – so wie die gesamte folgende Geschichte Lupers auch, die dieser nie erlebt hat: „Luper, aged 10, did not survive that fall of bricks, and his life, in all its complexity, was a construction created by his best friend – Martino Knockavelli.“ In einer Variation von Kafkas Variation von Cervantes’ DON QUIXOTE65 stellt sich am Ende der TULSE LUPER SUITCASES schließlich heraus, dass Lupers bester Freund Martino Knockavelli (der, zu Reichtum gekommen, zum hauptsächlichen Initiator und auch Finanzier der internationalen LuperForschung wurde) Lupers gesamte Lebensgeschichte nur erfunden und sämtliche Quellen, Indizien und Fundstücke nur fingiert hat, um durch die Begründung eines Myth of Tulse Luper seine Schuldgefühle wegen Lupers frühem Unfalltod zu kompensieren, für den Knockavelli sich verantwortlich macht (womit die Martino Knockavelli Foundation sich wiederum in die Reihe des I.R.R. aus VERTICAL FEATURES REMAKE und der V.U.E. Commission aus THE FALLS eingliedert, jenen Organisationen also, die ihren Untersuchungsgegenstand mutmaßlicherweise selber nur erfunden haben). Sämtliche Berichte, Essays, Traktate und Geschichten, die Luper je verfasst haben sollte, hat Knockavelli selbst geschrieben, und sämtliche Personen, die in Lupers Leben eine Rolle spielten, hat Knockavelli selbst erfunden, wie aus dem Inhalt der letzten Koffer jetzt hervorgeht: „Suitcase #89 contained a typewriter that, on examination, proved to be the typewriter on which all the Tulse Luper manuscripts were typed. Suitcase #90 contained 92 dolls where each doll is ticketed with a name from a list of 92 characters in Luper’s life; and as if to confirm this find, suitcase #91 contained Martino’s loosely phrenological book which he had possessed since he was a child, where composite anatomical parts –

64 65

Vgl. Borges, Jorge Luis: Tlön, Uqbar, Orbis Tertius, in: ders.: Die Bibliothek von Babel, Stuttgart 1974, S. 21–40, S. 33. Vgl. Kafka, Franz: Die Wahrheit über Sancho Pansa, in: ders.: Schriften. Tagebücher. Briefe. Kritische Ausgabe. Nachgelassene Schriften und Fragmente II. Hg. von Jost Schillemeit, Frankfurt am Main 1992, S. 38: „Sancho Pansa, der sich übrigens dessen nie gerühmt hat, gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- und Räuberromane in den Abend- und Nachtstunden seinen Teufel, dem er später den Namen Don Quixote gab, derart von sich abzulenken, dass dieser dann haltlos die verrücktesten Taten aufführte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hätte sein sollen, niemandem schadeten. Sancho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmütig, vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeits-gefühl, dem Don Quixote auf seinen Zügen und hatte davon eine große und nützliche Unterhaltung bis an sein Ende.“

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System und Mythos eyes, noses, mouths, hands, genitals, feet, toes – could be assembled to compose the 92 characters.“

Das gesamte Leben Lupers ist also nichts als eine einzige Erfindung oder große Fälschung, oder, mit Novalis: ein „Leben als Roman“ oder Roman als Leben – und damit nichts anderes als „eine sich selbst vernichtende Illusion“66. Wenn aber diese Erkenntnis jetzt die „neue Wahrheit“ darstellt und damit die „alte“ als Fiktion entlarvt, auf welcher Geltungsgrundlage tut sie das? Wenn zwei Filme dasselbe Ereignis in zweierlei Ausgang zeigen, also den Mauereinsturz einmal mit einem überlebenden, einmal mit einem verstorbenen Tulse Luper, kann dann einer dieser Filme überhaupt die „Wahrheit“ zeigen, „wie es eigentlich gewesen“, oder ist die bloße Tatsache, dass es zwei Versionen gibt, schon ein Beweis daür, dass eine „wahre“ Version es gar nicht geben kann? Die „wahre Natur des 20. Jahrhunderts“ jedenfalls, die anhand Lupers Leben ja ergründet werden sollte, liegt so ohne Zweifel in der „epochalen Stellung“, die das Kino in ihm eingenommen hat67 – Greenaway selber spricht vom Kino als „the greatest visual invention of the 20th century“68, „the supreme 20th century communication medium“69 oder „the true medium of the 20th century“70 –, aber dieses Jahrhundert ist vorbei und existiert nicht mehr, es sei denn in seinen eigenen und daher eben: kinematographischen Aufzeichnungen (so dass auch der Erste Weltkrieg, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“71, dessen Schlachten Luper und Knockavelli als Kinder in einer demonstrativ nur wenig realistischen Studiokulisse nachspielen, in seiner „historischen Realität“ im Film mit wie immer „authentischen“ Archivbildern auch nicht anders denn als eben filmisch zu belegen ist). THE TULSE LUPER SUITCASES erscheint so als ein letzter Blick zurück – auf das 20. Jahrhundert und seine Geschichte, auf das Kino und auf Greenaways Gesamtwerk und so schließlich: auf sich selbst.

Selbsthistorisierung und Selbstmusealisierung „There is no such thing as history, there are only historians“ – Geschichte, so auch Lorenz Engell,

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67 68 69 70 71

Novalis: Vermischte Fragmente II, in: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Dritte, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in 4 Bänden und einem Begleitband, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Band 2: Das philosophische Werk II, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1981, S. 558-563, #187, S. 562f., S. 563. Vgl. Engell: Erzählung, S. 116. Greenaway: A Life in Film, o.S. Ders.: The Stairs 1, S. 1. Ders.: The Stairs 2, S. 13. Kennan: Bismarcks europäisches System in der Auflösung, S. 12.

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Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES „,gibt es‘ nicht; sie ist keine verborgene Kraft und kein Subjekt der Welt; sie ist vielmehr ein Produkt der Geschichtsschreibung; sie ist erstens selbst historisch und zweitens ohne Medien der Beobachtung und der Beschreibung nicht möglich. Mithin sind Medien für eine historische Verfassung der Welt unentbehrlich, und verfügte die geschichtliche Welt nicht ohnehin schon über Medien, müsste sie sie erfinden. [...] Geschichte gibt es nur insoweit, als es Medien gibt, die sie konstituieren können“72 –

und natürlich haben diese Medien auch ihrerseits eine Geschichte. „Geschichte haben“ wiederum bedeutet, nach Niklas Luhmann, einen „wahlfreien Zugriff auf den Sinn von vergangenen bzw. künftigen Ereignissen [...] durch Entbindung von Sequenzen“, d.h. die „Freiheit des sprunghaften Zugriffs auf alles Vergangene und alles Künftige“73; ein System muss dazu in der Lage sein, in seiner Gegenwart seine Vergangenheit von seiner Zukunft zu unterscheiden (also Altes von Neuem, Redundanz von Variation) und dann eine Integration der selektiv erinnerten Vergangenheit mit der selektiv projektierten Zukunft zu leisten74. Geschichte ist, wie Engell unterstreicht, für das System also kein bloßes Existieren-in-der-Zeit, sondern immer eine Eigenleistung des Systems: „Die Geschichte eines Systems gehört keiner äußeren Kraft und ist auch zunächst nicht die Sache einer äußeren Beschreibungsposition. Sie wird vom sich entwickelnden System selbst generiert, und zwar in dem Moment, in dem dieses System Zugriff nehmen kann auf frühere, nicht mehr andauernde Entwicklungszustände oder schritte. Die Beobachtung seiner eigenen Vergangenheit von der Außenposition aus, wie sie die Evolution kennzeichnet, wird wieder in das Systeminnere integriert in der Art eines Spencer Brownschen ,re-entry‘. Geschichte ist demnach die Bezugnahme des Systems auf seine eigene Vergangenheit. [...] Ein geschichtliches System wird als ein sich selbst beobachtendes System beobachtet“75,

und in THE TULSE LUPER SUITCASES beobachtet der Zuschauer so dann vor allem eine Selbstbeobachtung des „Systems Greenaway“, das sich selber in einer Reproduktion früherer Zustände seiner selbst historisiert76. Zusammen damit aber findet in THE TULSE LUPER SUITCASES auch eine Selbsthistorisierung, ja eine Selbstmusealisierung desjenigen Mediums statt, in dem seinerseits das „System Greenaway“ auch operiert: des Kinos nämlich. Werden über den gesamten Film hinweg schon parallel zur jeweiligen Situation der Erzählhandlung zeitgenössische und ortsbezogene Archivaufnahmen und Wochenschauausschnitte in das Filmbild eingebaut, erreicht der filmisch-kinematographische Selbstbezug dann aber einen Höhepunkt, wenn Luper in der fünften Episode der TULSE LUPER SUITCASES im Kino

72 73 74 75 76

Engell: Die genetische Funktion des Historischen in der Geschichte der Bildmedien, S. 34. Luhmann: Soziale Systeme, S. 118. Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1010. Engell: Die genetische Funktion des Historischen in der Geschichte der Bildmedien, S. 45ff. Ebd., S. 55.

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System und Mythos

Arc-en-Ciel im Straßburg des Jahres 1940 gefangen gehalten wird77, in dem natürlich auch Filme gezeigt werden: Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D’ARC etwa (als symbolischer Stich gegen die deutsche Besatzung), Jean Renoirs BOUDU SAUVÉ DES EAUX (als Beispiel für Depression und Lebensmüdigkeit) oder Victor Flemings THE WIZARD OF OZ (als Darstellung des Kinos als einem Zufluchtsort vor der Wirklichkeit innerhalb dieser Wirklichkeit – „the cinema is about the only means we’ve got these days to escape from our cold little prisons“, so Monsieur Moitessier zu Luper). Wie eine vor Ort und innerhalb des „authentischen Gedächtnisorts“ des Kinos von einem Katheder herab dozierende Luper authority dazu erläutert78, erarbeitete Luper in dieser Zeit eine Liste von 92 objects to represent the world, die den Inhalt seines Koffers #42 bildet und später auch die Grundlage einer Ausstellung namens HUNDRED OBJECTS TO REPRESENT THE WORLD abgeben sollte (nach Aussage der Luper authority „an ironic stock taking exercise before the approach of the Millennium of how the 20th century might be represented“, die natürlich von Greenaway 1992 in Wien selbst kuratiert wurde), so dass es auch in Anbetracht von Lupers Situation (und der Zielsetzung der späteren Ausstellung) kaum wunder nimmt, dass das Kino dabei selbst das 25. von Lupers 92 objects ist (das illustrativ hierzu in das das Kino zeigende Filmbild inferierte zweite Bild zeigt genau dieses Kino und genau auch dieses Bild noch einmal) – wie auch der Inhalt von Lupers Koffer #44 in einer Sammlung Filmstücke besteht, die Luper während seiner Gefangenschaft in Arc-en-ciel zusammenstellte. Der Film repräsentiert also die Welt auf eine doppelte Weise, nämlich zum einen in seiner eigenen audio-visuellen Repräsentation der Welt, zum anderen aber auch als repräsentativer Teil der Welt – der als solcher wiederum auch einer filmischen Repräsentation zugänglich gemacht wird usw. usf. Im derart vervielfachten filmischen Blick auf den Film, dessen Blick auf die Welt und deren Blick auf den Film präsentieren THE TULSE LUPER SUIT79 CASES so „den Film im Jahrhundert und das Jahrhundert im Film“ : war es, Jean-Luc Godard zufolge, das Kino, das das 20. Jahrhundert „existieren ließ“80, so wird in THE TULSE LUPER SUITCASES dieses Jahrhundertmedium nicht nur durch sich selbst historisiert, sondern zugleich auch archiviert und 77

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Der Name des Kinos ist dabei ebenso eine Referenz an Greenaways früheren Film A ZED AND TWO NOUGHTS wie an sämtliche weitere seiner Behandlungen des Regenbogenmotivs, dessen farbiges Licht zum einen mit der Projektion des Films im Kino, der zum anderen aber als Symbol auch mit dem Bunde Gottes mit den Menschen assoziiert werden kann. Diese Luper authority übrigens wird dargestellt von Wolfgang Schirmacher, Professor an der European Graduate School in Saas-Fee und dort auch Gründungsdekan und Programmdirektor des Fachbereichs Media and Communication, an dem auch Greenaway als Professor of Cinema Studies lehrt; als Greenaways Kollege zugleich auch ein großer Verehrer und Bewunderer seines Schaffens, spielt Schirmacher sich dann gewissermaßen selbst. Ishaghpour, Youssef: Geschichte(n) des Kinos. Archäologie des Kinos, Erinnerung des Jahrhunderts. Gespräch mit Jean-Luc Godard, in: Lettre International 52(2001), S. 60-74, S. 60. „L’art du dix-neuvième – le cinéma – fit exister le vingtième qui par lui-même exista peu.“ (HISTOIRE(S) DU CINÉMA - LES SIGNES PARMI NOUS)

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Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES

musealisiert durch ein „Kino in zweiter Potenz“81, das nicht allein nur selbstreferentielle Filme produziert, in die etwa Versatzstücke anderer Filme einkopiert sind (wie noch in A ZED AND TWO NOUGHTS) oder in denen etwa Filmvorführungen gezeigt werden (wie noch in 8½ WOMEN), sondern das in einer gänzlich neuen Art des Zugriffs auf den Film zugleich als Filmarchiv fungiert, in welchem die Bestände selbst in einer neuen Form vorliegen (die es wie in THE TULSE LUPER SUITCASES dann z.B. ermöglicht, das in das Filmbild inferierte Bild eines ablaufenden zweiten Films halbtransparent über das Hauptbild zu legen und in 3D-Animation auch der Bewegung der Kamera perspektivisch anzupassen): das digital cinema als ein „imaginäres Museum“ des Kinos82, das zugleich auch als ein „Abschluss eines Kinos, das eine Hauptmacht des 20. Jahrhunderts gewesen ist“83, das Ende dieses Kinos und das Ende dieses Jahrhunderts mitmarkiert. Der Myth of Tulse Luper bezeichnet so, mit Youssef Ishaghpour, zugleich dann auch „,die Legende‘ des 20. Jahrhunderts, produziert und re-produziert durch den Effekt des Kinos [...] im Zwischenraum von Fiktion und Dokument, von Bild der Wirklichkeit und Wirklichkeit des Bildes, zwischen dem Geschichtlichen und dem Poetischen“84;

in THE TULSE LUPER SUITCASES als dem Reflexionsprodukt seines eben darin auch vollzogenen Selbstumbaus formuliert das Kino ebenso seine Vergangenheit wie seine Zukunft – und zugleich damit aber einen paradoxerweise historisch formulierten Abschied von „Geschichte“ selbst.

Kino und Geschichte Für den Zusammenhang von Historiographie und Kinematographie stellt Engell fest, dass es sich um historisch parallellaufende Unternehmungen, strukturell isomorphe und letztlich sogar äquifunktionale Medien handelt85: indem einerseits die Historiographie aus der Kritik und Interpretation einzelner Quellen eine zusammenhängende Darstellung generiert und andererseits die Kinematographie die durch die Kamera aufgenommenen und in der Montage zusammengefügten Einzelbilder des Films zum sich bewegenden Filmbild integriert, verwenden beide ein Doppelverfahren der „Rekonstruktion“ und „Projektion“ zur Herstellung eines kohärenten, sinnhaften Ganzen, das seinerseits dann eine spezifische „Ordnung der Dinge“ und der Welt anbietet86, und wie das „historische Denken“ seit Ende des 19. Jahrhunderts zur Dominante des wissenschaftlichen Diskurses geworden (und im Grunde dann bis heute auch geblieben) ist, so wurde das 81 82 83 84 85 86

Ebd., S. 62ff. Vgl. ebd., S. 64; Malraux: Psychologie der Kunst. Ishaghpour: Geschichte(n) des Kinos, S. 74. Ders.: J.-L. G., Filmemacher des modernen Lebens, S. 104. Engell: Erzählung, S. 139. Ebd., S. 133; ders.: Sinn und Industrie, S. 14; ders.: Filmgeschichte als Geschichte der Sinnzirkulaion, in: Mai, Manfred / Winter, Rainer (Hg.): Das Kino der Gesellschaft – die Gesellschaft des Kinos. Interdisziplinäre Positionen, Analysen und Zugänge, Köln 2006, S. 48-59, S. 52.

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System und Mythos

zeitgleich entwickelte Kino zum massenkulturen Leitmedium – demjenigen nämlich, „dem die Aufsicht über die Sinnproduktion übertragen wird und das letztlich Sinn nach seinen Möglichkeiten definiert“87, und der narrative Spielfilm zu seinem „standardsetzenden Normalformat“. Soviel zum 19. und 20. Jahrhundert; für die Gegenwart aber sei es dagegen zu vermuten, so Engell weiter, „dass die Zirkulationsformen des Sinns sich mit dem Verschwinden der Kinematographie als Leitmedium und mit der Übernahme dieser Funktion durch Fernsehen und Computer neu und anders stabilisieren müssen als in der kinematographischen Ära“88,

und d.h. eben: auch anders als in der Form historischer Erzählung, der inzwischen ein „authentisches“ Zeigen dessen, „wie es eigentlich gewesen“89, ebensowenig zuzutrauen ist wie dem Film noch die „unverfälschte“ Darstellung einer „objektiven Realität“ – das Bild der Geschichte generiert sich nicht aus „Fakten“, sondern aus laufender wissenschaftlicher Kommunikation, und das Bild des digital cinema nicht aus realen Gegenständen, sondern aus der Berechnung von Nullen und Einsen. Wenn aber, mit Vilém Flusser, Geschichte „selber“ ohnehin nichts ist als eine Funktion des linearen Schreibens, die von den audio-visuellen Medien methodisch schon erfasst und aufgehoben ist90, dann ist „Geschichte im eigentlichen Sinne beendet, und etwas ganz anderes, nämlich Geschichten, können beginnen. Dies alles aber kann ansichtig gemacht werden, wenn man Bilder erzeugt, die die Geste des Herstellens, des Bildermachens, des linearen und alphabetischen Schreibens, des Buchdrucks, des Rechnens, des Kalkulierens und des Komputierens zeigen“91,

und genau das tun Greenaways Filme auch: sie beobachten Medien als Formen der Konstruktion von (nicht zuletzt: historischer) Realität, und in THE TULSE LUPER SUITCASES beobachten sie sich schließlich selbst – im Medium des Mythos eines digital cinema. Dabei sieht Flusser gerade schon im Film vor allem anderen „das letzte Glied in der Kette von Texten, dank derer die Menschheit seit Jahrtausenden versucht, die Welt aufzurollen, um ihr einen Sinn zu geben“; aber eben dasjenige Glied, das gerade „das Wesen der linearen Codes auf die Spitze treib[t], um es aus den Fugen geraten zu lassen“92 und damit aus der Geschichte in die „Nachgeschichte“ über- und hinauszuführen – was aber nun nicht etwa hieße, dass die Konzeption historischer Prozesse überhaupt als „illusorisch“ zu verneinen wäre, vielmehr besteht der Erkenntnisgewinn darin, dass diese Konzeption nicht mehr als alternativlose behandelt werden muss und diese Prozesse nicht als „natürliche“, sondern als hergestellte und auf vielerlei Weise herstellbare 87 88 89 90 91 92

Ebd., S. 49. Ders.: Erzählung, S. 142f. Vgl. Ranke: Geschichten der romanischen und germanischen Völker, S. VII. Vgl. Flusser: Kommunikologie, S. 189ff. Ders.: Nachgeschichte, S. 261f. Flusser: Kommunikologie, S. 192ff.

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Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES

erkannt werden können, als das also, was sie auch „sind“: als kontingente mediale Konstruktionen93 – wie wissenschaftlich tragfähig sie dann auch immer sein mögen (wobei ja gerade auch, der eventuellen Vorstellung einer beliebig zusammenphantasierbaren Geschichte damit entgegen, die letztendliche Enthüllung der Tulse Luper Suitcases als Fälschungen einen schließlichen Triumph der quellenkritischen Geschichtswissenschaft darstellt!). Erscheint in dieser Perspektive dann der Film als historischposthistorisches Transitionsphänomen, so ließe sich in diesem Sinn auch sagen: indem es sich rückblickend zum einen selber als die letzte, (über)höchste Ausformung des linearen Codes der Schrift erkennt („we have not seen any cinema yet, we have only seen 105 years of illustrated text“94), beobachtet sich das Kino in Greenaways Filmen zum anderen in seinem Selbstumbau zum digital cinema zugleich auch bei der Herstellung genau derjenigen Bedingungen, die die Abschaffung seiner selbst als Leitmedium ermöglichen – also gewissermaßen so wie weiland in Marxens Schriften der Kapitalismus95, oder, wie Lev Manovich es ausdrückt: „This was the historical role of cinema: to prepare us to live comfortably in the world of two-dimensional moving simulations. Having played this role well, cinema exits the stage. Enter the computer“96 –

was seinerseits natürlich einen Paradefall historischer Dramatisierung darstellt! Wenn laut Greenaway das Kino tot ist, so könnte man im Lichte dieser Diagnose vielleicht sagen, dass, in einem ganz ähnlichen Versuchsaufbau wie am Ende von A ZED AND TWO NOUGHTS, in dem die Zwillinge Oliver und Oswald das filmische Experiment ihres eigenen Todes durchführen, sich Greenaway zu seinem Medium verhält wie Edgar Allan Poes Erzähler zu seinem schwindsüchtigen Freund Valdemar, den er in articulo mortis in „magnetischen Schlaf“ versetzt und so noch über seinen Tod hinaus zum ultimativen performativen Selbstwider-spruch befähigt: „I have been sleeping – and now – now – I am dead.“97 Operation gelungen – Patient tot! Dabei kann, außerhalb der literarischen Fiktion und über düstere Prophezeihungen hinaus, natürlich kein System sein eigenes Ende beobachten, ja nicht einmal das Ende seines Beobachtens – denn das würde ja eine weitere Operation, eine weitere Beobachtung erfordern98. So stellt z.B. Flusser auch die Frage, ob angesichts der neuen Medien das Schreiben überhaupt noch Zukunft habe, und beantwortet diese Frage dann mit Nein – mit dem natürlich selber festgestellten Haken, dass er die Frage eben in einem Buch stellt und beantwortet99, was dann bedeuten würde, dass die 93 94 95 96 97 98 99

Vgl. ebd, S. 194. Greenaway: 105 Years of Illustrated Text, S. 48. Vgl. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 473. Manovich: Cinema and Digital Media, S. 30. Poe, Edgar Allan: The Facts in the Case of M. Valdemar, in: ders.: Selected Tales, Harmondsworth 1994, S. 364–373, S. 371. Luhmann: Anfang und Ende, S. 19. Flusser: Die Schrift, S. 7f., 141f.

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System und Mythos

Schrift – und so dann auch das Kino? –, wo keine Zukunft, so doch ein Ende ohne Ende hätte, denn auch Selbstnachrufe sind noch Lebenszeichen – und zwar immer nur vorletzte.

... il n’y a plus que des historiens Das gilt am Ende übrigens auch für die Figur und Position des Autors, dessen Tod vor langer Zeit ja auch schon ausgerufen wurde100, dessen Wiederauferstehung aber die Verabschiedung der Geschichte zugunsten des Geschichtsschreibers doch immerhin in Aussicht stellt (sofern sein Tod nicht ohnehin nur eine seiner eigenen Fiktionen war – siehe das vorangegangene Kapitel zu PROSPERO’S BOOKS). Wenn es entsprechend in den TULSE LUPER SUITCASES heißt: „there is no such thing as history, there are only historians“ (und eben nicht: „only historiographies“ oder gar: „only historiological communication“) so ist dies vermutlich, wie bei Greenaway ja üblich, eine Anspielung, die als solche weiter zwar nicht extra ausgewiesen wird, dafür aber das Angespielte ebenso stillschweigend wie erheblich modifiziert – eine Anspielung nämlich auf François Truffaut und die Devise seiner politique des auteurs: „es gibt keine Werke, es gibt nur Autoren“ bzw. „es gibt keine schlechten Filme, es gibt nur mittelmäßige Regisseure“101. Truffaut wiederum behauptet, dieses Diktum von Jean Giraudoux übernommen zu haben, der angeblich gesagt hätte, es gäbe keine guten Theaterstücke, es gäbe nur gute Autoren102 – was im Prinzip auch richtig ist, nur dass nicht Giraudoux es gesagt hat, sondern der Erzähler seines Romans SIEGFRIED, und es bezieht sich nicht auf französische Theaterstücke, sondern auf deutsche Literatur, hat eigentlich auch nichts mit gut und schlecht zu tun, sondern eher mit viel und wenig, und meint auch schließlich keine kunstschaffenden Genies103, sondern vielmehr einen Lebensstil: „Es gibt“, so der Erzähler über das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, „keine oder fast keine Werke mehr in diesem Land; es gibt nur noch Autoren [il n’y a plus que des auteurs]. Die deutschen Romanciers vollbringen nur die kleinstmögliche Anzahl an Romanen, die Dichter, die Tragiker nur Spuren von Versen, Ahnungen von Tragödien; sie sind alle nur darauf bedacht, das erstaunliche Leben von Romanciers oder Dichtern zu führen. [...] So kommt es, dass die Biographien der deutschen Künstler heute allesamt unendlich viel spannender sind als ihre Werke, vorausgesetzt, dass es solche überhaupt gibt.“104

100 101

102 103 104

Vgl. Barthes: Der Tod des Autors. Truffaut, François: Die sieben Todsünden der Filmkritik, in: ders.: Die Lust am Sehen, S. 314-319, S. 317; ders.: Der französische Film krepiert an den falschen Legenden, in: ders.: Die Lust am Sehen, S. 320-335, S. 333. Ders.: Fünfzig Jahre französischer Film, S. 59. Vgl. Frisch: „Politique des auteurs“. Giraudoux, Jean: Siegfried oder Die zwei Leben des Jacques Forestier, Berlin / Frankfurt am Main / Wien 1962, S. 120f.

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Historisierung und Potentialisierung: THE TULSE LUPER SUITCASES

Da aber Biographien eben selbst auch „Werke“ sind, so fragt sich auch am Ende, ob die Beschreibung „erstaunlicher Leben“ vielleicht diese selbst nicht erst ermöglicht: Wenn, nach Thomas Carlyle, die Geschichte der Welt nur in den Biographien großer Männer besteht105, sind mit den „großen Männern“ dann die Biographierten oder die Biographen gemeint106, und im Falle einer fiktionalen Autobiographie – Tulse Luper oder Peter Greenaway?

105 106

Carlye, Thomas: On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History, in: ders.: Works. Band 5, London 1901, S. 13. Entsprechend auch die Frage von Oscar Wildes Gilbert zum Verhältnis von historischen Ereignissen, historischen Personen und Geschichtsschreibern: „But what of those who wrote about these things? What of those who gave them reality, and made them live forever? Are they not greater than the men and women they sing of?“ (Wilde: The Critic as Artist, S. 870.)

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10 Schluss: Cinema is dead – long live cinema?

icht zu Unrecht (und mit Hermann Hesse) ließe sich das Œuvre Greenaways am Ende als ein großes Glasperlenspiel auffassen, das in einem nachgerade „heroischen Unterfangen“ versucht, „in einem enzyklopädischen Werk alles Wissen seiner Zeit symmetrisch und synoptisch zu ordnen und zusammenzufassen“ – und daran natürlich tragisch scheitern müsste, wäre dieses Scheitern nicht auch selbst schon integraler Teil seines Konzeptes. Entlang der Unterscheidungen von Kunst und Leben, von Menschen und Medien und von „old media“ und „new media“ untersucht das „System Greenaway“ allerdings vor allem auch das Medium, in dem diese Untersuchungen selbst stattfinden: Wenn, mit Jean-Luc Godard, eine „wahre Geschichte des Kinos“ nur durch das Kino selbst geschrieben und erzählt werden kann, so bietet Greenaways Œuvre, gewissermaßen in einer „Parallelaktion“ zu Godards HISTOIRE(S) DU CINÉMA, eine Mythologie des Kinos an – einen apokalytischen Mythos von den Ursprüngen, der Geburt, dem Tod und der Wiederauferstehung des Kinos im Angesicht der Ankunft der digitalen Technologien, oder: eine Selbstbeschreibung der Sorge des Kinos um das Überleben seiner eigenen Evolution, in der es schließlich auch als Ziel des Projektes Greenaways begriffen werden mag, Correggios Ed io anche son pittore, wie der in THE BELLY OF AN ARCHITECT geehrte ÉtienneLouis Boullée es seiner ABHANDLUNG ÜBER DIE KUNST als Motto voranstellte, von der Architektur auf das (digitale) Kino zu übertragen – wie dieses nach Lev Manovich auch überhaupt nichts weiter darstellt als ein „subgenre of painting“. Das Kino Greenaways lässt sich in diesem Sinn, in Variation eines Begriffes Raymond Federmans, als ein „surcinema“ betrachten, das wie immer paradoxalerweise versucht, die Möglichkeiten seines Mediums jenseits seiner Grenzen auszuloten, und ob als „Missionar“ oder als „Scharlatan“, als „Prophet“ oder „Projektemacher“ zu betrachten, so ist es Greenaways finaler Ratschluss, dass die Zukunft des Kinos außerhalb des Kinos liegt – falls dieses nicht mit seinem „eigentlichen“ Beginn bereits verschwunden sein wird.

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System und Mythos „Mit dem Film, wie er ist, widerlegt man nicht den Film, wie er sein könnte.“ Rudolf Arnheim, FILM ALS KUNST

„The education of the public eye is always a problematic business.“ Michael Foss, THE AGE OF PATRONAGE

Ob seiner expliziten (und oft genug auch nur zu ostentativen) Selbstbezüglichkeit könnte man am Ende leicht geneigt sein, Greenaways Œuvre nur als ein großes, dekadentes, selbstgenügsames Spiel zu sehen, das wie Hofmannsthals „herrliche Wasserkünste“ zwar virtuos mit „goldenen Bällen“ hantierte, die restliche Welt von diesem Reigen aber völlig ausschlösse und nur narzisstisch um sich selber kreise1; und in der Tat, so Greenaway, „there are those works that ostensibly refer only to themselves – though I can never really quite believe that that ever could be the case, for nothing exists in such an impossible vacuum.“2

Tatsächlich ist reine Selbstreferenz ohne jede Fremdreferenz auch ganz unmöglich, denn beide markieren jeweils eine Seite einer Form, die ihrerseits nur als Zwei-Seiten-Form bestehen kann: wie immer selbstreferentiell konstituiert, so kann es ohne Unterscheidung von der Wirklichkeit kein Spiel geben, ohne Abgrenzung von einer Umwelt kein System und selbst Identität nur in der Differenz von Identität und Differenz3. In diesem Sinne aber lässt sich das „System Greenaway“ dann in der Tat auch als ein großes Spiel begreifen, das die Welt eben nicht ausschließt, sondern im spezifischen und ständigen Bezug auf sie sich selber aufbaut und vollzieht – ein Spiel nämlich, mit Hermann Hesse, „mit sämtlichen Inhalten und Werten unsrer Kultur“, mit denen es so spielt, „wie etwa in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit den Farben seiner Palette gespielt haben mag“, visiert vielleicht als „eine universale Sprache und Methode, um alle geistigen und künstlerischen Werte und Begriffe auszudrücken und auf ein gemeinsames Maß zu bringen“ und schließlich „in einem enzyklopädischen Werk alles Wissen seiner Zeit symmetrisch und synoptisch [...] zu ordnen und zusammenzufassen“, kurz (und eben durchaus nicht in jenem pejorativen Sinne obengenannten Vorwurfs, mit dem das Wort behaftet ist): ein Glasperlenspiel4, das sich so, mit André Malraux, als „imaginäres Museum“ die „museale Verpflichtung“ zu dem „heroischen Unterfangen“ auferlegt hat, „angesichts der Schöpfung 1 2 3

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Hofmannsthal: Ein Brief, S. 466. Greenaway: Papers / Papiers, S. 5. Vgl. Freud: Der Dichter und das Phantasieren, S. 214; Luhmann: Soziale Systeme, S. 95, 604; ders.: Die Kunst der Gesellschaft, S. 240, 707; Descombes: Das Selbe und das Andere, S. 47ff. Hesse, Hermann: Das Glasperlenspiel. Versuch einer Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht samt Knechts hinterlassenen Schriften, Frankfurt am Main 1972, Zitate S. 12, 126, 177.

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Schluss: Cinema is dead – long live cinema?

die Welt noch einmal neu zu erschaffen“5 – ein Unterfangen aber, das in dieser „heroischen“ Aufgabenstellung (tragischerweise) dann auch niemals wird gelingen können, wenn mit Luhmann das „Problem der Welt“ als „äußerste Komplexität dessen, worauf Sinn als möglich verweist“, in diesem Ausmaße gar nicht bearbeitet geschweige denn noch einmal in sich selber eingeführt werden kann: „es ist in keinem Sinne ein lösbares Problem“6, weshalb das Spiel auch immer Spiel bleiben und mit der Welt nicht zu verwechseln sein wird7, und zwar auch gerade dann nicht, wenn es sich selbst als Teil der Welt zu fassen sucht oder selbst gar als deren Substitut, wenn, mit Flusser, in einer Umkehrung der „Bedeutungsvektoren“ die Kunst nicht mehr auf die Welt verweist, sondern umgekehrt, mit Mallarmé, die Welt selbst nur dazu da zu sein scheint, in ein Kunstwerk einzugehen8: „The whole world and its information“, so in diesem Sinne Greenaway, „is there to be used and reused and refurbished in order to make intelligent, sophisticated art works.“9

Kunst und Leben Entsprechend aber klagt in THE TULSE LUPER SUITCASES die Figur der Leslie Contumely wie in einer Stellvertretung und Vorwegnahme einer möglichen Kritik an Greenaway auch dessen alter ego Luper an: „We do not trust your imagination. We know you will turn it into words, and then others will turn your words into pictures, and the pictures will become more important than the real thing. And people will judge the real thing by the pictures, and not the other way round, and they will find the real thing wanting and secondary. [...] You have spoiled it all, Mr. Luper. Life does not need to be made into art.“

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Malraux: Psychologie der Kunst, S. 10. Luhmann: Soziologie als Theorie sozialer Systeme, S. 117. Vgl. Baecker: Das Spiel mit der Form, S. 158. Vgl. Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, S. 50ff.; Mallarmé: Das Buch betreffend, S. 254. „Interessant“ ist dann in dieser Sichtweise der Kunst als Spiel auch kein realweltliches Geschehen für sich selbst, sondern nur, inwieweit es als Anlass, Material oder auch Vorwand für die Herstellung von Kunstwerken dienen kann (Flusser: Unser Spiel, S. 122), so dass im Grunde dann von „künstlerischer Arbeit“ auch nicht mehr die Rede sein kann, wie Flusser am Beispiel der Photographie verdeutlicht: „,Arbeiten‘ heißt die Welt verändern, weil sie nicht so ist, wie sie sein soll. [...] Der Fotograf hingegen interessiert sich nicht dafür, wie die Welt, sondern wie die Fotografie sein soll, und er verändert die Welt in Funktion des Symbols, das er herstellt. Es handelt sich um ein Umkehren des hergebrachten Verhältnisses zwischen der Welt und ihrer ,Erklärung‘. Marx sagt, die Philosophen hätten sich auf ein Erklären der Welt beschränkt, während es sich darum handle, sie zu verändern. Der Fotograf verändert die Welt, um sie zu fotografieren, also zu ,erklären‘. [...] Seine Fotografie ist ,wahr‘, nicht wenn sie eine unveränderte Welt abbildet, sondern wenn sie die Veränderungen abbildet, die der Fotograf in der Welt und im Apparat durchgeführt hat.“ (Flusser: Kommunikologie, S. 185f.) Zitiert nach: Oosterling: Cinema of Ideas, S. 8.

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Dabei scheint es in der Tat sehr oft auch, dass, mit Oscar Wilde, in Greenaways Filmen das Leben die Kunst weitaus mehr nachahmt als umgekehrt die Kunst das Leben10 – was dem Leben allerdings dabei meist nur zum eigenen Nachteil gereicht, sei es, wenn •







in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT in einem re-entry der Unterscheidung von Darstellendem und Dargestellten die in den credits nur als The Statue geführte Figur einen Menschen darstellt, der eine Statue darstellt, die einen Menschen darstellt („the very statues breathe“, so schon Michael Nymans Lied QUEEN OF THE NIGHT, welches den Film eröffnet) – „that fool who behaves like a statue when you least expect“, wie Mr. Neville sie bezeichnet, die sich immer an verschiedenen Stellen der ihrerseits ansonsten von Mr. Neville zur nature morte stillgestellten Gartenlandschaft postiert und schließlich so zum stummen Zeugen mindestens eines Mordes wird11; in A ZED AND TWO NOUGHTS der Chirurg Van Meegeren nicht nur seine Frau dazu bringt, ihren Namen in denjenigen von Vermeers Ehefrau Catharina Bolnes zu ändern und ihr Äußeres Vermeers MÄDCHEN MIT ROTEM HUT anzugleichen, sondern auch seine Patientin Alba Bewick nach dem Vorbild weiblicher Vermeer-Figuren herrichtet und ihr aus keineswegs medizinischen, sondern rein ästhetischen Gründen symmetrischer Harmonie nach dem ersten auch das zweite Bein amputiert („I am an excuse for medical experiments and art theory!“, wie Alba entsetzt feststellen muss), woraufhin sie an den Folgen der Operation schließlich verstirbt; in THE BELLY OF AN ARCHITECT die Photographin Flavia Speckler den Architekten Stourley Kracklite aus Faszination mit seinem Bauch als Agnolo Bronzinos ANDREA DORIA ALS NEPTUN posieren lässt, während der an Magenkrebs erkrankte Kracklite selber eine Obsession mit dem Bauch einer Statue des Augustus entwickelt, der er sich selber anzuverwandeln sucht, indem er sich vergrößerte Kopien der Photographie der Staue auf den Leib hält oder auch die Krankheiten der „Gallen-“ oder „Nierensteine“ mit dem Material der Statue identifiziert; oder schließlich in THE TULSE LUPER SUITCASES Luper der „Reinkarnation“ der Mitte des 19. Jahrhunderts zweifach von Jean Auguste Dominique Ingres portraitierten Marie Clothilde Ines Moitessier begegnet, deren über Jahre hinweg angefertigte Portraits aber erst mit ihrem (erneuten und vor allem: gewaltsamen) Tod zu komplettieren sind, wie eine Luper authority erläutert: „Ingres complained that there was in his portrait something missing, something incomplete. [...] The death of Madame Moitessier – the completion of the portrait. Was this the missing something that Ingres could not find?“

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„Life imitates Art far more than Art imitates Life.“ (Wilde, Oscar: The Decay of Lying. An Observation, in: ders.: The Complete Works, S. 825-843, S. 833, 843.) Wie an anderer Stelle zu erfahren, hat diese rätselhafte Figur allerdings, im modernen Sinne geradezu ganz bürgerlicherweise, auch eine Ehefrau und einen Hund! Vgl. Morgan: Breaking the Contract, S. 13.

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Wie gerade auf diesen letzten Fall bezogen nach Derrida das Portrait den Tod des Portraitierten fordert, insofern seine „repräsentative Funktion“ dessen „Gewesen-sein“, das es nach seinem Tod beglaubigen soll, vor seinem Tod in einem „Gewesen-sein-werden“ schon vorwegnimmt12, wie nach Susan Sontag auch alle Photographie nichts anderes ist als ein „sublimierter Mord“, der das photographierte Leben „objektiviert“, symbolisch in Besitz nimmt und monumentarisch nur auf seine Sterblichkeit verweist13, so erscheint die Kunst in diesen Beispielen überhaupt als parasitäres Supplement des Lebens, dessen Darstellung zugleich auch seine „De-Vivifizierung“, seinen Tod verlangt: seine Stillstellung, seine invasive Transformation, seine Substitution, zuletzt gar seine Auslöschung – ein Thema, das Greenaways Œuvre seit VERTICAL FEATURES REMAKE mit seiner sozusagen ökologischen Kritik der Kulturalisierung der Naturlandschaft auch schon durchzieht, wobei zugleich zu fragen ist, inwieweit diese künstlerisch-künstliche „Ökonomie des Todes“ sich zusammen mit ihrem Referenten auch ihres Subjekts entledigt14 – das in genannten Beispielen selbst schon nur noch als „kopierte Existenz“, als homme-copie auftritt15.

Mechané und amechania Nicht nur als passive Opfer, sondern gerade auch als aktiv (und zumeist auch: künstlerisch) Tätige führen Greenaways Figuren vor, was, mit den Worten Friedrich Kittlers, mit Leuten geschieht, die „in die Schusslinie der Medien“ geraten16 (seien dies nun „technische“ oder „symbolisch generalisierte“ Medien, Apparate, Dispositive, Institutionen oder „symbolische Formen“17) – sie geraten nämlich, mit Flusser, in ein „magisches Spiel“, zu dessen Spielball der Spieler immer selbst wird, „weil er zwar ihm geheimnisvolle Kräfte zu meistern scheint, aber von diesen Kräften, eben weil sie für ihn geheimnisvoll bleiben, verschluckt werden kann“18 – und eben dieses Ende ist ihnen (fast) allen stets gewiss:

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Derrida: Kraft der Trauer, S. 190ff. Sontag, Susan: In Platos Höhle, in: dies.: Über Fotografie, Frankfurt am Main 1977, S. 9-30, S. 20f. Vgl. Derrida: Grammatologie, S. 120f., 286, 510f. Luhmann: Die Autopoiesis des Bewusstseins, S. 89ff.; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 765f., 871, 1019; ders.: Die gesellschaftliche Differenzierung und das Individuum, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 121-136, S. 127ff. Vgl. Kittler: Grammophon Film Typewriter, S. 224. Vgl. Engell: Ausfahrt nach Babylon, S. 284f. Flusser: Für eine Phänomenologie des Fernsehens, S. 106; vgl. ders.: Kommunikologie, S. 200.

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in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT dient ein provinzieller Landsitz als verkleinertes Modell der englischen Gesellschaft des späten 17. Jahrhunderts (innerhalb dieser Gesellschaft). Der Zeichner Mr. Neville wird damit beauftragt, Bilder des Anwesens anzufertigen; allerdings stellen seine „wirklichkeits-getreuen“ Aufzeichnungen zugleich auch einen verändernden Eingriff in diese Wirklichkeit dar, und die Intrige, in die er dadurch hineingezogen wird, sieht schließlich seinen Tod vor – der Zeichner, der die sichtbare Welt durch einen optischen Rahmen erfasst, verfängt sich selbst in einem frame-up und wird am Schluss von genau denjenigen, die das Publikum seiner Zeichnungen bilden sollten, geblendet und erschlagen; in A ZED AND TWO NOUGHTS dient ein Zoo als verkleinertes Modell der Schöpfung (innerhalb dieser Schöpfung). Um hinter das „Geheimnis“ der Evolution zu kommen bzw. den „Sinn des Lebens“ zu ergründen, führen die zwei Zoologen Oswald und Oliver Deuce mittels Zeitrafferaufnahmen filmische Verwesungsexperimente durch, bei denen sie als Experimentatoren allerdings zugleich auch ihre eigenen Versuchsobjekte werden, und der Aufbau des Versuches verlangt schließlich ihren Tod – so bekommen sie nicht einmal mehr das Scheitern ihres Experimentes mit, das genau durch dasjenige Phänomen scheitert, welches es erforschen und abbilden wollte, nämlich das Phänomen der Reduktion und der natürlichen Zersetzung, das schließlich in Gestalt von Hunderten von Schnecken die Versuchsanlage lahmlegt; in THE BELLY OF AN ARCHITECT wird eine Ausstellung von Modellen nie verwirklichter gigantomanischer Gebäude des Architekten Étienne-Louis Boullée vorbeitet (innerhalb eines selbst gigantomanischen Gebäudes innerhalb einer Stadt voller gigantomanischer Gebäude, nämlich dem Monumento Vittorio Emmanuele II in Rom). Der Kurator, der Architekt Stourley Kracklite, muss im Laufe der Vorbereitungen allerdings feststellen, dass sein Kassier ihm nicht nur seine schwangere Frau ausspannt, sondern außerdem auch Gelder vom Ausstellungsbudget abzweigt, um damit in einem eigenen Projekt das Foro Italico Benito Mussolinis zu restaurieren. Sein Krebsleiden, das sich seit der Zeugung seines Kindes immer mehr bemerkbar macht, der Verlust seiner Frau und der Verlust der Ausstellungsleitung treiben Kracklite schließlich in den Tod – nachdem ihm neun Monate zuvor makabererweise ein Modell von Boullées KENOTAPH FÜR ISAAC NEWTON als Geburtstagstorte präsentiert wurde, stürzt er sich zur Eröffnung der Ausstellung, die genau auch mit der Geburt seines Kindes koinzidiert, vom Vittoriano in die Tiefe; in DROWNING BY NUMBERS dient ein Komplex diverser vom Leichenbeschauer Madgett und seinem Sohn Smut erfundener Spiele sowohl als miniaturisierte Modellierung der Gesellschaft (innerhalb der Gesellschaft) als auch der gleichzeitigen Simulation und der Evasion der spielexternen Wirklichkeit (innerhalb dieser Wirklichkeit). Von drei Gattenmörderinnen gleichen Namens, aber verschiedener Generationen wird Madgett unter Inaussichtstellung sexueller Gratifikationen dazu gebracht, ihre Morde zu verschleiern, hat nach dreimaliger Urkundenfälschung und dreimaliger Enttäuschung seiner Hoffnung aber schließlich genug von Spielen – und vom Leben: er macht setzt sein Schicksal selbst aufs Spiel, akzeptiert dann resignierend seinen Untergang und erwartet seinen Tod, 372

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so wie Smut aus Schuldgefühlen wegen des Todes seiner Freundin in einem Endgame genannten Spiel, dessen Ziel geradewegs der Tod seines Spielers ist, sich selbst erhängt. Sind Madgett und Smut zwar einerseits die „master-game-player“ des Films, so andererseits die von ihnen gespielten Spiele zugleich Vehikel ihres Untergangs, da sie selbst zu deren Spielball werden und ein Ausstieg ihnen auch nicht möglich ist; in THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER wird ein Luxusrestaurant zur Miniatur einer ebenso skrupellos materialistischen wie auch vulgären Gesellschaft (innerhalb dieser Gesellschaft). Der Buchhändler Michael wird zum Liebhaber von Georgina, der Frau des brutalen Gangsters Albert, der wiederum an seinem Nebenbuhler furchtbare Rache nimmt: Michael wird mit aus seinen eigenen Büchern gerissenen Seiten gestopft wie eine Mastgans mit Maisbrei, so lange, bis er schließlich qualvoll am Papier erstickt: „he was stuffed with the tools of his trade – he was stuffed with books“, wie Albert zuvor auch schon seinen Schuldner Roy gezwungen hatte, Hundekot zu essen, und dem Küchenjungen Pup Mantelknöpfe und seinen eignen Nabel abgeschnitten und ihn hatte schlucken lassen. Hatte Albert zudem aber geschworen, Michael selber „aufzufressen“ („I’ll kill him and I’ll eat him!“), so wird er eben dazu von seinen vorherigen Opfern schließlich auch gezwungen – und als „Kannibale“ von Georgina dann erschossen; in PROSPERO’S BOOKS dient das Theater, eben als theatrum mundi, als verkleinertes Modell der Welt (innerhalb der Welt). Greenaways Prospero schreibt ein Theaterstück, ist als Autor aber zugleich auch Figur seiner eigenen Geschichte, deren weitere Figuren seinen Tod planen: der berühmte „Tod des Autors“19 wird hier Wirklichkeit, indem die von eigener Hand geführte Feder Prospero die Kehle zerschneidet und so das Instrument der Schrift das Organ der Stimme zerstört; eine mediale Selbstamputation also20, wäre dieser „Tod des Autors“ nicht nur eine seiner eigenen Fiktionen; in THE BABY OF MÂCON wird im Italien der Mitte des 17. Jahrhunderts ein im Frankreich der Mitte des 15. Jahrhunderts angesiedeltes Theaterstück aufgeführt, in der die vorgebliche Jungfrauengeburt eines dann zum neuen Messias erhobenen Kindes das Ende einer Zeit der Dürre und der Not verkündigen soll (wobei das Publikum der Aufführung selber ins Geschehen des Stückes eingreift, dort selbst auch Rollen übernimmt und sich am Ende überhaupt als Teil des Ensembles herausstellt, wie umgekehrt die Schauspieler nicht nur vorgeben, zu kopulieren und zu sterben21, sondern tatsächlich vergewaltigt und ermordet werden). Zwar behauptet die Schwester des Kindes nur, seine Mutter zu sein, um sich selbst als neue Muttergottes darzustellen und bereichern zu können; da das Kind allerdings, wie sich herausstellt, tatsächlich über wundertätige Fähigkeiten verfügt, zwingt es seine Schwester, in ihrer selbstgewählten Vgl. Barthes: Der Tod des Autors. Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 61. Vgl. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 23: „Most actors and actresses in the cinema are asked sooner or later to die or to copulate. But nobody ever believes they die, and most of us don’t believe they copulate. So it’s the most extreme of human activities, but we know rationally that it does not happen.“

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Rolle zu verbleiben, tötet ihren Buhlen, bevor er ihre Jungfräulichkeit aufheben kann, und wird darauf von seiner Schwester selbst erstickt. Das tote Kind wird zu Reliquien zerhackt, die eigentlich nur der Figur der Tochter für ihre Unzucht zugedachte Strafe einer 208fachen Vergewaltigung wird an ihrer Darstellerin real vollzogen, die damit ebenso in ihre Rolle gezwungen wird wie die von ihr dargestellte Figur, und da – wie der Bühnendiener erklärt – die Sünden der Kinder immer mit den Eltern beginnen, werden auch ihr Vater und ihre Mutter getötet und damit die gesamte Familie ausgelöscht; in THE PILLOW BOOK übersendet die Schriftstellerin und Kalligraphin Nagiko ihre Texte an ihren Verleger, indem sie sie ihrem Geliebten, dem Übersetzer Jerome, auf den Leib schreibt – Jerome nämlich ist zugleich auch der Geliebte des Verlegers, welcher seinerseits auch schon der Verleger von Nagikos Vater war, den er erpresste und sexuell missbrauchte. Nachdem Jerome durch einen verschmähten Liebhaber Nagikos zu Tode kommt, lässt der Verleger sein Grab aufbrechen, ihn häuten und seine bemalte Haut zu einem Buch verarbeiten, woraufhin Nagiko ihm weitere sieben „lebendige Bücher“ schickt, von deren letztem – dem von einem messerbewehrten Sumoringer verkörperten Book of the Dead – er aus Rache für die Schändung von Jeromes Leichnam und die frühere Misshandlung von Nagikos Vater schließlich getötet wird; vom Vorbild der berühmten Traumsequenz aus Federico Fellinis 8½ inspiriert, richten sich in 8½ WOMEN die Geschäftsleute Philip und Storey Emmenthal – Vater und Sohn – nach dem Tod von Philips Frau, Storeys Mutter, auf ihrem Anwesen einen Privatharem ein. Viel eher aber als nur passiv die sexuellen Phantasien der Männer zu erfüllen, übernehmen die Frauen bald das Regiment innerhalb des Hauses und dann auch die Kontrolle über Psychen, Konten und Besitzungen der Emmenthals, bevor sie die beiden Männer am Ende verlassen und wieder ihrer eigenen Wege gehen. Philip schließlich stirbt, während (oder wahrscheinlich: dadurch, dass) seine bevorzugte Konkubine ihn masturbiert – für Greenaways Verhältnisse wohl sicherlich einer der angenehmsten Tode der Figuren (wiewohl er wiederum, wie Philip sehr wohl weiß, auch nur durch dessen eigene Maßlosigkeit hervorgerufen wird: „I was always frightened of the possibility of too much pleasure“); und in THE TULSE LUPER SUITCASES schließlich soll die Rekonstruktion der Lebensgeschichte von Tulse Luper die „wahre Natur“ des 20. Jahrhunderts erhellen (innerhalb dessen die Geschichte sich ereignete) und geht es also um eine Darstellung der „world according to Tulse Luper“ (innerhalb dieser Welt). Ein Film (innerhalb des Films) aber enthüllt am Schluss, dass Luper mit 10 Jahren schon verstarb, bevor er seine zahlreichen Abenteuer überhaupt erleben konnte, dass seine ganze Lebensgeschichte nur eine von seinem besten Freund erfundene Fiktion ist und dass das gesamte Projekt The Tulse Luper Suitcases somit, mit Novalis, wie Lupers Leben nichts anderes als „eine sich selbst vernichtende Illusion“ darstellt22.

Novalis: Vermischte Fragmente II, S. 563.

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Bei all diesen Todesfällen ist klar die Symmetrie zu erkennen, die sie angesichts einer wie immer gearteten Hybris der Figuren wie lauter Talionund Spiegelstrafen einer (wenn auch sehr drakonischen) „poetischen Gerechtigkeit“ erscheinen lässt – fast unabhängig davon, ob es sich beim jeweiligen Figurentod nun um Mord, um Selbstmord oder einen Unfall handelt: der arrogante Zeichner wird geblendet, die experimentierversessenen Wissenschaftler töten sich im Selbstversuch, der gigantomanische, aber nie etwas vollendende Architekt stürzt von einem Gebäude; der obsessive Spieler stirbt in einem Spiel, der weltfremde Buchhändler durch papierne Buchseiten, der grausame Gangster durch seine Opfer, der autokratische Autor durch seine Figuren, die überambitionierte Schauspielerin durch ihre Rolle, der tyrannische Verleger durch ein „lebendes Buch“ und der alte Haremsherr durchs Liebesspiel mit seiner Favoritin – immer handelt es sich so um „protagonists whose arrogance and grandiose artistic schemes are ultimately their undoing“23, um „victim[s] of [their] own power“24, die in einem Bumerang-Effekt ihres Handelns die Voraussetzungen und die Vorbereitung ihres Unterganges immer selbst herbeiführen (wie umgekehrt Tulse Luper zuerst sterben muss, um dann als mythischer Held wiederkehren zu können). In ihnen allen spiegelt sich jene spezifische „Mischung aus Macht und Ohnmacht, Erhabenheit und Lächerlichkeit des Menschen“25, der als homo faber und homo inermis zugleich sich zum „Prothesengott“26 und wiederum zum „künstlichen Auswuchs seiner eigenen Prothesen“27 macht, zum mechanically extended man oder zur Peripherie einer humanly extended machine28, kurz: zur Einheit eines aporetischen Duals von mechané und amechania29, und ist dabei mit Hannes Böhringer einerseits der Tod die eigentliche Aporie und Amechanie des Menschen, so ist es andererseits gerade in der als überlebenssichernd angelegten techné und mechané, da er seinem eigenen hyperbolischen Wesen gänzlich ohnmächtig ausgeliefert ist30. In diesem Sinne sind Greenaways Filme immer als Tragödien von Medien und ihren „Nutzern“, von „listigen“ apparativen Vorrichtungen und ihren sich selbst überschätzenden Operatoren zu betrachten31, in denen eine „übersteigerte mechané [...] aus ihrem Innern das Gegenteil ihrer selbst hervorbringt“ und so die „Amechanie als konstitutives Element der Maschine“ sich herausstellt, an die der Mensch sich selbst gefesselt hat:

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Barker: A Tale of Two Magicians, S. 29. Romney: Prospero’s Books, S. 45. Kittler: Optische Medien, S. 22. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, S. 451. Baudrillard: Videowelt und fraktales Subjekt, S. 115. Vgl. Licklider, J.C.R.: Man-Computer Symbiosis, in: IRE Transactions on Human Factors in Electronics 1(1960), S. 4-11. Böhringer, Hannes: Das hölzerne Pferd, in: ars electronica (Hg.): Philosophien der neuen Technologie, S. 7-26, S. 8. Ebd., S. 10, 13. Vgl. Flusser: Bilderstatus, S. 75ff.

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System und Mythos „Die Tragödie erhebt das Fahrzeug des Klugen zur Untergangsmaschine. [...] Die Menschen stellen Geräte her, Werkzeuge, Fahrzeuge, Waffen. Der Mensch ist ein Mechanopoet. Die Geräte sind Mittel, Maschinen, die seine Macht steigern. [...] Die Maschine ist auf Machtsteigerung, auf Befreiung von Hindernissen ausgerichtet. Sie soll den Belagerungsring der Schwierigkeiten sprengen. Der Mechaniker will die Amechanie hinter sich lassen. Aber eine Schwierigkeit folgt der anderen. Mehr und mehr produziert die Mechanik selbst die Amechanie, die sie überwinden soll“32,

oder, wie in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT Mrs. Herbert über den Zusammenhang der mythologischen Bedeutung des Granatapfels als Symbol der winterlichen Unfruchtbarkeit der Erde im Mythos der Persephone und seiner modernen Kultivierung in Treibhäusern ausführt: „Mr. Porringer and your Mr. Clancy try hard to defeat the influence of the pomegranate by building places like these. [...] And having built them and stocked them and patiently tended them - what do they grow? Why, the pomegranate. And we are turned full circle again.“

Schamloser Humanismus und tragische Anthropologie Hier wie überall sonst in Greenaways Œuvre stellt sich so heraus, dass eben diejenigen Mittel, Medien und Technologien, mit deren Verfügung sich der Mensch zum cartesischen maître et possesseur de la nature erhoben dünkt33, das Problem, um dessentwillen sie ja eingerichtet wurden, anstatt zu lösen nur reproduzieren, ja es selber noch verstärken, zuspitzen und zum Eskalieren bringen und am Ende so den damit letztlich selbstinduzierten Untergang des selbstangemaßten „Herrn und Eigentümers der Natur“ herbeiführen, wie Horkheimer und Adorno ihn schon in der mythologischen „Urgeschichte der Subjektivität“ festmachen, indem der Mensch zur konstitutiven Selbstunterscheidung gegenüber einer „blinden Natur“ sich selber als Natur verleugnet: „Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht.“34 In diesem Sinne sind Greenaways Filme mit all ihren bisweilen furchtbaren Grausamkeiten dennoch sicherlich nicht „ahuman“ oder gar „misanthropisch“35; wohl aber formulieren sie eine durchgehende Kritik dessen, was Claude Lévi-Strauss als einen „schamlosen Humanismus“, einen „Humanismus der maßlosen Überheblichkeit“ bezeichnet, der in einer Selbstexemption im allergrößten Maßstab den Menschen gleichsam als Wesen

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Böhringer: Das hölzerne Pferd, S. 14f., 17, 25f. Descartes, René: Discours de la Méthode / Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Französisch / deutsch. Übersetzt und hg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1960, VI.2., S. 100. Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1988, S. 61f. Der Filmkritiker David Thomson etwa bezeichnet Greenaway als „an authentic misanthrope [...] thrilled by human squalor“ (Thomson: „Peter Greenaway“, S. 303).

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außerhalb der Schöpfung als den absoluten Herrn derselben ansetzt36, d.h. letztlich, mit Peter Zima, als „anthropozentrisches Ebenbild des göttlichen Subjekts“, als „säkularisierte Gottheit“37 – eine ebenso große Anmaßung aber wie diejenige, mit der der Mensch sich nicht allein als Herrscher der Natur, sondern auch als „Werkzeugherr“ der Technik wie auch als „Subjekt“ aller Medien geriert, mit denen er seine Naturbeherrschung leistet38. Es fragt sich schließlich nur, wie anmaßend diese Kritik nicht vielleicht selber ist und wie denn Greenaway vor allem gegenüber seinen immer scheiternden Künstlerfiguren selbst die Ausnahme von diesem Scheiterns bilden könnte. Versteht Greenaway selbst seine Tragödien menschlicher Hybris durchaus als Attacken gegen einen angeblich gegenwärtig wie noch nie grassierenden anthropologischen Narzissmus („narcissism, our 20th century disease“39), so ließen sie sich auch, mit Sigmund Freud, in die Reihe jener „Kränkungen menschlicher Eigenliebe“ eingliedern, deren Anzahl seit der Frühmoderne stetig zugenommen hat (und in der „Postmoderne“ mit dem seinerseits zum Tode wiederholten Slogan des „Tod des Subjekts“ vorläufig gipfelte – wie zumindest deren Kritiker feststellen können40). Hatte Freud selbst in seinem 1917 erschienenen Aufsatz EINE SCHWIERIGKEIT DER PSYCHOANALYSE noch von nur dreien solcher „Kränkungen“ gesprochen41: •





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einer kosmologischen Kränkung (durch Kopernikus), nach der der menschliche Wohnsitz der Erde nicht mehr als der Mittelpunkt des Weltalls gelten kann, einer biologischen Kränkung (durch Greenaways personal hero Darwin), nach der der Mensch sich gegenüber der Tierwelt nicht mehr auf eine „hohe göttliche Abkunft“ qua Vernunft und unsterblicher Seele berufen kann, und schließlich einer psychologischen Kränkung – natürlich durch Freud selbst, nach der das Bewusstsein weder als einziges noch souveränes noch als bestimmendes Element des Psychischen gedacht werden kann, mit der bekannten Konsequenz, „dass das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“42, Lévi-Strauss, Claude: Von der Irrationalität der Geschichte. Ein Gespräch mit JeanMarie Benoist, in: ders.: Mythos und Bedeutung, S. 236-251, S. 247; ders.: Die strukturalistische Tätigkeit. Ein Gespräch mit Marco d’Eramo, in: ders.: Mythos und Bedeutung, S. 252-274, S. 262. Zima, Peter V.: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen / Basel 2000, S. 86. Winthrop-Young: Friedrich Kittler zur Einführung, S. 144; Kittler: Optische Medien, S. 21. Siegel, Joel: Greenaway by the Numbers, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 66-90, S. 89. Vgl. die Beiträge in Nagl-Docekal, Herta (Hg.): Tod des Subjekts?, Wien 1987; Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987, S. 315ff.; Ricken, Norbert: Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs, Würzburg 1999, S. 127ff.; Zima: Theorie des Subjekts, S. 86ff; Gumbrecht: Tod des Subjekts als Ekstase der Subjektivität. Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 3-12. Ebd., S. 11.

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so trägt Gerhard Vollmer ein Dreivierteljahrhundert später zu diesen Kränkungen noch sechs weitere zusammen (namentlich eine ethologische, epistemologische, soziobiologische, technologische, ökologische und neurobiologische Kränkung)43, und Peter Sloterdijk vermutet, dass auch weiterhin „die Skala der Blamagen für den anthropologischen Narzissmus nach oben offen ist“44. Ohne sich selbst direkt daran beteiligen zu wollen, erkennt Sloterdijk nun allerdings, in einem Schritt zurück, in dieser Überbietungsspirale einer sich seit vier Jahrhunderten wiederholenden Szene den „Megatrend“ eines naturalistisch-mechanizistisch-konstruktivistischen Angriffs auf (erstaunlicherweise dann doch immer noch nicht ganz erschöpfte, für diesen Angriff aber eben nun mal notwendige) metaphysische Wertbestände, wie sie im einstmaligen „Triumphtitel des Subjekts“ versammelt waren45. In diesem „Megatrend“ nun ließen Greenaways Filme sich als Teil einer „tragischen Anthropologie“ eines autoaggressiven borderlineSubjekts begreifen, das sich selber mehr und mehr nur noch als „ein am Subjektseinkönnen zweifelndes Subjekt“, ja „ein als Subjekt widerlegtes Subjekt“ begreifen kann46, dessen „Seinsbeweis“ zuletzt nur noch aus seiner Kränkung resultiert: violor ergo sum – mit diesem „traumatologischen Cogito“, wie Sloterdijk es nennt, bleibt dem Subjekt auch nur noch der Stolz, an dieser Kränkung dann „diskret zu leiden“47 – indem es sie sich eben selber zufügt! Nach Sloterdijk hat nämlich die Strategie der „tragischen Anthropologie“ auch die besondere Pointe, dass noch jede narzisstische Kränkung sich jedenfalls auf seiten ihres Produzenten mit einem Gewinn an „Aufklärungsnarzissmus“ kompensieren und so sogar in ein Privileg ummünzen lässt, indem der „Aufklärer“ sich ipso facto dadurch von der Kränkung ausnimmt und regeneriert, dass er sie selber ausspricht48 – worin dann möglicherweise auch der Grund zu suchen ist, dass, mit Hans Ulrich Gumbrecht, der „Tod des Subjekts“ sich mitunter gerne nachgerade als „Ekstase der Subjektivität“ vollzieht, und zwar mit dem paradoxalen Effekt, dass gerade „diejenigen, die am lautesten vom ,Tod des Subjekts‘ reden, sich dabei oft so inszenieren, als gelte es, die exzessivsten Subjektivitäts- und Individualitätsrituale der Romantik zu überbieten“49;

eine Inszenierung, die gerade Greenaway mit seinen paratextuellen „Identitätsperformances“ gewiss nicht fremd ist50, welche den intratextuellen Inszenierungen des Untergangs seiner Figuren freilich diametral entgegenstehen. So betreibt Greenaway auch letztlich genau diejenige Selbst43 44 45

46 47 48 49 50

Vollmer, Gerhard: Die vierte bis siebte Kränkung des Menschen. Gehirn, Evolution und Menschenbild, in: Philosophia Naturalis 29(1992), S. 118-134. Sloterdijk: Kränkung durch Maschinen, S. 345. Ebd., S. 350ff.; ders.: Luhmann, Anwalt des Teufels. Von der Erbsünde, dem Egoismus der Systeme und den neuen Ironien, in: ders.: Nicht gerettet, S. 82-141, S. 104. Ebd., S. 127. Ders.: Kränkung durch Maschinen, S. 350ff., 366. Ebd., S. 345f. Gumbrecht: Tod des Subjekts als Ekstase der Subjektivität, S. 310ff. Vgl. Nitsche: Hitchcock – Greenaway – Tarantino, S. 126ff.

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exemption, an der er seine Figuren immer scheitern lässt, und wann immer er als sonstiger „Autoreflexivitätsvirtuose“51, als den er sich ja gerne gibt, auch darauf angesprochen wird, so zieht er sich auf jene komfortable als extern veranschlagte Position zurück, die gleichwohl nur in seinem blinden Fleck verschwinden kann: „Let's keep me out of this!“52

Der aporetische Normalzustand Ob der dem Subjektbegriff schon etymologisch eingeschriebene Widerspruch von Autonomie und Heteronomie53 nun in einer fiktionalen Figur verdichtet ausgetragen oder auf die Rollen von Autor und Figur verteilt und asymmetrisiert wird – als (selbst wie immer kritisierbare54) menschliche Selbstbeschreibungsformel instituiert er doch den Menschen als ein solches Wesen, das, mit Peter Bürger, „immer zugleich grandios und hilflos“ ist und mit dessen aporetischer Natur der Einzelne dann einfach irgendwie leben muss55. Ein Mittel dazu aber, ja das in seiner langen Tradition vielleicht probateste Mittel, ist die Kunst: wie es nach Lévi-Strauss ja die Funktion des Mythos ist, ein „logisches Modell“ zu liefern, um einen Widerspruch auflösen zu können – „eine unlösbare Aufgabe“, wie Lévi-Strauss erinnert, „wenn der Widerspruch real ist“, so dass er in einer „heilsamen Illusion“ auch bestenfalls verschleiert werden kann56 –, so ist die Kunst auch überhaupt zwar in der Lage, den Widerspruch und dessen Aporie zu adressieren; den einzigen Ausweg aber, den sie dann aus dieser Aporie eröffnen kann, besteht nicht etwa darin, diese aufzulösen (so dass es in der Konsequenz auch weder Kunst noch Leben, weder Macht noch Ohnmacht gäbe), sondern darin, dass sie hilft, „sich in der Aporie einzurichten, sie als Dauerzustand auszuhalten“57 – indem sie sie z.B. in sich selber wiedereinführt. So werden in Greenaways Filmen die Gegensätze von Kunst und Leben und mechané und amechania selbst in der Kunst thematisiert, die ihrerseits

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Gumbrecht: Tod des Subjekts als Ekstase der Subjektivität, S. 311. Zitiert nach: Hawthorne: Flesh and Ink, o.S. Zima: Theorie des Subjekts, S. 3. Vgl. zur systemtheoretischen Subjektkritik Luhmann: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen; ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 868ff., 1023ff.; ders.: Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, S. 200ff.; ders.: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, S. 130ff. Bürger, Peter: Das Verschwinden des Subjekts. Eine Geschichte der Subjektivität von Montaigne bis Barthes, Frankfurt am Main 1998, S. 95. Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, S. 253; ders.: Der nackte Mensch, S. 736, 774. Böhringer: Das hölzerne Pferd, S. 17.

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System und Mythos •



zum einen natürlich wiederum selbst Teil des Lebens ist – nach Linda Hutcheon das fundamentale paradox of metafiction, insofern die Unterscheidung von Kunst und Leben nicht anders getroffen werden als in einem re-entry ihrer selbst58 – und sich zum anderen auch selbst immer dem Scheitern aussetzt, gerade auch indem sie medial und technologisch selbst „mechanisiert“ wird59.

Als eine Mythologie des Menschen als eines homo medialis, der in seiner selbsterschaffenen „zweiten Natur“ nur ebenso unterzugehen droht wie in der natürlichen ersten, unterliegen Greenaways Filme also genau denjenigen Problemen, die sie selber darstellen und durch diese Darstellung reproduzieren – ein Zirkel, der schlichtweg nicht aufzulösen ist, sondern höchstens durch die ironische „vainglorious self-mocking ambition“60 von Greenaways Filmen insofern integriert und dann „verwunden“ werden kann, als dass der Versuch dazu in seiner prädeterminierten Unmöglichkeit und zusammen mit seinem entsprechend zwangsläufigen Scheitern vorgeführt wird. Das Scheitern der Kunst selbst am Leben wird so zum Teil ihres Konzepts und zur Bedingung des Gelingens61, wie schließlich selbst die als wie immer restriktiv erlebten Maßstäbe und constraints, nach denen der Mensch die Welt, die Kunst und auch sich selbst gestaltet, gerade auch in der Darstellung und Reflexion der eigenen Beschränkung zugleich als eine „Arena für die Betätigung individueller Freiheit“ zu betrachten sind – für welche man gleichwohl bereit sein muss, auf Eigenrisiko den Eintrittspreis zu zahlen62.

Bildungsroman und Selbstnachruf Allerdings, so lässt sich wohl vertreten, geht es dem „System Greenaway“ primär auch gar nicht darum, einem „humanistischen Vorurteil“ entsprechend nun ausschließlich und unbedingt ein „Menschenbild“ zu liefern63, sondern vielmehr eine Selbstbeobachtung der Medien und vor allem auch des Kinos selbst zu leisten. „Cinema“, so Greenaway, „is still an incomplete amalgam of other forms of art which have still not completely reached autonomy“64 – in ihrer expliziten Selbstreflexivität und intermedialen Bezugnahme dienen Greenaways Filme als Ort einer „Identitätssuche“ und „Selbstfindung“ zwar nicht des Menschen (indem sie nun etwa nur filmisch erzählte Bildungsromane auf die Leinwand brächten), wohl aber des Kinos, die sich durch einen kontinuierlichen Selbstvergleich mit anderen (älteren) medialen Formen wie der Malerei und Grafik (THE DRAUGHTSMAN'S CONTRACT, A 58 59 60 61 62 63 64

Hutcheon: Narcissistic Narrative, S. 5. Böhringer: Das hölzerne Pferd, S. 17ff. Greenaway: Hundred Objects to Represent the World, o.S. Womit dann aber durchaus diskutabel bleibt, ob hier die Not zur Tugend gemacht werde oder nur der Bock zum Gärtner. Vgl. Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation, S. 382ff. Ders.: Der Begriff der Gesellschaft, S. 2; ders.: Die Tücke des Subjekts und die Frage nach dem Menschen, S. 159. Greenaway: Have we seen any cinema yet?, o.S.

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ZED AND TWO NOUGHTS), der Photographie, der Skulptur und Architektur (A ZED AND TWO NOUGHTS, THE BELLY OF AN ARCHITECT) oder der Literatur und dem Theater (PROSPERO’S BOOKS, THE BABY OF MÂCON, THE PILLOW BOOK) als Vorläufermedien des Kinos vollzieht – bis dass das Kino selbst die innerhalb des „Systems Greenaway“ zuvor an A TV DANTE erprobte neuere Technologie und Ästhetik des Fernsehens und Videos importiert (PROSPERO’S BOOKS, THE PILLOW BOOK) und im multimedialen Großprojekt THE TULSE LUPER SUITCASES dann vor allem gegenüber den wiederum noch jüngeren online-Medien auch schließlich völlig aufhört, länger noch zentrales Leit- und Bezugsmedium zu sein: die „Selbstfindung“ des Kinos kulminiert so in der Feststellung der eigenen Überholtheit oder selbst gar Obsoleszenz, so dass es Greenaways Œuvre also eigentlich primär auch nicht, mit Günter Anders, um die „Antiquiertheit des Menschen“ und den Verbleib seiner Seele im Zeitalter einer zweiten industriellen Revolution geht65, sondern vielmehr um die Antiquiertheit des Kinos und den Verbleib des Films im Zeitalter der „digital revolution“, und viel eher als den „Tod des Subjekts“ ruft Greenaway den Tod des Kinos aus: „the cinema is dead“, so seine trademark catchphrase. Bereits 1995, in seinem Beitrag zur filmischen Anthologie LUMIÈRE AND COMPANY, bei der 40 Regisseure eingeladen wurden, Ein-Minuten-Filme mit dem originalen cinématographe der Lumières zu produzieren, gibt Greenaway seinen Ansichten über die historische Vergänglichkeit des Kinos diesen Ausdruck: „I do indeed think that cinema is mortal; there is a lot of evidence already that it is dying on its feet“, und in der Tat scheint auch der Rückgriff auf eine überholte 100 Jahre alte Technologie für Greenaway vor allem als selbstreferentielle Analogie für die Rückständigkeit des Kinos der Gegenwart zu dienen, dem eine mindestens ebensogroße Umwälzung bevorstehe wie seinerzeit dem Stummfilm: „Once upon a time, cinema [...] faced and tackled and adapted itself to a new technology of sound. The long existing, world-dominant entertainment technology of the so-called Silent Cinema changed almost overnight, and in essence it died. And it is virtually entirely buried. Who now watches Silent Cinema? Buster Keaton and Charlie Chaplin on television, and a small minority of film enthusiasts. Whether we are going to like it or not, the same may well soon happen to so-called Sound Cinema.“66

Der Tod des Kinos werde so vor allem durch die längst schon über es hinweg gegangene technologische Entwicklung induziert, nach deren gegenwärtigen Standards es ganz einfach nicht mehr up to date und so dazu verurteilt sei, ausrangiert und dann final zum alten Eisen abgelegt zu werden:

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Vgl. Anders, Günter: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1956. Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S.

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System und Mythos „Cinema [...] might well have fulfilled many of the expectations of an audience of our fathers and forefathers prepared to sit back, watch illusions and suspend disbelief, but I believe, we can no longer claim this to be sufficient. New technologies have prepared and empowered the human imagination in new ways. [...] After 108 years of activity, we have a cinema that is dull, familiar, predictable, hopelessly weighed down by old conventions and outworn verities, an archaic and heavily restricted system of distribution, and an out-of-date and cumbersome technology“,

so dass mit der unhaltbaren technologischen und ökonomischen Rückständigkeit des Kinos auch das (nach Greenaway natürlich nur zu begrüßende) Ende seiner überkommenen Ästhetik Hand in Hand gehe: „The cut-and-paste, narrative, chronologically-plotted, illustrated-text, illusionistic cinema has played itself out. If you believe it is still alive ... consider that they say, a slow-moving, herbivorous and not very bright dinosaur, shot in the head on a Monday, is brain dead for a week, and can manage to wag its tail until the Friday, before the last breath leaves its body. Friday will soon be upon us. [...] We should rejoice that the dinosaur is soon to be a fossil.“67 67

Ebd. Diese bisweilen reichlich pauschalisierend zusammengeworfene Totalkritik des Kinos allerdings verdankt sich in weiten Teilen natürlich dem rhetorischen Kunstgriff einer sich weidlich zunutze gemachten Begriffsunschärfe. Wenn Greenaways zahlreiche Statements und Slogans zu Gegenwart und Zukunft des Kinos aufmerksamkeitsanziehend gerne als (mehr oder weniger) verblüffende Paradoxa formuliert sind – „cinema is dead, long live cinema“, „cinema is wasted on cinema“, „taking cinema out of the cinema“ etc. –, so sind diese allerdings auch recht leicht wieder aufzulösen, wenn man nur verschiedene Bedeutungen desselben Wortes unterscheidet und dann präzisiert, was denn mit „Kino“ eigentlich gemeint ist: sei dies nun





ein Medium im Sinne einer Unterscheidung von Medium und Form oder von Kino und Film (vgl. zur ähnlich gelagerten Unterscheidung von cinéma und film Metz, Christian: Sprache und Film, Frankfurt am Main 1973), das es dann natürlich ebensolange geben wird, wie überhaupt noch Filme gemacht werden – dahingestellt, ob diese ästhetisch, dramaturgisch, konzeptuell oder präsentationsbezogen noch als irgend innovativ betrachtet werden können, wenn Greenaway zufolge von Griffith bis hin zu Scorsese sich im Grunde nichts geändert habe: „Scorcese is a very old-fashioned filmmaker, he’s basically making the same films in the same situations in the same pieces of architecture as Griffith did in the 1910s“ (zitiert nach: Oosterling: Cinema of Ideas, S. 11); eine industrielle und ökonomische Form, bei der man Eintritt zahlen muss, um in bestimmten Gebäuden nach einem bestimmten zeitlich und inhaltlich festgelegten Programm die Projektion von nach bestimmter Art und Weise hergestellten und in bestimmter Anzahl und Dauer verliehenen ZelluloidFilmstreifen zu sehen, die nicht zuletzt an ihrer mangelhaften accessibility zugrunde gehen wird: „The poverty of official cinema distribution means that I cannot, and you cannot, see any film of your choice in any cinema of your choosing this afternoon, or even next week, and probably not next month, and possibly never. It is easier for me to see a minor painting by Caravaggio in

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Mit der (wie immer fraglichen) Metapher des ob seiner Schwerfälligkeit zum Aussterben verurteilten Dinosauriers – die ihrerseits zu sterben sich beharrlich weigert68 – kehrt in Greenaways Diskurs die schon vor allem in A ZED AND TWO NOUGHTS verwendete evolutionistische Metaphorik wieder: Gemäß Ernst Haeckels „biogenetischer Grundregel“, nach der die Ontogenese eines jeden Individuums nichts weiter ist als eine kurze Rekapitulation der Phylogenese seiner Abstammungsgruppe69, durchläuft das Kino im „System Greenaway“ mit der Bezugnahme auf die referierten älteren Medien und Kunstformen noch einmal seine eigene Vergangenheit, um dann bei sich selber angekommen in einem wiederum den Haeckelschen ontogenetischen drei Stadien der Evolution, Transvolution und Involution70 analogen Modell den Ausblick auf seine Zukunft anzustellen, wie Greenaway mit seiner „theory of the three generations of invention, consolidation and rejection“71 erklärt: „Every society very rapidly uses up its aesthetic technology. When, for example, I would argue that cinema is now dead, it is hardly a very original thing to say, because most aesthetic technologies last about three generations, which is about 70 years. If we talk about cinema, Eisenstein invents the medium, Orson Welles consolidates it, and Godard throws it away. That’s the three generations of the father, the son and the grandchild. And if you look at aesthetic technologies like quattrocento Italian fresco painting – three generations: Giotto to Michelangelo ... Michelangelo is the Orson Welles, and then maybe the Caracci throw it away. If you think about egg tempera painting in Northern Europe, again it lasts about three generations. Then you need a new technology with a new aesthetic. So there’s nothing new in making grand,

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a small Umbrian town than it is for me to see Kubrick’s 2001 in any cinema that would represent that film in the way it was manufactured to be presented“ (Greenaway: Cinema is dead, long live cinema?, o.S.); • ein Dispositiv (vgl. vor allem Baudry: Das Dispositiv), das zwar den Zuschauern einen illusionistischen Realitätseindruck vermittelt, sie zugleich aber im Zustand eines „island unto themselves“ auch vollkommen passiviert und jeder sozialen (Inter-)Aktivität enthebt (Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 35f.): „So, you are sitting in the dark, man is not a nocturnal animal, what the hell you are doing in the dark, looking in one direction, sitting still?“ (Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S.); oder schließlich • eine Methode, wie sie Greenaways Definition des „cinema as an art of light projection“ anweist: „Cinema is nothing if not a beam of projected light striking the surface with a framed rectangle of brightness into which shadows are introduced to simulate illusions of movement“ (Greenaway: The Stairs 2, S. 39, 51) – die einzige Fassung des Kinos, die Greenaway (wie auf den folgenden Seiten noch erläutert werden wird) als durchaus zukunftsfähig einschätzt. Benton, Michael J.: Scientific Methodologies in Collision. The History of the Study of the Extinction of the Dinosaurs, in: Evolutionary Biology 24(1990), S. 371-400. Haeckel: Generelle Morphologie der Organismen. Band 2, 5. Buch, S. 7. Ebd., S. 20, 76ff. Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S.

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System und Mythos exclamatory statements about cinema being dead. It’s only relative to an aesthetic technology“72,

wobei Greenaway selbst (der sich selbstverständlich beharrlich weigert, seine eigene Position in diesem Schema zu bestimmen73) den Antrieb dieses letztlich zyklischen Prozesses auch nicht anders ausmachen kann denn in einem quasi-mythischen „Begehren nach Wandel“: „a desire for change itself, or because the bending of the medium creates various breaking-points, or out of a wish to repudiate the past, or because the stretching of the previous technology generates huge improvements along the avenues of cheapness, swiftness, greater accessibility and greater ease of handling, and sometimes even because of the introduction of a brand new base-energy source“74,

oder am Ende einfach in der postulierten „anthropologischen Konstante“ eines „inventive and innovative desire to make images“75 – womit, ganz anders als von einer sich wie immer darwinistisch gebenden Position auch zu erwarten wäre, die mediale Evolution primär vom Schöpfungswillen eines homo pictor motiviert wäre. Die historische Zäsur aber, die für den diagnostizierten Tod des Kinos den Unterschied von vorher/nachher ausmacht: den Unterschied von „old technologies“ und „new technologies“, von „celluloid cinema“ und elektronischen Medien, datiert Greenaway auf die Einführung der Fernsehfernbedienung am 31. September 1983 (den es kalendarisch natürlich gar nicht gibt – ein weiterer Violent Unknown Event also?) und die für den Rezipienten damit einhergehende Zumutung an Aktivität und Selektivität76, in deren Folge dem „heißen“ Medium Film dann immer weitere und immer „kühlere“ Medien hinzu- bzw. entgegengestellt werden77; eine Entwicklung, die dann wieder auf den Film zurückwirkt und, so Greenaway, so eine grundsätzliche Überarbeitung und Neuerfindung des Kinos nötig macht: „The ideas of excessive choice, personal investigation, personal communication and huge interactivity have come a long way since September 1983, and the act of cinema has had to exist alongside, and be a partner to, a whole new world of multiple-media activities, which have all intrinsically metamorphosed cinema itself. [...] How will cinema cope with them, because it surely must“78 –

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Ders.: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 17f.; vgl. ders.: Have we seen any cinema yet?, o.S.; Hawthorne: Flesh and Ink, o.S.; Willoquet-Maricondi: Two Interviews with Peter Greenaway, S. 320. Vgl. Hawthorne: Flesh and Ink, o.S. Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S. Ders.: Cinema is far too rich and capable a medium, o.S. Vgl., mit erheblicher Früherdatierung der Einführung der Fernbedienung, Engell: Tasten, Wählen, Denken, S. 53–78. Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 35ff. Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S.

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durch den impact der digitalen Technologien würde das Kino ansonsten ebenso hinweggefegt wie die Dinosaurier durch den angenommenen K/T boundary event eines Kometeneinschlags. Wenn andererseits aber – worauf auch in A ZED AND TWO NOUGHTS schon hingewiesen wird – die Dinosaurier tatsächlich nie verschwanden, sondern vielmehr überlebten, indem sie sich zu Vögeln umentwickelten, so besteht auch die Chance des Kinos angesichts der neuen Technologien in einer umfassenden Selbsttransformation – in einer Katastrophe im Sinne eines jener „,brutale[n] Sprünge‘, die es einem System ermöglichen zu überleben, wenn es eigentlich aufhören müsste zu existieren“, indem es auf eine alle seine Parameter überfordernde Störung kurzerhand mit einem Sprung auf eine ganz neue Zustandsebene reagiert79. Die Möglichkeit dazu scheint gerade dem „System Greenaway“ nun sozusagen genetisch bereits angelegt bzw. „potentialisiert“ schon eingeschrieben: Schon VERTICAL FEATURES REMAKE, sozusagen das „Urbild“ aller Greenaway-Filme, war, was mit den Mitteln des Films natürlich so nur zu fingieren war, als strukturell selbsttransformativ und morphologisch variabel eingerichtet – nach Lev Manovich eine Kerneigenschaft von new media objects80 (wiewohl VERTICAL FEATURES REMAKE als Film selbstredend ebensowenig ein new media object darstellt wie Mr. Nevilles Zeichnungen Photographien sind), uund wie das angeblich verschollene „Original“ von Vertical Features, das in VERTICAL FEATURES REMAKE wieder und wieder rekonstruiert wird, so das im Film und mit dem Film unmöglich zu erreichende Objekt ist, liegt überhaupt das im Sinne Lorenz Engells „filmische Objekt“81 der Filme Greenaways so auch zwar außerhalb des Films – allerdings nicht in einer als „außermedial“ angesetzten „Realität“, sondern vielmehr in einem anderen Medium: •



das „filmische Objekt“ der Filme Greenaways, das sie in ihrer Darstellung umkreisen und dem sie selber sich auch annähern, ohne es als Film je ganz erreichen zu können (da sie ansonsten selbst zu diesem Objekt würden), ist das new media object, und der Code des „Systems Greenaway“, also seine beobachtungsleitende Unterscheidung, ist die Differenz von old media und new media82, die es zugleich und vor allem auch zur Selbstunterscheidung in der merkwürdigen transitorischen Zwischenstellung nutzt, die das Kino zwischen „alten“ und „neuen“ Medien einnimmt83 –

von der dauernden Präsenz vor allem der Malerei bis hin zu Greenaways nicht eben bescheidener Ansage, für die neuen Medien das zu leisten, was etwa Picasso für die Malerei, Joyce für die Literatur oder Eisenstein für den Film getan haben: „I am going to be the one who will create the first new

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Baecker, Dirk: Niklas Luhmann in der Gesellschaft der Computer, in: ders.: Wozu Soziologie?, S. 125-149, S. 136. Manovich: The Language of New Media, S. 36ff. Vgl. Engell: Medienphilosophie des Films, S. 293. Zur Unterscheidung von old media und new media siehe Manovich: The Language of New Media, S. 27ff. Ebd., S. 50f., 237f.

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media masterpiece.“84 Wenn Greenaway die charakteristische Variabilität und Rekonfigurabilität des new media object schon für den Film beansprucht: „What film is truly definitive? By the time you see the film it may very well be sub-titled, re-edited, shortened, even censored, and every film is viewed at the discretion of the projectionist, the cinema manager, the architect of the cinema, the comfort of your seat and the attention of your neighbour“85, 84 85

Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S.; vgl. ders.: Cinema is dead, long live cinema, o.S. Ders.: A Zed and Two Noughts, S. 9. Nur kann all dies Beharren auf eine „Iterabilität“ des Films (vgl. Derrida: Signatur Ereignis Kontext, S. 133) natürlich nicht darüber hinwegtragen, dass weitere Änderungen am einmal hergestellten und in Kopie und Verleih gegangenen Filmstreifen nicht länger möglich sind und jede Vorführung desselben Films exakt dieselbe Bildersequenz zeigen wird, und so thematisiert in diesem Sinne auch THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER in einem zentralen Dialog ganz autoreflexiv die, mit Luhmann, „fatale“ Zumutung der Notwendigkeit des Anfangs und der damit verbundenen irreversiblen Festlegung und des damit verbundenen Ausschlusses aller anderen Möglichkeiten (vgl. Luhmann, Niklas: Frauen, Männer und George Spencer Brown, in: ders.: Protest, S. 107-155, S. 111) – Michael erzählt Georgina von einem Film, in dem, ganz wie er selbst, die Hauptfigur die erste halbe Stunde über schweigt, so dass alles weitere noch offen bleibt und möglich ist, bis sie es dann verdirbt und – spricht: Michael: Georgina: Michael: Georgina: Michael: Georgina: Michael:

„I once saw a film in which the main character didn’t speak for the first half an hour.“ „Like us? Do all the minutes we’ve been together add up to half an hour?“ „I was completely absorbed as to what would happen because anything was possible.“ „And then?“ „He spoilt it – he spoke.“ „And?“ „And within five minutes I lost interest.“

Dass es gegen die letztendliche Gestalt eines Films immer auch andere Möglichkeiten gegeben hätte, die sich aber eben gleichzeitig nicht realisieren ließen (vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 889), verweist letztlich nur darauf, dass nur alleine dort noch alles möglich ist, wo auch noch nichts passiert ist – also nur vor dem Violent Unknown Event der originären ersten Verletzung des unmarked state der Welt (oder der Kinoleinwand). Der Begriff der (zumal künstlerischen) Freiheit, verstanden als Begriff eines „unbedingten Anfangenkönnens“, ist dabei ein aporetischer, selbstwidersprüchlicher, paradoxer Begriff, der sich genau der Realisierungsbedingung widersetzt, die er doch selbst gesetzt hat, und der zugleich mit aller Freiheit auch den Zwang mitimpliziert (vgl. Krings: System und Freiheit, S. 26) – als Selektionszwang nämlich (Luhmann: Soziale Systeme, S. 47), der sich möglicherweise aufschieben, keinesfalls aber umgehen lässt: Man kann nicht den Kuchen gleichzeitig essen und behalten, wie das englische Sprichwort sagt, und ebensowenig eine Möglichkeit realisieren, ohne nicht alle anderen gegebenen Möglichkeiten damit ausgeschlossen zu haben – wie

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oder den database-Charakter seiner Filme unterstreicht: „Die Idee des interaktiven Zugriffs bei CD-ROMs fasziniert mich. Alle meine Filme sind wie Enzyklopädien aufgebaut, in denen man sich vorwärts, rückwärts oder in Querverweisen bewegen kann – insofern kommt es mir manchmal so vor, als hätte man die CD-ROM speziell für mich erfunden“86,

so ließe sich mit Walter Benjamin auch sagen, dass das new media object in einer Art von preadaptive advance87 in Greenaways Filmen gewissermaßen „virtuell verborgen“ war88 – wobei der Schritt nach vorn zugleich auch einen Schritt zurück bedeutet, wenn das „System Greenaway“ mit seinem Auszug aus dem Kino in die Digitalität zur Malerei zurückkehrt – um selber wieder Malerei zu werden.

Painting in Time Es ließe sich durchaus als Ziel des Projektes Greenaways begreifen, Correggios Ed io anche son pittore, wie der in THE BELLY OF AN ARCHITECT geehrte Étienne-Louis Boullée es seiner ABHANDLUNG ÜBER DIE KUNST als Motto voranstellte89, von der Architektur auf das Kino zu übertragen: „I am primarily a painter“, so Greenaway, „and my prejudice is that painting is the prime visual art“90, deren Formenreichtum und Gestaltungsmöglichkeiten das Kino nichts entgegenzusetzen habe: „I still believe painting to be the supreme visual art beside which cinema is rather pathetic, unimaginative, very conservative and rather dull“91 – IF ONLY FILM COULD DO THE SAME, so

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man andererseits aber, würde man alle Möglichkeiten des Anfangens gegeneinander abwägen, mit dem Anfangen auch nie anfangen könnte (Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 103). Zitiert nach: Spieler: CD-ROM im Omnimax-Format, S. 285. Zu Greenaway als „database filmmaker“ vgl. Manovich: The Language of New Media, S. 237ff. Vgl. Luhmann: Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie, S. 20; ders.: Geschichte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution, S. 191: „Preadaptive advances sind Errungenschaften, die im Rahmen eines älteren Ordnungstypus entwickelt und stabilisiert werden können, die aber erst nach weiteren strukturellen Änderungen des Systems in ihre endgültige Funktion eintreten. Preadaptive advances sind sozusagen Lösungen für Probleme, die noch gar nicht existieren.“ Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seine technischen Reproduzierbarkeit, S. 475. Boullée: Architektur, S. 44, 49. Greenaway: 105 Years of Illustrated Text, S. 48. Zitiert nach: Weidle: „The only certainty we have is that there are no certainties“, S. 161. Greenaways Einschätzung des Verhältnisses der Möglichkeiten der „Sprachen“ von Malerei und (herkömmlichem) Kino lässt sich sehr treffend wohl am Beispiel des Kunsthistorikers (!) Coppice Fallbatteo (#30) aus THE FALLS ablesen: „Coppice tried very hard to learn one of the V.U.E. languages but ambitiously he had chosen Betelguese, the language of unlimited vocabulary and rapidly changing grammar and syntax. As fast as he had mastered one small area of its possibilities,

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auch der sprechende Titel eines Gemäldes Greenaways von 1972 sowie einer von 1991 bis 1998 episodisch an verschiedenen Orten ausgerichteten Ausstellung92, der gegenüber der Malerei geradezu den achteil des Kinos behauptet, es selbst zu sein93. Sei das grundlegende Problem des Kinos nach Greenaway schon seit jeher seine Fremdbestimmung durch die Photographie und die Literatur gewesen, die es je auf ihre Weise sei es technologisch, sei es narrativisch einem mimetischen Realismus repräsentationistischer Welt- und Wirklichkeitsabbildung zwangsverpflichtet hätten – unter Greenaways Four Tyrannies of the Cinema handelt es sich hierbei um die Tyranny of the Camera und die Tyranny of the Text –, so hätte Greenaway sich laut eigener Aussage angesichts dieser als ebenso unerträglich wie unüberwindbar empfundenen Beschränkungen Anfang der Neunzigerjahre auch fast komplett vom Kino abgewendet – bis ihn die neuen Möglichkeiten digitaler Bildbearbeitung dann doch wieder anzogen94, wie sie Greenaway vor allem auch als Weiterentwicklung genuin malerischer Werkzeuge begreift95, die gegen die photographisch-literarische Okkupation des Kinos einzusetzen wären: „tools“, so Greenaway, „as Picasso said of painting, that will allow you to make images of what you think, not merely of what you see, and certainly not of what you read“96 – Denkbilder eines Bilderdenkens also, in denen Greenaways Projekt eines Cinema of Ideas seine ästhetische wie technische Realisierung fände. Wie ganz entsprechend Lorenz Engell die „Nähe des elektronischen Bildes zur gedanklichen Vorstellung“ beschreibt, wenn gewissermaßen der Computer auch die Kamera ersetzt:

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he found that the same area had developed, aligned with a new set of meanings or had become entirely obsolete. Dispirited, Coppice had made a hesitant start on Katan, one of the more popularly spoken of the mutant languages. But his experience with Betelguese was like studying a consonant alphabet of two letters after experiencing a vowel alphabet of 200.“ 1991 in der Watermans Gallery in Brentford / England und im City Art Centre in Dublin / Irland, 1994 im Arizona State University Art Museum in Tempe (AZ) / USA sowie 1998 im Macedonian Museum of Contemporary Art in Thessaloniki / Griechenland. Vgl. Sloterdijk: Kränkung durch Maschinen, S. 339. „In the early 1990s, I very nearly gave up with the whole business of filmmaking. I became so disenchanted with a cinema which was basically bedtime stories taken from the bookshop for adults. I demanded something far more significant than that, so I went away and did a lot of curatorial work, which brought me back into contact with history and artefacts and ,real things‘ instead of images on a screen. But there was always a tension. I still kept thinking that cinema was the greatest visual invention of the 20th century and we ought to do something seriously about it, and the digital revolution and the enormous freedoms created by using tape rather than celluloid gradually brought me back.“ (Greenaway: A Life in Film, o.S.) Vgl. Tran, Dylan: The Book, the Theater, the Film, and Peter Greenaway, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 129-134, S. 132f. Greenaway: 105 Years of illustrated Text, S. 48.

388

Schluss: Cinema is dead – long live cinema? „Den synthetischen Bildern lässt sich nicht mehr mehr vorhalten, sie entstünden nur als mechanische Abbilder der Realität und gehörten daher ausschließlich dem Wahrnehmungsbereich an. Sie entstehen in interner Interaktion des Apparates mit seinen eigenen Mechanismen, Möglichkeiten und inneren Zuständen, auch wenn diese sich, wie die gedanklichen Vorstellung im übrigen auch, auf äußere Realität beziehen. Wenn für die Vorstellung kennzeichnend ist die Abwesen-heit, die Nichtvorhandenheit des Vorgestellten, dann ist das synthetische Bild Vorstellung par excellence“97 –

es handelt sich, mit Flusser, um ein „Techno-Bild“, das seinen Gegenstand nicht ab-, sondern erst „einbildet“ – und gerade dadurch auch der Malerei sich wieder annähert. Wie Greenaway über die in PROSPERO’S BOOKS eingesetzte graphic paintbox sagt, von der er nachgerade eine „Picturalisierung“ des Kinos erwartet: „This tool is a way to resurrect the relationship that maybe an artist has with film or with tape. I can make mocks on a TV screen now with a pen, pencil, or brush, much like a painter does. […] I can manipulate the world. I can change things just like a painter does: I can erase, I can brush out. I can reverse, I can negativize, and I find that very exciting. [...] I’d like to imagine that PROSPERO’S BOOKS for me is the beginning of a massive investigation of a cinema that could make use of all these extraordinary new technologies.“98

Inaugurierte schon Rudolf Arnheim eine „Malerei des Films“, welche „die Mittel der Malerei zu einer Zeit- und Bewegungskunst erweitern könnte“99, so dekonstruiert Lev Manovich zufolge im digital cinema die Differenz von Malerei und Kino sich selbst, weil mit Ankunft der digitalen Technologien zugleich eine Rückkehr prä-apparativer Techniken zu verzeichnen und nun auch das Kino als eine Form der Malerei zu betrachten sei: losgelöst von der photographischen Erblast seiner vormaligen „indexical identity“ (deren als seine besondere Authentizität gepriesene „Realitätsverbundenheit“ eigentlich nur in der relativ hohen Schwierigkeit verankert gewesen sei, die einmal aufgenommenen Filmbilder dann weiterzubearbeiten), sei das Kino nun auch in der Lage, genauso vorbildlose Bilder zu erschaffen wie die Malerei, als deren „Subgenre“ es nun erscheint: „As cinema enters the digital age, [...] it is no longer an indexical media technology but, rather, a sub-genre of painting. [...] With an artist being able to easily manipulate digitized footage either as a whole or frame by frame, a film in a general sense becomes a series of paintings. Hand-painting digitized film frames, made possible by a computer, is probably the most dramatic example of the new status of cinema. No longer strictly locked in the photographic, it opens itself towards the painterly“,

97 98 99

Engell: Vom Widerspruch zur Langeweile, S. 200. Zitiert nach: Tran: The Book, the Theater, the Film, and Peter Greenaway, S. 132f. Arnheim, Rudolf: Malerei und Film, in: ders.: Die Seele in der Silberschicht, S. 171-174, S. 173.

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System und Mythos

ja wird von diesem schließlich gänzlich subsumiert: „Cinema becomes a particular branch of painting – painting in time. No longer a kino-eye, a kinobrush“100, so dass das Kino gewissermaßen in einem strange loop zu seinen Anfängen zurückkehrt, wenn es auch Greenaway zufolge in der Barockmalerei eines Caravaggio, Rubens, Velazquez oder Rembrandt schon ebenso „virtuell verborgen“ lag wie das new media object im „System Greenaway“101: „Man könnte sagen“, so Greenaway, „dass Rembrandt das Kino erfunden hat. Seine Bilder sind Momentaufnahmen – wie Theaterszenen, die er mit Licht zum Leben erweckte“102, so wie vordem auch schon Vermeer von Greenaway als „adroit and prophetic manipulator of the two essentials of cinema“ beschrieben wurde: „the split-second of action, and drama revealed by light“103. Genau diesen strange loop aber vollzieht auch das „System Greenaway“ in seinen bisher jüngsten Elementen, wenn Greenaways Strategie des „taking cinema out of the cinema“104 das Kino aus dem Kino führt – und zwar direkt in das Museum und ins Kloster!

Taking Cinema out of the Cinema „I really believe that ,cinema‘ is dead“, so Greenaway, „but I do think that the language of cinema is extraordinary, and maybe it's wasted on cinema, if that's a paradox you can comprehend: cinema is wasted on cinema“105,

so dass die Strategie dann konsequent ein „taking cinema out of the cinema“ anweist: „to take cinema out of the cinemas and use its extraordinary and developing language in all sorts of different environments“106; in Abwandlung eines Begriffes Raymond Federmans ließe sich das Kino Greenaways so als ein surcinema bezeichnen, das auf ebenso selbstreflexive wie paradoxale Weise versucht, die Möglichkeiten seines Mediums jenseits seiner Grenzen auszuloten107. Drei dieser vielfältigen Versuche seien hier insonderheit hervorgehoben:

100 101

102 103 104 105

106 107

Manovich: What is Digital Cinema?, S. 406, 411, 413. „One could make out a case“, so Greenaway in REMBRANDT’S J’ACCUSE, „that cinema began with these four painters. These are the first painters who are seriously and consistently interested in the painting of artificial light.“ Zitiert nach: Bokern, Anneke: Eine Sekunde Wahrheit, in: Die Welt vom 25.07.2006. Greenaway: A Zed and Two Noughts, S. 14. Ders.: The Stairs 2, S. 9. Zitiert nach: Higson, Rosalie: Look who's watching. Provocative filmmaker Peter Greenaway is not amused, zitiert nach: http://www.theaustralian.news.com.au/ story/0,25197,23201447-15803,00.html (29.03.2009). Ders.: The Tulse Luper Suitcase, o.S. Federman, Raymond: Surfiction. Eine postmoderne Position, in: Wagner, Karl (Hg.): Moderne Erzähltheorie. Grundlagentexte von Henry James bis zur Gegenwart, Wien 2002, S. 413-431, S. 419.

390

Schluss: Cinema is dead – long live cinema? •



bei der (selbstredend unvollendet gebliebenen) zehnteiligen Projektreihe THE STAIRS (ein Wortspiel mit der Homophonie von stair / „Treppe“ und stare / „starren“, „etwas gebannt ansehen“) handelte es sich um den Versuch, zehn Kernbedingungen des Kinos außerhalb des Kinos isolierund wahrnehmbar zu machen, nämlich: „location, light, audience, text, frame, time, acting, scale, properties, illusion“108. In ihren beiden realisierten Teilprojekten hatte Greenaway 1994 mit THE STAIRS 1 – THE LOCATION in Genf 100 Treppenaufgänge mit Sichtfenstern aufgestellt, durch die gewissermaßen als „windows on the world“ eine ausgewählte Ansicht der Stadt beobachtet werden sollte wie ein Filmbild auf der Leinwand, und 1995 zum einhundertsten Geburtstag des Kinos mit THE STAIRS 2 – PROJECTION in der gesamten Münchner Innenstadt gewissermaßen ein public viewing avant la lettre eingerichtet, bei dem die Jahreszahlen von 1895 bis 1995 in fünf Sektionen eingeteilt in verschiedenen Farben auf öffentliche Plätze und Gebäude projiziert wurden; in den TULSE LUPER VJ PERFORMANCES, die als Segment des THE TULSE LUPER SUITCASES-Projekts am 17. Juni 2005 in Amsterdam premierten und seither auf Welttournee gegangen sind, montiert Greenaway– in erklärtem Anschluss an Abel Gances NAPOLÉON und das dort zum ersten (und auch letzten) Male eingesetzte Verfahren der „Polyvision“109 – als VideoJockey Videoclips aus den Filmen der THE TULSE LUPER SUITCASES in Echtzeit über einen touchscreen – und zwar auf drei verschiedenen Kanälen gleichzeitig, deren Video-output auf drei verschiedene Leinwände projiziert wird, während ein DJ dann dazu Musik auflegt und, je nach Veranstaltungsort, das Publikum nicht wie im Kino an einen festen Sitzplatz gebunden ist, sondern sich frei im Raum bewegen und so nach Belieben verschiedene Perspektiven einnehmen kann. Wird, wie ehedem im Stummfilm, die Filmvorführung so zu einem „performativen Ereignis“110, das die Projektion zugleich mit einer „liveness“ ausstattet111

108 109

110

Greenaway: The Stairs 1, S. 61. Das innerhalb der Filme extensiv eingesetzte multiple frame-Verfahren, in dem ständig zumeist drei ins Filmbild inferierte sub-frames parallel laufen, erfährt damit, wie man in Anlehnung an Spencer Brown auch formulieren könnte, gewissermaßen einen re-exit, wenn es selbstverdoppelnd aus dem Filmbild heraus auch projektionstechnologisch an sein Vorbild wieder-anschließt: „Abel Gance with his film Napoleon in 1927 developed a three-screen projection, and intimated possible ways to use it. Wide shot, medium shot, close-up; back, front and side; landscape, portrait, still-life. To synchronise three 35 mm projections in 1927 was not so easy and the technological experiment essentially stopped with Gance. […] The conventional cinema still cannot perform multi-screen projection, and until such time it can and will, the single screen can suffice to be spliced, split and fragmented. Multiple screens imply a sense of choice. It is not easy to look at all screens with equal attention simultaneously, choice for major attention has to made, though those choices can be conducted and orchestrated by the director. New digital technology minimises Gance’s difficulties, though as suggested with a single screen agenda.“ (Greenaway: Toward a re-invention of cinema, o.S.; vgl. ders.: Have we seen any cinema yet?) Elsaesser, Thomas / Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007, S. 167.

391

System und Mythos



und das Kino so zu einem „social medium“ macht112, so erscheinen auch in diesem Licht die drei Filme der TULSE LUPER SUITCASES mehr als „Prätext“ von Greenaways perfomances als VJ – als „Prätext“ nämlich im Doppelsinne Vilém Flussers, d.h. als Vorwand und als Rohmaterial, das erst in seiner medialen Weiterverarbeitung dann seinen Sinn findet113 – die Filme wären so dann nur dazu gemacht worden, um am Computer in Tausende von Videoclips de-komponiert und in der performance rekomponiert werden zu können; und in Greenaways jüngster Projektserie NINE CLASSICAL PAINTINGS REVISITED schließlich wird das Kino buchstäblich und praktisch auf die Malerei hin appliziert und projiziert.

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Auslander, Philip: Liveness. Performance in a Mediatized Culture. Second Edition, London / New York (NY) 2008. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 35f. Vgl. Flusser: Kommunikologie, S. 192.

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Schluss: Cinema is dead – long live cinema?

THE STAIRS 2 – PROJECTION

THE TULSE LUPER VJ PERFORMANCE

THE LAST SUPPER

Taking Cinema out of the Cinema

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System und Mythos

Anlässlich des Rembrandtjahres 2006 wurde Greenaway vom Rijksmuseum Amsterdam dazu eingeladen, eine Installation mit Rembrandts DIE NACHTWACHE zu gestalten, und um dem theatralischen Charakter des Gemäldes gerecht zu werden, wurde der Ausstellungsraum zu einer Mixtur aus Kinosaal und Theaterauditorium umfunktioniert: „There are red plush curtains, there’s a tribune, there are 34 seats – the same number of people as exist in the painting – you can sit there and view THE NIGHTWATCH as an act of theatre, and if you feel so excited, you can give it a clap as though it was a live performance“114 –

ein Experiment, das nach seinem großen Erfolg 2008 und 2009 mit Leonardo da Vincis DAS LETZTE ABENDMAHL und Paolo Veroneses HOCHZEIT ZU KANA in den Refektorien der Mailänder Santa Maria delle Grazie und der Venezianer San Giorgio Maggiore fortgesetzt werden und so auch rückwirkend als Eröffnung einer ganzen Installationsserie angesetzt konnte, in deren Rahmen Greenaway noch Velázquez’ HOFFRÄULEIN, Picassos GUERNICA, Seurats SONNTAGNACHMITTAG AUF DER INSEL LA GRANDE JATTE, Monets SEEROSEN, Pollocks ONE: NUMBER 31 und schließlich, in allerhöchster Ambition, in der Sixtinischen Kapelle noch Michelangelos JÜNGSTES GERICHT bearbeiten will – wobei wie immer bei Greenaways zahlreichen als Serie angelegten und dann recht bald abbrechenden Projekten so dann auch hier, mit Detlef Kremer, „die Signifikanz der Serie sicherlich entscheidender ist als die Wahrscheinlichkeit ihrer Realisierung“115. In einer Behandlung, die man vielleicht als eine mise en lumière bezeichnen könnte116, werden die weltberühmten Bilder hier, gut kinematographisch, „zum Leben erweckt“, indem sie als Leinwände einer Filmprojektion benutzt werden; einer solchen Projektion allerdings, die eben nur für diese eine (und keine andere) Leinwand gemacht ist (und so auch dem original-auratischen „einmaligen Dasein“ der Kunstwerke eine neue Aufmerksamkeit beschert, als dessen Totengräber Benjamin den Film gesehen hatte117). Mit avanciertester Technologie geht Greenaway zugleich zurück zum Gemälde und über das Kino hinaus: Während er in THE TULSE LUPER SUITCASES vornehmlich die eigenen Werke einem remake oder re-working unterzieht, behandelt er nun die Werke anderer, die er als Kino avant la lettre, als Erfindung des Kino vor dem Kino ansieht und durch seine Installation zum Teil einer gewissermaßen post-kinematographischen Kunstform, eines Kinos nach dem Kino macht, und während THE TULSE LUPER SUITCASES sämtliche Filme Greenaways retroaktiv in der Metaerzählung ihres imaginären prequels integriert, so kommen in den mise en lumièreInstallationen noch einmal alle diejenigen Motive und Bezugsprobleme zusammen, die Greenaways Filme zuvor auch behandelt hatten: 114 115 116

117

Zitiert nach: Kamphuis, Alje: DE NACHTWACHT tot leven gewekt. Kremer: Peter Greenaways Filme, S. 12. „Mise en lumière du tableau de Rembrandt“, so die Bezeichnung für Greenaways „kinofizierende“ Behandlung von Rembrandts Gemälde auf der französischen DVDAusgabe von NIGHTWATCHING, LA RONDE DE NUIT (Paris 2008). Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 475ff.

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Schluss: Cinema is dead – long live cinema?

NIGHTWATCHING

THE LAST SUPPER

THE WEDDING AT CANA

Die ersten drei mise en lumière-Installationen der Serie NINE CLASSICAL PAINTINGS REVISITED

395

System und Mythos •









die kinematographische „Vivifizierung“ der Malerei wie vor allem etwa in THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER nach Art eines selbstverdoppelnden tableaux vivant von Frans Hals‘ FESTMAHL DER OFFIZIERE; die im Sinne Flussers „kalkulierende“ Generierung eines Narrativs aus einer szenischen Darstellung wie in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT mit Januarius Zicks ALLEGORIE AUF NEWTONS VERDIENSTE UM DIE OPTIK; die Installierung unterschiedlichster, beweglicher Beleuchtung als eines re-entry des Mediums des Lichtes in die Form des Bildes oder eben Lichtbildes wie etwa in A ZED AND TWO NOUGHTS; die intermediale Kopplung bildender und darstellender Künste, wenn man der im NIGHTWATCHING-Projekt inszenierten NACHTWACHE genauso applaudieren soll wie einer Theatervorführung, so wie die Abendgesellschaft in THE BELLY OF AN ARCHITECT dem Pantheon selbst applaudiert („Good architecture should always be applauded“, so Io Specklers Ausruf118); und schließlich die Animation und Temporalisierung unbewegter Bilder wie in PROSPERO’S BOOKS und THE TULSE LUPER SUITCASES, wenn die Illustrationen von Prosperos Büchern beweglich oder selbst lebendig werden, oder wenn Jean-Auguste-Dominique Ingres’ Porträts der Madame Moitessier hinsichtlich ihrer zweigleisigen Werkgenese und Kapazität einer fascinating dislocation of time behandelt werden.

In ihrer intermedialen Kopplung des Kinos und der Malerei erscheinen Greenaways mise en lumière-Projekte so gewissermaßen auch wie ein Versuch, Jean-Luc Godards PASSION zu überbieten, wo ja DIE NACHTWACHE das erste einer Reihe von Gemälden ist, die quasi als Lehrstücke der Bildkomposition als filmische tableaux vivants nachgestellt werden119; anders aber als PASSION oder auch Greenaways eigene Filme wie vor allem THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT, A ZED AND TWO NOUGHTS oder PROSPERO’S BOOKS zitieren, integrieren oder reproduzieren die mise en lumière-Projekte von NIGHTWATCHING und THE LAST SUPPER die Gemälde nicht im Film, sondern – mit einem Begriff Eisensteins – sie „kinofizieren“ die Gemälde vielmehr selbst120. Wo es in PASSION als Direktive für das Filmteam noch heißt: „faites comme Rembrandt!“, so macht es Greenaway in NIGHTWATCHING nicht wie Rembrandt, wie dieser es in der Malerei vor vier Jahr118

119

120

Ein medienspezifisches inaptum, wie es ironisch schon in THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT vorgezeichnet wird, wenn Mr. Neville sehr zu seiner Verärgerung am Aussichtsort für Zeichnung #5 Mr. und Mrs. Talmann samt Dienerschaft beim Picknick antrifft: „I see the company is assembled. And what are we to be spectators of? I did not request an audience. [...] Perhaps we are to applaud to view?“ Für NIGHTWATCHING gibt Greenaway Godards PASSION zwar durchaus als Vorläuferbemühung einer Untersuchung des Verhältnisses von Malerei und Kino an, hält Godards Versuch aber für gleichwohl letztlich nicht gelungen: „By no means did he get in some sense to the nitty-gritty of the grip with the interchange of the two languages.“ (Greenaway, Peter: EGS Lecture 2006. Vortrag 2006 in SaasFee, zitiert nach: http://www.youtube.com/watch?v=MwlO8M8FiEI (29.03.2009)). Eisenstein: Notate zu einer Verfilmung des Marxschen „Kapital“, S. 300, 306.

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Schluss: Cinema is dead – long live cinema?

hunderten auch schon gemacht hat, er macht vielmehr mit Rembrandt, was dieser in einem neuen Medium heute machen könnte121: •





in NIGHTWATCHING prasselt in Rembrandts Gemälde der Regen auf die Kompanie Frans Banning Cocqs hernieder, lodert eine Feuersbrunst und werden die Straßen mit Blut überschwemmt (um die Bedohungen der Flut, des Feuers und der Pest zu symbolisieren, für die die drei Andreaskreuze des Stadtwappens Amsterdams angeblich stehen), in THE LAST SUPPER wird der Bildraum des Gemäldes Leonardos durch unterschiedliche interne wie externe Lichtquellen ausgeleuchtet, die gestikulierenden Hände der Apostel isoliert und durch gleichzeitige rasche Auf- und Abblenden gegeneinander gesetzt werden wie einzelne Stimmen in einem Stimmengewirr und für den Moment, da Jesus seinen Verrat durch einen seiner Jünger prophezeit, der Tisch des Abendmahls mit Blut überschwemmt wird, und in THE WEDDING AT CANA schließlich schwatzt die 126-köpfige Hochzeitsgesellschaft Veroneses munter durcheinander, während das Bild sich in ein 3D-Modell verwandelt, um 90 Grad dreht und die Szene aus einem alternativen Blickwinkel von oben betrachten lässt.

Wenn Rembrandts NACHTWACHE, wie NIGHTWATCHING, der Film, es will, die mediale Differenz von Malerei und Theater in einem re-entry im Medium der Malerei formuliert („This is not a painting at all“, so Rembrandts Kritiker Jacob de Roy: „By its very nature it denies being a painting – it is a work of the theatre!“) und die Beobachtung dieser Formulierung, mit Rudolf Arnheim, ihrerseits im Medium der Einheit der Differenz von Malerei und Theater formuliert ist: dem Kino nämlich122, so bei wird NIGHTWATCHING, der Installation, nicht etwa „nur“ im Medium der Malerei oder des Kinos die Differenz von Malerei und Kino formuliert, sondern vielmehr die Einheit der Differenz von Kino und Malerei, also die Einheit der Differenz der Einheit der Differenz von Malerei und Theater und Malerei – in dieser Einheit selbst, die sich damit wiederum (als Form) von den Werten der von ihr formulierten Differenz unterscheidet. Verständlicher ausgedrückt: Ist NIGHTWATCHING, die Installation, nun Malerei oder Kino oder beides zugleich oder etwas ganz anderes?

121

122

Ein sicherlich recht alter Topos, wie schon Alexandre Astruc zufolge auch René Descartes, hätte er nur in der Gegenwart gelebt, anstatt seinen DISCOURS DE LA MÉTHODE zu schreiben, einen Film gedreht hätte (Astruc: Die Geburt einer neuen Avantgarde, S. 112) – was Greenaway auch selbst bewusst ist, ihn aber dennoch auch nicht davon abhält, sich dadurch sogar an die Stelle Rembrandts zu versetzen und dessen Werk damit gewissermaßen erst zu komplettieren: „I’m sure Rembrandt would be a film-maker if he was alive now – a very simple thing to say because they say it about Shakespeare, they say it about everybody, of course, that these guys would certainly have used those technologies if they had been available in their age and their time – so in a curious way we have done it for him.“ (zitiert nach: Greenaway: EGS Lecture 2006.) Vgl. Arnheim, Rudolf: Der tönende Film, in: ders.: Die Seele in der Silberschicht, S. 67-70, S. 68.

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System und Mythos

Im Rahmen einer Frage nach der spezifischen Kernkompetenz des Kinos („what could cinema do, after a century, that no other media could do?“123), definiert Greenaway das Kino ganz elementar als eine Kunst der Projektion von Licht, „an art of light projection“: „Cinema is nothing if not a beam of projected light striking the surface with a framed rectangle of brightness into which shadows are introduced to simulate illusions of movement“124,

und ganz offensichtlich handelt es sich bei den mise en lumière-Projekten, mit einer vertrauten alten Bezeichnung, um moving images oder motion pictures. „What exactly have we done?“, fragt Greenaway: „We've taken a static image and we've given it temporality.“125 Wenn man bedenkt, dass nach Erwin Panofsky auch die ersten Filme nichts anderes taten, als bewegungslosen Bildern eben Bewegung zu geben126, so geht Greenaways Projekt in mehrfacher Hinsicht zurück zu den Anfängen des Kinos, und wie Greenaway auch selbst dazu bemerkt: „It’s nicely full circle. It’s a snake eating its own tail“127, aber die Schließung dieses Kreises ist zugleich ein Anfang: „As I said, if first of all cinema is dead, then what we are going to do about this? [...] I would say that in fact we have had 105 years of preparation. A prologue. So essentially cinema begins now.”128

Die Zeit – wie sich mit Mk 1,15 sagen ließe – ist erfüllt: aller ansonsten immer aufgebotenen neodarwinistischen Betonung der Kontingenz und Zielund Zweckfreiheit allen historischen Geschehens entgegen kommt in Greenaways Diskurs an dieser Stelle eine Teleologie ins Spiel, die so, mit Bruce Sterling, eine Art von „Whig version of media history“129 instituiert, als hätte alle Kunsttechnologie auch gar nicht anders ankommen (und enden) können denn im Paradies der digitalen Bildbearbeitung, deren Technologien wiederum Greenaway wie immer ironisch so als „geradewegs für ihn allein erfunden“ ansetzt130, so dass der kinematographische Mythos des Greenaway’schen Werkes seine eigentliche Heldenfigur denn schließlich auch gefunden hätte – nämlich natürlich Greenaway selbst. „I am going to be the one who will create the first new media masterpiece“131 – der Hybris seiner 123 124 125 126

127 128 129 130 131

Greenaway: Cinema is dead, long live cinema?, o.S. Ders.: The Stairs 2, S. 39, 51. Ders.: EGS Lecture 2006. Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film, in: ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film. Mit Beiträgen von Irving Lavin und William S. Heckscher, Frankfurt am Main / New York (NY) / Paris 1993, S. 17-48, S. 20f. Greenaway: A Life in Film, o.S. Ders.: The Tulse Luper Suitcase, o.S. Sterling: The Life and Death of Media, o.S. Vgl. Spieler: CD-ROM im Omnimax-Format, S. 285; Greenaway: The Tulse Luper Suitcase, o.S. Ebd.; vgl. ders.: Cinema is dead, long live cinema, o.S.

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Schluss: Cinema is dead – long live cinema?

Figuren entspräche so die Hybris ihres Schöpfers, sich eigenmächtig mit Heroen wie Dante, Michelangelo, Shakespeare oder Joyce gleichstellen zu wollen und in Unsterblichkeit in den Olymp europäischer Hochkultur einzuziehen.

Prophet und project maker Vielleicht lässt sich Greenaways Œuvre als eine Art von Parallelaktion zu Jean-Luc Godards HISTOIRE(S) DU CINEMA verstehen: Geht es Godard um eine „wahre Geschichte des Kinos“ – „,wahr‘ insofern, als sie aus Bildern und Tönen gemacht sein sollte und nicht aus – wenn auch illustrierten – Texten“ –, so ist diese Geschichte ausgelegt als eine „Geschichte der Formen“, eine „Embryologie“: „Ich meine“, so Godard, „das Kino kann dazu dienen, dass man die Entstehung der Formen sieht [...] Wie entwickelt sich Leben in der Gesellschaft, wie bilden sich Gesellschaften, wie formen sich die Leute, wie informieren sie sich, deformieren sie sich, und wie verändert sich das Leben, wenn man eine Form angeschlagen hat?“ –

wobei diese „wahre Geschichte des Kinos“ dann ebenso eine Geschichte der medialen Formen und der durch sie ermöglichten Sichtbarkeiten wie eine Geschichte ihrer blinden Flecke wäre (also gewissermaßen eine Geschichte der Formen der Formen): „Das Sehen der Filme zu produzieren [...] besteht nicht bloß darin, sie anzusehen und nachher darüber zu reden. Es besteht eher darin, dass man zu sehen lernt. [...] Man müsste die Geschichte des Sehens zeigen, das sich mit dem Kino, das die Dinge zeigt, entwickelt hat, und die Geschichte der Blindheit, die daraus entstanden ist“132,

die ihrerseits in Anbetracht des eigenen blinden Flecks des Kinos aber auch erst in einem „Kino zweiter Ordnung“ möglich wird: einem „Kino in zweiter Potenz“, das durch einen Ausgriff auf neue, elektronische Medien auch eine neue Art von Selbstreferentialität und -reflexivität herausbilden kann133. Andererseits aber geht es Greenaway, bei allen sonstigen Gemeinsamkeiten, im Unterschied zu Godard weniger um eine „wahre Geschichte“ des Kinos als vielmehr um eine „wahre Mythologie“134: Die „große Erzählung“, die Greenaways Werk konstituiert, ist in diesem Sinne die einer apokalyptischen Mythologie von den Ursprüngen, der Geburt, dem Tod und der Wiederauferstehung des Kinos im Angesicht der Ankunft der digitalen Technologien: „cinema is dead, long live cinema“, dessen eigentliches Problem dabei weniger das Ende der Welt ist als vielmehr seine eigene Diesseitigkeit, insofern das Ende ja nur vor dem Ende auch verkündigt werden kann (wie immer auch im Rahmen einer „Naherwartung“ und mit welcher „Parusieverzögerung“ auch immer). Ohne messianische Vergleiche hier zu 132 133 134

Godard, Jean-Luc: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, Frankfurt am Main 1984, S. 9, 217, 166f., 327. Vgl. Ishaghpour: Geschichte(n) des Kinos, S. 62ff. Vgl. Barthes: Mythen des Alltags, S. 121.

399

System und Mythos

weit treiben (oder gar auch nur als Anmaßung unterstellen) zu wollen – die Folgen solcher Hybris zeigt ja THE BABY OF MÂCON in aller Deutlichkeit135–, so ist sicherlich doch zu verzeichnen, dass Greenaway (woran auch seine persönliche Selbststilisierung als „Prophet der Medienrevolution“ dann sicher nicht ganz unbeteiligt ist136) von seinen Anhängern sei es als „Kultregisseur“, sei es als „Lichtgestalt“ betrachtet wird137, wobei die weiteren metaphorologischen Möglichkeiten, lässt man sich denn darauf ein, dann auch natürlich endlos sind: Greenaway spricht wider die Pharisäer (von David Wark Griffith bis zu Martin Scorsese), treibt unreine Geister aus (die Four Tyrannies of the Cinema), verwandelt Wasser (das herkömmliche Erzählkino der griffithschen Linie) in Wein, macht Blinde (den Zuschauer) wieder sehend oder erweckt Tote (das Kino) neu zum Leben usw. Ob nun aber Messias oder Häretiker oder auch Scharlatan, wenigstens eine Art „missionarischen Eifers“ wird man Greenaway nicht absprechen können: „Do I see myself as a missionary? Yes!“138, wobei die Verbreitung seines kinematographischen Evangeliums noch durch die zahlreichen Vorträge unterstützt wird, die Greenaway dazu auch hält, also, um im Bilde zu bleiben, durch „Predigten“, in denen weithin eine Auto-Exegese ex cathedra verkündet wird und die inzwischen schon zur rezitativen Liturgie sich ritualisiert haben, und wie sich Greenaway in seiner alter ego-Figur Tulse Luper inszeniert wie Nietzsche in derjenigen des Zarathustra139, so könnte dies auch seine mediale Frohe Botschaft sein: 135

136 137

138 139

„You compare yourself to Joseph?! You fool!“, wie die Tochter in THE BABY OF MÂCON ihren Vater zurechtweist – die ihrerseits allerdings sich in ganz ebensolcher Selbstanmaßung der Jungfrau Maria gleichstellt. Vgl. Nitsche: Hitchcock – Greenaway – Tarantino, S. 126ff., Zitat S. 133. Das beste Beispiel hierfür ist sicherlich bei Wolfgang Schirmacher zu finden, Professor an der European Graduate School in Saas-Fee und dort auch Gründungsdekan und Programmdirektor des Fachbereichs Media and Communication, der Greenaway (der seinerseits an der EGS auch als Professor of Cinema Studies lehrt) mit einigem Überschwang als „an embodiment of my vision, my cross-disciplinary vision for this programme“ beschreibt; Greenaway ermögliche ein „learning by rolemodel experience“, und seinen Eindruck von THE LAST SUPPER beschreibt Schirmacher als „Leonardo da Vinci is coming back from Heaven and do it again [sic] within the language of today“ (zitiert nach: http://de.youtube.com/watch?v=2hhDqhFqRp4 (29.03.2009)) – Inkarnation, Vorbildfunktion, Parusie. Greenaway: A Life in Film, o.S. Angefangen mit seiner kryptischen Verheißung der „elften Stunde“ in VERTICAL FEATURES REMAKE gibt im Myth of Tulse Luper der Titelheld eine prophetische, wenn nicht sogar messianische Gestalt ab, was in THE TULSE LUPER SUITCASES weiter expliziert wird: Lupers experiences in the Moab desert und seine Bekanntschaft mit der Hockmeister family, einer Familie deutschstämmiger mormonischer Faschisten, verweisen ebenso auf Jesu vierzig Tage in der Wüste und seine dortige Versuchung durch den Teufel wie auch auf die sogenannte White Horse Prophecy, eine an Offb 6,1-8 angelehnte und selbst nach mormonischen Standards bestenfalls apokryphe Prophezeiung bezüglich des Zusammenhangs der erwarteten Wiederkunft Christi, der politischen Geschicke der USA und der gesellschaftlichen Rolle der mormonischen Gemeinschaft. Wie William Gottschalk Luper erklärt: „Mormons [...] believe in visions. They all saw you coming out of the desert leading a white horse and wearing bucket top boots. Joseph Smith wore bucket top boots and Brigham

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Schluss: Cinema is dead – long live cinema? „Sollte es denn möglich sein! Die Heiligen des Kinos haben in ihrem Walde noch nichts davon gehört, dass ihr Gott tot ist! Ich lehre euch das Überkino. Das Kino ist etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr getan, es zu überwinden? Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die Ebbe dieser großen Flut sein und eher noch zum Buche zurückgehen, als das Kino überwinden? Das Kino hat den Weg vom Buch zum illustrierten Text gemacht, und vieles ist in ihm noch Buch. Einst war es Theater, und auch jetzt noch ist es mehr Theater, als irgendein Theater. Seht, ich lehre euch das Überkino! Das Überkino ist der Sinn der Medienentwicklung. Euer Wille sage: das Überkino sei der Sinn der Medienentwicklung! Das Kino ist ein Seil, geknüpft zwischen Malerei und Überkino – ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Ich liebe den, welcher Filme macht, dass er dem Überkino das Haus baue und zu ihm die Welt, den Zuschauer und die Technik vorbereite: denn so will er seinen Untergang. Ich liebe den, welcher goldne Worte seinen Taten vorauswirft und immer noch mehr hält, als er verspricht: denn er will seinen Untergang. Was groß ist am Kino, das ist, dass es eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Kino, das ist, dass es ein Übergang und ein Untergang ist“140 –

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Young was the only one allowed to ride a white horse. As for me, I was so impressed I took you for the angel Moroni himself. […] We’ll all grow to love you in the end“ – wobei sich auch natürlich fragt, für wen denn William Gottschalk hier nun spricht. Ging es mit THE TULSE LUPER SUITCASES Greenaway ja darum, „to revitalize a personal mythology and hopefully make it an entertaining public mythology“ (zitiert nach: http://www.bbc.co.uk/cambridgeshire/films/2003/greenaway.shtml (29.03.2009)), so begab er sich damit aber auch genau vor das Problem, dass seine Filme gegenüber den (künstlerischen, erzählerischen, mythologischen, religiösen) Traditionen, an die sie sich je anlehnen oder von denen sie sich abgrenzen, über ihren Individualstatus nicht hinauskommen können (vgl. Kremer: Peter Greenaways Filme, S. 13f.). Zwar ist mit Claude Lévi-Strauss zu konstatieren, dass auch individuelle Werke einzelner Autoren gewissermaßen „potentielle“ Mythen sind, dabei aber erst ihre kollektive Annahme das aktualisiert, was Lévi-Strauss ihren „Mythismus“ nennt, und Mythen, um als solche wahrgenommen zu werden, was immer auch ihr Ursprung sein mag, sich in einer Tradition verkörpern müssen (Lévi-Strauss: Das Rohe und das Gekochte, S. 34; ders.: Der nackte Mensch, S. 734). Nun wird Greenaway in der breitenwirksamen Errichtung einer „Neuen Mythologie“, sagen wir: George Lucas wohl kaum Konkurrenz machen können, doch orientiert er sich als Vorbild ohnehin auch eher am Gründer der Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints Joseph Smith und dessen „Übersetzung“ oder auch Erfindung des BOOK OF MORMON (nach Smiths eigenem Dafürhalten immerhin „das richtigste aller Bücher auf Erden“ (o.A.: Einführung, in: Das Buch Mormon. Ein weiterer Zeuge für Jesus Christus. Hg. von der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, Frankfurt am Main 1985, o.S.)), die, wie in THE TULSE LUPER SUITCASES ausgeführt, grafting new mythologies onto the old, mit ihrer accumulated imagery einer melange of biblical dreams noch über einen nur-mythischen Status hinaus sich hat zur newest and most successful religion of the West ausbilden können. Vgl. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Fortgeführt von Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, Band VI.1, Berlin 1968, S. 8ff.

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System und Mythos

sein Scheitern also sein Gelingen, und sollte diese Predigt selber scheitern und erhoffte Resonanzen ausbleiben, so kann sich der Prophet mit Mat 7,6 auch noch immer damit trösten, das Heiligtum vor Hunden ausgebreitet und seine Perlen vor die Säue geworfen zu haben: „Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht das Bild für diese Augen“141,

und das wiederum mit der visual illiteracy der medienkulturellen Gegenwart begründen, gegen die man selber versucht anzukämpfen – so dass es selbst hier Greenaway gelingt, sich selbst noch durch sein Scheitern recht zu geben: „I was moving towards some grand magnum opus, where I could put everything that I thought I’d learned about the cinema – and indeed life – in one grand, encyclopædic project. Have I achieved that with THE TULSE LUPER SUITCASES? No. It’s been a dismal failure.“

Warum? „It’s far too ahead of its time.“142 Dabei ist Greenaways Behauptung, es gäbe keine interessanten Filmemacher mehr, da alle interessanten Filmemacher den selber nicht mehr interessanten Film verlassen hätten und woanders hingegangen seien143, wohl sicherlich vor allem seiner eigenen medialen Umorientierung geschuldet (von der wiederum sich selbstverständlich trefflich spekulieren lässt, von welchen und wie vielen sei es kommerziellen, sei es künstlerischen Enttäuschungen sie ihrerseits auch motiviert sein mag144); schwerer als ein solcher Blick zurück im Zorn aufs Kino aber wiegen wohl die gewiss nicht völlig unberechtigt angebrachten Vorwürfe, nach denen Greenaway die Zukunft des Mediums ausschließlich in seinen eigenen Projekten verwirklicht sehe, für seine Visionen aber weniger Beweise erbringe, als er mit großer Geste doch verspreche, und dann nicht einmal seinen eigenen Ansprüchen gerecht werden könne145. Um diesen Widerspruch wenngleich nicht aufzulösen, aber immerhin doch zu entfalten, ließe sich gewissermaßen kontraparadoxal auch formulieren: Das Kino ist (für Greenaway), was es (noch) nicht ist146, wenngleich dabei direkt zu konzedieren ist, wenn es um eine „Revolution des

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Vgl. ebd., S. 12, 14. Greenaway: A Life in Film, o.S. „Essentially there are no more interesting filmmakers, [...] all the interesting filmmakers have gone somewhere else.” (Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 3); „I think from that moment on all the interesting filmmakers, all the interesting makers of the moving image moved away from cinema.“ (zitiert nach: Oosterling: Cinema of Ideas, S. 11.) Die wohl am schlagendsten formulierte Auskunft hierzu gibt Sir Alan Parker: „No matter what the technology – no-one will watch a Peter Greenaway film anyway!“ (zitiert nach: http://ww.sofiaecho.com/article/profile-alan-parker/id_14248/ catid_30 (29.03.2009)) Vgl. Rebhandl, Bert: Die Tyrannei des Kinos, in: FAZ vom 12.02.2007; Tretbar, Christian: Britischer Cyborg, in: Der Tagesspiegel vom 11.2.2007. Vgl. Luhmann: Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft, S. 83f.

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Schluss: Cinema is dead – long live cinema?

Sehens“147 geht, dass, im Kino, bislang sämtliche Revolutionen als gescheitert angesehen werden müssen148, was Greenaways oft vollmundige Proklamationen wie alle mit einem spezifischen „Index des Zukünftigen“ ausgestatteten Prognosen über die Zukunft des Kinos letztlich als „Prophezeiungen“ erscheinen lässt, „die implizit zugestehen, dass ihre Zeit noch nicht gekommen ist“149. Es könnte angesichts dieses Dilemmas eines Rückfalls hinter die eigenen Vorgaben bei gleichzeitigem Scheitern an den eigenen Ansprüchen vielleicht hilfreich sein, Greenaway – genau wie dieser in VERTICAL FEATURES REMAKE sein alter ego Luper auch bezeichnet – am Besten vielleicht noch als project maker, als „Projektemacher“ zu betrachten, und liegt nun, nach Markus Krajewski, einerseits bereits schon im bloßen Wort „Projekt“ das Scheitern nachgerade „etymologisch verankert“ vor, so ist es andererseits dann als die selbstgewählte Aufgabe des Projektemachers zu begreifen, „das Undenkbare zu behaupten, um das Unmögliche realisierbar zu machen“: Es ist in diesem Sinne dann auch nicht die Frage, ob das Projekt gelungen oder gescheitert ist, sondern vielmehr, „inwieweit der Projektemacher trotz des Nimbus seines scheinbar unvermeidlichen Scheiterns für eine äußerst produktive, wenn nicht gar fundamentale Art und Weise einsteht, ungeahnte Erkenntnisse hervorzubringen und innovative Entwicklungen anzustoßen“, so dass auch „das Scheitern nicht etwa zu vermeiden, sondern als eigentliche Chance des Fortschritts zu begreifen. Vielleicht liegt in der Niederlage die optimale Erkenntnisposition.“150

Mit anderen Worten: „Man kann immer andere Möglichkeiten sehen, ohne immer in der Lage zu sein, sie auch realisieren zu können.“151

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Vgl. Dvorak / Kamer: Revolution des Sehens. Vgl. Engell: Sinn und Industrie, S. 96f., und Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 24: „I always think it’s a very sad thing about experimental cinema, that unlike experimental painting - experimental painting always eventually emerges, it comes through the ice, it comes out, so that Picasso starts as an experimental painter and now he‘s part of everybody’s vocabulary. But I have seen, certainly in all the juries I have attended, the millions of experimental films I have seen, very few of them ever burst through the ice. We can cite famous examples: Bunuel’s L’AGE D’OR, CHIEN ANDALOU, maybe Lynch’s ERASERHEAD, but for the most part all these experimental films are circling underneath the ice and very, very rarely ever come through. So what that means is every generation makes the same experimental films, because they have never seen the last ones.“ Werber: Neue Medien, alte Hoffnungen, S. 892. Krajewski, Markus: Über Projektemacherei. Eine Einleitung, in: ders. (Hg.): Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin 2004, S. 7-25, S. 8, 11, 24. Luhmann: Warum „Systemtheorie“?, S. 2.

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System und Mythos

Dieses Problem des Scheiterns aber – sei es an den eigenen Ambitionen, sei es an der Ablehnung seitens des Publikums – wird am Ende von NIGHTWATCHING, dem Spielfilm, noch einmal ausdrücklich und ausführlich adressiert, wenn Rembrandt von seinem scharfsinnigen Kritiker Jacob de Roy, der als Einziger sein Anliegen und seine Methodik versteht, gleichwohl auf ganzer Linie ein Versagen attestiert wird: „You have disappointed me, Rembrandt. I expected something better of you – something more intelligent, something more knowing, something less local, more universal, more lasting, so to speak. [...] Your painting, Rembrandt, is a pretense, a fakery, a cheat, a dishonesty, full of impossible contradictions, unworthy of a truly intelligent man. [...] You did not fulfil the task asked of you. Your painting, Rembrandt, is dishonest“,

so dass sein Werk dann, schlimmer noch als mit Kritik und Ablehnung und Unverständnis, mit Vergessen bestraft werden würde, mit einer Auslöschung aus dem kulturellen Gedächtnis der Gesellschaft, als hätte es nie existiert: „In your attempt to make an accusation you have made a silly, messy caricature which everyone is going to forget or no longer understand – the context, as always, is rapidly going to disappear, even if they ever understood it in the first place.“

Dabei ist de Roys Kritik natürlich gleichzeitig eine selbstreflexive Vorwegnahme der Kritik an Greenaway durch Greenaway selbst, deren Pointe dann auch darin liegt, dass der Zuschauer des 21. Jahrhunderts natürlich bereits weiß, dass de Roy mit seinem Urteil hinsichtlich Rembrandts Gemälde, so hellsichtig es immer ist, dann letztlich doch danebenliegt – oder zumindest von der (Kunst-) Geschichte widerlegt wird, in die DIE NACHTWACHE als eines der berühmtesten Gemälde (und Rembrandt als einer der größten Maler) aller Zeiten eingegangen ist, so dass in diesem Sinne NIGHTWATCHING, der Film, durchaus und nicht zuletzt auch eine spätwerkliche Selbstapologie darstellt – wenn nicht gar eine Selbstapotheose. „We look at the world through the eyes of our image makers“, wie Greenaway in REMBRANDT’S J’ACCUSE feststellt; eine Feststellung, die ihn, wenn auch unausgesprochen, natürlich selber inkludiert, so dass auch der etwa in THE TULSE LUPER SUITCASES angebotene Blick auf the world according to Tulse Luper nur einen Teil des Angebotes von the world according to Peter Greenaway darstellt – für welches dann natürlich eine Nachfrage bestehen muss, wobei aber, wie Paul Matwychuk es diagnostiziert, Greenaways Filme ironischerweise gerade in ihrem Versuch des Durchgriffs auf eine mögliche Zukunft zum Relikt zu werden drohen wie eine vergessene Religion:

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Schluss: Cinema is dead – long live cinema? „Greenaway’s reputation has fallen on hard times with the new century. He’s still making movies, but the last one to receive any significant distribution was 1999’s tedious 8½ WOMEN. His work is not widely available on home video, and even though his films contain the sort of hidden jokes and intellectual games that would seem to make them perfect grist for the age of DVDs and fan websites, few people seem interested in plumbing their mysteries, and Greenaway’s name rarely gets mentioned anymore as a stylistic influence on younger directors. The Greenaway cult has shrunk ... well, to nought.“152

Wenn in diesem Sinne Greenaways Beschäftigung mit Rembrandt Peter Zander zufolge vor allem von seiner eigenen „Sehnsucht“ kündet, nach Jahren in der Versenkung in einer öffentlichkeitsfernen „kunstexperimentellen Nische“ selber wiederentdeckt zu werden153, so dürfte entsprechend auch seine Aussage über Picasso („Picasso starts as an experimental painter and now he’s part of everybody’s vocabulary“154) vor allem seinen Wunsch für das eigene Wahrgenommenwerden in der Filmgeschichte ausdrücken, dessen Verwirklichung dann aber gleichwohl fraglich scheint: „No one in contemporary cinema“, so Peter Matthews bereits 1993, „has a more distinctive style than Peter Greenaway, but few have ever wanted to imitate it“155 – selbst dann also, wenn innerhalb des „Systems Greenaway“ tatsächlich alles perfekt und widerspruchsfrei abliefe, so muss das System aber eben nicht nur auf „seine eigene schöne Perfektion“ hin interpretiert werden, sondern ebensosehr auf das Problem seines Aufbaus und seiner Erhaltung in seiner Umwelt156. Ob Greenaways Filme, die gerade auch in diesem Zusammenhang zurecht als irritierend bezeichnet werden können, sich also innerhalb des Filmsystems157 als folgenlose Abweichung herausstellen werden (oder, wie man mit Christian Metz auch sagen könnte: als eine „prachtvolle Sackgasse“158) oder als anschlussfähige, ja möglicherweise gar strukturbildende Innovation159, bleibt nur abzuwarten; vielleicht aber wird, wie Greenaway vermutet, auch das Wort „Film“ vorher einfach verschwinden160. Über die Zukunft aber, so am Ende Luhmann – und so auch über die Zukunft des Kinos –, entscheidet eben nicht die Entscheidung, sondern die Evolution161, so wie Greenaway bei all seinen Proklamationen und Prophezeihungen letztendlich selbst auch konzedieren muss: „Well, we will just have to, literally, as they always say, wait and see.“162 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162

Matwychuk: Faded Greenaway, o.S. Zander, Peter: Licht ins Dunkel. Rembrandt-Verschwörungstheorie, in: Die Welt vom 07.09.2007. Greenaway: The 92 Faces of Peter Greenaway, S. 24. Matthews, Peter: Continental Movies, in: The Modern Review 8/9(1993), S. 32, zitiert nach: Pascoe: Peter Greenaway, S. 14. Luhmann: Vorbemerkungen zu einer Theorie sozialer Systeme, S. 19. Vgl. Engell: Bewegen beschreiben. Metz, Christian: Das Kino: ,langue‘ oder ,langage‘?, in: ders.: Semiologie des Films, München 1972, S. 51-129, S. 84. Vgl. Luhmann: Die Behandlung von Irritationen. Dvorak / Kamer: Revolution des Sehens, S. 93. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1093. Zitiert nach: Oosterling: Cinema of Ideas, S. 9.

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Bibliographie / Filmographie

„Knowing I loved my books, he furnished me / From mine own library with volumes that / I prize above my dukedom.” William Shakespeare, THE TEMPEST

Behandelte Filme von Peter Greenaway TREE, UK 1966. WATER WRACKETS, UK 1975. GOOLE BY NUMBERS, UK 1976. H IS FOR HOUSE, UK 1976. DEAR PHONE, UK 1977. A WALK THROUGH H, UK 1978. VERTICAL FEATURES REMAKE, UK 1978. THE FALLS, UK 1980. THE DRAUGHTSMAN'S CONTRACT (DER KOTRAKT DES ZEICHERS), UK 1982. COASTLINE / THE SEA AND THEIR BLOOD, UK 1983. FOUR AMERICAN COMPOSERS, UK 1983. A ZED AND TWO NOUGHTS (EI Z UD ZWEI ULLE), UK/NL 1985. THE BELLY OF AN ARCHITECT (DER BAUCH DES ARCHITEKTE), UK/I 1986. DEATH IN THE SEINE, UK / F / NL 1988. DROWNING BY NUMBERS (VERSCHWÖRUG DER FRAUE), UK/NL 1988. FEAR OF DROWNING, UK 1988. THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE AND HER LOVER (DER KOCH, DER DIEB, SEIE FRAU UD IHR LIEBHABER), F/UK 1989. A TV DANTE. THE INFERNO. CANTOS I-VIII, UK 1989. PROSPERO’S BOOKS (PROSPEROS BÜCHER), UK/F/NL/J 1991. DARWIN, F 1992. THE BABY OF MÂCON (DAS WUDER VO MÂCO), UK/F/D/B/NL 1993. BEITRAG ZU: LUMIÈRE AND COMPANY (F/DK/S/E 1995. THE PILLOW BOOK (DIE BETTLEKTÜRE), UK/F/NL/L 1996. 8½ WOMEN (8½ FRAUE), UK/NL/L/D 1999. THE TULSE LUPER SUITCASES, UK/E/I/L/NL/RUS/H/D 2003. NIGHTWATCHING, CDN/F/D/PL/NL/UK 2007. REMBRANDT’S J’ACCUSE. CONSPIRACY AND MURDER IN THE NIGHTWATCH, NL/D/FIN 2008.

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System und Mythos

Erwähnte Filme anderer Regisseure BOUDU SAUVÉ DES EAUX (BOUDU – AUS DE WASSER GERETTET), Regie: Jean Renoir, F 1932. DER STAND DER DINGE, Regie: Wim Wenders, BRD / P / USA 1982. DET SJUNDE INSEGLET (DAS SIEBETE SIEGEL), Regie: Ingmar Bergman, S 1957. FORREST GUMP, Regie: Robert Zemeckis, USA 1994. HISTOIRE(S) DU CINEMA, Regie: Jean-Luc Godard, F 1988ff. L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (LETZTES JAHR I MARIEBAD), Regie: Alain Resnais, F / I 1961. L’ESCAMOTAGE D’UNE DAME AU THÉÂTRE ROBERT HOUDIN (DAS VERSCHWIDE EIER DAME), Regie: Georges Méliès, F 1896. LA PASSION DE JEANNE D’ARC (DIE PASSIO DER JUGFRAU VO ORLEAS), Regie: Carl Theodor Dreyer, F 1928. LE VOYAGE À TRAVERS L’IMPOSSIBLE (DIE REISE DURCH DAS UMÖGLICHE), Regie: Georges Méliès, F 1904. LIFE ON EARTH, UK 1979 (TV-Serie). MARLENE, Regie: Maximilian Schell, BRD 1984. NAPOLÉON, Regie: Abel Gance, F 1927. SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (SALÒ ODER DIE 120 TAGE VO SODOM), Regie: Pier Paolo Pasolini, I / F 1975. TERMINATOR 2 – JUDGEMENT DAY (TERMIATOR 2 – TAG DER ABRECHUG), Regie: James Cameron, USA 1990. THE DA VINCI CODE (SAKRILEG – DER DA VICI CODE), Regie: Ron Howard, USA 2006. THE MATRIX (MATRIX), Regie: Andy & Larry Wachowski, USA 1999. THE MATRIX RELOADED (MATRIX RELOADED), Regie: Andy & Larry Wachowski, USA / AUS 2003. THE TROUBLE WITH HARRY (IMMER ÄRGER MIT HARRY), Regie: Alfred Hitchcock, USA 1955. THE WIZARD OF OZ (DER ZAUBERER VO OZ), Regie: Victor Fleming, USA 1939. ZORN’S LEMMA, Regie: Hollis Frampton, USA 1970.

Zitierte Texte von Peter Greenaway 105 Years of Illustrated Text, in: Zoetrope 1(2001), S. 48-51. A Life in Film, zitiert nach: http://www.timeoutabudhabi.com/thismonth/feature.php?id=366 (offline; gespeicherte Kopie im Besitz d. Verf.). A Zed and Two Noughts, London 1986. Body and Text: EIGHT AND A HALF WOMEN: A Laconic Black Comedy, in: Alemany-Galway / Willoquet-Maricondi (Hg.): Peter Greenaway’s Postmodern / Poststructuralist Cinema, S. 285-299. Drowning by Numbers, London / Boston (MA) 1988. Fear of Drowning by Numbers. Règles du Jeu, Paris 1989.

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Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis

Hundert Objekte zeigen die Welt / Hundred Objects to Represent the World. Ausstellung anlässlich der 300-Jahr-Feier der Akademie der bildenden Künste Wien, Stuttgart 1992. Nightwatching. A View of Rembrandt’s THE NIGHT WATCH, Rotterdam 2006. Papers / Papiers, Paris 1990. Plans and Conceits ... of Doubtful Authenticity, London 1982. Prospero’s Books, London 1991. The Baby of Mâcon, Paris 1994. The Falls. Synopsis, in: BFI-Katalog 1980/81: The New Social Function of Cinema, London 1981, enthalten in: BFI History of the Avantgarde: The Early Films of Peter Greenaway 2, London 2003 (DVD). The Stairs 1. Geneva – The Location / Genève – Le Cadrage, London 1994. The Stairs 2. Munich – Projection / München – Projektionen, London 1995.

Zitierte Vorträge von Peter Greenaway Toward a re-invention of cinema. Vortrag am 28. September 2003 auf dem Netherlands Film Festival in Utrecht, zitiert nach: http://petergreenaway.org.uk/essay3.htm (29.03.2009). Cinema is dead – long live cinema. Vortrag am 30. September 2003 auf der eDIT / VES 2003 in Frankfurt am Main, zitiert nach: http://sneakerbike.com/audio/greenaway1_dl.mp3 (29.03.2009). Cinema is far too rich and capable a medium to be left merely to the storytellers, or Five imaginary Dutch films. Vortrag im September 1988 auf dem Netherlands Film Festival in Utrecht, zitiert nach: http://petergreenaway.org.uk/essay4.htm (29.03.2009). EGS Lecture 2006. Vortrag 2006 in Saas-Fee, zitiert nach: http://www.youtube.com/watch?v=MwlO8M8FiEI (29.03.2009). Have we seen any cinema yet? Vortrag im August 1999 in Saas-Fee, zitiert nach: http://www.egs.edu/faculty/greenaway/greenaway-cinema-1999. html (29.03.2009). Introduction, in: BFI History of the Avantgarde: The Early Films of Peter Greenaway 1, London 2003 (DVD). Introduction, in: BFI History of the Avantgarde: The Early Films of Peter Greenaway 2, London 2003 (DVD). Introduction / Audiokommentar, in: Ein Z und zwei Nullen, Leipzig 2005 (DVD). Some Organizing Principles, in: Emmer, Michele (Hg.): Mathematics and Culture I, Berlin / Heidelberg / Hong Kong / London / Mailand / New York (NY) / Paris / Tokyo 2004, S. 161-176. Sound and Vision. Podiumsdiskussion im August 2002 in Saas-Fee, zitiert nach: http://www.egs.edu/faculty/greenaway/greenaway-sound-andvision-2002.html (29.03.2009). The 92 Faces of Peter Greenaway. Transcript (PDF), in: The 92 Faces of Peter Greenaway (cinema lectures 1). Hg. vom Europäischen Institut des Kinofilms Karlsruhe, Karlsruhe 2002 (CD-ROM).

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System und Mythos

The Tulse Luper Suitcase. Vortrag im August 2001 in Saas-Fee, zitiert nach: http://www.egs.edu/faculty/greenaway/greenaway-tulse-luper-2001.html (29.03.2009).

Erwähnte Ausstellungen / Installationen / performances von Peter Greenaway IF ONLY FILM COULD DO THE SAME (1991/1994/1998), Brentford, Watermans Gallery / Dublin, City Art Centre / Tempe (AZ), Arizona State University Art Museum / Thessaloniki, Macedonian Museum of Contemporary Art. THE STAIRS 1 – THE LOCATION (1994), Genf. THE STAIRS 2 – PROJECTION (1995), München. LUPER AT COMPTON VERNEY (2004), Warwickshire, Compton Verney House. THE TULSE LUPER VJ PERFORMANCE (2005ff.), Premiere: 17.06.2005, Amsterdam, Club 11 (zusammen mit DJ Serge Dodwell a.k.a. DJ Radar). WRITING ON WATER (2005ff.), Premiere: 15.09.2005, London, Lloyd's (zusammen mit David Lang, Brody Neuenschwander und dem London Sinfonietta Orchestra). NIGHTWATCHING (2006), Amsterdam, Rijksmuseum. THE LAST SUPPER (2008), Mailand, Santa Maria delle Grazie. THE WEDDING AT CANA (2009), Venedig, San Giorgio Maggiore

Offizielle Greenaway-websites http://www.petergreenaway.info (29.03.2009): offizielle Webpräsenz von Peter Greenaway. http://greenaway.bfi.org.uk (29.03.2009): Greenaways Seite beim British Film Institute. http://www.tulselupernetwork.com (29.03.2009): online-Archiv des Projekts THE TULSE LUPER SUITCASES. http://www.tulseluperinvenice.net (29.03.2009): online-Auftritt zum Bildband TULSE LUPER IN VENICE. http://www.tulseluperinturin.net (29.03.2009): online-Auftritt zum Bildband TULSE LUPER IN TURIN. http://www.tulseluperjourney.com (29.03.2009): THE TULSE LUPER JOURNEY, online game des Projekts THE TULSE LUPER SUITCASES.

Zitierte Interviews mit Peter Greenaway Andrew, Nigel: A Walk through Greenaway, in: Gras / Gras (Hg.): Peter Greenaway, S. 3-6. Borley, Emma: Peter Greenaway in Interview, zitiert nach: http://www.bbc.co.uk/cambridgeshire/content/articles/2005/07/19/ peter_greenaway_full_interview_feature.shtml (29.03.2009). 410

Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis

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System und Mythos

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System und Mythos

Luhmann, Niklas: Eine Redeskription „romantischer Kunst“, in: Fohrmann / Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur, S. 325-344. Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. Hg. von Dirk Baecker, Heidelberg 2004. Luhmann, Niklas: Einführung in die Theorie der Gesellschaft. Hg. von Dirk Baecker, Heidelberg 2005. Luhmann, Niklas: Erkenntnis als Konstruktion, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 218-242. Luhmann, Niklas: Europäische Rationalität, in: ders.: Beobachtungen der Moderne, S. 51-91. Luhmann, Niklas: Evolution – kein Menschenbild, in: Kreuzer, Franz / Riedl, Rupert J.: Evolution und Menschenbild, Hamburg 1983, S. 193-205. Luhmann, Niklas: Evolution und Geschichte, in: ders.: Soziologische Aufklärung 2, S. 150-169. Luhmann, Niklas: Frauen, Männer und George Spencer Brown, in: ders.: Protest, S. 107-155. Luhmann, Niklas: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Mit einem Epilog 1994, Berlin 1999. Luhmann, Niklas: Geschichte als Prozess und die Theorie sozio-kultureller Evolution, in: ders.: Soziologische Aufklärung 3, S. 178-197. Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik 3, Frankfurt am Main 1989. Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik 4, Frankfurt am Main 1995. Luhmann, Niklas: Gleichzeitigkeit und Synchronisation, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 92-125. Luhmann, Niklas: Haltlose Komplexität, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 58-74. Luhmann, Niklas: Ideenevolution. Beiträge zur Wissenssoziologie. Hg. von André Kieserling, Frankfurt am Main 2008. Luhmann, Niklas: Identität – was oder wie?, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 14-30. Luhmann, Niklas: Inklusion und Exklusion, in: ders.: Soziologische Aufklärung 6, S. 226-251. Luhmann, Niklas: Intersubjektivität oder Kommunikation, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5, S. 162-179. Luhmann, Niklas: Ist Kunst codierbar?, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 159-197. Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Berlin / Neuwied am Rhein 1969. Luhmann, Niklas: Moderne Systemtheorien als Form gesamtgesellschaftlicher Analyse, in: ders. / Habermas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, S. 7-24. Luhmann, Niklas: Observing re-entries, in: Peter / Preyer / Ulfig (Hg.): Protosoziologie im Kontext, S. 290-301. Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefahren einstellen?, Opladen 1986. Luhmann, Niklas: Probleme mit operativer Schließung, in: ders.: Soziologische Aufklärung 6, S. 13-25.

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Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis

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System und Mythos

Luhmann, Niklas: Warum „Systemtheorie“?, in: Boronoev (Hg.): Probleme der theoretischen Soziologie, zitiert nach: http://www.soc.pu.ru/ materials/golovin/reader/luhmann/d_luhmann2.doc (29.03.2009). Luhmann, Niklas: Was ist Kommunikation?, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 94-110. Luhmann, Niklas: Weltkunst, in: ders. / Baecker, Dirk / Bunsen, Frederick D.: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 7-45. Luhmann, Niklas: Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, in: ders.: Aufsätze und Reden, S. 111-136. Luhmann, Niklas: Wie lassen sich latente Strukturen beobachten?, in: Krieg / Watzlawick (Hg.): Das Auge des Betrachters, S. 61-74. Luhmann, Niklas: Zeichen als Form, in: Baecker (Hg.): Probleme der Form, S. 45-69. Lumpe, Adolf: Eintrag „Elementum“, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 4, Stuttgart 1959, Sp. 1073-1100. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz / Wien 1986. Lyotard, Jean-François: Randbemerkungen zu den Erzählungen, in: ders.: Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982-1985. Hg. von Peter Engelmann, Wien 1987, S. 32-37. Macfarlane, Alan: Marriage and Love in England. Modes of Reproduction 1300-1840, Oxford 1986. Mallarmé, Stéphane: Das Buch betreffend, in: ders.: Werke. Band 2: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch. Hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel. Mit einer Einleitung von Bettina Rommel, Gerlingen 1998, S. 232-263. Malraux, André: Psychologie der Kunst. Das imaginäre Museum, Hamburg 1957. Manovich, Lev: Cinema and Digital Media, in: Utterson, Andrew (Hg.): Technology and Culture. The Film Reader, London / New York (NY) 2005, S. 27-30. Manovich, Lev: The Language of New Media, Cambridge (MA) 2001. Manovich, Lev: What is Digital Cinema?, in: Mirzoeff, Nicholas (Hg): The Visual Culture Reader. Second Edition, London / New York (NY) 2002, S. 405-416. Marcorelles, Louis: Conversation with Jean Renoir, in: Cardullo, Bert (Hg.): Jean Renoir: Interviews, Jackson (MS) 2005, S. 105-120. Martinez, Matias: Einleitung zu Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: ders. / Jannidis / Lauer / Winko (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, S. 181-184. Maturana, Humberto R.: „Ich bin kein Konstruktivist.“ Interview mit Astrid Kaiser, in: PÄD-Forum: unterrichten, erziehen 31(2003), S. 109-111. Mayr, Ernst: Zufall oder Planmäßigkeit: Das Paradoxon der Evolution, in: ders.: Evolution und die Vielfalt des Lebens, Berlin / Heidelberg / New York 1979, S. 14-33. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf / Wien / New York (NY) / Moskau 1992. Mecke, Jochen: Kleine Apologie des Kinos der Lüge: Zur Einführung, in: Kratochwill / Steinlein (Hg.): Kino der Lüge, S. 9-25. 438

Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis

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System und Mythos

Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen, in: ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Fortgeführt von Volker Gerhardt, Norbert Miller, Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, Band VI.1, Berlin 1968. Nietzsche, Friedrich: Brief an Heinrich Köselitz, Ende Februar 1882, in: ders.: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Begr. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Fortgeführt von Norbert Miller und Annemarie Pieper. Band III.1: Briefe von Friedrich Nietzsche Januar 1880 Dezember 1884, Berlin 1981, S. 172. Nietzsche, Friedrich: Menschliches, Allzumenschliches. Zweiter Band, in: ders.: Werke. Band IV.3, Berlin 1967, S. 1-342. Nietzsche, Friedrich: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: ders.: Werke. Band III.2: Nachgelassene Schriften 1870-1873, Berlin 1973, S. 367-384. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift, in: ders.: Werke. Band VI.2, Berlin 1968, S. 257-431. Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: ders: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Band 1: Das dichterische Werk, Stuttgart 1977, S. 183-369. Novalis: Vermischte Fragmente II, in: ders.: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Dritte, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage in 4 Bänden und einem Begleitband, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Band 2: Das philosophische Werk II, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1981, S. 558-563. Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen - Grundbegriffe, Stuttgart / Weimar 1998. Obrecht, Werner / Zwicky, Heinrich: Theorie als Selbstbestätigung – Zur Kritik der Luhmannschen Systemtheorie und ihrer Popularität in der Sozialen Arbeit, in: neue praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik 32(2002), Heft 5, S. 483-498. Odin, Roger: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, in: Hohenberger (Hg.): Bilder des Wirklichen, S. 286-303. Ong, Walter J.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987. Ort, Claus-Michael: Systemtheorie und Hermeneutik? Kritische Anmerkungen zu einer Theorieoption aus literaturwissenschaftlicher Sicht, in: de Berg / Prangel (Hg.): Systemtheorie und Hermeneutik, S. 143-171. Orwell, George: Nineteen Eighty-Four. Hg. von Ronald Carter und Valerie Durow, Harmondsworth 2000. Oswalt, Philipp: Das Entwerfen von Natur, in: Thesis 5(1988), S. 69-75. Ovid: Verwandlungen. Bearbeitung und Nachwort von Wilhelm Plankl unter Mitwirkung von Karl Vretska, Stuttgart 1989. Palm, Michael: Zeligs Schatten – Was Fake-Dokus von der Wahrheit halten, zitiert nach: http://www.nachdemfilm.de/no2/pal01dts.html (29.03.2009). Panofsky, Erwin: Stil und Medium im Film, in: ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film. Mit Beiträgen von Irving Lavin und William S. Heckscher, Frankfurt am Main / New York (NY) / Paris 1993, S. 17-48. 440

Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis

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System und Mythos

Rautzenberg, Markus: „We’re not laying pipes, we’re talking about poetry!“ Informationsästhetik zwischen Travestie und Innovation. Vortrag am 25. Juni 2005 auf der Tagung „Travestien der Kybernetik. Die MacyKonferenzen und ihr Einfluss“ in Berlin, zitiert nach: http://www.expolar.de/kybernetik/TravestienDerKyberneti.data/ Bibliothek/input_papers/Rautzenberg_InfoAesth.pdf (29.03.2009). Raymond, Eric S.: Eintrag „retcon“, in: ders.: The New Hacker’s Dictionary, Cambridge (MA) / London 1996, S. 384-385. Rehberg, Karl-Siegbert: Konservativismus in postmodernen Zeiten: Niklas Luhmann, in: Burkart / Runkel (Hg.): Funktionssysteme der Gesellschaft, S. 285-309. Reese-Schäfer, Walter: Karl-Otto Apel zur Einführung. Mit einem Nachwort von Jürgen Habermas, Hamburg 1990. Reese-Schäfer, Walter: Niklas Luhmann zur Einführung, Hamburg 1999. Ricardou, Jean: The Story within the Story, in: James Joyce Quarterly 18/3 (1981), S. 323-338. Ricken, Norbert: Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen Diskurs, Würzburg 1999. Rickert, Heinrich: System der Philosophie. Erster Teil: Allgemeine Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921. Riesinger, Robert F. (Hg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte, Münster 2003. Rimbaud, Arthur: Brief an Georges Izambard (13.05.1871), in: ders.: Œuvres completes – Correspondance. Hg. von Louis Forestier, Paris 2004, S. 224-225. Rosen, Philip (Hg.): Narrative, Apparatus, Ideology. A Film Theory Reader, New York (NY) 1986. Rosenstone, Robert A.: Geschichte in Bildern / Geschichte in Worten: Über die Möglichkeit, Geschichte zu verfilmen, in: Rother, Rainer (Hg.): Bilder schreiben Geschichte: Der Historiker im Kino, Berlin 1991, S. 65-83. Røstvig, Maren-Sofie: Structure as Prophecy: The Influence of Biblical Exegesis upon Theories of Literary Structure, in: Fowler (Hg.): Silent Poetry, S. 32-72. Roth, Wilhelm: Der Dokumentarfilm seit 1960, München / Luzern 1982. Russell, Bertrand / Whitehead, Alfred North: Principia mathematica. Vorwort und Einleitungen. Mit einem Beitrag von Kurt Gödel, Frankfurt am Main 1986. Russell, Bertrand: Einführung in die mathematische Philosophie. Hg. von Johannes Lenhard und Michael Otte, Hamburg 2002. Saint-Exupéry, Antoine de: Der kleine Prinz. Mit Zeichnungen des Verfassers, Düsseldorf 1983. Salen, Katie / Zimmerman, Eric: Rules of Play. Game Design Fundamentals, Cambridge, MA / London 2004. Scheffel, Helmut: Vorwort, in: Barthes: Kritik und Wahrheit, S. 9-15. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von: Philosophie der Mythologie, in: ders.: Sämmtliche Werke. Band II.2, Augsburg / Stuttgart 1857. Scheler, Max: Die Formen des Wissens und die Bildung, in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. von Manfred S. Frings, Band 9, Bonn 1995, S. 85-119. 442

Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis

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System und Mythos

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Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis

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System und Mythos

Weihe, Richard: Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, München 2004. Weinrich, Harald: Linguistik der Lüge. Kann Sprache die Gedanken verbergen? Antwort auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Jahre 1964, Heidelberg 1966. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987. Werber, Niels: Literatur als System, Opladen 1992. Werber, Niels: Neue Medien, alte Hoffnungen, in: Merkur 47(1993), S. 887-893. Werber, Niels: Systemtheorie als Literaturwissenschaft, in: Merkur 44(1990), S. 887-893. Werber, Niels: Zweierlei Aufmerksamkeit in Medien, Kunst und Politik, in: Kunstforum 148(1999/2000), S. 139-151. Wetzel, Michael: Die Enden des Buches oder die Wiederkehr der Schrift. Von den literarischen zu den technischen Medien, Weinheim 1991. Wetzel, Michael: Die Wahrheit nach der Malerei, München 1997. White, Hayden: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Stuttgart 1986. White, Hayden: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, in: Conrad, Christoph / Kessel, Martina (Hg.): Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion, Stuttgart 1994, S. 123-157. White, Hayden: Die Fiktionen der Darstellung des Faktischen, in: ders.: Auch Klio dichtet, S. 145-160. White, Hayden: Historizismus, Geschichte und die figurative Imagination, in: Auch Klio dichtet, S. 123-144. White, Hayden: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt am Main 1991. Whitrow, Gerald James: Die Erfindung der Zeit, Hamburg 1991. Wiener, Norbert: Newtonscher und Bergsonscher Zeitbegriff, in: ders.: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine, Reinbek 1968, S. 53-69. Wilde, Oscar: The Critic as Artist, in: ders.: The Complete Works, London / New York (NY) / Sydney / Toronto 1986, S. 857-898. Wilde, Oscar: The Decay of Lying. An Observation, in: ders.: The Complete Works, S. 825-843. Wildt, Michael: Das Erfundene und das Reale. Historiographische Anmerkungen zu einem Spielfilm, in: Historische Anthropologie 2(1995), S. 324-334. Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1961. Winko, Ulrich: Visuelle und verbale Fiktionen, in: ders. / Steinbrenner, Jakob (Hg.): Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissenschaften, München / Wien / Zürich 1997, S. 152-176. Winthrop-Young, Geoffrey: Friedrich Kittler zur Einführung, Hamburg 2005. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, in: ders.: Werkausgabe in 8 Bänden. Band 1, Frankfurt am Main 1984, S. 225-618. Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, in: ders.: Werkausgabe. Band 1, S. 7-85. Wolf, Werner: Eintrag „Mise en abyme“, in: Nünning (Hg.): MetzlerLexikon Literatur- und Kulturtheorie, S. 373. 446

Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis

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Abgebildete Gemälde Antonello da Messina: HIERONYMUS IM GEHÄUS (ca. 1456), Öl auf Holz, 46 cm x 36 cm, London, National Gallery. Bellini, Giovanni: LEONARDO LOREDAN (ca. 1501-1505), Öl auf Holz, 62 cm x 45 cm, London, National Gallery. Escher, Maurits Cornelis: BILDGALERIE (1956), Lithographie, 32 cm x 32 cm, Den Haag, Escher Museum.

447

System und Mythos

Erwähnte Gemälde Botticelli, Sandro: GEBURT DER VENUS (ca. 1476-1478), Tempera auf Leinwand, 175 cm x 278 cm, Florenz, Galleria degli Uffizi. Bronzino, Agnolo: ANDREA DORIA ALS NEPTUN (ca. 1540-1550), Öl auf Leinwand, 115 cm x 53 cm, Mailand, Pinacoteca di Brera. Greenaway, Peter: IF ONLY FILM COULD DO THE SAME (1972), Öl und Collage auf Hartfaserplatte, 25 cm x 35 cm. Hals, Frans: FESTMAHL DER OFFIZIERE DER SCHÜTZENGILDE ST. GEORG VON HAARLEM (1616), 175 cm x 324 cm, Haarlem, Frans Hals Museum. Ingres, Jean Auguste Dominique: PORTRAIT DER MADAME MOITESSIER (1851), Öl auf Leinwand, 148 cm x 102 cm, Washington D.C., National Gallery of Art. Ingres, Jean Auguste Dominique: PORTRAIT DER MADAME MOITESSIER SITZEND (1856), Öl auf Leinwand, 120 cm x 92 cm, London, National Gallery. Klee, Paul: SIEBZEHN, IRR (1923), Feder und Aquarell auf Papier auf Karton, 22 cm x 29 cm, Basel, Kunstmuseum. Leonardo da Vinci: DAS LETZTE ABENDMAHL (1495-1498), Secco, 420 cm x 910 cm, Mailand, Santa Maria delle Grazie. Monet, Claude: SEEROSEN (1920-1926), Öl auf Leinwand, 219 cm x 602 cm, Paris, Musée de l'Orangerie. Piero della Francesca: PALA MONTEFELTRO (ca. 1472-1474), Öl auf Holz, 248 cm x 170 cm, Mailand, Pinacoteca di Brera. Piranesi, Giovanni Battista: TREPPEN (1743), Radierung, 26,5 cm x 36 cm. Pollock, Jackson: ONE: NUMBER 31 (1950), Öl und Lack auf Leinwand, 269,5 x 531 cm, New York, Museum of Modern Art. Rijn, Rembrandt Harmenszoon van: DIE NACHTWACHE (1642), Öl auf Leinwand, 359 cm x 438 cm, Amsterdam, Rijksmuseum. Tour, Georges de la: DER BÜßENDE HEILIGE HIERONYMUS (ca. 1628–1630), Öl auf Leinwand, 157 cm x 100 cm, Grenoble, Musée des Beaux Arts. Vermeer, Jan: DAME MIT DIENSTMAGD UND BRIEF (ca. 1667-1678) Öl auf Leinwand, 89,5 cm x 78 cm, New York, Frick Collection. Vermeer, Jan: DER ASTRONOM (ca. 1668), Öl auf Leinwand, 50 cm x 45 cm, Paris, Louvre. Vermeer, Jan: DER GEOGRAPH (ca. 1668-1669), Öl auf Leinwand, 53 cm x 47 cm, Frankfurt am Main, Städel Museum. Vermeer, Jan: DIE MALKUNST (ca. 1662-1668), Öl auf Leinwand, 120 cm x 100 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum. Vermeer, Jan: DIE MUSIKSTUNDE (ca. 1662-1664), Öl auf Leinwand, 73 cm x 64,5 cm, London, Buckingham Palace. Vermeer, Jan: MÄDCHEN MIT ROTEM HUT (ca. 1665-1666), Öl auf Holz, 23 cm x 18 cm, Washington D.C., National Gallery of Art. Veronese, Paolo: DIE HOCHZEIT ZU KANA (1563), Öl auf Leinwand, 669 cm x 990 cm, Paris, Louvre. Zick, Januarius: ALLEGORIE AUF NEWTONS VERDIENSTE UM DIE OPTIK (ca. 1785), Öl auf Leinwand, 63 cm x 73 cm, Hannover, Niedersächsische Landesgalerie.

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Filmographie / Bibliographie / Abbildungsverzeichnis

Quellennachweis verwendeter Photographien Photographie auf S. 346 zu THE DRAUGHTSMAN’S CONTRACT: Webseite: http://petergreenaway.org.uk/draughtsman.htm; Bilddatei: http://petergreenaway.org.uk/dracanac.jpg (29.03.2009). Photographie auf S. 386 zu THE STAIRS 2 – PROJECTION: Spieler: CD-ROM im Omnimax-Format, S. 280; Photographin: Manu Luksch. Photographie auf S. 386 zu THE TULSE LUPER VJ PERFORMANCE: Webseite: http://www.notv.com/index.php?option=com_content& task=view&id=34&Itemid=58; Bilddatei: http://www.notv.com/pr/greenaway/VJ_Performance_ images/Peter_Greenaway_0529_1024.jpg (29.03.2009). Photographie auf S. 386 zu THE LAST SUPPER: Webseite: http://www.guardian.co.uk/culture/gallery/2008/jul/02/art? picture=335404629; Bilddatei: http://static.guim.co.uk/Guardian/culture/gallery/2008/jul/ 02/art/supper1-3243.jpg (29.03.2009); Photograph: Luciano Romano.

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Film Daniel Devoucoux Mode im Film Zur Kulturanthropologie zweier Medien 2007, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-813-1

Dagmar Hoffmann (Hg.) Körperästhetiken Filmische Inszenierungen von Körperlichkeit Juli 2010, ca. 286 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1213-4

Gesche Joost Bild-Sprache Die audio-visuelle Rhetorik des Films 2008, 264 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-923-7

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Film Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film Ein Handbuch Juli 2010, ca. 404 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1091-8

Hedwig Wagner Die Prostituierte im Film Zum Verhältnis von Gender und Medium 2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-563-5

Waltraud »Wara« Wende, Lars Koch (Hg.) Krisenkino Filmanalyse als Kulturanalyse: Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm Juni 2010, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1135-9

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Film Doris Agotai Architekturen in Zelluloid Der filmische Blick auf den Raum 2007, 184 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-623-6

Joanna Barck Hin zum Film – Zurück zu den Bildern Tableaux Vivants: »Lebende Bilder« in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini 2008, 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-89942-817-9

Maik Bozza, Michael Herrmann (Hg.) Schattenbilder – Lichtgestalten Das Kino von Fritz Lang und F.W. Murnau. Filmstudien 2009, 212 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1103-8

Catrin Corell Der Holocaust als Herausforderung für den Film Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie 2009, 520 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-89942-719-6

Daniel Fritsch Georg Simmel im Kino Die Soziologie des frühen Films und das Abenteuer der Moderne 2009, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1315-5

Tina Hedwig Kaiser Aufnahmen der Durchquerung Das Transitorische im Film 2008, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-931-2

Katrin Oltmann Remake | Premake Hollywoods romantische Komödien und ihre Gender-Diskurse, 1930-1960 2008, 356 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-700-4

Sebastian Richter Digitaler Realismus Zwischen Computeranimation und Live-Action. Die neue Bildästhetik in Spielfilmen 2008, 230 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-943-5

Nadja Sennewald Alien Gender Die Inszenierung von Geschlecht in Science-Fiction-Serien 2007, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-805-6

Catherine Shelton Unheimliche Inskriptionen Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm 2008, 384 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-89942-833-9

Sandra Strigl Traumreisende Eine narratologische Studie der Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem 2007, 236 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-89942-659-5

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