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German Pages [128] Year 1981
WILHELM DILTHEY· GESAMMELTE SCHRIFTEN X. BAND
WILHELM DILTHEY GESAMMELTE SCHRIFTEN
X.BAND
B. G. TEUBNER VERLAGSGESELLSCHAFT . STUTTGART VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
SYSTEM DER ETHIK
4. Auflage
B. G. TEUBNER VERLAGSGESELLSCHAFT . STUTTGART VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften / Wilhclm Dilthey. - Stuttgart : Teubner ; Göttingen : Vandenhoeck und Ruprecht NE: Dilthey, Wilhe1m: [Sammlung] Bd. 10. System der Ethik. -
4. Aufl. -
198 1.
ISBN 3-525-30311-4
4. Auflage 1981 © B. G. Teubner Verlagsgesellschaft m.b.H., Stuttgart 1958. Printed in Germany. - Ohne ausdrückliche Genehmigung der Verlage Ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielLiitigen. Druck: fotokop, Wilhelm Weihen, Darmstadt Einband: Hubert & Co., Cöttingen
INHALT
Vorwort des Herausgebers ...................................... . Erster Abschnitt 1. Kapitel: Das Problem der gegenwärtigen Ethik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 1: Nur die lebenskräftige, praktische Philosophie ist wahrhaft groß § 2: Die Bedingungen der gegenwärtigen Ethik ........................ 2. Kapitel: Die drei Methoden der Auflösung des ethischen Problems
§ § § §
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Das Wesen der Methode .. ........ .......... Die metaphysische Methode ....... ......... Die Methode der inneren Erfahrung ................. Die Methode des Studiums der moralischen Massenerscheinungen, der sozialen Verbände und Organisationen und des geschichtlichen Zusammenhangs ..... ......................... 7: Der Widerstreit der Methoden führt zum Bedürfnis einer erkenntnistheoretischen und kritischen Begründung der Ethik. . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Kapitel: Der Utilitari,mus als Kompromiß zwischen der sinnlichen Verstandesansicht und dem sittlichen Bewußtsein ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§
3: 4: 5: 6:
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§ 8: Begriff und Stellung des Utilitarismus § 9: Jeremias Bentham 1. Das Prinzip 2. Das Mittel, dieses Prinzip auf die Gesetzgebung anwendbar zu machen .. a) Die Aufgabe und ihre Bedeutung ... b) Die Art ihrer Auflösung ... c) Das Ungenügende der Auflösung. Kritik 3. Die Stabilisierung dieses Prinzips durch Feststellung seiner Sanktion
§ 10: John Stuarr Mill ... .. .......... § 11: Allgemeine Kritik des Utilitarismus ........... § 12: Das erkenntnistheoretische Prinzip einer Möglichkeit der Moral
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Zweiter Abschnitt Der Wille und die sittlichen Anlagen § § §
1: Der Grundplan des Lebewesens ..... 2: Die Zweckmägifikeit im Grundton des Lebewesens 3: Die zentrale Stellung des Tricb- und Gefühlslebens
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6
Inhalt § 4: Inneres Verhältnis von Trieb, Gefühl und Volition ................. § 5: Die Trieb- und Gefühlskreise .................... .... . . .. . . . . . . . . . § 6: Erste Klasse der Triebmechanismen und der aus ihnen hervorgehenden Begierden, Leidenschaften und affektiven Zustände .................
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Die Nahrungstriebe .......................................... Geschlechtstrieb und Kinderliebe ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schutz- und Abwehrtriebe .................................... Transformation zu Affekten und Leidenschaften . . . . . . . . . . . . . . . Die Bewegungstriebe und das Ruhebedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 7: Die bei der Umwandlung der Triebe in Triebbegierden und Leidenschaften stattfindenden Prozesse .................................. § 8: Verneinende, beschränkende und bildende Ethik. . . . . . . . .. . . .. . . . . . § 9: Die von der Beschaffenheit der Volitionen selber bedingten Gefühle. . § 10: Das in diesen Urphänomenen des moralischen Lebens enthaltene moralische Bewußtsein der eigenen Willensbeschaffenheiten und Handlungen § 11: Die in diesen Urphänomenen enthaltenen Gefühlsurteile über die Handlungen anderer und das Prinzip dieser Wertbestimmungen .......... § 12: Der psychologische Schein der eudämonistischen und utilitaristischen Auffassung der behandelten moralischen Urphänornene .............. § 13: Die Fremdgefühle und deren Umbildung zu sittlichen Vorgängen. . . . § 14: Das Wohlwollen ............................................... § 15: Das Mitleid (die Sympathie) als Moralprinzip in der positivistischen Schule ........................................................ § 16: Achtung vor dem Selbstzweck im anderen. . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . § 17: Verhältnis zwischen Achtung vor dem Selbstwert anderer und der Verpflichtung der Dankbarkeit, des Versprechens und der Wahrhaftigkeit § 18: Bindung und Pflicht ............................................. § 19: Allgemeine Ansicht von dem Zusammenhang zwischen geschichtlichem Verständnis, Sittlichkeit und Kunst (das ideale Leben des Menschen) .. § 20: Anwendung auf Erziehung als einer der Hauptfaktoren der moralischen Entwicklung ................................................... § 21: Das Mannigfaltige der sittlichen Anlagen oder die sittliche Organisation des Menschen ...................................................
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Dritter Abschnitt Die Evolution des Sittlichen und die Prinzipien der sozialen Ethik .....................................................
§ 1 : Die Beziehungen zwischen den sittlichen Anlagen und den sozialen Kräftekomplexen innerhalb der Gesellschaft ........................ § 2: Die gesellschaftlichen Kräfte ...................................... § 3: Die sittliche Evolution .......................................... § 4: Der primitive Mensch und sein Milieu und die Evolution der Gesellschaft § 5: Die Entwicklung des sittlichen Bewußtseins im Verbande. Autorität, Pflicht ............................................... § 6: Die Sitte, das Recht, das Sitten gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 7: Die Religion, das Ideal und die Aufnahme von Pflicht und Gesetz in einem umfassenden Zusammenhang ..............................
86 86 88 90 92 93 94 95
7
Inhalt § 8: Der Begriff des Sittlichen. Gut und Böse . . . . . . . . . . . . . . . . § 9: Die allgemein und beständig wirkenden Triebfedern des sittlichen
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........................................................
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Lebens
§ 10: Die Verbindung der sittlichen Triebfedern in der Kultur und das Ethos der Völker und Zeitalter ............................
§ 11: Die Epochen der moralischen Kultur ..... § 12: Die sittlichen Prinzipien der Ethik
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Anhang: 1. Praktische Philosophie ...... . 2. Gemeinwohl und persönliche Sittlichkeit
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Namenverzeichnis
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VOR WORT DES HERA USGEBERS Wilhelm Dilthey hat seine wi5senschaftliche Produktion mit ethischen Arbeiten begonnen, angeregt wohl durch Schleiermacher, seinen Lehrer Nitzsch und den Völkerpsychologen Lazarus. 1864 erschien seine Dissertation "De principiis ethicis Schleiermachi", im gleichen Jahr schrieb er seine Habilitationsschrift "Versuch einer Analyse des moralischen Bewußtseins", die damals ungedruckt blieb und jetzt in Band VI seiner Werke, S. 1-55, veröffentlicht ist. Auch in dem ersten Entwurf seiner· "Einleitung in die Geisteswissenschaft", in dem Aufsatz "Ober das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat" von 1875, der in Band V, S. 31 ff. mitgeteilt ist, versucht er vor allem "den Zusammenhang der _\1oral mit den anderen Wissensch:lften der Gesellschaft und damit ihre gesur,de Fortbildung" zu entwickeln. Aber erst im Jahre 1890 hat er eine Vorlesung über die Ethik gehalten. In einem großen Brief an den Grafen Yorck vom Januar 1890 schreibt er: "Dann habe ich angefangen, einen Plan der neuen zweistündigen Sommervorlesung über Ethik zu machen. Einmal mußte der große Versuch gemacht werden, ob mir dieser Abschluß meiner systematischen Gedanken gelingen könnte. Dies hat mir denn ganz anders den Kopf heiß gemacht und tut es noch alle Tage. Ich fürchte, ich fürchte, Sie werden nicht mitgehen! Aber warum sind Sie nicht wenigstens ein paar Tage hier, meine schlimmen Neigungen zur Evolutionslehre, Anthropologie und Völkerkunde in Ordnung zu halten! Ich gehe von der Struktur des Seelenlebens, von dem System der Triebe aus. Der Punkt, an dem ich im Fluß der Evolution und deren vagen Möglichkeiten, welchen die jetzigen modern denkenden Ethiker preisgegeben sind, festen Fuß fasse, ist die psychologisch erkennbare Natur des Menschen, wie sie eben unser menschliches Seelenleben ausmacht, Ichbewußtsein usw. Den psychischen Zusammenhang, den wir in uns finden, betrachte ich als festen Standort. Freilich ist ,die Energie des Denkens darauf zu konzentrieren, zu zeigen, daß im Ichbewußtsein etwas Unauflösliche5 ist, das nicht aus Elementen und Beziehungen zwischen ihnen abgeleitet werden kann; dennoch wird die Durchführung dieses Satzes immer nur Wahrscheinlichkeit ergeben: dieser Satz würde ja dann einen ganz festen Standort begründen. Nun entwerfe ich ein Bild vom Haushalt des Seelenlebens und der Stellung des Systems von Trieben und Gefühlen in ihm. Der Mensch
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Vorwort des l!erausgebers
ist im Kern ein Bündel von Trieben. Dieses Bündel trenne ich auseinander. Ich zeige, wie nun nach den psychischen Gesetzen, wie ich sie entwickele, (s. Poetik), Züge des Willens als eines Lebens höheren Grades entstehen: ein solcher ist innere Steigerung, in jedem Zustand wirkend, was dem Streben nach Entfaltung, Vollkommenheit, einer falschen Abstraktion, entspricht, und von den Gefühlen her in allen Vorstellungen, Bildern, Trieben wirkt. Ein anderer höherer Zug, sehr zusammengesetzt in seinem Ursprung, liegt darin, daß wir, nicht Atome, in allen Einzeltrieben einen mitbedingenden Zug von Mitteilung, Anteil, Gemeinsamkeit usw. haben. Der dritte höhere Zug ist, daß wir andere als Selbstzweck zu achten in unserer psychischen Konstitution uns genötigt finden. Dieses alles aber entwickle ich mit einer gewissen empirischen Härte, mit unbefangener Anerkennung, daß aus den Diskrepanzen, Dissonanzen unseres Trieblebens Menschheit und Individuum sich sch wer herausarbei ten. Der zweite Abschnitt ist Darstellung der großen sozialen Prozesse von Arbeitsteilung, Differenzierung, Anpassung usw. in der Gesellschaft und der in ihnen gebildeten äußeren Organisationen derselben sowie ihrer Kultursysteme. Hier kommt das empirische Komplement des ersten Buchs der Geisteswissenschaften. Der dritte Abschnitt zeigt, wie unter diesen Bedingungen unter den verschiedenen, so ausgestatteten Individuis inmitten einer solchen Gesellschaft ein sittlicher Prozeß unaufhaltsam die moralische Entwicklung der Menschheit erwirkt. Sittlicher Prozeß: das ist natürlich nur ein abstrakter Ausdruck für ein neues Bündel realer Vorgänge, welche spezifisch ethisch sind. Da die Triebäußerungen von Kampflust, Haß, Ausschließung Anderer aus der eigenen Interessensphäre, Unterdrückung Anderer zum eigenen Nutzen durchweg die Zufriedenheit der Individuen und der Gesellschaft mindern, so sind sie in einer allmählichen Abnahme begriffen (wenn man absieht von einwirkenden Faktoren, welche hier Perioden herbeiführen). Da Neigungen gewisser Art dauernde Befriedigung herbeiführen, werden sie bevorzugt. Einer der wichtigsten Punkte: Entstehung des Lebensideals als einer Macht. Hier tritt schon Mitwirkung von Religion, Mythos, Kunst in diesen Vorgang. Schrittweise kann man dann so die Entstehung der leitenden sittlichen Ideen in der aktiven menschlichen Gesellschaft ableiten: das heroische oder aktive Lebensideal, die Anerkennung des Selbstzwecks und seiner Sphären in Recht und (stoischer) Philosophie usw., die Bruderliebe und das Gottesreich, die Naturrechte des Individuums (sittlicher Kern des Naturrechts) usw. Der vierte Abschnitt hat dann die Entstehung der sittlichen Systeme oder Sittenepochen zu erklären und dieselben zu beschreiben. Sie haben die Willenszüge, Normen, Ideen zu ihrem Material und sind den Epochen der dich-
Vorwort des Herausgebers
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terischen Technik zu vergleichen. Die philosophischen Moralsysteme sind nur ihr reflektierter und gespaltener usw. Ausdruck. Der fünfte Abschnitt schildert das gegenwärtige moralische Weltalter und unterscheidet zwischen den in ihm kämpfenden Moralsystemen. Der sechste zeigt, wie Personalität, Treue, Ideal, Gemeinschaft, Selbstwert der Kultursysteme, Selbstzweck jedes Individuums als Lebenserfahrungen uns eines metaphysischen Zusammenhangs versichern, den wir aber nur in den lebendigen Erfahrungen selber besitzen, nie aber in abstracto ausdrücken können. Was ich metaphysisches Bewußtsein nenne. So erweist sich unbefangene Auffassung des Empirischen als überall zurückweisend auf seinen Realsinn und Realzusammenhang, der nicht überempirisch, aber dem Wert und der Bedeutung nach ein Metaphysisches ist." Die Vorlesung liegt im Nachlaß als "System der Ethik" (C22Blatt255 bis 426, 93 bis 232) vor. Unter den Notizen zu ihr finden sich noch verschiedene Titel, wie: "Die Prinzipien der Sozialethik in ihrer geschichtlichen Entwid::lung" oder "Ethik als Erfahrungswissenschaft nach ihren Grundzügen entwickelt", auch "Praktische Philosophie". In der Vorlesung hat sich der Gesichtspunkt, der den Aufbau des Ganzen bestimmt, gegenüber dem Brief an den Grafen Yorck etwas verändert. Der Utilitarismus wird jetzt als der eigentliche Gegner gesehen. Schon 1888 schrieb Dilthey bei der Lektüre von Paulsens Ethik an den Grafen Yorck: "Paulsen jedoch zog mich an und ich begann ihn zu lesen. Lieber Freund, die naturalistische Bewegung hat etwas Unaufhaltsames. Wir erleben nun heute, allem, was wirklich geschieht, zum Trotz, daß die liberalisierende Gesellschaftslehre von Bastiat, Bentham und den Mills sich nunmehr auch der Ethik bemächtigt. Die Voraussetzung dieser Lehre ist, daß, wer für sich sorgt, auch am besten für die Wohlfahrt der anderen sorgt, oder wer diese Wohlfahrt fördert, hierdurch auch am besten sich selber nützt. Die wunderbare Zweckmäßigkeit der gesellschaftlichen Maschine ist durch eine Harmonie aller Interessen bedingt. Sie haben recht, dies als eine satte Rentiersphilosophie zu bezeichnen. Man sollte einen Auszug davon unter die Arbeiter verteilen, ob sie an solcher Sattheit der oberen Klassen sich mit sättigen und wärmen." Die Vorlesung sollte ursprünglich beginnen - es liegen zwei Anfänge dafür vor - mit den Worten: "An dieser Universität sind in den letzten Jahren drei Schriften über Ethik veröffentlicht worden. Sie vertreten alle drei das utilitaristische System. Als Regel zur Beurteilung von Handlungen, wie dasselbe von Bentham gebraucht wird, ist es zu umfangreicher Anerkennung gelangt. Ich werde zeigen, daß es in bestimmten Grenzen als eine solche Regel anwendbar ist, daß dagegen der utilitaristische Standpunkt mit der modernen Wissenschaft nicht in Übereinstimmung ist. Bestreite ich ihn, so geschieht das nicht, um ältere Theorien, etwa Kant oder Herbart oder die englischen Moralisten, heute geltend zu machen. Dies alles ist ab-
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Vorwort des Herausgebers
getan. Wir verlangen vielmehr, daß der Mensch in seiner vollen Realität aufgefaßt werde. Seinem Kern nach erscheint er so als ein Bündel von Trieben; dann sieht man solche Trieheinheit eine Gesellschaft erwirken. Wie hieraus sittliche Prozesse entstehen, das ist die Frage, also nicht rückwärts veraltete Theorien erneuern. Wenn diese Vorlesung die Utilitaristen bekämpft, so geschieht es, weil sie den Anforderungen der modernen Wissenschaft nicht entsprechen." In der ersten Fassung hatte er ausdrücklich die Namen Paulsen, Gizycki und Döring als Autoren der drei Schriften genannt. Eine wesentliche Hilfe aber war ihm das Buch von Adolf Horwicz: Die Analyse der qualitativen Gefühle (Magdeburg 1878). Vor allem der zentrale § 9 im zweiten Abschnitt ist ganz von ihm bestimmt. Eine starke Anregung kam ihm auch aus dem Buch von Georg Heinrich Schneider, "Der tierische Wille, Systematische Darstellung und Erklärung der tierischen Triebe und deren Entstehung, Entwicklung und Verbreitung im Tierreich als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre" (Leipzig 1880). Das Manuskript der Vorlesung ist zum Teil diktiert und dadurch bisweilen entstellt, zum Teil von ihm selbst geschrieben und dann oft nur mit größten Schwierigkeiten zu entziffern. Zudem sind die Blätter häufig falsch numeriert oder auch ganz durcheinandergekommen. Eine Hilfe für die Wegfindung durch die Dschungel dieser Papiere war ein Kollegheft, das Alexander Cartellieri als Student mitstenographiert hatte und das mein Freund Georg Vogt dechiffriert hat. Das Heft zeigt den Aufbau der Vorlesung nach dem Manuskript, aber auch, wie Dilthey darüber hinaus in oft zugespitzten Formulierungen frei gesprochen hat. Einzelne besonders deutliche Wendungen wurden in unserer Ausgabe in eckigen Klammern eingefügt. Der Leser wird nie vergessen dürfen, daß es sich hier um einen ersten Wurf von zum Teil notizenhaftem Charakter handelt. Im Anhang findet man zwei kurze Skizzen, die wohl, gleichzeitig wie die Vorlesung, für einen Vortrag in der Akademie der Wissensd1aften geschrieben wurden. Die eine ist "Praktische Philosophie" betitelt, die andere hat keine überschrift. Wir haben sie mit "Gemeinwohl und persönliche Sittlichkeit" bezeichnet. Herman Nohl
ERSTER ABSCHNITT
Erstes Kapitel
DAS PROBLEM DER GEGENWAR TI GEN ETHIK
§ 1 Jede wahre Philosophie muß aus ihren theoretischen Erkenntnissen Prinzipien der Lebensführung des Einzelnen und der Leitung der Gesellschaft ableiten. Wir nennen die Wissenschaft, in welcher dies geschieht, philosophische Ethik. Die aus der Naturwissenschaft abgeleiteten Folgerungen, die Verwerfung der christlichen Moral von dort aus, die so bedingte Zersetzung der bisher geltenden sittlichen Vorstellungen in der europäischen Literatur und eine soziale Bewegung, welche von diesen veränderten Ansichten aus die Auflösung der bisherigen Grundlagen der Gesellschaft und eine Neuordnung im Interesse der arbeitenden Klasse anstrebt, haben der Philosophie zur Aufgabe gemacht, Prinzipien zu entwickeln, welche nicht bloß die Lebensführung der Einzelnen leiten können, sondern auch Entscheidungen über die Hauptfragen des gesellschaftlichen Lebens herbeizuführen vermögen. Die gegenwärtige Ethik muß eine Sozialethik sein. Im Strukturzusammenhang des Seelenlebens ist das Denken gleichsam eine Einschaltung zwischen Eindruck und Reaktion: es muß in Handlung umgesetzt werden. Darauf beruht das Spiel des Kindes wie die gesamte Kultur. Denken und Erkennen stehen in dem lebendigen Wesen innerhalb eines teleologischen Strukturzusammenhanges, der von der Perzeption der Außenwelt hinüberreicht zu der gegenseitigen Anpassung zwischen der Außenwelt und sich selbst. So hat auch das philosophische Begreifen der Welt sein Ziel in dem Handeln. Eine Philosophie, welche nicht Regeln des praktischen Handeins ermöglicht, eine Spekulation über die Welt, welche nicht eine Ansicht von unserem Leben, ja Antriebe zu seiner Führung einschließt, sind gänzlich unbefriedigend. Nur die lebenskräftige, praktische Philosophie ist wahrhaft groß. Jede theoretische Wissenschaft enthält die Voraussetzungen oder Prinzipien für die Erreichung bestimmter, als wertvoll angenommener Zwecke. Die Bestimmung darüber, was im Leben Bedeutung und Wert besitzt, ist die Aufgabe der praktischen Philosophie. Ihren Gegenstand bilden
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Das Problem der gegenwärtigen Ethik
also die obersten Prinzipien, durch welche dem praktischen Handeln Wege festgestellt und Ziele gesetzt werden. In diesem Sinne haben von Plato und Aristoteles an alle großen Philosophen das letzte Ziel des philosophischen Denkens in den Bestimmungen über die Bedeutungen des Lebens und des Handelns gesichert. Politische Okonomie, Politik, Asthetik, Theologie bedürfen überall dieser Prinzipienlehre.
§ 2 Es gibt Zeiten, in welchen über die Ziele des Handeins eine herrschende Ansicht sich gebildet hat. Es gibt solche, in denen die Gesellschaft auf eingewöhnten Bahnen diese Ziele verfolgt. Solche haben an der praktischen Philosophie ein bescheidenes Interesse. Im Gegensatz hierzu entspringt aus der Unsicherheit über die Prinzipien des Handeins in unseren Tagen ein außerordentlich starkes Interesse an moralischer Wissenschaft. Vielleicht hat seit der großen Epoche, in der das Christentum aus unbeschreiblichen Gärungen der Gesellschaft hervortrat und das lösende Wort für deren Bedürfnisse aussprach, niemals wieder in der Gesellschaft eine solche Unruhe, eine solche Unsicherheit bestanden. Vielleicht sind niemals in solchem Grade die letzten Voraussetzungen menschlichen Lebens und Handelns der Zersetzung ausgesetzt gewesen. Die Bedingungen der gegenwärtigen Lage Er s t eTa t s ach e: Das Fortschreiten des naturwissenschaftlichen Geistes hat zur Auffassung des Menschen als eines animalischen Wesens gefuhrt, das durch die Motoren, die in ihm und seinem Milieu liegen, den höchsten Grad von Anpassung vermittels seiner Intelligenz und seiner moralischen Gewohnheiten erlangt hat. Psychophysische Lebenseinheit, deren Entwicklung durch Zuchtwahl, Vererbung, Anpassung, sind die Hauptprinzipien einer modernen Biologie geworden, welche das geschichtliche Reich sich unterordnet. Hieraus religiös-metaphysisches Prinzip der Diesseitigkeit des Lebensideals. Comte, Herbert Spencer, Haeckel. Analysis der geschichtlichen Lebensformen. Z w e i t eTa t s ach e: Die nächste unter den geschichtlichen Bedingungen dieser Lage liegt in dem Auftreten der sozialen Frage, in der Richtung der arbeitenden Klasse auf die Umgestaltung der Gesellschaft. Dieser Vorgang entstand aus der Verknüpfung der Veränderungen im gesellschaftlichen Leben mit den eben angegebenen Veränderungen in der Wissenschaft. Es sind jetzt hundert Jahre, daß in der Französischen Revolution die gebildeteren mittleren Klassen selbständiges Wirken und Anteil am Staat erkämpften. Heute streben alle unter dieser Klasse befindlichen Schichten der Gesellschaft nach einem größeren Anteil an den Gütern des Lebens, und die
Das Problem der gegenwärtigen Ethik
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Staatskunst stellt sich die Aufgabe, durch Umformungen der gesellschaftlichen Einrichtungen dies Ziel erreichbar zu machen. Die Gärungen, welche mil einer so tiefgreifenden Veränderung verbunden sind, haben die letzten Voraussetzungen der Gesellschaft in Frage gestellt. Die Bewegung, die von der arbeitenden Klasse ausgeht, ist zugleich Ausgangspunkt einer radikalen Theorie geworden. Sieht man von vereinzelten, wieder unterdrückten Bewegungen und Lehren ab, so hat diese Theorie von der Französischen Revolution ab sich kontinuierlich entfaltet und ausgebreitet. Babeuf, geb. 1764, hat 1796 eine Verschwörung herbeigeführt, welche auf Teilung der Güter gerichtet war. Er ist 1797 hingerichtet worden. - ClaudeHenriGrafvonSaint-Simon, geb.1760, entwarf den Plan einer "physikopolitischen Wissenschaft". Er legte sie nieder im "Systeme industrieI", 1821, popularisierte diese Schrift in seinem "Katechismus der Industriellen" 1823 und seinem "Nouveau Christianisme" 1825. Er ging von der Aufhebung des Erbrechtes der Familie aus. Alles hinterlassene Vermögen fällt an den Staat. Es gibt nur persönlichen Besitz, dieser muß zur Arbeit in gerechtem Verhältnis stehen. Er begründete eine soziale religiöse Sekte: die Saint-Simonisten. Saint-Simon geht von der naturwissenschaftlichen Weltansicht aus. Er verlangt die vollständige Durchführung der Diesseitigkeit der Bedeutung des Lebens. Das feudale mittelalterliche militärische Stadium wird abgelöst von einer Gesellschaft, die auf drei Klassen aufbaut: den Industriellen, Gelehrten und Künstlern. - Comte, geb.1798, war zunächst Mitarbeiter von Saint-Simon und besonders an seinem Katechismus mitbeteiligt. Sein Werk: die "Philosophie Positive". Diese beiden gehen von einer zentralistischen Leitung der Gesellschaft aus. Dagegen steht Fouriers Prinzip: Man überlasse die Individuen ihren Trieben, dann stellt sich eine Harmonie der Gesellschaft her. Der Sozialismus bildete sich so aus. Er bestreitet, daß Eigentum, Ehe und Familie fortan als unveränderliche Grundlagen der Gesellschaft und ihres Handelns zu betrachten seien. Er kann die letzten Konsequenzen einer sehr mächtigen naturwissenschaftlichen Richtung als seine Grundlage benutzen. Sind wirklich in Zuchtwahl, Vererbung, Animalität des Menschen die einzigen Prinzipien auch für die Veränderungen in der Gesellschaft zu erblicken, so kann auch die Regelung gesellschaftlicher Lebensformen nur auf diesen Voraussetzungen begründet werden. Aber seine moderne wissenschaftliche Form erhielt er erst durch die Verbindung dieser Lehren mit der modernen politischen Okonomie. Besonders die Bevölkerungslehre von Malthus und das Lohngesetz von Ricardo boten eine Grundlage. Auf dieser entstand die Hauptschrift des modernen Sozialismus, das "Kapital" von Marx. An diesen schloß sich Lassalle an. Die Hauptsätze dieser Theorie bilden in ganz Europa eine Einheit. Sie setzt sich also zusammen
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Das Problem der gegenwärtigen Ethik
1. aus der naturwissenschaftlichen Unterlage: Gehirnphysiologie und Biologie im Zusammenhang mit der Auffassung eines allgemeinen Mechanismus, der das Geistige als bloße Begleiterscheinung hat (Schatten des Wirklichen), 2. philosophischen Folgerungen: Das sittliche Handeln und das Denken sind Leistungen oder die andere Seite der animalischen Prozesse (Prinzip des Animalismus), 3. Prinzip der Diesseitigkeit des Lebens, 4. historische Auffassung von einem theologisch-militärischen Stadium, dem ein industriell-wissenschaftliches Stadium folgt, 5. Analysis der politischen ökonomie. In dieser Gesellschaft herrscht mit naturgesetzlicher Notwendigkeit das Kapital. Die arbeitende Bevölkerung vermehrt sich beständig in dem Maße, daß die ärmste erträgliche Art von Lebenshaltung bestehenbleibt. Nur die Veränderung der bestehenden Verhältnisse von Eigentum, Erbrecht, Ehe und Familie ermöglicht eine gerechtere Ordnung. D r i t t eTa t s ach e: Die Theologie hat allmählich eine vollständige Analysis der christlichen Geschichte und der christlichen Dogmen vollzogen. So stehen sich gegenüber die katholische Kirche als der mächtigste Verband in der gegenwärtigen europäischen Welt mit festen moralischen Prinzipien, die protestantische Orthodoxie und der religiöse Skeptizismus. Unter diesen Umständen hat die theologische Moral in der protestantischen Welt nicht mehr den allgemeinen Einfluß. Besonders ist hier vor der Annahme einer doppelten Wahrheit zu warnen. Wer sich in der Theologie auf den Boden von Hume, Spencer usw. stellt und die sogenannten Ergebnisse der modernen Wissenschaft anerkennt, der möge nicht hoffen, den Skeptizismus vindizieren zu können für die Begründungen einer transzendenten Welt. Ist das Ideale der menschlichen Natur nicht immanent, kann es nicht dem menschlichen Nachdenken allgemein vermittelt werden, dann wird bei der Wahl zwischen voller Nacht und einer zufällig vom Himmel gefallenen Glaubenswelt das Spiel der Triebe regieren, und die Entscheidung für den Glauben wird nur von den Dummen getroffen werden. Entweder also eine der Welt und der Wissenschaft immanente Idealität oder gar keine. Vi e r t eTa t s ach e : Dieser Kampf gegen die Gesellschaft, wie sie ist, setzt sich auch auf das ideale Gebiet der Kunst fort. Parallelismus zwischen Bewegung in Malerei und Poesie. Enthielt die Kunst im 18. Jahrhundert ein erlösendes Wort für die Gebildeten, sprach es im Bildungsroman, im Drama die innere Entwicklung aus, so handelt es sich jetzt in der neuesten, unaufhaltsamen Richtung um ein erlösendes Wort für das moralische Elend der bildungslosen Klassen. Der Animalismus hat in der französischen Kunst Balzac und Dumas als Vertreter, dann Tolstoi und Ibsen.
Das Problem der gegenwärtigen Ethik
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1. Satz: Die Welteinrichtung ist schlecht, Ehe, Familie, Besitz enthalten in sich Korruption. Die Poesie soll das wahrhaft darstellen. 2. Satz: Eine neue, mehr Glück gewährende Konzeption ist nötig. Daher Struktur des Dramas: naturalistische Darstellung und befreiende Person. Sonach doktrinäre Tendenz. Struktur des Romans: Vererbung usw., aber es fehlt der Genius von sittlicher Tiefe. Der Animalismus ist überall der gleiche. Tolstois Weltentsagung ist Schwester dieses männlichen Bruders und trägt dieselben Züge. Ibsens Individualismus ist für uns altbacken. So sucht die gegenwärtige europäische Gesellschaft Prinzipien, welche unter ganz veränderten Umständen die Bedeutung des Lebens aufklären und ihm sein Ziel bestimmen können. Alles Alte ist wie abgenutzt, die naturwissenschaftlichen Theorien scheinen die Grundlagen aufgelöst zu haben, w.elche bisher den Elementen der Gesellschaft ihre Geltung zuteilten. Beruft man sich auf die ewige Geltung des Christentums, so muß dieses jedenfalls von jeder Zeit neu verstanden werden. In seiner heutigen Fassung ist es unwirksam geworden. Es wirkt auf einzelne einfache Seelen, welche ihre innere Erfahrung dem Zuge der modernen Wissenschaft gegenüberstellen. Noch ist niemand da, welcher so neu und tief die christliche Wahrheit fafhc, daß sie die Zeit ernstlich zu bestimmen vermöchte. Versuche, Ansätze allein sind auch auf diesem Gebiet vorhanden. Aus dieser ganzen Lage entspringt für die Philosophie ein ganz neues Gewicht der ethischen Fragen, ein neues Bedürfnis nach ethischen Prinzipien, insbesondere aber: das Prinzip muß eine Auflösung der schwebenden sozialen Frage ermöglichen. Der Versuch wird nicht in der Abkehr von der gegenwärtigen Wissenschaft bestehen. Das Recht derselben wird aufrechterhalten, ebenso das unserer sozialen Bewegung. Wir gehen über die Lebensführung des Einzelnen hinaus. Familie, Eigentum, Erziehung werden nicht mehr von einem gegebenen Prinzip abgeleitet. So ganz neue Stellung der Ethik. Sie soll von ihren Prinzipien aus leitend wirken auf die großen Probleme der Gesellschaft.
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Dilthey, Gesammelte Schriften X
Zweites Kapitel
DIE DREI METHODEN DER AUFLöSUNG DE S ETHISCHEN PROBLEMS
§ 3 Unter einer wissenschaftlichen Methode verstehen wIr em nach Grundsätzen geregeltes Verfahren, durch Anwendung der uns von Natur zu Gebote stehenden Denkfähigkeiten auf die Data der Erfahrungen einen im Zusammenhang des Denkens oder Handclns entstehenden Zweck durch vollkommen bestimmte Begriffe und vollkommen begründete Urteile zu erreichen. Ein solcher Zweck liegt in der Regelgebung für das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft. Aus ihm entstehen die verschiedenen Methoden. Wir unterscheiden drei wissenschaftliche Methoden der Ethik. Sie sind verschieden durch die Wahl der Grundlagen, der Beweisführung und die Bevorzugung gewisser Arten der Lebensführung.
§ 4 Die metaphysische Methode leitet aus einem Begriff des Wcltzusammenhanges konstante, allgemeingültige Prinzipien der Lebenswertung und Lebensführung ab. Diese metaphysische Methode hat nicht nur in der Philosophie eine ausschließend abstrakte Existenz, sondern sie ist ein Bestandteil der Lebensansicht des Inders, des Griechen, des Römers, des mittelalterlichen Menschen. In irgendeiner Verkürzung bedient sich jeder von uns derselben. 1. Die Metaphysik der moralischen Weltvernunft und das Prinzip der sittlichen Aktion in einem Gottesreiche. Gott ist gut; er hat den Gestalten der Welt aus der Fülle seiner Natur ihre Werte mitgeteilt, alles menschliche Handeln vollendet gleichsam das Werk Gottes in der Welt. Die religiöse Metaphysik der Parsen, Griechen, Römer und Germanen hat aus dem aktiven ethischen Bewußtsein dieser Völker, ihrem Gefühl von dem unendlichen Wert des Lebens, der im täglichen Fortschreiten besteht, ihre Bilder und Symbole vom Weltzusammenhang formiert. Die Weisheit dieses Lebensgefühls kann alle nachfolgende Nachdenklichkeit und Wissenschaft nur interpretieren, ergänzen, nicht überschrei ten.
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Die metaphysische Methode
Der theoretische, wissenschaftliche Ausdruck dieser großen Stellung der aktiven Völker zum Leben liegt in den Systemen der Pythagoräer, Platos, Aristoteles', Ciceros, der mittelalterlichen Theologie-Metaphysik, der Dogmatik der Reformatoren und der protestantischen Sekten, endlich des Deismus und Rationalismus. Da diese naturwüchsige Metaphysik nur mit den aktiven Völkern selber aussterben kann, wird nach Auflösung aller metaphysischen Systeme sie selber als tin metaphysisches Bewußtsein unzerstörbar fortdauern. 2. Die Metaphysik der beschaulichen Vernunft und das Prinzip der Weltverneinung. Dieser Metaphysik liegt als nächstverwandt gegenüber und verbindet sich mit ihr in den meisten Systemen diejenige, welche die andere Seite des indogermanischen Lebensgefühls enthält: Kontemplation, welche das Unveränderliche ergreift, die Unruhe des Lebenswechsels verneint. Sie tritt mit naturwüchsigem Glauben auf in der indischen Religion und Spekulation. Sie ist dann der herrschende Bestandteil der christlichen Dogmatik, insbesondere aber der christlichen Mystik. Denkmale: Vedanta-Philosophie, Plotin, die untergeschobene Schrift des Dionysios Areopagita, Meister Ekkehard. Gnosis des Herzens, Gottschauen. Logos = Erlösung durch Erkenntnis. Als wissenschaftliches System Schopenhauer, aber im modernen Leben im wissenschaftlichen Denken und in der Kunst allein Friede, nicht in religiöser Mystik. 3. Die Metaphysik der bildenden Kräfte und das Prinzip der Selbsterhaltung. Nur eine Abflachung dieses tiefen aktiven Lebensgefühls ist die Metaphysik der natura naturans und der Selbsterhaltung. Diese setzt die ethische Vernunft statt in Gott in natürliche Bildungskräfte; daher muß sie auch dem unendlichen Werte eines fortschreitenden Handelns im Dienste der in Gott begründeten Werte das Wirken der Lebenstriebe im Individuum, die Selbsterhaltung, substituieren. Vollkommenheit ist ihr Kraft. In dem Lebensgefühl der Kelten, der Slawen liegt vielleicht .eine naturwüchsige Metaphysik dieser mehr animalen Art angelegt. In der Wissenschaft haben Epikuräer, Hobbes, die Naturalisten seit dem 18. Jahrhundert diesen Standpunkt vertreten. 4. Die Metaphysik des Materialismus und das Prinzip der Animalicät. Dieses metaphysische System ist durchweg im Gegensatz gegen die höhere Lebensansicht entstanden. Es ist getragen von der gr0ßen naturwissenschaftlichen Bewegung. Kritik 1. Die Prinzipien, von denen die Metaphysik au.>geht, können nur von der Selbsterfahrung aus begriffen werden und !r Begründung, entsprechend dem politischen Leben des 18. Jahrhunderts. Wohl auch als Lustrechnung dunkel, aber Wert als Durchschnittsregel. Mangelhaft, sobald Motiv. Diese Frage behandelte erst Mi 11 in seiner Schrift über das Nützlichkeitsprinzip gründlich. Für die qualitative Wertbestimmung hat er nur einen öffentlichen Maßstab. Bindende Kraft entsteht ihm daraus, daß die Rechnung von dem Streben nach individuellem Wohl aus unbewußten und dunklen Gefühlen stattfindet. Dies ist aber nur denkbar, wenn sie nicht im Individuum, sondern in der sozialen Evolution stattfindet. So drittes notwendiges Glied Her b e r t S P e n cer. Schon vor Darwin hatte er Grundlinien der Entwicklungslehre, aber sein spätes Werk: "Tatsachen der Ethik" (übs. von Vetter 1849) stützt sich ganz auf die Lehren von Anpassung und Vererbung. Das Leben der Menschen muß sich beständig den Bedingungen anpassen. Sonach ist sittlich jedes Prinzip, welches die Anpassung herbeiführt und sonach das normale Leben bewirkt. Daraus Relativismus der sittlichen Prinzipien. Auflösung dieses Standpunktes: Sittlich = gesund. Auch das Tier sittlich, und zwar sind die Handlungen, durch welche die Anpassung stattfindet, keine Selbstwerte, sondern nur Mittel, Arbeitsleistungen für den Lusteffekt. Ist dieses alles ethisch unzureichend, so ist die Art und Weise, in der es sich vollzieht, physiologisch unvorstellbar. Wir können begreifen, daß sich in der biologischen Evolution neue Nervenverbindungell und so die Anlagen zu verwickelteren Reflexvorgängen ausbilden. Aber eine erbliche Formierung von Nervenzellen, wodurch sie Träger des ganzen Systems von Vorstellungen, der inneren moralischen Anlagen würden, ist physiologisch angesehen Nonsens. Dazu kommt, daß die ganze Vererbungslehre in dieser Form durch Weismann in Frage gestellt ist.
§ 7 Der Widerstreit der Methoden führt zum Bedürfnis einer erkenntnistheoretischen und kritischen Begründung der Ethik. 1. Keine dieser drei Methoden hat vermocht, die Tatsachen der sittlichen Welt zu deuten und allgemeingiltige Prinzipien des Handeins abzuleiten. Der Zusammenhang unserer Vorstellungen steht mit der Gestaltung unserer Gefühle und unseres Trieblebens, diese mit unseren Handlungen in fester Beziehung. Aber während in der metaphysischen Theorie die ethi-
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schen Beweggründe aus der theoretischen Betrad1tung entspringen sollen, geht in der naturwüchsigen Metaphysik der europäischen Völker von den aktiven ethischen Beweggründen umgekehrt die Weltansd1auung aus. Dem entspricht der Bau der Gedanken bei Plato und Kant. 2. Der Zirkel in der metaphysischen Methode. Nach Strukturzusammenhang entstehen wirkliche Prinzipien aus dem Zusammenfassen der Einzelerkenntnisse unter eine Volition. Es gibt keine Theorie, die das Leben bestimmen könnte und rein theoretischen Ursprung hätte. Die überschreitung in der metaphysischen Generalisation ist nur durch die Volition bedingt. Daß im Weltzusammenh:3,ng ein Höheres wirkt oder sich aufarbeitet, das wissen wir nur, indem wir vom Sittlichen zurückschließen. Das Absolute ist uns, wie Schleiermacher richtig sah, nur durch einen solchen Schluß gegeben. 3. Die metaphysische Methode akkommodiert sich also an alle Standpunkte. Ja, es besteht zwischen den in der Mehrzahl der Menschheit vorhandenen weltanschaulichen Systemen und der Methode der inneren Erfahrung kein Widerspruch, weil diese innere Erfahrung sie bestimmt hat. In der inneren Erfahrung ist unter allen Umständen der Ausgangspunkt. Allein der Boden der inneren Erfahrung ist fest und sicher. Auf diesem allein kann das metaphysische Bewußtsein sich begründen, und daher ist nur eine kritische Behandlung der Außenwelt imstande, zwischen der inneren Erfahrung, dem Bewußtsein von der Gedankenmäßigkeit der Welt und den Erkenntnissen der Naturwissenschaft ein Einverständnis herzustellen. 4. Zwischen der evolutionistischen Lehre und den Tatsachen der inneren Erfahrung kann ebenfalls nur vom kritischen Bewußtsein aus ein Einverständnis hergestellt werden. Die evolutionistische Lehre, welche den mechanistischen Zusammenhang der Natur, den begleitenden Charakter der psychischen Vorgänge und die Ableitung der Evolution aus dem gedankenlosen Mechanismus des Milieus, also schließlich dem Zufall, annimmt, muß die sittliche Entwicklung zu einer für den Weltlauf in seiner Massivität und Notwendigkeit irrelevanten Begleiterscheinung herabdrücken. Diese sittlichen Prozesse werden zu einer ohnmächtigen Not und Mühsal des Bewußtseins, welche am Weltlauf nichts ändert. Dieser wäre ohne diese korrelaten Prozesse derselbe. 5. So besteht ein Kampf zwischen den niederen und den höheren Antrieben in der Menschheit, zwischen der sinnlich verstandesmäßigen Weltansicht und der unverkürzten inneren Erfahrung in der Geschichte. Dieser ist die letzte Ursache des unauflöslichen Streites der Systeme der Metaphysik in der Menschheit. Nur durch die Selbstbesinnung kann er geschlichtet werden. Ethik ist nur auf der Basis der Selbstbesinnung möglich. Nun macht sich aber als eine Art von ethischer Kompromißphilosophie der Utilitarismus geltend. Er beherrscht die europäische Ethik vor allem
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darum in der Gegenwart, weil er praktisch und theoretisch den Kompromiß zwischen den einander bekämpfenden überzeugungsweiscn darzubictcn scheint. Nachdem er in England langc gehcrrscht und jetzt dort in Auflösung begriffen ist, ist er in Deutschland zu einer Art von Bourgeois-Philosophie geworden. Daß nur von der Selbstbesinnung und dem kritischen Bewußtsein aus, vermittels der Aufhebung des Sinnenscheins und der bloßen Verstandesansicht, die Ethik aufrechterhalten werden kann: Dieser Satz muß sonach zunächst durch eine Kritik des Utilitarismus erhärtet werden. Dieser steht an der Pforte der kritischen Begründung der Ethik.
Drittes Kapitel
DER UTILITARISMUS ALS KOMPROMISS ZWISCHEN DER SINNLICHEN VERSTANDESANSICHT UND DEM SITTLICHEN BEWUSSTSEIN
§ 8 Begriff und Stellung des Utilitarismus Indem ich nun die Anwendung dieser Methoden in den ethischen Arbeiten der Gegenwart betrachte, treten nur zwei Systeme als der wissenschaftlichen Kritik wirklich wert hervor: Das eine abgeschlossen, in klassischen Darstellungen vorliegend, übersehbar in seinen Wirkungen: der Utilitarismus, das andere in den Schriften großer Historiker, in der geistigen Richtung unserer großen Staatsmänner vorhanden, wissenschaftlich noch nicht durchgebildet: das psychologisch-historische Prinzip, das der Kulturarbeit. Der Utilitarismus hat zunächst in Europa die Erbschaft des Systems der natürlichen Moral und Religion sowie des natürlichen Rechtes angetreten. Dieses ältere System des 18. Jahrhunderts und der Aufklärung hatte in Leibniz, Locke, Rousseau, Kant, Lessing seine klassischen Repräsentanten. Gleichviel, welche deren Unterschiede waren, sie stimmten in der Annahme überein: den Systemen der menschlichen Kultur wohnt eine Vernunft ein, diese läßt sich in einem rationalen Zusammenhang entwickeln, derselbe enthält die Prinzipien des praktischen Handelns. Dieses System wirkte zerstörend auf die feudale, absolutistische katholische Gesellschaftsordnung von Frankreich; es erwies sich in der französischen Revolution wohl als befähigt, diese Ordnung zu zertrümmern, es machte aber bei dem Versuch einer neuen Regelung bankrott. Dagegen hat dasselbe System in Deutschland, zumal in der Regierung Friedrichs des Großen eine wirkliche Reform herbeigeführt. In dem dritten und vierten Dezennium unseres Jahrhunderts ist in England dieses utilitaristische System aufgetreten.
§ 9 Jeremias Bentham 1. Das Prinzip
Der Begründer d.er Richtung, Bentham, entwickelt das Prinzip des allgemeinen Wohles. Allen Akten der Gesetzgebung und allen Gesetzen der Sittlichkeit soll nach die'sem Prinzip die Richtung des Willens auf das Gemeinwohl zugrunde liegen, und zwar bestimmt Bentham dies Prinzip näher als das der größtmöglichen Glückseligkeit der größten Anzahl der Menschen. Und er fordert, daß bei der Feststellung der Maßregeln des Handeins keine andere Vorstellung neben dieser einen Einfluß ausüben dürfe. Mit diesem Prinzip leuchtet er nun in das verwickelte, unübersehbare Gebäude des bestehenden Staats- und Rechtslebens. Unerbittlich ist er im Nachweis der Unregelmäßigkeit, Unzweckmäßigkeit dieses Gebäudes, verglichen mit der modernen Idee von Komfort. Er fragt nicht, welche Interessen, Motive und Einflüsse den vorhandenen Bau bestimmt haben. Er fragt nicht, welche Funktionen da geübt worden sind und geübt werden. Er beurteilt den alten Bau nach seinem modernen Prinzip und er findet, daß das wenigste daran des Fortbestandes wert ist. So ist die Kritik Benthams revolutionär. Sie urteilt von außen, aus einem abstrakten Prinzip über das in geschichtlicher Funktion Formierte. Gibt man ihre Berechtigung zu, so ist Bentham im Recht mit jeder Prozedur von Zerstörung. Er ist nur im Unrecht, wenn er bei den Interessen der Bourgeoisie anhält, denn die Konsequenz dieses Standpunktes ist der Sozialismus. 2. Das Mittel, dieses Prinzips auf die Gesetzgebung a 11 wen d bar zum ach e n. a) Die Aufgabe und ihre Bedeutung. Bentham unternimmt, eine Methode zu finden, dieses Prinzip für die konkrete Lösung gesetzgeberischer und sozialethischer Aufgaben brauchbar zu machen. Durch diese große Intention ist er als der Begründer der modernen, nämlich der Sozial-Ethik zu bezeichnen, denn daß die Mittelglieder zwischen den Prinzipien und den praktischen Aufgaben fehlten, hatte jedes frühere System nur auf die Gesinnung der Menschen, nicht aber auf die Praxis des staatlichen Handelns wirksam gemacht. b) Die Art ihrer Auflösung. Diese Aufgabe fordert, daß die Werte der Lust- und Unlustgefühle im ganzen überschaubar, alsdann, daß sie für die Einzelaufgabe bestimmbar seien. Bentham ist mit einem Talent, das Unwägbare, Unfaßbare zu rubrizieren und zu messen, ausgestattet, das an Herrn Pick wiek erinnert. Er sondert als die für die Messung bestimmenden Momente: 1. Intensität, 2. Dauer, 3. Gewißheit, 4. Nähe.
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Er fügt aus der Verbindung der Gefühle untereinander die Rücksicht darauf hinzu, 5) ob diese Gefühle andere, etwa entgegengesetzter Art erwirken werden. Er hebt als weiteres Moment der Schätzung 6) die Ausbreitung von Gütern oder Übeln auf eine bestimmte Zahl von Menschen hervor. Am meisten nützlich für die Durchführung des utilitaristischen Systems ist Benthams Unterscheidung mehrerer Ordnungen von Übeln. Der Schaden, der einer Person direkt aus einer Handlung erwächst, ist als Übel erster Ordnung zu bezeichnen. So ist der Verlust des Eigentums oder des Lebens durch den Mord ein Übel erster Ordnung. Hiervon unterscheidet er die Übel, welche sich mittelbar oder im Laufe der Zeit an eine schädliche Handlung knüpfen. So entspringt aus jedem einzelnen Diebstahl eine Verstärkung des Gefühls von der Gefährdung des Eigentums und im Laufe der Zeit eine Lösung des Unternehmungsgeistes, eine Minderung des Rechtssinnes. Aus dieser Betrachtung ergibt sich, daß nicht nur solche Handlungen verwerflich sind, welche Übel erster Ordnung hervorbringen, sondern ebenso, ja nach dem obersten Prinzip im höheren Grade solche, welche gar keine schädlichen oder selbst nützlichen Folgen erster Ordnung hervorbringen, zugleich aber ihre schädlichen Folgen zweiter oder dritter Ordnung auf den größeren Zusammenhang der Gemeinschaft erstrecken. Bentham berücksichtigt auch die Art, wie Temperament, Gesundheit, Bildung, Beruf, die Macht von Gütern oder Übeln das Gemüt beeinflussen. c) Das Ungenügende der Auflösung. Kritik. Es ist deutlich, daß in Wirklichkeit das Handeln des Staates, die Überlegungen des Ges~tzgebers von Berechnungen solcher Art beständig beeinflußt werden . .Tedes Gesetz, das eingebracht wird bei irgendeiner Körperschaft in Europa, hat sich durch den Einfluß zu rechtfertigen, welchen es auf die Wohlfahrt der Bevölkerung ausübt. Aber die Berechnung des Gesetzgebers gelangt nicht durch eine Abmessung von Gefühlen zu ihrem Ergebnis. Sie geht von der Funktion einer Maßregel für den Haushalt des gesellschaftlichen Lebens aus; diese ist an dem Auftreten von Bedürfnissen erkennbar. Sie wird in Rücksicht auf ihren Wert zu dem Verhältnis der Funktionen im gesellschaftlichen Körper und äußerlich an der Stärke des hervortretenden Bedürfnisses gemessen. Es kann über eine Militärvorlage nicht durch eine Rechnung über die Schmerzgefühle, die sie verhütet, entschieden werden. Derselbe Satz besagt innerhalb des wissenschaftlichen Räsonnements: Die Aufgabe Benthams ist unlösbar, es fehlt der Maßstab der Größenschätzung, es fehlt die Möglichkeit, die Gefühlssummen zu addieren, und schließlich ist die Gleichgiltigkeit des Bewußtseins gegen qualitative Unterschiede, welche Bentham annimmt, eine bloße Hypothese, die mit dem Lebensgefühl der Menschen nicht im Einklang steht. Denn schon hier: Inhalte werden erstrebt und genossen. Ob ich Austern esse oder einen wissenschaftlichen Satz erkenne, ist nach ihm im Zusammenhang der Befriedigung, die ich im
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Leben suche, dasselbe. Der Grundmangel seiner Theorie ist ein Atomismus und eine Loslösung von wirklichen Trieben und Bedürfnissen. So führt schon diese Betrachtung darauf, daß Benthams Auffassung durch eine sozialgeschichtliche, welche von den Trieben im Menschen und den Funktionen der Gesellschaft ausgeht, ersetzt werden muK 3. Die S tab i 1 i sie run g die ses Pr i n z i p s dur c h Fes ts tell u n gei n e r San k ti 0 n. Bentham muß wieder wie der große Meister Herr Pickwick sammeln und rubrizieren. Die Sanktion ist vierfach: 1) physisch, d. h. Lust und Unlust folgen nach dem Lauf der Natur = law of nature. 2) Die moralische Sanktion, d. h. die durch die Handlungsweise erregten Gefühle anderer Personen = Lockes Gesetz der öffentlichen Meinung. 3) Die politische Sanktion, d. h. die durch Gesetz und Obrigkeit mit bestimmten Handlungen verknüpften Folgen = Belohnungen und Strafen. Schon Hobbes und Locke haben den Einfluß dieser Kraft auch auf die Bildung der Sitten hervorgehoben. 4) Die religiöse Sanktion, d. h. die nach dem religiösen Glauben an eine Handlung geknüpften Folgen. Sie werden von Bentham einfach teilnahmslos registriert. Das Grundgesetz der Sanktion liegt nun in der Verstärkung der Motivationskraft durch die Verbindung der verschiedenen Sanktionen; die unveränderliche Basis ist die natürliche. Indem diese Folgen zusammenwirken, einander kreuzen bei einer Handlung, entsteht ein festes Verhältnis zwischen der Handlung und der Vorstellung, sie sei gut oder schlecht. Die Folgen im Gewissen werden nicht erwähnt. Das ist kein Zufall. Die Strafe des Gewissens, die Reue in uns selbst ist eine bloße Folge der äußerlichen Beziehung. Die Hauptfrage der Ethik ist: ist das Gewissen ein bloßer Reflex der äußeren Folgen der Handlungen?
§ 10 John Stuart Mill 1. Kampf gegen die idealistische Fraktion der Schule der inneren Erfahrung Die Untersuchung der prinzipiellen Grundlage des Sittlichen erinnert bei Mill in ihrem Ausgangspunkt vollständig an Humes Untersuchungen über die Prinzipien der Moral, das nach Inhalt wie Form entschieden zuhöchst stehende Werk der ethischen Literatur Englands. Moralische Unterscheidungen als solche sind eine unbestrittene Tatsache des menschlichen Lebens. Wir nennen gewisse Handlungen und Neigungen recht, andere unrecht; das heißt soviel als sie billigen oder mißbilligen. Wir haben angenehme Gefühle bei Betrachtungen von Handlungen und
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Neigungen der ersten Art, entgegengesetzte bei solchen der zweiten Art, und jedermann ist sich bewußt, daß diese Gefühle mit unseren übrigen Lust- und Schmerzgefühlen nicht ganz identisch sind. Diese von jedermann gekannten und anerkannten Phänomene werden nun durch zwei entgegengesetzte Theorien zu erklären versucht: Die idealistische und die empirische oder positivistische. Ohne Frage übertreibt Mill den Gegensatz beider Richtungen, welche nur in einzelnen Momenten der Entwicklung sich mit der Schroffheit und Ausschließlichkeit gegenüberstanden, wie Mill es schildert. Aber es bezeichnet gewiß einen immer wiederkehrenden Charakterzug der idealistischen Ethik, daß sie die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht als eine letzte und nicht weiter abzuleitende Tatsache, als Werk eines ursprünglichen Vermögens und die sie begleitenden Gefühle als ebenso spezifisch wie irgend welche Gattungen von Sinnesempfindungen bezeichnet. Während die empirische Schule in den Außerungen der Sittlichkeit vielmehr Produkte einer hochgesteigerten psychischen Entwicklung, zusammengesetzte Phänomene erblickt, allf welche die nämlichen Grundsätze der Analyse anzuwenden sind, wie auf alle übrigen zusammengesetzten Ideen und Gefühle, und vor allem den von der intuitiven Schule geleugneten Zusammenhang dieser Phänomene mit der menschlichen Glückseligkeit betont. In der Nachdrücklichkeit und Entschiedenheit, mit welcher Mill sich gegen die Annahmen der intuitiven Schule wendet, läßt sich wohl am deutlichsten erkennen, wie wenig die Anerkennung der intellektuellen Stärke eines Plato, eines Coleridge, eines Carlyle ihn über die Mängel dieser Theorien zu täuschen vermochte. Soweit die intuitionistische Hypothese mit ihren Voraussetzungen wirklich Ernst macht, ist sie für Mill nicht viel mehr als ein gefügiges Werkzeug, um Vorurteile zu heiligen und die Prüfung jedes eingewurzelten Glaubens und jedes Gefühles, dessen Ursprung außer dem Bereich der Erinnerung liegt, abzuweisen. Vieles, was Mill in diesem Zusammenhang ausspricht, klingt so, als ob es unmittelbar gegen Carlyle gerichtet wäre, denjenigen von allen Anhängern der intuitiven Schule, welcher den meisten geistigen Einfluß auf EllgIand geübt hat. Niemals ist ja bei Fragen, welche die tiefsten Probleme der praktischen Lebensgestaltung betreffen, in so ungestümer und leidenschaftlicher Weise über alle wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden in Ethik und Sozialphilosophie hinweg an das unmittelbare Gefühl und die Einbildungskraft_appelliert worden als von Carlyle. Mehr Dichter als Denker, hat dieser geistvolle und begeisterte Mann ohne Frage eine große Wirkung auf die Gemüter hervorgebracht; aber daß man auf diesem Wege zwar Affekte erregen, aber der wirklichen Förderung so schwieriger Fragen nicht näher rücken kann, hat Mill völlig klar gesehen. 75 I 5
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Der Gegensatz zwischen einer Ethik, welche an die äußeren Kriterien der Lust- und Unlustfolgen appelliert, und jener, welche sich nur auf innere überzeugung gründen will, ist darum gleichbedeutend mit dem Gegensatz von Fortschritt und Stillstand in der Ethik, mit dem Gegensatz fortgesetzter vernünftiger Prüfung oder Vergötterung von überlieferten Gewohnheiten. Soweit die intuitive Theorie wirklich Ernst macht. Aber hier zeigt sich nun bei näherem Zusehen, daß alles, was sie praktisch Brauchbares geleistet hat, (d. h. alle Versuche der Ableitung und Begründung ihrer Normen) auf Kosten der Konsequenz erreicht worden ist, indem von äußeren Kriterien, d. h. von der Rücksicht auf wahrscheinliche Folgen auch in den Theorien, welche dies prinzipiell verwerfen, ein höchst ausgedehnter, wenn schon verdeckter Gebrauch gemacht wird. Daß insbesondere Kants Versuch, die Maxime seines allgemein gesetzgebenden Willens aus reiner Vernunft abzuleiten, in einer ans Komische streifenden Weise der verlästerten Rücksichtnahme auf die möglichen praktischen Folgen eines bestimmten Tuns verfällt, hat Mill wie vor ihm in Deutschland Schopenhauer, Beneke, Feuerbach nachdrücklich hervorgehoben. Aber auch in der Form, welche Fichte der Ethik des kategorischen Imperativs gegeben, entgeht dieselbe dieser Schwierigkeit nur dadurch, daß sie die ganze konkrete Gestaltung der Ethik als notwendiges Mittel zur Durchführung eines obersten Zweckes, der reinen Autonomie des Vernunftswesens, darstellt und in dies Prinzip, welches nun freilich mit Einzelzwecken nichts mehr zu tun hat, die ganze Fülle des vollkommensten Lebensgehaltes hineinzaubert. So kann man gegen jede Glückseligkeitslehre protestieren und besitzt doch in dem mit dem Sittlichen identifizierten Begriff der Seligkeit, geheimnisvoll verschleiert, dieselbe Kraft, welche der Eudämonismus als gereinigte und erweiterte Wertgefühle offen zum Prinzip des Sittlichen erhebt.
II. Das GI ü c k seI i g k e i t s p r i n z i p bei Mi 11 1. Das Prinzip
Die Fassung, welche Mill diesem Prinzip gibt, ist folgende: der letzte Endzweck alles menschlichen Handelns, das höchste Gut .also im Sinne der antiken Philosophie, ist für den Einzelnen wie für die Gattung ein Dasein, möglichst frei von Schmerz und möglichst reich an Freude, beides im Sinne der Quantität ebensowohl als der Qualität verstanden, wobei natürlich das Urteil derjenigen, deren Erfahrung die reichste und deren Bewußtsein das ge reif teste ist, entscheidet. Dieser letzte Zweck alles Handelns ist notwendig zugleich Kriterium der Sittlichkeit.
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2. Der Maßstab Dieser Maßstab ist kein willkürlicher, sondern der in der Natur und Erfahrung gegebene. Über vergleichsweisen Wert hat nur derjenige ein Urteil, der vergleichen kann, weil er Verschiedenes kennt. Von der Betrachtung des Tieres, von dem roh-sinnlichen Menschen, der andere Genüsse nie kennengelernt hat, wird in dieser Frage niemand Aufklärung wollen. Hält man aber Umfrage im Kreise der Wissenden, Denkenden, so tritt eine Tatsache als unzweifelhaft hervor, deren entschiedene Betonung bei Mill um so interessanter ist, als ihre Leugnung dem modernen deutschen Pessimismus zu manchen seiner verblüffendsten Sophismen verholfen hat: nämlich das Bestehen von qualitativen Unterschieden in den Lust- und Unlustgefühlen. Kein Mensch, der rein geistige und soziale Gefühle einmal überhaupt in einem gewissen Grade zu erzeugen fähig geworden ist, wird, noch ganz abgesehen von sittlichen Erwägungen, die Fähigkeit solchen Fühlens gegen die größte Menge und ununterbrochene Dauer rein sinnlicher Genüsse eintauschen wollen - ein Satz, der umgekehrt durch die oft zu machende Beobachtung bestätigt wird, daß Unzufriedenheit mit dem Leben bei relativ günstiger äußerer Lage in der Regel eine Folge geistiger Enge und egoistischEr Selbstbeschränkung ist. Gewiß, je untergeordneter die geistige Organisation eines Wesens ist, um so leichter wird dasselbe zu befriedigen sein, und je höher die geistige Entwicklung, je mannigfaltiger die Bedürfnisse, um so schwerer wird es für ein Wesen, das Glück zu finden. Aber die Tatsache jener natürlichen Wertunterschiede zwischen verschiedenen Formen des Bewußtseins, unabhängig von aller Ungunst des Weltlaufes, bleibt doch bestehen: siOe ist die Grundlage alles dessen, was man "menschliche Würde" nennt. 3. Diese Ethik ist auch für den Pessimisten gültig
Selbst der Pessimist, ja gerade er, muß diese Auffassung gelten lassen, denn je geringer er von dem tatsächlichen Wert des Lebens denkt, desto entschiedener mißt er doch eben diesen Unwert an seinem Ideal von Glückseligkeit ab. Wenn er auch das Glück selbst für unerreichbar hält, so muß er doch allen Versuchen, das vorhandene Leid in der Welt zu lindern und zu verringern, seinen Beifall spenden. Und wenn nicht mehr, so kann die utilitaristische Ethik wenigstens diesem negativen Eudämonismus Vorschub leisten. Aber von pessimistischer Auffassung des Lebens ist Mill weit entfernt. Mit dem Auge des Pessimisten, d. h. mit rückhaltloser Klarheit, blickt er zwar auf alle Gebrechen und Schäden des Lebens, wie es ist, aber dieser trostlose Zustand des heutigen Daseins kann angesichts der mangelhaften Organisation der menschlichen Gesellschaft, der unzulänglichen Ausbildung unseres Wissens wie unseres Wollens nicht als unaufhebbar und nicht als das letzte Wort der Entwicklung betrachtet werden.
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4. Moralische Normen Man kann also im Sinne Mills Sittlichkeit definieren als den Inbegriff der Normen menschlichen Verhaltens, durch deren Erfüllung ein solcher Zustand der Glückseligkeit in möglichst weitem Umfang herbeigeführt werden würde. Es ist selbstverständlich, daß unter jenem Zustande der Glückseligkeit, welcher als Ziel sittlichen Verhaltens erscheint, nur diejenigen Bestandteile der Glückseligkeit begriffen werden können, welche vom menschlichen Willen und dem geordneten Einklang menschlicher Bestrebungen abhängig sind, keineswegs aber dasjenige, was von allgemeinen Naturverhältnissen und dem unberechenbaren Spiel des Zufalls bedingt ist. Sodann ist zu bemerken, daß die Millsche Formel in ihrer oben angeführten Fassung einen etwas zu absoluten Ausdruck hat, der wohl auf unser heutiges ethisches Ideal paßt, aber nicht ebensogut zur historischen Anwendung sich eignet. Dies ist unschwer zu bewirken, wenn man das Sittliche definiert als die Summe der Normen, durch welche, nach dem Urteil der geistig hervorragendsten Männer jeder Zeit und jedes Volkes, die größte Summe von Glückseligkeit im Kreise menschlicher Gemeinschaft hervorgebracht werden würde, welcher letztere Begriff der Gemeinschaft sich allmählich aus beschränkterer Anwendung auf den Kreis der Stammes-, Volks- oder Glaubensgenossen zu immer universellerer Fassung erhebt.
111. Widerlegung der Einwände gegen den Utilitarismus Aber auch so ist das aufgestellte Prinzip einer Reihe von Einwendungen ausgesetzt. Lust und Unlust, oder in erweitertem Sinne Glück und Unseligkeit sind die alleinigen Triebfedern alles Handeins. Man hält diesem Satze gern den andern entgegen, daß sittliche Güte doch "um ihrer selbst willen" erstrebt werde. Was heißt dies: "Um ihrer selbst willen"? Offenbar nichts anderes, als daß das Sittliche ein Zweck ist, bei dem wir stehen bleiben und uns beruhigen, indem das Bewußtsein des Sittlichen uns beglückt, die Abwesenheit desselben uns schmerzt. Wir sehen dabei nur ab von anderen Zwecken und Annehmlichkeiten, die wir mittels des Sittlichen etwa zu erreichen gedenken, aber keineswegs von aller Beziehung auf Lust und Unlust überhaupt. Aber besteht denn kein Gegensatz zwischen dem Sittlichen und den Lustgefühlen? In gewissen Fällen unzweifelhaft, man darf ihn nur nicht übertreiben. In jeder Zeit und von jedem Individuum in bestimmten Perioden seiner Entwicklung werden gewisse Bestandteile dessen, was als sittlich gilt, nicht um ihrer selbst willen, d. h. wegen der unmittelbar damit
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verknüpften Lust gesucht, sondern als Mittel zu dem Zwecke, andere Unlust zu vermeiden, andere Lust zu erringen. Allmählich aber wird, kraft einer im menschlichen Leben unendlich häufigen Umsetzung, das, was früher nur als Mittel wertvoll gewesen war, jetzt Selbstzweck, d. h. Gegenstand von Lustund Unlustgefühlen. Ganz in derselben Weise, wie es Fichte, Hegel und Feuerbach getan hatten, und jede tiefergreifende ethische Theorie es muß, macht darum auch Mill auf die teilweise Gegensätzlichkeit zwischen Neigungen und Trieben einerseits, dem Willen, d. h. dem durch entwickelte Reproduktion und intellektuelle Tätigkeit geklärten und gereinigten Streben andererseits aufmerksam. Wenn aber idealistische Theorien in dieser Entwicklung des Willens mehr das aktive Moment der Vernunfttätigkeit in den Vordergrund stellen, so betont Mill vielmehr die Macht der Gewohnheit, welche den ursprünglich ganz von Neigungen und Trieben abhängigen Willen schließlich mit einer gewissen Selbständigkeit gegenübersteht, so daß er, kraft einer festgewordenen Assoziation, Dinge erstrebt, die ursprünglich keine unmittelbare Neigung in ihm erweckten, und gewisse Zwecke nicht darum gewollt werden, weil sie begehrt würden, sondern darum begehrenswert erscheinen, weil wir sie wollen. Ein Vorgang, der in der sittlichen Entwicklung auch der selbständigsten Naturen nicht fehlen kann, bei der großen Mehrzahl der Menschen aber geradezu die Regel bildet. Der Anfang sittlicher Bildung ist nicht anders möglich, als daß man Recht tun mit Lust, Unrecht tun mit Schmerz assoziiert und den Zögling unmittelbar mit beiden Lustund Schmerzgefühle erfahren läßt. Nur so erlangt der Wille allmählich die Fertigkeit, Dinge zu wollen und mit ihnen Lust zu verknüpfen, die ihm ursprünglich ganz fern lagen und die für ihn nicht unmittelbar, sondern nur kraft allgemeiner Schätzung, als Voraussetzungen der universellen Glückseligkeit, Wert haben. Das Sittliche wird daher nur begreiflich als ein Entwicklungsprodukt: das ist die Einsicht, welche aus diesen Erwägungen resultiert, und mit welcher Mill einerseits eine fühlbare Lücke in der älteren Humeschen Auffassung auf das glücklichste ergänzt, andererseits dem späteren Evolutionismus mit Hilfe seiner Assoziationspsychologie mächtig vorgearbeitet hat. Schon Mill hat in dieser Entwicklung die bei den Richtungen erkannt, welche man später als die autogenetische und die psychogenetische unterschieden hat: Es entwickelt sich im Laufe der Generationen und durch gehäufte Erfahrungen der Menschheit jenes Kriterium der sittlichen Beurteilung in seinen einzelnen Forderungen, und es entwickelt sich die Anpassung der Individuen an die damit gegebenen Normen. Die Entstehung jenes Kriteriums hat so wenig Unbegreifliches, daß man sich vielmehr nur wundern muß, wie ein so klar zutage liegender Vorgang in so viel Dunkel eingehüllt werden konnte. Jeder Mensch weiß im ganzen recht wohl, wie
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er den anderen haben möchte, was ihm an diesem gefällt oder von diesem wehe tut; und es müßte wahrlich sonderbar zugehen, wenn daraus nicht für jede Zeit und jedes Volk ein Inbegriff dessen, was jeder von dem anderen begehrt, ein Maßstab der Beurteilung nach dem "allgemeinen Wohl", entstände. Aber freilich, diese Beurteilung des Individuums von seiten anderer nach ihren Maßstäben und Erwartungen ist, wie dies in völlig analoger Weise auch Feuerbach gezeigt hat, keineswegs von Hause aus mit der eigenen Beurteilung, das was jene von uns wollen, keineswegs selbstverständlich mit dem, was wir selber wollen, identisch. Eben darum ist es ein völliges Mißverstehen des Utilitarismus, wenn man ihm vorwirft, er wolle mit seinem Prinzip alles aus der Welt schaffen, was Entsagen oder Aufopferung heißt. Alles, was der Utilitarismus behauptet, ist dies, daß auch Akte der Selb·stverleugnung einen eudämonologischen Hintergrund haben müssen, wenn sie als siulich gelten wollen; daß sie irgend wie als Mittel zur Förderung dieses Endzwecks sich zu legitimieren haben. Die utilitaristische Ethik weiß aus der Sittengeschichte der Menschheit, welch harten und unablässigen Kampf es jederzeit und jedem Volke kostet, das, was es für wertvoll hält, den natürlichen Instinkten der Einzelnen abzunötigen und aufzuzwingen. Fast alle schätzenswerten Eigenschaften der Menschheit sind nicht Ergebnis der natürlichen Instinkte, sondern eines Siegs der Reflexion und bewußten Wollens über die Instinkte. Mut, Wahrheit, Reinheit werden den Menschen anerzogen. Überall müssen einzelne Personen zuerst sittliche Eigenschaften durch eigentümliche Begabung entwickelt haben, bevor diese als Pflichten aufgefaßt werden konnten. Und zwar darf auch nicht die Unmöglichkeit, im einzelnen Fall die Folgen einer Handlung festzustellen, als Instanz gegen das utilitaristische Prinzip geltend gemacht werden, denn zwischen dem höchsten Prinzip und der einzelnen Handlung liegen Maximen, Werturteile über Handlungsweisen und Charaktere, welche für das Urteil benutzt werden. Diese bilden den in der Erziehung überlieferten Schatz moralischer Begriffe. Es ist nicht nötig, sich den Kopf zu zerbrechen, was bei der Ermordung eines Menschen für das allgemeine Glück herauskommen könnte. IV. Let z t e K
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n s e q u e n zen
Die Ehrlichkeit und Vielseitigkeit Mills läßt ihn die ganze Schwierigkeit erkennen, das Motiv, für das Wohl anderer zu sorgen, von seinen Grundlagen aus faßbar zu machen; und hier führt nun von selbst sein Prinzip zu seinem Gegenteil hinüber. Nicht wie Jodl meint, weil in der Anerkennung, daß das Sittliche eine Eigenschaft der Person ist, und diese Eigenschaft im selbstlosen Wollen eines objektiv oder allgemein Guten besteht, Utilitarier mit Idealisten übereinstimmen. Vielmehr verfällt Mill einem fehlerhaften
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Zirkel, indem er die Erziehung und die Gesetzgebung zu Hilfe ruft. Die Erziehung soll im Menschen Glückseligkeit und gemeinnütziges Handeln aneinander binden, die Gesetzgebung soll das Einzelinteresse in möglichst große Harmonie mit dem Gemeininteresse setzen. Dies setzt bei der Erziehung die Erregung einer Illusion voraus, nachdem der reelle Enthusiasmus theoretisch totgeschlagen worden ist. Immer mehr mit den Jahren ist Mill geneigt, den Gefühlen, welche das menschliche Glück befördern, die gedankenmäßigen Konsequenzen, die aus seinem Prinzip folgen, zu opfern; und die von der Gesetzgebung hergestellte Harmonie ist sicher in der Tendenz derselben gelegen, aber nur in dem engen Umfang, in welchem Gesetze auf sittliche Handlungen wirken können. So sucht Mill für den Fall einer Kollision ein tieferliegendes sittliches Motiv, eine Sanktion für die sittliche Pflicht, Gemeinnutzen zu fördern. Eben noch hatte er das Vorhandensein moralischer Gefühle für zweifelhaft erklärt, nun greift er doch auf die Lehre von der Sympathie zurück, ja er setzt seine Erwartung auf die Religionslehre von der Einheit des Individuums mit den anderen Personen neben ihm; also eine moralische angeborene Anlage und eine dunkle metaphysische Voraussetzung bilden nun die Zuflucht des desperaten Utilitarismus. Mill will wohl nicht sehen, daß eine solche metaphysische Unterlage die Aufhebung eben der atomistischen Voraussetzungen ist, aus denen das Glückseligkeitsmaximum entstand. Noch entschiedener ist der Bankrott in Mills Utilitaritätsprinzip über die Freiheit. Hier stellt er das Prinzip der individuellen Entwicklung, im Einklang mit Pestalozzi, Humboldt, Goethe, der sozialistischen Mechanisierung der Gesellschaft gegenüber. Spricht er von der Pflicht der Selbstentwicklung, so ist kein Motiv einer solchen im utilitaristischen System vorhanden. Vielmehr weist dies auf eine Anlage der menschlichen Natur hin, deren Annahme einem richtigen Utilitarier ein Greuel sein mußte. So vollzog sich in einer merkwürdigen Entwicklung, die MiII selbst nicht ohne Selbstgeißelung geschildert hat, die Selbstauflösung des Utilitarismus.
§ 11 Algemeine Kritik des Utilitarismus Ohne irgendwelche Hypothesen einzumischen, kann man dem utilitarisehen System folgende allgemeine Betrachtungen gegenüberstellen. Dasselbe beruht in seiner englischen Form schließlich auf der Annahme von der natürlichen Harmonie zwischen dem persönlichen und dem Gemeinwohl. Dies heißt aber nicht Harmonie im Sinne des bekannten Wortes Karls V.: Mein Bruder Franz 1. und ich sind einig, wir wollen dasselbe nämlich - vielmehr ist die Voraussetzung, daß das Handeln für das Gemeinwohl jeder-
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zeit nach der natürlichen Einrichtung der Gesellschaft am besten auch für andere sorgen werde. Dies ist aber nur der Fall, wenn und so weit Gesetzgebung und Erziehung ein solches Resultat erzielen. So wird das System der individuellen Freiheit aufgegeben und durch ein System der Leitung der Einzelnen bis ins Innerste ihrer überzeugungen ersetzt werden müssen, falls der Utilitarismus festgehalten werden soll. So vollzieht sich auf moralischem Gebiet derselbe Vorgang, welcher sich auf dem Felde der politischen ökonomie vollzogen hat. Die ältere englische ökonomie konnte von Bastiat auf das Prinzip der natürlichen Harmonie der Interessen im wirtschafHichen Leben zurückgeführt werden. Mill war ein Hauptvertreter dieser Theorie. Aber die modernste politische ökonomie erwies, deutlicher aber noch erwies das Leben selbst: dies ist eine Fiktiön. Unter der Voraussetzung des Erbrechts verfällt die sich selbst überlassene Gesellschaft dem Kapitalismus, jede Rechtsordnung ist eine regulierende Kraft inmitten der wirtchaftlichen Interessen. So hat auf dem Gebiete der Sozialethik Mills Utilitarismus seine Herrschaft dem Prinzip einer Leitung der Gesellschaft zur Herstellung des Gemeinwohls, dem Prinzip des Sozialismus und seines Philosophen Comte den Platz räumen müssen. Dies ergibt sich auch aus folgender Betrachtung. Der Utilitarismus war so lange eine der Bourgeoisie höchst angenehme Lehre, als er nur benutzt wurde, die Reste der feudalkirchlichen Gesellschaftsordnung ihr aus dem Wege zu räumen. So trat er in eine Allianz mit dem radikalen Liberalismus der Bankiers in England. Sobald aber das Prinzip des Glücksmaximums nicht mehr den Anstand und die Bescheidenheit besitzt, vor Eigentum und Erbrecht Halt zu machen, zeigt sich, daß dies Prinzip unweigerlich zum sozialistischen System, zur sozialen Demokratie hinführt. Der aufrichtige Bentham erkannte an: Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl ist die einzig mögliche Formel, wenn man gleichwertige statistische Einheiten in der Gesellschaft summiert und deren Lustquanten addiert; er erkannte weiter die Einwirkung des von Bernoulli in seiner mensura sortis entwickelten Prinzips auf diese Rechnung. Nach Bernoulli ist der Zuwachs an Wohlbefinden, den ein Gewinn hervorbringt, umgekehrt proportional dem bereits vorhandenen Besitz; nach Bentham ist das Wachstum der Glückseligkeit durch ein begrenztes Gut nicht proportional der Größe dieses Gutes, sondern dem Verhältnis derselben zu der Summe der von dem Individuum bereits besessenen Güter. Hieraus folgt für die Verteilung des Reichtums und der in ihm enthaltenen Glücksgüter, daß ein gegebenes Quantum, welches einem Armen die Verdoppelung seiner Glücksmittel erwirkt hätte, einem Reichen nur einen wenig erheblichen Zuwachs gewährt; sonach wird das Glücksmaximum in einer gegebenen Gesellschaft nur bei ungefähr gleicher Verteilung der Genußmittel erreichbar sein. Hierzu kommt, daß die aus der Vergleichung stammenden Gefühle der Minder-
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heit weniger Glückszuwachs bringen, als sie der großen Mehrheit Schmerzen machen. So werden wir zu der anderen Fraktion des Utilitarismus hinübergeführt, welche heute dieses Prinzips sich bemächtigt hat: der Moral des Sozialismus. Einst hatte Hume den unglücklichen Jean Jacques Rousseau unterstützt und mit nach England gebracht, man weiß mit welchem Erfolg. So hat Jolm Stuart Mill sich in einer späteren Zeit Comtes angenommen; immer blieben seine Augen auf diesen groß·en und für Frankreich zentralen Philosophen gerichtet. Es war die Anziehungskraft, welche eine überlegene Form des utilitaristischen Prinzips auf die Engländer ausüben mußte. [Aber auch in Comtes Standpunkt liegt ein Cirkel, der die Lösung verhindert. Liegt in der Glückseligkeit das Ziel, ist es nicht folgerichtig, meine eigene Glückseligkeit, die ich in der Hand habe, zugunsten anderer fallen zu lassen. Der ga n z e Eu d ä mon i s mus ist der bIo ß e ps y chi s c h e Sc h ein der Mo r a 1. Die wirklichen Beweggründe sind ganz andere. Rachbegierde mit Vernichtung seiner selbst - Selb, (aufopferung. Das Genie weiht sein Leben wissenschaftlichen Aufgaben. Der Mächtige lebt seinen Leidenschaften und Trieben. Die große Entwicklung der Geschichte hätte nicht durch bloßen Eudämonismus hervorgebracht werden können.]
§ 12 Das erkenntnistheoretische Prinzip einer Möglichkeit der Moral 1. Auf dem Standpunkt des Sinnenglaubens ist die objektive Giltigkeit der sittlichen Erfahrungstatsachen nicht festzuhalten. Auf diesem fordert jeder Vorgang eine substantiale Grundlage; Empfindung, Reproduktion, Gedächtnis, Trieb, Gefühl sind bedingt durch den Verlauf der ihnen korrelaten physiologischen Prozesse. Würde man die höheren und lebendigen freien sittlichen Vorgänge von den elementaren psychischen Prozessen loslösen, so würden diese einer höheren seelischen Substanz angehören, welche dann in ihrer KooperatioR mit den niederen psychischen Vorgängen die Einheit des Bewußtseins aufheben müßte. Dieser psychische Dualismus mußte, sobald die höheren Tatsachen des Seelenlebens anerkannt wurden, mit Notwendigkeit auftreten. Plato, Aristoteles, die mittelalterliche Philosophie und Theologie, die gegenwärtige katholische Metaphysik mußten diesem Widerspruch verfallen. Sobald man dagegen die höheren ethischen Tatsachen zugunsten eines logisch folgerichtigen, wissenschaftlichen Systems verneint, entsteht der praktische Materialismus. Es darf als die Wurzel des Kantischen Systems
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diese Einsicht und der eigene Versuch, die erkenntnistheoretischen Einsichten des 18. Jahrhunderts zur Auflösung dieses Problems zu benutzen, betrachtet werden. Aber Kants Auflösung von Substanz, metaphysischer Seeleneinheit, materiellen Einheiten schuf zwar Raum für die ethische Welt, aber nicht zureichende Grundlagen ihrer Möglichkeit. 2. Realität oder objektive Giltigkeit des in der inneren Erfahrung Gegebenen besteht darin, daß Lust, Schmerz und Leidenschaften das Leben selber ausmachen. Ihr Dasein ist identisch mit dem für ein Bewußtsein Dasein. Existenz eines Gefühls und Gefühltwerden sind gar nicht zweierlei, sie sind das Leben, alles andere kann als dessen Diener, Dekoration, Hintergrund aufgefaßt werden. 3. Realität der Außenwelt und der Objekte besteht in der Tatsache, daß ich mich bestimmt bedingt finde als Willenseinheit von einem anderen, von mir verschiedenen. Das ist der reale Begriff von Ursache. Ich finde mich so genötigt, ein Mannigfaltiges von Kräften zu behaupten. 4. So ergibt sich für die Willenseinheiten, deren Zusammenhang nach sittlichen Gesetzen den Gegenstand der Moral ausmacht, die erkenntnistheoretische Position, unter welcher sie zu betrachten sind. I n der abstrakten Philosophie des neueren Europa bildete sich zuerst die mechanistische Grundvorstellung aus: Alle physikalischen Vorgänge, Licht, Wärme etc. werden erklärt, indem sie auf Bewegungsvorgänge zurückgeführt werden. Alsdann forderte man theoretisch die Zurückführung der biologischen Prozesse auf die physikalisch-chemischen. Dagegen trennte man Empfindung, Gefühl, Vorstellung, Denken hiervon und nahm einen in sich zusammenhängenden Kreis von Bewußtseinsvorgängen an. Diesen setzte man zu jenen in irgendein Verhältnis von Korrelation, Korrespondenz, Abhängigkeit usw. Diesem Inbegriff von Hypothesen gegenüber: 1. Wir können nicht wissen, welche von den physikalischen Erscheinungen am tiefsten geht. Alle physikalischen Vorg~inge stehen mit Bewegungsvorgängen im Zusammenhang. Aber dieser ist noch nicht Identität. Letztere ist, wie die atomistische Unterlage derselben, eine bloße Hypothese. Die Denkmittcl: Masse, Kraft, Atome haben für den Denkzusammenhang nur die Bedeutung, die Ordnung der Erfahrungen zu ermöglichen. Eine Realität außerhalb des Denkens kann nicht für sie erwiesen werden. Mit dem System von in der Empfindung gegebenen Eigenschaften und Veränderungen und deren Korrelationen sind die inneren Zustände gegeben, ein Verhältnis von außen und innen, ohne daß wir hierdurch etwas auszusagen vermöchten. Sinnesorgan und Empfindung, Gehirn und Spur, Retention, Assoziation, Reproduktion sind wie Innen und Außen zusammen.
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In diesem Umkreis besteht notwendige Verkettung, der physiologische und der psychologische Verlauf unterliegen ihm; letzterer ist wie das Innere jenes Außen. Die Lösung des Problems, welche Wundt angibt, entspricht ganz und gar den Prinzipien des transzendentalen Idealismus. Wenn auf der einen Seite, so erklärt der genannte Psychologe, die objektive Kausalität ein Erzeugnis des Denkens, speziell der demselben innewohnenden logischen Kausalität sei, auf der anderen Seite dagegen durch die postulierte Allgemeingiltigkeit der objektiven Kausalität die Forderung gestellt werde, unser eigenes Denken als ein durch objektive Kausalität notwendig begründetes anzusehen, so verdiene doch die erstere Betrachtungsweise den Vorzug. Mach meint: Wenn jemand die Welt nur durch das Theater kennen würde und nun hinter die mechanischen Einrichtungen der' Bühne käme, so könnte er wohl auch meinen, daß die wirkliche Welt eines Schnürbodens bedürfe, und daß alles gewonnen wäre, wenn nur dieser einmal erforscht wäre. So dürfen wir auch die intellektuellen Hilfsmittel, die wir zur Aufführung der Welt auf der Gedankenbühne gebrauchen, nicht für Grundlagen der wirklichen Welt halten! 3. Substanz, Ursache, Materie, Seele sind als Dinge genommen metaphysische Einbildungen. Das Kommerzieren zwischen diesen Entitäten ist eine Fiktion zweiten Grades. Der Zusammenhang der Begriffe, in welchem dieses Kommerzium dargestellt wird, ist notwendig unentrinnbar widerspruchsvoll. Und zwar ist in dem Dualismus des Descartes dieser Widerspruch nicht stärker, in dem Occasionalismus tritt seine Unentrinnbarkeit nicht schneidiger hervor als in der von der modernen Naturwissenschaft so viel benutzten Identitätsphilo~ophie des Spinoza, dem sogenannten Monismus desselben. Denn die Voraussetzung der Gleichwertigkeit der gegenseitigen Unabhängigkeit der beiden Reihen ist entweder zugunsten einer von beiden aufzuheben oder hinter beiden ist eine metaphysische Realität aufzusuchen, welche den Schein derselben wirft. Dies widerspricht aber dem Satze von der Realität der psychischen Erfahrungen. So war die Monadologie der Fortgang zu folgerichtigerern, tieferem Denken. Zudem ist Korrelation eine Formel ohne denkbaren Inhalt. 4. Diese Widersprüche schwinden, wenn man dem bloßen Zusammenhang des Lebens am meisten entsprechende Vorstellungen entwickelt. Hierbei muß man die Unangemessenheit des begrifflichen Denkens an den Lebenszusammenhang sich im Bewußtsein halten, um an jedem Punkte den Ursprung möglicher Widersprüche sich sofort klar zu machen. Alles Denken über die Erfahrungen des Lebens kann nur in kritisch feststellbaren Grenzen zu einer gewissen Annäherung führen. S. Gehen wir von dem entscheidenden Punkte aus. Die höheren moralischen Vorgänge sind uns nur als Prozesse auf der Unterlage der physisch
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bedingten und determinierten animalischen Lebendigkeit gegeben. Unser an räumliche Bilder gebundenes Denken trennt gleichsam ein höheres Stockwerk des Seelenlebens von dem niederen ab. Dieser räumlichen Anordnung, dieser Abgrenzung entspricht in der Lebendigkeit nun ein Verhälwis des Erwirkens unter den Prozessen, nach welchem die höheren Vorgänge nur an den niederen auftreten können, diese niederen niemals in der menschlichen Psyche abgetrennt für sich zu bestehen brauchen. 6. So ist nicht ein begrenztes psychisches Geschehen für sich mit dem physiologischen verbunden, das lebendige freie Geschehen darüber hinaus. Vielmehr ist die freie Lebendigkeit der notwendigen Verkettung starrer materieller Vorgänge und gesetzlicher psychischer Elementargrundsätze überall immanent. Erkenntnistheoretische Entscheidung über das Recht der drei Methoden 1. Wäre uns die Wirklichkeit in den Wahrnehmungen gegeben, so würde die letzte unter diesen Methoden zugrunde zu legen und nur durch die mittlere zu ergänzen sein. So verfuhren auch Spencer, Wundt u. a. Doch vermag keiner nach dieser Methode die Schwierigkeiten aufzulösen, die eine teleologische, entwicklungsgeschichtliche Auffassung einschlic!h, wenn sie den sittlichen Erfahrungen genug tun will. Sind die psychischen Vorgänge zunächst korrelativ den physiologischen, entsprechen sich Differenzierung, zunehmende teleologische Angemessenheit auf bei den Gebieten, dann fragt sich: Wo beginnt die selbständige Lebendigkeit des moralischen Prozesses. Denn der moralische Prozeß hat kein Korrelat in Gehirnvorgängen. In diesen liegen vielmehr nur seine Bedingungen. Die innere Erfahrung entblt in sich Verantwortlichkeit, Pflicht, Freihei tsbewußtsein, das Sich-selbst-Vergessen als Merkmal des Sittlichen, das Sich-selbst-Aufopfern als seine schönste Blüte. Auf dem Stamm unseres anima lischen Wesens erwächst dies alles nicht, aus Transformationen des Trieblebens und der wechselnden Bedingungen kann es nicht abgeleitet werden. So entsteht auf diesem Standpunkt eine unauflösliche Antinomie zwischen den empirischen Tatsachen des Gewissens und der hypothetischen Theorie in der Evolutionslehre. Das logische Verhältnis ist: Von der Evolutionslelll·c aus kann die innere Erfahrung nicht erklärt werden. Sie kann von dieser Lehre aus geleugnet, verstümmelt, aber sie kann ihr nicht unterworfen werden. Das Erkennen, das der Korrelation des Physischen und Geistigen und der aufsteigenden Entwicklung in beiden Reichen als seiner Hypothesen sich bedient, vermag weder zu begreifen, wie die Freiheit des Moralischen ohne
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Sprung kontinuierlich auf diesem Boden der Natur sich entwickelt, noch wie das Moralische dem Physischen korrelat sein kann, oder aber wie es sich von dieser Korrelation loslösen könnte. Dagegen von dem Standpunkt der inneren Erfahrung aus entstehen erkenntnistheoretische Einsichten, welche nunmehr die Unmöglichkeit der Auflösung des obigen Problems zeigen und das richtige Verhältnis der beiden Methoden zueinander erkennen lassen. Daher ist auch für die Moral eine erkenntnistheoretische Begründung unvermeidlich. Schriften, welche ohne eine solche verfahren, gelangen nur zu einem Gemenge biologischer Sätze und innerer Erfahrungen, dazu etwa noch metaphysischer Konzeptionen, in welchen die Widersprüche nur durch Abstumpfung und Verflachung ausgeglichen werden. 2. Die Erkenntnistheorie und das naturwissenschaftliche Denken ergänzen einander in einer Reihe von Sätzen. Diese unterliegen daher dem modernen Denken keinem Zweifel. Ich gebe dieselben nur an, über ihre besondere Formulierung will ich nicht streiten; ihrem Hauptinhalt nach unterliegen sie keinem Zweifel. Der allgemeinste Satz, unter dem alles Erkennen steht: Diese ganze Welt samt allem sonst ist Erscheinung für mein Bewußtsein, Tatsache desselben. Hieraus ergibt sich das reale Auffassen der inneren Zustände, die Phänomenalität aller Bestandteile der äußeren Welt, die praktische Benutzbarkeit derselben aber als eines Systems von Zeichen für das von uns Unabhängige. Ergibt sich hieraus eine Einschränkung der menschlichen Erkenntnis dem Stoffe nach, so liegt doch hinter dieser Einschränkung der menschlichen Erkenntnis nach ihrer Extension eine andere, noch wichtigere, welche sich auf die Erkenntnisweise bezieht. Jene erste Einschränkung ist seit Locke und Kant zur allgemeinen Anerkennung gelangt. Jedermann erkennt sie an. Von ihr aus haben dann Comte und in Deutschland Helmholtz u. a. eine Erkenntnis des Naturganzen konstruiert, welche überall den realen Beziehungspunkten und Beziehungen Phänomene als Beziehungspunkte und Verhältnisse der Gleichung und Abhängigkeit als Beziehungen substituiert. Und da nun das Verhältnis der physischen zu den psychischen Tatsachen gleichsam das Zentrum unserer Konstruktion der Wirklichkeit bildet, so werden die psychischen Tatsachen ebenfalls in ein Verhältnis der Korrelation zu den physischen gesetzt. Da nun weiter bei einer solchen Betrachtungsweise alles gleichsam eingebettet ist in den umfassenden physischen Zusammenhang, so erscheint der korrelate Zusammenhang der psychischen Tatsachen überhaupt wie eingeschaltet und sekundär. Nun kann nach dem Gesetz der Erhaltung der Kraft die Veränderung, welche psychische Vorgänge entweder hervorrufen in der Außenwelt oder deren physische Antccedens, die sie begleiten, ohne diese Einschaltung des Psychischen erklärbar
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sein. So wird der physische Zusammenhang zur festen Unterlage, das Psychische zu einer darüber schwebenden Schattenwelt, und hieran ändert nichts, d;1ß uns die Natur des Physischen unbekannt ist, welches in den Zeichen der Empfindung und Raumbeziehung für uns da ist. Indem man nun aber auch die intensiven, der Erkenntnis selbst immanenten Schranken unseres Wissens in Betracht zieht, entsteht erst die Möglichkeit, den inneren Erfahrungen von Selbstbewußtsein, Verantwortlichkeit, freier Lebendigkeit gerecht zu werden, welche von jenem Standpunkt einer abgeflachten, halbierten Erkenntniskritik nie wirklich anerkannt, nie aus den Voraussetzungen faßbar gemacht werden können. Ein Repräsentant der Halbheit des auf diesem Standpunkt entstehenden Idealismus ist Lange. Die nimmer endenden Schranken der Erkenntnis sind dadurch bedingt, daß wir nicht nur die Lebendigkeit des eigenen Selbst als Realität direkt erfahren, sondern auch nur vermittels dieser einheitlichen Lebendigkeit das in der mannigfaltigen Empfindung Gegebene zu Objekten und Personen vereinigen, dann ausschließlich erklären, begreifen. So bilden wir zunächst rings um uns Willentliches, Wirkliches, Lebendiges Außen, das ein Innen hat, Erstreckung, die von Kraft erfüll t ist. Überall Verhältnisse des Wirkens und Leidens, Essentialität, Bedeutung und Zweck. Wir sind nun gänzlich unvermögend, gleichsam hinter uns zu sehen, also zurückzugehen hinter die eigene Lebendigkeit, ein Prinzip für die lebendige Beziehung unserer Zustände zu finden, d. h. in die Art des Übergangs eines Zustandes in den andern hineinzusehen. An diesem Punkte entsteht zunächst die Einsicht in die immanenten Erkenntnisschranken der Psychologie und der auf sie begründeten Wissenschaften. Ich erlebe in jedem Augenblick, wie aus dem Gefühl ein trieb artiges Streben, es festzuhalten, entsteht. Ich erlebe, wie Schmerz Abwendung, weiterhin Haß zur Folge hat. Ich kann die Regelmäßigkeit des Übergangs in der Abgrenzung des Übergangs eines Zustandes in den andern feststellen. Aber ich kann nicht hinter diese meine eigene Lebendigkeit zurückgreifen. Die Gegebenheit des Gefühls, die Gegebenheit der Vorstellung, der Volition, kann ich nicht etwa auf Vorstellen oder Fühlen zurückführen. Indem ich das tue, hebe ich die innere Erfahrung selbst, nach welcher Vorstellung, Volition, Gefühl immer distinkt bleiben, auf und ich setze etwas im Denkvorgang Auftretendes, welches doch nur eben vermittels von Sonderung und Zusammenwirkung da ist, an die Stelle. Ich kann ebensowenig im Denken die Selbständigkeit der Einzelempfindungen setzen, deren Einheit aufheben; denn diese Einheit ist die Bedingung meines Auffassens selber. Wie das Mannigfache unterschieden und doch nur eins ist, ist im Erlebnis d;1, kann durch das Denken anerkannt, aber nicht aufgehoben werden. So ist Psychologie ;1n den entscheidenden Punkten nur beschreibend.
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Eine erklärende Psychologie ist immer nur innerhalb dieser immanenten Grenzen denkbar. Die Begriffe, welche an der Außenwelt gebildet sind, dürfen nicht ungeprüft zur Konstruktion psychischer Beziehungen verwertet werden. Wir wissen nichts von einer seelischen Substanz. Wir kennen nur Prozesse und deren Ineinandergreifen. Das Höchsterreichbare ist nicht die immer angestrebte ursächliche Reduktion der Zustände aufeinander, sondern das Verständnis ihres funktionellen Zusammenwirkens in der Richtung der Herstellung eines vorübergehenden Gleichgewichtes im Gefühlsleben. Sonach in abstracto angesehen, ist eine teleologische Betrachtung eben nur aus diesem besonderen Zusammenhang in dem Lebewesen entnommen. Er wird dann angewandt, um ein ähnliches Verhältnis von Bestandteilen oder Funktionen in einem materiellen Ganzen zu bezeichnen. Sind wir nun der Existenz der Realität eines von uns Unabhängigen im Trieb, Gefühl, Wille gewiß, so ist die Erkenntnis dieser Außenwelt noch ganz anderen immanenten Schranken unterworfen. Sie hat aber freilich andererseits noch ganz andere Vorteile und Kunstgriffe der Wahrnehmung, wenn sie dieselben zu gebrauchen versteht. Das dem Willen Widerstehende ist als Ursache, Kraft gegeben. Sofern dieses von mir Unabhängige aber in seinen Erscheinungen eine Regelmäßigkeit zeigt, ist das Gesetz eine an der Außenwelt geg\,!bene Tatsache. So sicher als die eigene Lebendigkeit. Und zwar ist nun weiter an der Außenwelt erkennbar, kann gleichsam an ihr abgelesen werden, daß das Wirken der Kräfte einen Faktor einschließt, der zunächst als Entfernung bezeichnet werden mag. Dieser Faktor Entfernung ist, selbst wenn wir fernwirkende Kräfte annehmen, mitwirkend für die Unterschiede ihres Wirkens. Er bedingt bei nahe wirkenden Kräften die Möglichkeit, daß A auf B wirke, den Ausschluß der Möglichkeit, daß A auf das durch B von ihm getrennte C unmittelbar einwirkt. Diese Starrheit des Außereinander im Wirken der Kräfte unterscheidet die Materie von der eigenen inneren Lebendigkeit; denn in dieser ist das Wirken psychischer Kräfte nicht an ein solches Verhältnis gebunden. Nur so ist die Einheit und Lebendigkeit der psychischen Wirkungen bedingt. Daß mir nun das Außen als räumlich, mit Qualitäten behaftet erscheint, ist die Folge des psychophysischen Erkennens meiner Sinne, welche wiederum ein Letztes für mich sind. Ich kann nicht hinter sie greifen; ich kann nicht wirklich Farbe oder Ton auf eine Bewegung zurückbringen als auf das alleinige Existential; ich kann nur innerhalb eines Systems vergleichen, Stufen unterscheiden und so ein System aufstellen. Sonach findet sich die Betrachtung der Materie der Natur außerstande, Einheit, Lebendigkeit, Zusammenhang in dieser zu erfassen. All unser Denken kann nur Koexistenz, Folge, Gleichheit, Gleichförmigkeit erkennen, verbinden, trennen, vergleichen, beziehen. Dies heißt aber durchweg mechanisieren.
ZWEITER ABSCHNITT
DER WILLE UND DIE SITTLICHEN ANLAGEN
§ 1 Der Grundplan des Lebewesens In dem Fluß der Entwicklung festen Fuß zu fassen, mitten in der Ver~ änderlichkeit der Lebewesen, in deren aufsteigender Reihe, in welcher alles relativ und variabel erscheint, einen St2.ndort zu nehmen, um Allgemeingiltiges auszusagen: das ist für die Ethik die Aufgabe. Wie könnten wir anders, als von der Natur des Seelenlebens, der Willensprozesse im Menschen unseren Ausgangspunkt nehmen! Eindruck und Reaktion auf denselben, um das Gleichgewicht wieder herzustellen, das ist das Schema eines Lebewesens. Die von der animalischen Organisation getragenen Triebe werden durch Reize von außen angeregt und treten in Wirksamkeit; vermittels der Reflexmechanismen geben sie zweckmäßige Wirklmgen auf die Außenwelt und stellen so die Anpassung zwischen dieser und dem Individuum her. Dieser Zusammenhang von Prozessen trägt einen teleologischen Charakter. Der Grundbegriff des Organischen entscheidet sich an diesem Punkt. Der Trieb wirkt, wenn der Reiz ihn in Tätigkeit setzt, entsprechend dem Bedürfnis des animalischen Funktionensystems, mit welchem er verbunden Ist.
Die Zweckmäßigkeit in der Verkettung dieser psychischen Vorstellungen nimmt in der Zahl der Glieder dieser Kette zu. Zwischen die Reizwirkung und die Triebbewegung schalten sich immer mehr Zwischenglieder ein. Die einfachste Verbindung ist die an den niederen Tieren bemerkbare: Jede momentane Reizwirkung ruft einen veränderten inneren Zustand in den niederen Tieren hervor, der zur Bewegung der Aneignung oder der Abwehr führt. Reiz, veränderter Zustand, Triebbewegung sind so immer in derselben einförmigen Art miteinander verbunden. Treten nun getrennte Organe auf, so werden sie Träger isolierter psychischer Vorgänge. Dann entsteht in dieser organischen Materie bei der Rückkehr desselben Reizes ein innerer Zustand, der das Bewußtsein des Bekannten, Eingewöhnten einschließt: das Wiedererkennen. Getrennte Sinnesorgane haben gesonderte Sinnesqualitäten zur Folge. Gedächtnis,
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Der Grundplan des Lebewesens
Phantasievorstellungen entwickeln sich, und nun differenziert sich auch das Triebleben, entsprechend der Trennung der organischen Systeme sondern sich Nahrungstrieb, Bewegungstrieb, Schutztrieb usw. Die Reflexmechanismen bilden sich aus und trennen sich voneinander ab; ein immer zunehmender Prozeß von Differenzierung und Höherstellung zwischen den gesonderten Organen und Funktionen. So werden die Eindrücke dem Mannigfachen des Milieus immer mehr entsprechend. Die Triebe bilden sich zu einem System, das die animalischen Funktionen begleitet, trägt und unterstützt. Das Spiel der Gefühle drückt die wachsenden Verhältnisse der Triebzustände zu dem Milieu aus. Die psychischen Gebilde, Empfindung, Wahrnehmung, Vorstellung, Denken, Gefühle, Stimmung, Affekt, Trieb, Volition sondern sich voneinander, und die Rückwirkungen eines solchen Organismus zum Zweck der Anpassung an die Außenwelt gliedern sich zu einer Mannigfaltigkeit der Bewegungen, welche zum großen Teil vom Reflexmechanismus getragen sind.
§ 2 Die Zweckmäßigkeit 1m Grundplan des Lebewesens Man könnte sich Organismen denken, in welchen eine Anpassung mit der Außenwelt beständig durch intellektuelle Prozesse unterhalten wird. Solche Organismen müßten vermittels von intellektuellen Vorgängen schädliche und nützliche Nahrung, gute und schlechte Luft voneinander unterscheiden. Es ist der Kunstgriff des psychischen Geschöpfes, daß der Trieb und das mit ihm verbundene Gefühl das in zwar gekürztem und unverbundenem, aber doch in reichem Maße löst. Es bedarf nicht der kleinen Allwissenheit, welche die Angelegenheiten des animalischen Wesens durch den Intellekt besorgen würde. Trieb und Gefühl lehren Nahrung zu suchen, nützliche von der schädlichen Nahrung zu unterscheiden, treiben zur Fortpflanzung an, unterstützen die Zuchtwahl, lehren das tierische Geschöpf sich zu schützen, zu verstecken. Dies geschieht vermittels einer regelmäßigen Verbindung eines Verhältnisses der Nützlichkeit zwischen Lebewesen und Milieu mit einem Lustgefühl, des Lustgefühls mit einer Triebregung. Bestände umgekehrt zwischen einem solchen Verhältnis und einem Unlustgefühl eine regelmäßige Verbindung, so könnten wir keinen Tag leben. Dieser einfache Kniff der Natur ermöglicht Erhaltung, Fortpflanzung und Steigerung innerhalb der lebendigen Wesen. Indem nun aber durch die Beziehungen der Empfindungen in Wahrnehmung und Denken die Erfassung der Außenwelt gründlicher, durch die Be75 I 5
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Die zentrale Stellung des Trieblebens
ziehungen der Gefühle und Triebe die Wertabschätzung ebenfalls über das Momentane und Partikulare sich erhebt, wird die Anpassung zwischen dem Individuum und seinem Milieu in dem Zusammenhang der Lebewesen immer vollkommener und damit steigert sich die psychische Zweckmäßigkeit in demselben. Diese ist auch in den höchsten Gebilden des geschichtlichen Lebens immer die Grundstruktur· aller Lebendigkeit. Jedes Rätsel geschichtlicher Leistung und Existenz. kann immer nur auf der Grundlage dieses biologischen Grundplans von psychischem Dasein aufgelöst werden.
§ 3 Die zentrale Stellung des Triebund Gefühlslebens So bleibt, was im Tierleben so augenscheinlich, oft .so furchtbar hervortritt, auch in der menschlichen Existenz bestehen. Der Mensch ist ein Bündel von Trieben; Reizempfindung, Vorstellung diesseits, Bewegungsvorgang jenseits, sind nur gleichsam die Fangarme, vermittels deren dies Triebsystem Eindrücke einsaugt, auf die es nach außen zugreifend, aneignend oder abwehrend reagiert. Nie ist die Menschennatur ärger verkannt worden, als durch die schönselige ästhetische oder die intellektualistische Auffassung. Als die französische Revolution den Menschen als ein Vernunftwesen faßte und zu behandeln gedachte, als die Aufklärung auf die Erkenntnis den Fortschritt des Menschengeschlechtes gründete, als das Königtum in Frankreich Kräfte entfesselte, humane Ziele aufstellte und die Menschheit durch gemeinsame Arbeit aller Klassen ihnen entgegenführen wollte, verkannte sie völlig, daß diese Bündel von Trieben jederzeit nur durch Willensmacht zusammengehalten werden können. Die Geschichte kann nur verstanden werden, wenn die Zentralität der großen Willensvorgänge in der Menschheit eingesehen wird. So ist schließlich die Stoa der späteren Zeit, der Neuplatonismus und das Christentum nur die nach innen gekehrte Lebensreife der alten Völker.
§ 4 Inneres Verhältnis von Trieb, Gefühl und Volition 1. Die Deskription der Formen seelischen Lebens trennt Gefühl und
Trieb und Volition ebenso voneinander als Vorstellen vom Gefühl. Diese Ausdrücke bezeichnen Teilinhalte der seelischen Prozesse. Ein Teilinhalt Vorstellung, hat für sich keine wirkliche Existenz. Das Vorstellen hat
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Die Trieb- und Gefüh!skreise
immer zu seiner Innenseite Trieb und Gefühl: den Vorgang im eigenen Selbst. 2. Trieb und Gefühl können aber innerhalb der konkreten biologischen Wissenschaften nicht voneinander getrennt werden. Hier treten sie nur als verschiedene Formen auf, welche derselbe Vorgang durchläuft. Dieser Vorgang besteht in der Reaktion, welche auf einen Eindruck vom Triebsystem stattfindet. Hierbei ist es gleichgiltig, ob das Gefühl die erste Form dieser Reaktion ist oder der Trieb. Dies mag sich ganz verschieden verhalten, aber jede solche Reaktionsweise kann in der Form des Gefühls, in der Form des Triebs, in der Form der Volition auftreten.
§ 5 Die Trieb- und Gefühlskreise 1. Jeder wirkliche Gefühls- oder Triebzustand ist zusammengesetzt aus einer Mehrheit von einfachen Reaktionsweisen. Eine Melodie aus dem Don Juan enthält Tongefühl, Harmoniegefühl, Rhythmus, heroischen Affekt. 2. Diese Reaktionsweisen sind ihrer Zahl nach unbestimmt, aber sie können, wie die Empfindungen, in Kreisen geordnet werden. Ich nenne sie Gefühls -und Triebkreise. Ein solcher Triebkreis ist derjenige, welcher den Ernährungsvorgang immer wieder herbeiführt. 3. Zusammen bilden dieselben die der Tiefe des Subjektes zugekehrte Seite der Vorgänge, die nach außen in ihrer sinnlich faßbaren Wirkung als Wahrnehmung, Vorstellung, Phantasiebild, Bewegungsvorgang sich darstellen. Ich erhalte auf der Straße gehend einen Stoß. Die Außenseite des Vorgangs ist eine Reihe von Bildern und Verknüpfungen derselben im Denken, die innere Seite Schmerz, Arger, Streben auszuweichen usw. 4. Es gibt drei unterscheidbare Formen des Wo lIens, bedingt durch die Art der Verbindung mit anderen Prozessen. Interesse und Aufmerksamkeit, gestaltbildende Tätigkeit der Phantasie, Trieb und Volition sind bei aller Verschiedenheit Formen dieser inneren, vom Gefühl geleiteten Aktion, und zwar können diese Formen nicht aufeinander zurückgeführt werden. Wie aus Zellen eine Pflanze, so setzt sich aus Einheiten dieser verschiedenen Klassen die innere Seite des Menschenlebens zusammen. Wundt will alles auf Apperzeption zurückführen, andere auf Trieb; übersehen wird die bildende Tätigkeit der Phantasie, die auch eine Art von Volition ist. Es sind verschiedene Formen von Volition, sie gehen ineinander über. üb man sie als Wille bezeichnet, ist ein Wortstreit, denn ihre Verwandtschaft und doch zugleich ihre verschiedene psychische Lokalisation ist augenscheinlich. 5. Die Art, in welcher diese einzelnen Aktionen als Aktionseinheit im Selbstbewußtsein miteinander verbunden sind, ist ganz anders als die Ver-
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Die Trieb- lind Gefühlskreise
bindungen, welche wir hypothetisch zwischen den letzten Elementen eines Naturganzen, etwa eines Organismus, annehmen. Können doch Vorstellungen ganz unabhängig von ihrer Lage zueinander im Bewußtsein in jedem Moment Beziehungen zueinander eingehen. Das Getrenntsein im Raum ist ja zunächst nur der bildliche Ausdruck dafür, daß entspred1ende Entfernungen die Wirkungen modifizieren. Entfernung ist also das Korrelat für eine Kraft der Modifikation von Wirken. So besteht also in der Außenwelt ein Netz fester Elemente, der Modifikation von Kräften, welche Elemente als konstante Bedingungen, das heißt als allgemeinste, immer wirkende unveränderliche Kräfte die Unterlage des Spiels der Einzelkräfte ausmachen. Diese starren Bedingungen des Wirkens bestehen im psychischen Geschehen nicht. Daher ist hier kein Auseinander der einzelnen psychischen Elemente. Hiermit hängt zusammen: Die Einheit der Naturkräfte ist nur in ihrem Zusammenwirken nach Gesetzen. Die Art des Zusammenwirkens von Empfindungen, Trieben, Gefühlen ist eine andere. Gefühle verschmelzen unter gewissen Bedingungen unterschiedslos, Triebe bilden eine Totalkraft, etc. So finden wir eine Einheit von Begierden, Gefühlen, ein Zusammenwachsen derselben Vergangenheit und Zukunft der Befriedigungen, ihre Übereinstimmung wird berücksid1tigt usw.
§ 6 E r s t e K 1ass e der G e f ü his - und Tri e b k r eis e. Die Triebmechanismen und die aus ihnen hervorgehenden Begierden, Leidenschaften und affektiven Zustände Der Reflexmechanismus besteht in einer Koordination von Bewegungen, welche von einem Reiz, der auch einen Empfindungsinbegriff mit sich führen kann, ohne Triebbewußtsein ausgelöst wird und in gewissem Umfange zweckmäßig wird. Ein Beispiel ist das Niesen und Husten. Wenn die vom Reiz erregten Empfindungsaggregate und die mit ihnen verbundenen Gefühle einen Trieb auslösen, d. h. eine in unserem Bewußtsein auftretende Spannung, die auf Verwirklichung der Bewegung zustrebt, welche als Zwischenglied die Aktion des Reflexmechanismus vermittelt, so bezeichnen wir diesen Vorgang als Triebvorgang, die in ihm ermöglichte psychologische Einrichtung als Triebmechanismus. Man kann sagen, daß die gewaltigsten Kräfte der moralischen Welt Hunger, Liebe und Krieg sind. Die physiologischen Prozesse, an welche die Erhaltung des Individuums und der Art geknüpft ist, enthalten ein Mannig-
Der 1Vahrungstrieb und der Gesrhlechtstrieb
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faches von Reflexmechanismen; aber von diesen sind einige der hauptsächlichsten dem Willen ganz entzogen, also nur automatisch. So die Reflexmechanismen des Atmungsvorganges und des durch die Herzbewegung unterhaltenen Blutkreislaufs. Diese Reflexmechanismen arbeiten in einem Ablauf kurzer, regelmäßiger Perioden ohne Zutun des Willens, und nur krankhafte Störungen sind von stärkeren Gefühlen begleitet. Von diesen sind die Reflexmechanismen unterschieden, welche durch vorübergehende Reizeingriffe hervorgerufen werden und vom Willen unterdrückt werden können. Daß der Wille sie unterdrücken kann, ist ein Bestandteil ihrer Zweckmäßigkeit. Solche sind Husten, Niesen, Weinen, Lachen. Von ihnen sind nun die Triebe und Triebmechanismen wiederum verschieden. Die Nahrungstriebe Die Nahrungsadnahme, welche eine Auswahl und ein Besitzergreifen fordert, vollzieht sich durch die mächtigste, elementarste Triebbewegung, welche überhaupt der Erhaltung des Körpers dient. Hier ist miteinander das heftigste Unlustgefühl in Hunger und Durst, ein unwiderstehlicher Trieb, der nach Befriedigung drängt, ein höchst intensiver Genuß in der Befriedigung selbst, dann das typische Gefühl des Sattseins miteinander verbunden. Die Natur hat so auf die schädliche Nahrungsenthaltung eine bittere Strafe gesetzt, auf die richtige Nahrungsauswahl eine Prämie. So hat sie Tiere und Mensch gezwungen, auch unter noch so schwierigen Umständen die geeigneten Nahrungsstoffe zu suchen und von ihnen Besitz zu ergreifen. Auch sehen wir das Leben niederer Tierformen, dann des Raubtiers, der Grasfresser von dem Ablauf dieses Triebes in seinen verschiedenen Stadien ganz vorherrschend ausgefüllt. Gier, Erfassen der Beute, Sättigungsruhe erfüllen dem Raubtier seinen Tag. Das Leben der Neugeborenen teilt sich nach dem Ablauf dieses Triebes in Unruhe, Schreien, Nahrungsaufnahme, Sättigungsruhe und Schlaf. Und auch im Leben der Naturvölker nehmen die Stadien dieses Trieborgans den breitesten Raum ein. Geschlechtstrieb und Kinderliebe Nicht minder stürmisch tritt der Trieb auf, welcher der Erhaltung der Gattung dient. Die Natur hat auch hier in der Lust, in der Stillung drängenden Verlangens eine Prämie auf das gesetzt, woran ihr nächst der Erhaltung des Individuums am meisten gelegen ist. Nach Schneider (Der Tierische Wille) ist der Trieb der Fortpflanzung mit der Liebe zur Nachkommenschaft verbunden. Brutpflege tritt uns schon bei Spinnen und Insekten entgegen. Sie ist bei den Tieren teilweise an Peri-
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SC/;lItz- IIndAbwehrtriebe
oden gebunden. Bei sämtlichen Wirbeltieren erfolgen die Liebeswerbungen in derselben Art, - Aufsuchen der Geliebten und ihr Folgen, Werbung durch Liebesspiele, Eifersucht auf Nebenbuhler, deren Vertreibung, Kämpfe: dies alles schon bei Fischen, ganz allgemein aber bei Säugetieren so gut als in den geschriebenen und gelobten Romanen der Menschen. Die Vögel werben mit Gesang, wie es bei den Menschen geschieht. Sie werben durch Bewegungsspiel, durch Flugreigen, Tänze, Umflattern. Vögel und Säugetiere brüsten sich vor den Weibchen, zeigen sich und kämpfen mit den Nebenbuhlern. Im Menschen verketten sich auf dieser Unterlage viele höheren Gefühle: volle Lebensgemeinschaft, Unverbrüchlichkeit der Treue, historische Gefühle. Schutz- und Abwehrtriebe Ebenso elementar und mächtig sind die mit Reflexmechanismen verbundenen Triebe, welche auf feindliche Angriffe von außen mit Abwehrbewegungen antworten oder in Schutz und Sicherheit flüchten. Diese Abwehr- und Schutztriebe und ihre Mechanismen haben ebenfalls eine sehr große elementare Mächtigkeit, Unwiderstehlichkeit. Sie sind ebenfalls der Sitz starker Affekte wie Zorn, Haß, Schrecken, Entsetzen, Angriff, dann wieder Ausruhen in der Sicherheit. Auf den Eingriff folgt unwillkürlich die Abwehrbewegung. Man gewahrt es am Tier, das augenblicklich zuschnappt, an der fortstoßenden Bewegung des Menschen, wie unwillkürlich hier zwischen Ein- und Rückwirken die Verbindung ist, wie schwer sie beherrscht werden kann. Die einfachen, vom Reiz aus determinierten Abwehr- und Schutztriebe sehen wir schon in ihrer typischen Gestalt bei niederen Tieren. In dem SichZusammenziehen niederer Tiere liegt eine elementare Form dieser Tiere. Bei der Berührung schließen Muscheln ihre Schalen, Würmer flüchten in den Sand, Schnecken in ihr Gehäuse. Eine andere Triebform, welche dem feindlichen Eingriff antwortet, ist die Abwehrbewegung. Die einen Tiere spritzen Flüssigkeiten widriger Art aus, was bei manchen Menschen als Schimpfen auftritt, die anderen wehren sich mit Kiefern, mit Rückenflossen, mit Tatzen oder Hufen. Kleine Tiere ringeln sich zusammen und stellen sich tot, wieder andere schrecken ihre Feinde durch lautes Geräusch, durch plötzliche Veränderungen ihrer Körperformen, drohen mit ihren Waffen. überall in dieser Tierwelt die einfachen Typen der Formen von Trieb, Affekt und Bewegung, die uns dann in der menschlichen Gesellschaft begegnen. Schon die höheren Tiere zeigen kompliziertere Formen von Schutz und Verteidigung; auch hier tritt dem Angriff gegenüber überall die Doppelform von Flucht und Abwehr je nach dem Naturell und den Mitteln des Geschöpfes auf. Schneider erzählt, als einst im Aquarium von Neapel ein
Transformation der Triebe
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Menschenhai in ein Bassin getan wurde, in welchem sich eine größere Anzahl Balistas befand, waren diese bei der ersten Wahrnehmung des schon sterbenden Feindes wie ein Blitz dem Auge entschwunden. Sie konnten nicht fliehen, hatten sich aber so an die FClsen gedrückt, daß sie schwer an demselben zu bemerken waren. Man sieht die Schnepfe sich geschickt in ihrem Versteck niederducken; wie die Vögel ducken sich auch die katzenartigen Raubtiere; es ist dieselbe Bewegung, welche auch der Mensch gewissen Formen eines Angriffs gegenüber unwillkürlich macht. Andere Tiere schützen sich durch mühsam angefertigte Hüllen, und hier treten nun dann weiter jene zusammengesetzteren Instinkte auf, welche vom SichVergraben eines Wurmes im Sande aufwärts führen zu den Dörfern der Termiten. Dem stehen dann die Abwehrbewegungen gegenüber. In diesen entfalten sich in der Tierwelt die Emotionen des Mutes, des Zornes, des Hasses. Wie wehren sich die meist sehr mutigen, zu Zorn und Angriff sehr anregbaren männlichen Vögel auch ganz überlegenen Feinden gegenüber! Der Bär und der Gorilla entreißen zuweilen dem Menschen die Waffe, zerbrechen und zerbeißen sie. Die List des Affektes, welche im Abschrecken des Feindes liegt, macht sich in der höheren Tierwelt wie dann in der Menschenwelt schon sonderlich bemerkbar. Vögel sträuben das Gefieder, die Brillenschlange breitet die Haut zu bei den Seiten des Halses zu einer großen platten Scheibe, dem sogenannten Schilde, aus. Andere Tiere erheben den Rücken, sträuben die Haare, blecken mit den Zähnen, brechen in Geheul aus. Alle diese Formen von Abwehr kehren als Triebbewegungen innerhalb der Menschenwelt wieder und entfalten sich dann zu den sich mit Bewußtsein auslebenden Emotionen. Auch da ducken, flüchten und verstecken sich die Schwächeren; die Mutvolleren wehren sich, beide Klassen versuchen es mit Drohungen. Mäßigen Angriffen auf das Selbst gegenüber blähen sich zunächst viele Menschen; werden die Angriffe hefl:iger, dann usw. Triebartige Drohungen liegen in dem Erheben der Stimme, beim Streit im Verhalten der Fäuste, dem Entblößen der Zähne. Transformation zu Affekten und Leidenschaften Die Reaktion gegen den störenden Eingriff transformiert sich bei der Wiederholung und zunehmender Klarheit über die Ursache in den Affekt der Rache. Wenn dieser in einen festerem Zusammenhang im Willen tritt, entsteht der Haß als eine dauernde LeidenschafI:. Derselbe hat ganz verschiedene Quellen. Wir können darum jemanden hassen, weil er Zeuge einer unehrlichen Handlung von uns war, sonach aus einer Art von Schamgefühl. Ebenso hassen wir jemanden, der uns ein Opfer zumutet, das wir nicht bringen wollen. Auch hier liegt ein solcher uns störender Eingriff vor.
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Die Bewegungstriebe
Weitere Formen sind Religionshaß und Fremdenhaß. Er kann ebenso aus Vergleichungsgefühlen entspringen. Haß ist sonach immer eine abgeleitete Leidenschaft. Er erlischt mit dem Affekt, der seine Quelle war. Der Haß bleibt immer von dem Quellgefühl getragen. Im Gegensatz dazu schmiegt sich die Liebe den Lebensinhalten der Verhältnisse fein und zart an. Der Haß ist in starrer Befriedlgung in seinem Quellgefühl. Die Rache bei den Naturvölkern ist zu ihrer natürlichen Sittlichkeit gehörig: Rachegefühl, Zorn, Grollen, Ahndung, Genugtuung, der rohe Insult. Der ausgestochene Liebhaber prügelt den anderen. Das Duell ist die zivilisierte Rache. Im Leben, oder wenn im Drama oder Roman dargestellt, wenJet sich Sympathie dem Objekt derselben zu. Nachtragen wird nicht als Tugend empfunden. Kurz: Es wird in der modernen Zivilisation die Rache als natürlich, aber als unzweckmäßig und als anhaltendes Gefühl als Minderwert angesehn. Andererseits die neue Forderung der Sühne. Der Schrecken ist mit Recht von Bain als ein primärer Affekt dargestellt worden. Eine Erschütterung durch einen äußeren Angriff entladet sich in einem Reflexvorgang. Er ist sonach eine besonders bemerkenswerte Form von Abwehr- und Schutz sucht gegen Angriffe, nämlich gegen plötzliche und sehr starke. Dementsprechend auch die Bewegungen. Er ist ein Mittel in der Kunst zu rohen Wirkungen. Lear und Macbeth, die Hexenszene, der Freischütz sind voll von Schrecken, gemindert durch räumliche Entfernung und das Bewußtsein der Bühnenillusion. Herrschaft einer großen Seele auch im Schrecken. Dürer: der Ritter zwischen Tod und Teufel.
Die Bewegungstriebe und das Ruhebedürfnis Von den Zuständen des Muskels gehen beständig Triebe aus, welche mit Bewegungsmechanismen in regelmäßiger Beziehung stehen. Die Bewegungstriebe sind an allen willkürlichen Muskeln wirksam. So bedingen sie das körperliche Lebensgefühl in jedem gegebenen Augenblick. Sie grenzen gleichsam die Muskulatur von der Außenwelt ab. Wie mächtig sie sind, zeigt der Schmerz und die Unruhe in dem eingesperrten Raubtier oder in dem gefangenen Menschen. Wir setzen uns nicht in Bewegung, um ein Ziel zu erreichen, Bewegung ist unsere Natur. Diese Bewegungsgefühle, die Unruhe des Organischen, empfangen eme Steigerung durch die Veränderungen in den Zuständen der Organe. Aus diesen stammen Reize, welche wiederum als Triebe wirken. Die Vergeistigung dieser Triebe liegt in dem Freiheitsbedürfnis. Sie sind die sinnliche Unterlage dieses Bedürfnisses. Denn, sinnlich angesehen, fordert es die Abwesenheit jeder Art von Hemmung der Bewegung.
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Die UmuJandltmg der Triebe
Dem Bewegungsantrieb folgt im rhythmischen Wechsel das Verlangen nach Ruhe. Auch dieses Sinnesgefühl ist zunächst physiologisch in den Zuständen des Muskels und der mit ihm verbundenen Nerven begründet. Es wird aber dann die Unterlage geistiger Stimmungen, von Ruhe, Muße, tiefem Behagen, indem diese Gefühls- und Triebform Verbindungen mit denen anderer Klassen eingeht.
§ 7 Die bei der Umwandlung der Triebe in Triebbegierden und Leidenschaften stattfindenden Pro z e s s e. Die S tell u n g der s 0 e n t s t ehe n den Begierden, Affekte und Leidenschaften im biologischen und sozialen Haushalt 1. Wo ein Trieb die Grundlage bildet, da dauert das Wirken desselben auch fort in den Umformungen, welche er erleidet. Und zwar wirken die Triebe in Umformungen, in denen sie nur für die Analysis noch erkennbar sind, fort. Beispiel: Die Liebe zum Gelde kann zur alles bezwingenden Leidenschaft werden. Diese hat aber ihre Triebkraft darin, daß es Genüsse repräsentiert, welche zu den Trieben in Beziehung stehen und vielleicht noch mehr dadurch, daß Geld für den Schutztrieb eine Art von Garantie enthält und dem mit dem Bewegungstrieb verbundenen Freiheitsgefühl eine Sicherheit gewährt. 2. Die Triebe treten (wie Schneider zuerst gezeigt hat) in vier verschiedenen Formen auf, welche sich auseinander nach psychologischen Gesetzen entwickeln. Man unterscheidet den Empfindungs-, Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Gedankentrieb. Das sind Transformationen aus der elementaren T rieb-Ta tsächlichkei t, welche auf allen Gebieten stattfinden, ganz abgesehen von dem Stoff, an dem es stattfindet. Die elementaren empfangen eine höhere Bildung und werden geeigneter, in den Haushalt des sittlichen Lebens eingefügt zu werden. Alle elementaren Triebe erhalten sich, gleichviel in welcher Stärke, vermittelst dieser Transformation als Begierde, Leidenschaft innerhalb der t:5konomie des Einzellebens und der Gesellschaft. Man kann die Triebe nicht loswerden. Sie können transformiert, in ihrer Wirkung eingeschränkt, aber nicht vernichtet werden. Sie sind die unzerstörbaren Unterlagen aller Willensprozesse. Die Triebe behaupten sich in den Grenzen der Tendenz, mit möglichst weniger Reibung, welche den Effekt stören, die Befriedigung dieser Triebe zu erlangen. Denn jede Reibung hat eine Minderung der Selbsterhaltung und Kraft, die erstrebt wird, zur Folge. So ergibt sich schon aus der Tendenz, die Triebe zu befriedigen, daß Haß, Kampf vermieden und Kooperation nach Tunlichkeit gesucht wird. So. also eliminiert man aus der Rache den Haß und behält nur die zweckmäßige Vergeltung.
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Verneinende, beschränkende lind bildende Ethik
3. Andererseits beruht die Ausbildung der Zweckmäßigkeit in diesem Vorgang in der Durchbildung einer zweckmäßigen Koordination der Bewegungen, welche den Trieb verwirklichen. Diese Koordination vererbt sich fort (Katze, Jagdhund, Jäger und Stubenhocker). Diese Fortbildung ist ein wichtiger Bestandteil der sozialen Fortbildung. Es wird das Bewußtsein entlastet, wir erhalten immer mehr Sklaven. Anderseits die Ausbildung der Koordinationen durch Kooperation vieler Personen. Dieses wird Sitte, Recht, Staatseinrichtung, Arbeitsteilung zur Folge haben. Die von den Trieben unabhängigen sinnlichen Gefühle 1. In dem Maße, in welchem Triebe mächtig sind, geht ihre Naturgewalt unaufhaltsam aus der zentralen Tiefe des tierisch-menschlichen Wesens hervor, wie ein Gebirgswasser sich seinen Weg bahnt. Und zwar unterliegen die Triebmechanismen in der Tierwelt und bei den Naturvölkern einem periodischen Wechsel. Es bezeichnet eine höhere Kulturstufe, wenn ihr Hervortreten Reize der Außenwelt von einer bestimmten Kraft bedarf. Von ihnen sind nun aber Gefühle und triebförmige Regungen unterschieden, in welchen die Natur der Reize überwiegt, demzufolge Gefühl und Trieb weniger energisch und mit dem Vorstellungsleben verschmolzen auftreten. Hier also greift ein die überlegene Macht des Milieus, verglichen mit den Lebewesen. Die Triebe und Leidenschaften suchen sich zwar immer einen Weg, aber das Lebewesen findet sich dabei bloß von außen bedingt. Und in dem Maße, in welchem der Intellekt stärker ist, der Wille freier, wird die Abhängigkeit schwerer getragen, nehmen Furcht und Hoffnung überhand, wird der Zufall dem Menschen zur Qual. 2. So treten neben die Triebe und ihr System das System der objektiven Ursachen von Gefühlen in der Außenwelt und die regelmäßigen Beziehungen von Gefühlen zu diesem System. 3. Und hier tritt nun deutlicher eine Tatsache des Willenslebens hervor, welche in allen Willenserscheinungen mitbesteht. Diese Tatsache enthält die Rückwirkung der Triebe auf diese. Gefühl- und triebartige Volitionen rufen eine Konzentration, eine gesteigerte Bewußtseinserregung hervor, welche einem starken Wellenkreis zu vergleichen ist. Diese Bewußtseinserregung ist äquivalent dem Auftreten von elementaren Prozessen zwischen den beteiligten Vorstellungen. So umgibt die Leidenschaften gesteigerter Glanz.
§ 8 Verneinende, beschränkende und bildende Ethik 1. Alle diese Triebe haben eine Außenseite, nach welcher sie als körperliche Organe, Funktionen, Prozesse sich der sinnlichen Wahrnehmung dar-
Verneinende, beschriinkende und bildende Ethik
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stellen. In ihnen herrscht die Notwendigkeit der äußeren Natur. Hunger haben, aus dem Unbewußten entspringender Trieb zu essen ist psychisch und doch zugleich Naturvorgang. Ich nenne diesen seelischen Tatbestand die psychische Animalität. 2. Auf diese kann zunächst, indem man sie wachsen läßt, aber verwirft und bekämpft, ein Druck von außen ausgeübt werden. Eine Moral, welche dieses tut, nennen wir be s c h r ä n k end. Sofern dieselbe sie gänzlich verwirft und die ganze psychische Animalität aufzuheben strebt, nennen wir sie ver n ein end. Die Moral der Stoa und Kants war beschränkend. Die Moral der Neuplatoniker, der christlichen Gemeinde, der Buddhisten, Schopenhauers ist verneinend. Beide Standpunkte sind Unterdrückung der Natur, Kampf, und so entsteht ein Dualismus des Willens, hohe Animalität und spiritualistischer Wille nebeneinander. 3. Das Prinzip der Bildung des Trieblebens ist in Schleiermachers bildender Ethik abstrakt ausgesprochen. Sie gestaltet die Triebe. Daß sie bildet, ist ein großes Verdienst, es fehlt aber die konkrete Begründung. Diese liegt in der Erkenntnis und Benutzung des psychophysischen Verhältnisses. Das Mit tel der B i I dun g der p s y chi s ehe n A n i malit2.t zu einer mit dem höheren Leben zusammenstimmenden und freudigen Lebensform liegt in der D i ä t, das Wo r tim w e i t e s t e n Ver s t a n d e gen 0 m m e n. Hierauf beruhte auch die schöne Lebensgestalt des griechischen Ethos in seiner besten Zeit. Plato schon klagt über die Auflösung durch den Luxus. Die Mäßigung und richtige Leitung der Ernährung, die Veorstärkung der körperlichen übungen und Tätigkeiten sind die wahren Mittel, Lebensfreudigkeit in einem gesunden Körper zu erhalten und den Geschlechtstrieb in seiner natürlichen mäßigen Form.
§9 Die von der Beschaffenheit der Volitionen s"lber bedingten Gefühle und die aus ihnen entspringenden Regungen Wir treten in ein schwer zu behandelndes, bisher undurchforschtes Gebiet: Aber es enthält die erste, von uns aufzudeckende Gewalt des Sittlichen. Und zwar erfassen wir hier den Kern einer männlichen Ethik. Die Engländer des 18. Jahrhunderts haben ihn nur darum nicht richtig gesehen, weil ihre psychologische Analyse zu unvollkommen war. Das Urteil des Zuschauers ist allerdings durch die Sympathie bedingt, aber es hat zu seiner primären Grundlage diese Gefühle, die an die Beschaffenheiten der Voli-
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Die gefühlten Eigenschaften der Volitionen
tionen sich anschließen. Darum ist dieses Urteil nur sekundär. Andererseits die aristotelische Eudämonie, das Bewußtsein der in sich gegründeten Charakterkraft in der Stoa, das moralische Prinzip der kantischen Ethik sind Formeln für denselben Kern; nur daß die Psychologie unzureichend und so das Prinzip einseitig und isoliert auftritt. Kants Pflichtbewußtsein ist eine bloß formale Fassung. Mut, Charakterkraft, Ausdauer, Festigkeit, Konsequenz, Treue, freudige Energie der Arbeit sind gefühlte Eigenschaften der Volitionen, welche die Freude des Willens an sich selbst, ein die Volitionen begleitendes freudiges Gefühl, das aus den bloßen Beschaffenheiten entspringt, ausdrücken. Diese Gefühlszustände sind daher von der Umgebung und den Lebensbedingungen unabhängig. Gelingt es, ihre Macht zu stärken, so fällt dadurch nunmehr die Entscheidung über Glück und Unglück in die Person selber, und zwar in die bloße Beschaffenheit ihres Willens. Daher ist das heroische Lebensgefühl in diesen Gemütszuständen gegründet und gestaltet sich aus den Verbindungen derselben. Der heroische Wille ist aber das Ideal aller Nationen in ihrer Jugendepoche, in der Zeit ihrer Männlichkeit der Hauptbestandteil des ethischen Ideals, und erst die alternden Völker entwickeln ein kontemplatives Lebensideal. Eine weitere Perspektive tut sich in dem Satz auf: Eine starke Natur inkliniere, den überschuß der Kraft in aktivem, wohlwollendem Wirken zu verwerten. Frohes Selbstgefühl findet sich überall sympathisch berührt und möchte die ganze Welt umarmen. Schwäche im Gegensatz macht schlaff und mürrisch, voll Abneigung. Ferner Zusammenhang von Treue und HaI ten von Verbindlichkeit. Das ist nun der Griff, den wir suchen: wir wollen psychologisch so den Kern des ursprünglichen Gehalts von Tugend zu erfassen suchen. 1. Das einfachste Gefühl dieser Art ist das freudige Bewußtsein der Kr a f t, die Steigerung des Lebensgefühls, welche mit ihr verbunden ist. Der Reflex davon ist die Freude an jeder Kraftäußerung, die an anderen gewahrt wird. Energie des Willens gefällt, Schwäche mißfällt. 1. Der Aufwand von Arbeit, in welchem der Impuls die Bewegung ausführt, und der Widerstand ist zunächst in der sinnlichen Sphäre das Maß für das freudige Bewußtsein, das die Handlung begleitet und das Gefallen, das ihr der Zuschauer entgegenbringt. Hier liegt die in einer gegebenen Zeitdauer aufgewandte Arbeit des Willens vor, welche einen bestimmten Grad hat, der sich an der ausgeführten Bewegung und den aufgehobenen Hindernissen messen läßt. Ein Kind, das sich von einem nicht Stärkeren ohne Gegenwehr schlagen läßt, empfindet Scham. Ein Mann, welcher auf einen Schlag keine Gegenwehr hat erfolgen lassen, gleichviel welche die Kraft des Gegners war, kann
Die gefühlten Eigenschaften der Volitiof1fn
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sich das nie verzeihen. Hier wirkt das Bewußtsein VOn Schwäche. Es scheint allein zu wirken, wo kein Zuschauer vorhanden ist. Wo solche zusehen, da ist das Gefühl mit dem Reflex der Handlung auf das Urteil der Zuschauer und von diesen auf den HanJelnden verbunden. Dieser Reflex wird verstärkt durch die Äußerung dieses Urteils: Lachen, Achselzucken etc. Aber auch wenn der Betroffene allein ist, sind gleichsam unsichtbare Zuschauer um ihn her, nämlich die Vorstellung, wie sie urteilen würden. An diesem Punkte berühren sich moralische und ästhetische Gefühle. Die Freudigkeit der Kraft, die sich in der Arbeit schneller, zweckmäßiger, leicht elastischer Bewegungen kundtut, das Wohlgefallen. am elastisch schreitenden Gang, am Sprung des Löwen, an der physischen Energie des Mannes, ist bedingt durch das Verhältnis von Impuls, angewandter Arbeit, Muskelbewegung. Und von da kommt die gehobene Stimmung, welche der rollende Donner, das flutende, brausende Meer hervorbringt. In diesem primitiven Kern ist das moralische von dem ästhetischen Gefühl nicht getrennt. 2. Einer höheren Stufe der Kultur gehört das Kraftgefühl des auf geistige Ziele gerichteten Willens an. Die Odyssee würde die List ihres Helden, seine verschlagene geistige Energie nicht als Ideal hinstellen können in einer noch heroischen Epoche, träte dieses geistige Kraftgefühl nicht mit überlegener physischer Kraft und physischem Mute gepaart auf. Auch in dem Ideal epischer Dichtung des Nordens ist die Verschlagenheit der seefahrenden Männer stets gepaart mit ihrer Kraft. Auch muß zugestanden werden, daß die Energie der bildenden, gestaltenden Kraft nicht mehr von der Lebensfreude begleitet ist als die des Impulses körperlicher Bewegungen, und die Energie der Arbeit, die in der Aufmerksamkeit auf geistige Objekte geleistet wird, ist wieder von einem geringeren Grade der Lebensfreudigkeit und entsprechender Freude der Zuschauer begleitet. Der Aufwand der Arbeitsleistung zieht sich immer mehr in die Unsichtbarkeit zurück. Die Kraft des Leidens ist ethisch genommen ebenso unsichtbar als an Größe überlegen der des zuschlagenden HandeIns, aber ihr fehlt der herois'che Glanz, der die aktiven Helden des Volkes umgibt. Die Willenskraft wird in ihr gleichsam meta-physisch, tritt in Geheimnis, Schweigen, Unsichtbarkeit, Unhörbarkeit, Innerlichkeit zurück. 11. An das freudige Kraftbewußtsein schließt sich als Beschaffenheit des Willens, welche einen überschuß von Willenskraft besitzt, über Gefahren hinweg ein Ziel zu erreichen, der Mut, und seine Steigerung in der Kühnheit. Der Zusammenhang von Kraft des Willens und Mut kann durch viele Tatsachen belegt werden. Zunächst ist schon Kraftüberschuß überhaupt
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Mut, Kühnheit,Arbeit
den Mut befördernd. Herz haben, beherzt sein, sich ein Herz fassen usw. deutet auf die physiologische Unterlage. Ein schmächtiger Körper kann einen überschuß an verfügbarer Energie produzieren, ein Riese kann Mangel an physischer Kraft haben. Die Bedingtheit des Mutes von physischen Zuständen ist daraus am deutlichsten zu sehen, daß auch der Feige sich Mut antrinken kann - Holländermut. Selbst das Essen wirkt darauf. Aber näher handelt es sich um disponible, überschüssige Willensenergie. Diese kann ja physische Bedingungen haben, aber wir haben keinen Grund, sie als ein bloßes Korrelat physischer Leistungen anzusehen. Nicht durch mächtigen Körperbau kündigt sich ein über das Gefühl physischer überlegenheit hinausreichender Mut an. Man erlebt ja, daß mächtige Körper gerade dem Leide gegenüber sich als mutlos zeigen. Mut kündigt sich in schnellen und doch abgemessenen Bewegungen, in festen Blicken an. Wenn im Bette der Mensch sich gleichsam außer Aktion findet und durch die Müdigkeit die verfügbare Willenskraft herabgesetzt ist, befallen auch den Mutigen schwere Gedanken. Das Merkmal des Mutes liegt gerade in der Freudigkeit und der gehobenen und festen Stimmung, mit welcher ein Mensch der Gefahr entgegengeht. "König Wilhelm der Dritte von England war sonst ernst in sich verschlossen, aber gerade in der Gefahr heiter." Dieses freudige Gefühl ist verbunden mit einer Art von übersehen von Gefahr oder von sicherem Leide, hervorgehend aus einer ganz ursprünglichen Beschaffenheit von Wille gegenüber Gefahren oder sicheren übeln, die nicht weiter erklärt werden kann. Wie es Menschen gibt, welche überall Gefahren wittern, nicht durch eine Eigenschaft des Intellekts, sondern des Gemütes, auf denen immer übel lasten, so schütteln andere das alles ab. Dies ist eben eine originäre Beschaffenheit von Wille, welche auch aus dem bloßen Kraftüberschuß nicht folgt. Eine Steigerung des Mutes in bezug auf Gefahren (nicht auf sichere übel) ist die Kühnheit. Der Mutige begegnet fest der Gefahr, der Kühne sucht sie auf. III. Energie, Fleiß, Arbeit, - die auf Arbeit dauernd verwandte Tatkraft. Ar bei t ist der Aufwand von Kraft, welche einer Leistung zugewandt wird. Diese Aufwendung ist eine Beschaftenheit oder Form des Willens, welche mit dem Mut in der Konzentration auf ein Ziel, in dem Aufwand von Kraft, in den dadurch bedingten Verzichtleistungen einstimmig ist. Der Unterschied liegt darin, daß Natur und Lebensbedingungen dort einen großen heroischen Willensaufwand, hier einen stetigen und unablässigen fordern. In bei den Fällen ist mit dem Aufwand eine Verstärkung des Lebensgefühls verbunden. Tetens nimmt an, daß dieser Willensaufwand eine Zunahme der psy~ chischen Kraft zur Folge habe. Dies scheint mit der Erfahrung in übereinstimmung. Man kann annehmen, daß aus dem Reservoir der körper-
Konsequenz, Bebarrlichkeit, planmäßige Einbeit
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lichen Spann kräfte oder daß aus psychologischen Spann kräften (unbewußten) dieser Umsatz stattfindet, oder daß mit einem korrelatorischen körperlichen Vorgang eine solche psychische Kraftzunahme stattfindet. Eine solche Ansicht würde dann im seelischen Reiche eine Zunahme differenzierter Kräfte anzunehmen haben. Die natürlichste Ansicht wäre die bestimmte Auslösung von in der organischen Natur als deren Inneres enthaltener psychischen Spannkräfte, welche man auch als das Unbewußte bezeichnen könnte. Dieser Panpsychismus oder Pantheismus (in Fechners Weise) entspricht vielleicht besonders gut der Tatsache. Und zwar fiele dann gerade in die psychologische Innenseite das Prinzip der Evolution, die Entwicklung in der Natur. IV. Konsequenz, Beharrlichkeit, planmäßige Einheit in den Volitionen. Kraft der Volition und des Gefühls hat zur Folge die Dauer ihres Fortwirkens. So erscheint für uns in dem langen Atem des Wollens und Fühlens die Energie desselben. Es ist erhaben, den Oranier viele Jahre hindurch still und ohne äußeren Schein den Aufstand der Niederländer vorbereiten zu sehen. Es ist erhaben, Kant von den ersten 60er Jahren an bis 1781 still an der Kritik der reinen Vernunft arbeiten zu sehen. Es ist läppisch, wenn jemand einen Toten betrauert, ba.ld aber Vergnügungen nicht entbehren und in der Einsamkeit nicht verharren kann. Diese Wirkung wird gesteigert durch die Einheitlichkeit in den Volitionen, welche ein korrelativer Grundzug von einer Willens steigerung ist. Diese Einheitlichkeit wird immer erst aus dem mannigfaltigen Triebleben hergestell t. Je kra.ftvoller dieses ist, um so größeren Willensaufwandes bedarf es dazu, desto reicher ist aber dann auch dieser erworbene Zusammenhang der Willenshandlungen. Die Möglichkeit dieser Herstellung von Einheit liegt aber in den Bewußtseinseigenschaften, welche das Selbstbewußtsein ermöglichen. So ist die Konsequenz, die Treue, die Planmäßigkeit eine Leistung des Aufwandes von Kraft unter Bedingungen, welche in die tiefste metaphysische Natur der menschlichen Volitionen hinabreichen. Auch hier liegt eine Beschaffenheit des Willens vor, die mit dessen metaphysischer Natur zusammenhängt, in der freudige Steigerung der Person erlebt und an anderen als wertvoll genossen wird. V. Hingabe des Willens an die ihm aufgehenden Zwecke in dem Maße, in welchem sie über das Eigenleben an Größe hinausreichen. Nun tritt aber im Willen eine weitere Grunderscheinung - gleichsam ein Urphänomen - auf. Das Seelenleben fühlt sich erweitert, gesteigert im Verhältnis der Größe und Mächtigkeit der Bilder, die es in sich aufnimmt, der Begriffe, des Wertes, der Zwecke, denen es sich hingibt. Dies ist eine Eigenschaft, ohne welche es Größe, Erhabenheit in der geistigen Welt überhaupt nicht geben würde. Man kann nicht von der Größe
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Das moralische Bell'liß/sein der eigenen Willensbe.fchaffenheiten
für die Seele diese Wirkungen ableiten, sondern muß aus dieser Beschaffenheit ableiten, daß Größe, Erhabenheit erschüttern können. Hierauf beruht nun aber die Hingabe des Willens an die großen, über das Individuum hinausreichenden Lebenszwecke, Kultursysteme, Verbände.
§ 10 Das in diesen Urphänomenen des moralischen Lebens enthaltene moralische Bewußtsein der eigenen Willensbeschaffenheit und Handlungen 1. Die Volition verläuft in drei Stadien, wo sie gleichsam ihren vollen
und normalen Verlauf hat. Auf die Triebe und die durch die Außenwelt bedingten Gefühle und die in ihr gelegenen objektiven Ursachen derselben gründet sich das System der Bedürfnisse und als die Form ihres Bestandes Gefühl, Leidenschaft, Affekt, Volition. Diese rufen einen Willensaufwand hervor, der in irgendeiner Form Leistungen vollbringt, welche den Trieben, Impulsen und Bedürfnissen der Menschennatur in ihrem Verhältnis zu den objektiven Ursachen dienen, und aus diesen Tätigkeiten entspringen vielfache Formen der Befriedigung, der Zufriedenheit, des Genusses, der Muße. 2. Der Zusammenhang von Trieb und Begierde ist notwendig und gleichsam mechanisch und nur die Innenseite der Animalität. Alle mit dem Bewußtsein der Freiheit verbundene und sozial gestaltende Tätigkeit ist Willensaufwand in seinen verschiedenen Formen. 3. Dieser Willensaufwand ist einerseits seiner Natur nach von Unlustgefühlen begleitet, andererseits aber ist er, wenn der genügende Vorrat von Willenskraft vorhanden ist, in allen Fällen, als Mutbetätigung, als Arbeit, als planmäßiges Handeln von einer Hebung der Gefühlslage begleitet, gleichsam erfüllt. 4. Und zwar ist dieser Willensaufwand vom Bewußtsein von Freiheit begleitet, Ursache eines Wachstums der Willensenergie - und tritt so in einen uns unbekannten metaphysischen Zusammenhang.
§ 11 Die in diesen Urphänomenen enthaltenen Gefühlsurteile über die Handlungen anderer und das Prinzip dieser Wertbestimmungen Der Vorgang, in welchem die Erfahrung des Eigenwertes einer Willensbeschaffenheit und das Gefühlsurteil über den Wert einer fremden zusammenhängen, ist einer mehrfachen psychologischen Deutung fähig. Man kann das sittliche Urteil als einen Reflex aus der Erfahrung des eigenen
Die Gejühlsurteile über die Handlungen anderer
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Wertes einer Beschaffenheit ableiten; oder man kann beide Arten von Gefühlen als gleich ursprünglich ansehen; oder man kann das Bewußtsein des Eigenwertes ableiten als einen Reflex aus der Beurteilung anderer (Hume); oder man kann aus dem Erfolg und Nutzen einer Beschaffenheit beide Arten von Wertgefühl vermittels eines Schlusses entstanden denken. Die letztere Auffassung wird definitiv durch die Analyse der eben betrachteten Vorgänge als irrig aufgezeigt. Wir können nun beginnen, den Utilita r i s mus aus den ps y chi s c h e n Tat s ach e n zu w i d erle gen. Die freudige Erweiterung des Selbst, welche die Betätigung der Energie, des Mutes, das folgerichtige Geltendmachen der überzeugung begleitet, ist ein primäres Erlebnis, aus welchem dann das Werturteil über solche Willensbeschaffenheiten entfließt. In demjenigen muß niemals etwas von heroischem Lebensgefühl pulsiert haben, welcher das Gefühl vom Werte des Mutes oder der Charakterfestigkeit auf deren Nutzen zurückführt. Dagegen haben wir kein Mittel, zwischen der Auffassung des Gefühlsurteils über andere als eines primären Vorgangs oder eines Reflexes zu unterscheiden. In jedem Fall aber ist es ein Bewußtseinsbestandteil, in welchem Zusammenstimmen, Verwandtschaft enthalten ist, welcher die Erfahrung des Eigenwertes mit dem Gefühlsurteil über die Willensbeschaffenheit Anderer verbindet. Die Solidarität aller menschlichen Wesen, das im Gefühl gegebene Wissen von derselben, bildet die Unterlage. Diese bewußte Solidarität erstreckt sich auf alle Geschöpfe. "Dies Gefühl entwickelt bekanntlich unter Umständen eine ungemeine Gewalt. Es ist gefährlich, Rinder über eine Stelle zu führen, die vom Blute ihresgleichen gerötet ist. Der Anblick dringender Lebensgefahr hat schon oft ganz unbeteiligte Zuschauer zu heroischen Taten und selbst zu selbstverleugnender Aufopferung des eigenen Lebens entflammt. Nächst dem von eigner Gefahr Eingegebenen gibt es kaum ein Stärkeres, Ergreifenderes, Affektvolleres als dieses. Daß die Solidarität des Mitgefühls auch über die Grenzen der Menschen hinausreicht, ersieht man daraus, daß auch die Tötung von Tieren mit ganz analogen, bisweilen schwächeren Gefühlen erfüllt" (Horwicz, Analyse der qualitativen Gefühle, S.309f.). Mitleid, Mitempfindung, Sympathie, Wohlwollen, Ehrgefühl haben alle dieselbe Grundlage, die auch dem sittlichen Urteil eignet. An diesem Punkte kann die berühmte Lehre von Hume und Adam Smith verstanden und beurteilt werden, nach welcher in der Sympathie die Grundlage des sittlichen Urteils über Handlungen und Willensbeschaffenheiten anderer Personen gelegen ist. Diese Sympathie ist nach Hume im letzten Grunde eine Art von Mitbewegung, ein Hinüberzittern des Gemütsvorgangs aus einem lebendigen Wesen in das andere. Adam Smith hat dieses Miteinanderfühlen der Menschen gründlich analysiert, und er findet, daß 7Pi
Dilthey, Gesammelte Schriften X
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Der psychologische Schein der eudämonistischen AujJasS/lfig
die Sittlichkeit ihren Erkennrnis- und ihren Realgrund gemeinsam in der Sympathie hat. Nach ihm wird die Nachbildung eines Gefühls durch deren Anzeichen oder Anlaß hervorgerufen, ist schwächer als das originäre Gefühl. Der Mangel dieser Theorie liegt darin, daß sie ohne die sittliche Eigenerfahrung ableiten will, da sie diese ja als einen bloßen Reflex ansieht. In Wirklichkeit ist aber die Freude am Mut, der Energie, der Aufopferung Anderer jedenfalls verbunden mit den Gefühlserfahrungen des eigenen Wertes solcher Willensbeschaffenheiten.
§ 12 Der psychologische Schein der eudämonistischen und utilitaristischen Auffassung der behandelten moralischen Urphänomene Der Hauptsatz meiner Auffassung des Utilitarismus war: Derselbe bleibt am psychologischen Schein in der sittlichen Welt haften. Derselbe kann jetzt eine e r s t e Begründung erhalten. Die Willenbeschaffenheiten, welche an sich von dem freudigen Bewußtsein gehobener Gefühlslage begleitet sind und Bewunderung, Begeisterung, Beifall bei anderen hervorrufen, sind die Sprungfedern alles Handelns, welches über das Triebleben und die Benutzung der objektiven Ursachen von Gefühlen im Interesse der Person hinausreicht. Sie sind die moralischen Kräfte, welche überhaupt allein zur Herstellung von allgemeinem Wohl auf Grund des Trieblebens, zur Leitung desselben, zu seiner überwindung, zur Herstellung einer auf das Wohlsein gerichteten Einstimmung der Triebe und des Individuums zur Verfügung stehn. Der Mut kann auch in den Dienst des Verbrechens treten. Die Geschichte großer Räuber hat infolge hiervon eine Anziehung nicht bloß für die rohen, nein auch für die höheren Instinkte und natürlichen Gefühle der Massen, welche dem Abscheu gegen das Verbrechen das Gegengewicht hält. Dieser ist eine verfügbare höhere Kraft, an welche Beifall geknüpft ist. Als solche Kraft ist er auch unmoralischer Verwendung fähig. Aber auf ihn ist, nach seiner höheren Grundnatur, der Aufbau einer über das tierische Leben hinausreichenden, die Wohlfahrt befördernden Ordnung gegründet. Planmäßiges Handeln kann in jedem zweifelhaften Börsengeschäft, in der Karrieresucht des schneidigen Egoismus verwandt werden. Die Kräfte, welche Solidarität, tätig-energisches Zusammenwirken, gemeinsame Wohlfahrt, höhere Leistungen in der Gesellschaft bewirken, erweisen sich sonach den Interessen derselben nützlich, Lust und Wohlfahrt befördernd.
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Die Fremdgefühle
So entsteht der psychologische Schein, daß aus diesen ihren Erfolgen die Freude an ihrer Betätigung und die Anerkennung derselben an Anderen entspnnge. Dieser Schein löst aber die konkreten Impulse in eine sentimentale Wohlfahrtsmoralität auf. Das heroische Gefühl, die Schaffensfreude, die Hingebung werden eliminiert im Dienst einer öden Gleichmacherei und Mechanisierung. Das Sittliche dieser Gefühle kann nicht getrennt werden von ihrer Kraft, Zufriedenheit herbeizuführen. Denn der Mut, Konsequenz usw. gewähren eine Zufriedenheit, die von den äußeren Affekten, Furcht, Hoffnung etc. freimacht. Diese Gefühle haben die Fähigkeit, die Leidenschaften und die Triebe bis zu einem gewissen Grade zu beherrschen. So entsteht die Möglichkeit, in sich selbst Zufriedenheit zu erwerben. Diese Möglichkeit muß verbunden werden mit der, die Reibung in den Affekten zu vermindern. Hier die Fremdgefühle.
§ 13 Die Fremdgefühle und deren Ausbildung zu sittlichen Vorgängen 1. Alle Fremdgefühle, d. h. Gefühle, welche in der Berührung mit anderen Personen erregt werden, sind zusammengesetzt, und zwar die meisten in einem sehr hohen Grade. Sie bilden sich im Zusammenwirken der von einzelnen Vorgängen ausgelösten Erregungen; diese einzelnen Erregungen enstehen durch verschiedene, in sie eingehende Faktoren. Der Unteroffizier stürzt mit einem lauten Fluch auf eine bestimmte Stelle der Front los, und außer dem betreffenden Übeltäter werden auch andere Glieder derselben miterregt. Der leise Schrecken des ganz Unbeteiligten enthält in sich ganz verschiedene Gefühlsfaktoren verschmolzen, obwohl er völlig einfach erscheint. Das plötzliche, laute Geräusch, die derben Ausdrücke, ein unbestimmtes Gefühl, daß bei einem selbst auch nicht alles in Ordnung sei, die Ahnung, daß an einen selbst ein anderes Mal die Reihe kommen könnte, sind in dem leisen Erschrecken blitzschnell miteinander verschmolzen worden (Horwicz, a.a.O. S. 31 0). 2. Daher muß man bei der Übersicht über diese Gefühle und Antriebe von den einzelnen ausgehen; es wäre ganz irrig, Mitleid, Wohlwollen oder Liebe als eine allgemeine Gefühlsklasse zugrunde zu legen und nun die Einzelgefühle als deren Modifikationen zu betrachten. Dies tun viele Moralisten, sie drehen das tatsächliche Verhältnis um, sie sehen das Allgemeine als das Erste an. Mitleid, Liebe, Freundschaft, Patriotismus, Humanität sind ganz verschiedene, höchst komplizierte Gefühle, Stimmungen, Neigungen. j*
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Die Fremdgefühle
3. Aber in ihnen allen bildet ein elementares Verhältnis die Voraussetzung, welches zur Zeit nicht weiter aufgeklärt werden kann. Jedes Fremdgefühl kann nur vermittels einer Nachbildung des Vorgangs im anderen entstehen (Theorie des Verstehens). Diese Nachbildung ist nicht ein intellektueller Prozeß, sondern vollzieht sich vermittels einer Bewegung derselben Gefühle und Regungen, Antriebe, welche in der anderen Person stattfinden. Sonach beruht sie jederzeit auf der Gemeinsamkeit, der Solidarität der Menschennatur. Diese Nachbildung erstreckt sich nicht nur auf Lust oder Schmerz in anderen; Mitleid oder Mitfreude im engsten Verstande sind nur Teilgefühle aus diesem wirklichen Vorgang. 4. Hier entsteht aber nun folgender Unterschied: Im Nachbilden eines Wehrufs .ist mein Bewußtsein von Solidarität entschiedener, in einer anderen Person schwächer. Es geht mich der Ruf mehr an als den anderen. Dieses beruht darauf, daß die Elemente von Gemeinschaft zwischen Mitlebenden in einem mehr ausgebildet sind - ein ursprünglich moralischer Unterschied. Das Verstehen, Nachbilden vollzieht sich überall durch dieselben Vorgänge, welche in den anderen verlaufen. Es ist also in jedem Zug von einem Bewußtsein der Gemeinsamkeit, der Identität begleitet. Dieses hat nun die Form von Erlebnis. Dieses Bewußtsein nimmt mit jedem Vorgang zu, den ich mit anderen teile. Es wird jedesmal gemindert, wenn ich Trennung empfinde. Gewöhnung ist der stärkste Faktor. Dann, wenn ich es besonders zum Bewußtsein erhebe. Hierauf beruht die Wirkung des sittlichen Prinzips der Liebe, ebenso der Poesie der Liebe. Es wirken nun aber weitere Gefühle mit, in den Reflexen vom Selbst z. B. es kann mir ebenso gehen. Assoziationen, wie sie Hobbes und Spinoza betonten. Alsdann Einsamkeit läßt uns auf unsere schwache Person reduziert sem. Von neuem entdecken wir an diesem Punkte die psychologische Einseitigkeit und Oberflächlichkeit des Utilitarismus. Wir bilden nicht nur die Gefühle nach, welche Lust oder Unlust enthalten, Nutzen oder Schaden ausdrücken, vielmehr werden Beschaffenheit, Streben, Regung ebenso nachgebildet und rufen Gefühle hervor, welche mit dem Nachbildungsvorgang selber verbunden sind. Das Große erweitert die Seele, das Kleine kann vermittels des Vergleichs angenehme Gefühle von überlegenheit wachrufen. Vor allem aber ruft alles, was die Solidarität verstärkt, Reibungen ausschließt, Kooperationen, gegenseitige Durchsichtigkeit, Verständnis und Einverständnis zur Folge hat, ein entsprechendes angenehmes Gefühl hervor. Dagegen das Auseinandergehen der Interessen, das Nichtverstehen, die Undurchsichtigkeit, die Fremdheit werden in Wehegefühlen verschiedenen Grades empfunden. Dieses Solidaritätsgefühl würde mißverstanden werden, wollte man es allS der Berücksichtigung der vorteilhaften Folgen von Gemeinschaft, Ver-
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Die Solidarität, da.< fr/ohlwollen
ständnis, übereinstimmung ableiten. Es kann kein Zweifel sein, daß das Bewußtsein dieser Folgen ein Faktor in diesen Gefühlen ist; aber die Macht dieser Gefühle reicht so unermeßlich weit in vielen Fällen über diese Erwägung von Folgen hinaus, daß schon darum diese Erklärung kaum angenommen werden kann. Die Regungen gegenüber einem Ertrinkenden, Hungernden, Frierenden können die größten Opfer zur Folge haben, während die Erwägung der Folgen für uns unerheblich ist. Insbesondere aber macht sich die elementare Grundlage dieser Vorgänge in einem Alter geltend, in welchem das Rechnen mit den Folgen noch ausgeschlossen ist. Mein Knabe schrie mit anderthalb Jahren, sooft er glaubte, daß jemand von uns sich wehtue, oder daß jemand von uns von einer anderen Person verletzt würde. Ebenso zeigt sich hier, daß das Mitleid keineswegs ein Urphänomen ist, wie Schopenhauer annimmt. Das:;elbe ist vielmehr nur der Teilinhalt eines solchen Vorgangs. Diese Solidarität ist dasselbe Phänomen, welches auf dem Gebiete des Wissens als Allgemeingiltigkeit, als Streben nach derselben und Ruhen in ihr sich geltend macht. Wie im Denken Konstanz, Zusammenhang und Allgemeingiltigkeit Grundantriebe sind, so im handelnden Leben Konsequenz, Planmäßigkeit, Solidarität. Es sind augenscheinlich metaphysische Verhältnisse, welche sich wie in Ursymbolen in diesen Grundzügen ausdrücken, welche einander auf intellektuellem und moralischem Gebiete verwandt sind.
§ 14 Das Wohlwollen 1. Das Bewußtsein der Solidarität ist nicht eine theoretische Einsicht, sondern ein Gefühls- und Sinneszustand. In allen seinen Formen hat es zwar das animalische Miterzittern des Nervensystems zur Unterlage, aber aus diesem, an und für sich genommen, entspringt ebensogut die Grausamkeit des Wilden, das Vergnügen des müßigen Menschen an Leichenbegängnissen und Skandalgeschichten wie das Mitgefühl. In dem Mitgefühl ist das Bewußtsein eines Bandes das Mittelglied, welches zu tätiger Teilnahme hinüberführt. 2. Diese Beschaffenheit unseres Gefühls und Willens entwickelt sich in den verschiedenen Formen des gemeinsamen Lebens; in jeder dieser Formen ist das Bewußtsein des Bandes die wirksame Macht. Der Urkeim gleichsam wird sichtbar, wo sich im Lächeln und gütigen Blicken zwischen der Mutter und dem Kinde ein Band webt. Auch da, wo die Geschlechtsgemeinschaft ein wirkliches Band noch nicht herbeiführt, entsteht hier ein solches. Weitere Formen liegen dann in dem Familienbewußtsein, in der Gentil-
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Das Woh/wollen
gemeinschaft, im politischen Verbande, in Liebe, Freundschaft als Genossenschaft. In diesen festen Verhältnissen wachsen die Gefühle von Solidarität heran, sie sind die Schule aller höheren Gefühle von Wohlwollen, Liebe und Aufopferung. In ihrem festen Gefüge liegt jederzeit die gediegene Grundsubstanz derselben. 3. Schließlich entstehen die freien Formen von Interesse, Liebe und Freundschaft, die geselligen Gefühle; sie gehören niemals der sittlichen Substanz an, sondern sind nur ein Schmuck des Lebens. 4. Wir heben aus allen diesen Gefühlen als gemeinsame sittliche Substanz derselben ein Gemütsverhalten heraus, das wir als Wohlwollen bezeichnen wollen. Wir beschreiben es. Von der Enge, in welcher uns das Bewußtsein des Eigenwertes erhält, befreit uns das Wohlwollen. Unser Blick erweitert sich; soweit Wohl und Wehe, soweit Wert der Person verbreitet ist, breitet sich der wohlwollende Wille aus. Kant hat das Wohlwollen ausschließlich auf die Glückseligkeit des anderen bezogen. Ihm scheint sich Lotze anzuschließen, wenn er, gegen Herbart freilich mit vollem Recht, bemerkt, daß das Wohlwollen nicht ein nacktes Verhältnis der Willen enthalte, sondern in dem zweiten Willen Wohl und Wehe voraussetze. Er bezeichnet damit doch nur die äußerste Grenze, an der Wohlwollen beginnt. Wenn man nicht etwa die Schonung unempnndender Wesen in das Wohlwollen einschließt, welche doch, falls nicht hier ein durch die poetische Vorstellung eines inneren Empnndens derselben verkleidetes Wohlwollen vorliegt, auf andere Motive gegründet ist. Wohlwollen aber in seiner vollen und ganzen Verwirklichung trifft den anderen als Person, nach seinem unbedingten Wert, welcher analog der Erfahrung des eigenen Wertes nachgebildet wird. Daher erweitert und vertieft sich dasselbe beständig je nach dem Gehalt des Gegenstandes, wie er seinen Beweggrund bildet, und nach der Einsicht des wohlwollenden Subjektes in diesen Gehalt und das demselben homogene, wahre Interesse. Damit sich nun aber Wohlwollen, welches unseren Willen mit der Welt der Werte durch Wohl und Wehe und Wert nicht unserer selbst, sondern anderer verknüpft, über die einzelne Person erhebe, so müssen diese anderen vermöge einer dritten Synthese zu einem Ganzen geordnet sein. 5. Die Verbindung zwischen dem Mitgefühl und dem tätigen Wohlwollen drückt der Begriff der Te i I nah m e aus. I n ihm ist in ansprechender Weise die Solidarität als Unterlage des Wohlwollens bezeichnet. 6. Gleichgiltigkeit und Abneigung gehen unmerklich ineinander über. Mangel, Abwesenheit irgendeines Bandes zusammen mit einer Entfernung des Vorgangs, der einen Menschen zur bloßen Ziffer macht, haben ein gleichgiltiges Verhalten bei dessen Glück oder Unglück Zur Folge. "Daß uns eine sehr große Anzahl von Personen, vielleicht die große Mehrzahl derer, die wir kennen, völlig gleichgültig läßt, erscheint unleugbar. Wenn
Die Teilnahme
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wir z. B. in der Zeitung lesen, N. N. ist tot, so wissen wir wohl, N. N. ist der Mann, den wir jeden Tag in dem grauen Hut und gelben Handschuhen um die und die Zeit nach X spazieren sahen, und der Kaffee mundet uns an diesem Morgen gerade so gut wie an jedem anderen. Wenn wir aber daraus schon gleich schließen wollen, N. N . .sei uns völlig gleichgiltig, so wäre das doch sehr voreilig. Nehmen wir zur Vergleichung einen ähnlichen Fall. Wir haben gerade ein Zeitungsblatt aus einer fremden, großen Stadt vor uns und völlig teilnahmslos schweift unser Auge über die Müller und Meyer und Klutentreter und Schötensad" die gestorben oder vermählt oder glückliche Väter geworden. Hier empfinden wir wirklich nichts, rein nichts. Aber weshalb? Weil wir von allen diesen wackeren Leuten nicht das Geringste wissen. Hier kann man sich natürlich nicht wundern, daß kein Gefühl in uns sich regt, weil es an allen Bedingungen der Gefühlserzeugung völlig mangelt" (Horwicz, a.a.O. S.428). In allen solchen Fällen besteht der Grund der Gleichgiltigkeit in der Unkenntnis des Inneren der betreffenden Person. Wir können weder deren menschliche Zugehörigkeit, noch den Grad ihres Leides abschätzen. In anderen Fällen überwiegt ein anderes angenehmes Gefühl, die Nachricht vom Tode eines entfernten Bekannten stört nicht merklich den Appetit beim Frühstück. Wieder in anderen steckt hinter der Gleichgiltigkeit, die wir aussprechen, ein geringer Grad von Abneigung oder Aversion. Ein Mensch, dessen Anblick uns keine Zuneigung einflößt, ist schon darum Gegenstand gering merklicher Aversion. Diese Abneigung wächst, wenn die Anforderung eines Opfers an uns herantritt. Eben lese ich in der Zeitung (1890): Ein vierzehn jähriges Kindermädchen tötete, während die Herrschaft in der Kirche ist, das ihr anvertraute Kind. Die Verbrecherin gab als Grund der Tat Abneigung gegen das kleine Wesen und Widerwille gegen den Dienst eines Kindermädchens an. Hier schlägt also die bestimmte kleine Sorge für ein gleichgiltiges Geschöpf um in Haß. Ebenso wohl in vielen Fällen, in denen aus Nahrungssorge die gleiche Handlung ausgeführt wird. Aufhebung der Solidarität im Gefühl, Haß gegen die anderen Menschen in einer Art von Verwilderung muß als die eigentliche Grundlage vieler Mordtaten angesehen werden. Ein Bursche schlägt einen Mann, den er auf dem Wege trifft, wegen eines Paares neuer Stiefel tot. 7. Nun können Vorgänge Erwiderungsgefühle aufregen. So entsteht in bezug auf Vergangenes das Gefühl der Dankbarkeit oder der Rache; wo aber Gemütsbeschaffenheit oder Umstände diesen einfachen Verlauf abändern, der Undankbarkeit und der Vergebung. Ebenso entstehen in der Erwartung zukünftiger Gefühle Vertrauen und Mißtrauen. Wiederum tritt uns bei der Dankbarkeit entgegen das darin enthaltene Verbundensein. Dies drückt schon die Phrase: "Sehr verbunden" aus; in dem Dienst wird
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gleichsam eine Verpflichtung übernommen, und die Dankbarkeit ist der Gefühlsausdruck davon. Daher denn die Dankbarkeit drückt, wo nicht ein inneres Band besteht. 8. Das Gefühl und der Impuls, welche auf eine Verletzung antworten, nennen wir Rache. Die so aus der Rache oder aus anderen Ursachen entspringende Ausschließung aus dem Solidaritätsverbande nennen wir Haß; er ist die innerliche Lossagung von dem Bewußtsein der Verbundenheit, er hat daher etwas Krampfhaftes, Abnormes, die Seele strebt danach, sich von ihm zu befreien. Wir finden uns demgemäß im Haß gemindert, innerlich zerrissen, die Gewöhnung an den Haß verschlechtert die Seele. Mit den Gefühlen des Wohlwollens ist eine angenehme Erweiterung des Selbst verbunden. Das Gefühl des Hasses zerstört die innere Harmonie der Seele und mindert ihre Gefühlslage.
§ 15 Das Mitleid (Die Sympathie als Moralprinzip und der Altruismus in der positivistischen Schule) Gegenüber unserer bisherigen Auffassung werden Sympathie und Mitleid von vielen neueren Ethikern von dem Bewußtsein der Solidarität losgelöst und aus einer Mitbewegung des Gefühls abgeleitet. Diese Auffassung kann als die animalische Erklärung de Wohlwollens und der Liebe aufgefaßt werden. Bedeutende Forscher werden immer wieder, sooft sie die Erscheinung der Gesellschaft und der moralischen Welt nach ihren wirklichen Triebfedern betrachten, durch einen tiefen Zug zu den Beweggründen des Wohlwollens, der Sympathie, des Mitleids ,geführt, dann aber finden sie sich geneigt, dieses Gefühl zu isolieren von dem großen Zusammenhang höherer geistiger Art und es in den elementaren Tiefen animalisch begründeter Gefühle aufzusuchen. Eine durchgeführte Theorie, aus dem unsichtbaren Zusammenhang mit einem systematischen Ganzen entspringend, ist zuletzt, dem Stande der modernen ethischen Forschung seit Kant entsprechend, von Sc h 0 p e n hau e r aufgestellt worden. Ein anderer gegenw~irtiger Anhänger dieser Theorie ist Lot z e. Wenigstens erklärt er Mikrokosmos II, S. 307: "Dem unbefangenen Gemüt sind solche Irrungen eigentlich fremd. Für sich selbst sorgen scheint ihm natürlich, aber nicht sittliches Verdienst zu sein. Anderen wohlzutun und die Summe der Lust zu vermehren, deren die Welt sich erfreut, ist die einzige Aufgabe, in deren Erfüllung alle seine sittlichen Pflichten zusammenlaufen." Dürfen wir uns, um uns von dem hier vorliegenden System doch eine
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Kritik der A1itleidstheorie
hypothetische Vorstellung zu machen, diese Stelle mit S. 305 kombinieren, wo Herbarts Erklärung des Rechts: Streit mißfalle, dahin verbessert wird: uns mißfalle am Streit ausschließlich das übelwollen der Parteien: so scheint hier angedeutet zu sein, wie auch das Recht mit delT' Wohlwollen zusammenhänge. Uns mißfällt aber doch bei dem Streit, welcher eine Verletzung des Rechts enthält, nicht in erster Linie, daß hier das übelwollen Spielraum erhält, sondern vielmehr der Bruch der Rechtschaffenheit, der Pflicht, welche sich ge b und e n wußte. Leider gibt das ethische Kapitel des Mikrokosmus nur einen so spärlichen Durchblick auf Prinzip und Systematik der Ethik Lotzes, daß wir uns zu Schopenhauers Ethik wenden müssen, ohne Lotzes soviel reinere Fassung dieses Beweggrundes weiter verfolgen zu können. Sc h 0 pe n hau e r hat seine Theorie zweimal entwickelt: synthetisch im vierten Buch der "Welt als Wille und Vorstellung", analytisch in der Preisschrift über die Grundlage der Moral. In jener erscheint dieser Satz nach seinem vollen Zusammenhang als die ethische Konsequenz seines subjektiven Idealismus. Alle Vielheit ist nur scheinbar, in allen Individuen dieser Welt manifestiert sich das eine, wahrhaft seiende Wesen, der Wille. Demnach ist der Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich aufgehoben. Wenn nun diese selbe Negation unseres selbständigen und abgesonderten Daseins, welche die Philosophie im Denken vollzieht, durch die Tat ausgesprochen wird, wenn die Erkenntnis: "Mein Wesen existiert in jedem Lebenden" in einer Handlung hervorbricht: so liegt offenbar in diesem Vorgan,g der metaphysische Grund alles moralischen Verhaltens des Menschen. Das Phänomen aber, welches in diesem Vorgang heraustritt, ist das Mitleid. Kritik dieser Theorie Gen