System der philosophischen Ethik und Pädagogik: Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik. Zweiter Band [3 ed.] 9783787338443, 9783787338351

»Der Aufgabe, ethische Probleme zu lösen, bringt unsere Zeit wenig Mut und Zuversicht entgegen. … Tiefere Denker freilic

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German Pages 536 [555] Year 1970

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System der philosophischen Ethik und Pädagogik: Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik. Zweiter Band [3 ed.]
 9783787338443, 9783787338351

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L E ONA R D N E L S ON

GE SA M M E LT E S C H R I F T E N

System der philosophischen Ethik und Pädagogik Meiner

L E ONA R D N E L S ON

Gesammelte Schriften in neun Bänden Herausgegeben von Paul Bernays, Willi Eichler, Arnold Gysin, Gustav Heckmann, Grete Henry-Hermann, Fritz von Hippel, Stephan Körner, Werner Kroebel, Gerhard Weisser

fünfter Band

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

L E ONA R D N E L S ON

System der philosophischen Ethik und Pädagogik Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik Zweiter Band Aus dem Nachlaß herausgegeben von Grete Hermann und Minna Specht

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3835-1 ISBN eBook 978-3-7873-3844-3 3., unveränderte Auflage · Nachdruck 2020 © Felix Meiner Verlag Hamburg 1970. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­ papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.

„Gleichsam um seine junge Kraft zu üben, warf die Gottheit den Menschen in den Kampf mit der Natur, die ihm überall widerstreitet und anfangs größtenteils überlegen ist. Jeden Schritt muß er von ihrer fremden Gewalt erst erkämpfen. Jeder Schritt, den er errungen hat, ist ihm aber auch Gewinn, denn er dringt der Natur gewaltsam ein fremdes Gesetz auf, welches nur von seinem Innern ausgeht.• Fries.

Inhalt.

Ethik. Einleitung: Aufgabe und Einteilung der philosophischen Ethik. 1. Kapitel. Uber die Möglichkeit einer wissenschaft-

lichen Ethik. § § §

§

1. 2. 3. 4.

Die Lösbarkeit der ethischen Probleme. Ethik und Naturwissenschaft. . . Ethik als Wissenschaft. . . . . Ethik als philosophische Disziplin.

3 6 12 13

2. Kapitel. Stellung der Ethik im System der Philosophie. §

t § §

5. 6.

Ethik als praktische Metaphysik. . . . . . . . . . . . . Ethik als subjektive Teleologie im Gegensatz zur objektiven Teleologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Beispiele für die Verwechslung der subjektiven mit der objektiven Teleologie. . . . . . . . . . . . 8. Kategorische und hypothetische Imperative. . . . . . .

16 18

22 24

3. Kapitel. Stellung der Tugendlehre im System der Ethik. § §

9. 10.

Innere und äußere subjektive Teleologie. Die Anwendung von Tugend- und Rechtslehre.

29

31

4. Kapitel. Einteilung der Tugendlehre. § § §

11. 12. 13.

Die Anforderung der Tugend. Pflichtenlehre und Ideallehre. Formale und materiale Tugendlehre.

32 40 44

Inhalt.

VIII

1. Abschnitt: Pflichtenlehre. 1. Abteilung: Formale Pflichtenlehre. 1. Stück. Analytische Prinzipien der formalen Pflichtenlehre. 1. Kapitel. Analytische Prinzipien aus dem Begriff der Pflicht. Der Grundbegriff der Pflichtenlehre. . . . . . . . . . . Die Aufgabe des analytischen Teils der formalen Pflichtenlehre. Die Prinzipien der sittlichen Allgemeingültigkeit und der sittlichen Differenzierung. . . . . . . . . . . . . . § 17. Die Prinzipien der sittlichen Autonomie und der sittlichen Objektivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . § 18. Die Prinzipien der Gesinnungsmoral und der moralischen Bereitschaft. . . . . . . . . . . § 19. Das Prinzip des sittlichen Rigorismus. § 20. Sittliche Wertungen. . . . . . . § § §

14. 15. 16.

48 51 52 55 58 60 62

2. Kapitel. Von der sittlichen Zurechnung. (Analytische Prinzipien aus dem Begriff der Anwendbarkeit des Sittengesetzes in der Natur.) 21. § 22. § 23. §

§ § § § § §

24. 25. 26. 27. 28. 29.

Der Begriff der Natur. Das Problem der Wahl. Das Verhältnis des heiligen, menschlichen und tierischen Willens zur Möglichkeit der Zurechnung. Absicht, Zufall und Zweck. Der Begriff der Fahrlässigkeit: Das Kriterium der Zurechnungsfähigkeit. Das Kriterium der Zurechenbarkeit. Die Abstufung der Zurechnung. Moralische und rechtliche Zurechnung.

65 66 68 70 73 77

81 81 83

2. Stück. Synthetische Sätze der formalen Pflichtenlehre. 1. Kapitel. Das Gebot des Charakters. § ·30. § 31. § 32.

Der synthetische Grundsatz der formalen Pflichtenlehre. Die Subsumtionsformel der formalen Pflichtenlehre .. Der Schlußsatz der formalen Pflichtenlehre.

85 86 88

2. Kapitel. Die Bedingungen des Charakters. § § § §

33. 34. 35. 36.

Die Die Die Die

Bedeutung des Wortes „Charakter". Stärke des Charakters. Lebendigkeit des Charakters. Reinheit des Charakters.

91 93 96 99

IX

Inhalt.

2. Abteilung: Materiale Pflichtenlehre. Einleitung. §

37.

Obergang zur materialen Pflichtenlehre.

. ..

104

1. Kapitel. Der beschränkende Charakter des Sittengesetzes. § §

38. 39.

Der Satz vom beschränkenden Charakter des Sittengesetzes. Die Unmöglichkeit des Moralismus. . . . . . . . . .

106 107

2. Kapitel. Der formale Charakter des Sittengesetzes. § § § §

40. Der Satz vom formalen Charakter des Sittengesetzes. 41. Die Unmöglichkeit eines Sittenkodex. 42. Die Unmöglichkeit einer Pflichtenkollision. 43. Die Pflicht der inneren Wahrhaftigkeit.

109 110 112 113

3. Kapitel. Die Würde der Person. 44. Der Grundsatz der persönlichen Würde. 45. Das Sittengesetz als Rechtsgesetz. § 46. Pflichtsubjekt und Rechtssubjekt. § 47. Rechtlich notwendige und widerrechtliche Interessen. § 48. Das Prinzip der Abstraktion vom praktischen Irrtum. § 49. Unmöglichkeit von Pflichten gegenüber der eigenen Würde. § 50. Unmöglichkeit des Werts als eines Kriteriums der Pflicht. § 51. Die Pflicht der Ausbildung der praktischen Erkenntnis. § §

115 116 117 119 120 125 128 129

4. Kapitel. Der Grundsatz der persönlichen Gleichheit. Gleichheit als Maß der Interessenbeschränkung. 131 § Das Prinzip der Abstraktion von der numerischen Bestimmtheit der Person. 133 § 54. Negativer Ursprung der Pflicht der Gerechtigkeit. 138 § 55. Formaler Charakter der Pflicht der Gerechtigkeit. 140 § 56. Unveräußerlichkeit des Rechts auf Befriedigung des wahren Interesses. 140 § 57. Das objektive Maß des Unrechts. 142 §

52. 53.

5. Kapitel. Die Pflicht der Gerechtigkeit. 58. § 59.

§

Das Gesetz der gerechten Abwägung. Das Gesetz der gerechten Vergeltung.

143 146

6. Kapitel. Die sogenannten Pflichten gegen uns selber. §

60.

Mittelbarkeit aller sogenannten Pflichten gegen uns selber.

150

Inhalt.

X §

61.

§

62.

§ §

63. 64.

Unmöglichkeit der Pflicht, sich nicht selber zum bloßen Mittel zu machen. Unmöglichkeit der Pflicht, sich nicht von anderen als bloßes Mittel gebrauchen zu lassen. Unmöglichkeit einer eigenen Pflicht der Ehre. Pflichten gegen sich selber und Pflichten gegen andere.

155 157 159 160

7-. Kapitel. Pflichten gegen Tiere. § § §

162 163 168

65. Pflichtsubjekt und Rechtssubjekt. 66. Pflichten gegen Tiere. 67. Das Interesse des Tieres am Leben.

8. Kapitel. Pflichten gegen andere Menschen. § § § § §

68. Der Begriff der Vernunft. 69. Die Pflicht der Verträglichkeit. 70. Die Pflicht der Zuverlässigkeit. 71. Die Pflicht der Wahrhaftigkeit. 72. Die Pflicht der Treue.

173 175 178 180 186

2. Abschnitt: Ideallehre 1. Abteilung: Formale Ideallehre. 1. Kapitel. Analytische Prinzipien der formalen

Ideallehre. §

§ §

73. 74. 75.

Der Begriff des Ideals. . . . . . . . . . . . Die analytischen Prinzipien der formalen Ideallehre. Rigorismus und Toleranz. . . . . . . . . . .

194 196 198

2. Kapitel. Synthetische Sätze der formalen Ideallehre. § § § § §

76. 77. 78. 79. 80.

Das Ideal des Charakters. . Die idealen Bedingungen des Charakters. Idealismus und Schwärmerei. Opportunismus und Doktrinarismus. Idealismus und Enthusiasmus.

200 201 202 207 209

2. Abteilung: Materiale Ideallehre. Einleitung. §

81.

Ubergang zur materialen Ideallehre.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

212

Inhalt.

XI

1. Kapitel. Ideale der Bildung. § §

82. 83.

Das Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung. . . . . . . Die Ideale der Wahrheitsliebe, Schönheitsliebe und Gerechtigkeitsliebe. . . . . . . . . . . . . . . . § 84. Von der Methode der Ableitung der drei Ideale. § 85. Das Ideal der Wahrheitsliebe. § 86. Das Ideal der Gerechtigkeitsliebe. § 87. Das Ideal der Schönheitsliebe.

215 217 219 221 222 223

2. Kapitel. Fehlerhafte Idealbestimmungen. § § § §

88. Mißverstandene Idealbestimmungen. . . . . . 89. Einseitige Bildungsideale. . . . . . . . . . 90. Die tatenscheue und die tatenfrohe Lebensansicht. 91. Inkonsequenz aller einseitigen Bilduugsideale.

225 229 230 235

3. Kapitel. Ideale des Berufs. § § § § § §

92. 93. 94. 95. 96. 97.

Bildung und Beruf. . . . . . Ideale und technische Berufe. . Berufe im Dienst der Wahrheit. Berufe im Dienst der Schönheit. Berufe im Dienst der Gerechtigkeit. Verhältnis der Ideale des Berufs zu den einseitigen Bildungsidealen.

238 239 241 246 248 249

4. Kapitel. Ideale der Freundschaft. § 98 Unmöglichkeit einer Pflicht der Gemeinschaft. . . . . . . . § 99. Objektiv ästhetischer Wert der Gemeinschaft. . . . . . . . § 100. Ursprung des ethischen Werts der Gemeinschaft aus dem Ideal

252

der Schönheit. . . . . . . . . . . . . . . Achtung und Liebe als Bedingung der Freundschaft. Liebe und Sympathie. . . . . . . . . . Liebe als Wohlgefallen und als Wohlwollen. . . . Das Mißverständnis der bevormundenden Liebe. . . Bedeutung der Wahrheitsliebe für die Gemeinschaft. Die Anforderung der Gegenseitigkeit der Liebe. Liebe und Haß. . . . . . . . . . . . . . . Allgemeine Menschenliebe. . . . . . . . . . . Die Gemeinschaft der Endzwecke als Bedingung der Freundschaft. Bildung als Bedingung der Freundschaft. . . . . Intensität und Extensität der Freundschaft. . . . Ästhetischer Ursprung des Ideals der Freundschaft.

253 255 255 257 257 258 259 260 262 263 264 266 267

101. 102. 103. 104. 105. 106. 107. 108. 109. 110. 111. § 112.

§ § § § § § § § § § §

251

5. Kapitel. Ideale des öffentlichen Lebens. § 113. § 114.

Ableitung der Ideale des öffentlichen Lebens. Die Tugend des Gemeingeistes. . . . . .

269 .

.

.

271

Inhalt.

XII 115. 116. 117. 118. 119. 120. 121. 122. 123. 124.

Kraft und Lebendigkeit des Gemeingeistes. Reinheit des Gemeingeistes. . . . . . Kultur als Zweck des öffentlichen Lebens. . Technik und Kultur. Verhältnis der Wohlfahrt zu dem Ideal der Kultur. Der Wert der Aufklärung. . . . . . Die Möglichkeit der Aufklärung. . . . . Kultur der Aufklärung und Romantik. Die !deale der Gleichheit und der Freiheit. Die wirtschaftlichen und kulturellen Anforderungen der sozialen Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . § 125. Das Recht der Kultur. . . . . . . . . § 126. Die Organisation des öffentlichen Lebens. § 127. Despotische Organisationen. . . . . . § 128. Mißverstandene Gesellschaftsideale. § 129. Der Anarchismus des öffentlichen Lebens. § 130. Möglichkeit einer nicht despotischen Organisation. § 131. Die Partei des Rechts. . . . . . . . . . . . § § § § § § § § § §

272

273 275 276 277 278 279 280 282 284 285 287 290 294 297 300 305

Pädagogik. Einleitung: Aufgabe und Einteilung der philosophischen Pädagogik. § § § § § §

132. 133. 134. 135. 136. 137.

Vorläufige Begriffsbestimmung der Pädagogik. Pädagogik und Politik in ihrem Verhältnis zu einander. Pädagogik als Wissenschaft. . . . . . Philosophische und empirische Pädagogik. . . Einteilung der philosophischen Pädagogik. . , Das Problem der Anwendbarkeit der Pädagogik.

319 323 327 328 333 337

1. Abteilung: Formale Pädagogik. 1. Kapitel. Das Prinzip der formalen Pädagogik. § 138. § 139. § 140.

340 343 344

Der Obersatz. . Der Untersatz. Der Schlußsatz.

2. Kapitel. Das Problem der Möglichkeit der Erziehung. § 141.

Die Paradoxie im Begriff der Erziehung.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

348

IIIX

Inhalt.

Verallgemeinerung des Problems: Unvermeidlichkeit der Beeinflussung in der Natur. § 143. Auflösung des allgemeinen Problems: Einfluß und Bestimmungsgrund. § 144. Anwendung auf das Problem der Möglichkeit der Erziehung: Erziehung und Abrichtung. § 145. Schematische Ubersicht über das Problem und seine Auflösung. § 146. Das Objekt der Erziehung: Der menschliche Wille. . § 147. Pädagogischer Optimismus und pädagogischer Pessimismus. . . § 142.

350 351 353 355 356 358

3. Kapitel. Die Antinomie der formalen Pädagogik. § 148.

Die Antinomie der formalen Pädagogik.

.

.

362

4. Kapitel. Pädagogische Folgerungen aus den

Prinzipien der ethischen Allgemeingültigkeit und Differenzierung. § 149. § 150.

Kritik des pädagogischen Uniformitätsprinzips. Kritik des pädagogischen Originalitätsprinzips.

366 367

5. Kapitel. Pädagogische Folgerungen aus dem Prinzip der ethischen Autonomie. (Kritik des pädagogischen Autoritätsprinzips.) Unmöglichkeit des pädagogischen Autoritätsprinzips. 371 Das materiale Autoritätsprinzip. . . 374 Widerspruch jedes materialen Autoritätsprinzips. 375 1. Unmöglichkeit eines allgemeinen Gesetzes der Verbindlichkeit von Befehlen. . . . . 375 2. Notwendigkeit eines a priori feststehenden Kriteriums der Autorität. 375 3. Unmöglichkeit eines sittlichen Kriteriums der Autorität. 376 4. Die Macht als Kriterium der Autorität. . 377 378 5. Widerspruch eines solchen Kriteriums. . § 154. Abstrakter Beweis der Unmöglichkeit des materialen Autoritätsprinzips. 379 § 155. Gefahr jeder dogmatischen Sittenlehre. 380 § 156. Uberredung als Methode des pädagogischen Autoritätsprinzips. 381 § 157. Notwendigkeit des Wunderglaubens für die Durchführbarkeit des Autoritätsprinzips. 383 § 158. Die Pflicht zu glauben. 385 § 159. Provisorische Bedeutung der Methode des Gehorsams mangels der für die Anwendung einer anderen Methode erforderlichen Reife. . 388 § 160. Unkorrigierbarkeit des konsequenten Autoritätsglaubens durch nachträgliche Belehrung. 390 § 161. Autorität und Beispiel. 392 § 151. § 152. § 153.

XIV § 162. § 163.

Inhalt. Autorität und Vertrauen .. Autorität und Führerschaft.

394 396

6. Kapitel. Pädagogische Folgerungen aus dem Prinzip der ethischen Objektivität. (Kritik des pädagogischen Subjektivismus.) § 164. § 165.

Unmöglichkeit des pädagogischen Subjektivitätsprinzips. Unmöglichkeit des materialen pädagogischen Subjektivitätsprinzips. § 166. Folgen der Anwendung des pädagogischen Subjektivitätsprinzips.

402 407 408

7. Kapitel. Pädagogische Folgerungen aus dem Prinzip der Gesinnungsethik. (Kritik des pädagogischen Opportunitätsprinzips.) Unmöglichkeit des pädagogischen Opportunitätsprinzips. . Das materiale Opportunitätsprinzip. . Widerspruch des materialen Opportunitätsprinzips. Folgen der Anwendung des pädagogischen Opportunitätsprinzips. § 171. Provisorische Bedeutung des Opportunitätsprinzips. . § 172. Erziehung und Nötigung. . § § § §

167. 168. 169. 170.

413 415 416 417 425 430

8. Kapitel. Pädagogische Folgerungen aus dem Prinzip der ethischen Bereitschaft. (Kritik des pädagogischen Moralismus.) § 173. § 174. § 175.

Widerspruch des pädagogischen Moralismus. Widerspruch des materialen Moralismus. Abstrakter Beweis für die Unmöglichkeit Moralismus. § 176. Folgen des pädagogischen Moralismus.

434 436 des

materialen 438 439

9. Kapitel. Pädagogische Folgerungen aus dem Prinzip des moralischen Rigorismus. (Kritik des pädagogischen Libertinismus.) § 177. §

178.

Widerspruch des pädagogischen Libertinismus. Folgen der Anwendung des pädagogischen Libertinismus.

441 442

10. Kapitel. Die Aufgabe der Charakterbildung. § 179. § 180. § 181.

Die Möglichkeit der Selbstdisziplin. Die Stärkung des Charakters. Die Weckung der Lebendigkeit des Charakters. § 182. Die Reinheit des Charakters. § 183. Ethischer Realismus.

444 447 449 450 453

Inhalt.

XV

11. Kapitel. Positive Folgerungen aus dem Prinzip des moralischen Rigorismus. § 184. § 185.

Die Forderung der Konsequenz. Die Versuchung durch das Ideal.

457 461

2. Abteilung: Materiale Pädagogik. Einleitung. Die Aufgabe der materialen Pädagogik. § 186. § 187.

Ubergang zur materialen Pädagogik. Der Aufbau der materialen Pädagogik.

465 467

1. Kapitel. Sittliche Erziehung. § § § §

188. 189. 190. 191.

Das sittliche Interesse als wahres Interesse. Pflichtbewußtsein und Rechtsbewußtsein. Die Entwicklung des Rechtsgefühls. . . Die Entwicklung des Pflichtbewußtseins.

469 470 471 473

2. Kapitel. Intellektuelle Erziehung. § § §

192. 193. 194.

Die Methode des Unterrichts. . . . Das Problem des Religionsunterrichts. Die Auswahl des Unterrichtsstoffes ..

478 481 485

3. Kapitel. Die ästhetische Erziehung. § 195. § 196. § 197.

Schönheitsliebe und Geschmacksbildung. . . . Religiöse Erziehung. . . . . . . . . . . Die pädagogische Bedeutung der Gemeinschaft.

494 496 498

Register. .

507

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. .

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Vorwort. Vor mehr als dreißig Jahren gab L eo n a r d Ne 1 so n den ersten Band seiner „Vorlesungen über die Grundlagen der Ethik" heraus, mit dem er das Werk seiner philosophischen Lehrer, Immanuel Kant und Jakob Friedrich Fries, die „Kritik der praktischen Vernunft" wieder aufnahm und weiterführte. Er legte diese Arbeit, mitten im ersten Weltkrieg dieses Jahrhunderts, der Offentlichkeit vor mit den Worten: „Unter Verhältnissen wie den gegenwärtigen mit einer Ehrenrettung der menschlichen Vernunft hervorzutreten, möchte zwar nicht eben zeitgemäß erscheinen. Sollte indessen, angesichts der Zertrümmerung einer ganzen Gesellschaftsordnung, dieser oder jener sich einfallen lassen, nicht sowohl an der Vernunft irre zu werden, als vielmehr an der Vernünftigkeit dieser Gesellschaftsordnung, so wird er bei der Ausschau nach den Maßstäben für den Wert einer neuen Ordnung nicht umhin können, zu den Quellen hinabzusteigen, aus denen die letzten Urteile über menschliches Treiben entspringen, womit er denn unvermeidlich auf eine Untersuchung des Vermögens praktischer Urteile überhaupt geführt wird. Wer immer so denkt, dem wird ein Unternehmen wie das hier eingeleitete den Anforderungen der Zeit um so angemessener erscheinen." Wir lesen diese Worte heute in dem Dunkel dessen, was seither geschehen ist. Wir stehen unter den Trümmern des zweiten Weltkrieges, inmitten menschlicher und gesellschaftlicher Konflikte, die unser Leben an den Rand des Chaos stellen, weil sie nicht weise und menschlich geordnet, sondern im Urteil der Völker zu Gegenständen bloßer Machtkämpfe

XVIII

Vorwort

gemacht werden. Mit unabweisbarer Dringlichkeit erhebt sich da die Frage nach einer Ordnung, die nicht das Diktat der jeweils Stärksten, sondern Ausdruck von Weisheit und Menschlichkeit ist und dem Menschen und den Völkern Freiheit und Würde zur Gestaltung des eigenen Lebens zu geben vermag, unter Wahrung und Achtung des gleichen Rechts der Mitlebenden. Der Weg dahin kann nur führen über die Besinnung auf die Quellen, aus denen eine solche Ordnung des menschlichc::1 Lebens entspringen kann. Es fehlt unserer Zeit nicht an dem Ruf nach solcher Besinnung. Aber ihm antwortet eine tiefe Skepsis. Denn nicht darum allein geht es, daß der einzelne aus dem Druck des unmittelbaren Existenzkampfes heraus zu tieferem Verständnis vom Sinn und von den Aufgaben des eigenen Lebens vordringt. Sondern wir brauchen in der Auseinandersetzung mit den Konflikten im Leben der einzelnen und der Völker die Kunst der Verständigung, die allein die unheilvolle Alternative zwischen Chaos und Tyrannei zu durchbrechen vermag. Sie aber setzt voraus, daß sich für die Ordnung des gemeinsamen Lebens o b j e kt i v e Maß s t ä b e finden lassen, an denen eine Konfliktssituation gemessen werdc:i kann. Gegen die Möglichkeit, solche Maßstäbe zu finden, denen jeder, der guten Willens ist, bei hinreichender kritischer Prüfung zustimmen kann, richtet sich nicht nur tiefwurzelndes Mißtrauen des Individuums, sondern auch der Philosophie. Die Zeiten sind vorüber, in denen die Völker unseres Kulturkreises in ihrer großen Mehrheit auf dem Boden der gleichen Weltanschauung standen und von da aus gemeinsame Maßstäbe zur Gestaltung ihres Lebens gewannen. Wir brauchen heute einen andern, wissenschaftlich begründeten Ausgangspunkt für das Gespräch miteinander, die Bereitschaft, über die Grenzen der verschiedenen Standpunkte und Weltanschauungen hinweg und in der Uberwindung der aus Skeptizismus und Relativismus erwachsenden Müdigkeit und Verzweiflung den gemeinsamen Boden zu suchen, von dem aus die Fragen unserer Zeit sich angreifen lassen.

Vorwort

XIX

In dieses Gespräch hinein stellen wir mit der unveränderten Neuherausgabe des „Systems der philosophischen Ethik und Pädagogik" erneut den Versuch der kritischen Philosophie, mit dem Rüstzeug syste;matischer, wissenschaftlicher Forschung bis zu den Erkenntnisgrundlagen sittlicher Urteile vorzudringen und von da aus Richtlinien für die Beurteilung menschlichen Handelns zu gewinnen. Die Ausführungen des vorliegenden Bandes gehen zurück auf Vorlesungen, die Ne 1 so n in den Jahren 1916, 1920 und 1924 gehalten hat. Die letzte und in der Uberarbeitung reifste dieser Vorlesungen war auf eine kürzere Zeit zusammengedrängt, als Ne 1 so n bei den vorhergehenden Vorlesungen zur Verfügung hatte; hier fehlen daher einige wesentliche Stücke, die in den andern enthalten sind. Es war darum nicht geraten, nur die letzte Vorlesung heranzuziehen, sondern es galt, unter den verschiedenen Nachschriften die jeweils beste auszuwählen. Ne 1 so n selber hat weder diese Auswahl noch die notwendige Uberarbeitung der Vorlesungsnachschriften vornehmen können. Einige der inhaltlichen Schwierigkeiten, die noch bestanden, hat er mit seinen Mitarbeitern besprochen. So blieb den Herausgebern die Aufgabe, auf Grund solcher Gespräche einige Stellen des Textes einer nochmaligen Bearbeitung zu unterziehen und ferner den einem Kreis von Hörern angepaßten, häufig von Wiederholungen: durchsetzten Vortragsstil auf die knappere und präzisere Form der schriftlichen Darstellung zu bringen. Den natürlichen Maßstab für diese Arbeit lieferte die Wucht und Schönheit der Sprache, in der Ne 1 so n selber seine Werke schrieb. Ein schwer zu erreichendes Vorbild, das den Plan der Herausgabe als eine bloße Anmaßung hätte erscheinen lassen, wenn die Arbeit nicht auf das Vertrauen gegründet wäre, daß die Kraft der Wahrheit die Darstellung durchdringen wird. Grete Hermann. Minna Specht.

Ethik

.. Der moralisch gebildete Mensch, und nur dieser, ist ganz frei." Schiller.

Einleitung.

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Ethik. 1. Kapitel.

Uber die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Ethik. § 1.

Die Lösbarkeit der ethischen Probleme. Inmitten des heutigen gesellschaftlichen Niederganges erfahren die mathematischen und experimentellen Wissenschaften einen Aufschwung, wie ihn keine vergangene Generation in ähnlich großartiger Weise zu verzeichnen hat. Wie eine Sturzsee stürmt uns die täglich anwachsende Flut wunderbarer Entdeckungen entgegen, die selbst der Fachmann oft nur mit ungläubigem Staunen hinzunehmen vermag. Die Tatsache dieses gewaltigen Aufschwungs im Gebiet der exakten Wissenschaften ist ein unwiderlegliches Zeugnis für die unzerstörte Geisteskraft, die sich in den leidenden Völkern erhalten hat. Allen düsteren Prophezeiungen vom drohenden Untergang unserer Kultur zum Trotz kann sie uns die Zuversicht einflößen, daß dieselbe Geisteskraft, wenn sie sich den sittlichen Problemen zuwendet - deren Ungelöstheit die tiefere, ja entscheidende Ursache der allgemeinen Zerrüttung der gesellschaftlichen Zustände bildet -, auch der Lösung dieser Probleme gewachsen sein wird. Freilich entsteht hier die Frage, ob die ethischen Probleme wissenschaftlich lösbar sind, wie sich dies bei den Problemen der Naturforschung durch das faktische Gelingen der wissen-

4

Ethik.

schaftlichen Bemühungen erwiesen hat. Der Aufgabe, ethische Probleme zu lösen, bringt unsere Zeit allerdings wenig Mut und Zuversicht entgegen. Und dies mag einer der Gründe sein, weshalb sie sich von diesem Gebiet der Forschung abgewandt hat. Der Unglaube in bezug auf die wissenschaftliche Lösbarkeit oder auch nur Angreifbarkeit der hier liegenden Probleme ist heute so allgemein und so fest eingewurzelt, daß selten auch nur die Vorfrage nach der wissenschaftlichen Lösbarkeit der ethischen Probleme aufgeworfen wird. Man meint, einen Beweis der Unlösbarkeit dieser Probleme nicht mehr nötig zu haben, weil man an ihrer Unlösbarkeit gar nicht erst zweifelt. Tiefere Denker freilich haben sich mit dieser Resignation nie zufrieden gegeben. Sie haben immer wieder versucht, wenigstens über die Lösbarkeit der ethischen Probleme eine wissenschaftliche Entscheidung herbeizuführen. Ich führe hier als Beispiel den großen französischen Mathematiker He n r i Po in ca r e an, der in einer seiner letzten Abhandlungen diese Frage einer Untersuchung nicht unwürdig befunden hat. In seiner Abhandlung „La Morale et la Science" kommt er zu dem Ergebnis, daß die Probleme der Ethik auf ewig wissenschaftlich unentscheidbar seien. Aber er begnügt sich nicht mit dieser Behauptung, sondern er sucht sie durch einen Beweis sicherzustellen. Und der Name Po in ca r e bürgt dafür, daß wir es hier mit einem Forscher zu tun haben, der sich von den Anforderungen, die an einen Beweis gestellt werden müssen, eine nicht zu leichte und billige Vorstellung macht. Gerade deshalb ist es aufschlußreich, Po in ca r es Beweis der wissenschaftlichen Unlösbarkeit der ethischen Probleme zu prüfen. Der Gedanke, auf dem dieser Beweis beruht, ist überaus einfach und leicht darzustellen. Er liegt, wie Po in ca r e selber sagt, schon in einem grammatischen Grunde beschlossen. Wenn nämlich, so sagt er, die Prämissen eines Schlusses In d i k a t i v e sind, so muß auch der Schlußsatz ein Indikativ sein und kann also nicht die Form eines Imperativs haben. Diese Form müßte er aber haben, wenn er dem Gebiet der Ethik angehörte. Denn die Ethik handelt nicht von dem, was sich in

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Ethik.

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einem Indikativ wiedergeben läßt, sondern nur von dem, was sich in der Form des Imperativs aussprechen läßt, - nicht von dem, was tatsächlich geschieht, sondern von dem, was geschehen soll. Die Wissenschaft aber, sagt Po in ca r e, ist allemal ein System vo11 Indikativen: Also gibt es keine wissenschaftliche Begründung der Ethik. Wie steht es mit diesem Beweis? Der Satz, auf den er zurück.geht, ist offenbar unangreifbar. Es läßt sich an ihm nicht rütteln: Aus Prämissen, die nur über das sprechen, was geschieht, ist gewiß kein Schluß möglich auf das, was geschehen soll. Denn die Begriffe, die im Schlußsatz auftreten, müssen in den Prämissen vorkommen, wenn wir es nicht mit Erschleichungen, nicht mit Trugschlüssen zu tun haben sollen. Trotzdem läßt sich gegen den Beweis P o i n c a r e s eine Einwendung erheben. Es liegt ihm nämlich eine andere stillschweigend benutzte Voraussetzung zu Grunde, eine Voraussetzung über die Natur der Wissenschaft. Daß diese Voraussetzung Po in ca r e unverfänglich erschien, wurde bei ihm begünstigt durch eine Eigenschaft der französischen Sprache. Das Wort „science" hat nämlich im Französischen an und für sich einen engeren Sinn als das deutsche Wort „Wissenschaft". „Science" bedeutet für den Franzosen das, was für uns „exakte Wissenschaft" oder „Naturwissenschaft" bedeutet, und das ist in der Tat ein System von Sätzen, die sämtlich im Indikativ stehen. Wenn aber die Ethik, wie hiernach unzweifelhaft feststeht, nicht aus naturwissenschaftlichen Sätzen beweisbar ist, so bleibt noch die Frage, ob sie nicht dennoch die Form einer Wissenschaft haben kann, d. h. eines Systems von gleich strengem logischen Aufbau und Zusammenhang, wie ihn die exakten Naturwissenschaften für sich in Anspruch nehmen. Die Frage nach der Möglichkeit einer solchen, nur aus Imperativen bestehenden Wissenschaft ist von Po in ca r e nicht berührt, geschweige denn gelöst worden. Hier taucht aber ein neues Bedenken auf. Angenommen selbst, eine solche Wissenschaft sei möglich, so würden in ihr schon die ersten Prämissen in der Form des Imperativs auf-

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treten. Birgt ein solcher V ersuch einer wissenschaftlichen Ethik nicht eine petitio principii in sich? Es müßte irgend ein Imperativ unbewiesen an der Spitze stehen, damit irgend ein anderer beweisbar sein soll; und also gäbe es nur eine dogmatische und keine wissenschaftlich begründbare Ethik. Aber diese Argumentation würde zu viel beweisen. Man könnte sie analog auf das anwenden, was die Franzosen ,,science" nennen, auf das Gebiet der exakten Naturwissenschaften. Denn wenn deren Schlußsätze sämtlich die Form des Indikativs haben, so ist dies seinerseits nur darum möglich, weil die Prämissen die Form des Indikativs haben. Es müßte also auch dort eine petitio principii vorliegen; denn es tritt ja ein Indikativ unbewiesen an die Spitze des Systems. Also wäre auch eine exakte Naturwissenschaft unmöglich. Wer dies aber nicht zugibt, sondern behauptet, daß es der Naturwissenschaft unbeschadet ihrer wissenschaftlichen Strenge erlaubt sei, Prämissen, die die Form des Indikativs haben, als Voraussetzungen zu gebrauchen, ohne sie ihrerseits zu beweisen, der kann es der Ethik nicht verwehren, unbewiesene Prämissen an die Spitze zu stellen, die die Form eines Imperativs haben. Was die Beweisführung P o in c a r e s lehrt, ist nur das eine, daß es keine Zurückführung der Ethik auf die Naturwissenschaft und also auf ein System von Indikativen gibt, von Sätzen über das, was tatsächlich geschieht. Eine solche Begründung der Ethik ist in der Tat unmöglich. § 2.

Ethik und Naturwissenschaft. So weit reicht die Beweisführung P o in c a r e s , aber nicht weiter. Der Vorrang, der in dem gegenseitigen Verhältnis von Ethik und Naturwissenschaft so leicht der Naturwissenschaft zufällt, dieser Vorrang hat bloß zufällige, geschichtliche Gründe, von denen wir uns nur nicht Rechenschaft geben. Es ist eine lediglich geschichtlich feststehende Tatsache, daß die Physik heute eine so wohl begründete, eine so anerkannte und feste Wissen-

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schaft ist. Und es ist eine ebenso zufällige, nur geschichtlich zu verzeichnende Tatsache, daß die Meinungen über die Ethik heute schwankende, dem Streit unterworfene Vorstellungen sind, die weit davon entfernt sind, so etwas wie eine allgemein anerkannte Wissenschaft vorzustellen. Es gab eine Zeit, wo die Physik, die den unbestrittenen Stolz unserer Tage ausmacht, dem gleichen Zweifel, der gleichen Ungewißheit, ja dem gleichen unbestrittenen Unglauben ausgesetzt war wie heute die Ethik. Es war bekanntlich einer der tiefsten Denker des Altertums und der ganzen Geschichte der Philosophie, nämlich S ok rate s , der gelehrt hat, daß das Streben nach einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur auf immer zur Hoffnungslosigkeit verurteilt sei, da die Götter den Menschen nicht vergönnt hätten, in diese Geheimnisse einzudringen. Und das Schwergewicht der Autorität, die der Name des Sokrates in der antiken Philosophie darstellte, hat es bewirkt, daß sich diese Meinung damals allgemein ausbreitete und festsetzte, dermaßen, daß nur die allerkühnsten Geister des Altertums es gewagt haben, den Problemen der Physik näherzutreten. Hätten sie nicht gewagt, an der Autorität des S ok rate s zu rütteln, so würde es vielleicht auch heute noch keine wissenschaftliche Physik geben. Von der Zeit des Sokrates bis auf die Zeit Po in ca r es hat also, wie man sieht, eine eigentümliche Vertauschung der Rollen stattgefunden. Die Rolle, die damals die Physik in der Vorstellung der Denker einnahm, die Rolle nimmt heute die Ethik ein - und umgekehrt. Wir können daher auch vorhersagen, daß, wenn der Unglaube an die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Ethik auf die Dauer Fuß fassen sollte, es für absehbare Jahrtausende ebensowenig eine wissenschaftliche Ethik geben würde, wie es für vergangene Jahrtausende eine wissenschaftliche Physik gegeben hat. Es ist nun einmal die Eigentümlichkeit des Pessimismus, daß er sich selber wahr macht. Probleme, die als unlösbar gelten, deren Lösung versucht man nicht; denn kein denkender Mensch versucht, das Unmögliche zu verwirklichen. Wo sich daher ein solcherPessi-

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Ethik.

mismus festsetzt, da darf es uns nicht verwundern, wenn gerade die geschichtliche Erfahrung ihm recht gibt. In der Tat: Es gibt keine wissenschaftliche Ethik. Die Frage ist aber nur: Woran liegt das? Vielleicht liegt es gerade daran, daß man eine wissenschaftliche Ethik bisher für unmöglich gehalten hat. Dann allerdings brauchte man nur mit diesem Unglauben zu brechen, um das für unmöglich Gehaltene wirklich zu machen. Welche Bedeutung hätte das? Auch darauf geht Po in ca r e in höchst geistvoller Weise ein. Er stellt sich die Frage: Was hängt davon ab, ob die Ethik als feste Wissenschaft begründet werden kann oder nicht? Was hängt davon ab in praktischer Hinsicht, für das moralische Leben? Er antwortet: Gar nichts. Es sei dies eine Frage von lediglich theoretischem Interesse, eine Frage, die in praktischer Hinsicht keine, wenigstens keine entscheidende Bedeutung besitzt. Und warum nicht? Würde der pythagoreische Lehrsatz, fragt Po in ca r e, oder würde das Gravitationsgesetz Newtons weniger unwiderstehlich sein, wenn P y t h a gor a s nicht den ersten und N e w t o n nicht das zweite wissenschaftlich bewiesen hätten? Würde das Sittengesetz an Geltung einbüßen dadurch, daß es wissenschaftlich nicht begründbar wäre? Po i n c a r e verneint das. Die Geltung ethischer Prinzipien, sagt er, hänge nicht von den abstrakten Uberlegungen der Menschen ab, sondern beruhe auf der Wirksamkeit von Gefühlen, die mächtiger seien als alle - auch alle ihnen entgegengerichteten - abstrakten Uberlegungen. Diese Betrachtung erscheint auf den ersten Blick recht trostreich. Geht man ihr aber tiefer auf den Grund, so tauchen auch hier Bedenken auf, und zwar in zweierlei Hinsicht. In der Tat: Wenn P y t h a g o r a s nicht den pythagoreischen Lehrsatz begründet, und Newton nicht das nach ihm genannte Gravitationsgesetz entdeckt hätte, diese beiden Gesetze würden darum nicht weniger unwiderstehlich gelten. Man könnte sich der Allgewalt ihrer Geltung auch dann nicht entziehen. Aber wie verhält es sich mit den ethischen Gesetzen? Die

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Geltung eines ethischen Gesetzes ist, wenn es überhaupt gilt, nicht hinfällig, wenn die Menschen es nicht wissenschaftlich zu begründen vermögen, - das kann man auch hier sagen. Aber das Wort „Geltung" hat einen Doppelsinn, sowohl in bezug auf das Sittengesetz wie in bezug auf das Naturgesetz. Das Wort ,,Geltung" kann einmal die objektive G ü 1 t i g k e i t des Gesetzes bedeuten, seine Realität als Gesetz. Das Wort kann aber auch den Umstand bezeichnen, daß das nach dem Gesetz Notwendige tatsächlich geschieht. Und da kann es für das Sittengesetz sehr wohl möglich sein, daß es Gültigkeit hat, ohne doch im eben erklärten Sinn geltend zu sein. Seine Gültigkeit, d. h. seine Verbindlichkeit als Imperativ, hängt ja nicht davon ab, in welchem Umfang dieser Imperativ tatsächlich Befolgung findet, ja diese Gültigkeit wird nicht einmal umgestoßen, falls das Gesetz von niemandem und niemals befolgt wird. Seine Allgemeingültigkeit als Imperativ wird dadurch gar nicht berührt. Diese Unterscheidung ist, was die Naturgesetze anbelangt, allerdings ohne jede Bedeutung für die Anwendung. Denn hier fällt die Gültigkeit mit der Geltung notwendig zusammen. Eben das macht das Wesen eines Naturgesetzes aus, daß es, wenn es gültig ist, auch ausnahmslos gilt. Und das gerade macht das Wesen eines ethischen Gesetzes aus, daß es Gültigkeit haben kann, ohne zu gelten, d. h. hier: ohne Befolgung zu finden. Und da könnte denn der Umstand, daß ein ethisches Gesetz wissenschaftlich begründet wird, hinsichtlich seiner Geltung im Sinne der Befolgung recht wohl von Bedeutung werden, wenn auch seine Gültigkeit, d. h. seine Verbindlichkeit, ohnehin besteht. Wie verhält es sich hiermit? Wenn die Gültigkeit eines ethischen Gesetzes nicht von seiner Geltung abhängt, so könnte doch die Geltung von der Einsicht in seine Gültigkeit abhängen. Denn wie sollten wir ein Gesetz befolgen, in dessen Gültigkeit wir keine Einsicht besitzen? Doch dazu, so sagt Po in ca r e, bedürfe es keiner wissenschaftlichen Uberlegungen, dazu reiche das einfache Gefühl aus. Und dieses Gefühl sei ein viel mächtigerer Hebel als die mit der größten Vollendung begründete Wissenschaft.

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Damit hat Po in ca r e zum Teil recht: Sowohl die Erkenntnis als auch die Befolgung des Gesetzes kann durch das Gefühl vermittelt werden. Wie steht es nun aber mit der Natur des sittlichen Gefühls? Sehen wir näher zu, so stoßen wir auf Erscheinungen, die uns Zweifel einflößen an der Zuverlässigkeit und Allgewalt des sittlichen Gefühls. Wir brauchen nur daran zu denken, daß die einen durch ihr Gefühl in diese, die andern in, jene, entgegengesetzte Richtung verwiesen werden. Es gibt einen Konflikt der sittlichen Gefühle. Es kommt vor, daß, was der eine auf Grund s e in e s Gefühls als das Höchste erstrebt, dem andern auf Grund s e in e s Gefühls als verabscheuungswürdig gilt. Ja weit mehr: Es kommt vor, daß ein solcher Konflikt der Gefühle in unserer eigenen Person sich abspielt, daß wir hin- und hergerissen werden durch einander widerstreitende Gefühle, die einen Kampf mit einander führen. Welchem von ihnen sollen wir uns anvertrauen? Wenn diese Frage überhaupt beantwortbar ist, so kann sie es nur sein auf Grund einer wissenschaftlichen Ethik; denn wir bedürfen eines Maßstabes, der außerhalb aller Gefühle liegt, eines Maßstabes, der uns erst ein Urteil darüber erlaubt, welches der einander widerstreitenden Gefühle den Anspruch hat, als das richtige, als das gesunde, als das unverbildete Gefühl, als das echte zu gelten. Die bloße St ä r k e der Gefühle kann einen solchen Maßstab nicht abgeben; denn sie wechselt von Person zu Person, ja sie wechselt von Zeit zu Zeit innerhalb einer und derselben Person. Wenn wir der Frage nachgehen, wovon die Wandlung der sittlichen Gefühle abhängt, die zum inneren Zwiespalt führt, ja die schließlich ein Gefühl in sein Gegenteil verkehren kann, so entdecken wir als einen der allermächtigsten Hebel die Macht der Doktrinen, der ethischen Doktrinen und also der Versuche ethischer Theorien, ethischer Lehrgebäude. Gerade dieser Einfluß der Doktrinen, der ihnen die Herrschaft erobert auf dem Gebiet der Erziehung, auf dem Gebiet der Staatseinrichtun~en, dieser Einfluß ist es, der die Gefühle in der einen oder anderen Richtung entwickelt. Von ihm hängt es ab, in welcher Richtung

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das sittliche Gefühlsleben des einzelnen Menschen von Kindheit an gelenkt wird. Das sittliche Gefühlsleben der Menschen nimmt eine andere Wendung je nach dem Charakter der Doktrinen, unter deren Herrschaft seine Erziehung gestanden hat, je nachdem, ob er erzogen worden ist unter dem Einfluß einer Ethik, die ausgeht von den Pflichten des Menschen gegen Gott oder gegen das Vaterland, von seinen Pflichten gegen die Menschen oder gegen seine Mitgeschöpfe überhaupt, einschließlich der Tiere. Solche Lehren haben, wie uns ein Blick auf die Geschichte zeigt, tatsächlich das Leben der Völker gestaltet durch die Allgewalt ihres Einflusses auf das sich entwickelnde sittliche Gefühl. Und jene Lehre von der Machtlosigkeit der Doktrinen im Gebiet der Ethik, sie ist selber nichts anderes als eine Doktrin, und zwar eine falsche, wie ein Blick auf die Tatsachen der Geschichte beweist. Wenn aber diese Lehre falsch ist, wonach für das sittliche Leben nichts darauf ankommt, ob sich die Ethik als Wissenschaft entwickeln läßt, wenn diese Ansicht falsch ist, dann kann es uns offenbar nicht gleichgültig sein, ob es nicht unter all den ethischen Doktrinen doch eine gibt, die sich mit wissenschaftlichen Methoden vor allen anderen auszeichnen läßt als die allein gültige und verbindliche, als eine solche Lehre, der dann, wenn einmal im Kampf der Meinungen G r ü n de entscheiden, der Sieg zufallen muß. Der tiefer denkende Mensch, der Uberlegungen dieser Art anstellt, der sich also der Abhängigkeit seiner Gefühle von unkontrollierten und unkontrollierbaren Mächten außer ihm einmal bewußt ist und der dann unter diesen Mächten die Gewalt der Doktrin entdeckt hat, ein solcher Mensch kann nicht mehr stehen bleiben bei den bloßen sittlichen Gefühlen. Er wird suchen, einen tieferen und festeren Boden für seine Uberzeugungen zu gewinnen, einen Boden, auf den er sich stellen muß, um sich freizumachen von der Herrschaft des Zufalls über die Bildung seiner sittlichen Uberzeugungen und damit auch seiner sittlichen Entschließungen. Diesen Boden kann ihm nur die Wissenschaft liefern.

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Ethik.

§ 3.

Ethik als Wissenschaft. Wie ein solcher Standpunkt möglich ist, diese Frage läßt sich in verschiedener Weise behandeln. Man kann sie einmal in abstracto erörtern, indem man die Bedingungen untersucht, von denen die Möglichkeit der Ausbildung einer ethischen Wissenschaft abhängt; man kann sie aber auch gleichsam durch das Experiment entscheiden, indem man einen Versuch unternimmt und den Erfolg sprechen läßt. Diesen Weg habe ich für diese Vorlesungen gewählt. Denn gegen den Erfolg eines solchen Experiments ist nichts entschieden, solange nicht die Unmöglichkeit seines Gelingens ihrerseits über allen Zweifel erhaben und also durch wissenschaftliche Beweise sichergestellt ist. Ein solcher Beweis ist aber bis heute nicht geführt worden. Alle Versuche in dieser Richtung haben nichts als Scheinbeweise ergeben. Wir müssen freilich einen Nachteil in Kauf nehmen, wenn wir den zweiten Weg, den des Experiments, einschlagen. Die B e g r ü n dun g der Prinzipien, von denen das System der Ethik ausgeht, ist hier nicht möglich; sie ist Sache der kritischen Voruntersuchung, die es mit der Frage nach der Möglichkeit der Ethik als Wissenschaft zu tun hat. Diese Vorfrage betrifft recht eigentlich die Begründung der Prinzipien für den systematischen Aufbau der Ethik. Aber eine ähnliche Trennung zwischen System und Begründung gibt es auch in anderen Wissenschaften. Wenn der Mathematiker eine seiner Disziplinen entwickelt, so stellt er Axiome an die Spitze und errichtet auf ihnen durch logische Schlüsse ein System, für dessen höchste Prinzipien innerhalb dieses systematischen Aufbaues selber keine weitere Rechenschaft gegeben werden kann. Niemand wird darum diesem Unternehmen den Charakter der Wissenschaft aberkennen.

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§ 4.

Ethik als philosophische Disziplin. Noch eine andere Schwierigkeit gilt es zu beachten. Unsere Aufgabe, der Aufbau eines strengen Systems, erfordert eine fremde, ungewohnte Geistesverfassung, die völlig verschieden ist von dem Verhältnis, in dem wir unabhängig vom Interesse der Wissenschaft den Tatsachen des Lebens gegenüberstehen. Diese Tatsachen treiben uns durch ihre Einwirkung auf das Gefühl, und zwar gerade auf das sittliche Gefühl, bald hierhin, bald dorthin, solange wir keinen festen Standpunkt gefunden haben, von dem aus wir mit Sicherheit, mit der Sicherheit der Wissenschaft, über die Tatsachen urteilen können. Es ist also die eigentlich praktische Bedeutung der Probleme, die uns mittelbar veranlaßt, sie wissenschaftlich anzugreifen. Um das zu können, ist es erforderlich, sie zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen, die gar nicht nüchtern und leidenschaftslos genug vonstatten gehen kann, bei der also gerade alles darauf ankommen wird, die Wirkung auf das Gefühl, auf der sonst die Triebkraft der sittlichen Wahrheiten beruht, sorgfältig fernzuhalten. In der Notwendigkeit dieser Nüchternheit und Leidensd1aftslosigkeit gegenüber den Dingen, die ihrer unmittelbaren Bedeutung nach zu unserem Gefühl und zu unseren Leidenschaften sprechen, liegt für die Darstellung der Ethik ein nur schwer zu überwindendes Hindernis. Diese Schwierigkeit wird der Natur der Sache nach wohl immer bestehen, sowohl für den Gebenden wie für den Empfangenden, da sie den einen wie den andern in Verlegenheit verwickeln und immer neue Störungen verursachen wird. Denn jene künstliche Geistesverfassung muß immer von neuem eingenommen werden durch einen stets erneuerten Entschluß, der das unbefangene Gefühl in mancher Hinsicht verletzt und vergewaltigt. Wir müssen uns im voraus darüber im klaren sein, daß ein Opfer nötig ist; wir müssen im voraus entscheiden, ob wir zu Gunsten des zunächst seine Ansprüche geltend machenden Gefühls ein Opfer an wissenschaftlicher Genauigkeit, Strenge und Klarheit bringen, oder umge-

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kehrt zu Gunsten der wissenschaftlichen Genauigkeit, Strenge und Klarheit eine Verletzung oder wenigstens Zurücksetzung der Ansprüche des Gefühls in Kauf nehmen wollen. Da der wissenschaftliche Zweck für unser ganzes Unternehmen leitend ist, so werden wir uns entschließen, das nun einmal notwendige Opfer auf der Seite des Gefühls zu bringen und uns im einzelnen Fall nicht durch die Konsequenzen dieses Entschlusses irremachen zu lassen. Die Schwierigkeit, die sich hier zeigt, verschwindet mehr oder weniger, wenn es sich um die Anwendungen der Ethik handelt, wenn wir also dazu übergehen, den bereits sichergestellten ethischen Lehren die Tatsachen der Erfahrung unterzuordnen. Aber gerade das wird mit Aussicht auf Gelingen und Nutzen erst möglich sein, wenn zunächst das System der r e i n e n Ethik selber feststeht, dieses System, in dem alles auf restlose Reinheit und Abstraktheit der Prinzipien ankommt, auf Befreiung aller Gedanken von der Rücksicht auf die Fälle der Anwendung. In der Tat besteht für die Durchführung der Abstraktion eine Harmonie zwischen dem Interesse der Praxis und dem der wissenschaftlichen Systematik. Um dem stetigen Wechsel der Umstände gerecht zu werden, müssen die Prinzipien der Ethik unabhängig von der Rücksicht auf einzelne Fälle ihrer Anwendung aufgestellt werden. Anderenfalls würde man zu Sätzen kommen, die zu Unrecht auf Allgemeingültigkeit Anspruch erheben, da sie nur auf gewisse Umstände anwendbar sind, anderen Umständen aber nicht entsprechen. Die Allgemeingültigkeit der ethischen Prinzipien wird also verletzt, wenn man sich voreilig den zufälligen Tatsachen der Erfahrung anpaßt, sei es dadurch, daß man in der Abstraktion nicht weit genug hinaufsteigt, um das vom Zufall der Umstände unabhängige Prinzip selber zu finden, sei es dadurch, daß man sich bei der Untersuchung der Konsequenzen des aufgestellten Prinzips durch das Interesse an den augenblicklichen Umständen dazu verleiten läßt, eine Konsequenz herauszugreifen, ohne zu fragen, ob damit das Prinzip bereits ausgeschöpft ist. Diese

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Fehler führen zu den Verzerrungen des Doktrinarismus und Utopismus, Verzerrungen, die unvermeidlich sind, wenn man es unterläßt, die reine Lehre konsequent von aller Beimengung der Umstände freizuhalten. In dieser Abstraktheit der reinen Ethik dokumentiert sich der philosophische Charakter dieser Wissenschaft.

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2. Kapitel.

Stellung der Ethik im System der Philosophie. § 5.

Ethik als praktische Metaphysik. Die Ethik ist ein Zweig der Philosophie. Die erste Frage, um die es hier geht, ist also die nach der Stellung der reinen Ethik im System der Philosophie. Philosophisch nenne ich eine Erkenntnisart, die sich unabhängig von aller Anschauung durch bloße Begriffe, wenn auch nicht notwendig aus bloßen Begriffen, entwickeln läßt, deren Prinzipien nicht aus der Anschauung geschöpft sind, wenn sie sich auch auf die Anschauung anwenden lassen. Dies genügt zur Charakterisierung einer philosophischen Wissenschaft. Das gesamte Gebiet der Philosophie zerfällt in zwei Hauptteile, die wir nach Kants genauem Sprachgebrauch als Logik und Metaphysik von einander unterscheiden. Diese Unterscheidung beruht auf der Kant ischen Entdeckung des Unterschiedes der analytischen und synthetischen Urteile. Ein analytisches Urteil ist, wie schon der Name anzeigt, ein solches, das unsere Erkenntnis nicht über den Begriff seines Gegenstandes hinaus erweitert, sondern diesen Begriff bloß zergliedert. Ein synthetisches Urteil dagegen erweitert unsere Erkenntnis über den bloßen Begriff seines Gegenstandes hinaus und erfordert infolgedessen eine von diesem Begriff unabhängige Erkenntnisquelle. Ein analytisches Urteil ist z. B. die Behauptung, daß jedes Dreieck drei Seiten hat; synthetisch ist die Behauptung, daß in jedem Dreieck die Winkelsumme zwei Rechte beträgt. Denn um den ersten Satz einzusehen, genügt es, den bloßen Begriff des Dreiecks zu kennen. Für die Feststellung des zweiten sind Begriffe unzulänglich; es ist darum unmöglich, allein mit den Mitteln der Logik über seine Wahrheit zu entscheiden. Das System der synthetischen philosophischen Urteile heißt nun Metaphysik, das System der analytischen Urteile Logik.

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Weil die Metaphysik aus synthetischen Urteilen besteht, bedarf sie, im Unterschied zur Logik, einer vom Begriff des Gegenstandes unabhängigen Erkenntnisquelle. Weil sie aus philosophischen Urteilen besteht, kann diese Erkenntnisquelle andererseits nicht die Anschauung sein. Metaphysische Urteile stammen also weder aus bloßen Begriffen, noch aus der Anschauung. Sie haben ihren Grund in einer unmittelbaren, wenn auch ursprünglich dunklen Erkenntnis. Wir fragen hier nach der Stellung der Ethik im System der Philosophie. Da ist nun klar, daß die Ethik zur Metaphysik gehört. Denn wir beabsichtigen in ihr ja nicht eine bloße Zergliederung unserer Begriffe, sondern eine Erweiterung unserer Erkenntnis über den bloßen Begriff hinaus. Wir wollen hier nicht etwa nur den Begriff einer wertvollen Handlung studieren, sondern wir wollen wissen, was unter diesen Begriff fällt, damit wir von einer gegebenen Handlung entscheiden können, ob sie wertvoll ist oder nicht. Nun umfaßt aber die Metaphysik weit mehr als die bloße Ethik, und wir müssen die Stelle der Ethik innerhalb des Systems der Metaphysik bestimmen. Die Metaphysik zerfällt zunächst in spekulative und praktische Metaphysik. Spekulative Metaphysik enthält die Erkenntnis der Gesetze für das Dasein der Dinge, praktische Metaphysik die Erkenntnis der Gesetze für den Wert der Dinge. Die Sätze der zweiten lassen sich, wie wir schon sahen, nicht auf die der ersten zurückführen, da aus dem, was ist, weder ein Schluß möglich ist auf das, was zu tun wertvoll ist, noch auf das, was sein soll. Ethik kann also nur praktische Metaphysik sein.

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§ 6.

Ethik als subjektive Teleologie im Gegensatz zur objektiven Teleologie. Diese Erklärung ist nun aber noch nicht bestimmt genug. Denn sie läßt die Frage offen, ob auch umgekehrt praktische Metaphysik schon Ethik sein muß, ob also die praktische Metaphysik durch die Ethik erschöpft wird. Das ist in der Tat nicht der Fall. Praktische Metaphysik handelt überhaupt vom Wert der Dinge, Ethik dagegen nur insofern, als dieser Wert eine Aufgabe für unser Handeln bestimmt. Wir müssen hier noch einen Unterschied machen, der allerdings bisher noch viel zu wenig beachtet worden ist und dessen Nichtbeachtung einen wesentlichen Anteil der Schuld daran trägt, daß die Ausbildung der Ethik als Wissenschaft noch so sehr zu wünschen übrig läßt. Wir können diesen Unterschied nach einem zuerst von Fries eingeführten Sprachgebrauch als denjenigen der objektiven und subjektiven Teleologie bezeichnen. Teleologie überhaupt ist die Lehre vom Zweck oder Wert der Dinge. Objektive Teleologie ist die Lehre von dem Zweck oder Wert, den die Dinge an sich, ihrem bloßen Dasein nach haben. Sie hat es letzten Endes zu tun mit dem höchsten und umfassendsten Zweck des Daseins der Dinge, mit dem Weltzweck. Subjektive Teleologie ist dagegen die Lehre von dem Wert, den etwas als Gegenstand unseres Willens hat. Ethik handelt nun offenbar nicht von dem Zweck des Daseins der Dinge überhaupt, sondern von dem, was von uns selber, von unserem Willen erst gefordert wird. Sie kann also nur subjektive Teleologie sein. So klar diese Unterscheidung an und für sich erscheint, so leicht entsteht die Täuschung, daß Ethik als subjektive Teleologie nur hergeleitet werden könne aus einer vorausgesetzten objektiven Teleologie. Es scheint, mit anderen Worten, daß der Zweck unseres Handelns erst auf Grund einer Kenntnis des Weltzwecks bestimmt werden könne. Eine Täuschung ist dies schon darum, weil die Ausführbar-

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keit dieser Idee voraussetzen würde, daß es überhaupt eine objektive Teleologie als Wissenschaft gibt. Wir müßten nämlich den Zweck der Welt kennen und aus dieser Kenntnis den Zweck unseres eigenen Handelns ableiten. Eine solche Kenntnis übersteigt aber das Vermögen der menschlichen Vernunft. Die objektive Teleologie kann darum nur p r a kt i s c h e I de e n 1 eh r e sein im Gegensatz zur Ethik, in der wir es mit einer p r a kt i s c h e n Na tu r 1 ehr e zu tun haben. Der Begriff des Weltzwecks ist nämlich für uns eine bloße Idee, d. h. es entspricht ihm im gesamten Feld unseres Wissens kein Gegenstand. Er bezeichnet etwas, was jenseits des uns wissenschaftlich Erkennbaren liegt. Eine positive wissenschaftliche Erkenntnis haben wir nur von der Natur. Unsere Naturerkenntnis ist aber nicht abgeschlossen; sie erweitert sich, je mehr unsere Erkenntnis in Raum und Zeit fortschreitet. Da Raum und Zeit sich aber ins Grenzenlose ausdehnen, so können wir nie Grenzen der Natur erkennen derart, daß wir zu sagen vermöchten: Dies ist das Ganze, und es hat dieses Ziel. Die Einheit und der Zweck der Welt ist unserer Naturerkenntnis also unerreichbar. Wir können sie denken als etwas, das der Unvollendbarkeit der Natur nicht unterliegt; damit bestimmen wir sie aber nur negativ und nicht durch positive Begriffe. Sofern sich die objektive Teleologie nicht darauf beschränkt, bei den bloß negativen Bestimmungen der Einheit der Welt stehen zu bleiben, sich aber trotzdem nicht auf dogmatische Spekulationen einläßt, erfolgt ihre Ausführung ohne das Rüstzeug bestimmter Begriffe, d. h. sie steht außerhalb der Wissenschaft. Die Einsichten, wie sie der objektiven Teleologie zugänglich sind, fallen in das Gebiet der Religion; sie sind - nach der genauen Formulierung von F r i e s - dem Vermögen der Ahndung vorbehalten. In der Tat zeigt sich bei näherer Betrachtung, daß alle positiven Vorstellungen religiöser Art, also auch diejenigen, die sich auf den Zweck des Daseins der Dinge beziehen, nicht wissenschaftlichen, sondern ästhetischen Ursprungs sind. Ein objektiv teleologisches Urteil ist gar nichts anderes als ein ästhetisches Urteil; denn die ästhetische Wertung richtet sich

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auf den Wert, den ein Ding in sich selber trägt, ohne alle Rücksicht auf sein Verhältnis zu der es umgebenden Natur, und also auch ohne alle Rücksicht auf sein Verhältnis zu dem Willen eines handelnden Wesens. Wenn wir über einen Gegenstand ästhetisch urteilen, dann vergleichen wir ihn nicht mit andern Naturgegenständen und betrachten ihn also auch nicht hinsichtlich seiner Beziehung zu unserem Willen. Wir erkennen ihm einen Wert zu, der ihm an und für sich zukommt, objektiv, und das heißt hier: ohne alle Rücksicht auf unseren Willen. Es handelt sich hier nicht um die Frage, ob solche Urteile berechtigt sind. Aber wenn wir sie fällen, so schreiben wir damit einem Gegenstand einen objektiven Wert zu. Wer dies nicht tut, der fällt kein ästhetisches Urteil. Durch die Zurückführung auf ästhetische Urteile haben wir die objektive Teleologie nun nicht etwa begrifflich aufgelöst. Die ästhetischen Urteile sind vielmehr selber im allgemeinen nicht nach bestimmten Begriffen möglich, sondern sie beruhen auf bloßem, d. h. in Begriffe nicht auflösbarem Gefühl. Sie entspringen aus einer Erkenntnis, die schlechthin dunkel ist und daher nicht die Form der Wissenschaft annehmen kann. Hiermit hängt es zusammen, daß ästhetische Urteile sich nicht beweisen lassen und daß es daher kein System der Ästhetik gibt. Denn ein solches müßte aus Urteilen bestehen, die vermittels logischer Schlüsse aus bestimmten allgemeinen Prinzipien abgeleitet werden. Noch eine andere Uberlegung weist uns darauf hin, daß wir auch mit ästhetischen Urteilen die Erkenntnis der objektiven Teleologie nicht begrifflich fassen können. Wir beurteilen einen Gegenstand ästhetisch nur insofern, als er uns in der Anschauung gegeben ist. Anschaulich gegeben sind uns aber nur einzelne Gegenstände und nicht das Ganze der Welt oder gar der Weltzweck. Ästhetische Urteile können sich demnach nicht auf das Ganze der Welt beziehen, nicht einmal auf das, was wir mit großer Uberheblichkeit W e 1 t g es chic h t e zu nennen pflegen. Sie beziehen sich auf anschaulich bestimmte einzelne Gegenstände, die sich uns in der Anschauung als Einheit dar-

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stellen und deren Schönheit uns insofern zum Symbol für die Einheit der Welt werden kann, ohne daß wir diese darum anschaulich oder gar begrifflich erfassen können. Daraus folgt, daß sich auch vermittels ästhetischer Urteile ein Weltzweck. oder ein Zweck für die Geschichte der Menschheit nicht bestimmen läßt. Man könnte nun darauf hinweisen, daß auch das menschliche Handeln in den Bereich der ästhetischen Beurteilung fällt und daß insofern die Ethik, als Lehre vom Wert menschlichen Handelns, auch die Urteile über den ästhetischen Wert menschlicher Handlungen, über die Schönheit menschlichen Handelns mit umfassen muß. Insofern deckt sie sich in der Tat dem Umfang nach mit einem Teil der objektiven Teleologie, nämlich mit demjenigen Teil, der sich auf menschliche Handlungen bezieht. Aber der Unterschied zwischen der einen und der anderen Beurteilung wird dadurch nicht verwischt. Der Gesichtspunkt ist nämlich ein anderer, je nachdem wir die menschlichen Handlungen ästhetisch oder ethisch beurteilen. Die Ethik kann es nur tun vom Standpunkt der subjektiven Teleologie aus, d. h. nur insofern, als sich aus dem Wert einer Handlung für uns die Aufgabe ergibt, diese Handlung zu tun, während die objektiv teleologische, also die eigentlich ästhetische Betrachtung von diesem Gesichtspunkt unabhängig ist. Für die objektive Teleologie ordnet sich die Beurteilung des menschlichen Handelns nur als ein Teil in das Ganze der ästhetischen Naturbetrachtung ein. Wir werden später Gelegenheit haben, dieses Verhältnis der ästhetischen zur ethischen Beurteilung einer genaueren, gründlicheren Untersuchung zu unterziehen. Hier kommt es lediglich auf die Feststellung an, daß Ethik nur als subjektive Teleologie Wissenschaft sein kann, daß sie sich nicht auf eine objektive Teleologie gründen läßt. Ihre Prinzipien müssen also festliegen unabhängig von aller objektiv teleologischen Beurteilung. Das heißt andererseits nicht, daß die Zwecke und Ziele, von denen die Ethik handelt, subjektiv in dem Sinne wären, daß sie

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unserem Belieben anheimgestellt blieben, daß es beliebig gesetzte Zwecke, willkürlich aufgegriffene Ziele wären. Vielmehr gibt es eine von menschlicher Willkür unabhängige Gesetzgebung sowohl der subjektiven wie der objektiven Teleologie.

§ 7.

Beispiele für die Verwechslung der subjektiven mit der objektiven Teleologie. Einige Beispiele werden uns deutlicher machen, auf welche Abwege ethische Untersuchungen geraten durch die Verwechslung der beiden Gebiete der Teleologie oder auch nur durch den Versuch einer Begründung der Ethik auf objektive Teleologie. Man hat die Ethik vielfach als die Lehre von der Bestimmung des Menschen erklärt. In dieser Ausdrucksweise zeigt sich deutlich die Unklarheit hinsichtlich des Verhältnisses der beiden Arten teleologischer Betrachtungsweisen. Man kann von der Bestimmung des Menschen nämlich in beiderlei Sinn reden. Einmal in dem Sinn, daß man damit die Bestimmung meint, die dem Menschen im Ganzen des Weltplans, der Entwicklung des Weltgeschehens, zufällt, wo sidl dann seine Bestimmung und der Zweck, den er zu verfolgen hat, aus der Rolle ergibt, die er gemäß dem Weltplan einnehmen soll. In diesem Sinn gibt es, wie wir gesehen haben, keine Wissenschaft von der Bestimmung des Menschen; man müßte sich denn anmaßen, die Bedeutung abmessen zu können, die dem Menschen oder dem Menschengeschlecht für die Erfüllung des Weltzweckes zukommt. Wir können aber die Lehre von der Bestimmung des Menschen auch anders verstehen, nämlich im subjektiv teleologischen Sinn, wenn wir uns nur darüber klar sind, daß es sich hier um das handelt, wozu der Mensch sich selber zu bestimmen hat, daß wir hier also nicht nach den Zwecken und Zielen fragen, die dem Menschen als Glied der Welt gesetzt

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sind, sondern nach denen, die er sich in der Geschichte und in seinem eigenen Leben vernünftiger Weise setzen sollte. Dies festzustellen ist Aufgabe der Ethik, und in diesem Sinn allein kann die Bestimmung des Menschen der Gegenstand einer Wissenschaft sein. Oder ein anderes Beispiel: Es gibt einen alten Streit in der Ethik zwischen einer optimistischen und einer pessimistischen Welt- oder Lebensansicht, und je nachdem, auf welche Seite in diesem Streit der einzelne Ethiker tritt, wird er zu einer mehr lebensbejahenden oder mehr lebensverneinenden Ethik geführt. Hier liegt der gleiche Fehler zu Grunde. Wir müßMn das Weltganze übersehen können, um das Uberwiegen des Guten oder Schlechten in ihm wissenschaftlich erkennen und auf diese wissenschaftliche Erkenntnis die Ethik als Wissenschaft begründen zu können. Die Verwirrung ist besonders groß in dem weiten Gebiet, das unter dem Namen „Geschichtsphilosophie" die verschiedenartigsten Bearbeitungen gefunden hat. Der Fehler, gegen den ich mich hier wende, liegt überall da vor, wo man an die Geschichte herantritt mit vorgefaßten Meinungen über den Sinn oder den künftigen Entwicklungsgang der Geschichte. Er zeigt sich z. B. in der berühmten Lessing sehen „Idee einer göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts" oder in den Phantasien der S c h e 11 i n g sehen und He g e 1 sehen Lehren, in denen uns die Geschichte als die allmähliche Selbstoffenbarung Gottes geschildert wird. Derselbe Fehler zeigt sich im Grunde auch in moderneren Vorstellungen, in Vorstellungen, die eine mehr entwicklungsgeschichtliche oder mehr naturwissenschaftliche Einkleidung erhalten haben. So hat sich eine evolutionistische Ethik ausgebildet, in der man das Ziel der Entwicklung aus der Biologie herzuleiten unternimmt, und eine soziologische Ethik, in der man es der Soziologie oder der Wirtschaftsgeschichte abfragen will. Ein anderes Beispiel bietet die in der sozialistischen Literatur hervorgetretene Lehre, die behauptet, das naturnotwendige Herannahen des sozialistischen Gesellschaftszustahdes aus dem bisherigen Lauf der Geschichte ablesen

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und daraus die Forderung ableiten zu können, daß die Menschen gemäß dieser geschichtlichen Entwicklung handeln sollen. Von allen diesen Phantasien ist die Geschichtsphilosophie in einer andern Bedeutung des Wortes wohl zu unterscheiden. Diese Geschichtsphilosophie überläßt es der empirischen Erforschung des Ganges der Geschichte, zu entscheiden, in welcher Richtung sich die Geschichte abspielt und vermutlich weiter abspielen wird, sofern die Erfahrung es überhaupt zuläßt, Schlüsse von solcher Allgemeinheit abzuleiten; mit Philosophie hat diese Fragestellung jedenfalls nichts zu tun. Die Geschichtsphilosophie als Wissenschaft wirft eine ganz andere Frage auf, die Frage nach den Aufgaben, die sich vernünftige Wesen in der Geschichte setzen sollten. Uber diese Aufgaben kann uns der Blick auf die tatsächliche Entwicklung der Geschichte ebensowenig sagen wie eine vermeintliche Lehre vom Weltzweck.. Hierüber gibt uns einzig und allein die Ethik als rein philosophische Wissenschaft Aufschluß. Geschichtsphilosophie in diesem Sinn stellt sich also als ein Zweig der Ethik dar. § 8.

Kategorische und hypothetische Imperative. Um das für den ganzen Aufbau der Ethik entscheidende Verhältnis zwischen der objektiven und der subjektiven Teleologie noch genauer und klarer darzustellen, wollen wir eine einfache Uberlegung hinzunehmen, und zwar auf Grund der bereits erwähnten Unterscheidung zwischen Indikativen und Imperativen. Es hatte sich ergeben. daß man aus Indikativsätzen niemals Imperativsätze erschließen kann. Nun gibt es aber zwei Arten von Imperativen, nämlich kategorische und hypothetische Imperative. Auf der Entdeckun_g dieser Unterscheidung beruht letzten Endes die große Reformation der Ethik, die wir K an t verdanken. Solange nämlich der Unterschied zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen nicht klar war, solange konnte auch die grundsätzliche Trennung zwischen spekulativer und praktischer Meta-

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physik nicht klar werden, und erst recht nicht die Trennung von objektiver und subjektiver Teleologie. Ein hypothetischer Imperativ ist ein Gebot, das nur in Hinsicht auf einen vorausgesetzten Zweck gilt, während ein kategorischer Imperativ ohne Rücksicht auf einen solchen gebietet. Hypothetische Imperative ergeben sich auf Grund der Naturwissenschaft; aber von diesen hypothetischen Imperativen gibt es keinen logischen Ubergang zu kategorischen Geboten. So ergeben sich in der Naturwissenschaft die hypothetischen Imperative: Wenn Du einen Baum großziehen willst, so mußt Du ihn hinreichend mit Wasser versehen! Wenn Du eine Flamme unterhalten willst, dann mußt Du ihr hinreichend Sauerstoff zuführen! Schon das Wort „müssen" zeigt, daß wir es hier nicht mit ethischen Gesetzen zu tun haben, sondern mit Naturgesetzen. Es ist ein Naturgesetz, daß ein Baum, der nicht hinreichend mit Wasser versorgt wird, abstirbt, oder daß eine Flamme erlischt, wenn ihr nicht hinreichend Sauerstoff zugeführt wird. Durch die Einsicht in ein solches Naturgesetz lernen wir das Mittel kennen, das zur Erreichung eines bestimmten Zweckes notwendig ist. Ob wir aber diesen Zweck wählen sollten, das läßt der hypothetische Imperativ durchaus in der Schwebe. Wir kommen durch ihn nur zu der Feststellung, daß jemand, der den angegebenen Zweck erreichen will, genötigt ist, das fragliche Mittel anzuwenden. Ein ethisches Gesetz dagegen enthielte etwa die Sätze: Du sollst ein gegebenes Versprechen halten! Du sollst fremdes Eigentum nicht entwenden! Das Wort „sollen" drückt die Unbedingtheit dieses Gebotes aus, seine Unabhängigkeit von irgend einem durch seine Befolgung zu erreichenden Zweck. Diese Unterscheidung zwischen den Begriffen „Sollen" und „Müssen" verhilft uns zugleich zu einer tieferen Einsicht in die Unabhängigkeit der Ethik als subjektiver Teleologie von aller objektiven Teleologie. Angenommen selbst, wir wüßten um den Weltzweck, und wir hätten somit einen Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Entwicklung der objektiven Teleologie,

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Ethik.

wie sollten wir nun von da aus auf Vorschriften für unser Handeln schließen? Nehmen wir etwa an, der Weltzweck. bestünde in der allgemeinen Glückseligkeit oder in der allgemeinen Vollkommenheit oder in noch anderem. Dann könnten wir wohl den hypothetischen Imperativ aufstellen, der uns sagt, was wir tun müssen, wenn uns an der Verwirklichung des höchsten Gutes in der Welt gelegen ist, an der Realisierung des Weltzwecks oder des göttlichen Willens, also z.B. an der Förderung der allgemeinen Glückseligkeit. Wir brauchen dann nur die Naturgesetze daraufhin zu befragen, wovon eine Erhöhung oder eine Verminderung der allgemeinen Glückseligkeit abhängt. Wir würden so die Mittel kennenlernen, die wir zu ergreifen hätten, um ein Maximum an Glückseligkeit in der Welt herbeizuführen. Aber das alles wären nur Vorschriften, die sagten, was tunlich wäre, wenn uns an der Realisierung der allgemeinen Glückseligkeit gelegen wäre. Warum so 11 uns aber daran gelegen sein? Diese Frage müßte zuvor beantwortet sein, und die Antwort müßte sicher und fest stehen, wenn der hypothetische Imperativ, den wir aufgestellt haben, für uns irgend welches praktische Interesse haben sollte. Sonst bleibt er ein Satz von lediglich theoretischer Bedeutung, wiederum nur die bloße Einkleidung des Naturgesetzes, das uns theoretisch als solches interessieren mag, aber keinerlei praktische Bedeutung beanspruchen kann. Praktisch bedeutungsvoll wäre er nur unter der Voraussetzung, daß die Förderung des Weltzwecks - möge er nun in der allgemeinen Glückseligkeit, in der Vollkommenheit oder in etwas anderem bestehen - ihrerseits für uns erstrebenswert wäre; mit anderen Worten: unter der Voraussetzung, das wir sie erstreben sollten. Wenn sich dies aber ausmachen ließe, wenn sich feststellen ließe, daß wir helfen sollten, den Zweck Gottes in der Welt zu verwirklichen - eine in Hinsicht auf die Idee der göttlichen Allmacht höchst widerspruchsvolle und unwürdige Vorstellung -, nun so wäre diese Feststellung ihrerseits ein Satz der sub j e kt i v e n Teleologie, nämlich die Aufgabe für unseren

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Willen: Tue das, was zur Realisierung des göttlichen Weltzwecks beiträgt! Ein Satz, der nie und nimmer aus der Kenntnis des göttlichen Weltzwecks ableitbar wäre, sondern ganz unabhängig von dieser Kenntnis feststehen müßte. Denn wie sollte - ich sage es noch einmal - daraus, daß etwas der Zweck Gottes ist, geschlossen werden, daß es unser Zweck sein oder werden so 11? Jeder Versuch, so zu schließen, bewegt sich in einem Zirkel. Er setzt als stillschweigende Prämisse immer wieder das voraus, was bewiesen werden soll, nämlich die Verbindlichkeit des göttlichen Willens und damit die Aufgabe für unseren Willen, zur Realisierung des Weltzwecks tätig zu sein. Alles dies wird uns klar werden und klar bleiben, wenn wir den Unterschied zwischen kategorischen und hypothetischen Imperativen einmal aufgefaßt haben und fest im Auge behalten. Dann werden wir uns nicht darüber täuschen, daß die Ethik als praktische Wissenschaft - ,,praktisch" im ursprünglichen, im engsten und strengsten Sinn des Wortes verstanden - auch nur zur praktischen Metaphysik und in ihr nur zur subjektiven Teleologie gehören und weder aus Sätzen der spekulativen Metaphysik, noch aus solchen der objektiven Teleologie abgeleitet werden kann. Damit ist nun nicht gesagt, daß die Sätze der spekulativen Metaphysik, also auch die hypothetischen Imperative, für die Ausführung der Ethik nicht wichtig werden könnten. Sie haben in der Tat eine grundlegende Bedeutung für die angewandte Ethik. Denn wenn wir uns die Frage stellen, wie die Vorschriften der reinen Ethik erfüllt werden können, so werden wir sofort auf die Naturwissenschaft verwiesen; denn nur diese gibt uns Aufschluß über die Mittel, die zur Erreichung irgend eines Zwecks - also auch des Zwecks der Erfüllung ethischer Vorschriften - erforderlich sind. Nur unter Hinzunahme hypothetischer Imperative lassen sich aus kategorischen Imperativen neue kategorische Imperative ableiten, die uns in der Anwendung der ersten leiten. Nun lernen wir die Naturgesetze, die wir den Gesetzen der

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reinen Ethik unterordnen müssen, nur mit Hilfe der Erfahrung kennen. Wir können sie nicht ihrerseits durch bloßes Philosophieren entdecken, sondern wir müssen dazu die Tatsachen erforschen. Sofern aber die hypothetischen Imperative aus der Erfahrung entnommen werden, gehören auch jene erst mittelbar abgeleiteten kategorischen Imperative nicht in die reine philosophische Ethik. Die Lehre von den mittelbaren Pflichten kann, sofern sie schon Erfahrung voraussetzt, nicht in der reinen philosophischen Ethik abgehandelt werden. zusammenfassend können wir sagen: Reine philosophische Ethik ist p r a kt i s c h e N a tu r 1 e h r e , im Gegensatz zur praktischen Ideen lehre einerseits und zur t h eo r et i s c h e n Naturlehre andererseits. Wir verwenden dabei den Gegensatz „ theoretisch - praktisch" in dem Sinn, wonach eine Erkenntnis „ theoretisch" heißt, sofern sie sich auf das Sein der Dinge bezieht, während eine „praktische" Erkenntnis den Zweck oder Wert der Dinge betrifft.

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3. Kapitel.

Stellung der Tugendlehre im System der Ethik. § 9.

Innere und äußere subjektive Teleologie. Ethik als subjektive Teleologie, d. h. als die Lehre vom Wert oder Zweck menschlichen Verhaltens hat es einerseits zu tun mit der Frage nach den ethischen Anforderungen an den Willen des Einzelnen und andererseits mit der Frage nach den Bedingungen, die sich aus diesen Anforderungen für den Wert des Gesellschaftszustandes ergeben. Im ersten Fall beziehen wir uns auf das Verhalten des Einzelnen, und zwar insofern, als dieses Verhalten Gegenstand einer an den Willen gerichteten ethischen Aufgabe ist; im andern Fall fragen wir nach der äußeren Form, in der die Einzelnen mit einander in Wechselwirkung stehen, und zwar insofern, als diese äußere Form durch den Inhalt der ethischen Anforderungen bestimmt ist. Hiernach trennen wir die innere und äußere subjektive Teleologie oder, wie wir auch sagen können, die innere und äußere praktische Naturlehre. Zur Unterscheidung können wir uns hier einer klassischen Terminologie bedienen. Die innere praktische Naturlehre nennt man seit altersher Ethik im engeren Sinn oder Tu g e n d 1 ehre, im Gegensatz zur äußeren praktischen Naturlehre oder R e c h t s 1 e h r e. Die Tugendlehre handelt von dem Wert des Verhaltens des Einzelnen, die Rechtslehre dagegen vom Wert eines Gesellschaftszustandes, d. h. der Form der Wechselwirkung der Einzelnen. Wir haben es in dieser Vorlesung mit der Ethik im engeren Sinn, mit der Tugendlehre zu tun. Um die Bedeutung dieser Lehre, der Lehre vom Wert des Verhaltens der Einzelnen, tiefer aufzufassen, brauchen wir uns nur auf die praktische Bedeutung dieser Wissenschaft zu besinnen. Man kann die Ethik geradezu definieren als die praktische Wissenschaft. Denn praktisch ist, dem eigentlichen Wortsinn nach, das, was uns zu Entschlüssen verhilft, uns beim Handeln leitet. Und diesen Dienst, so sonderbar das auch klingt,

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kann uns keine andere Wissenschaft leisten als einzig ~nd allein die Ethik, und zwar die reine philosophische Ethik. Erst unter ihrer Vermittlung kann irgend eine andere Erkenntnis oder Wissenschaft in praktischer Hinsicht Interesse gewinnen. Die hypothetischen Imperative, die man im allgemeinen praktisch zu nennen pflegt, sind in Wahrheit meist theoretische Sätze, die nur mittelbar praktische Bedeutung bekommen, sofern kategorische Imperative, und also ethische Sätze sie ihnen erteilen. Um dieses Ergebnis richtig aufzufassen, müssen wir daran festhalten, daß nur die Tugendlehre eine im strengsten Sinn praktische Wissenschaft zu heißen verdient. Selbst die Rechtslehre bekommt ein solches praktisches Interesse erst mittelbar durch die Tugendlehre. Denn wenn wir auch wissen, wovon der Wert eines Gesellschaftszustandes abhängt, und wenn wir darüber hinaus wissen, wie wir ihm diesen Wert geben können, so geht uns das in praktischer Hinsicht zunächst gar nichts an, falls wir nicht anderswoher wissen, daß wir die Aufgabe haben, etwas zur Realisierung dieses Werts, nämlich des Rechts, beizutragen. Darüber aber gibt allein die Tugendlehre Aufschluß. Die Rechtslehre handelt nur in einem sehr übertragenen Sinn von Aufgaben. Sie bestimmt für sich nur die Bedingungen des Wertes eines Gesellschaftszustandes und also gar keine Aufgaben; denn Aufgaben beziehen sich, wenn man das Wort genau nimmt, immer auf den Willen eines Ein z e 1n e n, und zwar eines handelnden Wesens. Die Gesellschaft ist aber kein Wesen, und wenn sie eins wäre, so wäre sie darum noch kein handelndes Wesen; denn sie hat keinen Willen, dem man Aufgaben stellen könnte. Einen solchen hat nur der Einzelne. Ihm allein können Aufgaben im strengen Sinn des Wortes gestellt werden, und unter diesen mag sich auch die befinden, zur Realisierung des Rechtszustandes beizutragen. Von hier aus gesehen würde das Thema der Rechtslehre seine Stelle innerhalb der Tugendlehre finden. Tugendlehre und Rechtslehre unterscheiden sich also nicht als zwei Wissenschaften, die verschiedene Aufgabenkreise ent-

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wickeln. Aufgaben entwickelt allein die Tugendlehre; streng genommen verdient darum nur sie den Namen einer praktischen Wissenschaft. § 10.

Die Anwendung von Tugend- und Rechtslehre. Wir können die Unterscheidung von Tugend- und Rechtslehre noch von einer andern Seite beleuchten, indem wir uns auf den Standpunkt der Anwendung stellen und nach den Prinzipien fragen, die dabei im einen und andern Fall vorausgesetzt werden müssen .. Wir kommen damit auf den Unterschied zwischen Pädagogik und Politik. P ä da g o g i k ist die systematische Anweisung, den Einzelnen zur Tugend zu führen, d. h. ihn zur Erfüllung seiner ethischen Aufgaben tauglich zu machen. Politik ist die systematische Anweisung, in der Gesellschaft den Rechtszustand herbeizuführen, d. h. einen solchen Zustand, der die Anforderungen der Rechtslehre verwirklicht. Die Pädagogik setzt eine Bestimmung des Ziels voraus, zu dem sie den Einzelnen führen soll. Diese Zielbestimmung erhält sie von der Tugendlehre. Die Politik setzt die Bestimmung des Ziels für die Gesellschaft voraus. Diese Zielbestimmung erhält sie von der Rechtslehre. Die Pädagogik handelt also von den Bedingungen der Verwirklichung der Tugend im Leben des einzelnen Menschen; die Politik handelt von den Bedingungen der Verwirklichung des Rechtszustandes in der Gesellschaft. Die eine gründet sich auf die Tugendlehre, die andere auf die Rechtslehre. Wir erhalten somit für die Einteilung der Ethik folgendes Sehe ma: innere Ethik äußere Ethik reine Ethik angewandte Ethik

Tugendlehre

Rechtslehre

Pädagogik

Politik

Wir haben es im folgenden mit der Ethik im engeren Sinn, also mit der Tugendlehre und ihrer Anwendung, der Pädagogik, zu tun.

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Ethik.

4. Kapitel.

Einteilung der Tugendlehre. § 11.

Die Anforderung der Tugend. Das Wort „Tugend" hängt mit t au g e n zusammen und heißt im Grunde nichts anderes als Tauglichkeit. Wenn wir aber hier diesen Ausdruck gebrauchen, so ist etwas Bestimmteres darunter zu verstehen. Die besondere Tauglichkeit, die hier eine solche des Menschen ist, ist die Tauglichkeit zur Erfüllung einer ethischen Aufgabe. Tugend ist ein Geistesvorzug, der durch eigene Tätigkeit erworben wird. Nur unter dieser Voraussetzung läßt sich die Ethik als Tugendlehre bezeichnen. Denn als die Lehre von den Aufgaben des Menschen handelt sie in der Tat von einer Tauglichkeit nur insofern, als diese durch eigene, freie Tätigkeit erworben werden kann. In diesem Sinne werden wir den Ausdruck „Tugend" festhalten, einen Ausdruck, der im Lauf der Zeit einen etwas altmodischen und weltfremden Beigeschmack erhalten hat. Ich will hier nicht untersuchen, woran dies liegt, ob die Schuld daran mehr bei denen zu suchen ist, die sich mit einer gewissen Philistrosität und Weltfremdheit das Tugendpredigen zum Beruf gemacht haben, oder ob die Schuld mehr daran liegt, daß man sich solchen tieferen Fragen entfremdet hat. Mir kommt es hier nur darauf an, daß wir dieses gute, alte Wort nicht entbehren können, daß wir uns seiner annehmen müssen, um es wieder zu Ehren zu bringen; denn wir haben nun einmal kein anderes, das uns zur Bezeichnung des Begriffs dienen könnte, über den eine Verständigung nötig ist. Wir stellen uns also die Frage: Welches sind die Geistesvorzüge, die das ausmachen, was wir Tugend nennen, und welches ist ihre Rangordnung? Dies ist nur ein anderer Ausdruck für die Frage: Was sollen wir tun? Oder: Was ist tunlich für uns? Oder auch: Was ist für uns zu tun gut? Was ist wert, getan zu werden? Was hat praktisches Interesse, praktische Bedeutung für uns?

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Wenn wir die Ausdrücke: ,,sollen", ,,tunlich", ,,gut", ,,wert" in dem weitesten Sinn nehmen, in dem sie im Sprachgebrauch eine Rolle spielen, so sind auf jene Frage sehr versahiedene Antworten möglich, Antworten, die wir sorgfältig trennen müssen; denn sie entsprechen einer verschiedenen Auslegung der Frage. Wenn jemand fragt: Was sollen wir tun?, so kann man darauf etwa antworten: Wir sollen das tun, was uns Genuß verschafft, oder: was uns Zufriedenheit bereitet, oder: was die Klugheit uns anrät, oder: was das positive Gesetz uns vorschreibt, oder: was Anstand und Sitte verlangen, oder: was dem guten Geschmack entspricht, oder: was die Sittlichkeit fordert. Damit sind nun aber Anforderungen sehr verschiedener Art bezeichnet, die wir jetzt durchmustern müssen, um diejenigen von ihnen auszusondern, die uns den eigentlichen Gegenstand der Ethik bestimmen. Betrachten wir sie daher der Reihe nach. „Wir sollen das tun, was uns Genuß verschafft." Von dieser Anforderung ist leicht klar, daß sie sich gar nicht philosophisch bestimmen läßt, daß sie also kein Thema einer philosophischen Untersuchung sein kann, und glücklicher Weise auch nicht zu sein braucht. Denn was dem Einzelnen Genuß verschafft, das hängt von seinem jeweiligen individuellen Empfinden ab, darüber lassen sich keine allgemein verbindlichen Regeln und Vorschriften aufstellen. Es b e darf hier auch gar keiner solchen allgemeingültigen Entscheidung. Denn hier ist gar kein Streit, dessen Entscheidung zur Diskussion stehen könnte. Daß dem einen dies, dem andern das Gegenteil Genuß verschafft, das bietet keine Ursache für einen Meinungsstreit; denn der eine behauptet hier nichts, was der andere zu bestreiten Grund fände; jeder sagt vielmehr nur etwas aus über seinen eigenen Empfindungszustand. Der Wert des Genusses erschöpft sich in der Befriedigung der Bedürfnisse. Daraus folgt zugleich, daß die Frage nach den Anforderungen des Genusses gar keine p r a kt i s c h e Frage ist; denn sie fragt nicht nach den Aufgaben, die wir erfüllen sollen, sondern nur nach den

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Bedürfnissen, die wir tatsächlich haben. Sie ist also eine psychologische, eine Tatsachenfrage. Die Befriedigung der Bedürfnisse ist darum kein Thema der Ethik. Diese Befriedigung ist nur der Gegenstand eines tatsächlichen, subjektiven Begehrens. Die Ethik aber fragt nicht, was tatsächlich begehrt wird, sondern was begehrens w e r t ist. Nur mittelbar kann auch in der Ethik von der Befriedigung der Bedürfnisse die Rede sein, sofern diese nämlich mittelbar einen Wert erhält, indem sie zur Bedingung dessen wird, was erstrebenswert ist. Solche Bedingungen zu erforschen, ist aber, wie wir schon wissen, keine Angelegenheit der philosophischen Ethik; denn eine solche Untersuchung erfordert eine Kenntnis der Naturgesetze, und diese kann nur durch Erfahrung erworben werden. Trotzdem hat man immer wieder versucht, in der Ethik von den Anforderungen des Genusses auszugehen, wenn man auch vorgezogen hat, diesen etwas derben Ausdruck. durch einen andern zu ersetzen, etwa den der G 1ü c k s e 1 i g k e i t. Die Ethik erscheint danach als eine Lehre, die das Ziel des menschlichen Strebens in die Glückseligkeit setzt, d. h. in den Inbegriff dessen, was den Menschen glücklich macht. Und das ist zunächst nichts anderes als eine Befriedigung seiner Bedürfnisse. Wenn man das fragliche Ziel so nüchtern erklärt, dann ist es allerdings recht wenig einleuchtend, daß das Ziel der Ethik mit dem der Glückseligkeit zusammenfallen sollte. Denn das Glück des Menschen hängt nur von der Stärke und Dauer seines Genusses im Verhältnis zum Ganzen seiner Bedürfnisse ab. Und wenn es wahr wäre, daß es nur auf das Glück ankäme, so brauchten wir hinsichtlich der Wahl der Mittel· keineswegs Skrupel zu haben - sofern sie nur dazu dienen, uns glücklich zu machen, sofern sie also nur wirklich Mittel zu dem fraglichen Zweck, zur Glückseligkeit, sind. In der Tat bemühen sich viele Verfechter der Glück.seligkeitslehre eifrig, hier eine Einschränkung anzubringen, wonach nicht ohne weiteres Stärke und Dauer des Genusses maßgebend sein sollen, sondern wonach wir vielmehr bedacht sein

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sollen, das „höhere" oder das „wahre" Glück, wie man es zu nennen liebt, zu erwerben. Hier wird also eine Unterscheidung eingeführt, die sich nicht auf die bloße Stärke und Dauer des Glücks beziehen kann, sondern auf einer qualitativen Verschiedenheit der Bedürfnisse selber beruhen muß, so daß die Befriedigung der einen Art von Bedürfnissen einen Vorzug erhält vor der Befriedigung der andern - mag die bevorzugte Befriedigung auch den nach Stärke und Dauer geringeren Genuß gewähren. Die höheren Bedürfnisse wären hiernach diejenigen, die wert sind, befriedigt zu werden, oder deren Befriedigung derjenigen der andern vorzuziehen ist. Wenn aber ein Bedürfnis wert ist, ohne Berücksichtigung seiner relativen Stärke befriedigt zu werden, so muß dies seinen Grund in etwas anderem haben als in dem durch die Be• friedigung zu erwerbenden Glück. Wir verlassen hier also im Grunde das Prinzip der Glückseligkeit, wenn wir die Ethik auf die Unterscheidung des höheren und des niederen Glücks gründen. Es wäre wenigstens ein grober Trugschluß, wenn man dem höheren das größere Glück unterschieben wollte. Damit ginge die hier eingeführte Unterscheidung gerade wieder verloren, und wir hätten uns die Mühe schenken können, von dem Unterschied des höheren und niederen Glücks überhaupt zu sprechen. Wer diesen Unterschied neben dem des größeren und geringeren Glücks beibehalten will, trotzdem aber von der Höhe eines Glücks auf dessen Größe schließt, der führt damit offenbar eine synthetische Voraussetzung ein. Er nimmt an, daß nach einem geheimnisvoll waltenden Naturgesetz das höhere Glück zugleich das größere sein müßte. Diese Annahme aber bedürfte eines Beweises; es müßte bewiesen werden, daß sich die Tugend lohnt und das Laster nicht, daß der Grad des Glücks sich bestimmt nach dem Grad unserer Tugend, und der Grad des Unglücks oder des Leides nach dem Grad unserer Lasterhaftigkeit. Man müßte sich denn auf die Ausrede zurückziehen, daß, wie mit der Befriedigung jedes Bedürfnisses, so auch mit der Befriedigung des sittlichen Triebes ein Lustgefühl verbun-

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den sei, daß also, wie man sagt, ein gutes Gewissen ein sanftes Ruhekissen sei und das böse Gewissen ein Quälgeist, der uns nicht zum ungetrübten Genuß des Lebens kommen lasse. Aber dann bleibt doch immer die Frage, ob denn die Befriedigung dieses sittlichen Triebes, und also die Erfüllung der Anforderungen des Gewissens, wirklich ein größeres Glück gewährt, als wir es sonst erwerben könnten, wenn wir uns nicht ängstlich an diesen Mahner hielten, der uns, wenn wir ihm folgen, nötigt, auf manchen Genuß zu verzichten und manches Leid in Kauf zu nehmen. Die größte Gewissenhaftigkeit vermag nicht zu verhindern, daß Neigungen bei uns im Spiel bleiben, die, sofern ihre Befriedigung durch die Anforderung unseres Gewissens verwehrt wird, unbefriedigt bleiben und dadurch Leid erzeugen. Es liegt also in der Lehre vom wahren Glück ein Wortspiel, das man denen überlassen sollte, die sich bei der Lösung der Aufgabe, Menschen zur Tugend zu führen, nicht anders zu helfen wissen als durch solche Gaukeleien. Hält man sich wirklich unvoreingenommen an die Erfahrung, so kann man nicht verkennen, daß es ein schlechter Rat ist, zur Erwerbung der Glückseligkeit die Befolgung der Forderungen des Gewissens anzuraten. Der entgegengesetzte Rat empfiehlt sich hier weit mehr: das Gewissen so schnell wie möglich einzuschläfern. Das läßt sich z. B. gerade durch einen hinreichend lasterhaften Lebenswandel erreichen. Durch einen solchen kann man das Gewissen beträchtlich abstumpfen, ja völlig zum Schweigen bringen - gewiß der sichere Weg, dem „wahren Unglück" zu entrinnen, das in der Qual des schlechten Gewissens seine Ursache hat. Damit ist im Grunde schon zugleich entschieden, wie es sich mit jener zweiten Antwort verhält, die uns bei der Frage, was wir tun sollen, auf die Zufriedenheit verweist. Wenn von der Zufriedenheit die Rede ist, so müssen wir die Zufriedenheit mit unserem Zustand unterscheiden von der Zufriedenheit mit uns s e 1 b er und das heißt: mit unseren Leistungen. Fragen wir nach der Zufriedenheit mit un-

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serem Zustand, so ist dies etwas, was unmittelbar gar nicht von unserem Willen abhängt. Sie ist etwas, was sich allein durch das Maß unserer Bedürfnisbefriedigung bestimmt, sie deckt sich eben darum mit der Anforderung des Genusses, ja sie ist von dieser gar nicht zu unterscheiden. Ganz anders dagegen die Zufriedenheit mit uns selber! Hier gibt uns schon der Sprachgebrauch einen Fingerzeig. Wir fragen nämlich, ob jemand einen Grund hat, mit sich zufrieden zu sein, oder ob er ihn nicht hat. Die Zufriedenheit mit uns selber hängt ab von dem Ur t e i 1, das wir über uns selber, und zwar über unsere Handlungen fällen. Je nachdem, ob dieses Werturteil begründet ist oder nicht, ist auch die Zufriedenheit mit uns selber begründet oder nicht. Hier ist wirklich ein Streit möglich, der der Entscheidung bedarf, ein Streit nämlich darüber, ob jemand Grund hat, mit sich zufrieden zu sein. Eine solche Anforderung soll also etwas anderes bedeuten als nur die Befriedigung der Bedürfnisse, und wir wollen sie daher genauer aussprechen als die Anforderung, Grund zur Zufriedenheit mit sich selber zu haben. Eine solche Zufriedenheit richtet sich auf einen Wert, der sich nicht im bloßen tatsächlichen Genuß erschöpft. Formulieren wir aber die Anforderung so: danach zu streben, daß wir Grund haben, mit uns zufrieden zu sein, dann zeigt sich sofort, daß wir damit eine selbständige, von der Befriedigung der Bedürfnisse unabhängige Aufgabe erhalten. Denn nun entsteht sofort die Frage, ob wir Grund haben, mit uns zufrieden zu sein, und da hängt alles davon ab, ob das, was wir tun, gut ist, wobei das Wort „gut" einen andern Sinn haben muß als den, daß unser Verhalten uns Zufriedenheit bereitet. Wir würden uns sonst im Kreise drehen und keine Antwort erhalten auf die Frage, was uns Grund zur Zufriedenheit gibt. Wollten wir also die Aufgabe der Ethik dahin bestimmen, daß sie uns lehren soll, was uns zufrieden macht, so würde dies eine ethisch bedeutungslose Frage darstellen. Sie könnte nur Bedeutung erhalten, wenn wir einen anderweitigen Maßstab hinzunehmen für das, was erstrebenswert ist, einen Maßstab, an dem wir die Berechtigung unserer Zufriedenheit messen.

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Untersuchen wir, ob uns vielleicht die dritte Antwort, die uns an die K 1 u g h e i t verweist, diesen Maßstab in die Hand gibt. Die Klugheit rät uns die Mittel an, die geeignet sind zur Erreichung unserer Zwecke. Wir wissen schon, daß auch diese Vorschriften nicht den Inhalt der Ethik ausmachen können. Denn einmal lassen sich die Mittel zur Erreichung irgend welcher Zwecke nur bestimmen auf Grund der Kenntnis der Naturgesetze, weil nur diese uns sagen, welche Bedingungen erforderlich sind, damit eine gewisse Wirkung tatsächlich eintritt. Doch davon abgesehen, steht über allen Vorschriften der Klugheit noch eine Norm, deren Anforderungen sie untergeordnet werden müssen, um selber auch nur als Vorschriften gelten zu können. Denn die Anforderungen der Klugheit lassen es unentschieden, ob der vorausgesetzte Zweck, zu dessen Erreichung sie die Mittel anraten, seinerseits erstrebenswert ist. Die Frage nach dem Mittel entsteht überhaupt erst dann als eine für uns praktisch bedeutsame Frage, wenn schon feststeht, daß der Zweck erstrebenswert ist. Dieser Zweck aber muß um anderer Gründe willen erstrebenswert sein als darum, weil es klug ist, ihn zu verfolgen; denn das hieße nur, daß er geeignet ist zur Erreichung eines Zwecks, der seinerseits unserem bloßen Belieben überlassen wäre, - wodurch wir die Frage nur verschoben hätten. Das Interesse am Mittel leitet sich nur ab aus dem Interesse am Zweck. Damit irgend ein Mittel für uns Interesse gewinnt, muß es also einen Zweck geben, der unser Interesse besitzt und aus andern Gründen für uns erstrebenswert ist als denen der Klugheit. Für die Wahl dieses Zwecks hilft uns alle Klugheit nichts; die bloße Klugheit ist gegen den Unterschied der Zwecke blind, ihr gilt der eine Zweck so viel oder so wenig wie der andere. Erst muß die Frage nach einem anderweitigen Zweck entschieden sein, ehe es auch nur klug ist, zu fragen, was zu tun klug ist. Untersuchen wir nunmehr die Vorschriften des p o s i t i v e n Gesetzes daraufhin, ob sie uns den gesuchten Maßstab liefern. Das positive Gesetz, das Gesetz des Staates, ent-

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lehnt seine Bedeutung der Gewalt, kraft deren es zur Geltung gebracht wird, mit anderen Worten: der Staatsgewalt. Es ist demnach ein Verhältnis der Gewalten, das hier in Frage kommt: das Verhältnis unserer eigenen Gewalt zur Staatsgewalt. Von diesem Verhältnis allein hängt es zunächst ab, ob ein Grund für uns besteht, uns dem positiven Gesetz zu unterwerfen. Es sei denn, daß irgend eine neue Anforderung hinzukommt, die uns einen andern Grund gibt, dem positiven Gesetz zu folgen. Die bloße Tatsache, daß etwas positives Gesetz ist, d. h. daß eine Vorschrift erlassen wird, die nötigenfalls mit Gewalt durchgesetzt wird, diese Tatsache allein kann für uns höchstens ein Anlaß sein, uns die Klugheitsfrage zu stellen, ob wir - wenn sonst kein Interesse zur Befolgung des positiven Gesetzes besteht - gut tun, uns freiwillig zu fügen. Das wird z. B. der Fall sein, wenn die Gewalt, die hinter dem Gesetz steht, einen Widerstand aussichtslos macht. Wir kommen mit dieser Anweisung also nur auf die Frage der Klugheit zurück. Wie verhält es sich mit Anstand und Sitte? Nicht wesentlich anders als mit der Anforderung des positiven Gesetzes; denn Anstand und Sitte führen sich als Sache des Herkommens, der Gewohnheit ein und können also an und für sich nur Vorurteile begründen. Die Frage, ob wir uns dem Urteil von Anstand und Sitte fügen sollen oder nicht, bleibt eine Frage, die sich wieder nur entscheidet nach einem Machtverhältnis; das hängt nämlich davon ab, ob wir die hinreichende Macht aufbieten können, um uns gegenüber der Macht, die hinter dem Urteil von Anstand und Sitte steht, zu behaupten. Hinter den Anforderungen des Anstands und der Sitte steht zwar häufig nicht unmittelbare Gewalt wie beim positiven Gesetz, aber doch eine Art Zwang, nämlich psychischer Zwang, wie er ausgeht von dem Urteil unserer Mitmenschen über unser Verhalten. Und soweit wir abhängen von diesem Urteil, soweit es Folgen für uns hat, ob wir uns diesem Urteil unterwerfen oder uns ihm widersetzen, soweit wird es für uns eine Frage der Klugheit, ob wir gut tun, uns den Anforderungen von Anstand und Sitte zu fügen, - es sei denn, daß eine höhere An-

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forderung hinzukommt, die uns einen eigenen Grund zur Anerkennung jener Regeln bietet. Eine solche Anforderung könnte die des gut e n G e s c h m a c k s sein. Hier verrät sich bereits am bloßen Ausdruck, daß eine höhere Anforderung zu Grunde liegt. Wir unterscheiden nämlich, wie der Ausdruck zeigt, guten Geschmack von schlechtem Geschmack. Sofern wir diese Unterscheidung anerkennen, entsteht die Frage: Was ist guter Geschmack? Und hier muß denn ein anderes Urteil vorhergehen, das uns sagt, was einen Geschmack als gut auszeichnet. Aber auch wenn wir wüßten, was der gute Geschmack fordert, so bleibt es doch offen, ob damit die Frage, was zu tun gut sei, hinreichend beantwortet ist. Denn wenn die Anforderung des guten Geschmacks erfüllt ist, so könnten doch andere und höhere Anforderungen daneben bestehen, von denen wir nicht wissen, ob sie bereits erfüllt sind, ja ob sie nicht vielleicht durch die Befriedigung des guten Geschmacks verletzt werden. Was in Hinsicht auf den Geschmack gut ist, braucht gewiß nicht in jeder Hinsicht und ohne Einschränkung gut zu sein. Nach dem Guten in diesem Sinne aber hatten wir letzten Endes gefragt. Stellen wir die Frage so, daß sie sich auf das bezieht, was an sich und ohne Einschränkung gut ist, dann kommen wir auf die letzte der aufgezählten Anforderungen zurück: auf die Anforderung der Sittlichkeit. § 12.

Pflichtenlehre und Ideallehre. Wenn wir jene anderen Gesichtspunkte aus der Ethik ausscheiden, mit denen sie allzu oft und mit Unrecht belastet wird, dann müssen wir uns andererseits hüten, ihre Aufgabe nicht voreilig einzuengen. Die K an t ische Ethik, der es zuerst gelungen ist, sich von der Vermengung mit jenen fälschlich in die Ethik hineinbezogenen Gesichtspunkten zu befreien, hat diesen Fortschritt mit dem entgegengesetzten Fehler erkauft. Sie hat die Ethik eingeengt auf das Gebiet der Moral, d. h. der bloßen

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Pflichtenlehre. Hier stoßen wir, wenn wir auch nur dem Sprachgebrauch folgen, in der Tat auf eine Anforderung, die etwas als schlechthin und ohne Einschränkung gut bestimmt. Wir müssen aber fragen, ob wir den Satz, wonach die Pflicht sich auf das an sich Gute bezieht, umkehren dürfen, d. h. ob alle Anforderungen des an sich Guten mit den Anforderungen der Pflicht schon erschöpft sind, mit anderen Worten: ob die Ethik auf das bloße Gebiet der Moral beschränkt ist. Es wird sich zeigen, daß wir diese Umkehrung nicht vornehmen dürfen. Sollen uns die Anforderungen der Sittlichkeit eine vollständige Antwort geben auf die im ethischen Sinn gemeinte Frage: Was sollen wir tun?, so müssen wir dabei den Begriff der Sittlichkeit genauer bestimmen, und es stellt sich dann heraus, daß die Antwort in einem sehr weiten Sinn verstanden werden müßte, um wirklich als vollständige Lösung unseres Problems zu gelten. Dafür wäre nämlich unter „Sittlichkeit" alles das zu verstehen, was an s i c h u n d o h n e E i n s c h r ä n k u n g gut i s t. Das Wort hat aber allgemein eine engere Bedeutung, ebenso wie das Wort „sollen", und zwar eine Bedeutung, nach der die Frage: Was soll ich tun? keineswegs die ganze ethische Frage erschöpft; denn die Ethik umfaßt mehr als nur die Anforderungen, die wir durch das Wort „sollen" bezeichnen, wenn wir es in seinem bestimmten Sinn verstehen, in dem Sinn, in dem das, was jemand tun soll, seine Pflicht genannt wird. Es ist ratsam, daß wir uns bei einer endgültigen Beschlußfassung über den Sinn, in dem wir fortan diese Worte gebrauchen wollen, an die bestimmten Bedeutungen anschließen, die sie im gewöhnlichen Leben haben, schon deshalb, weil uns sonst für die dadurch bezeichneten Begriffe ein geläufiger Ausdruck fehlen würde, und weil wir für den weiteren Begriff bereits andere Worte zur Verfügung haben. Wir haben für den weiteren Begriff das Wort „ethisch" und können daher das Wort „sittlich" auf seine bestimmte engere Bedeutung beschränken. Wir haben also im gesamten Gebiet des Ethischen einen Unterschied festzuhalten. Den ethischen Anforderungen über-

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Ethik.

haupt zu genügen, ist etwas, was durch das Wort „Sittlichkeit" nicht hinreichend bezeichnet wird. Wir besitzen ein Wort, das diesen weiteren Begriff in geeigneter Weise bezeichnet. Auch dieses Wort mutet etwas veraltet an und ist in der Tat aus der Mode gekommen. Es ist das Wort „Weisheit". Wir sind aber auf dieses Wort angewiesen, um den Begriffsunterschied, auf den es uns hier ankommt, auch sprachlich festzuhalten. „Weisheit" geht über das hinaus, was wir im bestimmten Sinn des Wortes „Sittlichkeit" nennen. Sie umfaßt die ethischen Anforderungen überhaupt, nicht nur diejenigen, die wir in der Form eines Pflichtgebots oder Imperativs aussprechen, in der Form, daß wir etwas tun sollen, sondern auch die andern, die nicht den Charakter eines strengen Gebots, eines Imperativs haben, die aber doch etwas dahin auszeichnen, daß wir es wie wir sagen - tun sollten. Anforderungen dieser Art können wir Optative nennen. Wir sollten nämlich nicht nur unsere Pflicht tun, sondern darüber hinaus alles das, was zu tun wert, was vorzugswürdig ist, auch dann, wenn es nicht Pflicht ist. Wir loben gewisse Handlungen und tadeln gewisse andere, ohne darum zu sagen, die einen seien Pflicht, die andern seien pflichtwidrig, die einen seien sittlich geboten, die andern sittlich verboten. Wir vergleichen diese Handlungen gar nicht mit einer Pflicht, sondern mit einem andern Maßstab, mit einer Norm, für die das Wort „Ideal" am zutreffendsten ist. Wie wir für die Erfüllung der Anforderung der Pflicht das Wort „Sittlichkeit" haben, so haben wir für die Erfüllung der Anforderungen des Ideals das Wort „Bildung". Beiden Anforderungen zu genügen, macht erst das aus, was wir „Weisheit" nennen. Weisheit umfaßt das, was zum wahren Wert des Lebens gehört, soweit es vom Menschen abhängt, sich einen solchen Wert selber zu geben. Weisheit ist also der Zustand der Tauglichkeit, die wir Tugend nennen und die den Gegenstand der Tugendlehre oder Ethik bildet. Wir können das zuletzt Gesagte durch ein Schema deutlicher machen:

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Ethik.

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Ethik oder Tugendlehre

~~

Pflicht

.

Sittlichkeit

Ideal

Bildung

~ Weisheit

Die Ethik umfaßt die Anforderungen der Pflicht und des Ideals. Erfüllung der Pflicht ist Sittlichkeit; Erfüllung des Ideals ist Bildung. Sittlichkeit und Bildung zusammen machen das aus, was man Weisheit nennt. Diese Betrachtungen geben uns einen Leitfaden an die Hand für die Einteilung unserer Wissenschaft. Die Ethik wird in zwei koordinierte Disziplinen zerfallen, die Pflichtenlehre und die Ideallehre. Diese beiden Disziplinen sind innerhalb der Ethik koordiniert. Dennoch besteht hier für das eine der beiden Gebiete ein bemerkenswerter Vorrang. Es ist nicht gleichgültig, mit welcher dieser Lehren wir den Aufbau unserer Wissenschaft beginnen. Da wir nämlich im Begriff der Pflicht eine notwendige Anforderung denken, eine Anforderung der Art, daß ohne ihre Erfüllung einer Handlung kein Wert zukommen kann, so wird es angemessen sein, erst die Anforderungen der Pflicht festzulegen, ehe wir nach den weitergehenden Anforderungen, den Anforderungen des Ideals fragen. Man muß also bei dem Aufbau der Ideallehre die selbstverständliche Klausel hinzunehmen, daß die Anforderungen der Pflicht als erfüllt vorausgesetzt werden. Denn die Pflicht ist die einschränkende Bedingung des Werts einer Handlung.

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Ethik.

Die Ethik als Wissenschaft muß dieser Einteilung aufs genaueste folgen. Denn wo nicht einmal diese grundlegenden Begriffe streng aufgefaßt und geschieden sind, wie soll man da hoffen, in die nachfolgenden, viel verwickelteren Probleme Licht zu bringen? Dies gilt für die reine philosophische Ethik, von der allein wir hier sprechen. Es gilt darum nicht notwendig auch für die angewandte Ethik. Ja im Gegenteil - wir können das vorwegnehmen: die strenge Durchführung dieser Trennung im eben angegebenen Sinn hat nur für die reine Ethik Bedeutung. Das hat seinen Grund darin, daß man in der angewandten Ethik, bei der Anwendung der philosophischen Pflichtenlehre auf die Erfahrung, schon die philosophische Lehre von den Idealen voraussetzen muß. Denn der Inhalt der bestimmten Einzelpflicht läßt sich, wie sich zeigen wird, nur festlegen unter Rücksichtnahme auf jene anderen Anforderungen, die der Bildung. Auf die reine Ethik übt dieser Umstand zunächst keinen Einfluß aus. Denn die reine philosophische Ethik hat, soweit sie Pflichtenlehre ist, nicht die Aufgabe, die einzelnen bestimmten Pflichten abzuleiten, sondern sie lehrt uns nur die allgemeinen Kriterien erkennen, durch deren Anwendung auf die Erfahrung sich erst ergibt, was im einzelnen Fall Pflicht ist. § 13.

Formale und materiale Tugendlehre. Die Einteilung in Pflichten- und Ideallehre haben wir nun mit einer anderen Einteilung zu verbinden. An jeder ethischen Anforderung, sei sie eine Pflicht oder ein Ideal, lassen sich zwei Momente unterscheiden. Diese beiden Momente können zwar nur in der Abstraktion getrennt werden. Aber hier, wo es uns auf die abstrakte Ausführung der reinen philosophischen Ethik ankommt, ist gerade diese Abstraktion von grundlegender Bedeutung. Ich nenne das eine Moment die Form, das andere den In h a 1 t der ethischen Anforderungen oder Normen.

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Ethik.

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Die Form einer ethischen Aufgabe umfaßt diejenigen Merkmale, die wir im Begriff einer solchen Aufgabe denken, ohne Rücksicht darauf, was durch sie aufgegeben wird. Der Inhalt der fraglichen ethischen Anforderungen oder Aufgaben ist dagegen das, was durch sie von uns gefordert, was uns durch sie aufgegeben ist. Gemäß dieser Einteilung zerfällt jede ethische Wissenschaft in zwei getrennte Teile: einen formalen und einen materialen Teil. Der formale Teil beschäftigt sich mit der Untersuchung dessen, was zur Form der fraglichen ethischen Anforderungen gehört, und entwickelt daraus die Folgerungen, während der materiale Teil den Inhalt jener Anforderungen bestimmt, und diejenigen Folgerungen entwickelt, die sich nur unter Hinzunahme der Inhaltsbestimmung jener Normen ableiten lassen. Dieser schwierige Unterschied läßt sich am einfachsten an Hand einer bestimmten ethischen Norm erläutern, z. B. der Pflicht. Der Begriff der Pflicht liegt der Pflichtenlehre zu Grunde, genügt aber nicht zu ihrer Entwicklung, auch nicht zu der ihres rein philosophischen Teils. Denn wenn wir auch den Begriff der Pflicht noch so genau kennen, so hilft uns diese Kenntnis doch nicht zu einer Inhaltsbestimmung der Pflicht. Halten wir uns nur an den Begriff der Pflicht, so lassen sich die verschiedensten, ja einander widersprechende Inhaltsbestimmungen dieser Norm denken. Dem Begriff der Pflicht genügt ebensowohl das Gebot: ,,Du sollst töten!", wie das andere: ,,Du sollst nicht töten!" Wenn wir nicht über den bloßen Begriff des Pflichtgebots hinausgehen, so könnte keiner dieser einander widersprechenden Sätze vor dem andern als richtig ausgezeichnet werden. Halten wir uns also nur an die Forderung der inneren Widerspruchslosigkeit einer Pflichtenlehre, so lassen sich verschiedene Systeme entwickeln, von denen zwar jedes in sich widerspruchsfrei ist, die aber einander widersprechen können. Alle diese Ausführungen der Pflichtenlehre haben die Sätze gemeinsam, die aus dem Begriff der Pflicht folgen unct darum nicht ohne Widerspruch aus einer Pflichtenlehre aus-

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Ethik.

geschlossen werden können. Diese Sätze machen das aus, was wir die formale Pflichtenlehre nennen. Die materiale Pflichtenlehre enthält dagegen diejenigen Sätze, die sich durch das nur logische Kriterium der Widerspruchslosigkeit nicht bestimmen lassen, für deren Ableitung wir vielmehr eine Inhaltsbestimmung der Pflicht hinzunehmen müssen. Eine entsprechende Unterscheidung gilt für die Ideallehre. Nun darf aber diese Trennung nicht so verstanden werden, als ob für die formale Pflichten- bzw. Ideallehre der Begriff der Pflicht bzw. der des Ideals problematisch bleiben müßte in dem Sinn, daß über die Realität der fraglichen Begriffe nichts ausgemacht werden dürfte, mit anderen Worten, daß es offen bleiben müßte, ob es wirklich so etwas wie Pflichten oder Ideale gibt. Die Entscheidung dieser Frage fällt vielmehr schon der formalen Ethik zu, da sie von der Inhaltsbestimmung beider Aufgaben unabhängig ist. Dieser Satz, daß es so etwas wie Pflicht, so etwas wie ein Ideal gibt, ist andererseits die einzige synthetische Voraussetzung, durch die wir in den formalen Teilen der Ethik über den bloßen Begriff der Pflicht oder des Ideals hinausgehen dürfen. So entscheidend diese Voraussetzung aber auch ist, so ist die formale Ethik doch nicht einmal in allen ihren Teilen auf sie angewiesen. Es gibt einen beträchtlichen Teil, der selbst von dieser Voraussetzung, und also von jeder synthetischen Voraussetzung unabhängig ist. Für ihn genügt bereits der bloße Begriff der Pflicht, der bloße Begriff des Ideals, um Folgerungen von so erheblicher und hinreichender Tragweite abzuleiten, daß es lohnt, diesen Teil gesondert zu behandeln, ehe synthetische Voraussetzungen herangezogen werden. Wir werden also in der Abstraktion so weit gehen, daß wir auch von der Realität der fraglichen Begriffe absehen. Wie weit wir ohne diese Voraussetzung kommen, wird das Experiment entscheiden. Eine philosophische Wissenschaft ist, wenn sie diesen Namen verdienen soll, immer ein Ganzes, in dem kein Teil

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Ethik.

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willkürlich bleibt, und in dem überdies die Gestalt jedes einzelnen Teils ebenso wenig willkürlich bleiben darf wie die des Ganzen. Denn in einer rein philosophischen Wissenschaft ist die Gestalt und die Gliederung des Ganzen durch die Vernunft eindeutig vorgezeichnet. Jede Willkür in der Einteilung einer solchen Wissenschaft ist ein sicheres Anzeichen dafür, daß diese noch nicht zur Vollendung gediehen ist. Deshalb kommt es darauf an, daß wir nicht nur die Sicherheit haben, innerhalb unserer Wissenschaft richtige Sätze aufzustellen, sondern vor allem darauf, daß wir den Aufbau des Ganzen nach einem strengen und eindeutigen Plan ausführen, so daß wir die bestimmte Uberzeugung gewinnen, daß jeder einzelne Schritt an der ihm zukommenden Stelle und an keiner andern getan worden ist. Wie die Pflichtenlehre der Ideallehre vorangestellt ist, so muß auch innerhalb jeder dieser Wissenschaften der formale Teil dem materialen vorangehen. Dies entspricht dem Gebot der systematischen Strenge, wonach wir uns bei der Ableitung eines Satzes auf ein Minimum von Voraussetzungen zu beschränken haben, nämlid1 auf diejenigen, die zur Ableitung des fraglichen Satzes nolwendig sind. Wir werden also mit dem formalen Teil der Pflichtenlehre beginnen und in ihm mit denjenigen Ausführungen, die nicht einmal die Realität des Pflichtbegriffs voraussetzen.

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1. Abschnitt.

Pflichtenlehre. 1. Abteilung: Formale Pflichtenlehre. 1. Stück:

Analytische Prinzipien der formalen Pflichtenlehre. 1. Kapitel.

Analytische Prinzipien aus dem Begriff der Pflicht. § 14.

Der Grundbegriff der Pflichtenlehre. Der Grundbegriff der Pflichtenlehre ist der Begriff der Pflicht. Dabei handelt es sich um einen Grundbegriff in dem bestimmten Sinn, daß er sich nicht auf einfachere Begriffe zurückführen läßt. Er ist daher auch keiner eigentlichen Definition fähig, wenn man unter Definition die Zurückführung auf elementarere Begriffe versteht. Dennoch ist es möglich, den Begriff der Pflicht genügend gegen andere Begriffe abzugrenzen, mit denen er sonst leicht verwechselt werden könnte. Zur Verständigung über den Begriff der Pflicht genügt nämlich die Feststellung, daß wir es hier mit dem zu tun haben, was wir einen kategorischen Imperativ nennen. Pflicht ist ein k a t e gor i scher Imperativ. Damit bestimmen wir diesen Begriff nach den beiden Richtungen, von denen her die Gefahr einer Verwechslung besteht. Erstens: Wir drücken durch das Wort „Pflicht" eine k a t e gor i s c h e Anforderung aus, d. h. eine solche, deren Gültigkeit nicht von einem vorausgesetzten Zweck abhängt. Dieses Moment des Pflichtbegriffs wird in seiner Bedeutung verkannt, wenn man versucht, den Begriff der Pflicht durch den des Guten zu ersetzen und demgemäß die Pflichtenlehre als die

Formale Pflichtenlehre.

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Lehre vom Guten zu erklären. Eine solche Erklärung führt zu einer gefährlichen Zweideutigkeit. Versteht man unter dem Guten nämlich das sittlich Gute oder Pflichtgemäße, dann legt man der Ethik in Wahrheit doch den Begriff der Pflicht zu Grunde und hat ihn nur scheinbar durch einen anderen, den des Guten, ersetzt. Versteht man dagegen, dem üblichen Sprachgebrauch entsprechend, unter „gut" das positiv Wertvolle, so verbaut man sich den Eingang in die Pflichtenlehre. Denn man mag den fraglichen Wert suchen, worin immer man will, so kann man doch aus solchen Annahmen nur hypothetische Imperative ableiten. Wir kommen so nur zu dem Satz, daß wir die fragliche Handlung ausführen müssen, wenn wir jenen Zweck verwirklichen wollen. Aber von diesem Satz aus kann man keineswegs auf den Wert der fraglichen Handlung schließen, und erst recht nicht darauf, daß sie Pf 1 ich t sei. Denn wenn wir auch wissen, daß irgend ein Geschehen A wertvoll ist, so folgt daraus nie und nimmer, daß ein anderes Geschehen B wertvoll ist, selbst wenn wir den Satz hinzunehmen, daß ohne die Verwirklichung von B auch A nicht verwirklicht werden kann! Mit anderen Worten: Wenn die Verwirklichung eines Wertes von dem Eintreten einer Bedingung abhängt, so folgt daraus nicht, daß das Eintreten dieser Bedingung seinerseits wertvoll ist. Zweitens : Wir denken unter Pflicht nicht nur eine kategorische Anforderung überhaupt, sondern eine solche von der Form eines I m p e r a t i vs. Das Wort „Pflicht" bedeutet soviel wie ein Gebot. Es drückt also eine Verbind 1ich k e i t aus, ein So 11 e n. Daraus folgt, daß, auch wenn es möglich wäre, in der eben erörterten Weise von der Annahme irgend eines Gutes auf den Wert der Handlung zu schließen, die zur Verwirklichung dieses Gutes notwendig ist, selbst das nicht genügen würde, diese Handlung als Pflicht zu kennzeichnen. Man kann aus dem Wert einer Handlung nicht auf ihre Pflichtmäßigkeit schließen. Auch diese Unmöglichkeit wird durch die Zweideutigkeit im Gebrauch des Wortes „gut" nur verschleiert. In der Tat:

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Ethik.

Wenn man unter einer guten Handlung eine pflichtgemäße, d. h. eine sittliche versteht, dann kann man aus dem Urteil, eine Handlung sei gut, auf ihre Pflichtmäßigkeit schließen. Man kann das aber nur darum, weil man versteckter Weise im Begriff des Guten das Merkmal der Pflichtmäßigkeit voraussetzt. Eine solche Ableitung der Pflicht würde sich also in einem logischen Zirkel bewegen. Entweder wir setzen im Begriff des Guten schon das Merkmal der Pflichtmäßigkeit voraus, dann hat es keinen Sinn, vom Begriff des Guten auszugehen, um daraus den der Pflichtmäßigkeit erst abzuleiten. Oder wir setzen die Pflichtmäßigkeit nicht als Merkmal des Guten voraus, dann können wir nicht daraus, daß eine Handlung gut ist, auf ihre Pflichtmäßigkeit schließen. Der Grundbegriff der Pflichtenlehre ist also der Begriff der Pflicht und nicht der des Guten. Das Wort „Pflicht" drückt eine praktische Notwendigkeit aus, ebenso wie es die Worte „Sollen" und „Verbindlichkeit" tun. Unter praktischer Notwendigkeit verstehen wir eine Notwendigkeit, die das bloße Belieben des Handelnden einschränkt und also eine Ei n s c h r ä n k u n g durch ein G e s et z. Dieses einschränkende Gesetz nennen wir das S i t t eng e s et z. Es ist nicht die Sache der formalen Pflichtenlehre, dieses Gesetz aufzustellen; das bleibt vielmehr der materialen Pflichtenlehre überlassen. Die formale Pflichtenlehre geht nur so weit, wie sich ethisch bedeutsame Ergebnisse ohne Voraussetzung über den Inhalt des Sittengesetzes ableiten lassen; sie zergliedert also den Begriff des Sittengesetzes und entwickelt darüber hinaus die Folgerungen, die sich aus der Annahme seiner Existenz ergeben.

Formale Pflichtenlehre. §

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15.

Die Aufgabe des analytischen Teils der formalen Pflichtenlehre. Gemäß dem Prinzip der systematischen Strenge beginnen wir mit dem analytischen Teil unserer Wissenschaft, d. h. mit den Sätzen, die nicht einmal die Existenz eines Sittengesetzes voraussetzen, die also selbst ohne diese Voraussetzung Geltung behalten würden, ja zu deren Anerkennung die bloße Macht der Logik selbst denjenigen nötigt, der die Existenz eines Sittengesetzes leugnet. Wir dürfen nun freilich von diesem Teil der Wissenschaft nicht zu viel verlangen. Wir gewinnen hier noch keine sittlichen Vorschriften, sondern müssen uns mit weniger weittragenden Sätzen begnügen, die als Sätze einer praktischen Wissenschaft nur der Bedingung genügen müssen, sich als praktisch fruchtbar zu erweisen. Unabhängig davon aber gewinnen sie bei der Unmöglichkeit einer Definition des Pflichtbegriffs die Bedeutung eines Äquivalents für eine solche. In dem System der Sätze, die ich die analytischen Prinzipien der formalen Pflichtenlehre nenne, erhalten wir - nach dem Ausdruck der Mathematik eine axiomatische Definition des Pflichtbegriffs. Wenn wir irgend einen Sollenssatz betrachten, irgend einen Satz also, in dem das Wort „Pflicht" oder ein gleichbedeutender Ausdruck vorkommt, und davon absehen, welche Pflicht in ihm behauptet wird, so bleibt er doch als ein Sollenssatz charakterisiert. Wir betrachten in der hier beabsichtigten Abstraktion diejenigen Bestimmungsstücke des Satzes, die ihm die Form eines Sollenssatzes geben und in deren Bestimmung sich die analytischen Prinzipien der formaien Pflichtenlehre erschöpfen. Ein Sollenssatz ist dadurch charakterisiert, daß er einer Person eine Verpflichtung zuschreibt, sofern nämlich diese Person unter dem Sittengesetz steht. Jeder Sollenssatz muß da• her hinsichtlich der folgenden Momente bestimmt sein:

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Ethik,

Er muß die Bestimmung eines Subjekts enthalten, für das

die Verpflichtung gilt. Er muß ein Prädikat haben, das eine Verpflichtung zum Ausdruck bringt. Und er muß eine Beziehung des Subjekts zum Prädikat herstellen, wodurch der Verpflichtete dem Gesetz untergeordnet wird. § 16.

Die Prinzipien der sittlichen Allgemeingültigkeit und der sittlichen Differenzierung. Jeder Sollenssatz muß zunächst die Bestimmung eines Subjekts enthalten, das etwas soll. In dieser Hinsicht, also in Hinsicht auf die Subjektsbestimmung eines Sollenssatzes, muß jeder derartige Satz eine quantitative Angabe enthalten, durch die sein Geltungsbereich umgrenzt wird. Damit kommen wir auf ein analytisches Prinzip, das sich auf die Form des Subjekts bezieht. Jeder Sollenssatz setzt eine allgemeine Regel voraus, die bestimmt, was geschehen soll. Daraus folgt, daß das Subjekt eines Sollenssatzes als solches nicht individuell bestimmt sein kann, sondern nur allgemein, d. h. auf Grund eines Begriffs, unter den es fällt, oder als Glied einer K 1 a s s e. Jeder Sollenssatz ist also allgemeingültig, d. h. er bezieht sich unmittelbar auf eine Klasse von Individuen und nicht auf einzelne Individuen als solche. Er kann das Subjekt, für das er Geltung beansprucht, daher nur bestimmen auf Grund eines Begriffs, das heißt auf Grund eines allgemeinen Merkmals. Wenn wir von einem anschaulich bestimmten Individuum sagen, es solle irgend etwas tun, wenn wir ihm irgend eine Pflicht zusprechen, so hat diese Aussage nur dann einen Sinn, wenn wir von diesem Individuum ein Merkmal angeben können, das der Klasse von Individuen eigen ist, denen auf Grund des Gesetzes die fragliche Verbindlichkeit zufällt. Es gibt also keine Auszeichnung in sittlicher Hinsicht unabhängig vom Gesetz, keine Auszeichnung, die sich nicht erst aus

Formale Pflichtenlehre.

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dem Gesetz selber als solche ableiten ließe. Mit anderen Worten: Ein Individuum kann in sittlicher Hinsicht, d. h. in Hinsicht auf seine Pflicht, niemals numerisch ausgezeichnet sein, sondern immer nur qualitativ auf Grund eines Merkmals, um dessentwillen wir ihm die fragliche Pflicht zusprechen. Die gleiche Auszeichnung gilt also für jedes andere Individuum, dem das gleiche Merkmal zukommt. Für alle qualitativ gleich charakterisierten Individuen gilt die gleiche Auszeichnung. Dies ist das P r i n z i p d e r s i t tl i c h e n A 11 g e m e i n g ü lt i g ke i t. Dieses Prinzip besagt nun aber nicht, daß ein Individuum in sittlicher Hinsicht überhaupt nicht ausgezeichnet werden könnte. Wir müssen hier unterscheiden zwischen der Gültigkeit und der Anwendbarkeit eines Gesetzes. Sofern das Gesetz eine Verpflichtung an bestimmte Umstände knüpft, hängt seine Anwendung von dem für das Gesetz zufälligen Eintreten dieser Umstände ab. Wenn diese Umstände nur ein einziges Mal eintreten, so würde zwar ein Individuum in sittlicher Hinsicht ausgezeichnet sein, aber dies doch nur auf Grund des Gesetzes und nicht unabhängig von ihm. Diese Erörterung zeigt zugleich, daß die Allgemeingültigkeit, wie sie im Begriff der Pflicht gedacht wird, nicht Gleichförmigkeit in der Anwendung des Gesetzes bedeutet. Die Einheit des Gesetzes schließt nicht eine Verschiedenheit der aus ihm abgeleiteten Pflichten aus, sondern verlangt nur, daß unter gleichen Umständen die gleichen Verpflichtungen gelten. Sofern das Gesetz aber an verschiedene Umstände auch verschiedene Verpflichtungen knüpft, werden die Pflichten mit dem Wechsel der Umstände selber wechseln. Je nachdem, ob dieser oder jener Umstand eintritt, ergibt sich auf Grund des Gesetzes diese oder jene Pflicht. Daher können wir dem Prinzip der sittlichen Allgemeingültigkeit ein anderes Prinzip an die Seite stellen, das ich das der sittlichen D i ff er e n zier u n g nenne. Es besagt, daß die Gesetzlichkeit, die im Begriff der Pflicht liegt, einen Spielraum läßt für verschiedene, mit der Verschiedenheit der Umstände wechselnde

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Pflichten und für die Häufigkeit, mit der diese Pflichten auftreten. In der Anerkennung dieser Abhängigkeit der Pflichten von dem Wechsel der Umstände und Bedingungen liegt nun nicht, wie man vermuten könnte, ein Verstoß gegen den kategorischen Charakter der Pflicht. Denn die Bedingungen, die hier zugelassen werden, betreffen nur die An wen dun g des Gebots, nicht aber, wie die Bedingungen hypothetischer Imperative, seine Nötigung. Die Bedingung eines hypothetischen Imperativs besteht in der Voraussetzung eines Zwecks, aus dem sich die Nötigung des Gebots überhaupt erst ableitet und mit dessen Preisgabe sie selber entfallen würde. Sie kann darum nicht die Form der Verbindlichkeit haben; denn aus einer bloßen Tatsache wie der, daß wir bestimmte Zwecke verfolgen, können sich keine Verpflichtungen ergeben. Die Nötigung eines Sollenssatzes hat dagegen die Form der Verbindlichkeit. Sie entspringt einem praktischen Gesetz, und die in den Bedingungen genannten Umstände bestimmen nur den Bereich, in dem dieses Gesetz Anwendung findet. Der Satz: ,,Wenn Du etwas versprochen hast, sollst Du es halten", hat zwar die Form eines hypothetischen Satzes, aber darum noch nicht die eines hypothetischen Imperativs. Denn die Bedingung, von der hier die Rede ist, ist kein Zweck, und die Nötigung, die hier zum Ausdruck kommt, ist nicht von der Art eines Müssens, sondern von der einer Verbindlichkeit. Sie hat ihren Grund also auch nicht in der Realität eines Zwecks, sondern kann sich nur ableiten aus einem anderweit gegebenen praktischen Gesetz. In der im Satz angegebenen Bedingung ist dieses Gesetz nicht zu finden; denn sie umschreibt nur einen Tatbestand, an dessen Eintreten das Gesetz die fragliche Verpflichtung knüpft.

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§ 17.

Die Prinzipien der sittlichen Autonomie und der sittlichen Objektivität. Die Prinzipien der sittlichen Allgemeingültigkeit und der sittlichen Differenzierung ergaben sich aus der Bestimmung des Subjekts, wie sie in jedem Sollenssatz vorkommen muß, wonach eine Person nur insofern verpflichtet sein kann, als sie einer durch das Gesetz ausgezeichneten Klasse angehört. Inwiefern kann nun aber das Gesetz für eine Person oder für eine Klasse von Personen verbindlich sein? Hierauf antwortet das Prinzip der s i t t 1 ich e n Autonomie. Nach diesem Prinzip kann ein Gesetz nur für denjenigen verbindlich sein, der die Möglichkeit hat, es zu erkennen; denn das Gesetz, von dem hier die Rede ist, ist kein beliebiges Gesetz, sondern das Sittengesetz, und als solches bezieht es sich auf das Handeln oder, bestimmter gesagt, auf den Willen eines vernünftigen Wesens. Der Wille kann aber nur dann für die Erfüllung seiner Verpflichtungen aufkommen, wenn er sie erkennt. Es kann also keine Verbindlichkeit geben, die der Verpflichtete nicht als solche zu erkennen vermag. Dies ist das Prinzip der s i t t 1 i c h e n Au t o n o m i e. Untersuchen wir die Tragweite dieses Prinzips! Wenn die Frage aufgeworfen wird, was wir tun sollen, so gibt es für uns keine höhere Instanz ihrer Beantwortung als unsere eigene Einsicht. Nehmen wir an, die höchste Instanz läge in der Auskunft eines andern, der uns mitteilte, daß etwas unsere Pflicht sei. Daß eine derartige Mitteilung erfolgt, ist gewiß möglich; aber mit der Feststellung, daß der Betreffende uns sagt, was wir tun sollen, ist nur eine Tatsache verzeichnet, ein empirisch feststellbares Faktum. Wir vermögen danach aber nicht einzusehen, daß uns eine Verbindlichkeit auferlegt worden ist; denn es ist zweierlei, ob jemand sagt, etwas Bestimmtes sei unsere Pflicht, oder ob es wirklich unsere Pflicht ist. Da überhaupt aus Tatsachen nicht auf das Bestehen einer Pflicht

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geschlossen werden kann, so kann auch aus der Tatsache, daß ein anderer etwas für unsere Pflicht erklärt, nicht auf das Bestehen einer Pflicht geschlossen werden. Ja wenn sich alle Menschen vereinigen würden in der Erklärung, etwas sei unsere Pflicht, so folgte daraus nichts über eine Verpflichtung. Auf Grund dieser einfachen Uberlegung entscheidet sich die Frage, ob die Pflicht auf das Gebot einer Autorität gegründet werden kann. Versteht man unter Autorität eine Person, die uns eine Verbindlichkeit auferlegen kann, so ist Autoritätsmoral eine Moral, die ihre Verbindlichkeit auf Befehle gründet. Ein Befehl ist die Vorschrift des Willens irgend eines anderen oder eines fremden Urteils über das, was angeblich Pflicht sei. Daß jemand will, wir möchten etwas tun, macht dies für uns nicht verbindlich. Um es als verbindlich erkennen zu können, müßten wir einsehen, daß der Befehlende eine Autorität für uns ist, d. h. daß seine Befehle Verbindlichkeit für uns haben. Dies wiederum können wir nur feststellen, wenn wir den fraglichen Befehl mit dem vergleichen, was für uns verbindlich ist. Wie sollten wir den, der befiehlt, sonst als Autorität erkennen? Damit aber drehen wir uns offenbar im Kreise: Um eine Autorität als solche zu erkennen, müssen wir schon wissen, was für uns verbindlich ist. Andererseits wird die Verbindlichkeit in der Autoritätsmoral auf die Befehle einer Autorität zurückgeführt. Trotz der Einfachheit dieser Uberlegungen ist das Prinzip der Autonomie oft verkannt worden. Wie kann eine so einfache Wahrheit so im Dunkeln liegen, so sehr umstritten sein? Der Grund dafür liegt in folgendem: Die sittliche Erkenntnis ist selber ursprünglich dunkel. Sie wird erst klar durch planmäßiges Nachdenken. Dabei können Irrtümer unterlaufen. Wäre die sittliche Erkenntnis evident, so wäre ein Irrtum und damit ein Widerstreit des sittlichen Urteils des einen mit dem des andern unmöglich. Es gäbe dann auch keinen Widerspruch des Urteils des Handelnden zu dem der Autorität; denn das Problem der Autorität würde gar nicht existieren. Auf der Möglichkeit des Widerstreits der sittlichen Urteile des einen mit denen des

formale Pfliditenlehre.

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andern beruht die Bedeutung des analytischen und an sich trivialen Prinzips der sittlichen Autonomie. Nach diesem Prinzip ist die eigene sittliche Einsicht des Verpflichteten die höchste Instanz bei seiner Entscheidung über das, was er tun soll. Eigene sittliche Einsicht ist aber nur möglich, wenn es einen eindeutig und objektiv bestimmten Inhalt des Sittengesetzes gibt. Denn sittliche Einsicht ist nichts anderes als die Erkenntnis dieses Inhalts. Das Prinzip der Autonomie setzt also voraus, daß das Sittengesetz einen Inhalt hat. Welchen Inhalt es hat, danach fragen wir hier nicht; aber daß es einen Inhalt hat, das folgt schon aus der bloßen Form des Sittengesetzes. Der Begriff eines Gesetzes, das keinen Inhalt hat, widerspricht sich selber. Das Prinzip, dem gemäß der Inhalt der Pflicht objektiv und also unabhängig von der Pflichtüberzeugung feststeht, nenne ich das P r i n z i p de r s i t t l ich e n Objektivität. Dieses Prinzip ist notwendig, um das der sittlichen Autonomie vor einer Mißdeutung zu schützen, vor der Mißdeutung nämlich, daß die eigene Pflichtüberzeugung des Handelnden zur Bestimmung der Pflicht hinreichend sei, daß es nicht auf die Richtigkeit der Uberzeugung ankomme, ja daß im Grunde eine Unterscheidung zwischen richtiger und falscher Uberzeugung unstatthaft sei. Das Prinzip der sittlichen Autonomie befreit den Handelnden von dem Willen einer Autorität. Aber damit verweist es ihn nicht auf sein eigenes zufälliges Urteil, sondern auf seine sittliche Einsicht, und das heißt nach dem Prinzip der sittlichen Objektivität: auf seine von jedem Vorurteil unabhängige Erkenntnis der Pflicht.

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§

18.

Die Prinzipien der Gesinnungsmoral und der moralischen Bereitschaft. Die vorhergehenden Uberlegungen betreffen das Verhältnis der Erkenntnis des Verpflichteten zu seiner Verpflichtung. Es kommt aber letzten Endes nicht auf die Erkenntnis der Pflicht an, sondern darauf, daß sie getan wird, also auf das Verhältnis des W i 11 e n s des Verpflichteten zum Gesetz. Es liegt in der bloßen Form eines Sittengesetzes, daß sich dieses Gesetz auf einen Willen richtet, von dem es Erfüllung verlangt. Es ist ein praktisches Gesetz, d. h. ein Gesetz, das Handlungen gebietet. Handlung nennen wir ein Geschehen insofern, als sein Eintreten von einem Willen abhängt. Das Sittengesetz bezieht sich also nicht auf das Geschehen an sich, auch nicht auf das, was äußerlich durch eine Handlung geschieht, sondern auf das Handeln selber, d. h. auf das Geschehen eben insofern, als es von einem Willen abhängt. Es genügt daher zur Erfüllung dieses Gesetzes nicht, daß das gewollte Geschehen äußerlich mit dem Inhalt des Sittengesetzes übereinstimmt. Denn diese Ubereinstimmung könnte hinsichtlich des Willens zufällig sein. Es kommt hier also alles auf die Frage an, ob die Ubereinstimmung mit dem Gesetz auch dann eingetreten wäre, wenn nicht zufällig ein anderer Beweggrund, eine bloße Neigung, die Handlung nach sich gezogen hätte. Daß auch ohne dieses Zusammentreffen von Neigung und Pflichtbewußtsein, also gerade dann, wenn die Neigung mit der Pflicht nicht übereinstimmt, die Pflicht erfüllt wird, das ist nur möglich, wenn in einem solchen Fall die Einsicht in die Pflicht zum Bestimmungsgrund der Handlung wird. Dem Sittengesetz, als einem Gesetz, das sich unmittelbar an einen Willen richtet, kann nur Genüge getan werden durch Handlungen, deren Ubereinstimmung mit dem Gesetz durch die Gesinnung des Handelnden gesichert ist. Das besagt der Grundsatz, den ich das Prinzip der Gesinnungsmoral nenne.

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Die Gesinnung eines Menschen kennzeichnet sich durch die Richtung seines Willens, d. h. durch das, worauf sich sein Wille richtet. Nicht, daß er es will, ist hier von Bedeutung, sondern, warum er es will, was ihn dazu bestimmt, es zu wollen, kurz: der Bestimmungsgrund seines Willens. Wenn das Bewußtsein der Pflicht den Bestimmungsgrund einer Handlung bildet, wenn sie, wie Kant sagt, aus bloßer Achtung vor dem Gesetz geschieht, so heißt eine solche Handlung moralisch. Sie heißt unmoralisch, wenn sie entgegen der Achtung vor dem Gesetz oder in Mißachtung des Gesetzes geschieht. Damit ist nun nicht etwa gesagt, daß eine Handlung stets entweder moralisch oder unmoralisch ist, anders ausgedrückt: daß es eine Pflicht gibt, allemal moralisch zu handeln. Es gibt außer moralischen und unmoralischen Handlungen solche, die ich amoralisch nenne. Deren Zulässigkeit läßt sich daraus erkennen, daß eine Handlung in Ubereinstimmung mit dem Pflichtbewußtsein des Handelnden geschehen kann, ohne daß doch das Pflichtbewußtsein den Bestimmungsgrund zu bilden braucht. Dieser Fall tritt immer dann ein, wenn die Neigung mit der Pflicht übereinstimmt, wenn eine Neigung vorliegt, der zu folgen die Pflicht nicht verbietet. Er tritt auch dann ein, wenn in einem besonderen Fall nicht das Bewußtsein einer Pflicht vorliegt; denn dann kann eine Handlung, wie sich leicht einsehen läßt, weder moralisch noch unmoralisch sein. Hieraus folgt, daß es keine Pflicht geben kann, allemal moralisch, d. h. aus Pflicht zu handeln. Das gleiche Ergebnis läßt sich auch rein logisch ableiten. Angenommen, es wäre Pflicht, allemal moralisch zu handeln, d. h. jede Handlung zu tun aus Achtung vor dem Gesetz, also aus dem Bewußtsein, daß sie Pflicht sei. Daraus würde folgen, daß sich, wenn irgend eine Handlung Pflicht ist, damit die andere Pflicht ergibt, sich durch das Bewußtsein der Pflicht zu dieser Handlung bewegen zu lassen. Entsprechend würde aus dieser neuen Pflicht die dritte entspringen, die zweite aus dem Bewußtsein der Pflicht zu erfüllen, aus der dritten eine vierte u. s. f. bis ins Unendliche, wobei in dieser Reihe der Pflichten

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keine erfüllt werden kann ohne die Verletzung der aus ihr abgeleiteten. Weniger abstrakt ist folgende Dberlegung: Wenn es Pflicht wäre, allemal moralisch zu handeln, so müßte es auch Pflicht sein, ein Pflichtbewußtsein zu haben. Denn dieses wäre ja notwendig, um den Bestimmungsgrund für die Handlung abzugeben. Nun können aber nur Handlungen geboten sein, keine Dberzeugungen; denn diese hängen nicht nur von unserem Willen ab. Das Sittengesetz ist ein Gesetz für das Handeln, also kann es kein Sittengesetz geben, wonach es Pflicht wäre, moralisch zu handeln. Zu dem Prinzip der Gesinnungsmoral tritt hiermit ein ergänzendes Prinzip, das Prinzip der moralischen Bereitschaft. Nach ihm verlangt das Sittengesetz nicht, daß jede Handlung moralisch sei, sondern es verlangt moralisches Handeln nur dann, wenn die Pflicht nur durch eine moralische Handlung erfüllt werden kann. § 19.

Das Prinzip des sittlichen Rigorismus. Im Prädikat jedes Sollenssatzes denken wir ein Sollen, eine Verpflichtung. Es ist das Eigentümliche einer solchen praktischen Notwendigkeit, daß sie nicht abhängig sein kann von einem durch die Handlung zu verwirklichenden Zweck, sondern daß sie ihrerseits jeden möglichen Zweck einschränkt auf die Bedingung der Dbereinstimmung mit der Pflicht. Diesen Sachverhalt nenne ich das Pr i n z i p d es s i t t l i c h e n R i gor i s m u s. Dem Prinzip des sittlichen Rigorismus steht eine Auffassung gegenüber, die wir kurz s i t t 1 ich e n Libertin i s m u s nennen können. Sie besteht in der Ansicht, daß die Verbindlichkeit der Pflicht eingeschränkt werden könne zu Gunsten eines Zwecks. Der sittliche Rigorismus besagt nichts anderes, als daß es eine solche Einschränkung nicht geben kann. Jede Voraussetzung eines die Pflicht einschränkenden Zwecks hebt unmittelbar den Begriff der Pflicht auf. Daß dies einer beson-

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deren Nachweisung bedarf, hat seinen Grund wiederum in der Evidenzlosigkeit der sittlichen Einsicht. Es besteht hier in der Tat die Gefahr eines Mißverständnisses. Die praktische Notwendigkeit, die Neigung den Forderungen der Pflicht hintanzusetzen, bedeutet nicht, daß die Befriedigung der Neigungen an sich pflichtwidrig wäre, sondern nur, daß da, wo die Pflicht gebietet, auf entgegenstehende Neigungen keine Rücksicht genommen werden darf. Versteht man das Prinzip des sittlichen Rigorismus als die Forderung, die Neigung unbefriedigt zu lassen, so kommt man entweder zu einer asketischen, sinnenfeindlichen Moral oder zu einem sittlichen Libertinismus, der die im Begriff der Pflicht liegende Notwendigkeit preisgibt, wie dies durch die überlieferte Unterscheidung von unerläßlichen und erläßlichen Pflichten geschieht. Hier zeigt sich der Vorteil einer Trennung der Pflichtenlehre von der Ideallehre. Im Begriff des Ideals liegt nicht die Notwendigkeit, die wir im Begriff der Pflicht denken. Das Ideal nennt erstrebenswerte Ziele, deren Erreichbarkeit aber im einzelnen Fall nicht gesichert zu sein braucht. Die Verkennung des Unterschiedes dieser beiden ethischen Anforderungen führt entweder zur Verletzung des moralischen Rigorismus oder zur Verleugnung der idealen Werte. Durch die Unterscheidung der fraglichen Begriffe befreien wir uns aus dem Dilemma, entweder unerfüllbare Pflichten zuzugeben oder die Verbindlichkeit der Pflicht gänzlich aufzugeben. Ist man der Verwechslung von Pflicht und Ideal anheimgefallen, so entsteht die Gefahr, daß man auf Grund der Einsicht in die Unmöglichkeit, den Rigorismus schlechthin durchzuführen, ihn überhaupt preisgibt. Nur durch die Trennung der Ideallehre von der Pflichtenlehre löst sich der Schein, als könnten für die Pflichtverletzung Entschuldigungsgründe angeführt werden, die sich auf ein Ideal - etwa das der Liebe - stützen, auf einen Wert also, der, wie man meint, den Unwert der Pflichtverletzung ausgleicht. Die Pflicht ist die einzige Anforderung, die jeden konkurrierenden

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Ethik.

Zweck einschränkt. Ein Ideal läßt dagegen eine Einschränkung seiner Erfüllung zu. Es gibt einen Rigorismus der Pflicht, aber keinen Rigorismus der Ideale. § 20.

Sittliche Wertungen. Bei der Einordnung in das System der Philosophie hatten wir die Ethik bestimmt als subjektive Teleologie, d. h. als die Lehre vom Wert menschlichen Handelns. Dabei hatte sich eine Abgrenzung gegenüber den ästhetischen Werten ergeben. Durch die Entwicklung der analytischen Prinzipien haben wir nun den Maßstab gewonnen, der das Eigentümliche der sittlichen Bewertung erkennen läßt. Der sittliche Wert einer Handlung kann nur entspringen aus dem Verhältnis der Handlung zum Sittengesetz. Gemäß dem Prinzip der sittlichen O~jektivität ist der Inhalt des Sittengesetzes objektiv und eindeutig bestimmt. Daraus folgt die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Wertung des Handelns danach, wie weit es mit dem Inhalt des Gesetzes übereinstimmt, inwieweit wirklich das geschieht, was dem Gesetz nach geschehen soll. Diese Wertung, die wir als recht 1 ich e Wertung bezeichnen, richtet sich auf die Rechtlichkeit oder Legalität einer Handlung, fragt aber nicht danach, wie die Ubereinstimmung der Handlung mit dem Sittengesetz zustande gekommen ist. Andererseits ist es aber nach dem Prinzip der Gesinnungsmoral für die Bewertung einer Handlung nicht gleichgültig, ob die Ubereinstimmung der Handlung mit dem Sittengesetz dem Willen gegenüber zufällig ist oder nicht. Aus diesem Prinzip ergibt sich die Notwendigkeit einer von der rechtlichen verschiedenen Bewertung der Handlung, der m o r a 1 i s c h e n Wertung. Wir werten eine Handlung moralisch nach dem Verhältnis, in dem der Wille des Handelnden zum Pflichtbewußtsein steht. Man könnte meinen, daß diese Wertung als eine bloß subjektive aus der Ethik ausgeschlossen werden müsse,

Formale Pflichtenlehre.

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setze sie doch an die Stelle des objektiven Sittengesetzes, an dem die rechtliche Wertung eine Handlung mißt, das subjektive Pflichtbewußtsein des Einzelnen. Dieser Einwand übersieht, daß die moralische Wertung sich zwar auf das Verhältnis des Willens zum Pflichtbewußtsein bezieht, darum aber noch nicht durch das subjektive Pflichtbewußtsein begründet wird; der Grund der moralischen Wertung liegt vielmehr, ebenso wie der der rechtlichen Wertung, im Gesetz selber, ja ihre Notwendigkeit geht bereits aus dem Begriff der Pflicht hervor, sie ist darum als Wertung objektiv, wenn ihr Gegenstand auch die subjektive Pflichtüberzeugung umschließt. Nun fordert das Sittengesetz keineswegs nur moralische Handlungen. Eine Handlung kann mit dem Pflichtbewußtsein übereinstimmen, ohne aus- ihm zu entspringen. Der Dbereinstimmung der Handlung mit der Pflichtüberzeugung des Handelnden kommt ein Wert zu, den wir den sub j e kt i v r e c h t 1 ich e n Wert nennen. In dieser Wertung wird die Handlung mit dem subjektiven Urteil des Handelnden verglichen, im Unterschied zu dem, was objektiv das Gesetz gebietet. Das Urteil des Handelnden über die Legalität seiner Handlung kann ~irren Irrtum enthalten. Dann würde die Handlung, die diesem Urteil entspricht, zwar subjektiv rechtlich bleiben, aber des rechtlichen Werts entbehren. Ihre eigentliche Bedeutung für die Pflichtenlehre erhalten alle diese Wertungsprinzipien erst durch das Prinzip des sittlichen Rigorismus. Es ist das Eigentümliche der Pflicht, daß die durch sie gebotene Handlung einen Vorzug erhält vor jeder andern, die an ihrer Stelle geschehen könnte. Wenn wir sagen, daß eine Handlung vor jedet an ihrer Stelle möglichen andern den Vorzug verdient, so sagen wir damit, daß es für den Wert dieser Handlung kein Äquivalent gibt, daß also nichts anderes unter allem, was wir tun können, so wertvoll ist, daß dadurch der Unwert ihrer Unterlassung ausgeglichen werden könnte. Dieser Sachverhalt läßt verschiedene Deutungen zu. Er könnte darauf beruhen, daß der Wert der Pflichterfüllung ein

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Ethik.

solcher ist, daß er den Wert jeder andern möglichen Handlung übertrifft. Das würde besagen, daß die Pflichterfüllung einen unendlichen positiven Wert hätte; denn nur ein solcher wäre jedem andern möglichen Wert überlegen. Es ist die Frage, ob der Pflichterfüllung ein solcher positiver Wert zukommt. Nach dem Prinzip des sittlichen Rigorismus verhält es sich nicht so; denn die sittliche Handlung ist nicht wertvoll auf Grund irgend eines ihr zukommenden positiven Werts. Sie hat ihren Wert nicht daher, daß durch sie irgend ein Zweck verwirklicht wird, sondern allein daher, daß sie Pflicht ist. Daraus aber, daß eine Handlung Pflicht ist, können wir nicht schließen, daß sie zur Verwirklichung eines Werts hinreicht, sondern nur, daß ein Unwert, den unser Handeln sonst hätte, durch die Pflichterfüllung ausgeschlossen wird. Wir können sagen, daß jeder Wert, den eine Handlung sonst haben könnte, gänzlich vernichtet, ja in einen Unwert verkehrt wird, wenn diese Handlung der Pflicht widerstreitet. Hieraus folgt als das gemeinsame Merkmal der abgeleiteten sittlichen Wertungen das, was ich ihren n e g a t i v e n Ch a r a kt e r nenne. Damit ist gesagt, daß nicht das sittliche Handeln einen Wert, sondern das unsittliche Handeln einen Unwert hat. Dieser Unwert ist aber nicht nur ein relativer, der darin zum Ausdruck käme, daß der Wert unseres Handelns durch die Pflichtverletzung gleichsam auf den Nullpunkt herabgesetzt würde, sondern der Pflichtverletzung kommt ein absoluter Unwert zu. Wir beurteilen sie als Sc h u 1 d. Dieses Wort bezeichnet den absoluten Unwert der Pflichtverletzung, und zwar einen unendlichen Unwert, d. h. einen solchen, der durch keinen noch so großen positiven Wert aufgehoben werden kann. Diesem Unwert, den wir Schuld nennen, steht in der Pflichterfüllung kein positiver Wert, kein Verdienst gegenüber. So beruht also der Vorzug, den die Pflichterfüllung vor jeder möglichen andern Handlung hat, nicht etwa auf einem besonderen positiven Wert der Pflichterfüllung, sondern nur auf dem Unwert der Pflichtverletzung.

Formale Pflichtenlehre.

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2. Kapitel.

Von der sittlichen Zurechnung. (Analytische Prinzipien aus dem Begriff der Anwendbarkeit des Sittengesetzes in der Natur.) §

21.

Der Begriff der Natur. Als praktische Naturlehre macht die Ethik ihre Anforderungen geltend für unser Handeln in der Natur. Das Sittengesetz verlangt seinem Begriff nach Handlungen, d. h. Geschehnisse, die ihre Ursache in einem Willensentschluß haben. Der Begriff des Sittengesetzes setzt also den der Ursache und damit den des Naturgesetzes voraus; denn der Zusammenhang einer Ursache mit ihrer Wirkung beruht stets auf einem Naturgesetz. Handlungen sind nur möglich, sofern sie eingeordnet sind in die Naturgesetzlichkeit des Geschehens, mit anderen Worten: sie sind nur in der Natur möglich. Daraus folgt, daß der analytische Teil der formalen Pflichtenlehre sich nicht auf die Zergliederung der rein praktischen Begriffe, des Sollens, der Pflicht u. a., beschränken darf. Aus diesen Begriffen haben wir die bisher aufgestellten analytischen Prinzipien abgeleitet. Darüber hinaus müssen wir hier diejenigen Prinzipien berücksichtigen, die der Begriff der Anwendbarkeit des Sittengesetzes in der Natur liefert. Denn auch dieser Begriff ist durch den des Sittengesetzes vorausgesetzt. Es sei hier noch einmal an den analytischen Charakter aller in diesem Teil abgeleiteten Sätze erinnert. Wir machen keine Voraussetzung über die Realität der untersuchten Begriffe. Das gilt auch für den hier neu auftauchenden Begriff der Natur. Wir zergliedern den Begriff der Natur, lassen es aber dahingestellt, ob es eine Natur gibt. Unsere Sätze gelten also unabhängig von der Voraussetzung des Daseins der Natur. Mit der Zergliederung des Begriffs der Anwendbarkeit des Sittengesetzes in der Natur stoßen wir auf einen Gegenstand,

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Ethik.

den man in diesem Teil der Pflichtenlehre am wenigsten erwarten würde: nämlich auf die Lehre von der s i tt 1 ich e n Zurechnung. In der Tat ist die Ausführung der Lehre von der Zurechnung empirisch und überschreitet nicht nur die Grenzen der formalen Pflichtenlehre, sondern die einer philosophischen Pflichtenlehre überhaupt. Zur Ausführung der Lehre von der Zurechnung müssen psychologische Bestimmungen hinzugenommen werden. Aber - und darauf kommt hier alles an - die G r u n d 1 a g e n dieser Lehre sind philosophisch, und zwar sogar rein analytischer Natur. Es handelt sich nur darum, die logischen Bedingungen der Möglichkeit der Zurechnung zu entwickeln, und dazu genügt es bereits, wie eine Untersuchung des Begriffs der Zurechnung zeigen wird, nach den Bedingungen der Anwendbarkeit des Sittengesetzes in der Natur zu fragen. Wir rechnen nämlich jemandem etwas zu, wenn wir es ihm als seine nach einem Gesetz zu beurteilende Tat zuschreiben. Damit überhaupt eine Zurechnung stattfinden kann, ist nach dieser Erklärung zweierlei erforderlich: einerseits eine Handlung, die zugerechnet wird, und andererseits ein Gesetz, nach dem zugerechnet wird. Diese Erklärung läßt es noch dahingestellt, nach welchem Gesetz wir die Tat beurteilen. Hier sprechen wir von der sittlichen Zurechnung, und darunter verstehen wir eine solche, die nach dem Sittengesetz beurteilt wird. Wir fragen hier nach den allgemeinen Bedingungen der Möglichkeit der sittlichen Zurechnung überhaupt, und also nach der Möglichkeit, das Sittengesetz auf Handlungen in der Natur anzuwenden. 22. Das Problem der Wahl. §

Es ist ein analytischer Satz, daß die Pflicht nur für ein Sein der Dinge unter Naturgesetzen Anwendung und überhaupt Bedeutung haben kann. Die Naturgesetze fallen als Gesetze für das Sein der Dinge nicht mit dem Sittengesetz zusammen. Was geschehen soll, geschieht in der Natur noch nicht notwendig, und umgekehrt: was nach Naturgesetzen geschieht,

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ist darum noch nicht immer das, was geschehen soll. Nur darum, weil die Vorschriften des Sittengesetzes in der Natur weder notwendig erfüllt noch notwendig verletzt werden, hat die Aussage Sinn, daß sie erfüllt werden sollen. Das setzt weiter voraus, daß es Wesen gibt, die die Möglichkeit haben, dem Sittengesetz zu folgen oder ihm nicht zu folgen; nur solchen Wesen können wir etwas in sittlicher Hinsicht zurechnen. Die Möglichkeit der Wahl, von der hier die Rede ist, und die eine Bedingung für die Anwendbarkeit eines Sittengesetzes Ht, darf man nun nicht dahin mißdeuten, daß sie Freiheit von Naturgesetzen überhaupt verlangt. Sie verlangt vielmehr nur Unabhängigkeit von einem solchen Naturgesetz, das an dieselben Umstände, mit denen das Sittengesetz praktisch eine Folge verbindet, theoretisch dieselbe oder die entgegengesetzte Folge knüpfen würde. Die einzelne Handlung eines Wesens, das die Freiheit der Wahl hat, geschieht darum nicht gesetzlos, nicht grundlos, wie wir sagen, sondern sie ist nach Naturgesetzen eindeutig durch die Umstände bestimmt. Hier wird nur verlangt, daß unter den.Naturgesetzen kein solches ist, wonach die Erfüllung des Sittengesetzes für den Handelnden theoretisch notwendig oder unmöglich wäre. Diese Betrachtung kann durch eine Analogie aus einem andern Gebiet erläutert werden. Es gibt Menschen, die meinen, das Wetter hänge vom Mondwechsel ab, und zwar derart, daß der Mondwechsel die Ursache einer Wetterveränderung sei. Wer diese Behauptung bestreitet und den Standpunkt vertritt, daß der Wetterwechsel nur zufällig mit dem Mondwechsel zusammenfalle, behauptet darum nicht, daß der Wetterwechsel gesetzlos vor sich gehe; er schließt nur eine bestimmte Art der Ursache aus, nämlich die, wonach das Eintreten des Wetterwechsels durch den Mondwechsel bedingt ist. Man kann sich das Verhältnis auch folgendermaßen klarmachen: Ein Gesetz bestimmt das Eintreten einer Erscheinung als notwendig nur auf Grund ihrer Zugehörigkeit zu einer Klasse von Erscheinungen; nur durch Beziehung der Erscheinung auf eine solche Klasse, der wir sie einordnen, können wir

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Ethik.

von Naturnotwendigkeit oder Zufälligkeit des Eintretens der Erscheinung sprechen. Wenn jemand behauptet, daß der Mondwechsel naturnotwendig einen Wetterwechsel herbeiführt, so ordnet er die Erscheinung des Wetterwechsels in eine bestimmte Klasse von Erscheinungen ein, nämlich von denen, die gleichzeitig mit dem Mondwechsel eintreten. Wer dagegen das fragliche Naturgesetz leugnet, der will damit sagen, daß die Notwendigkeit des Wetterwechsels nicht durch die Zugehörigkeit zur Klasse der mit dem Mondwechsel gleichzeitigen Erscheinungen bestimmt ist. Ähnlich verhält es sich in unserem Fall. Die Freiheit, zu wählen, ob wir dem Sittengesetz folgen oder ihm entgegenhandeln, verlangt nicht Unabhängigkeit des Handelns von Naturgesetzen, sondern sie verlangt nur, daß die einzelne Handlung, durch die wir das Sittengesetz erfüllen oder verletzen, nicht darum notwendig ist, weil sie zur Klasse der Handlungen gehört, durch die das Sittengesetz erfüllt, oder zu der, durch die es verletzt wird. So viel ist an dieser Stelle notwendig und hinreichend, um das Problem der Wahl, wie es in der Lehre von der Zurechnung auftaucht, zu lösen.

§

23.

Das Verhältnis des heiligen, menschlichen und tierischen Willens zur Möglichkeit der Zurechnung. Aus dem analytischen Prinzip von der Möglichkeit der Wahl folgt, daß nur solchen Wesen sittlich etwas zugerechnet werden kann, die sowohl der Vorstellung des Sittengesetzes fähig, als auch subjektiven Antrieben oder Neigungen unterworfen sind. Denn nur sofern ein Wesen für das Bewußtsein der Pflicht empfänglich ist, vermag es seinen Willen auf die Erfüllung der Pflicht zu richten. Und nur sofern es für Neigungen empfänglich ist, d. h. für solche Antriebe, die nur nach dem Grad ihrer zufälligen subjektiven Stärke auf den Willen wirken

Formale Pflichtenlehre.

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- ohne Rücksicht auf objektive Vorzugswürdigkeit-, nur insofern kann es sich auch gegen das Sittengesetz entscheiden. Wäre es nämlich nicht für Neigungen empfänglich, so würde es seiner Natur nach die objektiv vorzugswürdige Handlung vorziehen müssen; es hätte also gar nicht die Möglichkeit, sich der Pflichterfüllung zu entziehen. Nun lassen sich ohne Widersprudl Wesen denken, die nur für eine Art von Antrieben empfänglich sind, seien es sittliche, seien es solche der Neigung. Es läßt sich denken, daß ein Wesen nur durch Einsicht in die Vorzugswürdigkeit seines Handelns zu diesem bestimmt wird. Ein soldles Wesen müßte seiner Natur nach sittlich handeln. Es besäße einen heiligen Willen, d. h. einen solchen, der seiner Natur nach das objektiv Vorzugswürdige tut. Es läßt sich weiter ohne Widerspruch ein Wesen denken, dessen Wille nur durch Neigung bestimmt wird, weil es überhaupt keiner Einsicht in die objektive Vorzugswürdigkeit oder Minderwertigkeit seines Handelns fähig ist. Den Willen eines solchen Wesens nennen wir einen tierischen Willen. Weder einem heiligen noch einem tierischen Willen können Handlungen sittlich zugerechnet werden. Zwischen dem heiligen und dem tierischen Willen steht der menschliche Wille. Wir verstehen darunter den Willen eines Wesens, das einerseits durch sittliche Antriebe und andererseits durch Neigungen zum Handeln bestimmt werden kann, für das also beide Arten von Antrieben möglich sind. Nur für ein solches Wesen besteht die Möglichkeit, entweder dem sittlichen Antrieb oder dem der Neigung zu folgen. Nur auf den menschlichen Willen findet also die Frage Anwendung, ob er sich dem Sittengesetz gemäß oder ihm entgegen entschließt, und damit ist für ihn, aber auch nur für ihn, die Möglichkeit der sittlichen Zurechnung gegeben.

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Ethik.

§ 24.

Absicht, Zufall und Zweck. Das Prinzip der Möglichkeit der Wahl gibt uns aber nicht nur ein Kriterium dafür, wem etwas zugerechnet werden kann, sondern auch ein Kriterium dafür, was zugerechnet werden kann. Nur das kann einem Wesen zugerechnet werden, worüber es in freier Wahl entscheiden konnte, was also durch seine Absicht und nicht etwa unabhängig von seiner Absicht durch äußere Umstände bedingt ist. Auf diese Einschränkung beziehen wir uns, wenn wir dasjenige, was wir jemandem zurechnen, als seine Tat bezeichnen. Was verstehen wir unter der Tat eines Wesens? Ein Geschehen wird zu einer Tat nicht dadurch, daß es als Folge eines Willens eintritt, sondern dadurch und nur dadurch, daß sich ein Wille darauf richtet, es hervorzubringen, mit anderen Worten: daß es der Gegenstand eines Willens ist. Der tatsächliche Erfolg einer Handlung braucht nicht identisch zu sein mit dem, was ich den Gegenstand des Willens nenne. Denn daß jemand etwas herbeiführen will, besagt noch nicht, daß es ihm gelingt, es herbeizuführen. Er kann durch äußere Gewalt gehindert werden, seinen Entschluß auszuführen; sein eigener Irrtum kann veranlassen, daß ihm die Ausführung seines Entschlusses mißlingt, d. h. daß er durch sein Handeln etwas anderes bewirkt, als er dadurch bewirken wollte. Es reicht also zur Zurechnung weder hin, noch ist es dazu notwendig, daß das beabsichtigte Geschehen als Wirkung seines Willens eintritt; genug, daß er sein Eintreten will, daß es der Gegenstand seines Willens ist, so tut er, was an ihm ist, es zu bewirken. Darum ist ihm das, wozu er sich entschlossen hat, zuzurechnen. Die Zurechnung bezieht sich nur auf das Wollen, sie fragt nicht nach dem Gelingen. Wir nennen eine Handlung, die den vorgefaßten Zweck nicht erreicht, einen bloßen Versuch. Es folgt also, daß einerseits schon der bloße Versuch zuzurechnen ist und daß andererseits ein unbeabsichtigter Erfolg nicht zugerechnet werden darf. Wir stoßen hiermit auf die Unterscheidung von Absicht

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und Zufall, eine Unterscheidung, die uns auch im Leben vertraut ist, wenngleich ihre begriffliche Bestimmung manchen Schwierigkeiten ausgesetzt bleibt. Wir nennen einen bestimmten Erfolg einen unglücklichen Zufall, wenn wir seine Herbeiführung dem Handelnden nicht zurechnen wollen, und wir nennen das Nichteintreten eines Erfolges ein bloßes Glück, wenn wir die Absicht, ihn herbeizuführen, dem Handelnden dennoch zurechnen. Um also den Begriff der Tat richtig zu bestimmen, kommt es darauf an, das bloße Unglück aus dem Umfang dieser Begriffe auszuschließen, dagegen aber den Versuch in ihn einzuschließen. Dies geschieht durch die von mir gegebene Definition. Denn das Nichteintreten des beabsichtigten Erfolges ist für den Willen zufällig, ebenso wie das Eintreten des nicht beabsichtigten Erfolges. Es ist zufällig, d. h. es hat seinen Grund nicht in dem Willen des Handelnden, nicht in dessen Absicht, sondern in etwas anderem, z. B. in äußerer Gewalt oder einem Irrtum. Nun bedarf der Begriff der Absicht aber noch einer genaueren Untersuchung. Wir müssen, wie wir gesehen haben, den Begriff der Tat hinreichend eng fassen, um den Zufall von seinem Umfang auszuschließen. Wir müssen ihn andererseits hinreichend weit fassen, damit unter das, was wir den beabsichtigten Erfolg nennen, alles das fällt, wozu der Handelnde sich entschließt; denn alles das ist ihm als seine Tat zuzurechnen. Hier müssen wir beachten, daß durchaus nicht etwa nur das als beabsichtigt zu gelten hat, was wir den Zweck einer Handlung nennen, d. h. dasjenige, woran dem Handelnden bei seinem Entschluß unmittelbar gelegen ist, um dessentwillen er sich zu seiner Handlung entschließt. Unter dem Zweck einer Handlung verstehe ich hier nach dem allgemeinsten Sinn des Wortes, wie er im Sprachgebrauch gilt, dasjenige, dessen Vorstellung den Handelnden zu der Handlung bestimmt. Unter den Begriff des beabsichtigten Erfolges fällt mehr als der bezweckte Erfolg. Außer dem Zweck der Handlung ist nämlich alles das beabsichtigt, wovon der Handelnde sich be-

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wußt ist, daß es - sei es als Bedingung, sei es als Wirkung des von ihm bezweckten Erfolges - eintreten wird. Denn insofern der Handelnde sich bewußt war, daß der fragliche Erfolg als Wirkung seines Entschlusses eintreten wird, insofern hat er ihn beabsichtigt; anderenfalls hätte er den Entschluß gar nicht gefaßt. Er hat alles, was er als Bedingung seiner Handlung erwarten konnte, in den Gegenstand seines Entschlusses aufgenommen als „mit"-beabsichtigt. Diese Behauptung, daß alles, was der Handelnde als Bedingung oder Erfolg einer Handlung erwartet, von ihm mitbeabsichtigt ist, läßt sich mit Hilfe der folgenden Uberlegungen einsehen. Wir können etwas immer nur insofern wollen, als wir es uns als eine wenigstens mögliche Folge unseres Entschlusses vorstellen. Denn es ist unmöglich, sich zu etwas zu entschließen, dessen Herbeiführung man für unmöglich hält; etwas derartiges kann also nicht einmal beabsichtigt sein.Wenn wir nun aber das Bewußtsein haben, daß mit einem von uns bezweckten Erfolg ein anderer, sei es als Bedingung, sei es als Wirkung, verbunden sein wird, dann heißt das so viel wie, daß wir das Bewußtsein haben, daß der von uns bezweckte Erfolg gar nicht eintreten könnte, wenn nicht auch der andere, mit ihm verbundene, seine Bedingung oder seine Wirkung, eintritt. Es ist also unmöglich, einen Zweck zu wollen, ohne daß man die vorausgesehenen Bedingungen oder Wirkungen seiner Verwirklichung mitbeabsichtigt. Daraus folgt, daß jeder Erfolg, von dem wir das Bewußtsein haben, daß er als Bedingung oder Wirkung des bezweckten Erfolges eintritt, zugerechnet werden muß. Es kommt hier nicht darauf an, daß ein solcher mitbeabsichtigter Erfolg dem Handelnden selber vielleicht unerwünscht ist. Auch der am wenigsten erwünschte Erfolg ist dem Handelnden ebenso zuzurechnen wie der bezweckte Erfolg selber, wenn jener nur als Bedingung oder Wirkung des bezweckten Erfolges vorausgesehen wurde. Er ist dann, so unerwünscht er dem Handelnden sein mag, mitbeabsichtigt, und das genügt, um ihn zuzurechnen.

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Ferner: Damit ein Erfolg als mitbeabsichtigt gelten kann, genügt es nicht, daß er tatsächlich als Bedingung oder "Wirkung des bezweckten Erfolges eintritt, sondern er kann nur insofern als mitbeabsichtigt gelten, als der Handelnde sich bewußt war, daß dieser Erfolg eintreten würde. Das tatsächliche Eintreten einer Bedingung oder einer Wirkung in Verbindung mit dem bezweckten Erfolg ist andererseits aber auch nicht notwendig, damit sie als mitbeabsichtigt gelten und zugerechnet werden können. Dazu ist vielmehr nur nötig, daß sie sich dem Handelnden als Bedingung oder Wirkung des von ihm bezweckten Erfolges darstellten, daß er sie als einen wenigstens möglichen Erfolg seines Entschlusses erwartete. Hiermit wäre nun der Begriff der Tat bestimmt. Wir müssen nur noch berücksichtigen, daß auch Unterlassungen Taten sein können. Eine Unterlassung liegt dann vor, wenn etwas, was geschehen könnte, nicht geschieht, weil jemand will, daß es nicht geschieht. Aber das Ausbleiben eines Geschehens kann auch nur dann als Tat gelten, wenn wir einen Willen voraussetzen, der das fragliche Geschehen ausschloß, wobei es natürlich wieder nicht darauf ankommt, ob es auch sonst ausgeblieben wäre. Liegt kein solcher Wille vor, so liegt auch keine Unterlassung vor im Sinn einer Tat. Eine Tat erfordert stets einen Willen; es genügt nicht, daß jemand nicht will, daß etwas geschieht, sondern er muß vielmehr wollen, daß es nicht geschieht. Auch ein Nicht-Geschehen kann also ein beabsichtigter Erfolg sein und muß als solcher zugerechnet werden. §

25.

Der Begriff der Fahrlässigkeit. Nach diesen Vorbetrachtungen werden wir in der Lage sein, eine Frage zu entscheiden, die von jeher eine der größten Schwierigkeiten in der Zurechnungslehre gebildet hat und bis heute noch nicht einhellig und zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst worden ist. Wenn nämlich nur der beabsichtigte Erfolg

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zugerechnet werden kann, so entsteht die Frage, wie es möglich sein soll, einen nicht beabsichtigten Erfolg zuzurechnen, wie dies doch anscheinend überall da geschieht, wo man den Begriff der Fahrlässigkeit anwendet. Man spricht von Fahrlässigkeit unter der Voraussetzung, daß der Erfolg, obwohl er nicht vorhergesehen wurde und also auch nicht beabsichtigt sein konnte, doch für den Täter vorhersehbar war, d. h. von ihm hätte vorhergesehen werden können. Was hiermit eigentlich gemeint ist, bedarf einer sorgsamen Erörterung. Eins ist jedenfalls nach dem Bisherigen klar, daß zur Möglichkeit der Zurechnung Absicht vorausgesetzt werden muß, daß also, wenn es überhaupt möglich sein soll, einen fahrlässig herbeigeführten Erfolg zuzurechnen, dies nur dadurch geschehen kann, daß man diesen Fall auf den andern des beabsichtigten Erfolges zurückführt. Keinesfalls kann man eine Nebenordnung vornehmen von zwei Klassen zurechenbarer Erfolge, beabsichtigter einerseits und fahrlässig herbeigeführter andererseits. Wie können aber dann fahrlässig herbeigeführte Erfolge zugerechnet werden? Es kommt noch eine weitere Schwierigkeit hinzu. Diese entsteht dadurch, daß nicht nur der Fall vorkommt, daß wir trotz des Fehlens der Absicht den Erfolg zurechnen, sondern auch das Umgekehrte, daß wir, obwohl Absicht vorliegt, den Erfolg dennoch nicht zurechnen. Wenn es möglich ist, daß wir trotz des Vorhandenseins der Absicht jemandem einen Erfolg nicht zurechnen können, so scheint für die Möglichkeit der Zurechnung die Absicht nicht einmal hinreichend zu sein. Dieser Fall tritt da ein, wo wir von Unzurechnungsfähigkeit sprechen. Wir wollen zunächst die erste Frage, die der Fahrlässigkeit, untersuchen. Ein Erfolg heißt, wie ich schon sagte, fahrlässig herbeigeführt, wenn er von dem Handelnden zwar nicht beabsichtigt war, aber doch als eine Folge seines Entschlusses, seines Handelns vorhergesehen werden konnte. Fahrlässigkeit ist also nichts anderes als Mangel an Voraussicht des eingetretenen Erfolges, und zwar in solchen Fällen, in denen diese Voraussicht für den Handelnden möglich gewesen wäre. Hier haben

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wir es also mit zwei Fragen zu tun. Erstens: Was bedeutet diese Möglichkeit der Voraussicht? Und zweitens: Wie ist es möglich, fahrlässig herbeigeführte Erfolge zuzurechnen? Was das erste betrifft, so muß man sich zunächst hüten, diese Frage zu leicht zu nehmen. Man muß nämlich scharf unterscheiden zwischen der Möglichkeit der Voraussicht eines Erfolges und der Voraussicht der Möglichkeit eines Erfolges. Wo die Voraussicht der Möglichkeit des Erfolges vorliegt, da ist der Erfolg auch beabsichtigt, und wir haben in Wahrheit gar nicht den Fall der Fahrlässigkeit vor uns. Die Schwierigkeit liegt also nicht in dem Fall der Voraussicht der Möglichkeit des Erfolges, sondern allein in dem Fall, wo wir von der Möglichkeit der Voraussicht des Erfolges_ sprechen. Man kann den einen Fall nicht auf den andern zurückführen. Was bedeutet nun die Möglichkeit der Voraussicht eines Erfolges? Diese Frage ist darum schwierig, weil man sagen kann, daß das tatsächliche Fehlen der Voraussicht bereits die Unmöglichkeit der Voraussicht beweise, so daß ein Spielraum für eine mögliche Voraussicht gar nicht vorhanden sei. Denn alles, was geschieht, geschieht insofern mit Notwendigkeit, als sein Eintreten nach bestimmten Naturgesetzen notwendig ist. Wenn es also Bedeutung haben soll, zur Bestimmung des Begriffs der Fahrlässigkeit von der Möglichkeit der Voraussicht eines Erfolges zu sprechen, wo doch die wirkliche Voraussicht fehlt, so muß damit etwas anderes gemeint sein. Offenbar kann damit nur folgendes gemeint sein: Um zu dem Bewußtsein der Folgen seiner Handlung zu gelangen, muß der Handelnde eine gewisse Uberlegung anstellen; es bedarf für ihn einer gewissen Besinnung, um sich die voraussichtlichen Folgen seines Tuns klarzumachen. Die bloße Tatsache, daß diese Besinnung unterbleibt, beweist zunächst nur, daß sie nach Naturgesetzen ausgeschlossen war, aber es ist noch die Frage, welche Naturgesetze die Besinnung unmöglich machen. Wenn deren Unterbleiben von den Absichten des Handelnden unabhängig ist, dann sagen wir, daß sie für ihn unmöglich ist. Das tritt z. B. ein, wenn er gar nicht im Besitz der für diese Uberlegung erforder-

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liehen Kenntnisse ist, die er haben muß, um die fraglichen Folgen vorherzusehen. Das Ausbleiben der erforderlichen Besinnung kann aber auch dadurch verursacht worden sein, daß der Handelnde keine Neigung hatte, über die Folgen seines Tuns nachzudenken. In diesem Fall war die Besinnung für ihn möglich; denn er hätte seine Abneigung gegen das Nachdenken durchbrochen, wenn das in seiner Absicht gelegen hätte. Die Möglichkeit der Besinnung bedeutet hier also, daß ihr Ausbleiben nicht unabhängig von der Absicht des Handelnden ist, daß vielmehr der Grund, weshalb er die Voraussicht nicht hatte, nur in dem Mangel an Neigung liegt, sich die Folgen seines Tuns zu vergegenwärtigen. Auch dann war das Ausbleiben der Besinnung allerdings notwendig in dem trivialen Sinn, daß alles, was geschieht, notwendig geschieht. Der Grund der Notwendigkeit liegt diesmal aber nur darin, daß der Handelnde keine Neigung hatte, die fragliche Uberlegung anzustellen. Hiermit ist im Grunde auch die zweite Frage schon beantwortet: Wie ist es möglich, die fahrlässige Handlung zuzurechnen? Die Antwort auf diese Frage liegt darin, daß zwar der unabsichtlich herbeigeführte Erfolg als solcher auch nicht zugerechnet werden kann, daß aber die Unterlassung der Besinnung, die den Handelnden zum Bewußtsein dieses Erfolges geführt hätte, ihm zugerechnet werden muß. Nur sofern eine solche Unterlassung vorliegt, dürfen wir von Fahrlässigkeit sprechen. Hieraus ist weiter klar, daß, da nicht der fahrlässig herbeigeführte Erfolg selber, sondern die Fahrlässigkeit zugerechnet wird, diese nicht ohne weiteres nach dem tatsächlich eingetretenen Erfolg beurteilt werden darf, der ja zufällig eintreten kann; vielmehr muß die Fahrlässigkeit zugerechnet werden gemäß dem, was der Handelnde auf Grund seiner Kenntnis der Umstände erwarten mußte. Die Zurechnung der Fahrlässigkeit muß also eine verschiedene sein, je nach der Bildungsstufe des Handelnden. Der Mangel an Besinnung muß zugerechnet werden insofern, als der Handelnde die Möglichkeit hatte, die hinreichende Besinnung anzustellen, und wissen konnte, daß deren

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Unterlassung möglicher Weise objektiv verwerfliche Erfolge seines Handelns herbeiführen würde. Unbesonnenheit ist eben darum, weil sie die erforderliche Besinnung zur Beurteilung ihres möglichen Erfolges fehlen läßt, ein rechtlicher Grund zur Verurteilung des Verhaltens. Sofern wir also bei einem Menschen das Bewußtsein voraussetzen dürfen, daß unbesonnenes Handeln zu widerrechtlichen Folgen führen kann, daß also in der Besonnenheit die Sicherung rechtlichen Handelns liegt, und sofern wir voraussetzen dürfen, daß Besonnenheit in der Macht seines Willens stand, insofern soll Unbesonnenheit mit ihren vorauszusehenden Erfolgen als Schuld zugerechnet werden. §

26.

Das Kriterium der Zurechnungsfähigkeit. Es wird nun keine Schwierigkeit mehr bieten, die noch übrig gebliebene Frage zu behandeln, ob und wie es möglich ist, daß wir trotz des Vorliegens einer Absicht dem Handelnden den Erfolg nicht zurechnen. Wir können einem Menschen die Folgen seines Verhaltens dann nicht zurechnen, wenn er sich in einem Zustand befindet, der für ihn die Möglichkeit ausschließt, die fraglichen Folgen vorauszusehen. Wir nennen einen Menschen zurechnungsfähig, wenn sein Zustand die zur Möglichkeit der Zurechnung erforderlichen Bedingungen erfüllt, und unzurechnungsfähig, wenn er sie nicht erfüllt. Nun entsteht hier nicht die Frage nach dem Begriff der Zurechnungsfähigkeit - denn der ist bereits definiert-, sondern die nach einem brauchbaren Kriterium der Zurechnungsfähigkeit. Wir müssen uns fragen: Woran erkennen wir, ob der Zustand der Zurechnungsfähigkeit vorliegt oder nicht? Das Kriterium der Zurechnungsfähigkeit liegt in der Möglichkeit der zur Voraussicht des Erfolges der Handlung erforderlichen Besinnung. Die Juristen definieren die Unzurechnungsfähigkeit als den Ausschluß der freien Willensbestimmung. Die Freiheit der Willensbestimmung darf aber wieder nicht verstanden werden als Unabhängigkeit des Entschlusses von Naturge-

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Ethik.

setzen. Sie bedeutet vielmehr Unabhängigkeit von der Herrschaft der die Kontrolle des Bewußtseins ausschließenden triebhaft auf den Willen wirkenden Antriebe. Man darf also hier nicht den Einwand machen, daß jemand, der unbesonnen handelt, gar nicht besonnen habe handeln können, da nämlich eine faktische Unbesonnenheit die Unmöglichkeit der Besinnung bereits beweise. Die Möglichkeit der Besinnung verlangt nur, daß sich der Handelnde in einem Zustand befindet, der als solcher die Besinnung nicht ausschließt. Wir kommen hiermit also auf die Frage zurück, ob und inwiefern die Absichtlichkeit der Herbeiführung eines Erfolges zu seiner Zurechnung nicht hinreicht. Die Bedingung, die als erfüllt gelten muß, um den absichtlich herbeigeführten Erfolg zuzurechnen, ist das Vorliegen der Zurechnungsfähigkeit,•d. h. der Möglichkeit des besonnenen Handelns. Der Handelnde muß seinem Zustand nach der hinreichenden Besinnung fähig sein, um zur Einsicht in die rechtlich erheblichen Folgen seines Handelns zu gelangen und sich durch diese Einsicht zum Entschluß bestimmen zu lassen. Die Besinnung ist nämlich erforderlich, um den Erfolg des Handelns dem Zufall zu entziehen, d. h. um sich hinsichtlich der Herbeiführung oder Verhinderung des Erfolges von dem zufälligen Stärkeverhältnis der gerade auf den Willen wirkenden Antriebe zu emanzipieren. Dies geschieht durch das Eingreifen der Reflexion in den Mechanismus der Antriebe. Der Wille muß also die Möglichkeit haben, selber in das Spiel der Antriebe einzugreifen und es willkürlich zu lenken - durch Hinlenkung oder Ablenkung der Aufmerksamkeit von dem einen oder anderen Gegenstand der Antriebe - , um in Ubereinstimmung mit der vorausgesetzten allgemeinen Regel der Vorzugswürdigkeit den Entschluß herbeizuführen. Zur Zurechnungsfähigkeit genügt also auch nicht etwa nur die Unabhängigkeit von Zwang, d. h. von äußerer Gewalt; es genügt nicht, positiv, die Willkürlichkeit des Handelns. Willkürlichkeit des Handelns bedeutet nichts anderes als Abhängigkeit des Geschehens von uns selber, nämlich von unserem Willen. Diese Möglichkeit, willkürlich zu handeln, ist durchaus

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nicht dasselbe wie die Möglichkeit, besonnen zu handeln; denn die Willkürlichkeit des Handelns ist auch im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit möglich. Besonnen ist dasjenige willkürliche Handeln, bei dem der Wille nicht durch die unmittelbar triebhaft auf ihn wirkenden Antriebe zum Entschluß bestimmt wird, sondern wo der Wille vermittels der Reflexion auf die Antriebe zurückwirkt, um sie zu modifizieren gemäß einer allgemeinen Regel des Wertes, mit der die eine oder andere Handlungsweise verglichen wird. Freiheit der Willensbestimmung bedeutet also die Möglichkeit, sich bei einem Entschluß von den triebhaft wirkenden Antrieben zu emanzipieren durch das Eingreifen der Reflexion in den Mechanismus der Antriebe. Nun kann es recht wohl sein, daß, wo unbesonnen gehandelt wird, doch ein besonnenes Handeln möglich war, wenn nämlich die Unbesonnenheit nur darauf beruht, daß der Handelnde keine Neigung hatte, die erforderliche Besinnung anzustellen. Bei der Frage der Zurechnungsfähigkeit kommt es also nicht auf die einzelne Tat des Handelnden an, sondern darauf, ob der Grund seiner Unbesonnenheit in einer der willkürlichen Beeinflussung entzogenen Beschaffenheit seines Zustandes liegt oder nicht. Liegt der Grund der Unbesonnenheit in diesem Sinn in seinem Zustand, dann und nur dann sprechen wir von Unzurechnungsfähigkeit. Liegt der Grund dagegen darin, daß der Handelnde keine Neigung hatte, die erforderliche Besinnung anzustellen, dann liegt Zurechnungsfähigkeit vor. Man braucht daher, wenn man im Zweifel ist, ob Zurechnungsfähigkeit vorliegt oder nicht, sich nur die Frage vorzulegen, ob der Handelnde dann, wenn eine überwiegende Neigung nur durch einen besonnenen Entschluß hätte befriedigt werden können, diesen dennoch nicht gefaßt hätte. Nach dieser Begriffsbestimmung ist klar, daß das Kriterium der Zurechnungsfähigkeit eine gradweise Abstufung zuläßt, da der Zustand der Zurechnungsfähigkeit in den der Unzurechnungsfähigkeit stetig übergehen kann, und man spricht daher auch mit Recht von verminderter Zurechnungsfähigkeit. Es fragt sich in jedem einzelnen Fall, wie stark der die Besinnung

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Eihik.

erfordernde Antrieb einer Neigung sein muß, damit er die Besinnung gerade noch herbeiführt, oder wie stark das Ubergewicht, die Gewalt der triebhaft wirkenden Antriebe ist, die die Besinnung erschweren. Je mehr sie die Besinnung erschweren, desto mehr ist die Zurechnungsfähigkeit vermindert. Mit all dem ist nun natürlich nicht ausgeschlossen, daß wir jemandem die Unzurechnungsfähigkeit ihrerseits zurechnen. Die Unzurechnungsfähigkeit gilt als verschuldet, wenn sie als beabsichtigt zu gelten hat, auch wenn sie ein nur fahrlässig herbeigeführter Erfolg eines früheren Entschlusses ist, einer Begehung oder auch einer Unterlassung. Dabei ist zu bedenken, daß in der Zurechnung der Unzurechnungsfähigkeit eine gradweise Abstufung stattfindet, nämlich nach dem Grade der Ausbildung der Kenntnisse der Einzelnen. Es fragt sich allemal, wie weit der Einzelne die Unzurechnungsfähigkeit als eine Quelle von bestimmten Erfolgen voraussehen konnte. Je weiter die Einsicht des Einzelnen hier geht, desto weiter muß auch die Zurechnung der Unzurechnungsfähigkeit gehen. Unzurechnungsfähigkeit ist ein solcher Zustand, in dem der Wille durch die unmittelbare Lebhaftigkeit der Antriebe bestimmt wird. Worauf diese Antriebe gerichtet sind, das hängt im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit nur von Umständen ab, die dem Willen des Handelnden gegenüber zufällig sind. Sofern sich diese Umstände nicht vorhersehen lassen, kann man auch nicht vorher wissen, was man im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit tun wird. Denn was man in diesem Zustand tun wird, hängt nach Voraussetzung von nicht vorhersehbaren Umständen ab. Ein Mensch, der sich absichtlich in einen solchen Zustand begibt, kann nicht wissen, was er in ihm tun wird; er muß aber wissen, daß er nicht wissen kann, was er tun wird. Er sieht folglich, hinreichende Einsicht vorausgesetzt, die in diesem Zustand möglicher Weise eintretenden Folgen seines Verhaltens voraus, und insofern sind sie ihm als seine Tat zuzurechnen. Es ist für seinen Willen nur zufällig, wenn diese Folgen dennoch ausbleiben. Die Unzurechnungsfähigkeit ist ihm dann also als Schuld zuzurechnen, und zwar

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nach dem weitesten Maße der von diesem Zustand zu erwartenden Folgen. Jeder geistig hinreichend erfahrene Mensch muß wissen, daß er die Verantwortung für die zu erwartenden Folgen seines Tuns auf sich nimmt, und er handelt gegen seine Einsicht, wenn er es unterläßt, sich diese Folgen zu überlegen. § 27.

Das Kriterium der Zurechenbarkeit. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Zurechnungsfähigkeit eines Menschen nicht etwa hinreicht, ihm den Erfolg seiner Handlungen zuzurechnen, sondern daß sie dazu nur notwendig ist; auch dem Zurechnungsfähigen kann man die Folgen seines Tuns nur insoweit zurechnen, als er sie beabsichtigte. Aber wir müssen andererseits daran festhalten, daß Zurechnungsfähigkeit vorliegen muß. Wir müssen also beides vereinigen, um die Bedingungen der Möglichkeit der Zurechnung zu erhalten. Dabei ist es gut, den Begriff, der die hinreichenden Bedingungen für die Möglichkeit der Zurechnung umfaßt, mit einem neuen Wort zu bezeichnen, und dafür scheint mir am geeignetsten das Wort „Zurechenbarkeit". Ich nenne also einen Erfolg zurechenbar, wenn die Bedingungen erfüllt sind, die zu seiner Zurechnung hinreichend sind. Es gehört dazu einerseits Zurechnungsfähigkeit, andererseits die absichtliche Herbeiführung des bestimmten Erfolges. Wir können daher sagen, daß zurechenbar der von einem zurechnungsfähigen Wesen beabsichtigte Erfolg ist. § 28.

Die Abstufung der Zurechnung. Aus den angestellten Untersuchungen geht hervor, daß, wenn wir jemandem etwas als Schuld zurechnen, dies in verschiedenem Grad geschehen kann. Nun ist es aber wichtig, hier zwei verschiedene Gesichtspunkte für die Abstufung der Schuld

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auseinanderzuhalten. Für die Zurechnung haben wir die Tat, die zugerechnet wird, zu vergleichen mit dem Gesetz, nach dem sie zugerechnet wird. Ein Erfolg ist als Unrecht gekennzeichnet durch das Gesetz, nämlich insofern, als er dem Gesetz zuwider herbeigeführt wird, andererseits aber dadurch, daß er die Tat eines vernünftigen Wesens ist. Nach beiden Gesichtspunkten findet eine Abstufung der Schuld statt. Danach ist also eine Abstufung der Schuld erstens objektiv möglich nach dem Verhältnis der Tat zum Gesetz. Wenn wir eine gesetzwidrige Tat ein Unrecht nennen, so können sich Grade der Gesetzwidrigkeit ergeben, so daß sich von größerem oder geringerem Unrecht sprechen ließe. Ob es eine solche Unterscheidung von Graden des Unrechts gibt, das hängt von der Inhaltsbestimmung des Gesetzes ab. Wir können hier, wo wir über den Inhalt des Gesetzes nichts voraussetzen wollen, keine Regel angeben, nach der sich objektiv die Größe der Schuld bemessen läßt; ja wir können an dieser Stelle noch nicht einmal behaupten, daß es eine solche objektive Abstufung der Größe des Unrechts gibt. Die Frage, ob das Unrecht seiner Größe nach abgestuft ist, kann erst in der materialen Pflichtenlehre zur Behandlung kommen. Aber wir müssen hier bereits auf die Möglichkeit einer solchen Abstufung Rücksicht nehmen. Die früher nachgewiesene Unendlichkeit des Unwerts der Pflichtverletzung schließt die Möglichkeit einer solchen Abstufung der Größe des Unrechts nicht aus. Es liegt kein Widerspruch darin, sich im Gebiet des Unendlichen noch Abstufungen vorzustellen. Hierneben steht die subjektive Abstufung der Größe der Schuld. Sie beruht darauf, daß man einen Erfolg mehr oder weniger zurechnen kann, nämlich nach dem Grad der Zurechenbarkeit. Hier vergleiche ich den Erfolg nicht objektiv mit dem Gesetz, sondern subjektiv mit der Absicht des Handelnden. Dabei muß ich einerseits nach dem Grad der Absichtlichkeit fragen, mit dem der Erfolg herbeigeführt worden ist, und andererseits nach dem Grad der Zurechnungsfähigkeit. Der Erfolg kommt hier nicht als Wirkung, sondern als Gegenstand des Willens in Betracht und darum also nur, sofern er als Folge des Ent-

Formale Pflichtenlehre.

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schlusses von dem Handelnden erwartet wurde. Es ergibt sich also eine Abstufung des Grades der Zurechnung nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit, mit dem der Handelnde den Erfolg erwartete. Nur in dem Maß, wie er den Erfolg erwartete, kann dieser ihm zugerechnet werden. Er kann den Erfolg nur erwarten nach dem Maß seiner Kenntnisse und Einsicht. Von diesem hängt es ab, inwiefern der Erfolg als beabsichtigt gelten und wie weit er also zugerechnet werden kann. § 29.

Moralische und rechtliche Zurechnung. Die bisherigen Betrachtungen gelten für die sittliche Zurechnung überhaupt. Wir haben damit noch nicht den Unterschied der moralischen und der rechtlichen Zurechnung berücksichtigt. Für die moralische Zurechnung kommt es nicht unmittelbar auf das Verhältnis der Tat zum Sittengesetz an; sondern hier muß die Tat verglichen werden mit der subjektiven Pflichtüberzeugung des Handelnden. Denn moralisch beurteilen wir eine Tat nicht danach, ob sie dem objektiven Inhalt des Gesetzes gemäß oder zuwider ist, sondern vielmehr danach, ob sie dem Pflichtbewußtsein des Handelnden gemäß oder zuwider erfolgt. Nur nach dem Grad, in dem er sich eines Unrechts bewußt ist, kann es ihm moralisch als Schuld zugerechnet werden. Diese Zurechnung ist also abhängig von dem Grad der Klarheit des Pflichtbewußtseins. Das Bewußtsein der Widerrechtlichkeit, und nicht die Widerrechtlichkeit selber, bestimmt moralisch die Schuld des Handelnden. Für die rechtliche Zurechnung dagegen darf man auf die Einsicht des Handelnden keine Rücksicht nehmen - eben das macht ja den Unterschied der rechtlichen von der moralischen Zurechnung aus; wir fragen bei der rechtlichen Zurechnung nach der Ubereinstimmung der Tat mit der objektiven Forderung des Gesetzes, und nicht danach, ob der Handelnde sie für gesetzmäßig hielt. Die subjektive Rechtlichkeit des Handelns genügt also

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Ethik.

nicht, die Anforderungen der Rechtlichkeit objektiv zu erfüllen. Es ist für die rechtliche Zurechnung gleichgültig, ob vielleicht der Handelnde eine objektiv rechtliche Handlung begeht, aber in dem Wahn befangen ist, sie sei ein Unrecht, - so wie es in rechtlicher Hinsicht auch gleichgültig ist, ob der Handelnde vielleicht seine objektiv widerrechtliche Tat selber für Recht hält und vielleicht gar moralisch handelt. Von seiner rechtlichen Ansicht haben wir also bei der rechtlichen Zurechnung zu abstrahieren, während von der Beurteilung der tatsächlichen Folgen des Handelns nicht abstrahiert werden darf. Denn es kommt auch bei der rechtlichen Zurechnung nicht auf den zufällig wirklichen, sondern auf den beabsichtigten Erfolg der Handlung an. Rechtliche Zurechnung hat ebenso wie die moralische auf den die Tatsachen betreffenden Irrtum des Handelnden Rücksicht zu nehmen. Bei der rechtlichen Zurechnung fragen wir nur nach der Rechtlichkeit oder Widerrechtlichkeit des beabsichtigten Erfolgs. Für seine Zurechnung muß allerdings das Bewußtsein des - widerrechtlichen - Erfolgs vorausgesetzt werden. Das heißt aber nicht, daß das Bewußtsein der Widerrechtlichkeit des Erfolgs vorausgesetzt werden muß. Dies spielt vielmehr nur bei der moralischen Zurechnung eine Rolle. Hiermit haben wir den analytischen Teil der formalen Pflichtenlehre abgeschlossen. Jede weitere Entwicklung unseres Systems bedarf synthetischer Voraussetzungen.

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2. Stück.

Synthetische Sätze der formalen Pflichtenlehre. 1. Kapitel.

Das Gebot des Charakters. § 30.

Der synthetische Grundsatz der formalen Pflichtenlehre. Beim Ubergang zum synthetischen Teil der formalen Pflichtenlehre bedürfen wir eines praktischen, synthetischen Grundsatzes, der freilich vom Inhalt des Sittengesetzes noch völlig abstrahiert. Denn eben diese Abstraktion macht ja das Wesen der formalen Pflichtenlehre aus. Unser Grundsatz darf ferner als synthetischer Satz nicht bei dem bloßen B e griff des Sittengesetzes stehen bleiben. Das Neue, das er den bisherigen Voraussetzungen hinzufügt, besteht in der Behauptung, daß es etwas gibt, das unter diesen Begriff fällt, eine Behauptung, die wir in dem Satz formulieren: Es gibt ein Sittengesetz. Dieser Satz genügt in der Tat den geforderten Bedingungen. Er ist zunächst ein praktischer Satz, d. h. ein Satz der Ethik und nicht etwa der theoretischen Naturlehre - darüber darf uns auch seine Form nicht hinwegtäuschen. Der Schein, als ob wir es hier mit einem theoretischen Satz zu tun hätten, nämlich mit einem Urteil über das, was ist oder Geltung hat, beruht nur darauf, daß der aufgestellte Satz das Sittengesetz nicht ausspricht. Er darf es auch nicht enthalten, da er sonst den Inhalt des Sittengesetzes nennen müßte und damit über den Rahmen der formalen Pflichtenlehre hinausginge. Er behauptet lediglich die Realität dieses Gesetzes, aber dabei handelt es sich um eine p r a kt i s c h e Realität insofern, als dem Sittengesetz in der

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Ethik.

Natur zwar uneingeschränkte Gültigkeit, nicht aber unbedingt auch Geltung zukommt. Der aufgestellte Grundsatz besagt also die p r a kt i s c h e Re a 1 i t ä t de s P fl i c h t b e g r i ff s. Unser Grundsatz ist ferner synthetisch; denn es versteht sich nicht auf Grund des bloßen Begriffs der Pflicht, daß es etwas gibt, das unter diesen Begriff fällt. Wir können unseren Satz verneinen, ohne auf einen Widerspruch zu kommen. Andererseits ist unser Grundsatz aber auch die einzige synthetische Behauptung, auf die wir diesen Teil unserer Wissenschaft gründen. So arm er an Inhalt zu sein scheint, er besitzt dennoch praktische Bedeutung, nämlich insofern, als durch ihn, der selber kein Gebot ausdrückt, die Ableitung eines Gebots gelingt, und dies ohne Hinzunahme weiterer synthetischer Voraussetzungen. Dieses Verfahren erscheint zunächst paradox. Uber seine Möglichkeit wird das Experiment entscheiden. § 31.

Die Subsumtionsformel der formalen Pflichtenlehre. Aus unserem Obersatz allein läßt sich allerdings das fragliche Gebot nicht ableiten. Wir bedürfen eines Untersatzes. Damit erhebt sich eine Schwierigkeit: Woher sollen wir diesen Untersatz nehmen, da wir weder synthetische Sätze aus der Erfahrung hinzufügen dürfen, noch solche über den Inhalt des Sittengesetzes? Aber wir sind auf solche Hilfen auch nicht angewiesen. Es genügt, sich der Feststellung zu erinnern, daß die Realität des Sittengesetzes nicht dessen Geltung bedingt, eine Feststellung, von der die Einsicht in die praktische Bedeutung des ganzen Unternehmens der Ethik abhängt. Wir hatten gesehen, daß die Voraussetzung einer naturnotwendigen Geltung des Sittengesetzes sogar widerspruchsvoll wäre. Denn es liegt bereits in der bloßen Form eines Sittengesetzes, daß die Möglichkeit eines Widerstreits besteht zwischen dem, was geschieht, und dem, was geschehen soll.

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Dieses analytische Prinzip des Auseinandertretens von Naturgesetz und Sittengesetz brauchen wir nur als Untersatz zu unserem synthetischen Obersatz hinzuzunehmen, um das fragliche Gebot zu erhalten. Ich nenne dieses Prinzip in Hinsicht auf die logische Bedeutung, die ihm im Aufbau der formalen Pflichtenlehre zukommt, die S u b s um t i o n s f o r m e 1 de r f o r m a 1 e n P fl i c h t e n 1 e h r e. Sie besagt, daß es kein Naturgesetz geben kann, wonach das Sittengesetz in der Natur gelten müßte oder nicht gelten könnte. Die Bedeutung dieses Satzes für die Ableitung des Gebots wird deutlicher, sobald wir den Begriff des Handelns in der Natur näher ins Auge fassen. Unser Handeln in der Natur bestimmt sich nach den Kräften, die in der Natur vorhanden sind, und nicht unmittelbar nach dem, was wir tun sollen. Die Verteilung der Kräfte in der Natur findet statt ohne Rücksicht auf ihren Wert oder Unwert, insbesondere ohne Rück.sieht auf ihr Verhältnis zum Sittengesetz. Wenn wir die Kräfte, inwiefern sie auf den Willen wirken, die Antriebe des Willens nennen, und den Antrieb, der den Willen bestimmt, den Bestimmungsgrund des Willens, so können wir sagen, daß der Bestimmungsgrund des Willens nicht in der objektiven Vorzugswürdigkeit der Handlung liegt, nicht in ihrem überwiegenden We~t, sondern in dem überwiegenden Antrieb, der gerade auf den Willen wirkt. Dies ist es, was unsere Subsumtionsformel zum Ausdruck. bringt. Wir können sie auch so formulieren: Die sittliche Vorzugswürdigkeit einer Handlung ist nicht evident. Wir gebrauchen dabei das Wort „evident" im Sinn einer p r a kt i s c h e n Evidenz. Die sittliche Vorzugswürdigkeit einer Handlung wäre in diesem Sinn evident, wenn wir uns ihrer einerseits unmittelbar bewußt wären und wenn andererseits die Einsicht in die praktische Notwendigkeit einer Handlung unmittelbar bestimmend wäre für den Entschluß. Wäre das Sittengesetz praktisch evident, so wäre die Pflichtmäßigkeit einer Handlung hinreichend, uns diese Handlung vorziehen und tun zu lassen; es gäbe also - im Widerspruch zu unserem Untersatz - ein

Ethik.

Naturgesetz, nach dem das, was geschehen soll, notwendig geschieht. Ein solches Naturgesetz kann es nicht geben, und darum kann die sittliche Notwendigkeit nicht evident sein. In der Tat: Ob wir uns über die sittliche Notwendigkeit einer Handlung klar sind, und ob diese Klarheit hinreicht, uns die Handlung auch tun zu lassen, das hängt von der Ausbildung unserer Reflexion ab; denn nur durch die Reflexion vermögen wir zur Einsicht in die sittliche Notwendigkeit zu kommen, und nur, wenn diese Einsicht hinreicht zur Uberwindung der subjektiven Neigungen, kann sie unseren Entschluß dem Gebot gemäß bestimmen. Wie weit der Einzelne in bezug auf seine Reflexion fortgeschritten und ausgebildet ist, das ist hinsichtlich des Sittengesetzes zufällig. Das Sittengesetz entscheidet nicht unmittelbar über das, was wir tun; seine Befolgung hängt vielmehr davon ab, ob unsere Reflexion dafür hinreichend ausgebildet ist. Dies ist nur ein anderer Ausdruck für die Evidenzlosigkeit des Sittengesetzes. Dieser Umstand ist es im Grunde, dem die Ethik als Wissenschaft ihr eigentümliches praktisches Interesse verdankt. Wäre die ethische Erkenntnis unmittelbar evident, so bedürfte es keiner Reflexion, um sie zur Klarheit des Bewußtseins zu erheben und praktisch geltend zu machen. Die Beschäftigung mit der Ethik als Wissenschaft wäre also in praktischer Hinsicht müßig; denn Wissenschaft ist nichts anderes als die vollkommene Form der Reflexion für eine Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen. § 32.

Der Schlußsatz der formalen Pflichtenlehre. Mit Hilfe der beiden eingeführten Voraussetzungen können wir nun zur Aufstellung des Gebots schreiten. Da diese Voraussetzungen a priori gelten, muß auch das aus ihnen abzuleitende Gebot, das den Schlußsatz der formalen Pflichtenlehre bildet, a priori feststehen. Ob eine subjektive Neigung eines in der Natur handelnden Wesens auf das gerichtet ist, was das Sittengesetz gebietet, das ist der aufgestellten Subsumtionsformel

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nach zufällig; es liegt andererseits in der praktischen Notwendigkeit des Sittengesetzes, daß seine Erfüllung nicht dem Zufall überlassen bleiben darf. Denn ein Gesetz, in dem eine praktische Notwendigkeit zum Ausdruck kommt, verlangt, wenn es auch selber kein Naturgesetz ist, in der Natur dennoch notwendig zu gelten, d. h. so zu gelten, als ob es ein Naturgesetz wäre. Die Erfüllung des Gesetzes würde aber in dem hier in Frage stehenden Sinn dem Zufall überlassen bleiben, solange sie nicht durch den Willen gesichert ist. Denn das Sittengesetz fordert seine Erfüllung von einem Willen, und darum bleibt es hinsichtlich des Gesetzes zufällig, wenn es erfüllt wird durch Umstände, die außerhalb des Willens liegen. Gibt es also überhaupt ein Sittengesetz, so folgt für jedes vernünftige Wesen in der Natur das Gebot, die Erfüllung des Gesetzes dem Zufall zu entziehen, dem sie an sich in der Natur ausgesetzt ist, dem Zufall nämlich, ob gerade ein überwiegender Antrieb auf das gerichtet ist, was dem Gesetz nach geschehen soll. Es folgt also das Gebot, die Pflichterfüllung zum Gegenstand des Willens zu machen. Ich nenne dies das G e b o t d e s Ch a r a kt e r s. In dem Gebot des Charakters, dem Schlußsatz der formalen Pflichtenlehre, liegt der Angelpunkt dieses Teils der Ethik. Für das richtige Verständnis dieses Gebots kommt alles darauf an, den Gesichtspunkt, aus dem die Ableitung erfolgte, klar im Auge zu behalten. Denn es liegt hier eine besondere Schwierigkeit vor, die darin besteht, den Schlußsatz in Einklang zu bringen mit der Aufrechterhaltung der Subsumtionsformel. Nach der Subsumtionsformel hängt es in der Natur von dem hinsichtlich des Sittengesetzes zufälligen Stärkeverhältnis der Antriebe ab, ob das geschieht, was geschehen soll. Das Gebot des Charakters verlangt, dieses Verhältnis dem Zufall zu entziehen, die Erfüllung der Pflicht also nicht dem guten Glück zu überlassen. Es bleibt dabei, daß auch bei der Erfüllung dieses Gebots das Handeln nach Naturgesetzen erfolgt. Es kann hier also nur darauf ankommen, das Bewußtsein der Pflicht zum überwiegenden Antrieb zu machen. Daraus folgt, daß es vom Willen ab-

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hängen muß, welcher Antrieb den Willen bestimmt, d. h. welcher Antrieb zum überwiegenden wird. Obwohl in der Natur der Entschluß nur abhängt von dem Stärkeverhältnis der Antriebe, so muß doch andererseits dieses Stärkeverhältnis von unserem Willen abhängen, wir müssen es also selber in der Hand haben, durch welche Antriebe wir uns bestimmen lassen. Ein solches Vermögen, durch den eigenen Willen zu bestimmen, welcher Antrieb den Willen bestimmen soll, scheint alle Schranken der Natur notwendig zu überschreiten. Wie dieses paradoxe Vermögen begreiflich ist, das ist eine spekulative Frage, die - so wichtig ihre Auflösung an sich sein mag - uns hier nicht beschäftigen darf und auch nicht zu beschäftigen braucht: Es genügt hier die Feststellung, daß wir ein solches Vermögen besitzen. Wir wissen dies auf Grund des Satzes, daß es ein Sittengesetz gibt. Durch die Realität dieses Gesetzes wird das Vermögen verbürgt, das zu tun, was das Gesetz gebietet, und also das Vermögen, das an und für sich zufällige Stärkeverhältnis der Antriebe dem Zufall zu entziehen. Die Voraussetzung, die den Obersatz unserer Wissenschaft bildet, ist letzten Endes hinreichend, die Behauptung, daß es ein solches Vermögen gibt, sicherzustellen, mögen die Probleme in spekulativer Hinsicht gelöst werden, wie sie wollen. Wir nennen das Vermögen, sich von dem zufälligen Stärkeverhältnis der Antriebe zu emanzipieren, die Freiheit des Willens.

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2. Kapitel.

Die Bedingungen des Charakters. § 33.

Die Bedeutung des Wortes „Charakter". Aus dem gewonnenen Ergebnis entspringen wichtige Folgerungen über die Bedingungen des Charakters. Das Wort „Charakter" wird in einem weiteren und in einem engeren Sinn gebraucht. Dies zeigt sich schon darin, daß man einerseits von einem guten oder schlechten Charakter spricht, andererseits aber von Charakter im lediglich auszeichnenden Sinn, wobei man das Wort „gut" nicht hinzusetzt, weil der Ausdruck. ,,schlechter Charakter" hiernach einen widerspruchsvollen Begriff bezeichnen würde. Ich habe das Wort „Charakter" bisher im engeren, im auszeichnenden Sinn gebraucht. Dieser Begriff des Charakters ist dadurch bestimmt, daß wir Charakter demjenigen zuschreiben, der sich die Erfüllung des Sittengesetzes zum Vorsatz macht, so daß sie für ihn nicht mehr zufällig ist. Ch a r a k t e r i s t a 1 s o die Eigenschaft dessen, der das Pflichtbewußtsein zum überwiegenden Antrieb seines Willens macht, und die Handlung, durch die dies geschieht, durch die also eigentlich der Charakter gestiftet wird, ist es, die durch das abgeleitete Gebot zur Pflicht wird. Diese Pflicht steht fest, unabhängig davon, wie man den Inhalt des Sittengesetzes bestimmt. Es kann keine Inhaltsbestimmung geben, die sich zur Forderung des Charakters in Widerspruch setzt. Charakter, in diesem engeren Sinn verstanden, setzt nun freilich das voraus, was man in einem weiteren Sinn des Wortes unter einem Charakter versteht. Danach spricht man nämlich von einem Charakter, sofern jemand, wie man sagt, nicht „blindlings" handelt, sich „nicht treiben läßt", sondern nach Vorsätzen handelt, und von einem guten Charakter, sofern der Vorsatz, nach dem gehandelt wird, sich auf die Erfüllung der Pflicht richtet.

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C h a r a kt e r i m w e i t e r e n S i n n , wonach er eine Vorbedingung für den guten Charakter ist, b e d e u t e t a I s o s o viel wie die Eigenschaft eines Willens, sein H an d e I n de m Z u f a 11 z u e n t z i e h e n. Bei dieser Bestimmung ist keine Rücksicht darauf genommen, zu Gunsten welcher Regel der betreffende Wille sich durch Vorsätze bestimmen läßt; es ist genug, daß er an sein Handeln irgend welche bindenden Anforderungen stellt, mögen diese dem Sittengesetz entnommen sein oder nicht. Charakter besteht hier in der Unabhängigkeit des Willens davon, welcher unter den gerade wirkenden Antrieben zufällig der stärkste ist. Diese Unabhängigkeit ist nur dadurch möglich, daß der Wille die Antriebe gemäß einer allgemeinen Regel einer Kontrolle unterwirft und sie, falls sie nicht jener Regel entsprechen, modifiziert. Ich will im Interesse eines bequemeren und kürzeren Sprachgebrauchs einen Antrieb, der durch seine unmittelbare Lebhaftigkeit den Willen bestimmt, einen triebhaften nennen, und einen entsprechenden Entschluß einen triebhaften Entschluß. Dann können wir sagen: Charakter bedeutet Unabhängigkeit des Willens von triebhaften Bestimmungsgründen, d. h. solchen, die den Willen bestimmen ohne die Vermittlung eines Vorsatzes. Da die Rücksicht auf die Regel des Werts der Handlung, der Evidenzlosigkeit dieser Regel zufolge, nur vermöge des Eingreifens der Reflexion stattfinden kann, so können wir den Charakter auch positiv bestimmen als die Herrschaft der Reflexion über die Antriebe. Daß die Antriebe nicht auf Grund ihrer unmittelbaren Lebhaftigkeit schon den Entschluß bestimmen, daß dieser vielmehr erst durch Vermittlung der Reflexion zustande kommt, nämlich auf Grund einer Vergleichung der verschiedenen Antriebe mit einer Regel des Werts, das macht das aus, was wir die B e sonnen h e i t des Entschlusses nennen können. Die Regel des Werts, die die Voraussetzung eines besonnenen Entschlusses bildet, nennen wir einen V o r s atz , eine M a xi m e oder ein p r a kt i s c h es Prinzip. Demzufolge können wir einen nicht

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triebhaften Entschluß auch erklären als eine besonnene Handlung oder als eine Handlung nach Vorsätzen. Es ist dabei noch gleichgültig, auf Grund welcher Regel die Auszeichnung erfolgt. Es genügt, daß irgend eine solche Regel für den Entschluß leitend ist. Es kommt für diesen weiteren Begriff des Charakters nicht auf den Inhalt des Prinzips, sondern nur auf die Form des Handelns an, die darin besteht, daß überhaupt nach Grundsätzen gehandelt wird, im Gegensatz dazu, daß die unmittelbare Lebhaftigkeit der Antriebe das Handeln bestimmt, d. h. im Gegensatz zum triebhaften Handeln überhaupt. §

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Die Stärke des Charakters. Hieraus folgt die Bedingung des Charakters, die ich als die Forderung der St ä r k e des Charakters bezeichne, nämlich die Forderung der Unabhängigkeit des Handelns von Affekten. Unter einem Affekt verstehen wir die Aufwallung eines triebhaft wirkenden Antriebs. Unabhängigkeit von Affekten ist das, was im prägnanten Sinn die Stärke des Charakters heißt. Stärke des Charakters schreiben wir dem zu, dessen Wille kein Spielball der gerade auf ihn einstürmenden Affekte ist. Die Affekte hängen ihrerseits von den Eindrücken ab, die je nach den Umständen auf den Menschen wirken. Die Affekte charakterisieren also mehr die Umstände als den Charakter; denn der Charakter besteht erst in der Beherrschung der Affekte, und die Kraft der Beherrschung der Affekte macht die Stärke des Charakters aus. Sie wird gemessen an dem Grad der Stärke, den ein Affekt annehmen kann, ohne daß der Wille sich durch ihn bestimmen läßt. Die Stärke des Charakters zeigt sich in verschiedenen Formen. Sie zeigt sich einerseits negativ in Unterlassungen insofern, als der Wille dem Ansturm der Affekte nicht nachgibt, auf der andern Seite positiv durch Handlungen, die unter der Uberwindung affektartiger Antriebe getan werden. In beiderlei Hinsicht können wir eine weitere Unterscheidung anstellen,

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danach nämlich, ob ein einzelner E n t s c h 1 u ß die Stärke des Charakters zeigt, oder ob der Charakter sich darüber hinaus in der Durchführung eines einmal gefaßten Entschlusses bewährt, im Festhalten an ihm, entgegen den fortgesetzt andrängenden Affekten. Wir erhalten hier verschiedene Tugenden als Erscheinungsformen der Stärke des Charakters. Dabei macht nun eine genaue Bestimmung des Sprachgebrauchs einige Schwierigkeiten. Ich schlage vor, die negative Tugend der Unterlassung von Triebhandlungen, zu denen Affekte hindrängen, ,,Selbstbeherrschung" zu nennen. Se 1 b s t b eher r s c h u n g ist nichts anderes als die Eigenschaft, sich nicht durch einen auf den Willen einstürmenden Affekt hinreißen zu lassen. Wir unterscheiden davon das, was ich E n t s c h 1 o s s e n h e i t nenne, nämlich die Kraft, unter Uberwindung entgegengerichteter Affekte zur Tat zu kommen. Ich will ferner die Tugend, die sich äußert im Fassen einzelner Entschlüsse gegenüber widerstreitenden Affekten, Geistes gegen wart nennen, im Gegensatz zu der Tugend der St an d h a f t i g k e i t , die sich im Festhalten der einmal gefaßten Entschlüsse bewährt unter Uberwindung stets aufs neue andrängender Affekte. Auf Grund dieser Uberlegungen ist es verhältnismäßig leicht, Namen zu finden für die vier Tugenden, die sich durch die Verbindung dieser vier Eigenschaften ergeben und die zusammen die Stärke des Charakters ausmachen. Selbstbeherrschung in der Form der Geistesgegenwart ist Mäßigung, in der Form der Standhaftigkeit G e du 1 d, Entschlossenheit in der Form der Geistesgegenwart Mut , in der Form der Standhaftigkeit Ta p f er k e i t. So wenigstens glaube ich, mich dem Sprachgebrauch am sinnvollsten angepaßt zu haben.

G eistesgegenwart

Standhaftigkeit

Selbstbeherrschung

Entschlossenheit

Mäßigung

Mut

Geduld

Tapferkeit

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Um uns in der Anwendung der Begriffsbestimmung richtig zu verstehen, müssen wir daran festhalten, daß wir es hier mit dem Begriff der Tugend zu tun haben. Tugenden sind Eigenschaften des Charakters. Dabei müssen wir uns vor Verwechslungen hüten. Man darf die Stärke des Charakters nicht einfach erklären als die Eigenschaft, sich nicht durch Affekte hinreißen zu lassen. Dazu bedürfte es unter Umständen keines Charakters; dazu kann es genügen, daß gar keine Affekte auftreten. Ein für Affekte unempfindlicher Mensch wird sich nicht hinreißen lassen, und er besitzt doch keine Stärke des Charakters. Diese besteht in der Beherrschung der Affekte. Von Beherrschung kann aber nur da die Rede sein, wo es etwas zu beherrschen gibt. Entsprechendes können wir von allen angeführten Tugenden sagen. Geduld ist nicht die Nachgiebigkeit, von der es im ,,Faust" mit Recht heißt: ,, Und Fluch vor allem der Geduld!", sondern gerade die Unnachgiebigkeit gegenüber Affekten. Man darf die Tugend des Muts nicht verwechseln mit Furchtlosigkeit. Der Furchtlose bedarf keines Muts, so wie der Apathische keiner Mäßigung bedarf. Mut als Tugend besteht in der Uberwindung der Furcht. Charakter zeigt sich überhaupt nur da, wo Neigungen wirklich überwunden werden, und zwar auch hier nur, wo die Uberwindung ein Werk des Willens ist, wo sie also auf einem Entschluß beruht, nicht etwa auf einer zufällig vorliegenden Neigung. Zum Mut gehört mehr als die zufällige Veranlagung, vermöge derer jemand vor Hindernissen nicht zurückschreckt, ja sich vielleicht ein Vergnügen daraus macht, den Kampf mit den Hindernissen aufzunehmen, aus Kampflust etwa oder aus Abenteuerlust, Eitelkeit oder ähnlichen Neigungen. Die Uberwindung, die das Kennzeichen des Charakters ist, nennt man daher mit Recht Se 1 b s t überwind u n g. Darin drückt sich aus, daß ein eigener Entschluß zu ihr gehört, der Entschluß zum Kampf gegen das Ubergewicht der Neigung.

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§ 35.

Die Lebendigkeit des Charakters. Die zweite Bedingung des Charakters ist das, was man am besten seine L e b e n d i g k e i t nennt. Ich verstehe darunter die Unabhängigkeit des Willens von der Macht der Gewohnheit. Gewohnheit bedeutet eine Gleichförmigkeit des Handelns, die auf der unwillkürlichen Wirksamkeit dauerhaft gewordener Antriebe beruht. Solche dauerhaft gewordenen oder, wie man sagt, .,eingewurzelten" Antriebe nennen wir, wenn sie eine gewisse Stärke erreichen, L e i d e n s c h a f t e n. Der Sprachgebrauch macht auch hier gewisse Schwierigkeiten. Man bezeichnet nämlich auch einen Menschen als leidenschaftlich, der Affekten leicht zugänglich ist. Mir kommt es aber gerade auf die Unterscheidung an zwischen Affekten und dauerhaft gewordenen Antrieben, und für diese finde ich kein besseres Wort als „Leidenschaften". Wie die Stärke des Charakters Unabhängigkeit von Affekten fordert, so fordert die Lebendigkeit Unabhängigkeit von Leidenschaften. Sie fordert die Bereitschaft, jederzeit einer Angewohnheit entgegen zu handeln und sie zu durchbrechen, sofern das Sittengesetz es gebietet. Man könnte die Lebendigkeit des Charakters insofern die Tugend der inne r e n Freiheit nennen. Auch hier müssen wir vor Verwechslungen auf der Hut sein. Das, was ich als die Lebendigkeit des Charakters erklärt habe, ist etwas ganz anderes als das, was man etwa die Lebhaftigkeit eines Menschen nennt. Diese bedeutet die Erregbarkeit durch äußere Eindrücke und also die Zugänglichkeit für Affekte und Leidenschaften. Sie wird durch die Anforderung der Lebendigkeit keineswegs verlangt oder verworfen. Leidenschaften gehören zur Gesundheit und zum Reichtum des Lebens. Ja wo keine Leidenschaften vorhanden sind, kann sich die Lebendigkeit des Charakters gar nicht erproben, ebensowenig wie ohne Affekte die Stärke des Charakters. Aber die Lebendigkeit des Charakters selber besteht nicht in der Leb-

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haftigkeit der Leidenschaften, sondern in ihrer Beherrschung. Je stärkere Leidenschaften vorhanden find, desto mehr wird daher die Lebendigkeit des Charakters hervortreten; denn ihr Maß bestimmt sich gerade durch die Stärke der Leidenschaften, denen der Wille noch gewachsen ist. Durch diese Nachweisung wird auch deutlich, daß Charakter nicht etwa eine Sache der Gewohnheit ist, wofür er häufig ausgegeben wird. Er verlangt im Gegenteil Freiheit von der Herrschaft der Gewohnheit. Wo diese Herrschaft doch stattfindet, fehlt eine wesentliche Bedingung des Charakters, nämlich die Lebendigkeit. Lebendigkeit des Charakters erfordert allemal einen besonnenen Entschluß, einen neuen Entschluß, und kann als solche durch keine Gewohnheit ersetzt werden. Ein Mensch von Charakter handelt nach Grundsätzen, er handelt besonnen. Das besonnene Handeln ist verschieden von dem Handeln, das bloß von eindeutig und dauernd vorherrschenden Antrieben gelenkt wird. Was hier leicht irreführt, ist folgendes: Beide Arten, zu handeln, führen zu einer gewissen Konstanz, zu einer Gleichförmigkeit des Verhaltens. Der Charakter verlangt eine Konstanz des Handelns, nämlich die Unterwerfung der Vielheit von Handlungen unter die Einheit von Grundsätzen. Aber nicht jede Konstanz des Handelns macht schon das aus, was wir Charakter nennen. Sie kann auch auf gewissen Veranlagungen beruhen, auf einer Gleichheit der Wirkungen von Eindrücken. Solche können recht wohl zufällig dieselbe Art des Handelns hervorrufen wie ein Charakter. Die Gleichförmigkeit des Handelns kann ferner auf einer bloßen Konstanz der Umstände beruhen, unter deren Einfluß der Handelnde steht. Sie kann aber auch auf einer Gleichheit der durch den Willen gelenkten Antriebe beruhen. Es ist jedesmal erst die Frage, ob die Konstanz des Handelns nur durch die Gleichheit der Umstände bedingt ist, insbesondere derer, die auf Veranlagungen zurückgehen, oder ob sie e1ne Folge von Grundsätzen ist. Im ersten Fall erklärt sich diese Konstanz vielleicht durch nichts anderes als durch den Mangel an Gelegenheit, einmal anders zu handeln.

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Wir kommen damit auf den Unterschied zwischen dem Charakter und dem Temperament eines Menschen. Das Temperament charakterisiert gar nicht seinen Willen, sondern betrifft die Art und die Stärke seiner Triebe, Affekte und Leidenschaften. Diese können von der Art sein, daß die durch sie bedingte Handlungsweise in sich übereinstimmend bleibt. Aber diese Eigenschaft der Handlung ist dann zufällig, d. h. sie hängt nicht von dem Willen des Menschen ab. Einförmige Veranlagungen, die dieselben Wirkungen haben, wie sie auch der Charakter zur Folge hätte, sind noch keine Tugenden. Man sollte von ihnen höchstens als von Temperamentstugenden sprechen. Es sind solche Eigenschaften, die mit der Eigentümlichkeit des Charakters im allgemeinen übereinstimmen, sie brauchen aber keineswegs mit wirklichem Charakter verbunden ;z:u sein. Im Gegenteil, diese Eigenschaften können einen Anlaß dazu geben, daß sich eine Schwäche des Charakters zeigt, nämlich dann, wenn der Charakter erfordern würde, der Veranlagung gerade entgegen zu handeln, - ein Fall, dessen Eintreten wir niemals mit Sicherheit ausschließen können. Es kommt hier also darauf an, daß wir die Gleichförmigkeit der Handlungen, die auf einer Gleichförmigkeit der Veranlagungen beruht, unterscheiden von der auf der Äußerung des Charakters beruhenden Konstanz des Handelns. Und diese Unterscheidung ist praktisch wichtig, weil die Ubereinstimmung mit einem praktischen Prinzip, wie sie im ersten Fall stattfinden kann, doch nur zufällig ist. Wir dürfen uns auf keine Temperamentstugend verlassen in der Meinung, daß sie die sittlich gebotene Handlung notwendig nach sich ziehe. Wir müssen uns vielmehr auf Ausnahmen gefaßt machen; denn die Einheit des Handelns beruht beim besonnenen Handeln nicht auf der Einheit der Veranlagungen, sondern auf der Einheit der Grundsätze. Diese fordern Gleichheit der Handlungen nur bei Gleichheit der Umstände, gemäß der Beschränkung der Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes durch das Prinzip der sittlichen Differenzierung. Die Einheitlichkeit der Grundsätze bedingt durchaus nicht die Gleichförmig-

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keit des Handelns, sondern sie kann erfordern, die Gewohnheit, die Gleichförmigkeit des Handelns zu durchbrechen. Die Bereitschaft, aus Treue zu Grundsätzen eine zur Gewohnheit gewordene Handlungsweise zu durchbrechen, ist das, was ich die Lebendigkeit des Charakters nenne. Stärke und Lebendigkeit sind notwendige und hinreichende Bedingungen für den Charakter im weiteren Sinn dieses Wortes, wonach sich Charakter in der Besonnenheit des Handelns erweist. Sie sind notwendige Bedingungen des Charakters im engeren Sinn. § 36.

Die Reinheit des Charakters. Welches sind die Eigenschaften, die hinzukommen müssen, damit wir von Charakter im engeren Sinn des Wortes sprechen können, d. h. von sittlichem Charakter? Charakter im weiteren Sinn besteht im Handeln nach Grundsätzen, wobei es gleichgültig bleibt, welches diese Grundsätze sind. Wollen wir dagegen den Begriff des sittlichen Charakters bestimmen, so kommen wir auf die Frage nach der Art der Grundsätze, durch die der Mensch sein Handeln bestimmen läßt. Es kann bei aller Besonnenheit die allgemeine praktische Regel oder der Grundsatz, der das Handeln beherrscht und dadurch besonnen macht, seinerseits noch durchaus beliebig sein. Es kann sogar eine sittlich verwerfliche Maxime sein, durch die eine besonnene Handlung bestimmt wird. In solchen Fällen ist es ein subjektiver Grund, der den Antrieb ausmacht, und die Maxime des Handelns ist keine objektive Regel der Vorzugswürdigkeit, sondern eine subjektive Neigung wird durch das Dazwischentreten der Reflexion zu einer Maxime erhoben und bestimmt nun in dieser Form das Handeln. Ein sittlicher Entschluß ist zwar allemal besonnen, aber es ist nicht umgekehrt ein besonnener Entschluß immer sittlich. Wir können jetzt leicht die Bedingung formulieren, die hinzutreten muß, um die Besonnenheit zu einer sittlichen Eigenschaft zu erheben. Ich nenne diese Bedingung die Rein h e i t

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d e s Ch a r a kt er s. Sie wird dadurch erfüllt, daß die Inhaltsbestimmung der Maxime, die das Handeln leitet, ihrerseits dem Zufall entzogen wird, dem Zufall nämlich, ob sie mit der objektiven Vorzugswürdigkeit übereinstimmt oder nicht. Lassen wir diese Bedingung fallen und ziehen wir nur den Charakter im weiteren Sinn in Betracht, so kann oft gerade der größte Verbrecher Charakter im ausgesprochensten Maß besitzen. Zum Verbrecher wird er durch die Art der Grundsätze, die er sich zur leitenden Maxime gewählt hat, durch den Umstand, daß der Inhalt seiner Maxime nicht in Rücksicht auf den Inhalt der Pflicht, sondern durch einen außersittlichen Antrieb bestimmt ist. Antriebe, die die Maxime mit der Pflicht in Widerstreit bringen, können eben dadurch, daß sie es tun, den von ihnen beherrschten Menschen zum Verbrecher machen. Grundsätze sind daher möglich ohne Reinheit des Charakters; Reinheit des Charakters ist aber nicht möglich ohne Grundsätze. Reinheit des Charakters erfordert nidlt nur überhaupt Ausschaltung des Zufalls, dem das Handeln nach Neigungen ausgesetzt ist - dies geschieht durch beliebige Grundsätze - , sondern sie verlangt diese Ausschaltung zu Gunsten derjenigen Regel des Werts der Handlung, die uns durch das Gebot der Pflicht auferlegt wird. Was notwendig ist, um das Handeln überhaupt dem Zufall zu entziehen, Stärke und Lebendigkeit des Charakters also, das ist auch notwendig, um die Pflichterfüllung dem Zufall zu entziehen. Das Pflichtbewußtsein hat von Natur aus nicht notwendig die zur Bestimmung des Willens hinreichende Klarheit. Es kann also nicht durch einen triebhaft wirkenden Antrieb über den Willen herrschen, sondern nur durch das Eingreifen der Reflexion in den Mechanismus der Antriebe und also durch Stärke und Lebendigkeit des Charakters. Die Reinheit des Charakters ist somit die Eigenschaft, die wir einem Menschen zuschreiben, wiefern er jeden anderen Antrieb dem Bewußtsein der Pflicht unterordnet, wiefern er die Pflichterfüllung zur notwendigen Bedingung des Handelns überhaupt macht. Reinheit des Charakters ist, wie wir damit

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sagen können, nichts anderes als die moralische Bereitschaft; sie zeigt sich geradezu in deren Stiftung. Hier kommt es darauf an, daß wir zwei Wahrheiten richtig mit einander vereinigen. Wir gehen davon aus, daß Reinheit des Charakters die Pflichterfüllung als notwendige Bedingung des Handelns erfordert. Damit kann gemäß dem Prinzip der moralischen Bereitschaft nicht geboten sein, den sittlichen Antrieb zum aus s c h 1 i e ß 1 ich e n Antrieb zu machen. Reinheit des Charakters bedeutet nicht Abtötung der Neigungen zu Gunsten eines sittlichen Vorsatzes. Hierneben muß man aber bedenken, daß die Bereitschaft, dem Sittengesetz auch dann zu folgen, wenn die Neigung nicht auf die sittliche Handlung gerichtet ist, nicht durch bloßen Zufall möglich ist, sondern daß sie zu ihrer Stiftung einen eigenen Entschluß erfordert. Wir stiften sie dadurch, daß wir den Entschluß fassen, der Pflicht auch dann zu folgen, wenn nicht schon eine Neigung auf ihrer Seite ist. Auf das Eintreten dieses Falles müssen wir immer gefaßt sein, weil es kein Naturgesetz gibt, das die Ubereinstimmung von Neigung und Pflicht sichert. Also ist hier in der Tat ein eigener Entschluß geboten, der Entschluß, durch den allein die sittliche Gesinnung im Menschen erzeugt wird. Wenn wir auch in dem Gebot des Charakters nicht die Forderung ausgesprochen haben, immer moralisch zu handeln, so folgt aus ihm doch, daß die geforderte moralische Bereitschaft den Vorsatz einschließt, gegebenenfalls moralisch zu handeln, dann nämlich, wenn die Neigung nicht ohnehin auf seiten der Pflicht ist, mit anderen Worten: gegebenenfalls aus bloßer Achtung vor dem Gesetz zu handeln. Wie oft wir überhaupt in die Lage kommen, moralisch zu handeln, um die Pflicht zu erfüllen, darüber läßt sich a priori nichts ausmachen. Man darf daher die Moralität eines Menschen nicht nach der Zahl seiner moralischen Handlungen beurteilen wollen. Ob und wann er in die Lage kommt, moralisch zu handeln, das hängt von den Umständen ab und kennzeichnet nicht seinen Charakter. Es gibt allerdings eine moralische Handlung, deren prak-

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tische Notwendigkeit man a priori beweisen kann, das ist nämlich gerade diejenige, durch die das Gebot des Charakters erfüllt wird. Die Erfüllung dieses Gebots ist ihrerseits nur möglich durch eine moralische Handlung; denn daß es eine Neigung gäbe, die uns zu dem Entschluß zu bestimmen vermöchte, jeder möglichen noch so starken Neigung gegebenenfalls entgegen zu handeln, widerspricht sich selber. Dieser Entschluß aber ist es, den das Gebot des Charakters erfordert. Dazu kann uns nicht wieder eir1e Neigung, sondern nur das Bewußtsein der Pflicht bestimmen, und nur diese moralische Handlung ist es, deren praktische Notwendigkeit wir a priori beweisen können. Prüfen wir weiter, von welchen Bedingungen die Reinheit des Charakters abhängt, so finden wir, daß diese Bedingungen zwei Tugenden umfassen. Reinheit des Charakters erfordert die Herrschaft des Pflichtbewußtseins über die Neigung. Das Pflichtbewußtsein kann aber den Willen nur beherrsdlen durch Vermittlung der Reflexion. Zur sittlichen Einsicht zu gelangen, ist daher die erste Forderung, die erfüllt sein muß, damit die Reinheit des Charakters sich zeigen kann. Es gehört dazu aber über diese Klarheit hinaus, daß das Pflichtbewußtsein Triebkraft für den Willen besitzt. Man sagt von einem Menschen, dem man Reinheit des Charakters zuschreibt, daß er nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Hiernach handelt derjenige nach bestem Wissen, der sich auf seine Pflicht besinnt, um über sie zur Klarheit zu gelangen, und nach bestem Gewissen derjenige, der seinen Willen seiner Einsicht unterwirft. Man kann das erste die Besonnenheit im engeren Sinn des Wortes nennen. Das zweite bezieht sich auf die Gesonnenheit, auf die Gesinnung. Wir kommen hier auf die beiden Tugenden der s i t t 1 i c h e n K 1 a r h e i t einerseits und der s i t t 1 ich e n Ge sinn u n g andererseits. Die sittliche Klarheit steht im Gegensatz zu dem, was wir sittliche Dumpfheit oder Trübung des Pflichtbewußtseins nennen können, d. h. zu einer Verdunkelung durch Affekte der Leidenschaften. Aber auch die höchste sittliche Klarheit könnte an sich noch vereinigt sein mit der größten Schwäche des Willens. Eben darum fordert das Gebot der sitt-

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liehen Gesinnung über die sittliche Klarheit hinaus Unterwerfung der Neigungen unter die Herrschaft des Pflichtbewußtseins und also Stiftung der moralischen Bereitschaft. Sittliche Klarheit und sittliche Gesinnung sind als Tu gen den koordiniert, d. h. als Eigenschaften des Geistes, die wir in sittlicher Hinsicht bewerten. Aber wir können sie nicht etwa auf gleiche Weise als Pf 1 i eh t e n koordinieren. Wir können ihnen nicht zwei entsprechende Pflichten an die Seite stellen. Eine Pflicht der sittlichen Klarheit gibt es nicht, darum weil das, was sie gebieten würde, nicht Sache des Willens ist. Es hängt nicht von dem bloßen Willen des Menschen ab, im Besitz einer Einsicht zu sein, wohl aber kann ihm als Pflicht zugemutet werden, nach sittlicher Klarheit zu streben, d. h. zu tun, was von seinem Willen abhängt, um zur Klarheit zu gelangen. Diese Pflicht nenne ich die P fl i c h t der s i t tl i c h e n W a h r h a f t i g k e i t. Sie gebietet, nach dem Besitz derjenigen Einsicht zu streben, die erforderlich ist, um zu hinreichend klarem Pflichtbewußtsein zu gelangen. Diese Pflicht ist aber als Pflicht selber nur eine Folge der Pflicht der moralischen Bereitschaft. Sittliche Wahrhaftigkeit, d. h. das Streben nach sittlicher Klarheit, ist eine Bedingung der Stiftung sittlicher Gesinnung. Es bleibt dabei, daß dieses Gebot die einzige Pflicht ist, die wir in der formalen Pflichtenlehre unmittelbar ableiten, auf die wir alle anderen in diesem Teil unserer Wissenschaft abgeleiteten Pflichten zurückführen müssen. Damit sind wir an der Grenze dieses Teils unserer Wissenschaft angelangt. Aber es ist uns zugleich auch schon der Ubergang zur materialen Pflichtenlehre unmittelbar vorgezeichnet. Wir brauchen nämlich nur die Frage zu stellen, w e 1 c h e Einsichten es denn sind, aus denen die sittliche Klarheit besteht, zu welchen Vorstellungen über den Inhalt der Pflicht wir mit der sittlichen Klarheit gelangen, um damit die Frage zu stellen, die gerade das Thema der materialen Pflichtenlehre bildet, soweit sie sich mit philosophischen Mitteln entwickeln läßt. Es ist die Aufgabe der materialen Pflichtenlehre, den Inhalt des Sittengesetzes zu bestimmen und die Folgerungen daraus zu ziehen.

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2. Abteilung.

Materiale Pflichtenlehre. Einleitung. § 37.

Ubergang zur materialen Pflichtenlehre. Der Abschluß der formalen Pflichtenlehre hat zu der Frage nach dem Inhalt des Sittengesetzes geführt und uns damit unmittelbar den Ubergang zur materialen Pflichtenlehre gezeigt. Dieser Ubergang bietet andererseits eine gewisse Schwierigkeit, die bereits in der bloßen Stellung der Aufgabe liegt. Wir haben gefunden, daß es für die moralische Beurteilung allein auf das Pflichtbewußtsein des Handelnden ankommt, ohne Rücksicht auf die Richtigkeit seiner Uberzeugung. Die richtige Pflichtüberzeugung ist es aber gerade, für die wir in der materialen Pflichtenlehre ein Kriterium suchen. Hier kommt alles auf die Inhaltsbestimmung der Pflicht an, und eben das spielt für die Beurteilung der Moralität des Handelnden gar keine Rolle. Die Auflösung dieser Schwierigkeit ist im Grunde schon in dem letzten Ergebnis der formalen Pflichtenlehre enthalten. Wir hatten dort die Pflicht abgeleitet, nach der Erkenntnis des objektiven Inhalts der Pflicht zu streben, und also die Aufgabe, die materiale Pflichtenlehre in Angriff zu nehmen. Hier handelt es sich in der Tat nicht mehr um die Aufgabe, Kriterien der Moralität aufzustellen, sondern nur darum, Kriterien der Rechtlichkeit zu entwickeln. Die Bedingungen der Moralität sind vollständig in der formalen Pflichtenlehre entwickelt, es gibt keine anderen als die der Reinheit des Charakters. Aber zu diesen Bedingungen gehört das Streben nach sittlicher Klarheit und also nach Einsicht in den Inhalt der Pflicht. Die Aufgabe der materialen Pflichtenlehre hängt also mit der der formalen inso-

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fern zusammen, als wir in der materialen Pflichtenlehre jene Auskunft über die Pflicht erhalten, nach der zu streben die formale Pflichtenlehre von uns fordert. Die Unerläßlichkeit der neuen Aufgabe und ihre Verträglichkeit mit der formalen Pflichtenlehre gehen auch unmittelbar aus folgendem hervor. Wir konnten das Gebot des Charakters ableiten, ohne den Inhalt des Sittengesetzes zu bestimmen; aber wir stellten dabei fest, daß es zur bloßen Form des Sittengesetzes gehört, daß das Sittengesetz einen Inhalt hat. Das Gebot des Charakters liefert uns diesen Inhalt nicht; es setzt vielmehr seinerseits schon rein logisch die Existenz eines anderen, und zwar inhaltlich bestimmten Gebots voraus, durch das wir das Kriterium der Rechtlichkeit erhalten. Nun ist es nicht ohne Interesse, zu bemerken, daß uns die formale Pflichtenlehre nicht nur zwangsläufig auf das Problem der materialen Pflichtenlehre führt, sondern uns auch bereits der Lösbarkeit dieses Problems versichert. Sie liefert uns nämlich das Prinzip der sittlichen Autonomie, wonach es keine Pflicht gibt, die nicht durch die eigene Einsicht des Verpflichteten erkennbar wäre. Wer das Gebot des Charakters anerkennt, der kann also nicht ohne Inkonsequenz abstreiten, daß es ein objektives Sittengesetz gibt und daß er imstande ist, den Inhalt dieses Gesetzes durch eigene Einsicht zu bestimmen. Die Schwierigkeiten der Inhaltsbestimmung mögen noch so groß sein, wir können doch nicht an der Lösbarkeit dieses Problems zweifeln. Bei der Aufstellung des Sittengesetzes werde ich so vorgehen, daß ich seinen Inhalt durch immer fortschreitende Bestimmungen charakterisiere, wobei jede Bestimmung eine Voraussetzung für die folgende sein wird, so wie die Bestimmungen der formalen Pflichtenlehre notwendige Voraussetzungen sind für die materiale Pflichtenlehre. Wir werden neue Bestimmungen erst dann hinzunehmen, wenn die Folgerungen aus den vorhergehenden erschöpft sind.

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1. Kapitel.

Der beschränkende Charakter des Sittengesetzes. § 38.

Der Satz vom beschränkenden Charakter des Sittengesetzes. Die erste dieser Inhaltsbestimmungen nenne ich den beschränkenden Charakter des Sittengesetzes. Ich behaupte, daß das Sittengesetz an und für sich nur ein negatives Gebot enthält, d. h. unmittelbar nur Unter 1 a s s u n gen gebietet. Unterlassungen sind zwar auch Handlungen; denn das bloße Nichthandeln ist noch keine Unterlassung, aber Unterlassungen sind Handlungen bestimmter Art. Der Satz vom beschränkenden Charakter des Sittengesetzes besagt, daß das Sittengesetz gewisse Handlungen, auf die sich ein Antrieb richtet, ausschließt, d. h. verbietet. Das Sittengesetz ist also unmittelbar nur in Verboten anwendbar, und es muß allemal schon ein Antrieb vorliegen, damit das Sittengesetz Anwendung finden kann. Es schreibt von sich aus nicht vor, wie wir positiv handeln sollen, d. h. welche Absichten wir verfolgen sollen, sondern greift nur, unter der Voraussetzung, daß wir Absichten verfolgen, beschränkend ein. Man darf diesen Satz nicht verwechseln mit einem früheren Satz, nämlich dem des negativen Charakters der sittlichen Wertung. Dieser Satz war eine Folge aus dem bloßen Begriff der Pflicht; es liegt ein logischer Widerspruch in der Annahme einer positiven sittlichen Wertung. Dagegen liegt kein Widerspruch in einem positiv gebietenden Sittengesetz. Sätze wie: „Du sollst Vater und Mutter ehren", ,,Du sollst töten, wenn es Dein Vorgesetzter gebietet", sind sicher von allem logischen Widerspruch frei. Auch auf Grund eines positiv gebietenden Satzes würde der Satz vom negativen Charakter der sittlichen Wertung bestehen bleiben. Wir würden einer Handlung, die diesem Gebot folgt, keinen positiven Wert zuschreiben; es wäre keine verdienstliche Handlung. Der Satz vom beschrän-

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kenden Charakter des Sittengesetzes enthält also eine neue Behauptung. Er gehört seinerseits schon zur Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes. § 39.

Die Unmöglichkeit des Moralismus. Dies zeigt sich auch darin, daß der Satz vom beschränkenden Charakter des Sittengesetzes bereits eine praktisch wichtige Folgerung nach sich zieht, die über das Prinzip der negativen Wertung hinausgeht. Diese Folgerung drücke ich aus in dem Satz von der U n m ö g 1 ich k e i t des Mora 1 i s m u s. Ich verstehe unter Moralismus eine zur positiven Regelung des Lebens hinreichende Normierung durch sittliche Prinzipien. Der Moralismus schließt, mit anderen Worten, die Möglichkeit sittlich indifferenter Handlungen aus. Nach ihm müßte jede Handlung eindeutig entweder als Pflichterfüllung oder als Pflichtverletzung bestimmt sein. Er würde also für andere als aus dem Sittengesetz fließende Anforderungen keinen Spielraum lassen. Wäre das Sittengesetz von dieser Art, daß es zur vollständigen Regelung des Lebens hinreicht, dann könnte es nicht beschränkenden Charakter haben. Denn ein beschränkendes Sittengesetz läßt es offen, ob der Handelnde eine bestimmte Handlung auszuführen hat, oder ob ihm die Wahl zwischen verschiedenen sittlich zulässigen Handlungen frei steht. Aus dem Satz vom beschränkenden Charakter des Sittengesetzes folgt also die Ablehnung des Moralismus. Wir müssen uns indessen hüten, mit unserer neuen Behauptung zu weit zu gehen. Die Ablehnung des Moralismus besagt noch nicht, daß es indifferente Handlungen gibt, sondern nur, daß das Sittengesetz an sich einen Spie 1raum für moralisch indifferente Handlungen zuläßt, und daß also, wenn es solche nicht gibt, dies seinen Grund in Umständen haben muß, die von dem Sittengesetz unabhängig sind. Wenn wir den Moralismus ablehnen, so lehnen wir damit nur die prinzipielle Voraussetzung für das Fehlen eines Spielraums ab, m.üssen

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aber die Möglichkeit zulassen, daß dieser Spielraum tatsächlich verschwindet; denn wie groß der Spielraum sittlich indifferenter Handlungen ist, das läßt sich a priori auf Grund des bloßen Sittengesetzes nicht entscheiden. Also können wir auch a priori nicht ausschließen, daß dieser Spielraum von verschwindender Größe wird. Der Einwand, daß das Sittengesetz außersittliche Antriebe zu seiner Anwendung voraussetze und daher auf alle Fälle einen Spielraum für diese Antriebe lassen müsse, trifft nicht zu. Denn aus der Voraussetzung außersittlicher Antriebe folgt nicht die Notwendigkeit außersittlicher Hand 1 u n gen. Es könnte sich so verhalten, daß unter Umständen das Sittengesetz alle Handlungen verbietet, durch die die außersittlichen Antriebe befriedigt werden, so daß der Handelnde nur durch einen moralischen Antrieb seine Pflicht erfüllen kann.

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2. Kapitel.

Der formale Charakter des Sittengesetzes. § 40.

Der Satz vom formalen Charakter des Sittengesetzes. Die nächste Bestimmung, durch die ich den Inhalt des Sittengesetzes charakterisiere, nenne ich den forma I e n Ch a r a kt e r de s S i t t eng e s et z e s. Ich nenne die Handlung, die in einem bestimmten Fall geboten ist, die Materie der Pflicht und behaupte, daß die Materie der Pflicht sich nicht logisch aus dem Inhalt des Sittengesetzes ableiten läßt. Das ist es, was der Satz vom formalen Charakter des Sittengesetzes zum Ausdruck bringt. Ich gebrauche das Wort „formal" in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, obwohl wir das Wort früher in einer anderen Bedeutung gebraucht haben. Nach der Bedeutung, die ihm hier zukommt, kann eine Bestimmung mehr oder weniger formal sein, je nachdem nämlich, wieviele Erfahrungsdaten hinzugenommen werden müssen, um jene Bestimmung anwendbar zu machen. Als formales Gesetz bestimmt das Sittengesetz die Pflicht in unvollständiger Weise, d. h. es reicht für sich nicht hin, eine Einzelpflicht abzuleiten. Hier könnte der Einwand erhoben werden, daß der Satz vom formalen Charakter des Sittengesetzes mit dem analytischen Prinzip der sittlichen Objektivität in Widerspruch stehe und also selber widerspruchsvoll sei. Dieser Einwand beruht auf einer Verwechslung der Materie der Pflicht mit dem Inhalt des Sittengesetzes. Das Sittengesetz muß allerdings - gemäß dem Prinzip der Objektivität - einen Inhalt haben, d. h. es muß ein hinreichendes Kriterium liefern für das, was im einzelnen Fall geboten ist. Damit ist aber nicht gesagt, daß es unmittelbar die Handlung selber nennen müßte, die in einem gegebenen Fall geboten ist und also für diesen Fall die Materie der Pflicht bildet. Ob das Sittengesetz in diesem Sinn die Ma-

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terie der Pflicht enthält, bleibt eine logisch unentscheidbare Frage. Sie wird erst durch den synthetischen Satz vom formalen Charakter des Sittengesetzes beantwortet. Dieser Satz besagt, daß wir das Kriterium der Pflicht nicht ohne weiteres als Merkmal an einer Handlung vorfinden und daraus ihre Pflichtmäßigkeit ablesen können, sondern daß wir es erst auf die jeweiligen Umstände anwenden müssen, um unter Hinzunahme der empirischen Kenntnis llieser Umstände zu erkennen, was unsere Pflicht ist. Je nach der Eigentümlichkeit der Umstände kann dann dieses oder jenes zur M a t e r i e der Pflicht werden. Das Kriterium dagegen, das wir auf die Umstände anwenden und das unmittelbar durch das Sittengesetz gegeben ist, steht unabhängig von den Umständen fest. § 41.

Die Unmöglichkeit eines Sittenkodex. Aus dem Satz vom formalen Charakter des Sittengesetzes folgt unmittelbar die Unmöglichkeit eines Sittenkodex, d. h. einer systematischen Aufzählung der Einzelpflichten, die uns lehren würde, wie wir uns in jedem vorkommenden Fall verhalten sollen. Denn die Materie der Pflicht läßt sich nach diesem Satz nicht a priori aus dem Sittengesetz ableiten, sie steht überhaupt nicht a priori fest, sondern hängt von den nur empirisch von Fall zu Fall feststellbaren Umständen ab, so daß der Einfluß der Umstände a priori nicht beschränkt ist. Die Kenntnis dieser individuellen Umstände, die den einzelnen Fall charakterisieren, kann nicht ersetzt werden durch eine noch so ins einzelne gehende Verhaltungsmaßregel. Denn mögen in einer solchen auch noch so viele Umstände aufgezählt und berücksichtigt sein, so läßt sich doch nie ausschließen, daß im einzelnen Fall weitere Umstände auftreten, die gemäß dem Sittengesetz Berücksichtigung verdienen und um derentwillen die aufgestellte Verhaltungsmaßregel rechtswidrig wird. Diese Möglichkeit könnte nur dadurch ausgeschlossen werden, daß die fragliche Regel auf die negative Bedingung eingeschränkt wird,

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daß keine derartigen Umstände vorliegen. Damit aber würden wir auf die eigene Prüfung der Umstände zurückverwiesen. Wir müßten im einzelnen Fall erst untersuchen, ob störende Umstände auftreten. Die aufgestellte Maßregel würde also nicht den Zweck erfüllen, uns die Prüfung der Umstände zu ersparen. Auf Grund des formalen Charakters des Sittengesetzes sind wir darauf angewiesen, selber diese Prüfung vorzunehmen; jeder Versuch, den Einzelnen von dieser Notwendigkeit zu befreien, führt zu einer Verletzung des Sittengesetzes. Wer sich durch einen allgemeinen Regelkatalog die Mühe abnehmen läßt, sich über die für die Bestimmung seiner Pflicht wesentlichen Umstände zu orientieren, kann insofern nicht mehr sittlich handeln. Selbst wenn er im einzelnen Fall objektiv das Rechte trifft, so beruht die Dbereinstimmung mit dem Sittengesetz nicht auf eigener Einsicht, sondern nur auf seiner Unterwerfung unter die Anweisung eines fremden Willens, also auf einer heteronomen Moral. Das Bedürfnis nach einem Sittenkodex, wie es sich zu allen Zeiten geltend gemacht hat, entspringt dem Mißtrauen in die Kraft des eigenen Verstandes, uns über die Materie der Pflicht hinreichend Aufschluß zu geben. Aus dem Bisherigen folgt aber, daß sich einem solchen Mangel auch nicht durch einen Sittenkodex abhelfen ließe; denn die Dbereinstimmung der Handlung mit einem Sittenkodex könnte niemals moralischen Wert haben. Sie wäre ja nicht der Ausfluß der eigenen sittlichen Einsicht des Handelnden, sondern der s eine r sittlichen Einsicht gegenüber zufälligen Vorschriften eines anderen. Ein gefesselter Verbrecher hat denselben moralischen Unwert wie ein freier, mag die Fessel auch in einem psychischen, z. B. von der Herrschaft eines Sittenkodex ausgehenden Zwang bestehen, dem er sich unterwirft. Die ängstliche Beschränkung des eigenen sittlichen Urteils wird daher ihrerseits selber zur größten Gefahr für echte Sittlichkeit. Sie bedeutet die Aufhebung des Prinzips der sittlichen Autonomie. Dadurch, daß wir jeden Versuch der Aufstellung eines Sittenkodex aus der Ethik verbannen, gewinnen wir erst den freien

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Standpunkt, der den Bedingungen eines sittlichen Lebens entspricht. § 42.

Die Unmöglichkeit einer Pflichtenkollision. Eine weitere Folge aus dem formalen Charakter des Sittengesetzes ist der Satz von der U n m ö g 1 i c h k e i t e i n e r P f 1 i c h t e n k o 11 i s i o n. Man kann die Unmöglichkeit einer Kollision von Pflichten allerdings schon in der formalen Pflichtenlehre beweisen. Denn was wäre eine Kollision von Pflichten? Sie bestünde darin, daß wir einerseits die Pflicht haben, eine bestimmte Handlung unter bestimmten Umständen zu tun, und andererseits die Pflicht, jene Handlung unter den gleichen Umständen zu unterlassen. Die Pflicht würde also Widersprechendes fordern und sich damit selber aufheben. Nun liegt aber ein tieferer Grund vor, warum diese Lehre von der Kollision der Pflichten immer wieder in der Ethik auftaucht und sich in ihr festgesetzt hat. Dieser Grund besteht in nichts anderem als in der Verkennung des formalen Charakters des Sittengesetzes. Wenn man dem Irrtum verfällt, wonach die Pflichten a priori feststehen unabhängig von der Individualität der Umstände, so liegt der Gedanke nahe, daß in einer gegebenen Situation auf Grund einer Sittenregel eine Handlung geboten sein könnte, die auf Grund einer anderen ausgeschlossen wäre, d. h. daß eine Kollisiou der Pflichten möglich ist. Um der widerspruchsvollen Annahme von Pflichtenkollisionen den Boden zu entziehen, bedarf es also der grundsätzlichen Zurückweisung jedes Regelkatalogs, die sich ihrerseits aus dem Prinzip vom formalen Charakter des Sittengesetzes ergibt. Wer sich mit diesem Prinzip vertraut gemacht hat, der wird die Entscheidung über die Materie der Pflicht allein der Prüfung der Umstände überlassen und ein einmal gefälltes sittliches Urteil nur dann ohne weitere Prüfung auf einen anderen Fall übertragen, wenn sich die Situation, aus der sich die Abwägung ergab, in allen Umständen wiederholt.

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Wir können uns das logische Verhältnis, das hier vorliegt, noch deutlicher machen. Angenommen, für die Abwägung sei ein bestimmter Fall charakterisiert durch den Umstand U1, und es ergäbe sich auf Grund des Sittengesetzes für diesen Fall die Pflicht, eine bestimmte Handlung, H1, zu tun. Für einen anderen Fall, der charakterisiert sei durch U2, ergäbe sich eine andere Pflicht, H2. Wir nehmen nun an, es träte eine Situation ein, in der beide Umstände, U1 und U2, zusammentreffen. Nennen wir diesen Umstand Ua! Es könnte sein, daß die Pflicht, die sich für den Umstand U1 ergab, unvereinbar wäre mit der Pflicht, die für den Umstand U2 eintrat. Wir könnten also nur entweder die Handlung H1 tun oder die Handlung H2, da die eine die andere ausschlösse. Im einen Fall träte z. B. die Pflicht auf, nicht zu töten, im anderen Fall die Pflicht, nicht zu lügen. Nun träte aber unter dem Umstand Ua vielleicht der Fall ein, daß man lügen muß, wenn man nicht töten will, oder umgekehrt. Wer hieraus auf das Vorliegen einer Pflichtenkollision schließt, setzt dabei stillschweigend voraus, daß die Pflicht für Ua sich durch die einfache Zusammensetzung der Teilpflichten H1 und H2 ergibt. Ein solches Prinzip, das uns zu dieser Voraussetzung berechtigte, gibt es aber nicht; es wäre unvereinbar mit dem formalen Charakter des Sittengesetzes. Denn die Situation Ua ist nicht durch das bloße Dasein von U1 und U2 charakterisiert, sondern durch deren Zusammentreffen. Dieses Zusammentreffen ist der neue Umstand, der eine eigene Abwägung erfordert. Erst auf Grund einer solchen Abwägung ergibt sich die Pflicht für diese neue Situation. § 43.

Die Pflicht der inneren Wahrhaftigkeit. Diese Uberlegungen leiten zu einer anderen bedeutsamen Folgerung über. Um zur Einsicht zu gelangen in das, was Pflicht ist, und also auch, um die Pflicht erfüllen zu können, ist die Berücksichtigung der jeweiligen Umstände erforderlich. Also wissen wir auf Grund des Satzes vom formalen Charakter des Sittengesetzes a priori, daß wir nicht a priori wissen können,

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was die Materie unserer Pflicht ist, sondern daß wir, um sie zu finden, auf die empirische Kenntnis der Tatsachen angewiesen sind. Wenn wir aber dies wissen, und zwar a priori wissen, so wissen wir auch, daß es unsere Pflicht ist, diese Umstände kennenzulernen, uns also in den Besitz der erforderlichen Tatsachenkenntnis zu setzen. Ich nenne diese Pflicht die P f l i c h t d e r i n n e r e n W a h r h a f t i g k e i t. Wir hatten in der formalen Pflichtenlehre eine ähnliche Pflicht gefunden. Sie verlangte das Streben nach dem, was wir sittliche Klarheit nannten, d. h. nach Klarheit über das sittliche Gebot der Pflicht, und sie ergab sich aus der bloßen Form des Sittengesetzes. Die Pflicht der inneren Wahrhaftigkeit geht weiter. Mit der Form des Sittengesetzes wäre es logisch noch vereinbar, daß diese Pflicht nicht bestünde. Denn ohne den Satz vom formalen Charakter des Sittengesetzes wäre eine genau entgegengesetzte Pflicht möglich, etwa die Pflicht: Betrüge Dich selber hinsichtlich der Tatsachen - wenn auch natürlich nicht hinsichtlich der tatsächlich geltenden Pflicht! Auch ein solches Gebot, sich über die Tatsachen, unter denen man lebt, zu täuschen, wäre nur erfüllbar bei hinreichender sittlicher Klarheit über den Inhalt der Pflicht. Die Verwerflichkeit des sittlichen Selbstbetrugs läßt sich behaupten auf Grund der bloßen Form des Sittengesetzes, nicht aber die des Selbstbetrugs hinsichtlich der Tatsachen. Wir müssen, um unsere Pflicht erfüllen zu können, uns über ihren Inhalt klar sein, das heißt aber noch nicht, daß wir uns auch über die Tatsachen klar sein müssen, unter denen wir handeln. Die Unmöglichkeit einer Pflicht, sich über die Tatsachen zu täuschen, ist erst die Folge des formalen Charakters des Sittengesetzes. Aus ihm folgt die Pflicht, sich über die Tatsachen nicht zu täuschen, sondern nach Erweiterung der Kenntnis der Tatsachen zu streben, sofern sie Einfluß haben auf die Materie der Pflicht. Der Umfang dieses Einflusses der Tatsachen läßt sich a priori in keine Grenzen einschließen.

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3. Kapitel.

Die Würde der Person. § 44.

Der Grundsatz der persönlichen Würde. Durch den Satz vom formalen Charakter haben wir den Inhalt des Sittengesetzes als ein Kriterium der Pflicht bestimmt. Dieses Kriterium selber kennen wir noch nicht; wir bedürfen zu seiner Aufstellung also weiterer synthetischer Sätze. Wir hatten festgestellt, daß das Sittengesetz unmittelbar nur ein beschränkendes Prinzip ist, d. h. daß es unser Handeln, auf das sich außersittliche Antriebe richten, einschränkt auf eine gewisse Bedingung. Von dieser Bedingung wissen wir bisher nichts, als daß sie formalen Charakter hat. Welches ist nun diese formale Bedingung, auf die das Sittengesetz unser Handeln einschränkt? Wie wir handeln, hängt davon ab, was wir vorziehen oder verwerfen, mit anderen Worten: es richtet sich nach dem Wert, den wir einem Ding beimessen. Das Vermögen, den Dingen einen Wert oder Unwert zu erteilen, nenne ich das Vermögen des Interesses. Unser Handeln ist nun von aller sittlichen Beschränkung frei, solange wir dadurch nur auf unser eigenes Interesse wirken. Eine Beschränkung tritt erst da auf, wo wir durch unser Handeln nicht nur auf unsere eigenen Interessen wirken, sondern auch auf fremde, wo wir es also mit Wesen zu tun haben, die Interessen besitzen. Solche Wesen nennen wir Personen. Abgesehen vom Sittengesetz bestimmt sich der Wert einer Handlung für jede Person durch die eigenen Interessen. Werden durch eine Handlung die Interessen mehrerer Personen betroffen, dann brauchen diese also in der Beurteilung des Werts der Handlung nicht mit einander übereinzustimmen. Es wird vielmehr eine Mehrdeutigkeit in der Beurteilung des Werts einer und derselben Handlung auftreten, sofern die Interessen einer Person denen einer andern widerstreiten.

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Gegen diese Mehrdeutigkeit wendet sich das Sittengesetz. Seine Bedeutung besteht also darin, daß es die praktische Möglichkeit, d. h. die Erlaubnis zu einer Handlung, und also die Befriedigung eines Interesses einschränkt auf die Bedingung ihrer Vereinbarkeit mit der Rücksicht auf die fremden Interessen, die durch die Handlung betroffen werden. Die Rücksicht auf die Interessen anderer ist es, was dem Sittengesetz zufolge unser Belieben einschränkt. Damit wir eine Handlung tun dürfen, d. h. damit sie nicht verboten ist, genügt es nicht, daß sie für uns selber einen überwiegenden Wert hat, sondern es fragt sich erst, in welcher Weise durch sie die Interessen anderer betroffen werden, die Interessen derer, die wir durch diese Handlung behandeln. Ich behandle nämlich jemanden, sofern durch meine Handlung seine Interessen betroffen werden. Wir sind also durch das Sittengesetz in unserem Handeln insofern beschränkt, als wir andere Personen behandeln. Einern Gegenstand, der durch das Gesetz unserem Belieben entzogen ist, schreibt man Würde zu. Die Würde der Person ist daher die Bedingung, auf die das Sittengesetz unser Handeln einschränkt. Unterwerfung unseres Willens unter die Bedingung der Wahrung der Würde ist das, was man Achtung nennt. Wir können daher die aufgestellte Bedingung in der Form eines Gebots aussprechen: Achte die persönliche Würde! Diesen Satz nenne ich den G r u n d s atz der p e r s ö n 1 i c h e n Würde. § 45.

Das Sittengesetz als Rechtsgesetz. Auf Grund des Satzes von der persönlichen Würde kommt jeder Person der Anspruch zu, durch ihre Interessen den Willen anderer einzuschränken. Einen solchen Anspruch nennt man ein Recht der Person. Das Sittengesetz ist daher ein Rechtsgesetz, d. h. es bestimmt den Inhalt unserer Pflichten durch Rechte. Wir müssen diesen Satz, wonach sich der Inhalt der Pflicht durch Rechte bestimmt, scharf abgrenzen gegen unser früheres

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Ergebnis, daß der Inhalt des Sittengesetzes ein Kriterium für die Rechtlichkeit des Handelns liefert. Dieses Ergebnis ist analytisch; denn die Rechtlichkeit bedeutet nur die Ubereinstimmung des Handelns mit den Anforderungen des Gesetzes. Jetzt haben wir es mit einem synthetischen Satz zu tun, mit der Antwort auf die Frage, worin denn nun eigentlich der Inhalt des Gesetzes, das Kriterium der Rechtlichkeit besteht. Dieses Kriterium gibt uns der Begriff des Rechts. § 46.

Pflichtsubjekt und Rechtssubjekt. Nach dem Grundsatz der persönlichen Würde hat jedes Wesen, das Interessen besitzt, jede Person also, einen Anspruch auf Achtung ihrer Interessen. Dieser Anspruch ist das Recht der Person. Jede Person ist also ein Subjekt von Rechten; denn sie ist ihrem Begriff nach ein Subjekt von Interessen. Allerdings kommt das Recht einer Person nur da in Frage, wo sie von einer andern Person behandelt wird, und zwar von einer Person, die dem Sittengesetz untersteht, die, wie wir sagen können, ein Subjekt von Pflichten ist. Für die richtige Anwendung des Grundsatzes der persönlichen Würde kommt es also darauf an, die Begriffe des Rechtssubjekts und des Pflichtsubjekts scharf gegen einander abzugrenzen. Da zeigt sich zunächst, daß der Begriff eines Rechtssubjekts, d. h. eines Wesens, das Rechte hat, einen weiteren Umfang hat als der Begriff eines Subjekts von Pflichten. Nur eine Person kann Subjekt von Pflichten sein, aber nicht jede Person muß Subjekt von Pflichten sein. Es können nämlich nur solche Personen Pflichten unterworfen und somit Pflichtsubjekte sein, die einerseits das Vermögen haben zu handeln; denn die Pflicht bezieht sich auf den Willen der Person, und eine Person, die keinen Willen hat, kann keiner Pflicht unterworfen sein. Aber andererseits können nur solche Personen Subjekte von Pflichten sein, die des Bewußtseins der Pflicht fähig sind, also nur vernünftige Wesen. Denn niemand

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kann einer Pflicht unterworfen sein, der nicht der Vorstellung der Pflicht fähig ist. Um dagegen ein Subjekt von Rechten zu sein, dazu genügt die Eigenschaft eines Wesens, Interessen zu besitzen. Es kann also sehr wohl ein Wesen Subjekt von Rechten sein, ohne Subjekt von Pflichten zu sein. Man sieht, für die Unterscheidung von Pflichtsubjekten und Rechtssubjekten ist der Begriff des Interesses ausschlaggebend. Diesen Begriff müssen wir sorgsam von dem des Antriebs und des Zwecks trennen. Jeder Antrieb setzt zu seiner Möglichkeit ein Interesse voraus; denn er ist nur dadurch möglich, daß eine Wertung stattfindet. Nun ist aber nicht umgekehrt jedes Interesse bereits ein Antrieb. Ein Interesse wird zum Antrieb nur insofern, als es auf den Willen wirkt. Es kann also ein Wesen Interessen besitzen, ohne Antriebe zu besitzen. Man darf schon aus diesem Grunde die Person, die ein Subjekt von Interessen ist, nicht erklären als ein Subjekt von Zwecken. Ein Zweck ist zwar allemal der Gegenstand eines Interesses; aber nicht jeder Gegenstand eines Interesses ist als solcher ein Zweck, ja nicht einmal jeder Gegenstand eines Antriebs ist ein Zweck. Zweck ist ein Gegenstand, dessen Vorstellung den Bestimmungsgrund des Handelns bildet und der selber als Wirkung des Handelns vorgestellt wird. Wir können uns aber etwas als Wirkung unseres Handelns nur vorstellen vermöge eines Urteils - eines Urteils, durch das wir dasjenige, was wir wollen, als Wirkung unseres Wollens denken. Dieses Urteil ist seinerseits nur möglich für Wesen, die Vernunft haben. Zwecke können also nur Gegenstände des Interesses vernünftiger Wesen sein. Denn Wesen, die nicht fähig sind, zu urteilen, können den Begriff der Wirkung nicht auffassen und also keine Zwecke verfolgen. Um ein Wesen dem Begriff der Person unterordnen zu können, genügt es, daß dieses Wesen der Lust und Unlust empfänglich ist; denn darunter verstehen wir diejenigen Interessen, deren ihr Träger sich unabhängig von allem Urteil bewußt wird und die auch davon unabhängig sind, ob sie als Antrieb auf den Willen wirken. Jedes Wesen, das Lust und

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Unlust empfinden kann, ist daher auch ein Rechtssubjekt und hat Würde in dem definierten Sinn des Wortes. Wie weit der Umfang des dadurch bestimmten Begriffs der Person sich tatsächlich erstreckt, das ist eine Frage, die sich nicht philosophisch, sondern nur an Hand der Erfahrung entscheiden läßt. Denn ob ein bestimmtes Wesen die für die Unterordnung unter den Begriff erforderliche Eigenschaft besitzt oder nicht, das läßt sich nur auf Grund einer Prüfung der Tatsachen, nicht aber durch bloßes Nachdenken entscheiden. Ebenso wenig können wir a priori etwas darüber entscheiden, ob die Rechtssubjekte, die wir in der Erfahrung kennen lernen, auch Pflichtsubjekte sind oder nicht; denn das hängt davon ab, ob sie nicht nur Interessen besitzen, sondern auch handelnde und vernünftige Wesen sind. An und für sich ist der Umfang des Begriffs des Rechtssubjekts weiter als der des Begriffs des Pflichtsubjekts, d. h. jedes Pflichtsubjekt ist als solches ein Rechtssubjekt, aber ein Rechtssubjekt ist als solches nicht notwendig ein Pflichtsubjekt. §

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Rechtlich notwendige und widerrechtliche Interessen. Würde hat eine Person auf Grund des Anspruchs, daß andere ihre Interessen achten. Es ist ihre Eigenschaft, durch das Sittengesetz dem Belieben derer, die sie behandeln, entzogen zu sein. Das bedeutet nun nicht, daß schlechthin alle Interessen einer Person Achtung verdienen, sondern nur, daß sie achtungswürdige Interessen hat. Es entsteht darum die Frage: Läßt sich ohne Hinzunahme eines neuen Satzes etwas darüber ausmachen, ob ein bestimmtes Interesse achtungswürdig ist oder nicht? Es läßt sich in der Tat hierüber schon etwas aussagen. Wir können zunächst behaupten, daß kein Interesse als achtungswürdig gelten kann, dessen Befriedigung gegen das Sittengesetz verstoßen würde. Ich nenne ein solches Interesse kurz w i de r -

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r e c h t 1 i c h. Ein widerrechtliches Interesse ist ein Interesse an einer Handlung, die gegen das Rechtsgesetz verstößt, und folglich ein Interesse, dessen Befriedigung nach dem Sittengesetz verwerflich ist. Ein solches Interesse kann niemals achtungswürdig sein; denn sonst müßte sein Träger ein Recht auf die Befriedigung dieses Interesses besitzen. Ist ihm aber diese Befriedigung verboten, so wäre es ein Widerspruch, ihm ein Recht auf sie zuzuschreiben. In entsprechender Weise versteht es sich, daß Interessen, deren Befriedigung nach dem Sittengesetz geboten ist, allemal achtungswürdig sind. Ich will diese Interessen kurz r e c h t 1 ich notwendige Interessen nennen. Rechtlich notwendig heißt hier also ein Interesse an einer Handlung, die ihrerseits rechtlich notwendig, d. h. durch das Sittengesetz geboten ist. Ein solches Interesse ist allemal auch ein achtungswürdiges Interesse. Wäre es dies nämlich nicht, so würde das besagen, daß der Träger dieses Interesses kein Recht hat, es zu befriedigen, und wir kämen auf den Widerspruch, daß er kein Recht hätte zur Erfüllung seiner Pflicht.

§

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Das Prinzip der Abstraktion vom praktischen Irrtum. Wir können aber, ohne neue Voraussetzungen hinzuzunehmen, noch weiter gehen in der Bestimmung der Interessen, die nach dem Grundsatz der Würde der Person achtungswürdig sind. Es gibt nämlich in unserem Zusammenhang noch einen andern Unterscheidungsgrund als den, ob die Befriedigung des fraglichen Interesses pflichtgemäß oder pflichtwidrig ist. Wir können ganz ohne Rücksicht darauf die Frage stellen, ob das, wofür sich jemand interessiert, in Wahrheit in seinem Interesse gelegen ist oder nicht. Das, wofür sich jemand faktisch interessiert, kann mehr oder weniger in seinem Interesse liegen. Der Grund dafür ist der, daß er sich irren kann über das, was

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in seinem Interesse liegt, - so weit nämlich bei der Bestimmung darüber, was in seinem Interesse liegt, ein Urteil in Frage kommt. Diese Bestimmung kann nun in mehrfacher Hinsicht von seinem Urteil abhängen, so daß hier auch eine mehrfache Quelle von Irrtümern entsteht. Wir müssen demnach unterscheiden zwischen solchen Interessen, die ich als vermeintliche und solchen, die ich als wahre Interessen bezeichen will. Zunächst ist klar, daß, wenn etwas in jemandes Interesse liegt, auch die Erfüllung aller Bedingungen in seinem Interesse liegt, von denen die Befriedigung seines Interesses abhängt. Die Erfüllung der Bedingungen für die Befriedigung seines Interesses liegt also selber in seinem Interesse. Ob er sich nun aber faktisch für die Erfüllung dieser Bedingungen interessiert, das hängt von gewissen Umständen ab; zunächst davon, ob er genügende Einsicht besitzt, sich ein richtiges Urteil darüber zu bilden, welches die Bedingungen der Befriedigung seines Interesses sind. Denn nur dann, wenn er über die dazu hinreichende Einsicht verfügt, kann er die Mittel bestimmen, die er ergreifen muß, um sein Interesse zu befriedigen. Ob er aber dann diese Mittel ergreift, hängt zweitens davon ab, ob sein Urteil ihn zum Handeln bestimmt, ob also seine Einsicht genügt, ein hinreichend starkes Interesse an der Ergreifung der Mittel in ihm hervorzubringen. Denn um die Bedingung der Befriedigung seines Interesses zu erfüllen, reicht es nicht aus, daß er sie kennt, sondern diese Kenntnis muß auch Bewegkraft für seinen \,Villen haben. Man kann das Interesse an den Mitteln zur Befriedigung eines vorausgesetzten Interesses ein mittelbares I n t e r e s s e nennen, nämlich insofern, als sich das Interesse an den Mitteln nur ergibt auf Grund des Interesses an dem Zweck, dem diese Mittel dienen. Ein solches Interesse ist immer erst ein abgeleitetes Interesse. Es richtet sich auf seinen Gegenstand nur mittelbar. Daher ist klar, daß jedenfalls unsere mittelbaren Interessen zu dem, was in Wahrheit in unserem Interesse liegt, in Widerstreit treten können, nämlich dann, wenn wir nicht der hinreichenden Reflexion fähig sind, das Mittel zur Befriedigung unseres unmittelbaren Interesses richtig zu beur-

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teilen und uns durch diese Kenntnis zum Handeln bestimmen zu lassen. Hier besteht also ohne Zweifel die Möglichkeit eines Auseinandertretens von vermeintlichem und wahrem Interesse, d. h. eines Irrtums über das wahre Interesse. Dieser Irrtum beruht auf einer Unzulänglichkeit im theoretischen Gebrauch der Reflexion. Denn das Urteil, durch das der Irrtum überwunden werden könnte, bezieht sich auf das Bestehen des Naturgesetzes, nach dem sich die Bedingungen der Verwirklichung dessen, wofür wir uns interessieren, bestimmen lassen. Dieses Naturgesetz müssen wir kennen, um die Mittel zur Befriedigung unseres Interesses feststellen und anwenden zu können. Es handelt sich also um ein theoretisches und nicht um ein praktisches Urteil. Es ist noch ein anderer Grund für die Möglichkeit des Auseinandertretens von faktischem und wahrem Interesse denkbar, nämlich ein solcher, der nicht auf einem Mangel der Reflexion im theoretischen, sondern im praktischen Gebrauch beruht. Die Möglichkeit des Irrtums besteht nicht nur für die Beurteilung des Daseins der Dinge, sondern auch für die ihres Wertes. Auch ein unmittelbares Interesse, d. h. ein solches, das sich ohne Vermittlung eines andern Interesses auf seinen Gegenstand bezieht, braucht nicht notwendig ein unmittelbar bewußtes, d. h. ein unabhängig von der Reflexion bewußtes Interesse zu sein. Um das, was im eigenen Interesse liegt, ins Bewußtsein zu erheben, kann Nachdenken erforderlich sein. Und das Urteil, das dabei gefällt wird, kann irrig sein. Nicht alle Interessen entspringen notwendig aus dem, was man Lust oder Unlust nennt. Lust und Unlust sind unmittelbare Interessen, deren wir uns auch unmittelbar, d. h. ohne Urteil bewußt sind. Hier ist daher kein Irrtum über das, was in unserem Interesse liegt, möglich. Daß nämlich ein Gegenstand in unserem Interesse liegt, das besagt in diesem Fall nichts anderes, als daß er für uns ein Gegenstand der Lust ist. Ob er es ist, darüber sind wir uns unmittelbar klar. Diese Entscheidung hängt nicht von einem Urteil ab, und insofern besteht hier keine Möglichkeit des Irrtums.

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Es liegt aber kein logischer Widerspruch in der Annahme eines Interesses, das, obwohl es sich unmittelbar auf seinen Gegenstand bezieht, uns doch nicht unmittelbar zum Bewußtsein kommt, sondern das eines Urteils bedarf, um uns bewußt zu werden, in der Annahme eines Interesses also, das uns nur klar wird in der Form eines Urteils über den Wert seines Gegenstandes. Hier verhält es sich nicht so, daß, wie in den Fällen der Lust oder Unlust, das Urteil nur eine Wertung wiederholt, die uns schon unabhängig vom Urteil bewußt ist. Wir können daher auch sagen, es liegt kein Widerspruch in der Annahme unmittelbarer Interessen, die nicht von der Art der Lust oder Unlust sind. Es ist nämlich für den Begriff eines unmittelbaren Interesses durchaus zufällig, ob es auch ein unmittelbar bewußtes Interesse ist. Wenn es aber Interessen gibt, die uns nur in der Form der Reflexion, des Werturteils zum Bewußtsein kommen, dann sind wir im Bewußtsein um diese Interessen auch der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt, und dieser Irrtum ist dann nicht ein theoretischer, sondern unmittelbar ein praktischer Irrtum, nämlich ein Irrtum nicht in der Beurteilung des Daseins, sondern in der Beurteilung des Werts der Dinge. Die Möglichkeit des praktischen Irrtums besteht also da, wo wir es mit Interessen zu tun haben, die zwar unmittelbare Interessen sind, die aber nicht unmittelbar klar, oder, wie wir auch sagen können, nicht evident sind. Ich nenne solche unmittelbaren Interessen, die nicht an sich klar sind, sondern nur in der Form von Werturteilen klar werden, ur s p r ü n g 1 i c h dun k 1 e I n t e r e s s e n. Nun behaupte ich, daß die nach dem Grundsatz der Würde bestimmbare Pflicht der Achtung der Interessen der von uns behandelten Personen sich nicht erstreckt auf das vermeintliche, sondern auf das wahre Interesse. Es gilt, mit anderen Worten, die Interessen so zu berücksichtigen, wie sie in Erscheinung treten würden, _wenn wir sie vom Irrtum befreit denken, also nicht nach dem Maß der zufälligen Stärke, mit der sie faktisch auftreten, sondern nach dem Gewicht, das sie bei hinreichender Ausbildung der Reflexion, also vom Irrtum be-

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freit, besäßen. Insofern und nur insofern verlangen sie von uns Achtung. Hieraus ergibt sich einerseits eine Erweiterung der Pflicht über die Rücksicht auf das faktische Interesse der behandelten Person hinaus, indem wir nämlich auch diejenigen Interessen zu berücksichtigen haben, die der Behandelte vielleicht faktisch gar nicht hat, wohl aber haben würde, wenn sein faktisches Interesse mit seinem wahren Interesse übereinstimmte. Und es ergibt sich andererseits eine Einschränkung des Bereichs unserer Pflichten insofern, als diejenigen Interessen aus dem Kreis der zu achtenden ausscheiden, die nicht wahre, sondern nur vermeintliche Interessen sind, die der Betreffende zwar faktisch hat, die er aber nicht haben würde, wenn er nicht in einer Täuschung befangen wäre über das, was in seinem Interesse liegt. Wir müssen also, ehe wir auf Grund der faktisch vorliegenden Interessen zu einer Entscheidung über die Materie unserer Pflicht gelangen können, in Gedanken eine Korrektur anbringen, die sich ergibt, wenn wir die Interessen vom praktischen Irrtum befreit denken, wobei die Interessen herausfallen, die nur auf einem praktischen Irrtum beruhen, und diejenigen hinzukommen, deren Fehlen nur auf einem praktischen Irrtum beruht, die also bei hinreichender Ausbildung der Reflexion faktisch auftreten würden. Ich nenne den hiermit ausgesprochenen Satz das Prinzip der Abstraktion von den Mängeln der Reflexion oder vom prakt i s c h e n I r r tu m. Nach diesem Grundsatz ist das faktische Interesse einer Person als solches noch nicht hinreichend, um es zum Gegenstand der Achtung für uns zu machen, sondern es erfordert unsere Achtung nur, wenn es ein wahres Interesse der Person ist. Das Interesse einer Person braucht andererseits nicht notwendig ein faktisches Interesse zu sein, damit es für uns ein Gegenstand der Achtung ist, sondern ein solcher ist schon ihr wahres Interesse, unabhängig davon, ob dieses durch ein faktisches Interesse wirklich vertreten ist.

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Dieses Prinzip der Abstraktion vom praktischen Irrtum erweist sich als sehr fruchtbar. Genau genommen handelt es sich dabei gar nicht um eine neue Voraussetzung, sondern nur um eine Erläuterung dessen, was in dem Grundsatz der persönlidrnn Würde liegt. Dieser Grundsatz geht davon aus, daß der Wert einer Handlung durch die vorliegenden Interessen noch nicht eindeutig bestimmt ist. Jede von der Handlung betroffene Person bewertet die Handlung vom Standpunkt ihrer Interessen aus; es ist daher nur zufällig, wenn verschiedene Personen zu dem gleichen Ergebnis kommen. So ergibt sich eine Mehrdeutigkeit der Bewertung. Der Grundsatz der persönlichen Würde gibt uns einen Maßstab zur eindeutigen Bewertung der Handlung, indem er die Einbeziehung der Interessen des Behandelten in die Wertung des Handelnden verlangt. Dabei kommt es nur darauf an, das zu berücksichtigen, was im Interesse der betroffenen Personen liegt, nicht aber unmittelbar das, wofür sie sich faktisch interessieren. Die Beurteilung dessen, was in ihrem Interesse liegt, ist bedingt durch das Urteil über die Wahrheit der faktisch auftretenden Interessen. Es versteht sich daher von selber, daß dieses Urteil über die Interessen, um zu einer richtigen Bestimmung der Materie der Pflicht zu führen, ein richtiges Urteil sein muß, und daß wir also für die Bestimmung der Materie der Pflicht vom praktischen Irrtum abstrahieren müssen. §

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Unmöglichkeit von Pflichten gegenüber der eigenen Würde. Das Prinzip der Abstraktion vom praktischen Irrtum führt zu einer wichtigen Folgerung, wenn es mit dem früher aufgestellten Satz vom beschränkenden Charakter des Sittengesetzes in Verbindung gebracht wird. Nach diesem Satz kann die Bedeutung des Sittengesetzes nur darin bestehen, daß es gewisse anderweitige Interessen, außersittliche Interessen also, von den Bestimmungsgründen des Handelns ausschließt. Nach

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dem Grundsatz der persönlichen Würde findet diese Ausschließung der Befriedigung eines Interesses nur Anwendung mit Rücksicht auf ein diesem Interesse widerstreitendes Interesse. Denn nach diesem Gesetz ist die Person, mit der wir in Widerstreit geraten, für uns ein Gegenstand der Achtung insofern, als sie auf die Berücksichtigung ihrer Interessen Anspruch hat und durch diesen Anspruch die Befriedigung unserer Interessen einschränkt. Nun könnte man fragen, ob wir nicht selber in die Rolle einer solchen von uns behandelten Person geraten könnten, so daß die Würde unserer eigenen Person für uns selber einen Grund von Pflichten bildete. Man kann sich in der Tat ohne Widerspruch ein Sittengesetz denken, das etwas derartiges zuließe. Denn wir können durch Befriedigung eines faktisch überwiegenden Interesses ein anderes eigenes Interesse verletzen, und sofern dieses andere Interesse einen Anspruch auf Achtung hätte, wäre uns mit Rücksicht auf dieses Interesse geboten, unser faktisch überwiegendes Interesse hintanzusetzen. Die Hintansetzung dieses Interesses wäre damit eine Pflicht in Hinsicht auf die eigene persönliche Würde. Dieser Fall ist in zwei Formen denkbar. Er ist erstens insofern möglich, als wir durch die Befriedigung eines gegenwärtigen Interesses einem überwiegenden späteren Interesse zuwiderhandeln; eine solche Handlung hätte ihren Grund in einem Mangel an Klugheit, nämlich darin, daß unsere Reflexion nicht hinreichend ausgebildet ist, uns die Mittel zur Befriedigung unseres eigenen zukünftigen Interesses erkennen oder, gemäß dieser Erkenntnis, ergreifen zu lassen. Eine Pflicht gegen die eigene Würde ist zweitens insofern denkbar, als unser unmittelbares wahres Interesse, dessen wir uns selber nur nicht mit hinreichender Klarheit bewußt sind, mit unserem faktischen Interesse in Widerstreit treten kann. In diesem Fall wäre es nicht ein Mangel an Klugheit, sondern an Bildung, der zur Verletzung unseres wahren Interesses führen würde. Nun behaupte ich, daß weder die mittelbare Rücksicht auf unseren Vorteil noch die unmittelbare Rücksicht auf unser

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gegenwärtiges wahres Interesse für uns ein Grund von Pflichten sein kann. Denken wir uns nämlich das Prinzip der Abstraktion von den Mängeln der Reflexion angewandt, d. h. unser faktisches Interesse vom praktischen Irrtum befreit, so würde von selber unser faktisch überwiegendes Interesse mit dem wahren Interesse zusammenfallen, und wir könnten nicht umhin, faktisch diejenigen Handlungen vorzuziehen, die den Anforderungen der Klugheit sowohl als der Bildung genügten; denn ein Verstoß gegen die Anforderungen der Klugheit oder der Bildung ist ja nur möglich auf Grund unzulänglicher Ausbildung der Reflexion. Es genügt folglich, von den Mängeln der Reflexion zu abstrahieren, um unserem eigenen wahren Interesse auch faktisch das Ubergewicht zu verleihen, und es also auch für unser Handeln bestimmend zu machen. Denken wir uns diese Korrektur ausgeführt, so ergibt die Anwendung des Grundsatzes der persönlichen Würde keine Beschränkung mehr. Es bleibt dann kein Interesse mehr übrig, das durch dieses Gesetz von den Bestimmungsgründen unseres Handelns ausgeschlossen werden könnte. Die Rücksicht auf unser eigenes wahres Interesse kann ja unsere faktischen Interessen nicht beschränken, wenn diese, wie wir voraussetzen, ohnehin mit jenem übereinstimmen. Die Möglichkeit der Beschränkung entsteht nur durch die Nichtübereinstimmung unserer faktischen Interessen mit unserem wahren Interesse. Wenn also, wie wir behaupten, alle Pflichten nur aus dem beschränkenden Prinzip der persönlichen Würde entspringen, so können Rücksichten der Klugheit oder der Bildung uns keine Pflichten gegen die eigene Person auferlegen. Es gibt keine Pflicht, die Würde der eigenen Person zu achten, es kann nur eine solche der Achtung der Würde anderer Personen geben. Unsere eigene Würde kann zu einem Grund von Pflichten nur für die uns behandelnden Personen werden, so wie deren Würde für uns ein Grund der Achtung ihrer Interessen ist. Denn nur da, wo nach der Anwendung des Prinzips der Abstraktion von den Mängeln der Reflexion noch eine Beschränkung unserer Willkür möglich ist, nur da ist der Grundsatz der persönlichen Würde anwendbar.

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Er ist also nur anwendbar auf die wechselseitige Behandlung der Personen und nicht auf die Behandlung der Personen durch sich selber. § 50.

Unmöglichkeit des Werts als eines Kriteriums der Pflicht. Hieraus ergibt sich eine systematisch interessante Bemerkung, die zugleich das Gesagte von einer neuen Seite beleuchtet. Wenn die eigene Würde für uns ein Grund von Pflichten wäre, so würde dies besagen, daß wir die Pflicht hätten, diejenige Handlung vorzuziehen, die wir bei hinreichender Ausbildung unserer Reflexion ohnehin vorziehen würden, der wir also nach Abstraktion vom praktischen Irrtum den überwiegenden Wert zuschreiben. Es wäre Pflicht, allemal das Wertvollere dem weniger Wertvollen vorzuziehen. Es wäre, kurz gesagt, der Wert das Kriterium der Pflicht. Diese Annahme entfällt zugleich mit der von Pflichten gegen die eigene Würde. Wir haben sie also bereits zurückgewiesen. Die Feststellung, daß es der eigenen Würde gegenüber keine Pflicht gibt, ist gleichbedeutend mit der Feststellung, daß der Wert als Kriterium der Pflicht ausgeschlossen ist. Wir müssen dieses Ergebnis scharf abgrenzen gegen einen früheren Satz, nämlich gegen den analytischen Satz von der Unmöglichkeit der Gütermoral, wonach die Pflichtmäßigkeit einer Handlung nicht aus einem durch die Handlung erzeugten Wert folgt, sei es ihr eigener oder der ihres Produkts. Dieser Satz schließt aus, daß der Begriff des Werts zum Grund b e griff der Pflichtenlehre gemacht wird. Jetzt haben wir eine sehr viel weitergehende Behauptung abgeleitet, nämlich die, daß· der Wert nicht das Kr i t er i um der Pflicht ist. Mit dem Satz von der Unmöglichkeit der Gütermoral ist es vereinbar, daß die Pflichtenlehre, ohne vom Begriff des Werts auszugehen, den Wert als Kriterium der Pflicht einführt. Wir würden danach zwar nicht vom Wert einer Handlung rein logisch auf ihre

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Pflichtmäßigkeit schließen, wohl aber auf Grund des Sittengesetzes die Pflichtmäßigkeit einer Handlung an ihrem Wert erkennen. Ob das Sittengesetz etwas derartiges zuläßt, kann nur durch einen synthetischen Satz entschieden werden; denn diese Frage betrifft den Inhalt des Sittengesetzes. Wir haben sie hier dahin beantwortet, daß der Wert nicht als Kriterium der Pflicht in Frage kommt. Es ist also nicht nur der Begriff einer pflichtmäßigen Handlung von dem Begriff einer wertvollen Handlung verschieden, sondern es fallen auch verschiedene Gegenstände unter diese beiden Begriffe. Nicht nur der Inhalt dieser Begriffe, sondern auch ihr Umfang ist verschieden. § 51.

Die Pflicht der Ausbildung der praktischen Erkenntnis. Wenn wir das Prinzip der Abstraktion vom praktischen Irrtum weiter verfolgen, so führt es zu einem Satz, durch den wir die Pflicht der inneren Wahrhaftigkeit näher bestimmen. Wenn sich nämlich die Materie der Pflicht nur finden läßt unter Abstraktion vom praktischen Irrtum der von uns behandelten Person, so müssen wir, um die Materie unserer Pflicht zu erkennen, selber von solchen praktischen Irrtümern frei sein. Hieraus ergibt sich, daß die Pflicht der inneren Wahrhaftigkeit bedeutend mehr umfaßt als die Pflicht der Ausbildung der theoretischen Erkenntnis; sie erstreckt sich nämlich auf die Ausbildung der praktischen Erkenntnis, d. h. sie verlangt außer der Ausbildung der Erkenntnis der Tatsachen auch die der Erkenntnis der Werte. Wir haben früher gesagt, daß, gemäß dem formalen Charakter des Sittengesetzes, zur Bestimmung der Materie der Pflicht eine hinreichende Kenntnis der Situation erforderlich ist. Jetzt finden wir, daß dafür die Erkenntnis der zur Situation wesentlichen Tatsachen nicht hinreicht, sondern daß die Erkenntnis der bei der fraglichen Handlung in Betracht kommenden wahren Interessen hinzukommen muß. Die Feststellung der faktischen Interessen ist ein theoretisches, d. h. ein

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die Tatsachen betreffendes Urteil. Das Urteil aber darüber, ob etwas ein wahres Interesse ist, schließt die Behauptung der Vorzugswürdigkeit des Gegenstandes ein, die ihrerseits in einem praktischen Urteil zum Ausdruck. kommt. Insofern dieses Urteil auf die sittliche Entscheidung, d. h. auf die Bestimmung der Materie der Pflicht, von Einfluß ist, muß es ein wahres Urteil sein und darf nicht auf einem Irrtum beruhen. Daraus ergibt sich die P f 1 i c h t d e r A u s b i 1 d u n g u n s e r e r p r a k t i s c h e n E r k e n n t n i s.

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4. Kapitel.

Der Grundsatz der persönlid1en Gleichheit. §

52.

Gleichheit als Maß der Interessenbeschränkung. Nach dem Grundsatz der persönlichen Würde ist unsere Willkür eingeschränkt auf die Bedingung der Achtung des wahren Interesses der von uns behandelten Personen, aber es fe~lt uns noch eine Bestimmung darüber, wie weit diese Rücksicht gehen soll. Dies läßt sich daraus ersehen, daß sich in Ubereinstimmung mit dem aufgestellten Grundsatz verschiedene Inhaltsbestimmungen des Sittengesetzes ohne logischen Widerspruch denken lassen, verschieden nämlich hinsichtlich des Maßes, in dem die Befriedigung des eigenen Interesses eingeschränkt werden soll zu Gunsten widerstreitender Interessen anderer. Es fehlt uns also noch die Regel für die gegenseitige Beschränkung der Interessen der einander behandelnden Personen. Erst diese Regel kann uns zur erschöpfenden Bestimmung des Sittengesetzes führen. Das Sittengesetz ist, wie wir wissen, ein Rechtsgesetz. Es spricht jeder Person als solcher ein Recht zu, d. h. den Anspruch, daß ihre Interessen von vernünftigen Wesen geachtet werden. Welche Interessen aber mit einem solchen Rechtsanspruch verbunden sind, das ist noch unbestimmt geblieben. Auf die Frage, was Pflicht ist, können wir auf Grund des Vorhergehenden nur antworten: Wahrung des Rechts. Aber auf die Frage, wie weit sich das Recht einer Person gegenüber einer anderen erstreckt, darauf fehlt uns vorläufig die Antwort. Wir müssen sie in einem neuen Satz hinzunehmen. Sie liegt in dem Gesetz, wonach das Gebot der Achtung des Rechts seinen Inhalt erhält durch das G e b o t d e r G e recht i g k e i t. Das Sittengesetz, von dem wir bisher wissen, daß es die Wahrung der persönlichen Würde gebietet, ist, näher bestimmt, das Gebot der Gerechtigkeit oder das Gesetz der Wahrung der persönlichen Gleichheit.

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Wir können das Gebot der Gerechtigkeit aussprechen in der folgenden Form: Jede Person hat a 1 s so 1 c h e mit j e der anderen die g 1 eiche Würde. Bei dieser Formulierung, in der allerdings der Gebotscharakter nicht unmittelbar ausgesprochen wird, kommt am deutlichsten zum Ausdruck, daß wir die bisher noch fehlende Bestimmung hinzufügen, nämlich die Bestimmung des Maßes für die gegenseitige Beschränkung der Interessen. Der Gleichheit der Personen ist ihre Unterordnung entgegengesetzt, d. h. die Bevorzugung der einen Person vor der anderen. Wenn man die Gleichheit als Kriterium des Rechts verkennt, so schwankt man zwischen zwei einander entgegengesetzten extremen Prinzipien: einem Prinzip der Unterordnung der behandelten Person unter die des Handelnden, das man kurz das Prinzip des Egoismus nennen kann, und einem solchen der Unterordnung der eigenen Person unter die des Behandelten, dem Prinzip des Altruismus. Wenn wir die Befriedigung der Interessen einer Person kurz das W o h 1 dieser Person nennen, so ist der Egoismus das Prinzip der unbeschränkten Förderung des eigenen Wohls, ohne Rücksicht auf das Wohl der andern, und der Altruismus das Prinzip der unbeschränkten Förderung des Wohls der andern, ohne Rücksicht auf das eigene Wohl. Ich behaupte, daß weder der Egoismus noch der Altruismus das Prinzip einer sittlichen Gesetzgebung sein kann. Versuchen wir, uns einen Zustand zu denken, in dem die Anforderungen des Egoismus als Prinzip einer sittlichen Gesetzgebung erfüllt wären, so geraten wir in einen logischen Widerspruch. Jedes sittliche Prinzip muß als solches Allgemeingültigkeit haben, d. h. es gilt, wenn es überhaupt gilt, für jedes vernünftige Wesen in gleicher Weise. Sollte daher der Egoismus als Prinzip einer sittlichen Gesetzgebung dienen, so wäre jedem geboten, die eigenen Interessen rücksichtslos rzu befriedigen auf Kosten der Interessen aller andern. Es wäre also geboten, das Wohl irgend eines Einzelnen auf Kosten des Wohls der andern zu fördern, wie auch, das Wohl der andern auf Kosten des seinigen zu fördern, was sich widerspricht.

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Sollte der Altruismus das Prinzip einer sittlichen Gesetzgebung sein, so wäre jedem geboten, andern Wohltaten zu erweisen, ohne selber Wohltaten anzunehmen. Ein Zustand, in dem dieses Gesetz erfüllt wäre, läßt sich gleichfalls nicht einmal denken. Daß Wohltaten erwiesen werden sollen, die nicht angenommen werden dürfen, widerspricht sich selber. Es gibt eine Legende von dem Mönch M a k a r i u s , der in der Wüste mit seinen Klosterbrüdern lebt und in die Gefahr kommt, zu verdursten. Da schickt ihm ein Freund von weit her eine Weintraube. Als Altruist gibt er sie einem Klosterbruder, der sie weitergibt, und so macht sie die Runde, bis sie zum ersten Empfänger zurückkehrt, der dann so inkonsequent ist, sie zu verzehren. Denn als konsequenter Altruist hätte er sie von neuem die Runde machen lassen müssen, bis sie verdorrt und ungenießbar geworden wäre. § 53.

Das Prinzip der Abstraktion von der numerischen Bestimmtheit der Person. Um das aufgestellte Gebot der Gleichheit vor Mißdeutungen zu schützen, müssen wir uns vor Augen halten, was damit n i c h t gefordert ist. Erstens: Diese Gleichheit darf nicht theoretisch verstanden werden; sie ist nicht die Gleichheit der tatsächlichen Beschaffenheit der Personen. Ob und wie weit Personen sich in dieser Hinsicht gleich sind, diese theoretische Frage interessiert uns hier nicht. Denn wir fragen nicht, in welcher Lage Personen sind, sondern wie sie behandelt werden sollen. Zweitens: Die Gleichheit der Personen bedeutet nicht eine Gleichheit hinsichtlich ihres Werts. Wir fragen nicht nach dem Wert der Personen, sondern nach der Pflicht, die Personen gegen einander haben. Der Wert der Personen bestimmt sich positiv nach ganz anderen Rücksichten als nach dem Sittengesetz. Das Sittengesetz ist kein Prinzip einer positiven Wertung von Personen, sondern nur das negative Prinzip der Be-

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schränkung ihres Werts auf die Bedingung der Pflichterfüllung. Wir behaupten nicht die Gleichheit des Werts der Personen, sondern die Gleichheit ihrer Würde, d. h. ihres Anspruches, das Belieben des sie Behandelnden einzuschränken auf die Bedingung der Achtung ihrer Interessen nach dem Maß der persönlichen Gleichheit. Drittens: Das Prinzip der persönlichen Gleichheit bedeutet nicht den Anspruch der Personen auf gleiche Behandlung. Das fragliche Prinzip lautet: Jede Person hat a 1 s so Ich e mit jeder anderen die gleiche Würde, d. h. nur insofern, als wir abstrahieren von ihrer individuellen Beschaffenheit. Der Unterschied der Beschaffenheit kann also recht wohl eine Verschiedenheit der Behandlung rechtfertigen. Die Gleichheit der persönlichen Würde schließt eine solche Verschiedenheit nicht aus. Das Sittengesetz schränkt sie nur ein auf eine bestimmte Bedingung. Es schließt jeden solchen Vorzug aus, den sich der Handelnde gegenüber dem Behandelten b I o ß darum geben kann, weil er gerade der Handelnde und nicht der Behandelte ist, mit anderen Worten: es erlaubt nur eine solche Bevorzugung des Handelnden, die ihren Grund in der Verschiedenheit der Lage oder der Beschaffenheit der Personen hat. Daß das Sittengesetz nicht schlechthin die Bevorzugung einer Person vor einer andern ausschließen kann, läßt sich leicht einsehen. Das Sittengesetz bezieht sich, wie wir wissen, auf den Fall des Widerstreits der Interessen der handelnden und der behandelten Person, auf den Fall also, der gerade dadurch charakterisiert ist, daß von den auf der einen und anderen Seite in Frage kommenden Interessen nur entweder die einen oder die andern befriedigt werden können, so daß unter allen Umständen die eine oder andere Person vorgezogen werden muß. Es kann also unmöglich der Sinn des Sittengesetzes sein, die Bevorzugung einer Person zu verbieten. Das Gebot der Gerechtigkeit ist vielmehr unmittelbar eine Regel für eine solche Bevorzugung. Diese Regel lautet dahin, daß die behandelte Person bevorzugt werden soll, wenn sie das überwiegende Interesse besitzt. Die Interessen sollen so gegen einander abgewogen

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werden, als ob der Unterschied der Personen a 1 s so 1 c her gar nicht bestünde, d. h. so, wie der Handelnde abwägen würde, wenn die Interessen der behandelten Person auch seine eigenen wären. Die Bevorzugung also, die ein Interesse nur dadurch erhält, daß es das Interesse des Handelnden und nicht das des Behandelten ist, diese und nur diese Bevorzugung wird durch das Sittengesetz ausgeschlossen. Nach diesen Uberlegungen können wir das Kriterium der Pflicht, das wir in dem Grundsatz der persönlichen Gleichheit aufgestellt haben, formulieren als das Prinzip der Ab straktion von der numerischen Bestimmtheit der Personen. Ein Gegenstand läßt sich einerseits in qualitativer Hinsicht und andererseits in numerischer Hinsicht charakterisieren. Er ist in qualitativer Hinsicht charakterisiert durch seine Beschaffenheit. Aber dadurch ist er nicht als ein bestimmter, einzelner Gegenstand herausgehoben. Indem wir ihm Merkmale zuschreiben, durch die er sich von andern Gegenständen unterscheidet, können wir ihn hinsichtlich seiner Beschaffenheit auszeichnen. Aber man mag diese begriffliche Bestimmung des Gegenstandes ausführen, so weit man will, so wird durch sie doch kein bestimmter Gegenstand definiert, sondern nur eine K 1 a s s e von Gegenständen. Es könnte die durch die Merkmale bestimmte Beschaffenheit sehr wohl einer zahlenmäßigen Mehrheit von Gegenständen zukommen. Die Individualität eines Gegenstandes ist durch die Angabe seiner Beschaffenheit also nicht erreichbar. Diese individuelle Bestimmtheit des Gegenstandes, die durch Angabe der Begriffe, unter die er fällt, unerreichbar ist, ist das, was ich seine numerische Bestimmtheit nenne. Sie läßt sich ihrerseits nur anschaulich erkennen. Nun sagt das Sittengesetz, daß bei der Behandlung der Personen vom numerischen Unterschied der Personen abstrahiert werden soll. Es verbietet jede Bevorzugung, die nur durch das Bestehen der numerischen Verschiedenheit der Personen bedingt ist und die infolgedessen unmöglich wäre, wenn wir die numerische Verschiedenheit der Personen aufgehoben

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dächten. Denken wir uns die von unserer Handlung überhaupt betroffenen Interessen in einer Person vereinigt, denken wir, mit anderen Worten, die Interessen der von uns behandelten Person wären auch unsere eigenen, so würden wir das überwiegende Interesse vorziehen ohne Rücksicht darauf, ob es faktisch unser eigenes oder das des andern ist. Die Möglichkeit, das dem unseren widerstreitende, aber überwiegende Interesse eines andern zu verletzen, würde dann von selber verschwinden. Sie besteht nur vermöge des numerischen Unterschiedes der Personen. Das Sittengesetz verbietet also nur diejenige Handlungsweise, die unmöglich wäre, wenn wir uns den numerischen Unterschied der Personen aufgehoben dächten. Mit einem andern Ausdruck: Das Sittengesetz schränkt die Vorzugswürdigkeit einer Handlung auf die Bedingung ein, daß die Handlung bei Abstraktion von der numerischen Verschiedenheit der Personen vorzugswürdig bliebe; es bestimmt also die Vorzugswürdigkeit der Handlung ausschließlich durch die qualitative Beschaffenheit der Umstände, und das heißt hier: durch die Gesamtheit der von der Handlung betroffenen Interessen, unabhängig davon, wessen Interessen es sind. Wir können dasselbe Kriterium noch auf andere Weise ausdrücken. Statt von dem Unterschied der Personen als solcher zu abstrahieren, statt also in Gedanken die auf die verschiedenen Personen verteilten Interessen in einer Person zu vereinigen, können wir uns auch in Gedanken der Reihe nach in die Lage der einen und der andern Person versetzen und annehmen, daß wir wirklich nach einander in beide Lagen gerieten, dabei aber nur in einer von ihnen unser Interesse befriedigen könnten. Denn dies bringt der Widerstreit der Interessen mit sich, unter dessen Voraussetzung das fragliche Gesetz allein Anwendung findet. Stehen wir vor der Frage, ob wir lieber in der einen oder in der andern Lage unser Interesse befriedigt wissen wollen, so versteht es sich von selber, daß wir - bei besonnener Entschließung und unter Abstraktion vom praktischen Irrtum - das überwiegende Interesse vorziehen und in die Verletzung des andern einwilligen würden,

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um einer größeren Interessenverletzung, wie sie im andern Fall unvermeidlich wäre, zu entgehen. Mit einer nur geringen Verschiedenheit des Ausdrucks können wir, wieder unter Abstraktion vom praktischen Irrtum, die Abwägung so darstellen: Wir sollen so handeln, als ob ein Naturgesetz bestünde, wonach sich unvermeidlich die gleiche Handlungsweise gegen uns kehren würde, wenn wir in der Lage des Behandelten wären, wobei wir freilich die Voraussetzung hinzunehmen müssen, daß wir in die Lage des Behandelten geraten werden. Diese Darstellung entspricht der Kant ischen Formulierung: ,,Handle, wie Du wollen kannst, daß die Maxime Deiner Handlung als allgemeines Naturgesetz gelte!" Denn damit ist - gemäß der eigentlichen Bedeutung dieser Formulierung - gefordert, daß wir an Stelle der Wahl, vor der wir wirklich stehen, nämlich der Wahl zwischen der einen und der andern bestimmten Handlung, in Gedanken eine andere setzen, nämlich die Wahl zwischen zwei Naturgesetzen. Wir sollen die Handlung wählen, die wir auch wählen würden, falls die Maxime, für die wir uns entscheiden, dadurch zur Geltung eines Naturgesetzes erhoben würde. Angenommen z.B., wir stehen vor der Frage, ob wir einem ohne sein Zutun in Not geratenen Menschen, der auf unsere Hilfe angewiesen ist, diese Hilfe gewähren und uns die damit für uns verknüpfte Entbehrung eines Vergnügens auferlegen sollen. Für diesen Fall verlangt das Prinzip der Abstraktion von der numerischen Bestimmtheit der Personen, daß wir die hier in Frage stehenden Interessen gegen einander abwägen, ohne Rücksicht darauf, ob sie unsere eigenen oder die des Behandelten sind, daß wir also das Interesse des Behandelten in gleicher Weise in Rücksicht ziehen, wie wir es tun würden, wenn es das eigene wäre. Offenbar werden wir es vorziehen, uns gelegentlich ein Vergnügen zu versagen, als, wenn wir ohne unser Zutun in Not geraten sind, überhaupt ohne alle Hilfe zu bleiben. Zu genau demselben Ergebnis kommen wir, wenn wir das Kant ische Kriterium anwenden. Wir denken uns die bestimmte einzelne Handlung, die wir vorhaben, ersetzt

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Ethik.

durch eine allgemeine Regel des Handelns, d. h. wir stellen uns vor, wir ständen nicht vor der Wahl, ob wir dem Notleidenden beistehen oder uns vergnügen wollen, sondern vor der andern, ob wir ein Naturgesetz bevorzugen wollen, wonach allemal der ohne Schuld Notleidende hilflos gelassen wird um des Vergnügens des andern willen, oder ein Naturgesetz, wonach dem ohne Schuld Notleidenden geholfen wird unter Preisgabe des Vergnügens des andern. Wenn wir nun voraussetzen, daß es für uns gleich wahrscheinlich ist, in die Lage des einen oder in die des andern zu geraten, dann würden wir offenbar ein Naturgesetz vorziehen, wonach dem ohne Schuld Leidenden geholfen wird. Wir sehen hieraus, daß, richtig verstanden, das Kant ische Kriterium vom Naturgesetz in der Tat nichts anderes bedeutet als das Kriterium der Abstraktion von der numerischen Bestimmtheit der Personen, nichts anderes als die Ausschließung jeder Bevorzugung, die bei der Ausführung dieser Abstraktion von selber verschwinden würde. § 54.

Negativer Ursprung der Pflicht der Gerechtigkeit. Mit der Erörterung des Prinzips der persönlichen Gleichheit haben wir die Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes zum Abschluß gebracht. Es bleibt uns noch die Aufgabe, zu prüfen, ob das abgeleitete Grundgesetz den für die Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes aufgestellten Bedingungen genügt. Wir erkennen leicht, daß das Prinzip der persönlichen Gleichheit ein beschränkendes Prinzip ist. Seine Bedeutung besteht nicht etwa darin, daß es den Wert einer Handlung positiv bestimmt. Es schränkt vielmehr die Vorzugswürdigkeit der Handlung nur ein auf die Bedingung, daß sie erhalten bleibt bei Abstraktion von der numerischen Bestimmtheit der Personen. Es schließt also nur diejenigen Interessen von den Bestimmungsgründen des Handelns aus, die ohnehin nicht Bestimmungsgründe des Handelns sein würden, wenn wir den

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Unterschied der Personen aufgehoben dächten. Hierin zeigt sich deutlich der beschränkende Charakter des Gesetzes. Daher fordert denn auch die Gerechtigkeit nicht, sich die Interessen anderer Personen positiv zu eigen zu machen, sondern nur, sie nicht unter Mißachtung der persönlichen Gleichheit zu verletzen. Eine Pflicht zur positiven Befriedigung der Interessen anderer Personen kann sich nur mittelbar ergeben. Es kann eine Ungleichheit dadurch entstehen, daß andere Personen im Gegensatz zu uns gar nicht die Möglichkeit haben, selber ihre Interessen zu befriedigen. So weit sie diese Möglichkeit haben, besteht für uns keine Pflicht, ihre Interessen zu befriedigen. Eine solche Pflicht würde eine willkürliche Bevorzugung jener Personen bedeuten und damit dem Prinzip der Gleichheit entgegen sein. Aber so weit es für sie nicht möglich ist, selber ihre Interessen zu befriedigen, während wir diese Möglichkeit besitzen, entsteht eine Ungleichheit, der zufolge unser Recht auf Interessenbefriedigung eingeschränkt ist; denn wir könnten in der Lage der andern nicht einwilligen, hilflos, d. h. ohne die Möglichkeit der Interessenbefriedigung, gelassen zu werden. Um hier nicht falsche Konsequenzen zu erhalten, muß man aber im Auge behalten, daß es darauf ankommt, ob das Unvermögen des andern von ihm bewußt herbeigeführt worden ist oder ob es auf einem unglücklichen Zufall beruht. Wenn sich jemand freiwillig in eine Lage begibt, in der er seine Interessen nicht selber befriedigen kann, so kann daraus für andere nicht die Pflicht erwachsen, für ihn zu sorgen; denn sein Anspruch auf eine solche Fürsorge würde seinerseits auf einer Nichtachtung fremder Interessen beruhen und gegen die persönliche Gleichheit verstoßen. Er hätte also den Anspruch auf Berücksichtigung seiner Interessen verwirkt.

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Ethik. §

55.

Formaler Charakter der Pflicht der Gerechtigkeit. Es ist ferner klar, daß die Pflicht der Gerechtigkeit formalen Charakter hat; denn das aufgestellte Gesetz gibt uns keineswegs die Materie der Pflicht, sondern nur eine allgemeine Anweisung dafür, wie wir im einzelnen Fall unsere Pflicht bestimmen können. Das allgemeine Sittengesetz läßt eine unbeschränkte Veränderlichkeit der Materie der Pflicht zu, indem es die Entscheidung darüber, was Pflicht ist, der Rücksicht auf die Umstände des einzelnen Falles überläßt und nichts weiter fordert, als daß bei dieser Entscheidung alle Rücksicht auf die numerische Bestimmtheit des Falles ausgeschlossen wird. Zur Anwendung des Prinzips ist also allemal eine außersittliche Entscheidung erforderlich, vermöge deren wir über die Vorzugswürdigkeit der von uns beabsichtigten Handlung urteilen. Das Sittengesetz verlangt weiter nichts, als daß die Entscheidung, zu der wir so gelangen, eingeschränkt ist auf die Bedingung ihrer Unabhängigkeit von der numerischen Bestimmtheit des Falles bzw. von der Verschiedenheit der Personen, auf die sich die Interessen verteilen. §

56.

Unveräußerlichkeit des Rechts auf Befriedigung des wahren Interesses. Bei der Entwicklung des Sittengesetzes hatten wir das Prinzip aufgestellt, daß die geforderte Berücksichtigung de1 Interessen unter Abstraktion vom praktischen Irrtum erfolgen solle. Dieses Prinzip müssen wir im Auge behalten, wenn wir uns in der Anwendung des Prinzips der Gerechtigkeit vor Fehlern schützen wollen. Denn das Prinzip der Abstraktion vom praktischen Irrtum führt hier zu einer weittragenden Folgerung. Die Pflicht der Gerechtigkeit gilt, gleichviel ob das von ihr zu schützende Interesse auf seiten des Behandelten durch ein faktisches Interesse vertreten wird oder nicht. Die Materie der

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Pflicht läßt sich daher nicht ohne weiteres durch Vergleichung der faktischen Interessen der beteiligten Personen entscheiden; wir müssen erst von den Mängeln der Reflexion und also vom praktischen Irrtum abstrahiere;.1. Hieraus folgt, daß wir bei der Abwägung aller von einer Handlung betroffenen Interessen nicht ohne weiteres von dem ausgehen dürfen, was die Beteiligten selber für ihr überwiegendes Interesse halten. Wenn einer von ihnen auf Grund eines Irrtums bereit ist, auf die Befriedigung eines Interesses zu verzichten, so entfällt damit nicht sein Recht auf die Befriedigung des Interesses und unsere Pflicht, dieses Interesse zu achten. Die wirkliche Einwilligung einer Person in eine ihr zugefügte Interessenverletzung reicht also nicht hin, diese erlaubt zu machen. Nur wenn sie mit dem eigenen wahren Interesse im Einklang ist, nur dann kann durch sie das fragliche Recht veräußert werden. Die Möglichkeit des Irrtums hinsichtlich der eigenen Interessen nötigt uns also zur Feststellung der Tatsache, daß es unveräußerliche Rechte geben kann, im Widerspruch zu dem Satz: Volenti non fit iniuria, dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht. Hiermit ist freilich nur die Möglichkeit unveräußerlicher Rechte behauptet worden; was zu einem solchen gehört, ist nicht gesagt worden, und darüber können wir an dieser Stelle auch nichts aussagen. Denn eine solche Aussage wäre nur möglich auf Grund einer Inhaltsbestimmung dessen, was das wahre Interesse verlangt. Und diese Inhaltsbestimmung des wahren Interesses läßt sich, auch soweit sie philosophisch möglich ist, nicht in der Pflichtenlehre ausführen. Sie ist erst das Thema der Ideallehre. Hier, innerhalb der Pflichtenlehre, können wir nicht weiter gehen als bis zu der Feststellung, daß der Rechtsanspruch auf die Befriedigung des wahren Interesses, sofern es überhaupt ein solches gibt, unveräußerlich ist.

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Ethik.

§ 51.

Das objektive Maß des Unrechts. Wir sind jetzt auch in der Lage, eine Frage zu entscheiden, die uns in der formalen Pflichtenlehre schon beschäftigt hat, ohne daß wir sie dort beantworten konnten. Wir hatten in der Lehre von der sittlichen Zurechnung festgestellt, daß es eine Abstufung des Grades der Zurechnung gibt. Sie betraf die subjektive Abstufung der Schuld, nämlich ihre Abstufung nach dem Grade der Zurechenbarkeit der Tat. Es blieb aber noch die Frage, ob es auch eine objektive Abstufung der Schuld gibt, d. h. ob, abgesehen von dem Grade, in dem ein Geschehen jemandem als seine Tat, als von ihm beabsichtigt, zugerechnet wird, eine Handlung ein größeres oder geringeres Unrecht darstellen kann. Wir konnten diese Frage in der formalen Pflichtenlehre nicht entscheiden, weil der bloße Begriff des Unrechts uns darüber nichts sagt. Jetzt können wir sie beantworten, und zwar müssen wir sie bejahen. Es gibt einen objektiven Gradunterschied des möglichen Unrechts. Das Kriterium der Pflicht enthält unmittelbar eine solche Gradbestimmung. Das Unrecht besteht nämlich nach diesem Kriterium in der Abweichung von der Gleichheit der persönlichen Würde. Es ist folglich um so größer, je größer diese Abweichung ist. Seine Größe bestimmt sich danach, wie groß die widerrechtliche Bevorzugung ist, die der Handelnde sich selber sichert, bzw. wie groß die widerrechtlich begangene Interessenverletzung ist, die er dem Behandelten zufügt. Die Größe dieser Interessenverletzung bietet ein objektives Maß der Schuld.

Materiale Pflichtenlehre.

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5. Kapitel.

Die Pflicht der Gerechtigkeit. §

58.

Das Gesetz der gerechten Abwägung. Das Gebot der Gerechtigkeit findet eine zweifache Anwendung. Es setzt zu seiner Anwendung allgemein voraus, daß überhaupt ein Widerstreit des eigenen Interesses mit dem des Behandelten stattfindet. Bei einem solchen Widerstreit kann für den Handelnden die Pflicht entstehen, sich der Verletzung des fremden Interesses zu enthalten. Das ist der erste Fall der Anwendung des Sittengesetzes. Der andere Fall tritt dann ein, wenn diese Pflicht verletzt ist. Denn dann erhebt sich die Frage, welche Folgen das Gesetz an eine solche Pflichtverletzung knüpft. Betrachten wir zunächst den ersten Fall! Aus dem Prinzip der Gerechtigkeit folgt für jede einzelne Handlung, durch die wir in Wechselwirkung mit anderen Personen treten, das Gebot, durch unsere Handlung kein fremdes Interesse zu verletzen, wenn wir nicht an der Handlung ein überwiegendes Interesse besitzen. Ich nenne dieses Gebot kurz das A b w ä g u n g s g e s e t z oder das G e b o t d e r g e r e c h t e n Abwägung. Es läßt sich folgendermaßen formulieren: Handle nie so, daß Du nicht auch in Deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch Deine eigenen wären. Das Kriterium der gerechten Abwägung liegt also in der Vereinigung der Interessen in einer und derselben Person. Diese Vereinigung hat unmittelbar zur Folge, daß, falls kein praktischer Irrtum vorliegt, nur die Handlung, auf die sich das vorzugswürdige Interesse richtet, vorgezogen werden kann. Die Anwendung dieses Kriteriums kann auf gewisse Schwierigkeiten führen, auf die wir hier noch eingehen müssen. Es entsteht nämlich die Frage, wie wir uns in dem Falle entscheiden sollen, wo sich die einander widerstreitenden Interessen das Gleichgewicht halten, wo sich also bei der Abwägung

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Ethik.

kein Ubergewicht auf der einen oder andern Seite ergibt, oder, was für die Anwendung auf dasselbe hinausläuft, wo wir nicht in der Lage sind, zu beurteilen, auf welcher Seite das Ubergewicht der Interessen vorliegt. Was fordert die Gerechtigkeit für diesen Fall? Oder liefert sie hier keine Entscheidung? In der Tat reicht das formulierte Gesetz der gerechten Abwägung hin, auch den Fall des Gleichgewichts der kollidierenden Interessen eindeutig zu entscheiden. Was verlangt nämlich dieses Gesetz? Es verbietet dem Handelnden, das eigene Interesse vorzuziehen, wenn dieses nicht das widerstreitende Interesse überwiegt, mit anderen Worten, wenn es bei Abstraktion vom numerischen Unterschied der Personen, also bei Vereinigung der Interessen in einer Person, nicht vorzugswürdig bleibt. Wenden wir dieses Gesetz auf den fraglichen Fall an! Denken wir uns die mit einander kollidierenden, sich das Gleichgewicht haltenden Interessen in einer Person vereinigt! Dann ist kein überwiegendes Interesse vorhanden, zu dessen Gunsten der Entschluß gefaßt werden könnte. Folglich ist im Fall eines Konflikts zwischen zwei Personen keiner von beiden erlaubt, das eigene Interesse vorzuziehen; denn eine solche Handlung würde gegen die Bedingung verstoßen, daß nur zu Gunsten des überwiegenden Interesses das Interesse des Behandelten verletzt werden darf. Wohl bemerkt, das Sittengesetz verbietet nicht, daß der eine oder der andere oder sogar beide auf die Befriedigung ihres Interesses verzichten zu Gunsten der Befriedigung des fremden Interesses - es sei denn, daß die Rücksicht auf die Interessen Dritter einen solchen Verzicht verbietet. Ob der Verzicht nun aber erlaubt ist oder nicht, jedenfalls ist keiner von beiden verpflichtet, auf die Befriedigung seines Interesses zu verzichten. Wenn in uns selber zwei einander widerstreitende, aber sich gerade das Gleichgewicht haltende Interessen vereinigt sind, dann kann weder das eine noch das andere Interesse unseren Entschluß bestimmen. Keins von ihnen ist also ein überwiegendes Interesse. Dagegen erwacht hier aber das Interesse, daß wenigstens eins der beiden Interessen befriedigt wird,

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da die Befriedigung beider unmöglich ist. Welches befriedigt werden soll, bleibt unbestimmt; denn keins ist vor dem andern durch ein Ubergewicht ausgezeichnet. Die Entscheidung, welches der beiden Interessen befriedigt werden soll, kann nach Voraussetzung durch keins von ihnen selber herbeigeführt werden, eben weil sie sich gerade das Gleichgewicht halten. Diese Entscheidung, an deren Herbeiführung wir ein Interesse haben, kann also nur in einem Umstand liegen, der in bezug auf die beiden widerstreitenden Interessen zufällig ist. An. einem solchen, eine Entscheidung liefernden Umstand haben wir ein überwiegendes Interesse. Sind die einander gleichwertigen Interessen auf zwei Personen verteilt, so hat jeder der Beteiligten das Interesse, zu der in seiner Lage möglichen Interessenbefriedigung zu gelangen. Jeder hat folglich die Pflicht, dieses Interesse des andern zu achten, es also ebenso zu berücksichtigen wie das widerstreitende eigene Interesse. Die Gleichheit schließt hier zwar die willkürliche Bevorzugung des einen oder des andern aus, aber sie läßt die Herbeiführung einer anderweitigen Entscheidung zu, wodurch eines der kollidierenden Interessen als dasjenige ausgezeichnet wird, das bevorzugt werden soll. Diese Auszeichnung darf nur nicht von der Willkür cier Beteiligten abhängen; sie soll also in einem Umstand liegen, der insofern zufällig ist, als er der Voraussicht beider entzogen ist. Eine solche Entscheidung nennt man eine Entscheidung durch das Los. Nun wird vielleicht jemand sagen, daß auch der Kampf als ein solches dem Los gleichkommendes Entscheidungsmittel dienen könnte. Dies kann unter gewissen Vorbehalten zugegeben werden, nämlich unter der schon genannten Voraussetzung, daß nicht die Rücksicht auf das Interesse Dritter die Vermeidung eines solchen Kampfes verlangt, und, worauf es hier ankommt, unter der andern Voraussetzung, daß die durch den Kampf herbeigeführte Entscheidung die Bedeutung eines Loses hat, d. h. zufällig ist. Nur wenn der Sieg für beide Beteiligten gleich wahrscheinlich ist, hat der Kampf die Bedeu-

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tung eines Loses. Aber auch in diesem Fall liegt keineswegs ein Grund vor, den Kampf einer andern Form des Loses vorzuziehen, es sei denn, daß man in unnützer Gewalttätigkeit einen Vorzug findet. Gegen diese Beweisführung wird häufig der Einwand gemacht, daß gerade der Kampf ein Mittel bieten könnte, um durch die Uberlegenheit der Kraft des Siegers auch dessen Uberlegenheit im Kollisionsfall zu beweisen. Es ist in der Tat denkbar, daß wir in Ermangelung besserer Kriterien der Vorzugswürdigkeit Grund haben, die Entscheidung dem Kampf zu überlassen, so z.B. dem Konkurrenzkampf im Wirtschaftsleben. Aber für die uns hier beschäftigende Frage, was geschehen soll, wenn die Vorzugswürdigkeit eines der beiden Interessen durch kein Mittel feststellbar ist, wird dadurch gar nichts bewiesen, und der Einwand ist durchaus sophistisch, darum nämlich, weil er die Voraussetzung aufhebt, auf Grund deren die hier zu beantwortende Frage nur erhoben wird. Denn in diesem Einwand wird eine Methode angegeben zur Entscheidung der Frage, welches Interesse vorzugswürdig ist. Der Kampf spielt hier also nicht die Rolle des Loses. §

59.

Das Gesetz der gerechten Vergeltung. Die Untersuchung des Gesetzes der gerechten Abwägung bedarf einer Ergänzung durch die Erörterung des Falles, daß dieses Gesetz verletzt wird. Wird gegen dieses Gebot verstoßen, so heißt dies, daß sich jemand eine Interessenbefriedigung verschafft, die ihm nach dem Gesetz der persönlichen Gleichheit nicht zukommt. Die dadurch geschaffene ungerechte Bevorzugung verlangt um der Wiederherstellung der persönlichen Gleichheit willen eine Ausgleichung, die nur dadurch möglich ist, daß der ungerecht Bevorzugte um eben so viel benachteiligt wird, wie er andere widerrechtlich benachteiligt hat. Der widerrechtlich Bevorzugte verliert also von dem Anspruch auf Interessenbefriedigung, den er sonst hätte, so viel, wie er

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den andern der Gleichheit entgegen entzogen hat. Das hieraus sich ergebende Gebot nenne ich das Gesetz der g e rechten Vergeltung. Man kann es kurz aussprechen: Du sollst in eine gleiche Nichtachtung Deiner Interessen einwilligen, wie Du sie andern gegenüber ausgeübt hast. In der Tat ist es klar, daß gemäß der Gleichheit der persönlichen Würde, d. h. des Anspruchs der Personen als solcher auf gleiche Befriedigung ihrer Interessen, niemand ein Recht hat, besser behandelt zu werden, als er in entsprechender Lage andere behandelt, daß er also von seinem Anspruch auf Interessenbefriedigung so viel einbüßt, wie er bei andern wiederrechtlich verletzt hat. Die der gerechten Abwägung zuwiderlaufende Bevorzugung, die er sich eingeräumt hat, verlangt also um der persönlichen Gleichheit willen gerechte Vergeltung. Diese besteht darin, daß er eine gleiche Interessenverletzung erfährt, wie er sie andern widerrechtlich zugefügt hat. Wir brauchen, um dies einzusehen, nur wieder vom numerischen Unterschied der Personen zu abstrahieren und also die von der Handlung betroffenen Interessen in einer Person vereinigt zu denken. Wir kommen dann unmittelbar auf die Konsequenz, daß derjenige, der das. Interesse anderer ungerechter Weise verletzt, sich die gleiche Verletzung zufügen lassen soll. Denn nur insofern, als er einwilligt, daß ihm die gleiche Verletzung zugefügt wird, kann er sich bei Abstraktion vom numerischen Unterschied der Personen seine Handlung ausgeführt denken. Er erfährt durch -:lie gerechte Vergeltung nichts anderes als das, was er hätte wollen müssen, um bei der Abstraktion von der numerischen Verschiedenheit der Personen seine Hand1ung auszuführen. Also gebietet ihm die Gerechtigkeit, einzuwilligen in das, was er sonst freilich nicht wollen könnte, nämlich in die gerechte Vergeltung des durch ihn begangenen Unrechts. Eine Interessenverletzung, die wir als die rechtliche Folge eines begangenen Unrechts denken, nennen wir insofern im engeren Sinn des Wortes Strafe. Durch das Gesetz der gerechten

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Ethik.

Vergeltung wird also das Maß der rechtlich geforderten Strafe festgelegt. Für die richtige Anwendung dieses Gesetzes gilt es, mehreres zu bedenken. Erstens: Gemäß der gegebenen Beweisführung, d. h. gemäß der Ableitung aus dem Gesetz der persönlichen Gleichheit, verlangt die gerechte Vergeltung Gleichheit hinsichtlich der Größe, nicht aber hinsichtlich der Art der fraglichen Interessenverletzung. Wir können auf Grund des Gebots der Gerechtigkeit nicht gleichartige Interessenbefriedigung verlangen, d. h. die Befriedigung gleicher Interessen, sondern vielmehr nur Gleichheit in der Befriedigung der Interessen, um welche Interessen es sich auch handeln mag. Gerechtigkeit der Vergeltung hängt also nicht ab von der Art, sondern nur von der Größe des widerrechtlich verletzten Interesses. zweitens: Das Interesse, das nach dem Gesetz der gerechten Vergeltung seinen Anspruch auf Befriedigung verliert, ist nicht identisch mit dem Interesse, das durch die widerrechtliche Handlung befriedigt wird. Das ungerechter Weise befriedigte Interesse, kurz das widerrechtliche Interesse, hat schon als solches keinen Anspruch auf Befriedigung; denn eben das bedeutet seine Widerrechtlichkeit. Die Strafwürdigkeit als Folge des begangenen Unrechts ist etwas ganz anderes als der bloße Verlust des Anspruchs auf die Befriedigung des durch das Unrecht widerrechtlich befriedigten Interesses. Daß es erlaubt ist, ein widerrechtliches Interesse zu verletzen, selbst wenn es faktisch alle andern überwiegt, dies versteht sich von selber nach dem Gesetz der gerechten Abwägung. Die Strafwürdigkeit dagegen bedeutet, daß der unrecht Handelnde den Anspruch auf die Befriedigung eines anderweitigen Interesses verliert. Strafe ist nicht Verletzung eines widerrechtlichen, d. h. gegen das Gesetz der gerechten Abw~gung verstoßenden Interesses, sondern Verletzung eines andern Interesses, das nach dem bloßen AJ;>wägungsgesetz Anspruch auf Befriedigung hätte. Versteht man z.B. unter dem Recht der Notwehr das Recht, eine beabsichtigte widerrechtliche Verletzung unseres Inter-

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esses zu vereiteln, und also den andern an der Befriedigung seines widerrechtlichen Interesses zu hindern, so folgt das Recht der Notwehr aus dem Gesetz der gerechten Abwägung. Etwas ganz anderes aber ist das Recht, zu strafen. Dies ist das Recht, ein weiteres, an sich (d. h. abgesehen von dem Gesetz der gerechten Vergeltung) achtungswürciiges Interesse zu verletzen, sofern diese Verletzung zur Wiederherstellung der Gleichheit der persönlichen Würde dient. Drittens: Man muß die Strafe unterscheiden von bloßer Rache. Rache besteht in der Befriedigung eines subjektiven Begehrens, nämlich der Rachsucht, und wird in ihren Anforderungen und ihrem Maß durch zufällige, subjektive Interessen bestimmt ohne Rücksicht auf die Strafwürdigkeit, ohne Rück.sieht überhaupt auf die Rechtlichkeit oder Widerrechtlichkeit der vorhergehenden Verletzung des eigenen Interesses. Strafe aber ist eine Interessenverletzung, sofern durch sie nicht ein subjektives Interesse, sondern die objektive Anforderung qes Gesetzes erfüllt wird. Strafe ist daher etwas ganz anderes als Rache, wie sie auch etwas anderes ist als irgend eine Interessenverletzung, die als Maßnahme sozialer Opportunität gilt. Strafe dient weder unmittelbar noch mittelbar zur Befriedigung der Interessen, sei es der Interessen des einzelnen zuvor Verletzten, sei es der Interessen der Mehrheit der Gesellschaft, sondern sie dient zur Erfüllung des ·Gesetzes. Diese beiden Gesetze, das der gerechten Abwägung und das der gerechten Vergeltung, erschöpfen zusammen den Inhalt des Gebots der Gerechtigkeit und damit des Sittengesetzes überhaupt.

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Ethik.

6. Kapitel.

Die sogenannten Pflichten gegen uns selber. § 60.

Mittelbarkeit aller sogenannten Pflichten gegen uns selber. Alle Gebote, die wirkliche Pflichten und nicht nur willkürliche Anforderungen wiedergeben, müssen sich aus dem Gebot der Gerechtigkeit ableiten lassen. Nun können wir aber, infolge des formalen Charakters dieses Gebots, rein philosophisch keine bestimmten .Pflichtmaterien ableiten, und es entsteht daher die Frage, welche Aufgaben uns nach der Aufstellung des Gebots der Gerechtigkeit innerhalb der materialen Pflichtenlehre noch bleiben. Eine weitere Ausführung dieser Lehre kann in der Tat nur Umschreibungen bieten für die Verteidigung des Satzes, daß Gerechtigkeit die einzige unmittelbar sich ergebende Pflicht ist. Dieser Satz wird nicht allgemein zugestanden. Immer wieder sind in der Ethik Versuche unternommen worden, einerseits Pflichten aufzustellen, die dem Gebot der Gerechtigkeit koordiniert sind, andererseits die Pflicht der Gerechtigkeit zu beschränken. Darum bleibt uns hier noch die Aufgabe einer Auseinandersetzung mit solchen Lehren. Wir wollen an einzelnen Beispielen zeigen, daß die Gründe, die man in beiden Fällen vorbringt, auf bloßem Schein beruhen und nichts gegen den Satz zu beweisen vermögen, daß, wie alle aus dem Gebot der Gerechtigkeit ableitbaren Anforderungen Pflichten sind, so auch die angeblich weiterführenden Pflichten, so weit sie bestehen, sich aus dem Gebot der Gerechtigkeit herleiten lassen. Wir wollen diese methodische Bemerkung zunächst auf die sogenannten Pflichten gegen uns selber anwenden. Ich behaupte, daß diese Pflichten, so weit sie wirklich den Namen „Pflichten" verdienen, mittelbare Pflichten sind, die sich auf Pflichten gegen andere zurückführen lassen. Ich habe bereits nachgewiesen, daß sich aus dem Grundsatz der Würde der

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Person keine Pflicht der Achtung der eigenen Würde des Handelnden ableiten läßt. Die Annahme einer solchen Pflicht würde ferner mit dem beschränkenden Charakter des Sittengesetzes unvereinbar sein. Bestünde nämlich eine unmittelbare Pflicht der Befriedigung des eigenen, natürlich des überwiegenden eigenen Interesses, wäre es, mit anderen Worten, allemal geboten, dem überwiegenden eigenen Interesse zu folgen, so kämen wir auf das Pdnzip des Moralismus, das, wie wir sahen, mit dem Grundsatz vom beschränkenden Charakter des Sittengesetzes in Widerspruch steht. Läßt man die Annahme einer solchen Pflicht fallen, so bliebe noch übrig, eine Pflicht der Befriedigung des eigenen Interesses anzunehmen für den Fall der Kollision mit den Interessen anderer, die Pflicht nämlich, im Fall einer solchen Kollision stets das überwiegende Interesse vorzuziehen, auch dann, wenn es das eigene ist. Daß der bloße Umstand des Uberwiegens des eigenen Interesses nicht hinreicht, seine Befriedigung für uns zur Pflicht zu machen, haben wir festgestellt. Wenn aber dieser Umstand nicht genügt, so kann offenbar der weitere Umstand, daß wir das Interesse eines andern verletzen würden, nicht die Befriedigung des eigenen Interesses zur Pflicht machen. Dies wäre dann nicht eine Pflicht, das Interesse des Behandelten zu wahren, sondern vielmehr, es zu verletzen. Schon diese einfache Uberlegung zeigt, daß es auch in diesem engeren Sinn keine Pflicht der Bevorzugung des eigenen überwiegenden Interesses gibt. Es bleibt noch der Ausweg, bestimmten Interessen eine ausgezeichnete Rolle zuzuschreiben, um die Achtung vor ihnen zur Pflicht gegen uns selber zu machen. Besonders hoch pflegt man das Leben zu bewerten, und so finden wir in der Ethik von altersher die Lehre von der Pflicht, das eigene Leben zu erhalten, und damit das Verbot des Selbstmordes. Fragen wir, ob die Erhaltung des eigenen Lebens eine Pflicht gegen uns selber sein kann und also eine Pflicht, die von mittelbarer Rücksicht auf die Interessen anderer unabhängig ist; denn nur in diesem Sinn ist hier davon die Rede.

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Ethik.

Man gibt gemeinhin zu, daß keine unbedingte Pflicht besteht, das Leben anderer zu erhalten, daß der Fall eintreten kann, in dem es erlaubt oder sogar geboten ist, ein anderes Wesen zu töten. Dann aber läßt sich nicht einsehen, warum es Pflicht sein sollte, unter allen Umständen das eigene Leben zu erhalten. Für die Ableitung eines solchen Gebots führt man etwa religiöse Gründe an und sagt, das Leben sei ein Geschenk, das uns von höherer Hand zuteil geworden sei und das wir darum nicht willkürlich von uns werfen dürften. Offensichtlich ist mit dieser Argumentation zu viel bewiesen; denn nach dieser Beweisart wären alle willkürlichen Handlungen als Eingriffe in die Rechte der Vorsehung verboten. Wenn daher dem Menschen s,onst nicht verboten ist, willkürlich zu handeln, so liegt kein Grnnd vor, ihm gerade das Recht zu verwehren, willkürlich über sein Leben zu entscheiden. Im Gegenteil, wäre das Leben Gottes Werk, und wäre alles, was Gottes Werk ist, wohlgetan, so wäre auch alles menschliche Handeln wohlgetan, und keine Handlung ließe sich verbieten. Man könnte also eben so gut umgekehrt schließen: Gott hat uns die Freiheit verliehen, über das Leben nach freiem Ermessen zu eqtscheiden, also hat jeder das Recht, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen. Von der gleichen Fadenscheinigkeit wie in diesem Beispiel pflegen alle Gründe zu sein, mit denen man das, was sich nicht aus der Ethik ableiten läßt, aus religiösen Gründen den Menschen vorschreibt. Wer aus dem Willen Gottes eine bestimmte Pflicht herleitet, müßte mindestens eine Kenntnis des göttlichen Willens haben. Denn sonst wäre das Gebot, den Willen Gottes zu erfüllen, inhaltlos. Sagt man z. B., um ein Verbot der Ehescheidung zu begründen: Die Ehe darf von Menschen nicht gelöst werden; denn was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden - so ließe sich mit gleichem Recht sagen: Was Gott geschieden hat, soll der Mensch nicht wieder zusammenfügen. Ähnlich verhält es sich in allen andern Fällen. Dazu kommt, daß das Gebot, den Willen Gottes zu erfüllen, um Bedeutung zu haben, voraussetzt, daß der göttliche Wille mög-

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licher Weise nicht erfüllt wird, eine Voraussetzung, die unmittelbar gegen die Annahme der göttlichen Allmacht verstößt, also schon in rein religiöser Hinsicht recht fragwürdig erscheint. Aber darüber hinaus: Pflichten, die wir auf die angeführte Weise erhielten, wären bei Licht besehen keine Pflichten gegen uns selber, sondern Pflichten gegen Gott. Eine unmittelbare Pflicht gegen uns selber kann also auf diese Weise niemals abgeleitet werden. Diese Art, die angeblichen Pflichten gegen uns selber in versteckter Weise als Pflichten gegen andere einzuführen, tritt noch in andern Formen auf. Wo man sich nicht auf die Pflichten gegen Gott beruft, da argumentiert man wohl mit einer Pflicht des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft. Man sagt etwa wenn wir wieder an das Verbot des Selbstmordes denken - , der Einzelne genieße die Vorteile der Gesellschaft; damit übernehme er zugleich Pflichten gegen sie und dürfe also nicht willkürlich über sein Leben verfügen. Dem gegenüber ist klar, daß aus einer solchen Rücksicht eine Pflicht, das eigene Leben zu erhalten, nur für den abgeleitet werden kann, der die Vorteile der Gesellschaft genießt. Wer die Gesellschaft verläßt - und das tut der Selbstmörder-, der verzichtet auf die Freuden der Gesellschaft, und damit entfallen jedenfalls die Pflichten, die man unmittelbar aus diesem Genießen ableitet. Um so weni!;Jer kann eine Pflicht für den bestehen, der von vornherein die Gesellschaft meidet. Eine allgemeingültige Pflicht iäßt sich also auf diesem Wege gewiß nicht äbleiten. Es hängt von den Umständen ab, ob jemand, der willkqrlich seinem Leben ein Ende macht, dadurch Rechte der Gesellschaft verletzt, und nur diese Rechte können ihm mittelbar die Pflicht auferlegen, sein Leben zu erhalten. Von Rücksicht auf das Recht anderer abgesehen, läßt sich seine Handlung vielleicht töricht nennen; so wäre es z. B. nichts als Torheit, wenn jemand durch ein ihm zustoßendes Unglück sich so weit die Besonnenheit rauben lassen wolfte, daß er alle Werte, die er seinem Leben noch geben könnte, aus dem Auge verliert. Oder man könnte sagen, daß der Selbstmörder einen

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Mangel an Selbstbeherrschung und Mut zeigt; aber auch das bedeutet keine Pflichtverletzung. Man sollte sich auch nicht darüber täuschen, daß unter Umständen nicht der Selbstmord, sondern das Unterlassen des Selbstmordes einen Mangel an Mut verrät und daß dieser Mangel an Mut sogar eine Pflichtverletzung sein kann. Es könnte sich ereignen, daß der Selbstmord nicht nur erlaubt, sondern sittlich geboten wäre. Es läßt sich der Fall denken, daß jemand unheilbar krank ist und einsieht, daß er andern durch die Fortsetzung seines Lebens unnüfz zur Last fällt, indem er sie an einer wertvolleren Betätigung ihrer Kraft hindert. Man braucht aber gar nicht so weit zu gehen, daß man das Recht des unheilbar Kranken auf sein Leben in Zweifel zieht, sondern es gibt andere und näher liegende Fälle, in denen dieses Recht verwirkt wird. Wer z.B. auf Kosten des Schweißes anderer nur dem Genuß nachgeht, der sollte sich sagen, daß er mit der Verweigerung der Arbeit das Recht auf Existenz preisgibt, daß er also, sofern er nicht arbeiten will, jedenfalls den Verzicht leisten soll, durch den er sich allein von der Pflicht zur Arbeit frei machen kann, den Verzicht auf sein Leben. So erweisen sich bei unvoreingenommener Betrachtung die Gründe, die man für das Verbot des Selbstmordes anzuführen pflegt, als unzureichend, ja zum Teil als höchst scheinheilig. Die angeblichen Pflichten des Menschen gegen sich selber kommen allemal denen zustatten, die einen Vorwand suchen, sich ihrer Pflichten gegen andere zu entziehen. Es ist im wesentlichen diese Dialektik der Interessen, woraus sich die Beliebtheit der Pflichten gegen sich selber erklärt, eine Beliebtheit, deren sich die Pflichten gegen andere nicht immer in gleichem Maß erfreuen. Man braucht die angestellte Uberlegung nur auf irgend welche andern Beispiele zu übertragen, um zu entsprechenden Ergebnissen zu kommen, z. B. auf die Pflicht der Mäßigkeit, die Pflicht der Ausbildung unserer Fähigkeiten usw. Ich sage nicht, daß es solche Pflichten nicht gibt, aber ich behaupte, daß sie keine unmittelbaren Pflichten gegen uns selber sind. So weit es diese Pflichten gibt, lassen sie sich nur als mittelbare Pflichten

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ableiten aus den Pflichten, die wir unmittelbar gegen andere haben. Man könnte den Einwand machen, daß in der hier entwickelten Lehre bereits gewisse Pflichten abgeleitet worden seien, die insofern Pflichten gegen uns selber zu sein scheinen, als für ihre Ableitung auf die Pflichten gegen andere keine Rücksicht genommen worden war. Es handelt sich um das Gebot des Charakters und das der inneren Wahrhaftigkeit. In der Tat, diese Pflichten ließen sich ableiten unabhängig von der Pflicht der Gerechtigkeit. Daraus folgt aber nicht, daß sie Pflichten gegen uns selber sind in dem Sinn, in dem die Gerechtigkeit eine Pflicht gegen andere ist. Durch den Nachweis, daß sich die fraglichen Gebote unter Abstraktion vom Inhalt des Sittengesetzes ableiten lassen, ist die Frage, wem gegenüber sie gelten, ja ob sie überhaupt Pflichten gegen eine Person sind, nicht berührt. Das Gebot des Charakters und das der inneren Wahrhaftigkeit ergeben sich aus der praktischen Notwendigkeit, die Erfüllung des Sittengesetzes dem Zufall zu entziehen. Sofern Gerechtigkeit der Inhalt des Sittengesetzes ist, bestehen die Gebote also nur mit Rücksicht auf die Pflicht der Gerechtigkeit und folglich mit Rücksicht auf die Pflichten gegen andere. Dem widerspricht es nicht, daß die im formalen Teil abgeleiteten Pflichten auch gelten würden, wenn das Sittengesetz einen anderen Inhalt hätte. § 61.

Unmöglichkeit der Pflicht, sich nicht selber zum bloßen Mittel zu machen. Wer in der Ethik die Lehre von den Pflichten gegen sich selber im strengen Sinn des Wortes aufrecht erhalten will, der muß die Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes angreifen, der muß behaupten - und das ist in der Tat auch behauptet worden - , daß sich aus der Würde der eigenen Person entsprechende Pflichten ableiten ließen wie aus der Würde der von uns behandelten andern Personen. Man nennt hier die

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Ethik.

Pflicht der Ehre und koordiniert sie der Pflicht der Gerechtigkeit. Die Pflicht der Ehre gebietet angeblich unmittelbar, sich nicht selber zum bloßen Mittel zu erniedrigen, so wie die Gerechtigkeit uns verbietet, andere zum bloßen Mittel für die eigenen Zwecke herabzuwürdigen. Um über die hier behauptete Pflicht zur Klarheit zu kommen, müssen wir fragen, was es heißt, etwas zum bloßen Mittel zu machen. Es bedeutet, eine Sache nur mit Rücksicht auf einen anderweitigen Zweck, nicht aber als Selbstzweckzugebrauchen. Eine Person zum bloßen Mittel zu machen würde also heißen, sie zu einem Zweck zu gebrauchen, der nicht ihr Zweck ist. Wenden wir dies auf die vorliegende Frage an! Die Forderung, uns selber niemals so zu behandeln, daß der Zweck dieser Handlung nicht unser Zweck ist, kann kein Gebot sein;Mit einem solchen Gebot wäre entweder zu viel oder zu wenig verlangt. Zu wenig, weil der Zweck, zu dem wir uns bei einer Handlung selber gebrauchen, als der Zweck unserer Handlung unser eigener Zweck ist, so daß wir gegen das aufgestellte Gebot gar nicht verstoßen können. In diesem Sinn ist es unmöglich, daß jemand sich selber zum bloßen Mittel macht. Versteht man dagegen unter der Forderung, sich nicht zum bloßen Mittel zu machen, das Gebot, nicht gegen einen andern eigenen Zweck zu verstoßen als den der fraglichen Handlung selber, so wäre in diesem Gebot der Ehre zu viel gefordert. Es kann allerdings vorkommen, daß wir uns selber in einer Weise behandeln, in die wir bei Berücksichtigung unserer übrigen Zwecke nicht einwilligen könnten; denn es ist möglich, daß wir durch Erreichung unseres gegenwärtigen Zwecks einen anderen Zweck vereiteln, den wir vielleicht später einmal verfolgen werden. In diesem Sinn ist es allerdings möglich, sich zum bloßen Mittel zu machen, d. h. sich in einer Weise zu behandeln, die dem eigenen, und zwar dem überwiegenden Interesse widerstreitet. Eine Handlung, die dem eigenen überwiegenden Interesse widerstreitet, beruht aber auf einem praktischen Irrtum, d. h. sie wäre unmöglich, wenn unser faktisches Interesse mit unserm

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wahren Interesse übereinstimmte. Gegen sein eigenes wohlverstandenes oder wahres Interesse zu verstoßen, ist eine Torheit oder eine Unbildung, aber nicht ein Verbrechen, d. h. ein Unrecht. Wollte man jeden Verstoß gegen das eigene wahre Interesse als solches sittlich verbieten, so wäre mit diesem Gebot der Ehre zu viel gefordert, indem nämlich jede Verletzung des eigenen wahren Interesses verboten und also die Befriedigung des eigenen wahren Interesses allemal geboten wäre, so daß keine sittlich indifferenten Handlungen möglich wären. Wir kämen so wieder auf den schon abgelehnten Moralismus zurück.

§ 62.

Unmöglichkeit der Pflicht, s i c h n i c h t v o n a n d e r e n a 1 s b 1 o ß e s Mi tt e 1 gebrauchen zu lassen. Nun könnte man aber noch unter Anerkennung der Unmöglichkeit einer solchen Pflicht der Ehre dennoch behaupten, daß es eine Pflicht gibt, sich nicht von anderen als bloßes Mittel gebrauchen zu lassen, q. h. sich gegen die Mißachtung der eigenen Interessen zu wehren. Es wäre dies die Pflicht, keine Verletzung des eigenen Rechts zu dulden. Wie verhält es sich mit einer so verstandenen Pflicht der Ehre? Läßt sie sich als eine eigene Pflicht gegen uns selber unabhängig von mittelbarer Rücksicht auf andere feststellen? Wenn jemand zuläßt, daß seine Würde von einem anderen mißachtet wird, d. h. daß sein berechtigtes Interesse verletzt wird, so willigt er damit in diese Verletzung ein. Das kann er aber nur insofern, als der Zweck, um dessentwillen er in die Verletzung einwilligt, sein Zweck ist. Dann aber macht ihn der andere nicht mehr zum bloßen Mittel. Der Behandelte läßt sich also nicht als bloßes Mittel von jenem gebrauchen. Er willigt ein, daß ein ihm sonst zustehendes Recht verletzt wird, mit Rücksicht vielleicht auf den Lohn, der ihm dafür versprochen wird. Der Zweck, sich diesen Lohn zu sichern, ist dann sein Zweck, ein Zweck, zu dessen Gunsten

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er auf die Befriedigung des an und für sich berechtigten Interesses verzichtet. Nun mag es sein, daß das Handeln des andern darum nicht aufhört, pflichtwidrig zu sein; es hört z.B. dann nicht auf, pflichtwidrig zu sein, wenn die Einwilligung nicht hinreicht, das Recht des Behandelten zu veräußern, d. h., wenn es sich um die Einwilligung in die Verletzung eines unveräußerlichen Rechts handelt, wenn die faktische Einwilligung also nur auf einem praktischen Irrtum beruht. In diesem Fall wird durch die Handlung des andern nicht das wirkliche, wohl aber das wahre Interesse verletzt, dem Behandelten wird also Unrecht getan. Das heißt aber nicht, daß er durch seine Einwilligung Unrecht tut. Denn auf sein Recht verzichten - mag der andere dadurch das Recht bekommen, das fragliche Interesse zu verletzen, oder nicht - heißt nicht, gegen die Pflicht verstoßen. Die Handlung hört ferner dann nicht auf, Unrecht zu sein, wenn der Behandelte in die Verletzung seines Interesses nur einwilligt, weil der Widerstand auch gegen diese Interessenverletzung für ihn die Verletzung eines noch höheren Interesses mit sich bringen würde. Aber auch ein solcher Verzicht auf Widerstand ist darum nicht etwa selber Unrecht, wie man schon daraus ersieht, daß die Vorstellung einer solchen, der Gerechtigkeit koordinierten Pflicht der Ehre in ihren Konsequenzen auf eine grobe Ungerechtigkeit führen würde. Wir würden nämlich nicht nur das Recht besitzen, einen widerrechtlichen Angriff abzuwehren und also das widerrechtliche Interesse des Angreifers zu verletzen, sondern wir würden hierzu verpflichtet sein; hinreichende Böswilligkeit vonseiten anderer würde also genügen, uns immer neue Pflichten aufzuerlegen und uns so der Befriedigung unserer eigenen überwiegenden Interessen endgültig zu berauben. Mit diesem allem steht es, wie bereits gesagt, nicht im Widerspruch, daß es in der Tat pflichtwidrig sein kann, die eigene Würde durch den andern kränken zu lassen und also die Verletzung des eigenen Rechts durch den andern zu dulden. Es ist nur behauptet, daß es kein unmittelbares Gebot gibt, sein

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Recht zu wahren, sondern daß ein solches Gebot, so weit es besteht, nur mittelbar mit Rücksicht auf anderweit feststehende Pflichten ableitbar ist. Die Möglichkeit einer solchen Ableitung liegt in der Tat nahe genug. Denn derjenige, der eine Rechtsverletzung duldet, trägt, so viel an ihm ist, dazu bei, die allgemeine Rechtssicherheit zu erschüttern, indem er andere ermutigt, ihre Pflichten zu verletzen, und sich selber eben damit der durch sie begangenen Rechtsverletzung mitschuldig macht. Und darum ist es in der Tat Pflicht, sich dem Unrecht zu widersetzen, so weit nicht im einzelnen Fall besondere Umstände dem entgegenstehen. § 63.

Unmöglichkeit einer eigenen Pflicht der Ehre. Man kann endlich, um eine unmittelbare Pflicht der Ehre aufrechtzuerhalten, mit diesem Wort einen weiteren Sinn verbinden, wonach Ehre so viel bedeutet wie die Erfüllung der Bedingung der Selbstachtung. Die Bedingung der Selbstachtung, d. h. der Anerkennung der eigenen Würde, ist offenbar Moralität. Sie liegt also in der freien Unterwerfung unter das Sittengesetz. Würden wir daher das Gebot der Ehre als die Pflicht verstehen, die Bedingung der Selbstachtung zu erfüllen, so kämen wir dadurch auf das Gebot der Pflichterfüllung überhaupt, aber keineswegs auf eine bestimmte, von dem Gebot der Gerechtigkeit verschiedene Pflicht, die sich diesem Gebot koordinieren ließe. Vielmehr würde das Gebot der Ehre alle Pflichten überhaupt umfassen und uns diese nur unter einem neuen Namen noch einmal zur Pflicht machen, nicht aber selber eine bestimmte Klasse von Handlungen als Pflichten auszeichnen. Es wären auf der einen Seite also alle Pflichten überhaupt Pflichten der Ehre, seien es solche gegen andere Personen oder nicht. Und doch ließe sich andererseits keine einzige Pflicht als Pflicht der Ehre erweisen im Unterschied von der der Gerechtigkeit. Denn die bloße Anforderung der Pflichterfüllung läßt es unbestimmt, durch welche Handlungsweise die Pflicht erfüllt

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oder verletzt wird. Es läßt sich folglich auch auf diesem Weg keine eigene Pflicht der Ehre als Pflicht gegen uns selber einführen. Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei daran erinnert, daß wir es hier nur mit den Pf 1 ich t e n, nicht aber mit der Gesamtheit aller ethischen Anforderungen zu tun haben. Die Ablehnung einer eigenen Pflicht der Ehre schließt daher nicht aus, daß die Wahrung der Ehre ethisch vorzugswürdig ist. § 64.

Pflichten gegen sich selber und Pflichten gegen andere. Unter Anerkennung der Schwierigkeiten, die sich aus der Annahme von Pflichten des Menschen gegen sich selber ergeben, könnte man gegen die grundsätzliche Ablehnung solcher Pflichten aber noch einen tieferliegenden Einwand erheben. In der bisher allgemein herrschenden Lehre von den Pflichten gegen uns selber scheint gerade das Prinzip der persönlichen Gleichheit konsequent durchgeführt worden zu sein, und umgekehrt scheint es gegen dieses Prinzip zu verstoßen, wenn die Pflichten gegen andere eine besondere Auszeichnung erhalten. Wird hier nicht das Interesse des Behandelten bevorzugt vor dem des Handelnden? Liegt also nicht doch ein versteckter Altruismus vor, entgegen dem Prinzip der persönlichen Gleichheit? Dieser Verdacht läßt sich beheben durch den Nachweis, daß er auf einem bloßen Schein beruht. In der Tat: Wenn wir uns das Sittengesetz einmal als nicht bestehend denken, wenn wir also die Dinge so ansehen, wie sie im Verhältnis des Handelnden zum Behandelten von Natur aus liegen, so wird das Interesse des Handelnden vor dem des Behandelten ausgezeichnet, nämlich dadurch, daß nach Naturgesetzen nur das eigene Interesse den Willen bestimmt und nicht das des andern, mag dieses auch das überwiegende sein. Auch der Fall der Sympathie darf hier nicht angeführt werden; denn Sympathie

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ist ein Interesse des Handelnden. Wer aus Sympathie handelt, handelt aus eigenem Interesse und insofern mit Rücksicht auf sich selber. Es ist aber nicht gesagt, daß von Natur aus jedem noch so starken Interesse des Behandelten ein Interesse des Handelnden entspricht. Nun besteht aber das Sittengesetz und somit die Gleichheit der persönlichen Würde. Soll dieser Gleichheit Geltung verschafft werden, so muß die Auszeichnung der Person des Handelnden, die von Natur aus besteht, aufgehoben werden. Das kann nur durch die Nötigung geschehen, das überwiegende fremde Interesse dem eigenen vorzuziehen. Es gibt keine andere Pflicht als die gegen andere Personen. Daß es diese Pflicht gibt, beruht darauf, daß von Natur aus, und das heißt hier: abgesehen vom Sittengesetz, eine Auszeichnung der eigenen Interessen besteht, wenn sie mit denen anderer kollidieren, eine Bevorzugung, deren Aufhebung es gerade ist, was durch das Gesetz der persönlichen Gleichheit verlangt wird.

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7. Kapitel.

Pflichten gegen Tiere. § 65.

Pflichtsubjekt und Rechtssubjekt. Alle angeblichen Pflichten gegen uns selber sind, sofern sie den Namen der Pflicht verdienen, mittelbar Pflichten gegen andere Personen und nur als solche ableitbar. Mit dieser Feststellung befreien wir uns von dem Fehler einer fälschlichen Erweiterung unseres Pflichtenkreises. Diesem Fehler steht der entgegengesetzte Fehler, der einer fälschlichen Einschränkung unseres Pflichtenkreises, gegenüber. Wenn wir ein Wesen, dem gegenüber wir Pflichten haben, kurz ein Objekt von Pflichten nennen, so können wir sagen, daß nur andere Personen Objekte von Pflichten sein können. Daneben steht der Satz, daß a 11 e andern Personen, sofern wir auf sie einwirken, Objekte von Pflichten für uns sind. Denn als Subjekt von Interessen hat eine Person Rechte, d. h. einen Anspruch auf Achtung ihrer Interessen nach dem Gesetz der persönlichen Gleichheit. Die Verkennung dieses Zusammenhangs führt zu der erwähnten fälschlichen Einengung des Pflichtenkreises, einer Gefahr, die in der Ethik in bisher noch viel unbestrittenerer Weise herrscht als jene fälschliche Erweiterung, von der ich gesprochen habe. Wenn wir dadurch, daß wir zu viele Pflichten annehmen, wenigstens unmittelbar keine Pflichtverletzung begehen, so werden wir dagegen dadurch, daß wir zu wenige annehmen, unmittelbar dazu geführt. Und so hat die Lehre, wonach alle Personen Objekte von Pflichten sein können, auch in praktischer Hinsicht eine größere Bedeutung als die Ausschließung der Pflichten gegen uns selber. Um die Tragweite dieser Lehre zu erkennen, müssen wir den begrifflichen Unterschied von Pflichtsubjekt und Rechtssubjekt scharf festhalten; denn wir können nicht a priori die Möglichkeit ausschließen, daß es Rechtssubjekte gibt, die nicht Pflichtsubjekte sind. Subjekte von Rechten sind gemäß dem

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Inhalt des Sittengesetzes alle Wesen, die Interessen haben, Subjekte von Pflichten dagegen alle die, die darüber hinaus der Einsicht in die Anforderung der Pflicht fähig sind. Diese Einsicht ist nur für vernünftige Wesen möglich. Demgemäß können wir alle Pflichten, die nach Ausschluß der Pflichten gegen uns selber übrig bleiben, einteilen in Pflichten gegen vernünftige und Pflichten gegen unvernünftige Wesen. Nennen wir ein Wesen, das zwar ein Subjekt von Rechten ist, aber seiner Natur nach nicht zur vernünftigen Selbstbestimmung gelangen kann, ein Tier, und ein Wesen, das Subjekt von Rechten ist und zugleich seiner Natur nach die Anlage der Vernunft hat, einen Menschen, so können wir kurz sagen, daß jede Pflicht entweder eine solche g e g e n Ti e r e oder eine solche g e g e n M e n s c h e n ist. Ich behaupte hiermit, daß es Pflichten gegen Tiere gibt, und daß diese Pflichten unmittelbare Pflichten sind, daß sie sich also nicht etwa ableiten aus Pflichten gegen Menschen, d. h. gegen vernünftige Wesen. § 66.

Pflichten gegen Tiere. Man pflegt in der Ethik und auch in den Bearbeitungen, die die kritische Ethik bisher gefunden hat, die Pflichten gegen Tiere darzustellen als mittelbare Pflichten, sei es gegen uns selber, sei es gegen andere Menschen. Man begründet das Verbot der Tierquälerei z.B. damit, daß man sagt, sie begünstige den Hang zur Grausamkeit und damit eine für die Erfüllung der Pflicht hinderliche Disposition. Diese Wirkung mag zutreffen, trotzdem trägt die Art der Begründung der vollständigen Wahrheit keine Rechnung; denn sie macht die Verwerflichkeit der Tierquälerei von den zufälligen Folgen abhängig, die auf den Charakter des Handelnden oder eines andern Menschen ausgeübt werden. Wo keine nachteiligen Folgen eintreten, da würde das Verbot der Tierquälerei entfallen. Sehen wir zu, mit welchen Gründen die Lehre von den unmittelbaren Pflichten gegen Tiere abgelehnt worden ist, so

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zeigt sich ein bedauerliches Ergebnis: Die meisten der Argumente sind so fadenscheinig und sophistisch, daß man sich wundert, wie sie von Menschen, die auf Wissenschaftlichkeit Anspruch erheben, eingewandt werden konnten. Ja die Art der Behandlung, die dieses Problem der Ethik erfahren hat, würde ein vernichtendes Zeugnis für die Kräfte des menschlichen Verstandes abgeben, wenn nicht von vornherein klar wäre, daß hier weniger der Irrtum als ein Interesse im Spiel ist. Um diesem Zustand den Boden zu entziehen und damit den Weg zu objektiver Forschung überhaupt erst freizumachen, wollen wir hier die Grenzen der Philosophie überschreiten und die fraglichen Argumente näher betrachten, obwohl sie ihrerseits nur empirisch gegeben sind. Das erste Argument, auf das wir stoßen, besagt, daß man ja nicht wissen könne, ob Tiere wirklich Interessen besitzen. Zunächst können wir feststellen, daß dieser Einwand jedenfalls nicht hierher gehört, wo wir Tiere gerade definiert haben als Träger von Interessen, wenn auch als unvernünftige Wesen. Es bliebe nur die Frage, ob es solche Wesen gibt und ob wir sie als solche zu erkennen vermögen. Damit stehen wir bei einer Tatsachenfrage, einer Frage also, die im System der Ethik keine Antwort finden kann. Wir brauchen sie aber auch nicht zu entscheiden. Denn um den vorgebrachten Einwand zu entkräften, genügt der Hinweis, daß dieser Einwand nur Pflichten gegen Tiere, nicht aber solche gegen Menschen in Frage stellen will, womit er sich selber aufhebt. Ob nämlich ein Wesen in der Erfahrung vorkommt, das unter den Begriff des Menschen fällt, das läßt sich gewiß nicht leichter entscheiden, als daß es ein Wesen gibt, das Interessen besitzt; ja beim Menschen muß nicht weniger bewiesen werden als beim Tier, sondern noch mehr: es muß der Nachweis seiner Vernunft erbracht werden, ein Nachweis, der zuweilen auf große Schwierigkeiten führt. Wer sich auf die Frage einlassen will, ob ein in der Erfahrung vorkommendes Wesen eine Person ist, d. h. ein Träger von Interessen, der kann das in keinem Fall - ausgenommen

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bei der eigenen Person - unmittelbar durch Erfahrung ausmachen. Wenn wir bei irgend einem andern Wesen Interessen annehmen und also die Frage stellen, ob diese uns Pflichten auferlegen, so bedürfen wir hierzu eines Analogieschlusses. Wir schließen aus den körperlichen Äußerungen auf innere Vorgänge, wie wir sie bei uns selber in Verbindung mit solchen Äußerungen vorfinden. Ein solcher Analogieschluß kann, je nach dem vorliegenden Fall, mehr oder weniger schwierig sein, das ändert nichts daran, daß er entweder überhaupt unstatthaft ist oder aber konsequenter Weise überall angewandt werden müßte. Nach der Konsequenz des fraglichen Einwandes dürften wir daher auch den Menschen keine Rechte zuerkennen. Die Menschen wären ebenso rechtlos wie die Tiere. Um sich dieser Konsequenz zu entziehen, wendet man wohl ein, daß man Menschen gegenüber nicht auf vage Analogieschlüsse angewiesen sei, weil man hier über das Mittel der Sprache verfüge. Menschen könnten uns durch die Sprache über ihre Interessen Aufschluß geben. Dieser Einwand übertrifft in seinem sophistischen Charakter den vorigen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens liegt ein grober Zirkel vor. Wenn man die Sprache als ein Verständigungsmittel betrachtet, das uns Auskunft geben soll über die Interessen unserer Mitmenschen, so muß man ja schon voraussetzen, daß den Sprachzeichen überhaupt etwas Inneres entspricht, daß ein Innenleben vorhanden ist, das in diesen Zeichen seinen Ausdruck findet. Diese Voraussetzung ist nur möglich auf Grund desselben Analogieschlusses, von dem man meint, daß er beim Menschen entbehrlich sei. Sehen wir davon ab, so ist es zweitens gar nicht wahr, daß das Verständigungsmittel der Sprache uns unter allen Umständen in bezug auf die Kenntnis der Interessen unserer Mitmenschen an Sicherheit gewinnen läßt. Die Sprache beruht auf dem willkürlichen Gebrauch von Zeichen und kann daher ebenso leicht der Verstellung wie der aufrichtigen Mitteilung dienen. Es bleibt also dabei: Wollte man im Ernst das Verbot der Tierquälerei mit dem Argument angreifen, daß wir über die

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Interessen von Tieren nichts wüßten, so müßte man die Möglichkeit der Tierquälerei, aber auch die der Quälerei von Menschen behaupten. Denn Konsequenz ist das erste, was man von einem denkenden Menschen, insbesondere von einem Philosophen, verlangen kann. Ein anderer Versuch, das Recht der Tiere ad absurdum zu führen, läuft darauf hinaus, diesem Recht vermeintliche unsinnige Konsequenzen zuzuschreiben. Man beruft sich darauf, daß die Abgrenzung des Bereichs solcher Wesen, die unter den Begriff "Tier" fallen, und solcher, die nicht mehr unter den Begriff der Person fallen, unbestimmt sei und daß deshalb der Schluß auch auf die Welt der Pflanzen ausgedehnt werden müßte. Auch dieser Einwand ist hinfällig. Allerdings müssen wir es bei der Beschränktheit unserer Erkenntnis offen lassen, ob wir unter den uns vorkommenden Dingen die Grenze zwischen Tieren und Pflanzen immer mit Sicherheit zu ziehen vermögen. Aber ebenso müssen wir ehrlicher Weise unsere Unwissenheit eingestehen darüber, ob bestimmte, uns in der Erfahrung begegnende Wesen Menschen sind oder Tiere, eine Unwissenheit, die niemanden zu der Forderung verleiten wird, die Pflichten gegen Menschen auch auf die Tierwelt auszudehnen. Auch hier gilt also, daß, wer sich das fragliche Argument zu eigen macht, auf Grund desselben Arguments die Pflichten gegen Menschen preisgeben müßte; denn auch die Grenze zwischen Tieren und Menschen läßt sich nicht mit Sicherheit bestimmen. Ja eine solche Grenze zu ziehen ist aus dem schon angegebenen Grunde viel gewagter und viel schwieriger als in jenem Fall, da es sich dort nur um die Feststellung von Interessen handelt, hier aber darüber hinaus um die der Vernunft. Die Spiegelfechterei, die in diesem Argument zum Ausdruck kommt, zeigt sich in aller Deutlichkeit, sobald wir diese Schlußweise auf ein anderes Gebiet übertragen: Angenommen, wir hätten bewiesen, daß sämtliche Peripheriewinkel über dem Bogen eines Kreises gleich sind, und es fände jemand, daß es Figuren gibt, bei denen man nicht entscheiden kann, ob sie

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Kreise sind oder Ellipsen, so müßte man aus der Unbestimmtheit der Grenze zwischen Kreisen und Ellipsen schließen, daß der fragliche Satz, wenn er richtig wäre, auch für Ellipsen gelten müßte; da er aber für Ellipsen nicht gilt, so könnte er auch nicht für Kreise gelten. Aus jenem Argument läßt sich nur schließen, daß wir in gewissen Fällen damit zu rechnen haben, daß das uns vorliegende Wesen ein Träger von Interessen sein kann, und daß wir also die Möglichkeit der daraus erwachsenden Pflichten in Erwägung ziehen müssen. Aber der Bereich solcher uns möglicher Weise zukommenden Pflichten kann sich nicht weiter erstrecken als die Unsicherheit darüber, ob wir es noch mit einem Tier zu tun haben oder nicht. Er hört da auf, wo diese Unsicherheit nicht mehr besteht. Vielleicht wendet man hier ein, daß dies nicht genügt; denn man könne nicht wissen, ob nicht auch die Pflanzen Interessen hätten, ja ob nicht etwa ein Stein, auf den man trete, Interessen habe, womit denn nachgewiesen sein soll, daß mit der Behauptung der Interessen der Tiere zu viel bewiesen wäre. Nichts kann einfacher sein als die Beantwortung dieses Einwandes. Gewiß, man kann nicht mit Bestimmtheit beweisen, daß der Stein kein Interesse hat; aber daraus, daß wir etwas nicht wissen, zu schließen, daß wir etwas anderes wüßten, was wir ebenso wenig wissen, erscheint mehr als fragwürdig. Vielleicht hat der Stein ein Interesse daran, von mir getreten zu werden, oder der Kohlkopf ein solches, verzehrt zu werden. Daraus, daß wir nicht wissen, ob Interessen vorliegen, können wir nicht schließen, welche Interessen wir zu berück.sichtigen haben. Hiermit sind die Scheinbeweise gegen das Recht der Tiere nicht erschöpft. Man bedient sich des Verfahrens, dem Begriff des Interesses einen andern Begriff unterzuschieben. Hierfür gibt es keinen geeigneteren Begriff als den verschwommenen Begriff des Lebens. Das von mir aufgestellte Kriterium war der Begriff der Person und nicht der eines Lebewesens. Mag sich der Umkreis der Lebewesen über das Gebiet der Person hinaus

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erstrecken, so berührt das nicht die Frage, wie weit sich die Pflicht erstreckt. Behauptet z. B. jemand, daß aus dem Recht der Tiere auch ein solches der Mimose folge, weil auch sie auf Reize reagiert, so kann man die hier gemachte Voraussetzung zugeben, aber nicht die Konsequenz, wie sich schon daran zeigt, daß nach dieser Argumentation auch eine elektrische Klingel als Rechtssubjekt zu gelten hätte, weil sie nachweislich auf Reize reagiert. Das Kriterium für den Rechtsbegriff ist nicht der Begriff des Reagierens auf Reize, sondern der Begriff des Interesses. Daraus, daß die Klingel auf Reize reagiert, wird niemand schließen, daß sie Interessen habe. Halten wir uns an das Kriterium der Pflicht, so brauchen wir uns zur Entscheidung darüber, ob es ein Recht der Tiere gibt, nur die einfache Frage vorzulegen, ob, bei Abstraktion vom numerischen Unterschied, wir in die fraglichen Handlungen einwilligen können, mit anderen Worten: ob wir einwilligen würden, als bloßes Mittel für die Zwecke eines andern gebraucht zu werden, der uns an Kraft und Intelligenz weit überlegen ist. Diese Frage beantwortet sich selber. Es ist rein zufällig, daß der Mensch in der Lage ist, die seiner Willkür ausgesetzten Wesen als Mittel zu seinen Zwecken benutzen zu können. § 67.

Das Interesse des Tieres am Leben. Die bisher angestellten Dberlegungen sind geeignet, auf jedes Interesse eines Tieres angewandt zu werden. Nach ihnen läßt sich z. B. die Frage entscheiden, ob die schmerzlose Tötung von Tieren erlaubt sei. Die Antwort ergibt sich leicht, wenn wir nur die Frage stellen, ob wir, wenn wir selber schmerzlos getötet würden, darum in unsere Tötung einwilligen würden. Wir würden nicht einwilligen, weil unser Interesse am Leben durch die Tötung verletzt wird, mag die Tötung so schmerzlos oder so grausam sein, wie sie will. Das Interesse am Leben, das, wie wir sahen, bei der Aufstellung der Pflichten gegen uns selber so hoch bewertet zu

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werden pflegt - z. B. bei dem Verbot des Selbstmordes - , wird bei der Frage nach den Pflichten gegen Tiere völlig außer acht gelassen. Wer sich so weit versteigt, aus dem eigenen Interesse am Leben eine Pflicht gegen sich selber abzuleiten, der sollte wenigstens die Konsequenz aufbringen, das Interesse am Leben auch beim Behandelten als einen Grund zum Verbot des Tötens gelten zu lassen. Wer aber das Leben des Tieres so gering achtet, daß er z. B. die tierische Nahrung der pflanzlichen vorzieht, nur weil er sie für bekömmlicher hält, der sollte sich füglich fragen, warum er nicht auch Menschenfleisch ißt. Wenn er den Genuß von Tierfleisch allein aus hygienischen Gründen beibehält, diesen Gründen aber keine Berechtigung zumißt, wenn sie ihm die Probe auf die Bekömmlichkeit von Menschenfleisch nahelegen, dann steht er moralisch gewiß nicht über dem von ihm verachteten Kannibalen, der sich wenigstens seine Motive eingesteht. Nun darf man diese Nachweisung nid1.t dahin mißverstehen, als ob hier ein altruistisches Prinzip zu Gunsten der Tiere verfochten würde. Es handelt sich allein um das Gebot der Gerechtigkeit. Darum gibt es auch kein allgemeines, philosophisch begründbares Gebot, unser Interesse unter allen Umständen dem der Tiere hintanzusetzen. In jedem Fall einer Kollision zwischen unserem Interesse und dem eines Tieres müssen wir vielmehr nach gerechter Abwägung entscheiden, welches Interesse den Vorzug verdient. So kann es sehr wohl erlaubt sein, das Interesse eines Tieres zu verletzen, wenn sonst ein überwiegendes Interesse unsererseits verletzt würde. Aber hier ist auch sogleich die Grenze gesetzt, wie weit die Verletzung gehen darf. Die Erlaubnis läßt sich nur ableiten unter der Voraussetzung, daß wirklich eine Kollision vorliegt, was von Fall zu Fall bewiesen werden muß. Ist dieser Nachweis geführt, so fragt es sich ferner, auf welcher Seite das überwiegende Interesse liegt. Keinesfalls ist es zulässig, das Interesse des Tieres ohne weiteres als minderwertig anzusehen und es daraufhin zu verletzen. Das gilt folgerichtig auch für den Fall, daß es nicht möglich ist, das Interesse am eigenen Leben

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oder an der Erhaltung der eigenen geistigen oder körperlichen Kräfte anders zu wahren als durch die Vernichtung eines Tierlebens. Auch hier entsteht die Frage der Abwägung. Denn warum sollte gerade das Leben des Tieres gefordert werden? Um das allgemein zu billigen, müßte man schon wissen, daß a 11 e mal das Interesse am Leben des Menschen vorzugswürdig und also das Interesse des Tieres hintanzusetzen sei. Ob sich diese Bedingung als erfüllt erweist, das ist eine Frage, die erst noch der Untersuchung bedarf. Wenn sie bejaht werden soll, so müßte sich das auf einen Umstand zurückführen lassen, der eben darin liegt, daß das eine Wesen ein Mensch und das andere ein Tier ist. Diesen Umstand können wir nur in der Eigenschaft des Menschen suchen, durch die er sich vom Tier unterscheidet, d. h. in seiner Vernunft. Es ist also die Frage, ob sich auf diese Eigenschaft der Anspruch gründen läßt, daß im Kollisionsfall unter allen Umständen das Leben des Menschen dem des Tieres vorgezogen werden darf. Wir prüfen auch diese Annahme durch Betrachtung ihrer Konsequenzen. Wenn man das auszeichnende Merkmal des Menschen in der voll entfalteten Vernunft sieht, dann ist es offenbar, daß man Kinder und Schwachsinnige den Tieren gleichstellen, ihr Leben und ihre Interessen also dem Leben anderer Menschen gegenüber preisgeben müßte. Man wird vom Standpunkt der hier untersuchten Annahme aus zu Gunsten der Kinder nicht einwenden können, daß später auftretende Interessen verletzt würden; denn es ist ja gerade die Eigenschaft des Tötens, das Auftreten späterer Interessen zu verhindern. Anders verhält es sich freilich, wenn man meint, daß das wahre Interesse der Kinder einen Grund abgeben könnte, ihr Leben höher einzuschätzen als das der Tiere. Denn ihr wahres Interesse richtet sich darauf, die noch unentwickelte Anlage der Vernunft zur Entfaltung gelangen zu lassen. In der Tat: Der Mensch hat einen Anspruch darauf, daß bei einer Interessenabwägung sein wahres Interesse in Rücksicht gezogen wird. Es fragt sich nur, wie weit die Rechte reichen, die ihm aus diesem Anspruch erwachsen. Sie erstrecken sich gewiß nicht auf solche

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Fälle, in denen es sich lediglich um die Abwägung sinnlicher, Mensch und Tier gemeinsamer Interessen handelt. Hier drängt sich vielmehr gerade der entgegengesetzte Schluß auf: Für den Menschen haben die sinnlichen Interessen, sofern er jedenfalls zum Bewußtsein um sein wahres Interesse erwacht ist, im Ganzen seines Lebens eine geringere Bedeutung als für das Tier. Je stärker sich in einem Menschen die vernünftigen Interessen melden, desto mehr tritt sein Streben nach bloßem Sinnengenuß zurück. Damit ändert sich zugleich seine Bewertung des eigenen unmittelbaren Interesses am Leben; denn auch dieses gehört den nur sinnlichen Interessen an, die Menschen und Tieren gemeinsam sind. Der Mensch kann sein Leben um seiner höheren Interessen willen hergeben. Dies ist den Tieren unmöglich, und das fällt hier zu ihren Gunsten in die Wagschale. Mit dieser Uberlegung ist zugleich der Einwand beantwortet, daß der Mensch als das höher organisierte Wesen stärkere Interessen und insofern auch ein stärkeres sinnliches Interesse am Leben habe als das Tier und daß darum sein Interesse im Kollisionsfall allemal den Vorzug verdiene. Die hier benutzte Voraussetzung, wonach die Stärke sinnlicher Interessen mit der Höherentwicklung der Organismen notwendig wächst, ist nach dem Vorigen keineswegs selbstverständlich, ja sie entspricht nicht einmal den Tatsachen der Erfahrung: Mit der höheren Entwicklung eines Wesens treten in vielen Fällen sinnliche Interessen zurück, da die Aufmerksamkeit von ihnen ab und auf andere Interessen hingelenkt wird. Wir sind also in jedem Fall einer Kollision zwischen dem Lebensinteresse eines Menschen und dem eines Tieres auf eine Abwägung der vorliegenden Interessen angewiesen, um zu entscheiden, welches von ihnen vorzugswürdig ist. Allerdings: Das Interesse des Menschen am Leben beruht nicht nur auf sinnlichen Interessen. Denn um ein vernünftiges Leben führen zu können, muß der Mensch zunächst überhaupt leben. Wer aber daraus für sich das Recht ableiten will, das eigene Leben unter allen Umständen dem widerstreitenden In-

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teresse eines Tieres vorzuziehen, unabhängig also von der Abwägung der jeweils vorliegenden Interessen, der soll bedenken, wie weit die Konsequenzen eines solchen Standpunktes reichen. Sie verlangen von ihm, daß er auch den eigenen Interessen gegenüber Ernst macht mit der Uberordnung der vernünftigen über die sinnlichen Interessen, und bringen also für ihn den Verlust jedes Rechts mit sich, um sinnlicher Interessen willen ein wahres Interesse zu verletzen. Damit entfällt für ihn der Anspruch auf Achtung aller Interessen, die sich nicht dem Interesse an der Vernünftigkeit des Lebens unterordnen. Wieviele Menschen könnten diese Konsequenz ohne innere Unaufrichtigkeit auf sich nehmen? Die Vernünftigkeit eines Wesens hat endlich die Eigenschaft an sich, daß aus ihr nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten erwachsen. Wenn ein Mensch sich aber seiner Pflicht entzieht, steht er gewiß nicht höher als das Tier, das ja der Begehung eines Unrechts gar nicht fähig ist. Wer dies ehrlich in Erwägung zieht, wird Bedenken haben, die Verletzung der Interessen eines Tieres allein durch die Berufung auf die Vernünftigkeit des eigenen Lebens zu rechtfertigen.

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8. Kapitel.

Pflichten gegen andere Menschen. § 68.

Der Begriff der Vernunft. Wenn nach dem Vorhergehenden vernünftige und unvernünftige Wesen auch den gleichen Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Interessen haben, so folgt daraus doch nicht, daß die Pflichten den einen und den andern gegenüber gleich sind. Wer so schließt, würde den formalen Charakter des Sittengesetzes verkennen. Welche Pflichten im einzelnen Fall auftreten, das hängt von den vorliegenden Interessen ab; es ist daher sehr wohl möglich, daß sich ein Unterschied zwischen den Pflichten gegen vernünftige und solchen gegen unvernünftige Wesen feststellen läßt. Nun können wir in der philosophischen Pflichtenlehre allerdings nicht auf die tatsächlichen Unterschiede zwischen Tieren und Menschen eingehen, wie sie uns aus der Erfahrung bekannt sind. Es bleibt aber die Frage, ob sich nicht aus dem bloßen Umstand der Vernünftigkeit eines Wesens ihm gegenüber besondere Pflichten ableiten lassen. Mit anderen Worten, es gilt zu untersuchen, welche Folgen für unsere Pflichten gegen Menschen allein aus dem Umstand hervorgehen, daß diese vernünftige Wesen sind. Alle anderen, nur empirisch erkennbaren Eigenschaften dieser Wesen lassen wir hier beiseite. Vernunft ist das Vermögen der Erkenntnis von Gesetzen und, als Eigenschaft eines handelnden Wesens, das Vermögen, sich gemäß der Erkenntnis von Gesetzen zum Handeln bestimmen zu lassen. Diese Gesetze können einerseits Naturgesetze, andererseits Sittengesetze sein. Die Erkenntnis der Naturgesetze ermöglicht es uns, die Folgen des eigenen Verhaltens vorauszubestimmen und also, gemäß der Einsicht in die Bedingungen der von uns erstrebten Interessenbefriedigung, diejenigen Mittel zu ergreifen, durch die wir insgesamt eine möglichst große Be-

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friedigung unserer Interessen herbeiführen können. Ein solches Handeln heißt zweckmäßiges Handeln. Zweck ist nichts anderes als der Erfolg der Handlung, sofern die Vorstellung dieses Erfolgs uns zum Handeln bestimmt. Ein vernünftiges Wesen besitzt also als solches das Vermögen, zweckmäßig zu handeln. Es vermag sich in seinen Entschlüssen von den triebhaft wirkenden Antrieben zu lösen und gemäß der Vorstellung des Erfolgs der einen oder der andern Handlungsweise seinen Entschluß zu modifizieren, indem es auf Grund einer Abwägung der voraussichtlichen Wirkungen dieser Handlungen diejenige Handlungsweise wählt, die insgesamt ein Maximum an Interessenbefriedigung zur Folge hat. Das vernünftige Wesen kann sich also in der Natur durch zweckmäßiges Handeln eine möglichst große Interessenbefriedigung sichern. Sofern es überhaupt Interessen besitzt, hat es aber ein Interesse daran, zu einer möglichst großen Interessenbefriedigung zu gelangen, und damit mittelbar auch ein Interesse an der Möglichkeit zweckmäßigen Handelns. Dieses Interesse an der Möglichkeit zweckmäßigen Handelns, von dem wir im folgenden ausgehen müssen, leitet sich ab ohne eine Voraussetzung über den Inhalt der Interessen vernünftiger Wesen. Zu seiner Ableitung genügt vielmehr die Annahme der Vernünftigkeit des Wesens, das Interessen hat. Nun ist klar, daß die Möglichkeit, zweckmäßig zu handeln, von der Ausschließung der Unbestimmtheit des Erfolgs abhängt. Denn nur durch die Bestimmbarkeit des Erfolgs unserer Handlung ist überhaupt zweckmäßiges Handeln möglich. Betrachten wir hiernach den Fall, der uns jetzt interessiert, nämlich den Fall, daß wir durch unser Handeln in Wechselwirkung mit Menschen kommen. Sofern der Erfolg unseres Handelns von der Willkür anderer Menschen nicht unabhängig ist, bietet diese Willkür den Grund der Möglichkeit einer Unbestimmtheit des Erfolgs. Zweckmäßiges Handeln ist nur möglich unter Ausschließung der durch diese Willkür bedingten Unbestimmtheit des Erfolgs.

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Eine solche Unbestimmtheit ist nun in zweifacher Hinsicht möglich, einerseits in praktischer Hinsicht und andererseits in theoretischer Hinsicht. Betrachten wir zunächst nur den ersten Fall! § 69.

Die Pflicht der Verträglichkeit. Eine praktische Unbestimmtheit liegt vor in den Fällen, in denen das Sittengesetz nicht eindeutig vorschreibt, was geschehen soll, sondern einen Spielraum des freien Beliebens läßt, wie Menschen einander behandeln sollen. Es gibt in der Tat eine solche praktische Unbestimmtheit. Denn auch im Kollisionsfall, auf den das Sittengesetz sich ja allein bezieht, schreibt es nicht allemal eindeutig eine bestimmte Handlung vor, sondern es verlangt nur, daß die Kollision so ausgeglichen wird, daß keiner der Beteiligten sein eigenes Interesse vorzieht, es sei denn, daß es das überwiegende ist. Das Sittengesetz schließt nur die Bevorzugung des eigenen, nicht überwiegenden Interesses aus, läßt aber im übrigen den Handelnden Freiheit, zu wählen. Jeder Mensch hat ein Interesse daran, auf die Befriedigung solcher Interessen zu verzichten, deren Befriedigung für ihn insgesamt einen Verlust an Interessenbefriedigung zur Folge hat. Das Sittengesetz verbfetet uns nicht, dem andern das Recht einzuräumen, eines unserer an sich berechtigten Interessen zu verletzen; wir haben unter Umständen ein Interesse an einer solchen Einwilligung, dann nämlich, wenn für uns damit der Gewinn verbunden ist, daß ein anderes, größeres Interesse unsererseits befriedigt wird, das wir sonst nicht befriedigen könnten. Wir können und dürfen also unsere Rechtssphären gegenseitig willkürlich abgrenzen - es sei denn, daß wir dabei aus einem praktischen Irrtum des Behandelten Vorteile ziehen. Wir sind durch das Sittengesetz nicht nur dazu befugt, sondern wir haben auch ein Interesse daran, um nämlich insgesamt zu einem Maximum an Interessenbefriedigung zu gelangen. Dieses Inter-

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esse zu achten, ist Pflicht. Sofern ihm al-so kein überwiegendes Interesse entgegensteht, verlangt das Sittengesetz die Bereitschaft, diesem Interesse des Behandelten Rechnung zu tragen und auf eine willkürliche Begrenzung der Rechtssphären einzugehen. Man nennt die gegenseitige Begrenzung der Rechtssphäre, sofern sie auf willkürlicher Entscheidung beruht, eine Ubereinkunft und, sofern sie durch ausdrück.liehe Willenseinigung der Beteiligten erfolgt, einen Vertrag. Ich nenne daher die Pflicht der Bereitschaft, auf eine Ubereinkunft einzugehen, die P f 1 i c h t d e r V e r t r ä g 1 i c h k e i t. Diese Pflicht der Verträglichkeit unterscheidet sich von der Pflicht, die ich die der Fr i e d fertig k e i t nenne. Friedfertigkeit ist die Bereitschaft, auf eine gewaltsame Ausgleichung von Interessenkonflikten zu verzichten, und also Nachgiebigkeit zu Gunsten berechtigter fremder Interessen. Diese Pflicht läßt sich ableiten allein aus dem Satz, daß unsere Pflichten durch Rechte bestimmt sind, ohne Rücksicht darauf, daß Gerechtigkeit den Inhalt des Sittengesetzes ausmacht. Die Pflicht der Verträglichkeit geht sehr viel weiter. Mit ihrer Aufstellung wird für eine bestimmte Lage eine Entscheidung über den Inhalt des Gesetzes getroffen: Menschen sollen, wenn sie in Wechselwirkung kommen, bereit sein, eine Ubereinkunft zu treffen, durch die sie ihre Rechtssphären willkürlich begrenzen. Es läßt sich recht wohl ein Sittengesetz denken, mit dem die Pflicht der Verträglichkeit unvereinbar wäre. Von dieser Art wäre jedes Sittengesetz, das in eindeutiger Weise für jeden bestimmten Fall vorschreibt, was getan werden soll, oder doch wenigstens für die Fälle, die wir hier allein betrachten, nämlich für die Fälle der gegenseitigen Behandlung vernünftiger Wesen. Ein solches Sittengesetz würde keinen Spielraum für eine Ubereinkunft lassen, für eine willkürliche Modifikation der Rechtssphäre des einen und der des andern. Es würde ja vielmehr selber unmittelbar unter Ausschließung aller Willkür diese gegenseitige Begrenzung der Rechtssphären darstellen, so daß sich aus ihm nicht nur keine Pflicht, sondern

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auch gar kein Recht zur Abschließung einer Ubereinkunft ableiten ließe. Jede solche Ubereinkunft wäre als eine willkürliche Modifikation der durch das Sittengesetz bestimmten Begrenzung der Rechtssphären unmittelbar verboten. Die Pflicht der Verträglichkeit kann daher auch nur vorschreiben, daß eine Ubereinkunft stattfinden soll, nicht aber, w e l c h e n Inhalt sie haben soll. Den Inhalt der Ubereinkunft überläßt sie der Willkür. Diese Willkürlichkeit macht gerade den Sinn einer Ubereinkunft aus. Wollten wir ihren Inhalt der Willkür entzogen denken, so würde das heißen, das Recht der Ubereinkunft selber aufzuheben. Der Begriff einer Ubereinkunft, deren Inhalt rechtlich notwendig wäre, widerspricht sich selber. Andererseits aber: Da wir die Pflicht der Verträglichkeit aus der Pflicht der Gerechtigkeit abgeleitet haben, ist es selbstverständlich, daß durch die Gerechtigkeit zugleich eine Grenze bezeichnet ist für den Spielraum möglicher Ubereinkünfte. Der Inhalt der Ubereinkunft ist willkürlich, aber er ist es nur innerhalb der Grenzen der Gerechtigkeit. Es kann daher niemals aus Ubereinkünften ein Recht hervorgehen, durch das die Gerechtigkeit verletzt wird, sei es, daß diese Verletzung das Recht Dritter, sei es, daß sie das Recht eines der Beteiligten betrifft. Es gibt in der Tat eine Grenze für das Recht der Ubereinkunft, auch wenn wir nur das Recht der Beteiligten in Betracht ziehen. Denn die Pflicht der Gerechtigkeit, aus der wir die Pflicht der Verträglichkeit erst ableiten, kann nur die Pflicht mit sich bringen, auf eine solche Ubereinkunft einzugehen, die nicht eine größere Interessenverletzung mit sich bringt, als dem Beteiligten ohne sie erwachsen würde. Für die Rechtlichkeit einer Ubereinkunft ist denn auch die wirkliche Einwilligung der an ihr Beteiligten nicht immer hinreichend. Denn die Möglichkeit des praktischen Irrtums, d. h. der Nichtübereinstimmung des faktischen mit dem wahren Interesse bedingt, wie wir bereits sahen, die Möglichkeit unveräußerlicher Rechte, d. h. solcher Rechte, auf die durch keine Ubereinkunft verzichtet werden kann. Eine auf faktischer Ein-

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willigung der Beteiligten beruhende Ubereinkunft ist daher dennoch widerrechtlich, wenn durch sie das überwiegende wahre Interesse des einen von dem andern verletzt wird. Wohl bemerkt, sie ist widerrechtlich. von seiten des Verletzenden, nicht von seiten des Verletzten. Denn es gibt keine Pflicht, ein unveräußerliches Recht nicht zu veräußern. § 70.

Die Pflicht der Zuverlässigkeit. Wie sich aus der Möglichkeit einer praktischen Unbestimmtheit des Erfolgs die Pflicht der Verträglichkeit ergibt, so läßt sich aus der Möglichkeit einer theoretischen Unbestimmtheit des Erfolgs gleichfalls eine Pflicht gegen Menschen ableiten. Eine theoretische Unbestimmtheit des Erfolgs ist eine solche, die nicht das betrifft, was geschehen soll, sondern das, was wirklich geschieht. Sie kann stattfinden, wenn vernünftige Wesen mit einander in W ech.selwirkung treten, d. h. wenn sie in Verkehr kommen. Denn dadurch werden die einen hinsichtlich des Erfolgs ihrer Handlungen von den andern abhängig, und sofern sie deren willkürliche Entscheidungen nicht kennen, ist ihnen damit die Möglichkeit zweckmäßigen Handelns beschränkt. Um zweckmäßig handeln zu können, sind sie also daran interessiert, das Verhalten aller derjenigen Menschen, mit denen sie in Wechselwirkung treten, voraussehen zu können. Hier lassen sich nun zwei Fälle unterscheiden, je nachdem, ob die Entscheidungen, durch die andere auf den Erfolg unseres Handelns einwirken, der freien Wahl überlassen sind, oder ob das Sittengesetz Anforderungen für sie geltend macht. Betrachten wir zunächst den ersten Fall. Die Unbestimmtheit, mit der wir es hier zu tun haben, ergibt sich für den Einzelnen daraus, daß er durch die Einwirkung der andern auf seine Interessen von ihnen abhängig wird, und zwar in solchen Fällen, in denen das Sittengesetz keine eindeutige Entscheidung vorschreibt. Wie kann diese Unbestimmtheit

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aufgehoben werden? Sofern die Absichten eines vernünftigen Wesens für die andern nicht unmittelbar erkennbar sind, bedarf es einer Vermittlung durch äußere Zeichen, um diese Absichten den andern zu erkennen zu geben. Die Möglichkeit für vernünftige Wesen, gegenseitig von ihrem Inneren Kunde zu haben, beruht daher auf der Bezeichnung der Gedanken, d. h. auf einer eindeutigen Zuordnung der Gedanken zu bestimmten äußeren Zeichen, oder kurz: auf der Sprache. Denn Sprache ist nichts anderes als der Gebrauch äußerer Zeichen, sofern ihnen Gedanken eindeutig zugeordnet sind. Die Wirklichkeit, die wir erforschen müssen, um zweckmäßig zu handeln, umfaßt hiernach auch dasjenige, was andere vernünftige Wesen uns durch die Sprache als wirklich zu erkennen geben, und darum haben wir als vernünftige Wesen ein Interesse daran, mit den sprachlichen Mitteilungen anderer vernünftiger Wesen wie mit der Wirklichkeit selber rechnen zu können. Sofern diesem Interesse kein überwiegendes anderes entgegensteht, ergibt sich daraus die Pflicht für vernünftige Wesen, einander ihre Gedanken nur so mitzuteilen, daß sie mit dem Mitgeteilten wie mit der Wirklichkeit selber rechnen können, kurz: daß sie sich hinsichtlich ihrer Gedankenmitteilung auf einander verlassen können. Diese Pflicht nenne ich die P fl i c h t der Zu v e r 1 ä s s i g k e i t. Wer diese Pflicht verletzt, der tut, soviel an ihm ist, den andern die Möglichkeit zu rauben, als vernünftige Wesen zu leben, d. h. zweckmäßig zu handeln. Und wie wir mit einem Naturgesetz nur rechnen können, sofern wir seine Allgemeingültigkeit voraussetzen, so wird durch einen solchen Akt der Unzuverlässigkeit in Wahrheit die Möglichkeit aufgehoben, sich auf den, der ihn begeht, fernerhin zu verlassen. Es wird daher nicht nur das Interesse der Person verletzt, der gegenüber die Unzuverlässigkeit gerade begangen wird, sondern die Handlung enthält eine Interessenverletzung sämtlicher Mitglieder der Gesellschaft, die der gleichkommt, als ob der Handelnde von da ab überhaupt nur noch andere täuscht. Denn niemand kann auf seine Zuverlässigkeit bauen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Handelnde ein ihm tat sä c h 1 ich

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entgegengebrachtes Vertrauen täuscht. In der Tat: Nur wenn er Vertrauen findet, kann er Vertrauen täuschen. Aber derjenige, dem man kein Vertrauen schenken kann, ist darum nicht weniger zur Zuverlässigkeit verpflichtet. Es ist seine Pflicht, so zu handeln, daß wir Grund haben, ihm zu vertrauen, und sich also vertrauenswürdig zu verhalten. Denn es hängt ja nicht etwa von dem Belieben der andern Mitglieder der Gesellschaft ab, ob sie sich auf ihn verlassen wollen, sondern sie sind, um ihrerseits als vernünftige Wesen handeln zu können, auf das Vertrauen in seine Zuverlässigkeit angewiesen. Und dieser Umstand begründet die Pflicht der Zuverlässigkeit. Wie steht es nun in dem Fall, in dem die Entscheidungen, durch die Menschen auf einander einwirken, sittlichen Anforderungen unterstehen? In diesem Fall kann dem Sittengesetz nicht schon dadurch Genüge geschehen, daß die Betreffenden sich gegenseitig in zuverlässiger Weise von ihren Absichten unterrichten, es kommt vielmehr darauf an, daß diese Absichten den Anforderungen des Sittengesetzes entsprechen. Der Anspruch, mit der Zuverlässigkeit der Mitglieder der Gesellschaft rechnen zu können, wird hier also zu dem Anspruch, sich auf ihre Rechtlichkeit verlassen zu können, und die Pflicht der Zuverlässigkeit geht damit für diesen Fall über in die Pflicht, so zu handeln, als ob die Rechtlichkeit des Handelns durch ein Naturgesetz verbürgt wäre. Ich nenne diese Pflicht die de r s i t t liehen Zuverlässigkeit. § 71.

Die Pflicht der Wahrhaftigkeit. Die Ableitung der Pflicht der Wahrhaftigkeit aus der der Zuverlässigkeit und damit ihre Zurückführung auf die Pflicht der Gerechtigkeit gibt uns den einzig richtigen Gesichtspunkt zur Beurteilung der Frage, wie weit eine Pflicht der Wahrhaftigkeit besteht, und befreit uns damit zugleich von dem Ubelstand der Zulassung von Ausnahmen. Auf Grund dieser Ableitung erhält die Pflicht der Wahr-

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haftigkeit überhaupt nur in dem Umfang Geltung, in dem ihre scheinbaren Ausnahmen von selber wegfallen, ein Umstand, der uns die Wichtigkeit dieser Methode der Ableitung bestätigt. Wir stehen hier bei der alten Frage nach dem Verbot der Lüge. Hier ist es zunächst entscheidend, den Sprachgebrauch zweckmäßig zu wählen. Versteht man unter Lüge eine unwahre Aussage, die verboten ist, so ist das Verbot der Lüge trivial. Wenn also die Frage nach dem Verbot der Lüge auftaucht, so müssen wir unter Lüge eine unwahre Aussage schlechthin verstehen, ohne alle Voraussetzung darüber, ob sie verboten ist oder nicht. Ob die mit der Lüge verbundene Verletzung des Interesses des Belogenen ein Unrecht ausmacht oder nicht, läßt sich offenbar nur von Fall zu Fall entscheiden auf Grund einer Abwägung der dabei in Frage kommenden Interessen. Wenigstens würde, wenn mit Rücksicht auf das unmittelbar verletzte Interesse ein allgemeines Verbot der Lüge aufgestellt werden sollte, dies die Auszeichnung eines Interesses an der Wahrheit erfordern, dessen Vorzugswürdigkeit a priori behauptet werden müßte. Die Frage nach der Existenz eines solchen Interesses können wir hier nicht beantworten; wir müssen sie der Ideallehre vorbehalten. Wollen wir hier in der Pflichtenlehre ohne Rücksicht auf ein mögliches Ideal der Wahrheitsliebe eine Pflicht der äußeren Wahrhaftigkeit, d. h. ein allgemeines Verbot der Lüge ableiten, so kann dies nur mit Rücksicht auf die Vernünftigkeit der behandelten Personen geschehen. Eine solche Ableitung ist in der Tat möglich: Das Gebot der äußeren Wahrhaftigkeit oder das Verbot der Lüge ist eine unmittelbare Folge des Gebots der Zuverlässigkeit. Zuverlässigkeit als die mit der Stärke eines Naturgesetzes geltende Ubereinstimmung unserer Aussage mit der Wirklichkeit umfaßt zwei Fälle. Es kann von unserem Willen abhängen, entweder eine Aussage in Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit zu bringen oder die Wirklichkeit in Ubereinstimmung mit der Aussage zu bringen. Der erste Fall der Zuverlässigkeit, unsere Aussagen in Ubereinstimmung mit der Wirklichkeit zu

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bringen, ist die Pflicht der Wahrhaftigkeit. Der zweite, die Wirklichkeit mit unserer Aussage übereinstimmend zu machen, ist die Pflicht der Treue. Wahrhaftigkeit ist Aufrichtigkeit in der Gedankenmitteilung, d. h. Obereinstimmung unserer Aussage mit dem von uns als wahr Erkannten. Nennen wir eine unwahre Aussage eine Lüge, so ist nach dem Gesagten klar, daß eine Lüge nur dann gegen die Pflicht der Wahrhaftigkeit verstoßen kann, wenn erstens wissentlich die Unwahrheit gesagt wird, und wenn darüber hinaus ein anderer absichtlich getäuscht wird, d. h. wenn absichtlich in ihm eine falsche, mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmende Vorstellung erweckt wird. Was zunächst das erste betrifft, so ist ohne weiteres klar, daß eine Aussage, die irriger Weise unwahr ist, nicht unter das Verbot der Lüge fällt. Denn durch eine solche Aussage verstößt man nicht gegen die Zuverlässigkeit. Zweitens: Wo nicht die Absicht vorliegt, in einem andern eine mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmende Vorstellung zu erwecken, da liegt auch kein Verstoß gegen das Verbot der Lüge vor. Das Laster, das in der Lüge zum Ausdruck kommen kann, bezeichnen wir treffend mit dem Wort „Falschheit". Um diesen Begriff anzuwenden und also zu beurteilen, ob ein Verstoß gegen das abgeleitete Verbot der Lüge vorliegt, ist daher erforderlich, den Sinn der fraglichen Aussage zu kennen. Eine Aussage, d. h. der Gebrauch eines Zeichens, hat einen Sinn überhaupt nur insofern, als diesem Zeichen ein Gedanke eindeutig zugeordnet ist. Der Sinn einer und derselben Aussage kann allerdings wechseln; derselbe Ausdruck kann je nach den Umständen den einen oder den andern Gedanken bezeichnen. Eine Aussage ist daher nur dann als Lüge zu betrachten, wenn sie unwahrhaftig ist mit Rücksicht auf die bestimmten Umstände, von denen ihr Sinn abhängt. So hat z. B. eine höfliche Redensart, die unter anderen Umständen der Ausdruck einer persönlichen Hochschätzung wäre, diese Bedeutung nicht, wenn sie nach den konventionellen Re-

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geln der Schicklichkeit, in der Anrede bei einem Brief etwa, gebraucht wird. Ja ihre Unterlassung wäre, falls nicht besondere Gründe hinzukommen, eine durch nichts gerechtfertigte Grobheit. Ebenso fällt es nicht unter das Verbot der Lüge, wenn jemand aus Spaß eine unwahre Aussage macht, vorausgesetzt freilich, daß der Redende weiß, daß der andere Spaß versteht. Anderenfalls würde er diesen absichtlich täuschen. Hierher gehört auch der Fall, daß man von dem Redenden nicht die Mitteilung seiner eigenen Uberzeugung erwartet, wie z. B. von dem Richter, der sich in der Ausübung seines Amtes des persönlichen Urteils über Schuld oder Unschuld des Angeklagten enthalten soll. Wenn er über den fraglichen Fall nach der eigenen moralischen Uberzeugung urteilte, so wäre dies nicht eine Erfüllung des Gebots der Wahrhaftigkeit, sondern eine Lüge; denn er würde die berechtigte Erwartung, daß er nach dem Gesetz urteilt, täuschen. Eine absichtliche Täuschung kann ferner auch vorliegen, wenn gar keine Aussage gemacht wird, in dem Fall nämlich, daß Schweigen einer Aussage gleichkommt. Die Umstände können es mit sich bringen, daß die bloße Unterlassung einer Aussage zum Zeichen für einen Gedanken wird. In diesem Fall ist das Schweigen zu beurteilen wie eine Aussage. Endlich müssen wir bedenken, daß unwahre Aussagen gegenüber einem Unzurechnungsfähigen nicht unter das abgeleitete Verbot der Lüge fallen. Denn ein Mensch, der sich im Zustand der Unzurechnungsfähigkeit befindet, hat insofern als unvernünftiges Wesen zu gelten; er kann in diesem Zustand nicht zweckmäßig handeln und hat infolgedessen kein Interesse daran, daß andere die Bedingung der Möglichkeit zweckmäßigen Handelns ihm gegenüber erfüllen. Die Pflicht der Zuverlässigkeit wird also durch eine unwahre Aussage ihm gegenüber nicht verletzt. Es bleibt vielmehr von Fall zu Fall abzuwägen, ob ein bestimmtes Interesse vorliegt oder nicht, durch dessen Berücksichtigung die Lüge erlaubt oder vielleicht gar geboten sein könnte.

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Ebenso klar ist aber zugleich, daß die Lüge auf seiten dessen, der sie begeht, eine zurechenbare Handlung darstellen muß, um unter das Verbot der Lüge zu fallen. Eine erzwungene Aussage kann nicht unter dieses Verbot fallen; denn durch sie wird niemand absichtlich getäuscht. Nun kann aber Zwang auch bei Zurechnungsfähigkeit vorliegen, z. B. psychischer Zwang seitens eines zudringlichen Fragers, der mich in die Unfreiheit versetzt, durch bloße Verweigerung der Antwort meine Gedanken zu verraten. Soweit ich überhaupt ein Recht besitze, meine Gedanken für mich zu behalten, hat der Fragende es sich selber zuzuschreiben, wenn ich, um mein Recht zu wahren, ihn belüge; denn er hat mich der Wahl beraubt, ob ich mich äußern oder meine Gedanken für mich behalten will. Dieser Erwägung liegt ein weitergehendes Argument zu Grunde. Die Pflicht der Wahrhaftigkeit entspringt aus dem Rechtsanspruch jedes vernünftigen Wesens, sich auf die Zuverlässigkeit der andern verlassen zu können. Für diesen Rechtsanspruch gilt, was nach den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit für jeden Rechtsanspruch gilt, daß der Berechtigte dieses Anspruchs verlustig gehen kann. Dieser Fall tritt ein, wenn der Zweck, um dessentwillen jemand die Wahrheit erfahren möchte, ein widerrechtlicher Zweck ist. Es gibt ein Recht der Notwehr gegenüber widerrechtlichen Interessen. Der vorauszusehende widerrechtliche Mißbrauch der Wahrheit rechtfertigt daher die Lüge. Der Rechtsanspruch kann ferner durch freiwilligen Verzicht seitens des Berechtigten aufgehoben werden, vorausgesetzt, daß dieser Verzicht nicht auf einem praktischen Irrtum beruht. Hier könnte der Einwand erhoben werden, daß ein solcher Fall unmöglich sei; denn man könne nur einwilligen, belogen zu werden, wenn man schon wisse, daß die Aussage eine Lüge ist. Wenn man dies wisse, so werde man aber nicht mehr belogen. Nun läßt sich aber ein Interesse denken, das einem Menschen höher steht als die Wahrheit, ja an dessen Befriedigung ihm mehr gelegen ist als an der jedes andern, das durch eine Lüge verletzt wird. Es kann z. B. einem eitlen Menschen

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daran gelegen sein, Schmeicheleien zu hören, ohne Rücksicht darauf, ob diese aufridltig gemeint sind oder nicht. Oder es kann ein Kranker einen Arzt rufen, um von diesem geheilt zu werden. Sollte die Befriedigung dieses Interesses nur möglich sein durch eine Lüge seitens des Arztes, so wird der Kranke nachträglich einwilligen, belogen worden zu sein, und es würde keine Unzuverlässigkeit von seiten des Lügners vorliegen. Kann eine solche Einwilligung nicht vorausgesetzt werden oder beruht sie nur auf einem praktischen Irrtum, so fällt die Erlaubnis, zu lügen, allerdings weg. Wenn etwa der Kranke den Arzt über seinen Gesundheitszustand befragt, um je nach dessen Urteil eine letztwillige Verfügung zu treffen, die ihm wichtiger ist als seine Gesundung, so würde eine Lüge von seiten des Arztes auch durch den Zweck der Heilung nicht beredltigt sein. Der Arzt würde vielmehr, wenn er um der bloßen Heilung willen den Kranken belügt, ihn auf die schlimmste Weise beleidigen. Er würde ihn wie ein unvernünftiges Wesen behandeln; denn er würde ihn, der noch zweckmäßig handeln kann und will, der Möglidlkeit dazu berauben. Dieses Beispiel führt uns unmittelbar zu einer weiteren Konsequenz. Es zeigt nämlich, daß nicht nur der Fall eintreten kann, daß wir der Pflicht der Wahrhaftigkeit enthoben werden, sondern audl der Fall, daß sogar die Pflicht einer Unwahrhaftigkeit entsteht, also die Pflicht, zu lügen. Diese Pflicht kann sich, wie sich von selber versteht, nur ergeben aus der Pflicht der Gerechtigkeit. Es kann der Fall eintreten, daß wir uns durch Mitteilung der Wahrheit eines widerrechtlichen Mißbrauchs der Wahrheit, den der andere begeht, mitschuldig machen; sofern wir nämlich diesen Mißbrauch voraussehen können, nehmen wir ihn als beabsidltigten Erfolg mit in unsere Tat auf. Die Pflicht, uns an diesem Unrecht nicht mitschuldig zu machen, kann dann die Pflicht der Lüge begründen. Können wir nur durch die Lüge die Ausführung eines Verbrechens verhindern, so wird es im allgemeinen nicht nur erlaubt sein, zu lügen, sondern die Lüge wird für uns zur Pflicht werden. Die Pflicht der Wahrhaftigkeit kann so wenig wie irgend eine andere

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Pflicht so weit gehen, daß wir um ihretwillen die Pflicht der Gerechtigkeit verletzen dürfen, aus der sie sich ja wie alle andern Pflichten mittelbar ableitet. § 72.

Die Pflicht der Treue. Wenn Zuverlässigkeit die Pflicht bezeichnet, die Ubereinstimmung zwischen der eigenen Aussage und der Wirklichkeit zu wahren, so umfaßt sie neben der abgeleiteten Pflicht der Wahrhaftigkeit auch die Pflicht der Treue. Denn Treue ist die Pflicht, die Wirklichkeit in Ubereinstimmung mit unseren Aussagen zu bringen, sie ist die Pflicht, ein gegebenes Versprechen zu halten. Ein Versprechen ist eine Aussage über eine künftige Handlung des Versprechenden. Aus der Pflicht der Zuverlässigkeit folgt daher unmittelbar die Pflicht eines solchen Verhaltens, wie es der in dem andern absichtlich erweckten Erwartung entspricht. Diese Pflicht nennen wir die Pf 1 i c h t der Treue. Um die Grenzen richtig zu bestimmen, innerhalb deren diese Pflicht gilt und innerhalb deren sie nur gelten kann, müssen wir den Begriff des Versprechens bestimmt auffassen. Ein Versprechen ist z.B. nicht die Mitteilung eines Vorsatzes, d. h. der Absicht, eine bestimmte Handlung zu tun. Eine solche Mitteilung ist an sich möglich und unterliegt wie jede Aussage der Pflicht der Zuverlässigkeit, das heißt hier, der Anforderung, daß sie nur insofern getan wird, als der fragliche Vorsatz wirklich besteht. Insofern aber eine solche Mitteilung nicht mehr behauptet, als daß jemand die Absicht hat, später eine bestimmte Handlung zu tun, reicht auch die aus ihr entspringende Verbindlichkeit nicht weiter, als es die Pflicht der Wahrhaftigkeit mit sich bringt. Es läßt sich also auf Grund einer solchen Mitteilung nicht etwa die Pflicht der Ausführung des gefaßten Vorsatzes ableiten. Es ist zweierlei, ob jemand sagt, daß er jetzt die Absicht habe, später etwas zu tun, oder ob er sagt, daß er später etwas tun werde. Die Wahrheit der ersten

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Aussage ist von der der zweiten unabhängig. Denn ob jemand jetzt die Absicht hat, später etwas zu tun, das hängt nicht davon ab, ob er es später tun wird. Das Versprechen ist eine Aussage, die sich auf eine spätere Handlung bezieht und nicht auf eine gegenwärtige Absicht. Dafür, ob eine Verpflichtung zur Treue besteht, kommt es denn auch nicht darauf an, ob der Versprechende im Ernst die Absicht hat, die versprochene Handlung zu tun, ob er also sein Versprechen ehrlich abgibt oder nicht. Es kommt vielmehr allein darauf an, ob er die Handlung verspricht und also in dem andern die Erwartung erweckt, er werde die Handlung tun. Denn damit hat er die Pflicht übernommen, das Versprechen wahr zu machen und also die versprochene Handlung auszuführen. Aber so wenig es darauf ankommt, ob der Versprechende die Absicht hat, die versprochene Handlung zu tun, so wenig kommt es auch darauf an, ob er bei dem andern den Glauben findet, daß er das Versprechen halten wird. Genug, daß er die Absicht hat, es den andern glauben zu machen, so übernimmt er die Verpflichtung, sich als zuverlässig zu erweisen. Steht hiernach der Begriff des Versprechens fest, so ergibt sich die Bedeutung der Pflicht der Treue von selber als eine einfache Folge aus der Pflicht der Zuverlässigkeit. Ein Versprechen, das nicht ausgeführt wird, ist eine Lüge, der Bruch des Versprechens ist ein Akt der Unzuverlässigkeit. Die Pflicht der Treue ist danach begründet durch einen Rechtsanspruch anderer, der seinerseits durch einen Akt unseres Willens bedingt ist. Erst durch das Versprechen verpflichtet der Versprechende sich selber zur Treue. Und umgekehrt: Es gibt keine Verpflichtung zur Treue, es sei denn, der Verpflichtete hätte sich selber durch einen eigenen Willensakt verpflichtet. Nun ist klar, daß durch einen Willensakt eine Pflicht nur begründet werden kann, wenn wir eine von dem Willensakt unabhängige Pflicht voraussetzen. Der Objektivität des Pflichtbegriffes zufolge können die Pflichten nicht willkürlich ge-

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schaffen werden, weder von einem fremden noch von dem eigenen Willen. Die Möglichkeit, sich durch den eigenen Willen zu verpflichten, beruht nur auf der vom Willen unabhängigen Pflicht der Gerechtigkeit, die an die Tat des Versprechens eine andere Tat als praktisch notwendige Folge knüpft. Diese Ableitung der Pflicht der Treue schließt von selber alle die Fälle aus, die man sonst als Ausnahmen zulassen müßte, ein Verfahren, wie wir es in entsprechender Weise bei der Pflicht der Wahrhaftigkeit durchgeführt haben, so daß wir hier nur kurz solche Fälle zu erwähnen brauchen, deren Klarstellung besondere praktische Bedeutung zukommt. Wir müssen zunächst wieder Rücksicht nehmen auf den Sinn der Aussage, die wir Versprechen nennen. Die Pflicht der Treue bestimmt sich weder unmittelbar durch den ausdrücklichen Wortlaut des Versprechens, noch hängt sie davon ab, ob überhaupt ein solcher vorliegt. Es gibt stillschweigend übernommene Verpflichtungen, nämlich da, wo wir ohne eine förmliche Aussage in dem anderen gewisse Erwartungen wecken, die unser künftiges Handeln betreffen. Dazu genügt unter Umständen, daß wir die Erwartungen, die uns andere auf Grund gesellschaftlich bestehender Tatsachen entgegenbringen, nicht ausdrücklich zurückweisen. So gibt es z.B. eine Pflicht der Treue gegenüber den Gesetzen des Staates, unabhängig von einem ausdrücklichen Versprechen, diese Gesetze befolgen zu wollen. Wie es stillschweigend übernommene Verpflichtungen gibt, so besteht andererseits die Möglichkeit, daß ein ausdrücklich gegebenes Versprechen durch einen stillschweigenden Vorbehalt eingeschränkt wird. Diese Feststellung gewinnt Bedeutung bei der Frage, ob ein auf Irrtum beruhendes Versprechen zur Treue verpflichtet. Wir müssen diese Frage verneinen: Wenn die Umstände nicht vorliegen, für die allein ein Versprechen gegeben worden ist, so findet das Versprechen auf die wirklich vorliegenden Umstände keine Anwendung. Ferner: Ein im Scherz gegebenes Versprechen verpflichtet nicht zur Treue, sofern der Behandelte die Aussage als Scherz verstehen kann.

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Versprechen gegenüber Unzurechnungsfähigen verpflichten nicht zur Treue. Ein erzwungenes Versprechen ist als solches unverbindlich, mag der Zwang auf physischem Wege oder durch psychische Vermittlung ausgeübt worden sein. Ein durch Arglist abgelocktes Versprechen hat z.B. keine Verbindlichkeit. Zu einem Versprechen gehört nämlich die Absicht, eine bestimmte Erwartung in einem anderen zu wecken. Wo Zwang angewandt wird, liegt aber gerade die Äußerung einer solchen Absicht nicht vor; in Wahrheit wird also nur die Form eines Versprechens hervorgerufen. Das Recht, das die Verpflichtung zur Treue begründet, wird verwirkt, wenn das Interesse an der versprochenen Handlung widerrechtlich ist. Die Widerrechtlichkeit dieses Interesses macht den Bruch des Versprechens ebenso erlaubt, wie es eine Lüge erlaubt macht. Was sonst als Verrat ein Unrecht wäre, hört auf, ein solches zu sein, wenn es zur Abwehr widerrechtlicher Interessen notwendig wird. Es kann sogar Pflicht sein, ein gegebenes Versprechen zu brechen. Dieser Fall kann dadurch eintreten, daß der Versprechende sich anderenfalls an der Begehung eines Unrechts mitschuldig machen würde. Dieses Unrecht wäre mitbeabsichtigt als ein vorauszusehender Erfolg der Handlung. Die Pflicht, ein gegebenes Versprechen nicht zu halten, tritt ferner ein im Fall des unsittlichen Versprechens. Ich nenne ein Versprechen unsittlich, wenn eine Handlung versprochen wird, die ihrerseits gegen die Pflicht verstößt. Nun kann freilich, gemäß dem formalen Charakter des Sittengesetzes, die Unsittlichkeit einer bestimmten Handlung nur mit Rücksicht auf die gerade vorliegenden Umstände behauptet werden. Die Tatsache des abgegebenen Versprechens könnte ihrerseits eine solche Modifikation der Umstände mit sich bringen, daß die Handlung, die unter anderen Umständen unsittlich wäre, auf Grund der Tatsache des Versprechens sittlich zulässig wird. Man muß .hier von neuem die Interessenabwägung vornehmen und prüfen, ob nicht das durch das Ver-

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sprechen hervorgerufene Interesse jedes andere, auf Grund dessen die Handlung, abgesehen vom Versprechen, verboten wäre, überwiegt. Die Pflicht zur Treue kann dadurch aufgehoben werden, daß der Empfänger des Versprechens freiwillig auf seine Erfüllung verzichtet. So wie jemand sich willkürlich durch das Versprechen verpflichtet hat, so kann er auch willkürlich von seilen des andern von dieser Verpflichtung befreit werden. Der freiwillige Verzicht entbindet freilich von der Verpflichtung nur dann, wenn er nicht auf praktischem Irrtum beruht. Der Verzicht kann für den Empfänger des Versprechens sogar zur Pflicht werden. In diesem Fall ist der faktische Verzicht nicht einmal Voraussetzung für die Befreiung von der Verpflichtung. Dieser Fall tritt z. B. ein, wenn ein hinreichend gewichtiges Interesse Dritter ins Spiel kommt, das durch die Erfüllung des Versprechens verletzt würde. Er kann aber auch da eintreten, wo die versprochene Leistung auf seilen des Versprechenden eine unvorhersehbare Interessenverletzung zur Folge haben würde, und zwar eine so schwerwiegende, daß der Empfänger des Versprechens in sie nicht einwilligen würde, wenn das verletzte Interesse auch das seine wäre. In diesem Fall gebietet die gerechte Abwägung der Interessen den Verzicht des Empfängers auf die versprochene Leistung. Die Pflicht, im Fall des Eintretens einer solchen Notlage des Versprechenden nicht auf dem Anspruch zu bestehen, der an und für sich aus dem Versprechen erwächst, diese Pflicht kann man die P f 1 i c h t d e r B i 11 i g k e i t nennen. Es liegt in der Natur der Sache, daß sich über die Grenzen, innerhalb deren ein solches Gebot der Billigkeit geltend gemacht wird, keine allgemeinen Regeln aufstellen lassen; denn nur die Abwägung von Fall zu Fall kann entscheiden, ob die Notlage des Versprechenden groß genug ist, den Verzicht zu erfordern. Aber die Möglichkeit eines solchen Falles läßt sich a priori nicht ausschließen. Denn bei der Unvollkommenheit menschlichen Wissens kann man bei der Abgabe eines Versprechens niemals die Umstände mit hinreichender Genauigkeit voraussehen. Man kann als Krite-

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rium für die Pflicht der Billigkeit nur so viel sagen, daß der Empfänger des Versprechens auf seinen Anspruch verzichten soll, wenn er annehmen muß, daß der Versprechende sich nicht auf das Versprechen eingelassen hätte, falls er diesen Fall vorhergesehen hätte, und wenn andererseits durch den Verzicht kein überwiegendes Interesse auf seiten des Empfängers verletzt wird. Das Versprechen kann nicht verbindlich sein, wenn die versprochene Leistung unmöglich ist. Die abgeleitete Pflicht der Treue bezieht sich nur auf den Fall, daß es vom Willen des Versprechenden abhängt, seine Aussage wahr zu machen. Unmögliches möglich zu machen, hängt aber nicht vom Willen des Versprechenden ab. Er kann also dazu gewiß nicht verpflichtet sein. Der einfachste Fall, der hierher gehört, ist der, wo höhere Gewalt die Ausführung des Versprechens vereitelt. Es gehören aber andererseits dahin alle die Fälle, in denen die versprochene Leistung unabhängig von dem Dazutreten eines solchen Zufalls und also an und für sich unmöglich ist. Hier müssen wir zwei Fälle unterscheiden. Entweder war die Unmöglichkeit dem Versprechenden nicht bekannt; dann beruht sein Versprechen auf einem Irrtum, ein Fall, der beurteilt werden muß wie der einer unwissentlich falschen Aussage. Oder aber der Versprechende war sich der Unmöglichkeit der versprochenen Leistung bewußt. Dann hat er sein Versprechen gegeben mit dem Bewußtsein, daß er es nicht ausführen werde. Er hat also die Nichterfüllung des Versprechens beabsichtigt. Sein Versprechen war dann eine absichtliche Täuschung des andern und also eine Lüge. In diesem Fall können wir von einem u n e h r 1 i c h e n V e r s p r e c h e n reden. Ein unehrliches Versprechen ist ein solches, dessen Nichterfüllung beabsichtigt wird, mag seine Erfüllung möglich oder unmöglich sein. Im Falle der Unmöglichkeit der Erfüllung besteht das Unrecht nicht darin, das Versprechen nicht zu halten, wohl aber darin, ein solches Versprechen zu geben. Zur Ehrlichkeit des Versprechens ist es aber nicht etwa genug, daß der Versprechende sich nicht der Unmöglichkeit der

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Leistung bewußt ist, vielmehr muß er sich der Möglichkeit der Leistung bewußt sein. Denn zur Ehrlichkeit des Versprechens gehört die Absicht, es zu erfüllen. Man kann aber eine Handlung nur beabsichtigen unter der Voraussetzung, daß es vom eigenen Willen abhängt, ob diese Handlung geschieht. Das, wovon man nicht weiß, ob es im Bereich des eigenen Willens steht, das kann man auch nicht beabsichtigen, also ehrlicher Weise auch nicht versprechen. Der Fall des unehrlichen Versprechens fällt daher gar nicht unter das Gebot der Treue, sondern unter das der Wahrhaftigkeit. Zu den unehrlichen Versprechungen gehört der Fall des leichtfertigen Versprechens. Es ist z. B. im allgemeinen sehr leichtfertig, zu versprechen, etwas geheim zu halten. Denn man kann nicht immer vorhersagen, ob es vom eigenen Willen abhängt, das Versprechen zu halten. Man kommt etwa in die Lage, gefragt zu werden und dann die fragliche Mitteilung gar nicht mehr geheim halten zu können, wenn man nicht den Frager belügen will. In diese Schwierigkeit kann man leicht dadurch geraten, daß Schweigen unter Umständen schon eine Antwort bedeutet, so daß man nur die Wahl hat, entweder um der Erfüllung des Versprechens willen den Frager zu belügen oder, um wahrhaft zu bleiben, den Empfänger des Versprechens zu verraten. In weit höherem Maße gilt dasselbe für Versprechen, die sich auf das Gebiet des Gefühlslebens oder auf das der Uberzeugung beziehen. Da das Gefühl und die Uberzeugung nicht unmittelbar vom Willen abhängen, ist ein Versprechen, das sich auf Gefühl oder Uberzeugung bezieht, unehrlich. Denn die Möglichkeit der Erfüllung ist hier vom Zufall abhängig und nicht vom Willen. Von dieser Art ist z. B. jedes Versprechen, einem bestimmten religiösen Glauben sein Leben lang Treue zu wahren oder einem andern Menschen in ewiger Liebe zugetan zu bleiben. Wer ein solches Versprechen abgibt, der denkt sich entweder nichts bei seiner Aussage, oder er weiß, daß er lügt. Er verstößt damit gegen die Pflicht der Wahrhaftigkeit, es sei denn, daß er in einer Zwangslage handelt, daß ihm

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also etwa das Versprechen durch Zwang abgenötigt wird. Dann allerdings kann ihm seine Handlung nicht als Schuld zugerechnet werden. Denn er ist ja in diesem Fall selber der Betrogene, und die Schuld ist auf seiten dessen, der in nötigt, ein solches Versprechen abzugeben. Wir haben im Vorhergehenden einen Uberblick über die Anwendungsgebiete der Pflicht der Gerechtigkeit gewonnen, und zwar leitete uns dabei die Uberlegung, gegen wen sich eine solche Pflicht möglicher Weise richtet. Die angeblichen Pflichten gegen sich selber erwiesen sich als unmöglich, die Pflichten gegen andere zerfielen in solche gegen unvernünftige und gegen vernünftige Wesen. Damit ist die philosophische Untersuchung über die Anwendbarkeit der Pflicht der Gerechtigkeit systematisch erschöpft; der letzte Teil der philosophischen Pflichtenlehre ist also abgeschlossen. Wir stehen nunmehr vor der Aufgabe, die Lehre von den über das Sittengesetz hinausgehenden ethischen Aufgaben, den Idealen, zu 1,ntwickeln.

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Ethik.

2. Abschnitt.

Ideallehre. 1. Abteilung: Formale Ideallehre. 1. Kapitel.

Analytische Prinzipien der formalen Ideallehre. Die Ideallehre zerfällt wie die Pflichtenlehre in zwei getrennte Wissenschaften: in die formale und die materiale Ideallehre. Der Unterschied beruht darauf, daß wir, wie bei der Pflicht, so auch bei jedem Ideal zwischen Form und Inhalt unterscheiden können. Die Form umfaßt die Bestimmungen, denen etwas genügen muß, um unter den Begriff des Ideals zu fallen, Bestimmungen, deren Fehlen hinreichen würde, etwas aus dem Umfang dieses Begriffs nach dem Gesetz des Widerspruchs auszuschließen. Der In h a 1 t ist das, was einem Ideal darüber hinaus eigentümlich ist, also das, was durch das Ideal für uns zur Aufgabe wird. § 73.

Der Begriff des Ideals. Der Grundbegriff der gesamten Ideallehre ist der Begriff des Ideals selber. Wir denken darunter einen Maßstab des Wertes für das Verhalten vernünftiger Wesen in der Natur, eines Wertes, der unabhängig ist von der Rücksicht auf irgend einen weiteren durch ihn zu erreichenden Zweck. Sofern die Verwirklichung eines Ideals einen solchen objektiven, und zwar positiven Wert hat, können wir sagen, daß jedes Ideal unserem Handeln ein Ziel stellt, dem nahe zu kommen uns aufgegeben ist, ohne daß es Pf 1 i c h t wäre, dieses Ziel zu erreichen. Wir nennen eine solche Aufgabe im Gegensatz zu dem kategorischen Im p e r a t i v der Pflicht einen kategorischen 0 p tat i v. Die Ideallehre ist das System der kategorischen

Formale ldeallehre.

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Optative, so wie die Pflichtenlehre das System darstellt, das sich aus dem kategorischen Imperativ ergibt. Es gibt eine ideale Wertung, wie es eine sittliche Wertung gibt. Auch die ideale Wertung bezieht sich auf Handlungen. Nur insofern kann sie überhaupt als eine ethische Beurteilung gelten und Bedeutung erhalten für den Willen eines vernünftigen Wesens. Aber während wir hinsichtlich der sittlichen Wertung feststellen konnten, daß sie sich aus einem Gebot ableitete, unabhängig von jeder höheren Wertung, können wir hier etwas Entsprechendes nicht sagen. Hier stoßen wir vielmehr auf eine solche ethische Beurteilung, die unmittelbar von dem Begriff des Wertes ausgeht. Eine ideale Handlung ist nur darum vorzugswürdig, weil sie wertvoll ist, während eine sittliche Handlung nicht darum vorzugswürdig ist, weil sie einen positiven Wert verwirklicht, sondern nur darum gewertet wird, weil sie sittlich, d. h. durch die Pflicht geboten ist. Aber so wenig, wie wir den sittlichen Wert einer Handlung zurück.führen konnten auf den Wert ihres Produkts, so wenig können wir auch den idealen Wert zurückführen auf den Wert dessen, was durch die betreffende Handlung hervorgebracht wird. Der Wert des P r o d u k t s einer Handlung mag noch so groß sein, es läßt sich daraus nicht auf den Wert der Ha n d 1 u n g schließen. Mit Rücksicht auf den Erfolg einer Handlung kommt man allemal nur auf eine hypothetische Anforderung, aber niemals auf die ethische Aufgabe, diese Handlung zu tun; dazu bedarf es eines kategorischen Imperativs oder Optativs. Es liegt im Begriff des Ideals, daß es das Prinzip einer positiven Wertung ist; aber es ist darum nicht umgekehrt jede positive Wertung schon eine ideale. In dem Begriff des Ideals denken wir den Wert als ein Ziel für unser H a n d e 1n , als etwas durch unser Zutun zu Verwirklichendes. Die objektive, positive Wertung von Gegenständen überhaupt ist als solche noch keine ethische, sondern eine im allgemeinsten Sinn des Wortes ästhetische Wertung, woraus folgt, daß jede ideale Wertung eine ästhetische ist, aber nicht jede ästhetische Wertung schon eine ideale.

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Ethik.

Die Erklärung der Ethik als subjektiver Teleologie gewinnt an dieser Stelle von neuem Bedeutung: Die ideale Wertung ist zwar nicht subjektiv in dem Sinn, daß sie unserem Belieben ausgesetzt wäre; aber sie bezieht sich doch nur auf Werte für unser Handeln und nicht auf solche Werte, die im Sinn der objektiven Teleologie objektiv sind. Es ist hier nicht von Werten die Rede, die den Dingen an sich zukommen, sondern nur von W erlen, sofern sie etwas durch unseren Willen Hervorzubringendes sind. In diesem Sinn gehört die Ideallehre zur subjektiven Teleologie, und nur insofern gehört sie zur Ethik. Was endlich das Verhältnis der Ideallehre zur Pflichtenlehre betrifft, so ergibt sich nach dem Vorangegangenen ohne weiteres, daß die Anforderungen der Pflichtenlehre als die notwendigen Bedingungen für das Handeln vernünftiger Wesen den Anforderungen der Ideallehre übergeordnet sind. Alle Aussagen also, die wir in der Ideallehre machen, gelten nur urtter der allgemeinen Einschränkung, daß wir jene notwendigen Bedingungen, die durch die Pflicht bestimmt werden, als erfüllt denken. § 74.

Die analytischen Prinzipien der formalen Ideallehre. Die formale Ideallehre umfaßt ihrerseits zwei Teile. Der allgemeinere Teil geht nur von dem problematischen Begriff des Ideals aus, d. h. er setzt nicht einmal die praktische Realität dieses Begriffs voraus. Der Begriff wird hier in ähnlicher Weise durch analytische Prinzipien bestimmt wie der Pflichtbegriff durch die analytischen Prinzipien der Pflichtenlehre. Der analytische Teil der Ideallehre kann weitgehend in Analogie zu den entsprechenden Sätzen der Pflichtenlehre entwickelt werden; wir kommen so zu einem System umfassenderer ethischer Prinzipien, sofern nämlich einige Prinzipien der Pflichtenlehre in ihrer Ableitung unabhängig sind von dem Spezifischen, das den Pflichtbegriff von dem Idealbegriff unter-

Formale Ideallehre.

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scheidet. Der hier zu Grunde liegende Begriff ist der Begriff einer ethischen Aufgabe überhaupt. Soweit also jene analytischen Prinzipien aus dem Begriff einer ethischen Aufgabe überhaupt folgen und von der praktischen Notwendigkeit des Pflichtbegriffs unabhängig sind, lassen sie sich ausdehnen auf das gesamte Gebiet der Ethik. Es gelingt hierdurch, die Prinzipien der Allgemeingültigkeit, der Differenzierung, der Autonomie, der Objektivität, der Gesinnungsethik und der ethischen Bereitschaft in einem weiteren Sinn aufrechtzuerhalten. Wir können ferner eine Analogie zu dem Unterschied zwischen der moralischen und der rechtlichen Wertung aufstellen auf Grund der Unterscheidung von Form und Inhalt des Ideals. Der Form nach bezieht sich jedes Ideal auf den Willen des vernünftigen Wesens, und insofern bewerten wir den Willen danach, ob er sich durch das Bewußtsein idealer Aufgaben bestimmen läßt. Dem Inhalt nach bezieht sich die ideale Wertung auf das, was durch den Willen geschehen sollte, und also darauf, wie weit das Verhalten objektiv mit der Forderung des Ideals übereinstimmt. So erhalten wir eine formale und eine materiale Wertung analog dem Unterschied zwischen der moralischen und der rechtlichen Wertung. Da nun aber der Unterschied zwischen Ideal und Pflicht nicht. nur ein solcher des Inhalts ist, sondern schon in den Begriffen selber liegt, also schon in der Form der einen oder der anderen Aufgabe, so muß sich bereits im System der analytischen Prinzipien der formalen Ideallehre eine Grenze der eben erörterten Analogie zeigen, eine Grenze des Parallelismus zwischen der Pflichtenlehre und der Ideallehre. Es muß dies seinen Ausdruck finden in der Tatsache, daß wir auf ein analytisches Prinzip der formalen Ideallehre stoßen, das von den entsprechenden der Pflichtenlehre abweicht. Wir erhalten so die Möglichkeit, den Unterschied zwischen Pflicht und Ideal ihrer Form nach auf das Bestimmteste zu prüfen und festzustellen. In der Tat: Es gibt einen moralischen, aber keinen i de a I e n R i g o r i s m u s , und also keinen ethischen Rigorismus überhaupt. Das Prinzip des Rigorismus konnten wir in der

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Ethik.

Pflichtenlehre ableiten aus der praktischen Notwendigkeit, die im Begriff der Pflicht liegt. Eine solche Notwendigkeit liegt nicht im Begriff des Ideals. § 75.

Rigorismus und Toleranz. Es gibt einen alten Streit in der Behandlung der Ethik, der daher rührt, daß man den Unterschied zwischen Pflicht und Ideal nicht richtig bestimmen konnte, den Streit zwischen einer rigoristischen und einer toleranten Darstellung der Ethik. Keine dieser Lehren läßt sich halten. Eine rigoristische Ideallehre wäre ebenso ein Widerspruch wie eine nicht-rigoristische Pflichtenlehre. Mehr als die bloße Abweisung des idealen Rigorismus kann aber die Maxime der Toleranz auch in der Ideallehre nicht b.edeuten. In der Ethik haben wir es allemal damit zu tun, Anforderungen an den Willen, an das Handeln vernünftiger Wesen geltend zu machen. Hier gibt es keine Toleranz im Sinne einer allgemeinen Duldung einer beliebigen Art des Handelns ohne Rücksicht auf jene praktischen Regeln, keine Toleranz im Sinne des grundsätzlichen Verzichtes auf praktische Verwerfung von Handlungen. Wer überhaupt Anforderungen stellt, der ist insofern notwendig intolerant, nämlich gegen alles, was den aufgestellten Anforderungen widerstreitet. Toleranz in diesem Sinn als ethisches Prinzip verstanden enthält einen inneren Widerspruch. Denn wie jedes ethische Prinzip, so würde auch das der Toleranz unvermeidlich zur Intoleranz führen - zur Intoleranz nämlich gegen die Intoleranz und sich damit aufheben. Toleranz in diesem Sinn läßt sich, konsequent durchdacht, nur aufrecht erhalten in der Form eines allgemein ethischen Indifferentismus, der Aufhebung jeder ethischen Bewertung überhaupt. Mit der Abweisung eines so verstandenen Toleranzprinzips müssen wir nun aber die Abweisung des Prinzips des idealen Rigorismus verbinden. Die Pf 1 ich t gebietet eine Handlung schlechthin; sie kann nur erfüllt oder verletzt werden. Das

formale Ideallehre.

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I de a 1 dagegen bestimmt nur ein Ziel, dem möglichst nahe zu kommen, uns aufgegeben ist, dessen vollkommene Verwirklichung aber nicht einmal immer in unserer Gewalt liegt. Hier gilt also nicht der Satz, daß die fragliche Aufgabe nur entweder erfüllt oder verletzt werden kann, sondern es bleibt die Möglichkeit einer größeren oder geringeren Annäherung. Verwechselt man in dieser Hinsicht das Ideal mit der Pflicht, so entsteht die widerspruchsvolle Behauptung von Pflichten, deren Erfüllung nicht in unserer Gewalt liegt, und damit von unerfüllbaren Geboten. Man kommt hier zu einem falschen Rigorismus, der das als Pflicht hinstellt, was in Wahrheit nur ein Ideal ist. Dieser falsche Rigorismus könnte Moralismus genannt werden. Denn er führt in der Tat zu jener moralistischen Doktrin, nach der es keine sittlich indifferenten Handlungen gibt. Dieser falsche Rigorismus hat der Ethik ungeheuer geschadet. Dadurch, daß im Namen der Moral Gebote aufgestellt werden, die sich bei unbefangener Betrachtung als unerfüllbar erweisen, ist der richtige Rigorismus in den Verdacht der Uberspannung und die Ethik in den der Lebensfremdheit geraten. Dieser Vorwurf trifft mit Recht jene falschen Lehren, die z. B. eine Pflicht der allgemeinen Menschenliebe behaupten, oder ein Verbot der Gewaltanwendung schlechthin, Gebote, deren Erfüllung in der Welt der Tatsachen zum Scheitern verurteilt ist.

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Ethik.

2. Kapitel.

Synthetische Sätze der formalen Ideallehre. § 76.

Das Ideal des Charakters. Wenn wir zu dem problematischen Begriff des Ideals die synthetische Voraussetzung seiner praktischen Realität hinzufügen, so gelangen wir zu dem Obersatz der formalen Ideallehre: E s g i b t e i n I d e a 1. Wir ordnen diesem Obersatz einen Untersatz zu, den wir dem bloßen Begriff der Natur entnehmen, den analytischen Satz nämlich, daß es von Natur aus zufällig ist, ob das Ideal verwirklicht wird oder nicht, mit anderen Worten, daß sich weder auf die Verwirklichung des Ideals noch auf seine Verletzung eine überwiegende Kraft richten müßte, daß es also kein Naturgesetz gibt, wonach die Verwirk 1 ich u n g des Ideals notwendig oder unmöglich wäre. Durch die Verbindung dieser beiden Sätze erhalten wir einen Schlußsatz, analog dem Gebot des Charakters, das wir in der Pflichtenlehre aufgestellt haben, das Ideal nämlich, die Geltung der idealen Aufgaben dem Zufall zu entziehen, dem sie von Natur aus preisgegeben blieben. Wenn wir das Wort „Charakter", das wir im Schlußsatz der formalen Pflichtenlehre gebraucht haben, in der dort eingeführten allgemeineren Bedeutung erklären als die Kraft der verständigen Selbstbeherrschung, dann können wir unseren Schlußsatz aussprechen als das Ideal, den Charakter in den Dienst der Ideale zu stellen. Dieses Ideal entspricht dem in der formalen Pflichtenlehre aufgestellten Gebot des Charakters, dem gemäß die Erfüllung der Pflicht durch die Kraft der Selbstbeherrschung gesichert werden soll. Wir wollen zum Unterschied von dieser Pflicht das hier abgeleitete Ideal kurz das I de a 1 des Charakters nennen. Wie das Gebot des Charakters dessen Moralität fordert, so verlangt dieses Ideal die Idealität des Charakters, den Idealismus.

Formale Ideallehre.

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§ 77.

Die idealen Bedingungen des Charakters. Die Analogie zwischen dem hier abgeleiteten Ideal und dem Gebot des Charakters ermöglicht es uns, die Lehre von den Bedingungen des Charakters, wie wir sie in der formalen Pflichtenlehre entwickelt haben, auf die formale Ideallehre zu übertragen, mit anderen Worten, die formale Ideallehre durch bloße Obersetzung zu erhalten. Das ist ein neuer Gewinn aus der abstrakten Behandlung der formalen Pflichtenlehre. Die formalen Bedingungen des Charakters sind hier wie dort Stärke und Lebendigkeit, Stärke im Gegensatz zu den vorübergehend aufwallenden Antrieben und Lebendigkeit im Gegensatz zu den gewohnheitsmäßig fortwirkenden Antrieben. Die Bedingungen der Stärke und Lebendigkeit des Charakters bringen an und für sich nur das hervor, was man die Besonnenheit oder Verständigkeit des Handelns nennen kann. Hierin liegt nichts anderes als Zweckmäßigkeit des Handelns und insofern allerdings Befreiung vom Zufall. Die Verwirklichung der einmal gewählten Zwecke wird dem Zufall entzogen. Dabei bleibt aber die Wahl dieser Zwecke selber noch unbestimmt und insofern zufällig. Da aber das abgeleitete Ideal Ausschließung dieses Zufalls verlangt, so fordert es, daß das vernünftige Wesen sein Verhalten davon unabhängig macht, ob sein stärkster Antrieb gerade auf das gerichtet ist, was durch das Ideal als wertvoll ausgezeichnet wird. Es tritt also zu den notwendigen Bedingungen der Stärke und Lebendigkeit des Charakters die der Reinheit hinzu. Diese ist hier aber mehr als bloße Moralität, sie ist Idealität, d. h. Unterwerfung des Willens unter ideale Zwecke und nicht bloß unter die der Pflicht.

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Ethik.

§ 78.

Idealismus und Schwärmerei. Die Idealität des Charakters umfaßt zwei Tugenden, gerade so wie die Sittlichkeit oder Moralität des Charakters. Die erste bezieht sich auf die Einsicht in das Ideal. Das Bewußtsein um ein Ideal kann nur dann zum Bestimmungsgrund des Willens werden, wenn es zu hinreichender Klarheit ausgebildet worden ist. Daß ein Ideal vorzugswürdig ist, steht zwar auf Grund des bloßen Begriffs fest, aber was als Anforderung eines Ideals vorzugswürdig ist, entbehrt solcher Klarheit. Es bedarf der hinreichenden inhaltlichen Klärung des Ideals und damit einer Klärung der idealen Zwecke, wenn ihre Vorstellung den Willen bestimmen, der Wille sich ihnen unterwerfen soll. Wir können die Eigenschaft des Geistes, über diese Klarheit zu verfügen, die Tu g e n d de r G e i s t e s k I a r h e i t nennen. Sie geht über die Tugend der sittlichen Klarheit hinaus. Diese ist nur die Klarheit des Pflichtbewußtseins, sie bezieht sich nicht auf die positiven Zwecke des menschlichen Lebens. Diese Tugend der Geistesklarheit, die über die sittliche Klarheit hinausgeht, wenn sie sie auch mit umfaßt, steht einerseits der Dumpfheit des G~istes entgegen, d. h. dem Mangel an Bewußtsein um höhere Zwecke überhaupt, andererseits dem, was wir die Trübheit des Geistes nennen können, nämlich der Verworrenheit hinsichtlich jener Zwecke. Es gibt zwei Quellen der Verworrenheit, je nachdem, ob sie sich auf den Inhalt der idealen Zwecke bezieht, indem sie diese verfälscht unter dem Einfluß subjektiver Interessen, Affekte oder Leidenschaften, oder aber, was uns hier interessiert, ob die Verworrenheit schon die bloße Form des Ideals betrifft. Wir werden uns am besten über diesen Fehler verständigen, wenn wir uns des Gesichtspunktes erinnern, der für die Ableitung des Ideals des Charakters maßgebend war. Man kann, ohne den eigentlichen Inhalt des Ideals zu verfälschen und ohne sich über das Bestehen eines Ideals zu täuschen, in einer Verworrenheit sein hinsichtlich der Form des

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Ideals. Diese Verworrenheit bezieht sich auf das Verhältnis des Ideals zum Naturgeschehen. Um sie zu vermeiden gilt es, die Anforderung des Ideals ins richtige Verhältnis zu setzen zu der Zufälligkeit seiner Geltung in der Natur. Denn auf der Schwierigkeit, die sich hier einstellt, beruht ein tiefwurzelnder Fehler, der oft in die Ethik übernommen worden ist und dem wir darum umso schärfer entgegentreten müssen. Man stellt gewöhnlich dem Idealisten den Realisten gegenüber. Ein I de a 1 ist ist ein Mensch, der das Ideal des Charakters erfüllt, d. h. der gewillt ist, sein Leben den von ihm anerkannten !dealen zu unterwerfen. Was ist nun aber ein Realist? Der Wahlspruch des Realisten geht dahin, daß man die Dinge oder auch die Menschen nehmen müsse, wie sie sind. Und hier entsteht nun ein Streit über die Bedeutung dieser Maxime, der darum so verworren wird, weil eine Zweideutigkeit im Spiel ist. Was heißt es, die Dinge oder die Menschen so zu nehmen, wie sie sind? Das kann einmal bedeuten, sie hinsichtlich ihrer tatsächlichen Beschaffenheit so anzusehen, wie sie sind; es kann andererseits heißen, sich mit ihnen, so wie sie einmal sind, abzufinden. Das eine Mal handelt es sich darum, wie man sich theoretisch, das andere Mal, wie man sich praktisch zu ihnen stellt. Die Dinge praktisch so zu nehmen, wie sie sind, d. h. sich mit ihrer tatsächlichen Beschaffenheit, wie wir sie in der Natur antreffen, abzufinden, wäre eine Maxime, die dem Idealismus widerstreitet. Ist es darum aber eine Forderung für den Idealisten, die Dinge nicht so anzusehen, wie sie sind? Im allgemeinen neigt man dieser Anschauung zu, und dadurch bekommt die Ethik jene Weltfremdheit, durch die sie unanwendbar wird. Sollte es im Ernst ein Kennzeichen des Idealisten sein, die Dinge nicht so anzusehen, wie sie sind, vor den Tatsachen die Augen zu verschließen, um unbehelligt über sie träumen zu können? Ich würde einen solchen Menschen nicht einen Idealisten, sondern einen S c h w ä r m e r oder Ph an t a s t e n nennen, und wir können die Frage, von deren Entscheidung hier alles abhängt, dahin formulieren: Muß man ein Schwärmer sein, um ein Idealist zu heißen?

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Ethik.

Wenn hier von Idealismus die Rede ist und wir damit die Gesinnung meinen, die in dem abgeleiteten Ideal des Charakters verlangt wird, so wird dabei offenbar an einen praktischen Begriff gedacht und nicht an einen spekulativen, dem zufolge wir unter Idealismus eine Vorstellungsart verstehen würden darüber, was in der Natur wirklich geschieht. In diesem Sinn, als eine spekulative Vorstellungsart verstanden, würde Idealismus so viel bedeuten wie den Glauben, daß die Verwirklichung des Ideals in der Natur durch ein Naturgesetz gesichert wäre. Dieser Idealismus widerspricht aber unserem Untersatz, wonach ein solches Naturgesetz unmöglich ist. Ist nun der Idealist im praktischen Sinn darauf angewiesen, ein Idealist im spekulativen Sinn des Wortes zu sein? Hängt der praktische Idealismus von einem spekulativen Glauben ab? Das ist so wenig der Fall, daß wir getrost das Gegenteil behaupten können und müssen. Wer glauben würde, daß in der Natur ohnehin dem Guten der Sieg beschieden ist, der würde aufhören, ein Idealist zu sein und ein Phantast werden. Man kann nämlich ein Idealist nur so lange sein, wie man nicht voraussetzt, daß sich das Ideal ohne unser Zutun verwirklicht. Das folgt ohne weiteres aus der Ableitung des Ideals des Charakters; denn diese umfaßt den Untersatz, der seinerseits jeden spekulativen Idealismus ausschließt. Die idealisierende Vorstellung, wie sie dem Phantasten eigentümlich ist, bekundet allerdings ein Interesse am Ideal, nämlich den Wunsch, das Wünschenswerte in der Wirklichkeit anzutreffen, nur daß der Phantast diesen Wunsch durch die Phantasie befriedigt, indem er sich darüber täuscht, daß trotz seiner Umdeutung die Welt so bleibt, wie er sie vorgefunden hat. Das sentimentale Interesse des Phantasten am Ideal bietet keinen Beweggrund für den Willen, im geraden Gegensatz zum Idealismus der Gesinnung, der unmittelbar eine Sache des Willens ist. Dem Phantasten steht in der Tat der Realist gegenüber, der sich in seinen theoretischen Vorstellungen allein auf die Erforschung der Tatsachen stützt, ohne Rücksicht auf das, was wünschenswert ist. Es besteht daher auch recht verstanden keineswegs ein Gegen-

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satz zwischen dem Idealisten und dem Realisten, vielmehr kann nur der Realist ein Idealist sein. Bei hinreichender Klarheit des Geistes wird der Idealist notwendig zum Realisten. Realismus ist eine Tugend, die mit der Geistesklarheit untrennbar verknüpft ist. Man kann zwar sagen, daß der Idealist eines Glaubens bedarf unabhängig von den Tatsachen; aber dieser Glaube ist eine Uberzeugung, die sich nicht auf das bezieht, was geschieht, sondern auf das, was wünschenswert ist; es ist also eine praktische und keine spekulative Uberzeugung. Allerdings verträgt sich diese Uberzeugung nicht mit dem Glauben, daß die Verwirklichung des Ideals unmöglich sei; denn ein Ideal bestimmt seinen Gegenstand als etwas, was durch unseren Willen hervorgebracht werden sollte und was insofern möglich sein muß. Aber die Möglichkeit der Verwirklichung des Ideals bedeutet keineswegs die Naturnotwendigkeit seiner Verwirklichung. Der praktische Idealismus beruht gerade auf der Voraussetzung der Unbestimmtheit, der alles ideale Streben in der Natur ausgesetzt ist. Er beruht also auf dem Bewußtsein der eigenen Freiheit, auf dem Bewußtsein, daß es von uns abhängig ist, ob in der Natur das geschieht, was geschehen sollte. Zum Idealismus steht daher der O p tim i s m u s, der den Erfolg wie auf Grund eines vorausgesetzten Naturgesetzes erwartet, gerade so im Widerspruch wie der P e s s im i s m u s, der von der Naturgesetzlichkeit des Mißerfolges allen idealen Strebens ausgeht. Beide verneinen die Unbestimmtheit der Geltung des Ideals, die der Idealismus gerade voraussetzt. Der Optimismus ist, wie wir sagen können, ebenso wie der Pessimismus ein F a t a 1 i s m u s. Der eine wie der andere geht von der Voraussetzung aus, daß es unserer Freiheit entzogen sei, das Ideal in der Natur zur Geltung zu bringen. Der Optimist nimmt eine Notwendigkeit für die Verwirklichung des Ideals an, der Pessimist eine Unmöglichkeit seiner Verwirklichung. Ganz anders der Realist. Er bildet sich seine Auffassung von der Natur ohne Rück.sieht auf das, was dem Ideal nach wünschenswert ist. Er geht nicht aus von der Annahme eines

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Naturgesetzes, wonach ein Ideal verwirklicht werden müßte oder nicht verwirklicht werden könnte. Er sagt, daß das, was in der Natur geschieht, nur abhängt von der Verteilung der Kräfte, und daß diese Kräfte sich nach Naturgesetzen bestimmen, und nicht durch das Ideal, d. h. durch das, was wünschenswert ist. Er weiß also, daß die Verwirklichung des Ideals allein davon abhängt, welche Kräfte dafür eingesetzt werden. Jeder Fatalist nimmt ein Naturgesetz an, das der Realist nicht annehmen kann. Der Pessimist ist daher im Grunde ebenso sehr ein Phantast und ebenso wenig ein Realist wie der Optimist. Aber es besteht ein wichtiger Unterschied zwischen dem Optimisten und dem Pessimisten. Beide nehmen an, daß der Idealismus steht und fällt mit dem Glauben an die naturnotwendige Verwirklichung des Ideals. Auf diesen Glauben gründet der erste seinen Optimismus, auf die Nichtigkeit dieses Glaubens der zweite seinen Pessimismus. Hier hat nun der spekulative Glaube des Optimisten den Nachteil, sich selber zur Unwahrheit zu verurteilen. Denn wenn man glaubt, daß das, was uns durch ein Ideal aufgegeben ist, unabhängig vom Willen des Menschen erreicht wird, so hat das zur Folge, daß das Gegenteil dieses spekulativen Glaubens eintritt, daß das Ideal in Ermanglung der erforderlichen Taten unerreichbar wird, wie es der Pessimist voraussagt. Ein Ideal braucht daher nur für ohnehin erreichbar zu gelten, um tatsächlich nicht erreicht zu werden; denn die Tat, die Bedingung der Verwirklichung, wird dadurch gerade ausgeschaltet. So trägt der Optimismus die Schuld daran, daß die Anforderung des Ideals nicht erfüllt wird und daß der Pessimist recht behält. Wer von der spekulativen Illusion der naturgesetzlichen Verwirklichung des Ideals ausgeht, bei dem muß eine Desillusion eintreten. Und so ist der Optimist mit zunehmender Erfahrung dauernd in Gefahr, ein Pessimist zu werden. Im Gegensatz hierzu hat der Unglaube des Pessimisten die Eigentümlichkeit, daß er sich selber wahr macht. Denn was nur durch Taten verwirklicht werden kann, braucht nur für unerreichbar zu gelten, um - in Ermanglung solcher Taten - un-

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erreicht zu bleiben. So gewinnt der Pessimist allemal ein Ubergewicht über den Optimisten; er hat immer mehr Grund, sich als den Weltklugen, als den Wahrsager hinzustellen. Aber diese Weltklugheit bedarf keines großen Scharfsinns. Sie besteht nur darin, das Eintreten von etwas vorauszusagen, was man selber durch sein Verhalten erst herbeiführt. Der tiefere Grund, warum der Optimist unrecht erhält und der Pessimismus sich wahr macht, liegt darin, daß der anscheinende Glaube des Optimisten in Wahrheit ein praktischer Unglaube ist, der sich nur hinter einem spekulativen Aberglauben versteckt, während sich der Pessimist jedenfalls offen zu seinem Unglauben bekennt. Es ist nämlich praktischer Unglaube, wenn man meint, für seinen Idealismus angewiesen zu sein auf den spekulativen Glauben an den Sieg des Guten in der Natur. Es ist Unglaube gegenüber dem Ideal, den Idealismus abhängig zu machen von solchem spekulativen Aberglauben. Demgegenüber wäre es der Ausdruck einer größeren Folgerichtigkeit, eines größeren Realismus, wenn der Optimist aus diesem Unglauben, den schon der Pessimist mit ihm teilt, die Konsequenz ziehen würde, seinen Scheinidealismus über Bord zu werfen. Der wahre Idealist wird so wenig Optimist wie Pessimist sein; er hält sich hinsichtlich seiner theoretischen Uberzeugung an die Lehren der Erfahrung und bedarf für seinen Realismus keiner W ahrsagekunst. Er erwartet alles von seiner ~igenen Tat und nichts von dem sogenannten Lauf der Dinge. Sein Vertrauen ist Selbstvertrauen, nicht Vertrauen auf das Schicksal und nicht Ergebung in das Schicksal. §

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Opportunismus und Doktrinarismus. In anderer Gestalt erscheint der Fehler, mit dem wir es hier zu tun haben, in dem immer von neuem sich wiederholenden Streit um die Bedeutung der Prinzipientreue, in dem Streit um D o kt r in a r i s m u s und O p p o r tun i s m u s. In dieser Form tritt uns die Schwierigkeit entgegen als die Frage, ob es

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erlaubt ist, auf einen Kompromiß einzugehen, d. h. ob die Hintansetzung eines Ideals zu Gunsten eines andern Zwecks erlaubt ist. Vom Standpunkt des ethischen Rigorismus aus würde man hier zu der Forderung kommen, jeden Kompromiß abzulehnen, weil er in irgend einer Hinsicht dem Ideal zuwiderläuft. Aber das ist eine Maxime, die dem wirklichen Leben nicht standhält. Goethe sagt einmal: ,,Der Handelnde ist immer gewissenlos, es hat niemand Gewissen als der Betrachtende." Er will damit offenbar ausdrücken, daß der Handelnde sich auf Kompromisse einlassen und darum auf die reine Durchführung seiner Ideale verzichten muß. Nur durch Nicht-Handeln könne man dem Kompromiß aus dem Wege gehen und so die innere Reinheit bewahren. Aber verhält es sich wirklich so, daß der Handelnde darum, weil er sich auf Kompromisse einlassen muß, notwendig gewissenlos ist? Dberlegen wir doch, daß der vermeintliche Verzicht auf Handlungen als Unterlassung auch eine Art des Handelns ist, und zwar eine solche, durch die man es desto sicherer dahin bringt, daß das Ideal, das zu seiner Verwirklichung auf Taten angewiesen ist, in unerreichbarer Ferne verharrt. Wer sich vor Bedenken gegen die zum Handeln nun einmal notwendigen Kompromisse nicht zur Tat aufraffen kann, der hat es vor seinem Gewissen zu verantworten, daß auch der immerhin mögliche Fortschritt unterbleibt, der durch den Kompromiß erreicht werden könnte. Allerdings, versteht man unter einem Kompromiß die Hintansetzung der den obwaltenden Umständen nach möglichen Annäherung an das Ideal zu Gunsten eines andern Zwecks, dann ist ein Kompromiß in der Tat verwerflich. Aber das ist trivial. Versteht man dagegen den Kompromiß so, daß man sich auf eine Abwägung einläßt, um die insgesamt wertvollste Handlung vorzuziehen, dann läßt sich nicht nur die Zweckmäßigkeit, sondern sogar die ethische Notwendigkeit der Kompromisse behaupten; denn man kann nicht voraussetzen, daß die den Umständen nach insgesamt wertvollste Handlung mit der dem Ideal nad1 wünschenswerten unmittelbar zusammen-

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fällt. Fallen beide auseinander, so verlangt das Ideal selber einen Kompromiß, und die grundsätzliche Verwerfung solcher Kompromisse ist nicht das Kennzeichen eines Idealisten, sondern dessen, den wir einen D o k t r i n ä r nennen. Die Verwerfung der Kompromisse kann zwei Gründe haben: Sie kann einmal darauf beruhen, daß man mehr, ein andermal, daß man w e n i g e r will, als das, was man durch Kompromisse erreichen kann. Wo mehr erreichbar ist, da wäre das Eingehen auf Kompromisse verwerflich, wo nicht mehr erreichbar ist, wäre die Ablehnung der Kompromisse eine Preisgabe des Ideals. Nennen wir die Bereitschaft, auf Kompromisse einzugehen, 0 p p o r tun i s m u s , so ist der Opportunismus eine einfache Folge der Verständigkeit des Handelns, weil die Ideale nur schrittweise verwirklicht werden können. Es gibt daher auch einen idealen Opportunismus, der in der Hintansetzung an sich guter Zwecke hinter die insgesamt besten Zwecke besteht. Also ist die Verwerfung des Opportunismus keine Konsequenz des Idealismus, sondern nur das sichere Kennzeichen eines bloßen Scheinidealismus, der es vorzieht, in Selbsttäuschung zu schwärmen, statt an der Verwirklichung des Ideals tätig zu sein. Es bleibt dabei, daß die Bereitschaft, auf Kompromisse einzugehen, eine Probe auf den Ernst des Idealismus eines Menschen ist. § 80.

Idealismus und Enthusiasmus. Zur Idealität des Charakters ist die Tugend der Geistesklarheit nicht hinreichend. Es genügt nicht, daß die Reflexion so weit ausgebildet ist, daß sie uns die Einsicht in die Anforderungen des Ideals gibt, sondern diese Einsicht muß auch die erforderliche Bewegkraft für den Willen besitzen. Die Unterwerfung des Willens unter diese Einsicht nennen wir die Tugend der i de a 1 e n Bereitschaft. Die Rücksicht auf die Anforderung des Ideals muß den Willen bestimmen, damit wir von der Idealität der Gesinnung sprechen können.

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Daß die Einsicht in die Anforderung des Ideals den Willen bestimmt, das besagt etwas anderes, als daß der Wille faktisch auf eine Handlung gerichtet ist, die mit dem Ideal übereinstimmt; denn dies könnte auch der Fall sein bei einer triebhaften Willensbestimmung, deren Erfolg zufällig übereinstimmt mit dem, den ein idealer Bestimmungsgrund herbeiführen würde. Dieser Unterschied wird auch nicht aufgehoben, wenn der den Willen triebhaft bestimmende Antrieb seinerseits erst die Folge eines idealen Antriebs ist. Es kann ein Affekt gerade dadurch wachgerufen werden, daß ein idealer Antrieb in uns wirksam ist. Ein solcher Affekt, der durch einen idealen Antrieb geweckt wird und der sich auf den Gegenstand dieses idealen Antriebs richtet, ist der Affekt der Bege ist er u n g. Eine Handlung aus Affekt braucht dem Ideal keineswegs zu widerstreiten, aber sie ist als solche keine besonnene Handlung. Der Begeisterte braucht andererseits nicht unbesonnen zu handeln. Er tut es aber dann, wenn er nicht nur mit Begeisterung, sondern auch aus Begeisterung handelt, und also dann, wenn die Begeisterung für ihn die B e d i n g u n g wird, dem idealen Antrieb zu folgen. Einen solchen Menschen nennen wir einen E n t h u s i asten. Der Idealist ist daher vom Enthusiasten gerade so zu unterscheiden wie vom Phantasten. Der Enthusiast hat es nicht dem Zufall entzogen, daß er in Dbereinstimmung mit dem Ideal handelt. Er läßt es auf einen Affekt ankommen, ob er dem Ideal gemäß handelt oder nicht. Begeisterung kann aber als Affekt keine Dauer beanspruchen. ,,Begeisterung", sagt Goethe, ,,ist keine Heringsware, die man einpökelt auf mehrere Jahre". Wer nur durch Begeisterung getrieben dem Ideal folgt, der wird ihm untreu werden, sobald seine Begeisterung erlahmt, und sie wird erlahmen, wenn die Widerstände, auf die er stößt, hinreichend stark sind, den Affekt zu überdauern. Wer dagegen mit Besonnenheit, wenn auch nicht ohne Begeisterung, dem Ideal folgt, wird, wenn die Macht der Widerstände seine Begeisterung erlahmen läßt, darum doch nicht an seinem Vorhaben irre werden und wanken; denn dieses hängt gar nicht von seiner Begeisterung ab.

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Die Stimmung des Menschen, der die Idealität seines Verhaltens vom Zufall unabhängig macht und also ohne Rücksicht auf die Gunst oder Ungunst des Schicksals dem Ideal die Treue hält, die Stimmung eines solchen Menschen ist Resignation. Indem er von vornherein dem Unmöglichen entsagt und seine Kräfte darauf richtet, dem Ideal die Herrschaft innerhalb der Grenzen des Möglichen zu erobern, gewinnt er die unstörbare Ruhe des Gemüts, die nur aus dem Bewußtsein erwächst, auf unerschütterlich festem Boden zu stehen. Resignation sollte also die Grundstimmung des Menschen sein. Sie schließt es nicht aus, daß er sich durch den Erfolg begeistern läßt, aber er macht sich nicht vom Erfolg abhängig, sondern ergibt sich bereitwillig in das, was nicht von seinem eigenen Willen abhängt. Nur die Resignation verbürgt die Standhaftigkeit des Willens und befreit uns von der Gefahr, die in der Zerstörung von Illusionen liegt, weil sie uns von Anfang an auf Glück verzichten läßt; nur durch die Resignation läßt sich ethisches Selbstvertrauen gewinnen, das keine Gabe des Glücks ist. Mag das Glück noch so lange günstig sein, es hört nicht auf, eine bloße Gunst zu sein, die nicht von uns selber abhängt und auf die wir uns daher auch nicht verlassen können. Wer sich von dem Zufall des Glücks abhängig macht, der begibt sich selber in Unfreiheit und bleibt - wenn ihm das Glück hold ist - bestenfalls ein glücklicher Sklave seines Schicksals.

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2. Abteilung.

Materiale Ideallehre. Einleitung. § 81.

Ubergang zur materialen Ideallehre. Die Tugend der Geistesklarheit steht, wie wir gesehen haben, einerseits im Gegensatz zu der Dumpfheit des Geistes, andererseits zu deren Trübheit, zu einer Verworrenheit, die nicht erst den Inhalt, sondern schon die Form des Ideals betrifft. Daneben gibt es noch eine Verworrenheit, die, wenn sie sich auch auf die Inhaltsbestimmung bezieht, doch schon in einer Verkennung der Form des Ideals ihren Ursprung hat. Man verkennt hier nämlich das bereits zur Form gehörige Prinzip der idealen Objektivität. Die Verkennung dieses Prinzips läuft darauf hinaus, ein Ideal für möglich zu halten, das keinen allgemeingültigen Inhalt besitzt, ein Ideal also, dessen Inhaltsbestimmung der wissenschaftlichen Entscheidung entzogen ist und dem subjektiven Gutdünken oder Belieben des Einzelnen überlassen bleibt. Mit dem Problem der wissenschaftlichen Entscheidbarkeit haben wir es aber in der materialen Ideallehre gerade zu tun. Und so erscheint denn auch die Aufgabe, die wir uns damit stellen, auf Grund der heute vorherrschenden skeptizistischen Betrachtungsweise bereits als solche paradox. Um diesen Skeptizismus bei Seite zu schieben, braucht man aber nur das Prinzip der idealen Objektivität festzustellen und kann dann, da es sich hier um ein analytisches Prinzip handelt, den Vertreter jener skeptizistischen Ansicht durch die bloße Macht der Logik zwingen, entweder die Objektivität des Ideals zuzugeben oder den Satz von der Existenz eines Ideals überhaupt fallen zu lassen. In der Tat: Das Ideal des Charakters oder, wie wir auch

Materiale Ideallehre.

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sagen können, das Ideal des Idealismus selber, zu dessen Ableitung der Satz von der Existenz des Ideals hinreicht, setzt logisch die Existenz eines andern, von ihm verschiedenen Ideals mit bestimmtem Inhalt voraus. Idealismus besteht darin, daß der Mensch seinen Willen der Einsicht in das Ideal unterwirft. Das ist nur möglich, wenn wir die Einsicht in ein inhaltlich festgelegtes Ideal voraussetzen, durch dessen Vorstellung der Idealist seinen Willen bestimmt. Man könnte hier den sophistischen Einwand versuchen, daß das fragliche Ideal kein anderes zu sein braucht als das Ideal des Idealismus selber. Aber das führt auf eine logische Absurdität; denn wenn das Ideal, durch das der Idealist seinen Willen bestimmt, kein anderes wäre als das des Idealismus, dann müßten wir in unserer Erklärung des Idealismus an Stelle des Ideals von neuem diese Erklärung einsetzen: Idealismus ist die Bestimmung des Willens durch die Einsicht in das Ideal der Bestimmung des Willens durch die Einsicht in das Ideal. Wir wären nicht klüger geworden, sondern ständen offensichtlich vor einem unendlichen Regreß. Die Erklärung des Ideals des Idealismus setzt bereits ein Ideal voraus, und dieses kann nicht wieder durch das zu erklärende Ideal bestimmt sein. Es ist unmöglich, die Ideallehre aufrechtzuerhalten als formale Ideallehre, ihr aber die Entscheidung darüber, was das Ideal eigentlich fordert, zu entziehen. So werden wir zwangsläufig durch die bloße Nötigung, die von der Logik ausgeht, von der formalen Ideallehre hinübergeführt zu der Aufgabe der materialen Ideallehre. Lehnen wir diese Aufgabe ab, so bleibt uns nichts übrig, als auch die formale Ideallehre abzulehnen. Wir wissen aber darüber hinaus, daß gemäß dem analytischen Prinzip der idealen Autonomie es nicht nur ein inhaltlich bestimmtes Ideal gibt, sondern daß wir die Einsicht in das Ideal durch hinreichendes Nachdenken mit Sicherheit erreichen können. Es ist ein lächerliches und törichtes Beginnen, den Idealismus zu preisen, aber die Inhaltsbestimmung des Ideals als unmöglich oder unnötig zu verwerfen. Die Lösung dieses Problems ist freilich mit den bloßen

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Ethik.

Mitteln der Logik nicht möglich. Wir müssen über den Begriff des Ideals hinausgehen und ein Kriterium des Ideals aufstellen, das wir durch keine Kunst der Logik aus dem Begriff des Ideals zu entwickeln vermögen. Wir brauchen hier also einen synthetischen Satz. Die Lösung des Problems der Inhaltsbestimmung ist aber nicht nur auf logischem, sondern auch auf empirischem Wege ausgeschlossen. Die Erfahrung erlaubt zwar die Feststellung, daß Handlungen faktisch erstrebt werden oder als erstrebenswert gelten; aber zur Entscheidung der Frage, ob diese Handlungen wirklich erstrebenswert sind, bedürfen wir eines Kriteriums, das von aller Erfahrung unabhängig feststehen und also in einem synthetischen Urteil a priori liegen muß. Dieses Kriterium kann ferner nicht, wie das der Pflicht, nur beschränkenden Charakter haben und formaler Natur sein; denn während die Pflicht die Wahl unserer Zwecke nur einschränkt auf eine negative Bedingung, soll das Ideal die Wahl der Zwecke selber leiten, es soll uns die wahren Zwecke nennen, d. h. die vorzugswürdigen auszeichnen, gegenüber den minderwertigen. Dafür bedarf es eines positiven Kriteriums. Der Satz, der dieses Kriterium nennt, kann hier nur als Grundsatz, also ohne Begründung ausgesprochen werden. Er ist darum kein Dogma, sondern ein Satz, der in der Kritik der praktischen Vernunft seine strenge Begründung findet. Wir können das durch diesen Satz einzuführende Ideal als das der Bildung bezeichnen. Wir verwenden damit das Wort ,,Bildung" in einem andern Sinn als früher: Dieses Wort bezeichnet hier nicht die Erfüllung der idealen Anforderungen, sondern den Inhalt des Ideals.

Materiale Ideallehre.

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1. Kapitel.

Ideale der Bildung. § 82.

Das Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung. Bilden heißt im Grunde nichts anderes als Formen und Gestalten. Das erfordert einen Stoff, der geformt wird, und eine Form, nach der geformt wird. Bildung ist also ein abstufbares Merkmal; sie läßt Gradunterschiede zu. Sie wird um so vollkommener sein einerseits, je mehr Stoff geformt ist, und andererseits, je mehr der Stoff geformt ist. Bildung hängt einmal von der Mannigfaltigkeit dessen ab, was gestaltet wird, und zweitens von der Einheit dieses Ganzen selber. Nun sprechen wir im engeren Sinn von Bildung aber erst da, wo das Gestaltete mit dem Gestaltenden identisch ist, wo es sich um Selbstgestaltung handelt, um selbsttätige Gestaltung, wie wir sagen können. Selbstgestaltung setzt ein Vermögen der Selbsttätigkeit voraus. Diese Selbsttätigkeit ist eigentlich das, was man im bestimmten Sinn des Wortes „Leben" nennt; denn Leben ist die Eigenschaft eines Wesens, sich selbsttätig zu gestalten und zu erhalten. Man spricht zwar von Leben auch da, wo sich ein physischer Prozeß durch die Wechselwirkung innerer und äußerer Kräfte erhält, ohne daß er durch ein eigenes Vermögen der Selbsttätigkeit bestimmt wird. Je nach der anscheinenden Abgeschlossenheit solcher Systeme lassen sich verschiedene Grade der Lebendigkeit unterscheiden. Wenn wir aber das Wort „Leben" nicht nur in diesem weiteren Sinn anwenden wollen, sondern in seinem eigentlichen Sinn, so dürfen wir es nur anwenden auf Vernunftwesen. Nur sie haben die Möglichkeit der Selbsttätigkeit. Das Vermögen der Selbsttätigkeit ist die Vernunft, und das Vermögen, die eigene Person der Vernunft gemäß zu gestalten, ist der Wille. Das Ideal der Bildung ist also nur anwendbar auf vernünftige Wesen und fordert von ihnen zunächst willkürliche Leitung des eigenen Lebens. Nun wird aber der Wille seiner-

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seits bestimmt durch Antriebe. Diese Antriebe können entweder auf zufälligen äußereµ Eindrücken beruhen, oder aber sie können aus dem Wesen des vernünftigen Geistes selber entspringen. Läßt sich der Wille durch einen zufälligen, dem Wesen des vernünftigen Geistes fremden oder äußeren Eindruck bestimmen, so hängt er von etwas Fremdem ab. Wir haben es mit keiner wahren, mit keiner eigentlichen Selbsttätigkeit zu tun. Zu einer solchen gehört, daß der Wille nicht durch zufällige, blinde, nämlich triebhaft wirkende Antriebe bestimmt wird, sondern daß er seinerseits über die Antriebe herrscht und sich als besonnener Wille selber bestimmt, indem er in das Spiel der Antriebe eingreift und die Willensbestimmung dem Zufall entzieht. Aber auch diese Besonnenheit der Willensbestimmung ist noch nicht Selbsttätigkeit im vollen Sinn. Denn auch ein auf äußeren Eindrücken beruhender und also sinnlicher Antrieb kann den Willen in der Form der Besonnenheit bestimmen, und es fragt sich erst, ob der Wille durch ein sinnliches Interesse bestimmt wird, oder ob er sich selber bestimmt gemäß dem Prinzip der Selbsttätigkeit, das ihm durch die Natur des vernünftigen Geistes vorgezeichnet ist. Das Ideal der Bildung ist demnach nichts anderes als vernünftige Selbstbestimmung oder Herrschaft des vernünftig bestimmten W i 11 e n s üb er da s Leb e n. Wir haben hiermit wirklich ein Kriterium unserer Ideallehre aufgestellt und nicht nur, sei es auch in verschleierter Form, das Ideal des Idealismus wiederholt. Man darf nämlich diese Inhaltsbestimmung nicht verwechseln mit dem formalen Prinzip der idealen Autonomie. Man könnte zwar, dem eigentlichen Wortsinn des Ausdrucks „Autonomie" gemäß, diese vernünftige Selbstbestimmung auch Autonomie nennen, aber wir haben es hier mit einem andern Prinzip zu tun als dem analytischen Prinzip der idealen Autonomie. Dieses läßt nämlich den Inhalt des Ideals unbestimmt und verlangt nur, daß dieser Inhalt nicht der eigenen Einsicht entzogen sein kann. Hier aber

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bedeutet Vernünftigkeit nicht etwa bloß den Besitz der Einsicht in das Ideal, sondern überhaupt den Inbegriff der Vermögen wirklicher Selbsttätigkeit. Vernünftigkeit gilt uns als das auszeichnende Merkmal des Menschen. Der Mensch ist aber nicht nur ein vernünftiges Wesen, sondern zugleich ein Naturwesen, d. h. er steht unter Naturgesetzen und nicht nur unter Idealen. Vernünftigkeit besteht für den Menschen daher nur als Anlage; denn es bleibt nach Naturgesetzen unbestimmt, ob und wie weit das, was der Mensch als Vernunft der Anlage nach mitbringt, im Verlauf seines Lebens zur Ausbildung kommt; es bleibt unbestimmt, ob derjenige, der seiner Anlage nach ein vernünftiges Wesen ist, auch im Leben als vernünftig in Erscheinung tritt. Eben darum und nur darum kann Vernünftigkeit des Lebens ein Ideal bilden und also eine ethische Aufgabe für den Menschen werden. Es ist die Aufgabe, das, was in dem Menschen auf Grund der Naturgesetze als bloße Anlage vorhanden ist, zu entwickeln und in Erscheinung treten zu lassen. Ob und inwieweit diese durch kein Naturgesetz verbürgte Entwicklung wirklich stattfindet, davon hängt der Wert des menschlichen Lebens ab. Man kann daher das aufgestellte Ideal auch bezeichnen als das Ideal der M e n s c h 1 i c h k e i t oder der Hum an i t ä t , womit man einem alten und ehrwürdigen Wort seinen ursprünglichen und ihm allein gebührenden Sinn wiedergibt. § 83.

Die Ideale der Wahrheitsliebe, Schönheitsliebe und Gerechtigkeitsliebe. Wir stehen jetzt vor der Frage, welche bestimmten Ideale sich aus dem aufgestellten Prinzip der materialen Ideallehre ergeben. Das Ideal verlangt Entfaltung der Vernunft überhaupt, der Vernunft als eines Erkenntnisvermögens und eines praktischen Vermögens. Es gehören also die Ausbildung des Erkenntnisvermögens und die Ausbildung der Interessen zum Ideal der Bildung. Die praktische Vernunft als Vermögen von

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Ethik.

Interessen umfaßt sowohl das sittliche als auch das ästhetische Interesse. Das sittliche Interesse ist das Interesse an dem, was durch das Sittengesetz als vorzugswürdig bestimmt ist. Es ist demnach in diesem allgemeinen Sinn nichts anderes als das Interesse an der Gerechtigkeit. Ästhetisch nenne ich dagegen jedes Interesse am positiv Wertvollen überhaupt, d. h. an dem, was objektiv und positiv an sich wünschenswert ist, kurz: am Schönen. Das Ideal der Bildung umfaßt demnach die besonderen Ideale der Ausbildung der Erkenntnis, der Ausbildung des Interesses an der Gerechtigkeit und der Ausbildung des Interesses am Schönen. So erhalten wir hier drei Ideale, die wir kurz die I d e a 1 e d e r W a h r h e i t s 1 i e b e , d e r G e r e c h t i g k e i t s 1 i e b e u n d d e r S c h ö n h e i t s 1 i e b e nennen können. Um diese Ableitung und damit ihr Ergebnis richtig zu verstehen und anzuwenden, bedarf es noch einiger Ergänzungen. Bildung ist Vernünftigkeit des Lebens überhaupt; daher stehen die aus dem Ideal der Bildung abgeleiteten Ideale nicht unabhängig neben einander. Erst ihre Vereinigung macht das Wesen der Bildung aus. Es gibt ein Ideal der Ausbildung der Erkenntnis und des Interesses an Gerechtigkeit und Schönheit nur so weit, als diese Ausbildung vom Willen des Menschen abhängt. Erkenntnis der Wahrheit und Interesse an Schönheit und Gerechtigkeit ist nicht unmittelbar ethisch gefordert, sondern allein deren Ausbildung als ein Werk des menschlichen Willens. Ferner eine Bemerkung, die allerdings nur die Bezeichnung betrifft, aber doch zur Vermeidung von Mißverständnissen wichtig ist: Von Wahrheitsliebe und Gerechtigkeitsliebe kann man, streng genommen, nur in übertragenem Sinn sprechen; denn Liebe richtet sich unmittelbar nur auf das Schöne. Liebe ist nämlich im Grunde nichts anderes als das Interesse an dem als objektiv und positiv wertvoll Erkannten - und das ist das Schöne. Alle wahre Liebe geht daher aus der Schönheitsliebe hervor. Aber mittelbar rechtfertigt sich doch jener Sprachgebrauch. Der Inhalt des Ideals der Bildung wird uns nämlich

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durch die ästhetische Wertung des eigenen Verhaltens gegeben. Der Maßstab für diese Wertung ist das Ideal. Nun umfaßt die Schönheit des eigenen Lebens, die ursprünglich allein den Inhalt des Ideals bestimmt, die Ausbildung des Interesses an der Gerechtigkeit und die der Erkenntnis der Wahrheit. Dieses Verhältnis gibt uns das Recht, in einem übertragenen Sinn auch von Wahrheitsliebe und Gerechtigkeitsliebe zu sprechen. § 84.

Von der Methode der Ableitung der drei Ideale. Hiermit entsteht freilich eine gewisse dialektische Schwierigkeit in der Begründung der drei Ideale. Nach der eben angestellten Betrachtung scheint es sich so zu verhalten, als ob die Schönheitsliebe das allgemeinere Ideal darstelle, von dem sich die Wahrheitsliebe und die Gerechtigkeitsliebe nur als besondere Fälle ableiten. Wir hatten andererseits das Ideal der Schönheitsliebe den Idealen der Wahrheits- und Gerechtigkeitsliebe koordiniert. Um aus dieser Unklarheit herauszukommen, müssen wir auf die Frage zurückgehen, inwiefern wir überhaupt ein Ideal der Schönheitsliebe abzuleiten vermochten. Dann finden wir, daß dieses Ideal der Schönheitsliebe kein eigenes, unabhängiges, kein Grundideal ist, sondern daß es selber erst abgeleitet ist und einer Ableitung bedarf aus einem andern Ideal. Die Schönheitsliebe erkennt dem schönen Gegenstand einen Wert zu. Um aber ein Ideal abzuleiten, genügt es nicht, von dem ästhetischen Wert irgend eines Gegenstandes auszugehen., sondern ein Ideal läßt sich allein ableiten auf Grund des ästhetischen Werts unseres eigenen Handelns. Wir stehen daher hier vor der Frage, was eigentlich einer Handlung einen positiven und daher ästhetischen Wert gibt, mit anderen Worten: welches das Kriterium für den positiven Wert einer Hand 1 u n g ist. Handlungen, durch die etwas Schönes hervorgebracht wird, können selber schön sein, insofern nämlich, als durch sie die Vernunft in Erscheinung tritt. Hierin aber ist die Betätigung

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der ästhetischen Interessen der des Erkenntnisvermögens und des sittlichen Interesses koordiniert. Die Ausbildung der Vernunft erhält ihren Wert allerdings auf Grund eines ästhetischen Wertungsprinzips. Es ist die Schönheit des eigenen Lebens, die durch die Ausbildung der Vernunft in Erscheinung tritt; daher können wir sagen, daß die Ausbildung der Vernunft etwas Schönes hervorbringt und so ihrerseits unter das Ideal der Schönheitsliebe fällt. Es liegt hier ein eigentümliches Verhältnis vor, das wir richtig deuten müssen, um die Ableitung der drei koordinierten Ideale zu begreifen. Einerseits leiten wir aus dem Ideal der Ausbildung der Vernunft das besondere Ideal der Schönheitsliebe ab. Andererseits aber umfaßt dieses das Ideal der Liebe zur Schönheit des eigenen Lebens. Wir kommen immer wieder auf unseren Ausgangspunkt zurück in einer unendlichen Reihe. Aber damit verwickeln wir uns nicht in einen Zirkel; denn die fragliche Reihe ist progressiv und nicht regressiv. Das ergibt sich daraus, daß das Ideal der Schönheitsliebe nicht das Ideal der Schönheit des eigenen Lebens, sondern das der Li e b e zur Schönheit des eigenen Lebens umfaßt. Dieser merkwürdige Zusammenhang läßt sich in folgendem Schema darstellen: Erkenntnisvermogen: Ideal der Wahrheitsliebe.

Ideal der Ausbildung der eigenen Vernunft (oder der Sdti:mheit des eigenen Lebens).

j

l Interesse

lf

!

S1 ttlidtes: an der Geredtllgkeit: Ideal der Geredtllgke1tshebe.

··· Asthet1sdtes: am Sdtonen :

Ideal der Sdtonhe1tshebe.

· · · Ideal der Lieb_e zu_r Schonbeil des eigenen Lebens.

Ideal der Liebe Wahr;~ftsliebe.

l

Ideal der Liebe zur Gereditigkeitsliebe. Ideal der Liebe

zur Schönheitsliebe.

Materiale Ideallehre.

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§ 85.

Das Ideal der Wahrheitsliebe. Bei der Betrachtung der einzelnen Ideale wollen wir mit dem Ideal der Wahrheitsliebe beginnen. Wir müssen dieses gegen die Pflicht der inneren Wahrhaftigkeit abgrenzen. Das Ideal der Wahrheitsliebe geht über diese Pflicht hinaus, indem es der Erkenntnis der Wahrheit einen Wert erteilt unabhängig davon, ob sie zur Erfüllung von Pflichten notwendig ist oder nicht. Andererseits muß man sich freilich vor Augen halten, daß dieses Ideal nur aus dem allgemeinen Ideal der Bildung abgeleitet worden ist; Erweiterung der Erkenntnis kann daher nur insofern einen idealen Wert haben, als sie zur Bildung beiträgt. Der Grad der Bildung hängt aber nicht ohne weiteres von der Fülle des Stoffes ab; die Bildung ist zwar um so vollkommener, je größer die Empfänglichkeit und Aufnahmefähigkeit des Menschen ist, aber sie wird mit dem Reichtum des Stoffes nur in dem Maße wachsen, als dieser Gestalt erhält, d. h. vom Vernünftigen durchdrungen wird. Eine zufällige Ansammlung von Kenntnissen ist daher nicht das, was das Ideal der Wahrheitsliebe verlangt, dieses Ideal kann vielmehr nur durch selbsttätige Aneignung und Verarbeitung des Wissensstoffes verwirklicht werden; denn nur sie bedeutet eine Steigerung der Bildung. Wahrheitsliebe strebt nämlich überall nicht nach dem bloßen Wissen, sondern nach der Erkenntnis der Einheit und des Zusammenhangs der Tatsachen. Das Ideal der Wahrheitsliebe geht ferner auch über die Pflicht der äußeren Wahrhaftigkeit hinaus. Es fordert Wahrheit auch da, wo die Pflicht der Gerechtigkeit sie nicht verlangt. Der Gebildete wird also auch da nicht von der Wahrheit abweichen wo die Pflicht ihm eine solche Abweichung nicht verbietet, sondern nur da, wo eine entgegenstehende Pflicht sie ihm gebietet.

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Ethik.

§ 86.

Das Ideal der Gerechtigkeitsliebe. Wir haben die Gerechtigkeit als Pflicht erkannt, und es entsteht die Frage, inwiefern wir darüber hinaus von einem Ideal der Gerechtigkeitsliebe sprechen können. In der Tat: Gerechtigkeit, als ein Gebot der Pflicht, kann an sich nicht Gegenstand der Liebe sein. Das Gesetz fordert die Unterwerfung unter die Anforderungen der Gerechtigkeit; es kann wohl Achtung, aber nicht Liebe erwecken. Während aber die Pflicht nur fordert, daß wir unser eigenes Interesse den überwiegenden Interessen anderer nachstellen, schließt das Ideal die Anforderung der Durchsetzung des Rechts überhaupt ein. Es gibt ein sittliches Interesse, das über das Interesse an der eigenen Pflichterfüllung hinausgeht. Wir haben nämlich ein Interesse an allem, was wir als wertvoll erkennen. Nun ergibt sich aus dem Sittengesetz eine Wertung, durch die unmittelbar jede Pflichtverletzung verurteilt wird. Jeder Zustand, in dem das Sittengesetz nicht erfüllt ist, hat also einen sittlichen Unwert. Hierauf beruht das Interesse an der unbedingten Geltung des Rechts in der Gesellschaft, ein Interesse, das über das an der Erfüllung der eigenen Pflicht hinausgeht, indem es sich auch auf die Erfüllung der Pflicht aller andern Glieder der Gesellschaft richtet. Ich will dieses Interesse das r e c h t 1 i c h e I n t e r e s s e nennen, es ist kein anderes als das der Gerechtigkeitsliebe. Auf diesem Interesse beruht der Antrieb, die Geltung des Rechts in der Gesellschaft von dem an sich zufälligen Pflichtbewußtsein und der Bereitschaft der Mitglieder der Gesellschaft unabhängig zu machen, und also, wo der gute Wille fehlt, es zu erzwingen. An dieser Stelle findet auch die sittliche Wertung der Ehre den Platz, den wir ihr in der Pflichtenlehre verweigern mußten. Wir haben dort gesehen, daß es nicht neben der Pflicht der Gerechtigkeit eine Pflicht der Ehre gibt, als eine solche der Achtung der Würde der eigenen Person, wohl aber gibt es, wie wir hier feststellen, ein Ideal der Ehrliebe. Ehrliebe ist nämlich

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das Interesse an der Wahrung des eigenen Rechts. Sie zeigt sich in der Bereitschaft, Kränkungen des eigenen Rechts nicht zu dulden. § 87.

Das Ideal der Schönheitsliebe. Zum Verständnis des Ideals der Schönheitsliebe kommt es darauf an, das Wort „Schönheitsliebe" in dem Sinn zu verstehen, in dem wir das Ideal der Schönheit aus dem Ideal der Bildung abgeleitet haben. Man darf Schönheitsliebe weder mit dem Interesse an dem bloßen Umgang mit dem Schönen verwechseln, noch mit dem Interesse am Guten. Schönheitsliebe als solche ist ebenso verschieden von bloßer Neigung wie von Achtung. Achtung ist das Interesse am sittlich Guten. Achtung wird uns abgenötigt; sie entspringt aus der Vergleichung ihres Gegenstandes mit einem Gebot. Liebe dagegen ist ein freies, d. h. auf keine Nötigung sich gründendes Interesse, ein Interesse, das aber als reine Liebe auch kein sinnliches Interesse ist, d. h. kein bloß blindes Interesse der Neigung, sondern ein solches, das dem Gegenstand selber den Wert zuerkennt, während die Neigung den Gegenstand nur schätzt, sofern er auf uns, das Subjekt, einwirkt. Es gibt ein bloß empirisches Interesse am Schönen. Dieses Interesse, das von der Schönheitsliebe durchaus verschieden ist, richtet sich eigentlich nur auf den Genuß an der Beschauung des Schönen, aber nicht unmittelbar auf das Schöne als solches. Das empirische Interesse am Schönen gibt also dem Schönen einen mittelbaren Wert insofern, als es für uns ein Grund des Vergnügens ist. Es leitet den Wert, den es dem Schönen gibt, nur her aus dem Wert des Vergnügens, während es für die Schönheitsliebe auf den objektiven Wert des Schönen ankommt. Das empirische Interesse am Schönen gilt allein der Wirkung des schönen Gegenstandes auf das Subjekt. Genug, daß ich durch den Gegenstand in den Zustand des Genusses versetzt werde, dann unterhält er mich und bereitet mir Ver-

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gnügen. Für dieses Vergnügen ist daher das Dasein des schönen Gegenstandes nur zufällig. Das Vergnügen würde dasselbe sein, wenn es sich auf andere Weise, unabhängig von dem Dasein des schönen Gegenstandes erzeugen ließe. Das Interesse der Schönheitsliebe dagegen bezieht sich unabhängig von dem Genuß an der Beschauung des Schönen auf das Dasein des schönen Gegenstandes. Es ist von der Rücksicht auf die Existenz des Schönen abhängig. Hierdurch unterscheidet sich der bloße Genuß- oder Unterhaltungstrieb von der wirklichen Schönheitsliebe. Je höher die ästhetische Bildung eines Menschen ist, desto geringer wird gerade sein bloßes Bedürfnis nach Genuß sein und umgekehrt.

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2. Kapitel.

Fehlerhafte Idealbestimmungen. §

88.

Mißverstandene Idealbestimmungen. Die Ausbildung der Vernunft ist nur möglich dadurch, daß die Reflexion hinreichend entwickelt wird, um das, was ursprünglich dunkel in der Vernunft liegt, zur hinreichenden Klarheit des Bewußtseins zu erheben. Nur vermittels der Reflexion kann die Vernunft den Willen bestimmen und zur Herrschaft über das Leben gelangen. Aber der Verstand oder die Reflexion ist andererseits auch nur das Mittel, die idealen Zwecke, die ursprünglich durch die Vernunft bestimmt werden, ins Bewußtsein zu heben. Verkennt man dies, so entstehen zwei einander entgegengesetzte Fehler. Man kann nämlich einmal an der Anforderung der Verständigkeit der Willensbestimmung festhalten, dann aber der ursprünglichen Leerheit des Verstandes zufolge zu keinen inhaltlich bestimmten idealen Zwecken vordringen, oder aber, da diese unabhängig vom Verstand entspringen, die Anforderung der Verständigkeit der Willensbestimmung preisgeben, um anderweit einen Gehalt an idealen Zweck.en zu gewinnen. Wir erhalten so entweder Verständigkeit ohne einen Inhalt für das Ideal oder umgekehrt einen solchen Inhalt ohne Verständigkeit, und damit zwei mögliche Verfälschungen des Kriteriums der Ideallehre. Bloße Verständigkeit des Lebens führt nur auf die Anforderung der Zweckmäßigkeit. Der Verstand kann uns nur lehren, anderweit vorausgesetzten Zweck.en die geeigneten Mittel unterzuordnen. Er gibt uns keine kategorischen Normen, die den Inhalt solcher Zwecke bestimmen, sondern nur hypothetische Normen oder Regeln der Klugheit. Das Verhältnis des Mittels zum Zweck ist an und für sich nur ein theoretisches Verhältnis, es wird durch ein Naturgesetz bestimmt, das uns die Ursache zu der als Zweck. vorgestellten Wirkung nennt. In

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Ethik.

praktischer Hinsicht gewinnt dieses Verhältnis dadurch Bedeutung, daß die Anforderung der Zweckmäßigkeit schon logisch in der des Zwecks enthalten ist; denn wer einen Zweck will, der will damit die Bedingung seiner Verwirklichung; es wäre ein Widerspruch, etwas zu wollen, dessen Bedingung man nicht will. Der Begriff der bloßen Zweckmäßigkeit führt dagegen, richtig verstanden, überhaupt nicht zu praktischen Normen. Ich nenne das mißverstandene Bildungsideal, nach dem die Zweckmäßigkeit der Lebensgestaltung den Wert des Lebens ausmacht, das I de a 1 d er U t i 1 i t ä t. Auf Grund eines solchen Ideals lassen sich Handlungen nur unter dem Gesichtspunkt des Nutzens bewerten, wobei der Nutzen sich seinerseits nach Zwecken bestimmt, die hier selber unbestimmt bleiben. Zur Anwendung des Ideals der Utilität kann man freilich nur kommen, wenn Zwecke da sind, nach denen sich die Nützlichkeit von Handlungen jeweils bemißt. Diese Zwecke können entweder die eigenen oder die der anderen Mitglieder der Gesellschaft sein. Je nachdem man den Nutzen nach den einen oder den anderen Zwecken beurteilt, könnte man unterscheiden zwischen einem Ideal der persönlichen und einem solchen der sozialen Utilität. Zur Bestimmung des Inhalts eines Ideals würde aber nach dem Gesagten höchstens der Begriff der sozialen Utilität taugen, da die individuelle Utilität schon ein bloßes Gebot der Klugheit ist. Aber auch das Ideal der sozialen Utilität ist ein inhaltleeres Ideal. Wir müssen hier fragen, worin der Nutzen für die Gesellschaft liegt. Die Gesellschaft als solche verfolgt keinen Zweck, Zwecke verfolgen nur die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft. Durch das Ideal der sozialen Utilität kann daher auch nur die Verfolgung von Zwecken der einzelnen Gesellschaftsmitglieder gefordert werden. Diese Zwecke können sich entweder auf die Befriedigung zufälliger oder auf die notwendiger Interessen richten, d. h. sie können entweder dem Wohlbefinden der Mitglieder der Gesellschaft oder ihrer Bildung gelten. Im ersten Fall würde durch das Ideal der sozialen Utilität der Einzelne in Wahrheit zum bloßen Mittel für das Belieben

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der andern werden. Das Ideal würde von ihm die Unterordnung unter die subjektiven Interessen und damit unter die Willkür der andern verlangen. Im zweiten Fall bewegen wir uns mit der Inhaltsbestimmung des Ideals in einem Kreis. Damit nämlich ein solches Prinzip anwendbar wäre, würde es schon eine von ihm unabhängige Inhaltsbestimmung des Ideals voraussetzen, wonach man entscheiden könnte, was zur Bildung der Gesellschaftsmitglieder erforderlich ist. Man kann den Inhalt des Ideals der Bildung nicht bestimmen durch das, was zur Verwirklichung des Ideals der Bildung dient. Der Fehler liegt hier darin, daß die Leerheit des Verstandes und damit die Leerheit einer bloßen Anforderung der Zweckmäßigkeit verkannt wird. Wenn man den Fehler des Ideals der Utilität vermeiden will, die vom Verstand unabhängige Vernunft aber nicht zu finden versteht, so wird man zum Bildungsideal einen durch äußere Normen bestimmten Zweck nehmen, seien diese Normen nun durch den persönlichen Willen eines menschlichen oder göttlichen Wesens, eines Einzelnen oder einer Klasse von Personen, durch ein Beispiel, das Nachahmung verlangt, oder durch die Forderung des bloßen Festhaltens an toten äußeren Formen der Tradition oder der Sitte gegeben. In allen solchen Fällen handelt es sich um eine äußere, von der eigenen Vernunft des Menschen unabhängige, durch ein zufälliges Faktum bestimmte Norm. Das Ideal kann hier nur eine blinde Unterwerfung unter eine solche äußere Norm verlangen, von der man nicht einsieht, worauf der Wert ihrer Befolgung beruht. Wir können die Ideale der Unterwerfung unter solche, durch zufällige Tatsachen bestimmte äußere Normen zusammenfassen als I de a 1 e der Pietät. Der Wert der Pietät ist immer nur ein mittelbar bestimmter Wert. Er setzt einen von der Pietät selber unabhängigen Wert voraus, aus dem sich erst ein Grund zur Pietät herleiten kann. Es ist der Fehler aller Ideale der Pietät, diesen mittelbaren Wert als den ursprünglichen auszugeben und zu verkennen, daß

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schon eine von Pietätsrücksichten unabhängige Wertung zugrunde liegen muß, damit ein Interesse der Pietät entstehen kann. Diese ursprüngliche Wertung fehlt hier aber gerade. Wenn man die Nichtigkeit dieser Ideale einsieht, trotzdem aber nicht auf die Vernunft zurückgeht, so bleibt nichts übrig, als das aufzustellende Ideal durch den Gegensatz zu diesen mißverstandenen Idealen zu bestimmen. Dadurch ergibt sich aber nur eine weitere Folge mißverstandener Ideale. Geht man davon aus, daß die bloße Utilität nicht der Inhalt eines Ideals sein kann, und versucht, in Ermanglung eines andern Gehalts für das Ideal, dieses nur durch den Gegensatz zur Utilität zu bestimmen, so gelangt man zu dem Ideal, das ich das d er F u t i 1 i t ä t nennen will, nämlich zu dem Ideal, wonach der bloße Mangel der Zweckmäßigkeit selber zum idealen Wert erhoben wird. Es ist das Ideal der Zwecklosigkeit oder der Ungünstigkeit. Man geht hier von dem richtigen Gedanken aus, daß bloße Nützlichkeit nicht hinreicht, einer Handlung idealen Wert zu geben, und zieht daraus den Schluß, daß der Mangel an Nützlichkeit eine Bedingung des idealen Werts ist. Wir erhalten hier das Ideal, den Zwecken, die sich anderweit ergeben, nach Möglichkeit entgegenzuwirken, wodurch man auf das extreme Ideal der Askese geführt wird. Denn diese besteht in dem Bestreben, die Interessen nach Möglichkeit unbefriedigt zu lassen. In der Tat: Die Befriedigung der Interessen hat als solche noch keinen idealen Wert. Daraus folgt aber nicht, daß der Verletzung der Interessen ein solcher Wert zukommt. Will man endlich den Inhalt des Ideals durch den Gegensatz zu dem angeblichen Ideal der Pietät bestimmen, so kommt man dazu, die bloße Unabhängigkeit von äußeren Normen selber als Ideal aufzustellen. Hier wird die Selbständigkeit als idealer Zweck anerkannt, aber sie wird gesucht im bloßen Gegensatz zu dem, was sonst durch eine äußere Norm als Ideal gefordert sein könnte. Wir kommen so zu einem angeblichen I de a 1 d er O r i g i n a 1 i t ä t , durch das die größtmögliche Eigenart des Einzelnen gefordert wird. Da hier das wirkliche Prinzip der Selbsttätigkeit, die Ver-

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nunft, verkannt wird, so ist die angebliche Selbständigkeit in Wahrheit nur eine andere Form der Abhängigkeit. Der Originalitätssüchtige lebt in einer ebenso sklavischen Gebundenheit wie der Anhänger des Ideals der Pietät. Ja die Abhängigkeit ist sogar noch größer insofern, als er sich über seine Abhängigkeit täuscht, während jener wenigstens davon weiß. Das Streben nach Originalität macht ihn abhängig von den Handlungen anderer; er muß abwarten, was sie tun, um dann das Gegenteil zu tun. Der Wert seines Tuns liegt also nicht in diesem selber, sondern nur in dem Verhältnis seiner Handlungen zu denen anderer, darin nämlich, daß er etwas anderes tut als jene. Das Ideal der Originalität ist daher das ärmlichste und traurigste von allen, es ist als das bloße Anderssein bestimmt, also durch einen leeren Reflexionsbegriff. §

89.

Einseitige Bildungsideale. Neben diesen pervertierten Bildungsidealen kann man andere Bildungsideale aufstellen, die aus einer einseitigen Deutung des Ideals der Bildung entspringen; man macht hier eines der drei Ideale, das der Wahrheitsliebe, der Schönheitsliebe oder der Gerechtigkeitsliebe, zum alleinigen Ideal der Bildung. Auf diese Weise entstehen drei einseitige Bildungsideale. Das Ideal der alleinigen Herrschaft der Wahrheitsliebe führt auf eine intellektualistische Lebensanschauung, wonach der Wert des Lebens allein in der Bildung der Erkenntnis gesucht und also nur der Forscher als wahrer Mensch anerkannt wird. Dieses Ideal ist einseitig. Denn im Bereich der Natur, wo das Gute und das Schöne zu ihrer Verwirklichung der menschlichen Tatkraft bedürfen, ist der Denkerstolz des bloßen Theoretikers nicht das Kennzeichen wahren Menschentums, sondern im Gegenteil eine seiner häßlichsten Mißgestaltungen; die Vernunft bedarf, um in die Erscheinung zu treten, ebensowohl der Ausbildung des Interesses am Guten und Schönen wie der bloßen Erkenntnis.

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Die Lebensanschauung des Ästhetizismus, wonach nur der Künstler als wahrer Mensch gelten kann, geht aus von dem Ideal der Alleinherrschaft der Schönheitsliebe. Uber der Schönheit der Kunst wird hier die des eigenen Lebens vergessen. Denn diese verlangt neben der Schönheitsliebe auch Wahrheitsund Gerechtigkeitsliebe. Wir werden also diese Lebensansicht ebenfalls als einseitig verwerfen. Das Ideal der Alleinherrschaft des sittlichen Interesses führt auf eine einseitig moralische Lebensansicht. Diese Ansicht läßt sich nicht konsequent durchführen. Denn das Sittengesetz gibt uns nur eine einschränkende Bedingung für Werte und kann an und für sich gar keinen positiven Wert des Lebens bestimmen. Es schreibt eine Form des Lebens vor, die nur dadurch verwirklicht werden kann, daß sie dem Reichtum des Lebens Gestalt gibt. Eben dieser Reichtum wird hier über der bloßen Form vergessen. Die einseitig moralische Lebensansicht hebt sich damit unmittelbar selber auf. § 90.

Die tatenscheue und die tatenfrohe Lebensansicht. Einen andern wichtigen Gegensatz der Lebensansichten erhalten wir, wenn wir erwägen, daß die Ausbildung des Interesses ihrerseits in zwei verschiedenen Richtungen erfolgt. Das Interesse äußert sich nämlich einmal als bloßes Gefühl für den Wert und andererseits als Antrieb zum Handeln. Je nachdem man nun das Interesse als bloßes Gefühl ausbildet oder aber als Antrieb zum Handeln, entsteht der Gegensatz einer kontemplativen und einer praktischen Lebensansicht, eines kontemplativen und eines praktischen Ideals. Ich nenne das Ideal der bloßen Genügsamkeit einer kontemplativen Lebensart das der tat e n s c h e u e n L e b e n s an s i c h t , dagegen das Ideal der Ausbildung der Antriebe das der tatenfrohen Lebens ans ich t. Hier steht die tatenfrohe Lebensansicht im Gegensatz so-

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wohl zur intellektualistischen wie zu einer solchen, die den Wert des Lebens in einer einseitigen Ausbildung des Gefühls sucht und die ich im Gegensatz zur intellektualistischen die romantische oder die sensimentale Lebensansicht nenne. Die sentimentale Lebensansicht setzt den Wert in das, worin der Mensch von äußeren Einwirkungen abhängt, in das, was er empfängt, nicht in das, worin er selbsttätig sein Leben gestaltet. Wir werden der tatenfrohen Lebensansicht den Vorrang einräumen: denn die vollständige Lebensäußerung findet ihren Abschluß erst im Handeln. Man versucht oft, die Zurücksetzung des Handelns und die einseitige Schätzung des Gefühlslebens zu rechtfertigen durch den Hinweis auf die Erhabenheit idealer Gefühle, die angeblich durch Vermengung mit der Wirklichkeit des Lebens nur verlieren. Aber eine solche Lebensauffassung, bei der die Taten durch die Begeisterung ersetzt werden sollen, ist ein bloßer Selbstbetrug; denn alle Begeisterung ist, wenn sie echt ist, Begeisterung für etwas, was idealen Wert hat und dessen Verwirklichung eine Aufgabe für den Willen ist. Die sentimentale Lebensansicht begnügt sich mit der bloßen Phantasiebefriedigung der reinen Antriebe; sie sucht den Wert des Lebens in der Beschäftigung mit einer angeblichen Vollkommenheit, die doch bloß geträumt ist, und entzieht sich dadurch der Aufgabe, an dem zu arbeiten, was zu verwirklichen in der Macht des Willens steht. Die sentimentale Lebensansicht tut sich einer angeblich realistischen und insofern minder-wertigen Lebensansicht gegenüber viel zugute auf die Idealität ihrer Gesinnung und verachtet die äußere Tat. Sie bemäntelt diese Verachtung damit, daß die äußere Tat an sich keinen idealen Wert haben könnte. Allerdings, wir werten nicht bloß eine äußere Tat, sondern wir machen unsere Schätzung des Menschen abhängig von seiner Gesinnung. Aber der Schluß, den man hieraus oft auf den Vorrang des bloß beschaulichen Lebens zieht, ist ein Trugschluß. Denn eine Gesinnung, die nicht in der Bereitschaft zu Taten besteht, verdient in Wahrheit diesen Namen gar nicht. Gesinnung ist Richtung des Willens.

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Ethik.

Ideale Gesinnung ist Unterwerfung des Willens unter die Anforderung des Ideals und also Bereitschaft zu den von dem Ideal aufgegebenen Taten. Dieses Ideal kann nicht wieder ein Ideal der bloßen Gesinnung sein, sondern es bezieht sich auf Taten, es bestimmt nämlich unmittelbar eine Aufgabe für den Willen. Ein anderer Versuch, dieses Ideal der tatenfrohen Lebensansicht herabzusetzen, besteht darin, daß man es mit dem Ideal einer bloß ruhelosen und keinem hohen Zweck dienenden Betriebsamkeit identifiziert. In Wahrheit besteht aber kein Gegensatz zwischen dem Ideal eines tatenfrohen Lebens und einer wahren Ruhe des Geistes; denn eine Ruhe, die nicht bloß Leblosigkeit, sondern wahre innere Ruhe ist, kann nur die Folge der Zufriedenheit des Menschen mit sich selber sein. Sie ist nicht bedingt durch Tatenlosigkeit, sondern sie hängt davon ab, ob der Mensch mit seinen eigenen höheren Zwecken in Einklang lebt, und sie kann daher gerade nur erreicht werden durch Tätigkeit für diese Zwecke. Die Bevorzugung des beschaulichen Lebens vor dem tatenfrohen beruht aber noch auf einem andern Fehler, der für eine unkritische Ethik in der Tat sehr nahe liegt und auf den wir deshalb näher eingehen wollen. Dieser Fehler entspringt aus der Verwechslung des ethischen Ideals mit einem mißverstandenen religiösen Ideal, dem angeblichen Ideal der Frömmigkeit. In der Frage nach dem Vorrang des ethischen Ideals einer tatenfrohen Lebensweise vor einem solchen religiösen Ideal eines beschaulichen Lebens können wir im voraus schon das eine sagen, daß es ein Ideal der Frömmigkeit nur geben kann, sofern es eine ethische Aufgabe darstellt. Es muß daher entweder mit dem ethischen Ideal überhaupt identisch oder doch in diesem mitenthalten sein. Die Annahme eines eigenen, neben dem ethischen Ideal stehenden Ideals der Frömmigkeit verstößt schon gegen die bloße Form des Ideals. Was nun dieses Ideal der Frömmigkeit selber betrifft, so setzt Frömmigkeit, wenn wir sie uns als ein praktisches Verhalten des Geistes denken und darunter nicht bloß den Glauben

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an bestimmte Religionswahrheiten verstehen, ein eigenes religiöses Interesse voraus, in dessen Ausbildung sie besteht. In der Tat kann man ein solches religiöses Interesse von dem ethischen Interesse unterscheiden, aber man muß sich hier vor einer Zweideutigkeit hüten. Das religiöse Interesse kann nur das Interesse an dem objektiv Wertvollen sein. Das objektiv Wertvolle kann aber in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen verstanden werden, nämlich einmal in dem Sinn, in dem das Objektive dem Subjektiven im Sinn des Willkürlichen entgegengesetzt wird, dann aber in dem ganz andern Sinn, wonach das objektiv Wertvolle dasjenige ist, dessen Dasein nur anerkannt werden und also nur ein· Gegenstand der Kontemplation sein kann, im Gegensatz zu dem, was einen Zweck für uns selber enthält, d. h. zu dem, was eine Aufgabe für unsern Willen bestimmt. Im ersten Sinn, wonach das objektiv Wertvolle dadurch gekennzeichnet ist, daß sein Wert sich nicht durch das subjektive Belieben bestimmt, gibt es keinen Gegensatz zwischen der objektiven, religiösen und der ethischen Wertung; denn in diesem Sinn ist die ethische Wertung selber eine objektive Wertung. Was ethisch Wert hat, ist ganz unabhängig vom subjektiven Belieben. Die ethischen Werte fallen daher bei dieser Bedeutung des Wortes selber unter die objektiven. Im andern Sinn ergibt sich in der Tat ein Gegensatz zwischen .,ethisch" und „religiös". Hier kommen wir auf den bereits besprochenen Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Teleologie, wonach die subjektive Teleologie von dem für uns Wertvollen handelt, d. h. von dem durch unsern Willen erst Hervorzubringenden, die objektive Teleologie von dem an und für sich, seinem bloßen Dasein nach, Wertvollen, was von uns nicht hervorgebracht, sondern hinsichtlich seines Wertes nur anerkannt werden kann. Verkennt man diesen Unterschied der Begriffe des objektiv Wertvollen und des ethisch Guten, so kommt man unvermeidlich zu einem einseitig kontemplativen Lebensideal. Durch diesen Fehler wird daher eine phantastische und tatenscheue Lebensansicht begründet, eine Lebensansicht, die die Ideale

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Ethik.

nicht nach ihrer praktischen Anwendbarkeit beurteilt, sondern allein nach ihrem Wert für die Kontemplation. Die Ideale werden nicht als Gegenstand des Strebens vorgestellt, sondern nur als solche des Schwärmens, und es entsteht die Vorstellung, als ob sie zu hoch über der Wirklichkeit schwebten, um nicht durch ein Streben nach ihrer Verwirklichung hinabgezogen und entweiht zu werden. Dadurch wird eine Gesinnung erzeugt, die sich mit der Wirklichkeit abfindet, wie sie ist, ohne alle idealen Ansprüche an sie. Aus der schlechten Wirklichkeit flüchtet sich ein solcher Mensch in das Reich der Träume und des schönen Scheins, der Kunst, aber wohlverstanden nur der romantischen Kunst; denn alle echte Kunst ist ein Werk der Schönheitsliebe, sie geht also hervor aus dem Interesse an der Realität des Schönen und muß immer darauf zurückführen. Die wahre Kunst kann nicht darauf verzichten, Ideale für das Leben darzustellen, sie steht daher im Widerspruch zu der romantischen Lebensansicht. Die romantische Kunst verzichtet auf diesen Anspruch; die ihr adäquate Kunstform ist daher das Märchen. Der Selbstbetrug, der in der Bemäntelung der Schwächlichkeit und Tatenscheu einer solchen Lebensansicht liegt, findet seine raffinierteste Ausprägung in dem Heroenkult, d. h. in der Verehrung eines Menschen als Darstellung eines Ideals·. Dieser Kult beruht auf der Verkennung der Unvollkommenheit der Menschen und bringt daher eine Gefährdung des idealen Strebens mit sich, indem er dem Ideal alle ethische Bedeutung raubt. Wenn einmal durch die fortschreitende Erfahrung und die damit verbundene Vertiefung der Einsicht die unvermeidliche Enttäuschung eintritt, wird mit dem Glauben an die menschliche Vollkommenheit auch der Glaube an das Ideal selber zerstört. Durch die Persönlichkeit eines Menschen kann das Ideal nicht verkörpert werden, sie kann es nur symbolisieren. Wird dies verkannt und wird aus dem symbolischen Verhältnis ein solches der logischen Identität gemacht, so wird die Heldenverehrung zur bloßen Vergötterung und endet mit der Unterwerfung unter das persönliche Vorbild und mit dem Autoritätsglauben. Damit ist nun aber auf der andern Seite unvermeidlich eine Entwertung

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der eigenen Persönlichkeit verbunden, eine Resignation gegenüber dem eigenen Beruf und dem eigenen Können. Denn wenn dem Helden gegenüber nur Verehrung am Platz ist, so muß alles Streben nach dem Heldentum aufhören. Der Heroenkult erzeugt daher ein Gefühl der eigenen Ohnmacht und lähmt die ethische Tatkraft. Für uns selber bleibt nichts weiter übrig, als in dem passiven Gefühl der Selbstverachtung und mißverstandenen Demut uns der Verehrung des Helden hinzugeben und allenfalls auf Erlösung durch die Gnade einer höheren Hand zu hoffen. Aber eine solche Erlösung könnte uns niemals den Verlust des Wertes vergüten, den wir uns durch eigene Selbsttätigkeit geben könnten, wenn sie uns auch aller Gefühle der Glückseligkeit teilhaftig zu machen vermöchte. §

91.

Inkonsequenz aller einseitigen Bildungsideale. Recht verstanden bedingen sich die Ideale der Wahrheitsliebe, Schönheitsliebe und Gerechtigkeitsliebe gegenseitig, und eine einseitige Ausbildung der Erkenntnis der Wahrheit oder des Interesses an Schönheit und Gerechtigkeit ist überhaupt nicht möglich. Der Anschein einer solchen Möglichkeit kann nur dadurch erweckt werden, daß die einseitig gewollte Ausbildung selber nicht konsequent durchgeführt wird. Und wirklich, es zeigt sich hier die merkwürdige Tatsache einer Art von prästabilierter Harmonie der Wahrheitsliebe, Schönheitsliebe und Gerechtigkeitsliebe. Das Streben nach Wahrheit muß nämlich, hinreichend ausgebildet, zu d.er Einsicht in den Wert der Ausbildung des sittlichen und ästhetisdlen Interesses führen und damit zugleich zur Einsicht in die Vorzugswürdigkeit der tatenfrohen Lebensansicht. Denn der Wert der Ausbildung des sittlichen und ästhetischen Interesses ist seinerseits eine Wahrheit, und die Erkenntnis dieser Wahrheit wird bei hinreichendem Wahrheitsstreben unvermeidlich gewonnen werden. Eine intellektuali-

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Ethik.

stische Geistesausbildung muß daher immer inkonsequent bleiben. Sie wird durch Anerkennung der ethischen Wahrheit allmählich ihre eigene Inkonsequenz entdecken und über sich selber hinausführen. Andererseits wird die Ausbildung der Schönheitsliebe inkonsequent bleiben, wenn sie nicht auch die Schönheit des eigenen Lebens umfaßt und damit einem tatenfrohen Leben, dem Streben nicht nur nach Schönheit, sondern auch nach Wahrheit und Gerechtigkeit den Vorzug gibt. Die einseitige Ausbildung der Schönheitsliebe ist mit dem Streben nach der Schönheit des eigenen Lebens unmittelbar im Widerstreit. Hinreichende Ausbildung der Schönheitsliebe wird daher diese Einseitigkeit vermeiden. Ebenso muß endlich die Ausbildung der Gerechtigkeitsliebe dazu führen, den Wert der Wahrheits- und der Schönheitsliebe anzuerkennen. Gerechtigkeitsliebe schließt das Streben nach Ausbildung der Erkenntnis und der praktischen Lebensansicht ein; denn von hinreichender Erkenntnis und hinreichender Einsicht in den Wert der Dinge hängt die Möglichkeit ab, den Inhalt dessen, was die Gerechtigkeit fordert, richtig zu bestimmen. Dem formalen Charakter des Sittengesetzes gemäß verlangt die Anwendung dieses Gesetzes, um richtig zu erfolgen, eine hinreichende Kenntnis der Situation und der Vorzugswürdigkeit der dabei in Betracht kommenden Interessen. Diese läßt sich ihrerseits nur bestimmen auf Grund des Ideals, das allein den Maßstab für die Bewertung von Interessen abgibt. Dieses Ideal kann nicht in dem der Gerechtigkeitsliebe aufgehen; denn die Vorzugswürdigkeit der Interessen muß schon unabhängig von dem Maßstab der Gerechtigkeitsliebe bestimmt sein, damit dieser anwendbar ist. Hinreichende Ausbildung der Gerechtigkeitsliebe schließt also Ausbildung der praktischen Lebensansicht und also Anerkennung der Ideale der Wahrheitsliebe und der Schönheitsliebe ein. So überzeugen wir uns, daß sich die drei Ideale der Wahrheitsliebe, der Schönheitsliebe und der Gerechtigkeitsliebe gegenseitig bedingen, daß die Ausbildung auf Grund eines

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einzigen von ihnen unvermeidlich inkonsequent bleiben muß, ja daß sie, hinreichend weit geführt, die beiden andern selber verlangt. Man kann daher mit Recht von einer Dreieinigkeit dieser drei Ideale sprechen.

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3. Kapitel.

Ideale des Berufs. § 92.

Bildung und Beruf. Mit dem Nachweis der gegenseitigen Abhängigkeit der aufgestellten drei Ideale ist jede einseitige Beschränkung auf eines von ihnen zurückgewiesen. Das Ideal der Bildung verlangt Harmonie in der Ausbildung der Anlagen. Um dieses Ergebnis vor Mißverständnissen zu schützen, müssen wir beachten, daß die Harmonie in der Ausbildung der Anlagen, die wir an einem Menschen ästhetisch schätzen, keineswegs Gleichmäßigkeit in der Ausbildung seiner Anlagen bedeutet. So wenig man von einer musikalischen Harmonie verlangt, daß die einzelnen Töne gleich stark angeschlagen werden, oder von einer Farbenkomposition, daß alle Farben gleich stark aufgetragen sind, so wenig wird man von einem .gebildeten Menschen verlangen, daß seine verschiedenen Anlagen gleichmäßig ausgebildet werden. Ästhetische Harmonie kommt nicht dadurch zustande, daß wir eine Mannigfaltigkeit gleichartiger Teile zusammentragen, sondern sie verlangt einen beherrschenden Mittelpunkt des Ganzen, dem sich das andere unterordnet; denn in einer solchen Unterordnung besteht die Harmonie. Ein Mensch mit gleichmäßig ausgebildeten Anlagen könnte nur ein Mensch mit gleichmäßig wenig ausgebildeten Anlagen sein, und wir würden in ihm nicht einen gebildeten Menschen, sondern einen langweiligen Dilettanten sehen. Um einen Menschen ästhetisch zu schätzen, fordern wir von ihm die vorzugsweise Ausbildung bestimmter Anlagen. Wir wollen hier davon absehen, daß die Bevorzugung gewisser Anlagen im allgemeinen schon durch die Notwendigkeit der Umstände, durch das Bedürfnis der Arbeitsteilung, in einseitiger Weise bedingt ist. Ich behaupte hier, daß wir eine einseitige Ausbildung gewisser Anlagen schon ohne alle Rücksicht auf solche Gründe rein philosophisch als Ideal verlangen

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müssen. Diese vorzugsweise Ausbildung bestimmter Anlagen ist das, was man den Beruf eines Menschen nennt. Je nach der Wahl des Berufs wird nun auch die Bildung des Menschen Verschiedenes verlangen. Je nachdem nämlich, welche Anlagen bevorzugt werden, wird auch die Harmonie in der Ausbildung der Anlagen Verschiedenes fordern; in diesem Sinn kann man mit Recht von den Idealen der Bildung sprechen und die Meinung entkräften, als ob es nur ein einziges in jeder Hinsicht bestimmtes Ideal der Bildung gäbe. Die Wahl des Berufs ist im wirklichen Leben durch die Umstände beschränkt. Um diese Wahl einer idealen Beurteilung zu unterwerfen, müssen wir also bedenken, daß wir hier nur von den I d e a l e n des Berufs sprechen, von denen wir dem Begriff des Ideals zufolge nicht unmittelbar Verwirklichung in jedem einzelnen Fall verlangen. Wir fragen nach den Maßstäben, die bei der idealen Wertung eines Berufs zur Anwendung kommen und nach denen die Wahl des Berufs erfolgen sollte, sofern die Umstände eine freie Berufswahl erlauben. Ein idealer Beruf ist ein solcher, der sich in den Dienst eines Ideals stellt. Es wird also so viele ideale Berufe geben, wie es objektiv bestimmbare Ideale gibt. § 93.

Ideale und technische Berufe. Dem i d e a l e n B e ruf steht zunächst der Mangel eines Berufs überhaupt gegenüber, also der Müßiggang eines nur passiv genießenden Wesens. Dem idealen Beruf steht andererseits der t e c h n i s c h e Beruf im weitesten Sinn dieses Wortes gegenüber, d. h. ein solcher, der nicht unmittelbar einem idealen Zweck dient, sondern der uns nur die Herrschaft über die äußere Natur sichert und ihr die Mittel zur Befriedigung unserer Interessen abgewinnt. Die Unterscheidung zwischen idealen und technischen Berufen bedeutet nicht, daß ein technischer Beruf als solcher eines idealen Lebens unwürdig wäre. Der technische Charakter eines

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Ethik.

Berufs läßt es dahingestellt, ob die Mittel, die er herbeischafft, idealen oder nicht-idealen Zwecken dienen. Da aber jeder Zweck zu seiner Verwirklichung auf die Herbeischaffung der erforderlichen Mittel angewiesen ist, so gilt dies auch für die idealen Zwecke. Die technischen Berufe sind daher in dem Maße nicht nur berechtigt, sondern sogar notwendig, wie sie die Bedingungen erfüllen, unter denen allein die Zwecke der idealen Berufe realisiert werden können. Sie dürfen also den idealen Berufen gegenüber nicht herabgesetzt werden, so lange sie nicht mit andern Ansprüchen auftreten, als in ihrem Begriff liegt, nämlich solange sie nicht den Anspruch erheben, den idealen Zwecken nicht zu dienen, sondern sie zu verdrängen oder gar sich in den Dienst minderwertiger Zwecke zu stellen. Die technischen Mittel können an und für sich ebensowohl zur Zerstörung wie zur Verwirklichung idealer Werte gebraucht werden. Sie dienen unmittelbar nur der Klugheit und nicht der Weisheit. Aber auch die Klugheit gewinnt ethische Bedeutung, dadurch nämlich, daß die Weisheit selber von ihr Unterstützung fordert. Wer daher im Namen eines angeblichen Idealismus die technischen Berufe als minderwertig darstellt, der gibt damit nur seinen Scheinidealismus zu erkennen. Denn dem recht verstandenen Idealismus ist an der Verwirklichung seiner Ideale gelegen, und er wird daher immer danach streben, sich in den Besitz der dazu erforderlichen Technik zu setzen. Das Leben in einem solchen Scheinidealismus, das die technische Vermittlung verschmäht, ist nur dadurch möglich, daß die technische Vorbedingung dafür von andern realisiert wird, denen man diese Arbeit zuweisen kann und von denen der sich freidünkende Idealist damit in Wahrheit abhängig ist. Ein solches Lebensideal ist ein im schlechten Sinn aristokratisches; denn es setzt zu seiner Durchführbarkeit einen Sklavenstand voraus, der die Kosten für den aristokratischen Stand bestreitet, ohne selber zu den höheren geistigen Gütern Zugang zu erhalten. Allerdings wird gerade mit steigenden geistigen Bedürfnissen auch eine Steigerung der Arbeit und eine Verteilung der

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Berufe nötig. Aber die Gerechtigkeit fordert, daß die einen nicht auf Kosten der andern die Freiheit haben, einen idealen Beruf zu wählen, sondern daß der Zugang zu dem einen oder andern Beruf allen gleich offen steht, daß bei der Wahl des Berufs alle die gleiche Möglichkeit auf Berücksichtigung ihrer Neigungen und Fähigkeiten haben. Der technische Beruf kann nur insofern dem Ideal gegenüber als minderwertig gelten, als er entweder sich in den Dienst verwerflicher Zwecke stellt, oder aber mit dem Anspruch auftritt, selber an und für sich ein Ideal zu verwirklichen. Dieser Fall liegt vor bei dem Gegenstück des Müßiggangs, bei der bloßen Arbeitswut, wo die vermittelnde Tätigkeit zum Selbstzweck und eigentlichen Lebensziel gemacht wird und insofern die idealen Zwecke aus ihrem Reich verdrängt. Hier liegt entweder eine grobe Gedankenlosigkeit vor als Folge der Ubermacht der Gewohnheit über den Verstand oder aber, wenn eine solche Lebensansicht, die den Zweck des Lebens in die bloße Arbeit setzt, mit Bewußtsein und mit Uberzeugung vertreten wird, eine Art geistiger Krankheit. § 94.

Berufe im Dienst der Wahrheit. Nach dem Gesagten können wir drei ideale Berufe unterscheiden, nämlich Berufe im Dienst der Wahrheit, Berufe im Dienst der Schönheit und solche im Dienst der Gerechtigkeit. Wir wollen zuerst die Berufe im Dienst der Wahrheit ins Auge fassen. Es sind die Berufe des Forschers. Ich sage: des Forschers, und nicht: des Gelehrten; denn es besteht ein Unterschied zwischen Gelehrsamkeit und Bildung. Dieser Unterschied ist es eben, der den wahren Forscher von dem bloßen Gelehrten unterscheidet. Gelehrsamkeit besteht nur in der Fülle und der Beherrschung des Wissens. Der Forscher ist durch die Selbsttätigkeit von dem bloßen Gelehrten unterschieden, durch die Selbsttätigkeit des Denkens, kraft deren er das Gebiet der Erkenntnis erweitert. Wir werden daher die Wissen-

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schaft des selbsttätigen Denkens über das bloße Gelehrtenwissen erheben. Aus dem Ideal der Wahrheitsliebe entspringt ein Ideal der Wissenschaft; denn Wahrheitsliebe ist nicht befriedigt durch bloße Ansammlung von einzelnen Erkenntnissen, sondern sie verlangt Erkenntnis im höheren Sinn des Wortes. Diese Erkenntnis ist charakterisiert durch die Form des Wissens, die erst dadurch entsteht, daß das Wissen in ein System gebracht wird. Wissenschaft, als die Form dieses Wissens verstanden, sollte daher der Endzweck. der Forschung sein. Aber sie verdient nur dann zum Endzweck der Forschung zu werden, wenn sie sich nicht als Form für einen beliebigen Wissensstoff zum Selbstzweck. macht, sondern wenn sie der Erkenntnis der Wahrheit dient. Das Ideal der Wahrheitsliebe verlangt die Beziehung der Wissenschaft auf die Welt der Tatsachen. Es verlangt Vereinigung von E i n s i c h t , die auf bloßem Denken beruht, und K e n n t n i s , die auf Erforschung der Tatsachen beruht. Die bloße Form des Denkens ist unfruchtbar, wo ihre Anwendung auf die Tatsachen nicht bedacht wird, und alle Kenntnis der Tatsachen bleibt unfruchtbar, wo das Verständnis ihres Zusammenhangs fehlt. Hieraus folgt zunächst, daß die nur historischen Wissenschaften denen des selbsttätigen Denkens nachgeordnet sind, d. h. denen, die sich über die bloße Kenntnis der Tatsachen erheben zur Form des Systems. Hier gerade gilt es zu unterscheiden zwischen der Erkenntnis der Wahrheit und der Kenntnis dessen, was gelehrte Menschen für Wahrheit gehalten haben. Das Zweite ist nur Gegenstand historischer Feststellung, und durch diese Feststellung allein kommt man der Wahrheit selber um keinen Schritt näher. Jede historische Wissenschaft entlehnt ihr wissenschaftliches Interesse einem höheren Zweck, nämlich dem Zweck der Erforschung des Fortschritts in der Geschichte, wobei das Ideal als Maßstab des Fortschritts gilt. Dieses Interesse setzt also ein eigenes Verhältnis zur Wahrheit voraus und kann nicht ersetzt werden durch ein Schöpfen aus zweiter Hand.

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Das Entsprechende gilt für die Wissenschaft, die es nicht mit den Gedanken selber, sondern mit ihrem bloßen Ausdruck, der Sprache, zu tun hat. Das Interesse an der Sprache ist an und für sich ein technisches Interesse, nämlich das Interesse an den Mitteln der Verständigung zwischen vernünftigen Wesen, und dieses Mittel soll sich seinem Zweck unterordnen, nicht aber zum Selbstzweck gemacht werden. Es ist der Zweck der Sprache, Gedanken auszudrücken, und nicht der Zweck der Gedanken, in der Sprache ausgedrückt zu werden. Die Ausbildung der Erkenntnis reicht an sich nicht zur Erfüllung eines idealen Berufs hin. Wir müssen nämlich im Auge behalten, daß auch ein idealer Beruf, obwohl er in der vorzugsweisen Ausbildung einer einzelnen Anlage besteht, sich doch als ein Erfordernis des Ideals der Bildung auf die Gesamtpersönlichkeit bezieht. Die Ausbildung der Erkenntnis bleibt darum an und für sich ein technischer Beruf und führt nur zu einer gelehrten Handwerkerei, solange sie nicht das Leben durchdringt, solange sie nicht zur Herrschaft der Vernunft über das Leben beiträgt. Die Gefahr, daß die Ausbildung der Erkenntnis zu einem bloßen Handwerk wird, indem sie zu einer Abschließung vom Leben führt, liegt nahe. Wo man ihr verfällt, entsteht eine Kluft zwischen Theorie und Praxis. Die endgültige Dberwindung dieser Gefahr kann nur von der Ausbildung der Erkenntnis selber ausgehen. Vollständige Ausbildung der Erkenntnis umfaßt auch Ausbildung der praktischen Erkenntnis und also der Ethik; die Wissenschaft selber führt damit zur Dberbrückung der Kluft zwischen Theorie und Praxis, indem sie zielsetzend in das Leben eingreift. Verkennt man die Beziehung der Wissenschaft auf die Praxis, so gelangt man zu einem Scheinideal der Objektivität, wonach Parteinahme und Objektivität mit einander unvereinbar sind. Objektivität der Wissenschaft bedeutet aber nur, daß kein anderes Interesse als das reine Interesse an der Wahrheit der Bestimmungsgrund des Forschers ist. Die Wahrheit ist objektiv insofern, als sie dem Belieben entrückt ist; sie ist parteiisch insofern, als sie den Irrtum ausschließt und zu ihm

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im Gegensatz steht. Sie verlangt daher auch von dem, der sich in ihren Dienst begibt, Parteinahme, gerade um der Objektivität der Wahrheit willen, Parteinahme gegen den Irrtum. Das Ideal der Objektivität nötigt daher zu einem Kampf gegen jede Art von Vorurteilen, und also zu einem Kampf gegen den Dogmatismus. Dogmatismus äußert sich in der Hinnahme von Urteilen ohne hinreichende Begründung. Das Gegenteil des Dogmatismus ist die Verwerfung unbegründeter Urteile, aber nicht die Enthaltung vom Urteil überhaupt, die, wie die Dberzeugungslosigkeit des Relativismus, jede Meinung verwirft, aus bloßer Furcht, sich einem Dogma zu verschreiben. In Wahrheit befreit ein solcher Relativismus nicht von der Herrschaft des Dogmas; denn indem er der Wissenschaft die Kompetenz nicht zutraut, eindeutig durch Gründe über die Wahrheit zu entscheiden, überläßt er es den Fanatikern des Dogmatismus, diese Entscheidung nach unwissenschaftlichen Gründen zu treffen, z. B. nach irgend welchen Interessen, die sich in die Bestimmungsgründe des Urteils einmischen und diese verfälschen. Die Gefahr einer solchen Einmischung subjektiver Interessen in die Angelegenheiten der Wissenschaft kann zu einer weiteren Mißdeutung wissenschaftlicher Objektivität führen. Um die Wissenschaft vor dem Ansturm der subjektiven Interessen zu schützen, glaubt man sie von allen Ansprüchen an das Leben lösen zu müssen. Die Folge ist, daß die Wissenschaft auch die Ansprüche preisgibt, die zu wahren ihr höchster Beruf ist. Es gibt nämlich nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Wahrheit und demgemäß nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische Wissenschaft. Ihre Aufgabe ist die wissenschaftliche Erkenntnis vom Wert des Lebens. Die Möglichkeit dieser Erkenntnis bringt die Wissenschaft in einen Streit mit den subjektiven Interessen, die die Gestaltung des Lebens in ihren eigenen Dienst zu ziehen suchen. Die idealen Werte sind im Leben dem zufälligen Ausgang des Kampfes der Interessen überlassen und damit dem brutalen Zufall preisgegeben, wenn nicht die vom Verdacht subjektiver

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Schwärmerei und bloßer Sentimentalität freie Wissenschaft mit ihrer Objektivität und Strenge die Ansprüche der Ideale an das Leben zur Geltung bringt. Geht die Wissenschaft von dem falschen Ideal der Objektivität aus, nach dem sie keine Ansprüche an das Leben stellen darf, dann tut sie das ihre, die Geltung des Ideals zu verhindern. Erst recht entfällt die Würde der Wissenschaft, wenn der Forscher nicht nur den Kampf um die Wahrheit aufgibt, sondern darüber hinaus seine Arbeit in den Dienst von Bestrebungen stellt, die den idealen Zwecken des Lebens entgegenwirken. Dann entsteht ein Mißbrauch des Verstandes, der die ethischen Anforderungen zwar nicht als solche in ihrer Gültigkeit verdächtigt, aber sie als Deckmantel unlauterer Bestrebungen gebraucht. Eine solche sophistische Wissenschaft erwächst aus dem Interesse, die Wahrheit da, wo sie den Absichten der Menschen entgegensteht, zu verwischen und Scheingründe herbeizusuchen, um die Anforderung des Ideals in einem den subjektiven Interessen günstigen Licht erscheinen zu lassen. Die ethischen Prinzipien haben eine solche Macht über den Menschen, daß sie selbst da wirken, wo ihr Inhalt verfälscht ist. Das machen sich diejenigen zunutze, die unlautere Bestrebungen verfolgen; sie stellen ihr Ziel als Inhalt eines von ihnen künstlich pervertierten Ideals dar, um dadurch ihren Bestrebungen nicht nur den unlauteren Charakter zu nehmen, sondern sie im Gegenteil als ethische Postulate bei den Menschen einzuführen. Diesem Mißbrauch der Wissenschaft entgegenzuwirken, ist der unerläßliche Beruf echter Wissenschaft. Es ist ihre Aufgabe, die Ideale, so sehr sie im Leben mit Füßen getreten werden, im Heiligtum der Wissenschaft unverfäscht aufzubewahren, damit sie von dieser Zufluchtsstätte in das Leben hinausgetragen werden können. Als unmittelbare Folge der so verstandenen Objektivität ergibt sich die Anforderung der Freiheit der Wissenschaft, d. h. ihrer Unbeschränktheit in der rücksichtslosen Erforschung der Wahrheit. Man könnte fragen, ob eine Einschränkung dieser

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Freiheit der Forschung dadurch geboten sein könnte, daß ein der Wahrheitsliebe widerstreitendes Ideal dies verlangt. Diese Frage erledigt sich durch die Betrachtungen über die Inkonsequenz aller einseitigen Bildungsideale. Eine konsequente Erfüllung der Ideale der Schönheitsliebe und der Gerechtigkeitsliebe führt notwendig zur Anerkennung des Ideals der Wahrheitsliebe. Dieses Ideal steht also so wenig im Widerstreit zu den andern Idealen, daß es vielmehr durch diese mitbedingt wird. Es kann also kein Ideal geben, das der Aufgabe der Erforschung der Wahrheit ethisch eine Schranke setzt. Uber die Freiheit der Wissenschaft zu wachen, ist die vornehmste und unverbrüchlichste Aufgabe des wissenschaftlichen Forschers. Wer nur innerhalb der durch eine Autorität willkürlich abgesteckten Grenzen die Wahrheit zu erforschen wagt, der sinkt zu einem gelehrten Handwerker herab und gibt mit der Ehre seines Berufs zugleich das Ansehen der Wissenschaft selber preis. § 95.

Berufe im Dienst der Schönheit. Betrachten wir nun die Berufe im Dienst der Schönheit! Fassen wir diese Berufe unter dem Begriff der Kunst zusammen, so müssen wir dieses Wort in einer Hinsicht enger, in einer andern dagegen weiter nehmen, als dies gewöhnlich geschieht. Es soll nämlich hierunter jeder Beruf im Dienst des Ideals der Schönheit verstanden werden. Der künstlerische Beruf, als ein idealer Beruf verstanden, ist daher zunächst kein solcher, der dem bloßen ästhetischen Genuß dient. Der Genuß hängt von der individuellen Empfindung des Einzelnen ab, und es gibt keine Bildung gemäß einem Ideal, durch das eine bestimmte Entwicklung des Genusses vorgezeichnet wäre. Es ist die ideale Aufgabe der Kunst, die objektive Bedeutung des Schönen zur Geltung zu bringen; denn auf diese allein bezieht sich die Schönheitsliebe. Das Ideal der Schönheitsliebe muß ferner unterschieden werden von dem der bloßen Geschmacksausbildung. Dieses

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Ideal bezieht sich auf das Vermögen, ästhetisch richtig zu urteilen. Es gibt in der Tat eine Ausbildung dieses Vermögens nach einem Ideal des guten Geschmacks, aber das Interesse an einer solchen Ausbildung fällt nicht zusammen mit dem Interesse am Schönen; es kann sich ebenso an dem bloß vorgestellten, nachgebildeten wie an dem wirklichen Schönen betätigen. Das Ideal der Schönheitsliebe richtet sich dagegen auf ein unmittelbares Verhältnis zum Schönen, nicht nur auf das Verhältnis zu seiner Darstellung, gerade wie das Ideal der Wahrheitsliebe ein unmittelbares Verhältnis zur Wahrheit verlangt, das nicht durch ein Schöpfen aus zweiter Hand ersetzt werden kann. Neben dieser Einschränkung des Begriffs der Kunst müssen wir ihn andererseits genügend weit fassen, damit er alle Berufe im Dienst der Schönheit einschließt. Da die Schönheitsliebe Liebe zum Schönen selber und damit zum Naturschönen im weitesten Sinn ist, umfaßt sie auch die Schönheit des Lebens. Zu den Berufen im Dienst der Schönheit gehört darum auch der der schönen Gestaltung des Lebens und also die Kunst der Menschenbildung. Was man gewöhnlich als künstlerischen Beruf betrachtet, erweist sich hiernach als ein kleiner und sogar unbedeutender Teil der Aufgaben, die im Dienst der Schönheit stehen. In der Tat: Das reine Interesse der Schönheitsliebe ist letzten Endes das Interesse am Vollkommenen und insofern ein religiöses Interesse am Schönen, ein Umstand, der verkannt wird, wenn man die Schönheitsliebe verwechselt entweder mit dem bloß subjektiven Interesse an der Beschauung des Schönen, mit dem ästhetischen Genuß, oder mit dem bloßen Geschmacksurteil, das sich zwar objektiv auf das Schöne bezieht, aber von allem Interesse an seiner Realität unabhängig ist. Daraus erklärt es sich, daß alle echte und hohe Kunst von jeher im Dienst der Religion gestanden hat; denn sie ist echte und hohe Kunst nur, soweit sie im Dienst der Schönheitsliebe steht und also im Dienst des religiösen Interesses am Schönen. Die Berufe, die im Dienst der Religion stehen, gehören daher, wenn wir dieses

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Wort in einem würdigen Sinn nehmen und nicht als bloßen Dienst des Aberglaubens verstehen, unter die Berufe im Dienst der Schönheitsliebe. § 96.

Berufe im Dienst der Gerechtigkeit. Das Ideal der Gerechtigkeitsliebe hatten wir abgeleitet aus der rechtlichen Wertung, die den Zustand der Gesellschaft danach beurteilt, ob er den Anforderungen der Gerechtigkeit genügt oder nicht. Das Interesse an der Gerechtigkeit geht über das an der Erfüllung der eigenen Pflicht hinaus und bezieht sich auf die Wahrung des Rechts überhaupt. Soweit es sich auf den Zustand der Gesellschaft richtet, hat es nicht die Gesinnung der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft zum Gegenstand, sondern ihr gegenseitiges Verhalten. Die rechtliche Gesinnung der Menschen ist unmittelbar nur ein Ideal des Pädagogen. Das Ideal der Gerechtigkeitsliebe geht, unabhängig von der Rücksicht auf die Gesinnung der Einzelnen, darauf, die Geltung des (Rechts in der Gesellschaft dem Zufall zu entziehen. Die Berufe im Dienst der Gerechtigkeitsliebe sind daher Berufe im Dienst des Ideals der Herbeiführung eines rechtlichen Zustandes in der Gesellschaft, d. h. eines Zustandes, in dem die Geltung des Rechts unabhängig ist von dem Zufall des guten oder schlechten Willens der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft. Eine solche Sicherung des Rechts ist nur möglich auf Grund einer Organisation, die für das Recht eintritt. Diese Organisation ist das, was man den Staat nennt. Das Ideal des Berufes im Dienst der Gerechtigkeitsliebe ist daher das des Staatsmanns. Nun ist aber der wirkliche Staat als ein Naturprodukt selber nur ein Werk des Zufalls; denn die in der Gesellschaft herrschende Macht wird durch kein Naturgesetz dazu genötigt, sich in den Dienst des Rechts zu stellen. Sofern daher der Staat nicht unmittelbar in der Gewalt des Einzelnen ist, entsteht für das vernünftige Wesen die Aufgabe, eine Einrichtung zu schaffen zur Beeinflussung des Staats in der Richtung auf das

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Ideal des Rechtszustandes. Eine Einrichtung, die den Zweck hat, im Kampf um die Macht die Herrschaft im Staat zu erringen, nennt man eine politische Partei. Die politischen Parteien treten in Widerstreit mit einander je nach der Verschiedenheit des Ziels, in dessen Dienst sie die Staatsmacht zu stellen streben. Ist nun das ideale Ziel, in dessen Dienst es die Staatsmacht zu ziehen gilt, der Rechtszustand in der Gesellschaft, so verlangt das Ideal der Gerechtigkeitsliebe die Schaffung einer diesem Ideal dienenden politischen Partei. Dem Staatsmann im engeren Sinn tritt daher der Politiker an die Seite. Da der Beruf des Politikers aber nur dann ideal ist, wenn er im Dienst nicht eines beliebigen, sondern des durch das Ideal des Rechtszustandes vorgeschriebenen Ziels steht, so wird der Politiker sich in einen Kampf zu begeben haben einerseits mit Bestrebungen, die im Dienst subjektiver Interessen die Macht im Staat zu erstreben suchen, andererseits gegen diejenigen, die sie in den Dienst eines pervertierten Gesellschaftsideals zu stellen streben. Hier vereinigen sich daher die Aufgaben des Staatsmanns und des politischen Berufs mit denen des Forschers und des Pädagogen, von denen der erste das ideale Ziel seinem Inhalt nach wissenschaftlich festzustellen und als das allein würdige zu begründen hat, während der zweite dazu berufen ist, dem Willen der Menschen die Richtung auf dieses Ziel zu erteilen. § 97.

Verhältnis der Ideale des Berufs zu den einseitigen Bildungsidealen. Blicken wir hiernach auf die Lehre von den Idealen der Bildung, so wird es wichtig, daß man die Ideale des Berufs, die eine vorzugsweise Ausbildung bestimmter Anlagen fordern, nicht verwechselt mit den einseitigen Bildungsidealen, die wir verwerfen müssen. Während die einseitigen Bildungsideale die Aufgabe einer harmonischen Ausbildung der Anlagen verkennen, entspringen die Ideale des Berufs gerade aus der Forderung der harmonischen Ausbildung, insofern nämlich, als zu dieser

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Harmonie ein beherrschender Mittelpunkt und also die Bevorzugung gewisser Anlagen notwendig ist. Es bleibt uns die Wahl, welche Anlagen wir vorzugsweise ausbilden wollen. Dabei schließt die Ausbildung der einen Anlage nicht den gleichen Wert der Ausbildung einer andern Anlage aus. Jedes einseitige Bildungsideal sucht dagegen die Bildung unmittelbar in der Ausbildung einer bestimmten Anlage unter Ausschließung des Werts der Ausbildung der andern. Wir müssen die abgeleiteten idealen Berufe insofern als gleichwertig ansehen, als sie alle durch Ideale bestimmt sind und also nur verschiedene Arten darstellen, zur Bildung zu gelangen. Dies schließt freilich nicht die Möglichkeit einer idealen Rangordnung innerhalb der Ideale des Berufs aus. Wird in diesem Sinn gefragt, welcher von allen Berufen der vorzugswürdigste zu nennen wäre, nicht hinsichtlich der subjektiven Befriedigung, die er dem Einzelnen verspricht - denn dies ist keine ethische Frage und läßt sich nicht mit Allgemeingültigkeit entscheiden - , sondern der vorzüglichste hinsichtlich der objektiven Bedeutung und Würde der Aufgabe, so würden gemäß dem Vorrang der tatenfrohen vor der kontemplativen Lebensansicht die Berufe im Dienst der Gerechtigkeit an die Spitze treten, da die andern weit mehr nur der Ausbildung der Erkenntnis und des Interesses dienen.

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4. Kapitel.

Ideale der Freundschaft. § 98.

Unmöglichkeit einer Pflicht der Gemeinschaft. Von altersher hat man in der Ethik ein Ideal der Bildung der Einzelnen dem Ideal der Gemeinschaft an die Seite gestellt und hat einen Rangstreit erhoben über das Verhältnis dieser Ideale. Es ist eins der ältesten und bisher umstrittensten Probleme der Ethik, wie das Verhältnis des Individuums zur Gemeinschaft zu beurteilen sei. Hier stehen sich zwei Ansichten gegenüber.Nach der ersten erfüllt das Individuum seine ethische Bestimmung nur insofern, als es der Gemeinschaft dient; den unmittelbaren idealen Wert hat hier die Gemeinschaft, und aller Wert, den das Individuum erhalten kann, bestimmt sich nur nach dem Dienst für die Gemeinschaft. Nach der andern Ansicht verhält es sich entgegengesetzt. Aller unmittelbare Wert kommt nur dem Individuum als solchem zu, während die Gemeinschaft nur als Mittel im Dienst der Einzelnen zu werten ist und nur nach diesem Dienst für die Einzelnen gewürdigt werden kann. Hier geht also alle Wertschätzung von der des Individuums aus, und aller Wert der Gemeinschaft ist nur vom Wert des Individuums abhängig. Das erste nun, was wir auf Grund der bisher aufgestellten Prinzipien zur Entscheidung dieser Streitfrage sagen müssen, ist, daß es an und für sich keine Pflicht zur Gemeinschaft geben kann. Alle Pflichten sind aus dem Sittengesetz abgeleitet; dieses gebietet nur negativ, die Interessen anderer nicht zu mißachten, aber nicht positiv, sich die Interessen anderer zu eigen zu machen. Es kann daher keine Pflicht geben, in der Gemeinschaft zu leben oder sie gar zu stiften. Auch wer isoliert und abseits von aller Gemeinschaft lebt, braucht nicht gegen das Sittengesetz zu verstoßen. Um dennoch eine Pflicht der Gemeinschaft abzuleiten, sagt man, daß nur, wer in Gemeinschaft lebt, sittlich handeln könne.

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Ethik.

Der Mensch müsse also, um seine sittliche Bestimmung zu erfüllen, in der Gemeinschaft leben. Eine solche Argumentation beweist offenbar zu viel; denn Gemeinschaft ist zwar eine Bedingung der Möglichkeit sittlichen Handelns, aber ebenso auch eine Bedingung der Möglichkeit unsittlichen Handelns. Daraus folgt: Wer ohne Gemeinschaft lebt, kann zwar nicht sittlich, aber ebensowenig unsittlich handeln. Gemeinschaft an und für sich ist also insofern etwas sittlich Indifferentes. Es kann keine unmittelbare Pflicht geben, in die Gemeinschaft einzutreten oder sie erst zu stiften, wenn auch Pflichten nur insofern entstehen, als man in einer Gemeinschaft lebt. § 99.

Objektiv ästhetischer Wert der Gemeinschaft. Aus der Unmöglichkeit einer Pflicht der Gemeinschaft folgt aber nicht, daß es ethisch indifferent wäre, ob man in der Gesellschaft lebt oder nicht. So könnte man nur schließen, wenn sich alle ethischen Aufgaben aus dem Sittengesetz ableiten ließen. Es gibt aber solche, die aus dem positiven, idealen Wert des Handelns entspringen. Es bleibt daher noch offen, ob es einen ethischen Wert des Lebens in der Gemeinschaft gibt. Um hier zur Klarheit zu kommen, müssen wir vor einer falschen Begründung auf der Hut sein. Gemeinschaft als das Produkt der Wechselwirkung von Personen kann einen höheren oder geringeren ästhetischen Wert haben. Dieser ästhetische Wert genügt aber nicht, um auf den ethischen Wert des Lebens in der Gemeinschaft zu schließen. Eine ethische Aufgabe kann sich nur an den Willen des Einzelnen wenden. Die Gemeinschaft hat aber keinen Willen, dem ethische Aufgaben gestellt werden können. Sie ist kein vernünftiges Wesen, für das es ein Ideal geben könnte. Sie läßt sich nur ästhetisch, aber nicht ethisch beurteilen. Wir müssen daher die Frage nach dem ethischen Wert des Lebens in der Gemeinschaft von der nach ihrem objektiv ästhetischen Wert unterscheiden und fragen nicht sowohl, ob Gemeinschaft als Ergebnis des Handelns Wert hat,

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sondern vielmehr, ob das Handeln selber, das zur Gemeinschaft führt, Wert hat. §

100.

Ursprung des ethischen Werts der Gemeinschaft aus dem Ideal der Schönheit. Auf welche Weise könnte man nun zur Behauptung dieses Werts des zur Gemeinschaft führenden Handelns gelangen? Offenbar auf keine andere Weise als auf dem Wege, auf dem wir überhaupt den positiven Wert von Handlungen bestimmen. Dieser Wert ist festgelegt durch das aufgestellte Ideal der Bildung. Neben den Idealen der Bildung gibt es keine weiteren positiven Aufgaben für den Willen des Einzelnen, also auch keine solchen, die sich erst aus seinem Verhältnis zur Gemeinschaft ergeben. Bildung ist Vernünftigkeit des Lebens, und daß eine Handlung zur Vernünftigkeit des Lebens beiträgt, haben wir als Kriterium ihres idealen Werts erkannt. Wir müssen daher unsere Frage dahin stellen, ob das Leben in der Gemeinschaft zur Vernünftigkeit des Lebens beiträgt. Bisher haben wir festgestellt, daß Gemeinschaft als Produkt des Handelns der Einzelnen einen ästhetischen Wert haben kann. Nun sind unter den Idealen der Bildung in der Tat solche, bei denen nicht nur subjektiv die vernünftige Tätigkeit selber Wert hat, sondern bei denen zugleich das Produkt der Handlung wertvoll ist. Dies ist der Fall bei dem Ideal der Schönheitsliebe. Das Streben nach dem Hervorbringen von Schönem trägt als Betätigung unseres ästhetischen Interesses zur Vernünftigkeit des Lebens bei und erhält hierdurch selber einen ästhetischen Wert. Sofern nun die Gemeinschaft als Produkt der Handlung des Einzelnen ästhetischen Wert hat, gehört das Leben in ihr und das Arbeiten an ihr zu den ästhetisch wertvollen Handlungen. Danach hat auch das Handeln, wodurch die Gemeinschaft gebildet wird, einen um so höheren Wert, je wertvoller die Form der dadurch gebildeten Gemeinschaft selber ist. So gelangen wir zur Ableitung eines Ideals des Lebens in der Gemeinschaft aus dem Ideal der Schönheitsliebe.

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Ethik.

Diese Ableitung gibt uns die Auflösung des Problems der ethischen Bedeutung der Gemeinschaft. Wir müssen auf der einen Seite festhalten, daß die Gemeinschaft objektiv ästhetischen Wert hat unabhängig davon, ob und wie weit sie als Mittel zur Befriedigung der Interessen der Einzelnen dient, und wir müssen auf der andern Seite festhalten, daß der ethische Wert des Einzelnen nicht dadurch bestimmt wird, wie weit durch sein Handeln der objektive Wert der Gemeinschaft gefördert wird. Vielmehr wird die Förderung der Gemeinschaft nur insofern zur Aufgabe, als sie zur Bildung des Einzelnen beiträgt. Sie kann aber zur Bildung des Einzelnen nur beitragen, sofern in ihr das Interesse am Wert der Gemeinschaft zum Ausdruck kommt. Der Wert einer Gemeinschaft hängt nun seinerseits davon ab, wie weit sie eine durch sich selber bestimmte Einheit bildet, d. h. inwiefern die Einzelnen in ihr zusammengeschlossen sind nicht auf Grund eines ihnen gegenüber fremden, äußeren Prinzips, sondern auf Grund der eigenen Selbsttätigkeit. Ein solches Prinzip der Selbsttätigkeit ist, streng genommen, nur bei vernünftigen Wesen gegeben; denn nur sie haben ein Vermögen der spontanen Selbsttätigkeit, nämlich die Vernunft. DerWert einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen bestimmt sich also dadurch, wie weit die Vernunft in der Wechselbeziehung der Einzelnen in Erscheinung tritt. Vernunft ist das Vermögen, Gesetze zu erkennen und ihnen gemäß zu handeln. Wesen, die sich ihrer Vernunft gemäß bestimmen, handeln also in der Tat nach einem für sie alle geltenden Prinzip; denn die Gesetze, nach denen sie sich richten, sind allgemeingültig und darum unabhängig vom einzelnen Fall der Anwendung. Vernünftige Wesen haben also als solche etwas Gemeinsames insofern, als jedem von ihnen durch die Vernunft dieselben Richtlinien für das Handeln vorgeschrieben sind. Aber sie haben dieses Vermögen der Vernunft nur als Anlage, und es bleibt von Natur aus zufällig, ob diese Anlage ausgebildet wird, ob also die Einheit der Vernunft in einer vernünftigen Gemeinschaft in die Erscheinung tritt. Gerade um dieses Zufalls

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willen aber wird die vernünftige Gestaltung der Gemeinschaft zu einer ethischen Aufgabe. Das führt uns auf die Ideale der Gemeinschaft. § 101.

Achtung und Liebe als Bedingung der Freundschaft. Die höchste Form der Gemeinschaft ist die Freundschaft. Freundschaft ist nach K an t s Erklärung die Vereinigung zweier Personen durch wechselseitige Achtung und Liebe. Achtung ist allerdings eine Bedingung der Freundschaft. Denn als geistige Gemeinschaft erfordert die Freundschaft Mitteilung der Gedanken und setzt somit Vertrauen auf die Zuverlässigkeit des andern voraus, Vertrauen, daß er von der Erkenntnis unserer Gedanken keinen unseren Interessen widerstreitenden Gebrauch machen wird. Daher ist die Bedingung der Freundschaft Vertrauen auf die Zuverlässigkeit des andern und also Achtung seines sittlichen Charakters. Aber Achtung ist noch keine hinreichende Bedingung für die Freundschaft. Diese fordert vielmehr eine positive Schätzung des andern als einer wertvollen Persönlichkeit, d. h. einer solchen, die nicht nur der Bedingung der Pflichterfüllung genügt, sondern darüber hinaus durch ihre geistige Selbsttätigkeit liebenswert ist. Freundschaft gründet sich daher in der Tat auf wechselseitige Achtung und Liebe. § 102.

Liebe und Sympathie. Die Liebe zu einem andernWesen,wie sie zur Freundschaft gehört, müssen wir vergleichen mit der Selbstliebe. Es gibt nämlich auch eine reine Selbstliebe; reine Selbstliebe ist das Interesse an der Schönheit des eigenen Lebens, d. h. der eigenen Bildung. Diese Bildung besteht in der Hingabe an die Ideale derWahrheit, der Schönheit und der Gerechtigkeit. Man könnte daher den Begriff der reinen Selbstliebe für paradox halten;

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denn wie kann die Hingabe an etwas anderes als an uns selber, nämlich an Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit, Selbstliebe genannt werden? Aber diese Paradoxie ist nur scheinbar. Wir lieben uns in reiner Selbstliebe, sofern wir den Wert unseres Lebens in der Hingabe an diese Ideale suchen. Die Opfer, die diese Hingabe an die Ideale uns auferlegt, sind in Wirklichkeit nur Opfer der Selbstsucht, es sind nämlich Opfer des Glücks. Ein solches Opfer ist nicht ein Opfer der Selbstliebe, d. h. der Schönheit des eigenen Lebens, sondern nur ein Opfer des Lebensgenusses, also des sinnlichen Interesses. In diesem Sinn ist die tiefe Wahrheit des paradoxen Wortes zu verstehen, daß nur der sein Leben gewinnt, der es verliert. Schwieriger sind die Fälle zu beurteilen, wo die reine Selbstliebe nicht sowohl der Selbstsucht als der Sympathie zu anderen entgegensteht. Sympathie ist etwas anderes als Liebe. Sympathie beruht auf einem sinnlichen Interesse. Sie ist ein Interesse der Neigung. Sie geht auf das Wohlbefinden des andern, d.h.auf seinen Lebensgenuß; Liebe dagegen geht auf den persönlichen Wert des andern und damit auf die Schönheit seines Lebens. Sympathie besteht in Mitfreude und Mitleid, tritt also ein für die zufälligen, faktischen Interessen des andern; Liebe dagegen richtet sich auf das objektive und also wahre Interesse des andern ohne Rücksicht auf das zufällig wirkliche Interesse. Man darf daher einen Konflikt zwischen der reinen Selbstliebe und der Sympathie mit andern nicht als einen Konflikt der Selbstliebe mit der Liebe zu andern Personen ansehen. Die Liebe zu andern beruht auf dem Interesse an der Schönheit ihres Lebens, sie entspringt also aus der Schönheitsliebe. Diese ist aber eine Anforderung unserer Bildung, und deshalb besteht kein Widerspruch zwischen den ethischen Idealen der Liebe und denen der Bildung; denn indem wir dem Ideal der Liebe huldigen, erhöhen wir die Schönheit des eigenen Lebens und befriedigen damit zugleich das recht verstandene Interesse der reinen Selbstliebe.

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§ 103.

Liebe als Wohlgefallen und als Wohlwollen. Die Liebe zur andern Person zeigt sich in zwei Gestalten: als Wohlgefallen und als Wohlwollen. Das Wohlgefallen ist die Schätzung des Werts der andern Persönlichkeit, das Wohlwollen besteht in den Antrieben zur Erhöhung ihres Werts, also zu ihrer Vervollkommnung. Ich spreche hier nur von der reinen Liebe; das Wohlwollen der reinen Liebe geht objektiv auf den Wert des Lebens des andern, unabhängig von der Rücksicht auf sein subjektives Wohlbefinden. Nun gibt es eine Liebe, bei der das Moment des Wohlwollens fehlt. Dieses Moment muß da fehlen, wo der Grund fehlt, der die Antriebe zur Vervollkommnung der andern Persönlichkeit erzeugt. Es fehlt daher bei der idealisierenden Liebe, die den andern als etwas schlechthin Vollkommenes schätzt, so daß die Antriebe, seinen Wert zu erhöhen, gar nicht entstehen können. Aber diese idealisierende Liebe ist Menschen gegenüber, die notwendig unvollkommene Wesen sind, ihrerseits ein Mangel an Liebe; denn sie beruht auf der Blindheit gegenüber dem wahren Interesse des andern. Die reine Liebe stellt praktische Anforderungen an unseren Willen und erschöpft sich nicht in dem bloßen Gefühl des Wohlgefallens am andern. § 104.

Das Mißverständnis der bevormundenden Liebe. Was das Ideal des Wohlwollens fordert, ergibt sich aus dem wahren Interesse des andern. Denn das reine Wohlwollen hat die Befriedigung des wahren Interesses des andern zum Gegenstand. Das wahre Interesse des andern geht aber unmittelbar auf Selbsttätigkeit und kann daher unmittelbar nur durch Selbsttätigkeit befriedigt werden. Wird dies verkannt, so entsteht unvermeidlich eine mißverstandene Liebe, die sich in dem Versuch zeigt, den andern zu seinem wahren Interesse zu zwin-

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gen, sei es, daß dieser Zwang ausgeübt wird durch Gewalttätigkeit oder durch List. Selbsttätigkeit kann nur hervorgehen aus der Einsicht in Gründe. Sie kann nicht durrn. Uberredung, sondern nur durch Uberzeugung bewirkt werden. Die praktische Anforderung der reinen Liebe kann daher unmittelbar nur zu der Aufgabe führen, die Einsicht des andern zu wecken, damit er durch Selbsttätigkeit sein wahres Interesse befriedigt, nicht aber in dem Versuch, durch Gewalttätigkeit oder Uberlistung ihn zu seinem wahren Interesse zu nötigen. Eine solche Behandlung des andern Menschen, wodurch er zur Befriedigung seines wahren Interesses gezwungen werden soll, die ihm also die Möglichkeit der Selbstbestimmung entzieht, ist dem wahren Interesse des andern gerade entgegengesetzt; denn dieser wird dadurch nicht wie ein Mensrn., d. h. wie ein vernünftiges Wesen, sondern wie ein unvernünftiges Tier behandelt. In solchem Mangel an Achtung liegt das Mißverständnis der bevormundenden Liebe. §

105.

Bedeutung der Wahrheitsliebe für die Gemeinschaft. Wenn jemand sich in einem Irrtum über sein wahres Interesse befindet, so kann unser Wohlwollen ihm gegenüber sich nur in dem Bestreben zeigen, ihn über sein wahres Interesse aufzuklären. Wohlwollen wird daher immer ein Streben nach gegenseitiger Aufklärung über das wahre Interesse erzeugen. Wo dieses Streben fehlt, findet sich keine Liebe, sondern Teilnahmslosigkeit gegenüber dem wahren Interesse des andern und höchstens Sympathie mit seinem wirklichen Interesse. Wir erkennen hieraus, daß eine notwendige Bedingung für die Betätigung reiner Liebe die Wahrheitsliebe des andern ist; denn diese schafft allein die Bedingung der Zugänglichkeit für Gründe und also die Bereitschaft, sich über die Anforderung seines eigenen wahren Interesses aufklären zu lassen.

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§ 106.

Di e A n f o r d e r u n g d e r G e g e n s e i ti g k e i t d e r L i e b e. Freundschaft verlangt über Liebe hinaus Wechselseitigkeit der Liebe. Erst durch diese verwirklicht sich das Ideal der Freundschaft. In der Tat: Die Liebe führt zur Gedankenmitteilung. Dadurch aber, daß wir unsere Gedanken einem andern mitteilen, heben wir die rechtlichen Schranken zwischen uns und ihm auf. Es gibt nämlich keine Pflicht, schlechthin seine Gedanken mitzuteilen, sondern es gibt eine Pflicht der Wahrhaftigkeit nur insofern, als, wenn wir unsere Gedanken mitteilen, wir dies in wahrhafter Weise tun sollen. Es gibt also ein Recht, seine Gedanken für sich zu behalten. Auf dieses Recht verzichtet derjenige, der sich dem andern mitteilt. Er gibt also dadurch das bloße Rechtsverhältnis auf, das sonst zwischen ihm und dem andern bestehen würde. Es ist aber eine Anforderung der Ehrliebe, daß an Stelle des aufgehobenen Rechtszustandes ein Verhältnis der Gemeinschaft tritt, d. h. eine Gegenseitigkeit der Hingabe. Der Verzicht auf das Recht, der in der Hingabe liegt, ist nur dann schön, wenn er erwidert wird. Wenn die Hingabe des einen an den andern kein Wegwerfen der eigenen Persönlichkeit sein soll, so verlangt sie Gegenliebe von der andern Seite. Denn indem der eine auf sein Recht verzichtet, kann er die Wahrung der eigenen Würde nur noch von der Gegenliebe des andern erwarten. Die Aufrechterhaltung eines Liebesverhältnisses ist daher, wenn es einseitig und unerwidert bleibt, etwas der Ehrliebe Widerstreitendes. Es läßt sich hier freilich für den Gebenden kein Rechtsanspruch auf Erwiderung seiner Hingabe ableiten, sondern diese Gegenseitigkeit ist ein bloßes Ideal. Sie kann nicht Pflicht sein, schon darum nicht, weil Erwiderung der Liebe nicht vom Willen des andern abhängt. Hier entsteht mannigfache Mißdeutung durch Verwechslung des Ideals der Gegenliebe mit einem angeblichen Rechtsanspruch. Es ist ebenso unschön, wenn der Gebende Erwiderung seiner Liebe als ein ihm zukommendes Recht beansprucht, wie wenn er in der Einsicht, daß ihm ein solches Recht nicht zukommt, es nicht

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Ethik.

verschmäht, sich auch da hinzugeben, wo seine Liebe unerwidert bleibt. Und so ist es nichtachtend von seiten des Empfangenden, wenn er, weil für ihn keine Pflicht besteht, die Hingabe zu erwidern, diese wie ein ihm zukommendes Recht entgegennimmt. Man muß hier aber zwei verschiedene Ideale unterscheiden. Es gibt ein Ideal der Liebe, das von dem Ideal der Gemeinschaft unabhängig ist. Die Liebe zur Schönheit der andern Persönlichkeit ist nicht notwendig verbunden mit dem Streben nach der Gemeinschaft des Lebens mit ihr. Sowohl das eine wie das andere ist zwar ein Ideal der Schönheitsliebe, aber die Schönheit der geliebten Person ist von der Schönheit der Gemeinschaft mit ihr verschieden. Das eine Ideal bezieht sich auf die Schönheit der andern Persönlichkeit. Es umschließt daher das Wohlgefallen und das Wohlwollen dieser Persönlichkeit gegenüber, aber darum nicht schon notwendig das Interesse an der Gemeinschaft des Lebens mit ihr. Von dem Ideal, das sich nur auf die Schönheit der andern Persönlichkeit bezieht, gilt das schöne Goethesche Wort: ,,Wenn ich Dich liebe, was geht's Dich an?" Aber dies gilt nicht von dem Ideal der Gemeinschaft. Dieses Ideal verlangt Mitteilung der Gedanken und damit Gegenseitigkeit der Liebe. §

107.

Liebe und Haß. Das Gegenteil der Liebe ist der Haß. Es gibt eine Auffassung des Ideals der Liebe, wonach diese den Haß ausschließt. Ich behaupte, daß dies eine Verfälschung des Ideals der Liebe ist, und daß sich vielmehr Liebe und Haß gegenseitig bedingen. Es gibt nämlich gar kein Ideal der Liebe schlechthin. Alle ideale Liebe ist Liebe zum Schönen. Das Ideal der Liebe fordert die Erhaltung und Erhöhung des Werts des Schönen. Haß dagegen ist das Interesse an einer Vernichtung des Häßlichen. Wo daher überhaupt ein ästhetisches Interesse lebendig ist, da muß es sich notwendig äußern sowohl dem Schönen gegenüber als Liebe,

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wie dem Häßlichen gegenüber als Haß, und wo sich kein Haß gegen das Häßliche findet, da ist keine Liebe zum Schönen möglich; es ist also überhaupt keine reine Liebe möglich. Man muß hier nur zweierlei auseinanderhalten: Ich sage nicht, daß das Ideal der Gemeinschaft Haß gegen alle Personen fordert, die wir nicht lieben können; es ist nämlich noch ein Unterschied, ob ein Mensch hassenswert ist, oder ob er nur nicht liebenswert ist. Diese Unterscheidung entspringt aus der andern zwischen Unbildung und dem, was wir positiv Gemeinheit eines Menschen nennen können. Unbildung beruht auf mangelnder Einsicht in das Ideal; Gemeinheit dagegen setzt gerade Einsicht in das Ideal voraus und besteht nur in der Gesinnung, die idealen Werte zu mißachten. Entsprechend scheiden wir zwischen bloßer Amoralität und Unmoralität des Menschen. Wir verachten den unmoralischen, nicht aber den amoralischen Menschen. Demgemäß ist für uns hassenswürdig nur das positiv Häßliche der Gesinnung, nicht aber bloßer Mangel an Einsicht in das Schöne. Unbildung oder Roheit ist bloßer Mangel an Bildung, Gemeinheit dagegen ist positive Niedrigkeit der Gesinnung, bewußte Mißachtung des Ideals. Dieser Unterschied zeigt sich z. B. im Verhältnis von Irrtum und Lüge. Hassenswert ist nicht der Irrtum, sondern die Lüge als eine bewußte Mißachtung der Anforderung des Ideals der Wahrheitsliebe. Das Ideal der Liebe zum Schönen fordert von uns einen Kampf gegen alles, was ihm entgegen ist, also auch einen Kampf gegen den Irrtum; denn nur durch den Kampf gegen den Irrtum kann die Wahrheit siegen. Aus diesem Grunde läßt sich kein allgemeines Ideal der Duldsamkeit und Friedfertigkeit als angebliche Folge des Ideals der Liebe ableiten. Es gibt zwar so wenig ein Ideal des Kampfes schlechthin, wie es ein Ideal der Liebe schlechthin gibt. Es gibt ein Ideal der Liebe nur gegenüber dem Liebenswerten und ein Ideal des Kampfes nur gegenüber dem Bekämpfenswerten. Jedoch zwischen Kampf und Haß oder zwischen Feindschaft und Haß ist noch ein Unterschied. Der Irrtum soll bekämpft werden, doch das Lügen verdient Haß. Das ethische Ideal schließt

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unmittelbar ein Ideal des Kampfes gegen Irrtum und Unrecht und ein Ideal des Hasses gegen das Gemeine ein. Es liegt kein Widerspruch in dem Ideal der Feindesliebe; denn das Ideal des Kampfes gegen den Irrtum und das objektive Unrecht sd1ließt nicht die Hochschätzung der Gesinnung dessen aus, den wir bekämpfen, und auch nicht dasWohlwollen gegen ihn selber. Aber diese Anforderung des Ideals der Liebe darf nicht zu einer Verkennung des Ideals des Hasses führen, gegen das nämlich, was nicht nur bekämpfenswert, sondern auch hassenswert ist, und es ist daher keineswegs eine Inkonsequenz, sondern im Gegenteil ein Ausdruck der Konsequenz, wenn der Verkünder der Religion der Liebe sagt, er sei nicht gekommen, Frieden zu bringen auf Erden, sondern vielmehr Zwietracht. §

108.

Allgemeine Menschenliebe. Aus dem zuletzt Gesagten ergibt sich, wie wir die Frage zu beurteilen haben, ob sich ein Ideal der allgemeinen Menschenliebe in der Ethik aufstellen läßt. Die Entscheidung dieser Frage hängt davon ab, was unter dem Ideal der allgemeinen Menschenliebe verstanden wird. Menschenliebe kann Wohlgefallen an den Menschen, aber auch Wohlwollen gegen die Menschen sein. Offenbar kann nur in dem zweiten Sinn von einem Ideal der allgemeinen Menschenliebe die Rede sein. Das Ideal eines allgemeinen Wohlgefallens an den Menschen ist ein phantastisches Ideal; denn es ist bedingt durch eine den Anforderungen der Wahrheitsliebe widerstreitende Idealisierung der Menschen. Allgemeine Menschenliebe kann sich nur betätigen in dem Bestreben, den Menschen die Möglichkeit zu verschaffen, durch Selbsttätigkeit ihre wahren Interessen zu befriedigen; denn dies verlangt das reine Wohlwollen gegen die Menschen, die als vernünftige Wesen nur durch Selbsttätigkeit zu einem wertvollen Leben gelangen können. Die Menschenliebe verbietet es also, daß man offen oder versteckt die Menschen zur Befriedigung ihrer angeblich wahren Interessen zwingt.

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Uber diese an und für sich nur negative Anforderung hinaus kann sich die Menschenliebe nur äußern in dem Streben nach Aufklärung der Menschen, d. h. nach Aufhellung ihrer wahren Interessen. Diese Anforderung der Menschenliebe geht weiter als die der Gerechtigkeitsliebe; denn diese verlangt nur, dahin zu wirken, daß den Menschen kein Unrecht geschieht, während die Menschenliebe bestrebt ist, die Menschen positiv zu einem wertvollen Leben gelangen zu lassen. § 109.

Die Gemeinschaft der Endzwecke als Bedingung der Freundschaft. Gegenseitige Achtung und Liebe sind zwar notwendige Bedingungen der Freundschaft, erschöpfen aber deren Wesen nicht. Denn das Ideal der Freundschaft ist das Ideal einer praktischen Gemeinschaft, d. h. einer Gemeinschaft der Zwecke. Praktische Gemeinschaft als Tätigkeit für gemeinsame Zwecke muß zur gegenseitigen Achtung und Liebe hinzukommen, um der Freundschaft ihre volle Bedeutung zu geben. Nun ist freilich leicht klar, daß nicht jede Zweckgemeinschaft schon Freundschaft ist. Wenn sich eine Verbrecherbande zusammenschließt zur gegenseitigen Unterstützung bei ihren Plünderungen, so ist dies eine Zweckgemeinschaft, aber damit noch nicht Freundschaft. Der Grund liegt darin, daß die Zwecke, hinsichtlich deren hier eine Gemeinschaft besteht, nur untergeordnete, d. h. mittelbare Zwecke sind. In diesen mittelbaren Zwecken treffen die einzelnen Beteiligten zufällig zusammen; das Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke, die Ausraubung anderer Personen, ist ihnen gemeinsam; der eigentliche Zweck ist aber kein gemeinsamer, sondern für jeden nur der, sich selber nach Möglichkeit zu bereichern. Es liegt hier nur ein Gebot der Klugheit vor, sich zur Erreichung dieses Zweckes gegenseitig zu unterstützen. Der Einzelne bedient sich dabei des andern nur als eines Mittels zur Erreichung seiner Privatzwecke. Analog verhält es sich bei vielen Arbeitsgemeinschaften, z. B.

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der eines Geschäftsleiters und seiner Angestellten, wo im Grunde jeder nur seinen eigenen Vorteil sucht, und wo nur das Mittel, nämlich der Betrieb des Geschäfts, den Beteiligten gemeinsam ist. Freundschaft erfordert aber Gemeinschaft nicht nur hinsichtlich untergeordneter, mittelbarer Zwecke, sondern gerade hinsichtlich der unmittelbaren, der Endzwecke. Die Freundschaft wird daher um so vollkommener sein, je vollkommener der Bereich der Endzwecke des einen mit dem des andern zusammenfällt. So ergeben sich verschiedene Abstufungen von Freundschaft, je nachdem, wie weit diese Gemeinschaft der Endzwecke geht. Die Gemeinschaft der Endzwecke beruht aber darauf, daß dies keine bloßen Privatzwecke der Einzelnen sind, d. h. keine solchen, die aus subjektiven Interessen entspringen. Nur bei einem objektiven, idealen Zweck ist eine Gemeinschaft der Endzwecke möglich.

§ 110.

Bildung als Bedingung der Freundschaft. Hieraus können wir eine wichtige praktische Folgerung ziehen. Es folgt, daß Freundschaft Bildung voraussetzt. Zur Gemeinschaft der Endzwecke genügt nämlich nicht, daß die Einzelnen für sich ideale Zwecke anerkennen, sondern ~ie müssen in der Bestimmung dieser Zwecke übereinstimmen. Den einzelnen Menschen gilt sehr Verschiedenes und oft Entgegengesetzes als idealer Zweck; ja auch diejenigen, die diese Zwecke in gleicher Weise durch das Ideal der Vernünftigkeit des Lebens bestimmen, werden in der Beurteilung dessen, was die Vernünftigkeit des Lebens erfordert, je nach der Ausbildung ihres Urteils das eine oder das andere dafür halten. Und wenn sie auch darin übereinstimmen, daß zur Vernünftigkeit des Lebens Wahrheits-, Schönheits- und Gerechtigkeitsliebe gehören, so stimmen sie damit doch noch nicht darin überein, was im Ein-

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zelnen die Ideale der Wahrheitsliebe, der Schönheitsliebe und der Gerechtigkeitsliebe verlangen. Praktische Gemeinschaft ist aber nur so weit möglich, wie Ubereinstimmung in der praktischen Lebensansicht besteht, d. h. in der Beurteilung dessen, was zum Wert des Lebens im einzelnen gehört. Soll daher die Gemeinschaft der Zwecke, die die Bedingung der Freundschaft ist, nicht nur darauf beruhen, daß der eine und der andere zufällig gleich ungebildet sind, daß sie in ihren Irrtümern, in dem Mangel der Reflexion übereinstimmen, so ist die Gemeinschaft nur möglich dadurch, daß sie beide gebildet sind und den objektiven Wert des Lebens richtig beurteilen. Freundschaft ist also als Ideal verstanden nur zwischen hinreichend gebildeten Menschen möglich. Denn nur dadurch, daß jeder zur objektiv richtigen Lebensansicht gelangt, ist auch die Gleichheit ihrer Lebensansicht verbürgt. Zu dieser praktischen Lebensansicht nun, deren Gemeinschaft eine Voraussetzung der Freundschaft ist, gehört ein Moment, das in ausgezeichneter Weise eine Bedingung der Freundschaft ausmacht, nämlich die Wahrheits 1 i e b e. Die Wahrheitsliebe ist die Bedingung der Möglichkeit, sich gegenseitig aufzuklären und zu belehren. Wenn daher auch im übrigen keine Ubereinstimmung der praktischen Lebensansicht besteht, so besteht doch immer die Möglichkeit, zu dieser Ubereinstimmung zu gelangen, wenn nur auf beiden Seiten die dazu erforderliche Wahrheitsliebe vorhanden ist. Das gemeinsame Interesse an der Wahrheit ist daher die vornehmste Bedingung, unter der auch nur eine Annäherung an das Ideal der Freundschaft stattfinden kann. Dagegen ist es nicht etwa eine notwendige Bedingung der Freundschaft, daß der Beruf der Freunde der gleiche ist. Gleichheit der Berufe ist mehr, als zur Freundschaft erforderlich ist. Es gibt eine Gemeinschaft der idealen Zwecke, ohne daß das vorzugsweise ausgebildete ideale Interesse beim einen und beim andern dasselbe ist. Der ideale Wert der Freundschaft wird im Gegenteil um so größer sein, je mehr die Verschiedenheit der Berufe eine Ergänzung der Persönlichkeit bietet, und

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je mehr trotz der Verschiedenheit der Berufe eine Harmonie der praktischen Lebensansicht besteht. Hierauf beruht es auch, daß wir die schönste Erscheinung der Freundschaft in der Freundschaft der verschiedenen Geschlechter finden. Denn der Unterschied der Geschlechter ist von Natur aus größer als jeder Unterschied, den eine Verschiedenheit der Wahl des Berufs mit sich bringen könnte, und daher ist hier die Möglichkeit einer gegenseitigen Ergänzung und Bereicherung des Werts des Lebens um so größer. § 111.

Intensität und Extensität der Freundschaft. Die Vollkommenheit der Freundschaft kann nach zwei Momenten beurteilt werden, von denen wir bisher nur das eine erörtert haben; sie kann nämlich beurteilt werden nach ihrer Intensität und nach ihrer Extensität. Ich verstehe unter Extensität einer Freundschaft die Ausdehnung des Kreises der an der Gemeinschaft beteiligten Personen. Offenbar wird die Freundschaft um so vollkommener sein, je mehr es gelingt, ihren Kreis auszudehnen, ohne daß dadurch die Intensität der Freundschaft eine Einbuße erleidet. Wie weit sich diese Bedingung erfüllen läßt, kann nur die Erfahrung lehren. Es gibt kein Ideal, nach dem wir a priori der Ausdehnung des Kreises der an der Freundschaft Beteiligten Grenzen ziehen könnten. Die allgemeine Bedingung aber, von der es abhängt, wie weit sich dieser Kreis ausdehnen läßt, können wir schon a priori formulieren. Es fragt sich hier, ob nicht die Liebe zum einen die Intensität der Liebe zum andern beschränkt, und zwar um so mehr, je intensiver sie selber ist, und unter welchen Bedingungen diese Beschränkung ausgeschlossen ist. Das Problem liegt dabei darin, ob die Anforderung der Vertraulichkeit gegenüber dem einen, der lJ_ns seine Freundschaft geschenkt hat, verträglich sein kann mit der Offenheit in der Mitteilung unserer Gedanken, die wir dem andern schuldig sind. Nun können sich offenbar diese beiden Anforderungen nur insofern und inso-

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weit gegenseitig beschränken, als diese beiden Personen nicht auch unter einander in einem Verhältnis der Freundschaft stehen. Denn soweit sie in einem solchen Verhältnis der Freundschaft zu einander stehen, wird durch die Offenheit der Gedankenmitteilung dem einen gegenüber nicht die dem andern geschuldete Vertraulichkeit verletzt, da das Vertrauen, das dieser uns entgegenbringt, von ihm ja auch dem andern geschenkt wird, so daß wir diesem nichts mitteilen, zu dessen Mitteilung derjenige, der uns sein Vertrauen schenkt, dem andern gegenüber nicht von selber bereit ist. Die Bedingung der extensiven Erweiterung der Freundschaftsgemeinschaft ohne gleichzeitige Verminderung der Intensität ist daher die, daß jede diesem Kreis angehörige Person mit jeder andern in einem Verhältnis der Freundschaft steht. § 112.

Ästhetischer Ursprung des Ideals der Freundschaft. Aus dieser Betrachtung wird vollends klar, daß vollkommene Freundschaft ein Ideal ist, dem man sich mehr oder weniger annähern kann, je nach dem Maße nämlich, in dem sich die erörterten Bedingungen der Freundschaft verwirklichen lassen. Die Verwirklichung dieser Bedingungen hängt aber nicht unmittelbar von unserem Willen ab. Es kann hier also gewiß nicht von Pflicht die Rede sein, sondern nur von dem, was zur Schönheit des Lebens gehört. Es bleibt für den Einzelnen eine Gunst des Zufalls, ob er die Erfüllung solcher Bedingungen vorfindet, und der Erfolg des Strebens nach ihrer Verwirklichung bleibt für ihn gleichfalls zufällig. In diesem Sinn ist Freundschaft letzten Endes immer als ein Geschenk des Zufalls anzusehen, und dieser Zufall erscheint in einem besonderen Licht, wenn wir den ästhetischen Ursprung des Ideals der Freundschaft bedenken. Der ästhetische Wert, der in der Ubereinstimmung der Glieder des Ganzen zu einer Einheit liegt, ist nämlich etwas hinsichtlich aller Gesetze Zufälliges. Er läßt sich

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weder aus einem Naturgesetz noch aus einem Sittengesetz ableiten und ist insofern zufällig. Ja in diesem Sinn kann man sagen, daß das Wesen der Schönheit in der Zufälligkeit besteht. Ich will die abgeleiteten Bedingungen der Freundschaft zusammenfassen in einer Erklärung, die Anspruch macht, erschöpfend zu sein: Freundschaft ist die tätige Ver einigung für gemeinsame Ideale im Gefühl g e g e n s e i t i g er Achtung und Li e b e.

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5. Kapitel.

Ideale des öffentlichen Lebens. § 113.

Ableitung der Ideale des öffentlichen Lebens. Die Lehre von den Idealen der Gemeinschaft geht über die vom Ideal der Freundschaft hinaus. Die Notwendigkeit einer solchen Ergänzung ergibt sich durch die folgenden Uberlegungen. Wir können die Vernünftigkeit einer Gemeinschaft nach zwei Richtungen bestimmen, ebenso wie sich die Vernünftigkeit eines Einzelnen in zweierlei Formen zeigen kann, nämlich einmal, sofern er in vernünftiger Weise für sich mit seinen Vorstellungen beschäftigt ist, dann aber, sofern er in vernünftiger Weise auf seine Umgebung einwirkt. Beide Momente gehören allerdings eng zusammen. Ein vernünftiges Innenleben schließt die Bereitschaft zu vernünftigem Handeln ein, und vernünftiges Handeln setzt eine vernünftige Beschäftigung mit den eigenen Vorstellungen und Uberzeugungen voraus. Nun ist es zwar klar, daß wir bei der Gemeinschaft nichts dem Innenleben des Einzelnen Entsprechendes haben. Nur der Einzelne kann denken, sich interessieren, wollen, nicht aber die Gemeinschaft. Denn die Gemeinschaft ist kein Einzelwesen; sie ist vielmehr zusammengesetzt aus Einzelnen, von denen jeder für sich ein eigenes Innenleben führt. Aber diese Trennung kann in gewisser Weise aufgehoben werden. Die Einzelnen können sich gegenseitig von ihrem Innenleben Mitteilung machen und dadurch mehr oder weniger mit einander in Verkehr kommen. Dieser Verkehr ist am vollkommensten dann, wenn er auf einem Vertrauensverhältnis beruht. Denn auf Grund des Vertrauens sind die Einzelnen bereit, sich gegenseitig das eigene Innenleben zu erschließen. Vertrauen ist daher eine Bedingung der Freundschaft. Für die Stiftung der Freundschaft ist das vernünftige Wesen darauf angewiesen, daß es andere Wesen findet, die bereit und

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fähig sind, mit ihm in ein Vertrauensverhältnis zu treten. Dafür ist ein Ausgleich der sich ergänzenden Anlagen erforderlich, durch deren Harmonie die Schönheit des persönlichen Lebens und der Gemeinschaft erhöht wird. In der Natur bleibt es zufällig, ob sich zwischen vernünftigen Wesen eine solche Harmonie findet; es hängt darum nicht von ihnen allein ab, wie weit sie zu einander in ein Freundschaftsverhältnis treten, und sie können es nicht ausschließen, daß unter gegebenen Umständen eine Freundschaft für sie unmöglich wird. Aber gegenseitiges Vertrauen ist nicht das Einzige, was einer Gemeinschaft Wert verleiht. Bereits bei der Freundschaft ließen sich Intensität und Extensität der Gemeinschaft unterscheiden. Während die Intensität von dem Grad des persönlichen Vertrauens abhängt, das die Glieder der Gemeinschaft zu einander haben, bestimmt sich die Extensität durch die Ausdehnung des Kreises der an der Gemeinschaft Beteiligten. Auch die Extensität ist ein Maß für den Wert einer Gemeinschaft. Denn eine Freundschaft, die dem Ideal entspricht, ist keine bloße Gemeinschaft im Gefühl der gegenseitigen Achtung und Liebe, sondern sie ist andererseits praktische Gemeinschaft, d. h. eine Gemeinschaft der Zwecke; ihr Wert bestimmt sich darum auch danach, wie weit sie sich dem Ideal nähert, alle vernünftigen Wesen zum Dienst an den ihnen gemeinsamen Zwecken zusammenzuschließen. Für die Gemeinschaft der Zwecke sind die vernünftigen Wesen nicht angewiesen auf die zufällige Harmonie ihrer Anlagen. Es genügt, daß in jedem von ihnen die Vernunft hinreichend klar ist, ihnen die Zwecke zu weisen, die ihnen als vernünftigen Wesen gemeinsam sind. Wir können also von dem ersten Moment, wonach die Vollkommenheit einer Gemeinschaft von dem Grad des gegenseitigen Vertrauens abhängt, abstrahieren. Wir kommen damit auf das Ideal einer praktischen Gemeinschaft, die nicht Freundschaft ist insofern, als sie nicht abhängt von dem persönlichen Vertrauen, wodurch der eine und andere mit einander in Gemeinschaft treten, sondern unabhängig davon auf der Gemeinschaft der vernünf-

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tigen Zwecke beruht und insofern eine Ausdehnung auf alle vernünftigen Wesen beansprucht. Eine solche Ausdehnung aber setzt ihrerseits voraus, daß die Gemeinschaft auf Grund gewisser äußerer Formen, die den gemeinsamen Zwecken dienen, von den persönlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft unabhängig ist. Das, was sich zwar auf das Innere eines jeden bezieht, nämlich auf seine Zwecke, aber doch äußerlich in Erscheinung tritt, heißt insofern öffentlich. Ich nenne deshalb die !deale einer praktischen Gemeinschaft, die durch äußere Formen gesichert ist, und die insofern vom persönlichen Vertrauen unabhängig besteht, Ideale des öffentlichen Lebens. § 114.

Die Tugend des Gemeingeistes. Die Ideale des öffentlichen Lebens beziehen sich auf eine Gemeinschaft vernünftiger Wesen und verlangen von ihr Unterwerfung unter die Zwecke der Vernunft. Das bedeutet allerdings nicht, daß diese Ideale nicht dem Einzelnen, sondern der Gemeinschaft Aufgaben stellen. Die Gemeinschaft, die als solche weder Zwecke verfolgt, noch Aufgaben erfüllt, kann von den Einzelnen in den Dienst idealer Zwecke gestellt werden, und zwar dadurch, daß bereits die äußere Form der Gemeinschaft diesen Zwecken entspricht. Nur in diesem übertragenen Sinn können wir davon sprechen, daß die Ideale des öffentlichen Lebens der Gemeinschaft Aufgaben stellen. Nehmen wir den Begriff der Aufgabe aber einmal so weit, daß er diese Bedeutung mit umfaßt, dann stoßen wir hier auf eine strenge Analogie zwischen den Idealen des öffentlichen Lebens einerseits und den Idealen der Bildung andererseits. Denn die Ideale des öffentlichen Lebens bestimmen die vernünftigen Zwecke der Gemeinschaft, so wie die Ideale der Bildung dem Einzelnen die Zwecke nennen, die er vernünftiger Weise verfolgen sollte. Diese Analogie zwischen den Idealen des öffentlichen Le-

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bens und denen der Bildung ermöglicht es uns, in der Entwicklung der Lehre vom öffentlichen Leben dem Leitfaden zu folgen, der den Aufbau der ganzen Ideallehre bestimmt. Wir erhalten daher hier von neuem eine Probe auf die Fruchtbarkeit der angewandten Methode. Den Uberlegungen der formalen Ideallehre entsprechend können wir, ehe wir auf den Inhalt der Zwecke des öffentlichen Lebens eingehen, eine Folgerung ziehen aus der Feststellung, daß es überhaupt solche Zwecke gibt, in deren Dienst wir das öffentliche Leben stellen sollen. Das öffentliche Leben wird nämlich nur dann für diese Zwecke wirklich eingesetzt, wenn bereits seine Form diesen Zwecken angepaßt ist. Ich nenne die Tugend, die hiernach aus dem Ideal des öffentlichen Lebens entspringt, d i e Tu g e n d de s G e mein geist es und verstehe darunter die Bereitschaft des Einzelnen, sich zu einer Gemeinschaft im Dienst öffentlicher Zwecke zusammenzuschließen. § 115.

Kraft und Lebendigkeit des Gemeingeistes. Dem Gemeingeist können wir, wie wir dies für den Geist des Einzelnen getan haben, einen Charakter zuschreiben, nicht in dem Sinn, daß wir in mystischer Weise eine besondere W esenheit annehmen, die von den einzelnen in der Gemeinschaft vereinigten Geistern verschieden wäre, sondern insofern, als wir dadurch die Form der Gemeinschaft, zu der die Einzelnen sich vereinigen, charakterisieren. Die Tugend des Gemeingeistes umfaßt dann ihrerseits, wie die Tugend des Charakters des Einzelnen, die Stärke, Lebendigkeit und Reinheit des Gemeingeistes. Die Stärke des Gemeingeistes bemißt sich nach seiner Uberlegenheit gegenüber widerstrebenden Sonderinteressen der Einzelnen. Es soll aber nicht nur ein starker Gemeingeist herrschen, sondern auch ein lebendiger, d. h. der Gemeingeist soll nicht in den Formen, die er sich schafft, erstarren und nicht

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von Gewohnheit erstickt werden, sondern er soll sich dieser äußeren Form nur als eines Werkzeuges für höhere Zwecke bedienen. Diese Formen sollen nicht als Selbstzweck gelten und als solcher künstlich erhalten werden, sondern sie sollen der lebendigen Entwicklung fähig bleiben. Die Lebendigkeit des Gemeingeistes zeigt sich daher in der Beweglichkeit der gesellschaftlichen Formen, in ihrer Anpassungsfähigkeit an die wechselnden Umstände und die durch diese bedingten Zwecke. Wir fordern also eine öffentliche, planmäßige Leitung des öffentlichen Lebens und nennen diese die Besonnenheit d e s G e m e i n g e i s t e s. § 116.

Reinheit des Gemeingeistes. Durch die Besonnenheit des Gemeingeistes wird die Gestaltung des öffentlichen Lebens dem Zufall entzogen und in den Dienst bestimmter Zwecke gestellt. Es bleibt aber noch die Frage, für welche Zwecke sie eingesetzt wird. Stärke und Lebendigkeit sind keine hinreichenden Bedingungen des Gemeingeistes. Denn mit Besonnenheit kann das gesellschaftliche Leben ebensowohl in den Dienst schlechter wie guter Zwecke gezogen werden. Die Frage nach der Wahl der Zwecke führt uns auf die Forderung der Re i n h e i t de s G e mein g e i s t e s. Es kann ein starker und lebendiger Gemeingeist bestehen ohne Reinheit; der Gemeingeist kann sich äußern in Gewalttätigkeit, in Schwärmerei und Aberglauben, in Machtgier und Bereicherungssucht oder in roher Pracht. Die Reinheit des Gemeingeistes zeigt sich darin, daß er sich den Idealen unterwirft, die durch die Schönheit des öffentlichen Lebens bestimmt sind. Die Herrschaft dieser Ideale im öffentlichen Leben macht das aus, was wir die Ku 1tu r der G e s e 11 s c h a f t nennen, so wie sie im Leben des Einzelnen dessen Bildung bestimmt. Erst eine Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft der Ideale kann im vollen Sinn ein öffentliches

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Leben heißen. Ein öffentliches Leben ist nämlich ein solches, das nicht im Dienst privater Zwecke steht, mögen dies die Zwecke einiger, vieler oder auch aller in der Gesellschaft sein. Die Offentlichkeit des Lebens hängt nicht von der faktischen Ubereinstimmung der Einzelnen in der Wahl ihrer Zwecke ab, sondern von der Eigenart dieser Zwecke selber, die das gesellschaftliche Leben bestimmen, nämlich davon, daß dies nicht beliebig gewählte Zwecke sind, sondern solche, die sich jeder Mensch zu eigen macht, sofern er hinreichend gebildet ist. In der Unterwerfung des gesellschaftlichen Lebens unter solche Zwecke besteht die Reinheit des Gemeingeistes und die Offentlichkeit des Lebens. Wie die Reinheit des Charakters die Tugend der Geistesklarheit voraussetzt, so erfordert die Reinheit des Gemeingeistes eine Klarheit des Gemeingeistes. Der Einzelne kann sich einem Ideal nur insofern unterwerfen, als er es als solches erkennt. Dem entspricht es, daß eine Gemeinschaft nur dann in den Dienst idealer Zwecke tritt, wenn diese Zwecke bereits durch die Form der Gemeinschaft als öffentliche Zwecke anerkannt werden. Die erste Anforderung der Klarheit des Gemeingeistes ist daher die öffentliche Anerkennung inhaltlich bestimmter Zwecke für das öffentliche Leben, für die wir hier so wenig wie beim Einzelnen mit einem bloß formalen Ideal des Idealismus auskommen. Eine praktische Gemeinschaft ist nur möglich unter der Voraussetzung der Identität der von den Einzelnen als Ideal anerkannten Zwecke. Denn ein Widerstreit in der Bestimmung der idealen Zwecke ihrem Inhalt nach schließt die Möglichkeit einer praktischen Gemeinschaft aus. Diese verlangt zu ihrer Möglichkeit eine Einigung in der Wahl der Mittel zur Erreichung der Zwecke, die das Ziel der Gemeinschaft bestimmen. Wie aber sollte es möglich sein, an eine Einigung in der Wahl der Mittel auch nur zu denken, wenn man nicht einmal zu einer solchen hinsichtlich der Wahl der Zwecke kommt? Wenn man also als das Ideal der Gemeinschaft die Sammlung der Geister proklamiert, so verlangt dies zuerst eine Scheidung der Geister nach

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den widerstreitenden Zwecken, die der Gemeinschaft von den einen und andern gesetzt werden. Der bloße Idealismus ist als Losungswort für die Gründung einer Gemeinschaft ebenso unbrauchbar, wie er ein leeres Wort ist für das Leben des Einzelnen. Es ist die erste Anforderung der Klarheit des Gemeingeistes, bestimmte Ideale als öffentliche Zwecke aufzuweisen. Durch eine bloß subjektive Gemeinsamkeit der Zwecke wird das Ideal der Gemeinschaft aber selbst da nicht verwirklicht, wo die subjektive Anerkennung auf das Ideal gerichtet ist. Es ist nicht genug, daß eine gemeinsame, aber vielleicht irrige Meinung über die Zwecke des öffentlichen Lebens herrscht, sondern das öffentliche Leben soll beherrscht werden von den Idealen des gesellschaftlichen Lebens selber. Die Bestimmung des Zwecks, in dessen Dienst sich der Gemeingeist stellt, soll daher nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv dem Zufall entzogen werden. § 117.

Kultur als Zweck des öffentlichen Lebens. Wenn wir uns der Aufgabe zuwenden, die Ideale des öffentlichen Lebens ihrem Inhalt nach zu bestimmen, so kommen wir auf die allgemeine Frage nach der Möglichkeit von Zwecken des gesellschaftlichen Lebens überhaupt. Wir haben bereits gesehen, daß solche Zwecke keine andern sein können als diejenigen, die an und für sich schon der Einzelne hat. Je nachdem nun, ob die Zwecke des Einzelnen durch das subjektive Interesse der Neigung oder durch das objektive Inte:resse der Bildung bestimmt sind, richten sie sich entweder auf das, was wir Lebensgenuß, Glück oder auch Wohlfahrt des Einzelnen nennen, oder auf das, was den Wert des Lebens ausmacht. Die subjektiven Interessen bestimmen nur private Zwecke, nämlich Zwecke der Selbstsucht. Das objektive Interesse dagegen gibt uns im wahren Sinn öffentliche Zwecke, d. h. allgemeine und notwendige Zwecke eines jeden hinreichend Ge-

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bildeten. Die Verwirklichung dieser Zwecke ist eine öffentliche Angelegenheit und gibt uns insofern einen Maßstab für die Kultur der Gesellschaft. Es gibt kein gesellschaftliches Ideal der Wohlfahrt; denn die subjektiven Interessen bestimmen nur private Zwecke der Einzelnen, insofern nämlich, als sie für jeden auf etwas anderes gerichtet sind, sodaß die Einzelnen bei der Befriedigung dieser Interessen nur zufällig hinsichtlich der Wahl der Mittel übereinstimmen können. Für die Gesellschaft entsteht hier daher nur die Zweckmäßigkeitsfrage, wie weit die Mittel zur Befriedigung der subjektiven Bedürfnisse der Einzelnen auf gesellschaftlichem Wege besser oder schlechter beschafft werden können. Nennen wir den Inbegriff der Vermittlung, wodurch den Einzelnen die Befriedigung ihrer subjektiven Bedürfnisse gesichert wird, die Wirtschaft, so kann in der Tat die Wirtschaft zu einem gesellschaftlichen Zweck werden. Aber ob und wie weit dies geschehen soll, ist eine Frage der Klugheit und keine ethische Frage. Die Gestaltung des Wirtschaftslebens betrifft an und für sich nur eine technische Aufgabe, eine Aufgabe, die nicht auf Grund eines Ideals der Wohlfahrt geleistet werden kann. Das Ideal des öffentlichen Lebens kann also nur durch das Ideal der Kultur bestimmt werden. § 118.

Technik und Kultur. In welchem Verhältnis stehen die Anforderungen dieses Ideals zu den Aufgaben der Technik? Technik ist an und für sich die Kunst, äußere Mittel zur Erreichung von Zwecken bereitzustellen und also die öffentlichen Lebensbedingungen zu sichern. Wenn sich nun ein Zeitalter vorzugsweise dieser Sicherung widmet, so erhebt sich die Frage, ob es darum ein Zeitalter technischer Kultur zu heißen verdient. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welche Zwecke es sind, in deren Dienst sich die Technik mit ihren Vermittlungen begibt. Die bloße Beschaffung von Mitteln ist an sich gewiß noch kein Gegenstand

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der Kultur. Aber sie ist ihr nicht etwa entgegengesetzt. Vielmehr muß jede Kultur als solche zugleich eine technische Kultur sein; denn es wäre ein Widersinn, irgend welche Kulturideale anzustreben und die Beschaffung der Mittel zu vernachlässigen, die zur Sicherung eines kultivierten gesellschaftlichen Lebens erforderlich sind. Noch weniger aber als ein die Technik verachtendes Zeitalter kann ein Zeitalter als ein solches der Kultur gelten, in dem die Technik in den Dienst selbstsüchtiger Interessen gestellt wird. Ein solches Zeitalter wird im Gegenteil ein um so weniger kultiviertes zu heißen verdienen, je vollkommener in ihm die Technik ausgebildet worden ist. Ein Zeitalter, das die vollkommenste Ausbildung der Technik selbstsüchtigen Zwecken unterwirft, könnte man nur ein teuflisches nennen. Denn nicht nur, daß es die Gestaltung des öffentlichen Lebens der Willkür privater Zwecke überläßt, es benutzt überdies die vollkommenste und raffinierteste Ausbildung der Technik, um die Herrschaft dieser privaten Zwecke über das gesellschaftliche Leben dem Zufall zu entziehen. § 119.

Verhältnis der Wohlfahrt zu dem Ideal der Kultur. Um die Anforderungen der Kultur scharf zu bestimmen, müssen wir sie zunächst in das richtige Verhältnis zum Zweck der Wohlfahrt setzen. Wenn auch, wie wir gesehen haben, die Wohlfahrt selber kein Ideal des öffentlichen Lebens bestimmt, so besteht doch eine unmittelbare Beziehung zwischen ihr und dem Ideal des öffentlichen Lebens. Es gibt zwar kein Ideal der Gesellschaftswohlfahrt, aber es gibt doch ein Ideal der gerechten Verteilung der Wohlfahrt in der Gesellschaft. Dies folgt nämlich unmittelbar aus dem Ideal der Gerechtigkeitsliebe. Die Gerechtigkeit verlangt für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens zwar nicht unmittelbar ein bestimmtes Maß der Wohlfahrt für die Einzelnen, wohl aber eine Ausgleichung in der Befriedigung der Bedürf-

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nisse des Einzelnen derart, daß dabei keiner in der Gesellschaft dem andern gegenüber benachteiligt ist. Dies betrifft die Verteilung der Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse. An diese Verteilung macht sowohl die Gerechtigkeit der Abwägung als auch die der Vergeltung ihre Ansprüche. Ferner: Sofern ein gewisses Maß der Bedürfnisbefriedigung notwendig ist, um zur Bildung zu gelangen, insofern ergibt sich mittelbar aus dem Ideal der Kultur die Anforderung, daß die Einzelnen in der Gesellschaft die Mittel erhalten, ohne die sie nicht zur Bildung gelangen könnten. § 120.

Der Wert der Aufklärung. Unter den Anforderungen, die das Ideal der Kultur unmittelbar an das gesellschaftliche Leben stellt, ergibt sich zunächst ein Ideal, dessen Erfüllung zur Voraussetzung für alle weiteren Kulturbestrebungen wird. Alle solchen Bestrebungen bestimmen sich letzten Endes durch das Ideal der Bildung, der vernünftigen Selbstbestimmung also. Vernünftige Selbstbestimmung aber setzt eine hinreichende Aufklärung voraus; denn Aufklärung ist, wie Kant sagt, nichts anderes als der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Und diese Unmündigkeit ist selbstverschuldet, sofern sie nicht auf äußerem Mißgeschick beruht, sondern auf dem bloßen Mangel an Mut, sich zu entschließen und von seinem Verstande Gebrauch zu machen. Der Wert der Aufklärung ergibt sich also unmittelbar aus dem Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung, auf das alle Anforderungen der Kultur letzten Endes zurückzuführen. Es ist darum unabhängig von einem angeblichen Ideal der Wohlfahrt, dem durch die Aufklärung gedient oder entgegengewirkt werden könnte. Es besteht ein alter Streit um den Nutzen oder die Gefährlichkeit der Aufklärung. Diese Frage geht die Ethik im Grunde

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nichts an. Man mag über die Gefährlichkeit der Aufklärung noch so pessimistisch denken, so berührt dies doch nicht die Frage ihres ethischen Werts. Denn dieser Wert steht fest auf Grund eines unmittelbaren ethischen Ideals. Er steht also höher als alle subjektiv bestimmten Werte, die durch die Aufklärung bedroht werden könnten. Wir werden daher die Uberwindung der möglicher Weise durch die Aufklärung bedingten Gefahren nicht erstreben durch eine Einschränkung der Aufklärung, sondern im Gegenteil durch ihre Steigerung, der wir überlassen müssen, die schädlichen Folgen, die auf einer niedrigen Stufe der Aufklärung entstehen, wieder auszugleichen. Wir müssen diese Gefahren in Kauf nehmen, weil sie nur vermeidbar wären durch die Preisgabe dessen, was dem Leben Wert gibt. § 121.

Die Möglichkeit der Aufklärung. Ebenso wenig wie auf die Frage nach dem Nutzen oder Schaden der Aufklärung brauchen wir in der Ethik auf die Frage nach ihrer Möglichkeit einzugehen. Es könnte hier zwar der Einwand erhoben werden, es sei unmöglich, alle Mitglieder der Gesellschaft zur Bildung zu führen, und deshalb sei die Aufklärung ein Privilegium, das den wenigen vorbehalten bliebe, die für sie empfänglich seien. Offenbar berühren wir hiermit eine empirische Frage; denn wie sollen wir a priori entscheiden, wie viele oder wie wenige Menschen zu einem bestimmten Grad der Aufklärung gelangen können? Aber wir können diese Frage hier getrost auf sich beruhen lassen. Mag man immerhin annehmen, daß noch so vielen Menschen die Fähigkeit abgeht, zur Aufklärung zu gelangen, so ergibt sich doch aus dieser Voraussetzung nie das Recht, einem bestimmten Menschen diese Fähigkeit abzusprechen, ehe man ihm Gelegenheit gegeben hat, die Ausbildung seines Verstandes zu versuchen; oder wie sollte es sonst entschieden werden, ob er zur Klasse der Auserwählten gehört oder nicht?

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Alle Einzelnen haben daher das Recht auf die gleiche äußere Möglichkeit, zur Aufklärung zu gelangen; es muß ihnen selber überlassen bleiben, wie weit sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen. § 122.

Kultur der Aufklärung und Romantik. Wer die Möglichkeit leugnet, daß Menschen durch eigene Kraft zu einem wertvollen Leben gelangen, der könnte auf den Ausweg verfallen, den Wert des Lebens von einem Gnadenakt zu erwarten. Den Menschen bliebe hiernach nur die Aufgabe, sich um diese Gnade zu bewerben. Bei dieser Ausflucht verkennt man, daß der Wert des Lebens nur von der Selbstbestimmung des Menschen abhängt. Für diese Selbstbestimmung gibt es keinen Ersatz. Wer sich dennoch um Gnade bewirbt, der kann das nur aus Klugheitserwägungen tun, etwa mit Rücksicht auf die Glückseligkeit in einem zukünftigen Leben. Die Frage, wie weit der Einzelne durch eine solche Bemühung seiner irdischen oder himmlischen Wohlfahrt dient, geht aber als bloße Klugheitsfrage die Ethik nichts an. Was er gewinnen kann, ist keine Erhöhung des Werts seines Lebens, sondern nur ein Mittel, den Genuß des Lebens zu vergrößern. Mag es auch mit der Möglichkeit der Aufklärung stehen, wie es will, mag selbst das Streben nach ihr den Einzelnen dauernd in Irrtümer verstricken; es ist würdiger, auf eigene Gefahr im Irrtum zu leben, als sich um der eigenen Wohlfahrt willen in die Abhängigkeit von einer überlegenen Macht zu begeben. Diese Feststellungen machen deutlich, daß Aufklärung nicht etwa die zufällige Tendenz eines in der Geschichte vorübergehenden Zeitalters ist, sondern eine notwendige Anforderung an jedes Zeitalter. Wenn eine geschichtliche Epoche vor andern eine solche der Aufklärung zu heißen verdiente, so müßte sie belebt sein von dem starken Vertrauen auf die Kraft der Menschen, ihr Leben selbständig zu gestalten und alle Verheißungen der Gnade als entwürdigende Bevormundung zu verwerfen.

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Von der bloßen Auffassung der Aufgabe, die durch das Ideal der Aufklärung gestellt wird, bis zur wirklichen Ausführung dieser Idee ist freilich ein weiter Weg. Es bedarf einer mühseligen Arbeit des Verstandes, um der Vernunft die Herrschaft im Leben zu erobern, und der Verstand ist der Möglichkeit des Irrtums ausgesetzt. Dadurch, daß der Mensch das Leben dem Richterspruch des Verstandes unterwirft, stürzt er sich in die Gefahr mannigfaltiger Irrtümer, denen die weit weniger ausgesetzt sind, die ihr Leben der Führung der Instinkte anvertrauen. So bringt es die Natur der Aufklärung mit sich, daß diejenigen, die es mit der Verwirklichung dieser Idee versuchen, sich scheinbar von dem Ziel eines in sich selber sicheren und harmonischen Lebens entfernen. Wer daher gewohnt ist, das Streben nach Verwirklichung einer Idee nur nach dem unmittelbaren Erfolg zu beurteilen, der wird an der Möglichkeit einer Kultur der Aufklärung irre werden. Er wird in einem solchen Unternehmen das Hereinbrechen eines uferlosen Subjektivismus und der Anarchie sehen, woraus dann das Bestreben entspringt, der Aufklärung Halt zu gebieten und die Kultur in einer Abwendung von der Selbsttätigkeit zu suchen. Ein Zeitalter, das durch die fehlgeschlagenen Versuche, zur Aufklärung zu gelangen, an der Möglichkeit der Aufklärung irre geworden ist, kann man ein Zeitalter der Romantik nennen. Die sogenannte Kultur der Romantik ist die Kultur einer an sich selber verzweifelnden Vernunft und also einer an sich selber verzweifelnden Menschheit. Sie setzt an die Stelle der menschlichen Selbstbestimmung die Verherrlichung des historisch Uberlieferten und an die Stelle des Unternehmens, die gegebenen Zustände durch die eigene Kraft nach selber erkannten Idealen umzugestalten, den Versuch, den Glauben an die Kraft der Tradition und der Autorität wiederzugewinnen. An die Stelle klarer und unklarer Einsicht tritt hier der Dämmerschein dunkler Gefühle; an die Stelle der Autonomie der menschlichen Vernunft, die man von subjektivistischer Willkür nicht zu unterscheiden vermag, die Fesselung des freien

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Denkens durch überlieferte Glaubensformen und des freien Handelns durch erstarrte Sitten und Gebräuche. Nun ist es aber offenbar nur durch einen Selbstbetrug möglich, die einmal rege gewordene Reflexion und ihre Zweifel an der Verbindlichkeit überlieferter Traditionen und Autoritäten zu beschwichtigen; denn bei innerer Ehrlichkeit kann die Auflösung des Zweifels nur durch die Kraft von Gründen gelingen. Nach Gründen zu suchen ist aber gerade das Bestreben, auf das hier verzichtet wird, weil man an sein Gelingen nicht glaubt. Nicht durch Einschränkung der Reflexion und ihrer Kritik, sondern nur durch ihre Fortbildung und Vollendung ist eine Uberwindung der durch die Reflexion herbeigeführten Unsicherheit möglich. Man wirft der Aufklärung vor, daß sie das Leben an eine kalte und glanzlose Herrschaft des Verstandes ausliefere. Aber die Wärme, die durch Verzicht auf die einmal belebten Reflexionen gewonnen werden soll, ist eine erlogene Wärme, und die Schönheit des Lebens, die man durch die Abkehr von der Aufklärung erlangen zu können glaubt, ist eine erlogene Schönheit. Zweifel und Kritik bilden den ersten Schritt zur Selbstbetätigung des Menschen und damit zur Kultur. Die Umkehr auf diesem Weg führt zu einer Scheinkultur, die in ihrem Prinzip die Verneinung aller Kultur überhaupt ist; denn deren Grundlage besteht in der Anerkennung der Wahrheit. §

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Die Ideale der Gleichheit und der Freiheit. Fragen wir nach den inhaltlichen Anforderungen der Kultur, in deren Dienst die Aufklärung treten soll, so müssen wir vor allem zwei Ideale neben einander betrachten: das Ideal der Menschenliebe und das Ideal der Gerechtigkeitsliebe. Dabei steht das Ideal der Gerechtigkeitsliebe zu dem der Menschenliebe in einem ähnlichen Verhältnis wie zu dem Zweck der Wohlfahrt. Die Gerechtigkeit fordert an und für sich ebenso wenig, daß positiv für die Bildung der Einzelnen gesorgt wird,

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wie daß ihr Lebensgenuß oder ihre Wohlfahrt gesichert wird. Sie fordert an und für sich nur negativ, daß niemand ungerecht in der Möglichkeit der Interessenbefriedigung beschränkt wird, handele es sich um Interessen der Neigung oder um solche an der Bildung. Dieses Ideal, angewandt auf das öffentliche Leben, auf den Zustand der Gesellschaft, nenne ich das I de a 1 der G 1 eich h e i t. Es bezieht sich einerseits auf das Problem der Verteilung der Mittel, die zur Befriedigung der subjektiven Interessen dienen, andererseits auf das des Anteils der Einzelnen an der Möglichkeit, zur Bildung zu gelangen. In beiden Beziehungen fordert es Gleichheit. Hier besteht nun aber hinsichtlich des Ideals der Gleichheit ein tiefgehender Unterschied zwischen der Möglichkeit der Befriedigung subjektiver Interessen, der Interessen an der Wohlfahrt, und der Möglichkeit der Befriedigung objektiver Interessen, der Interessen an der Bildung. Um diesen Unterschied deutlich zu erkennen, gilt es zu bedenken, daß wir einem andern Menschen zwar das Interesse am Lebensgenuß nicht aber das an der Bildung befriedigen können. Denn zum Lebensgenuß ist keine Selbsttätigkeit seinerseits erforderlich, sofern ihm nur die notwendigen Mittel zur Verfügung gestellt werden; das Interesse an der Bildung kann aber nur durch Selbsttätigkeit befriedigt werden. Es entsteht daher die Frage, wie hier überhaupt das Ideal der Gleichheit geltend gemacht werden könne. In der Tat folgt aus dem Ideal der Selbstbestimmung, daß das, was hier der eine für den andern tun kann, nicht mehr ist als die Wegräumung von Hindernissen und die Beschaffung der Gelegenheit, das Interesse an der Bildung selber zu befriedigen. Aber sofern äußere Hindernisse den Einzelnen an der Befriedigung seines objektiven Interesses beschränken können, entsteht aus dem Ideal der Gleichheit die Aufgabe, solche Hindernisse der Bildung, durch die die einen den andern gegenüber benachteiligt sind, wegzuräumen und allen die gleiche Gelegenheit zur Bildung zu schaffen. In noch weiterem Ausmaß ist die Wirksamkeit für die Bildung der Menschen eine unmittelbare Anforderung der all-

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gemeinen M e n s c h e n 1 i e b e ; denn diese hat die Vervoll kommnung der Menschen zum Gegenstande, strebt also nach einer Beseitigung aller Einschränkungen der menschlichen Selbsttätigkeit und führt insofern für das öffentliche Leben auf das I d e a 1 d e r F r e i h e i t. Das Ideal der Freiheit verlangt, daß den Einzelnen die Möglichkeit gesichert wird, durch Selbsttätigkeit zur Bildung zu gelangen, sofern diese Möglichkeit durch die Wegräumung äußerer Hindernisse, seien es natürliche oder künstliche Hindernisse der Selbsttätigkeit, gegeben werden kann. Es ist das Ideal eines Gesellschaftszustandes, in dem jeder Einzelne die äußere Möglichkeit hat, zur Bildung zu gelangen. Wenn der Einzelne auch nur durch Selbsttätigkeit zur Bildung gelangen kann, so muß er doch, um selbsttätig zu leben, überhaupt leben. Die äußeren Lebensbedingungen, ohne die er weder ein gebildetes noch ein ungebildetes Leben führen könnte, müssen also erfüllt sein. Das genügt aber noch nicht, um ihm den Zugang zur Bildung zu ermöglichen. Denn dieser bleibt ihm auch dann verschlossen, wenn er seine ganze Kraft braucht, um sich die äußeren Lebensbedingungen zu sichern, oder wenn andere ihn künstlich daran hindern, von der äußeren Freiheit, über die er verfügt, Gebrauch zu machen. Sowohl materielle Not wie künstliche Bevormundung können den Einzelnen daran hindern, durch Selbsttätigkeit zur Bildung zu gelangen, und die Wegräumung dieser Hindernisse ist die Aufgabe, die uns durch das Ideal der Freiheit gestellt wird. § 124.

Die wirtschaftlichen und kulturellen Anforderungen der sozialen Gerechtigkeit. In der Aufgabe, Hindernisse wegzuräumen, die der Selbsttätigkeit des Einzelnen absichtlich in den Weg gestellt worden sind, treffen die Anforderungen der Gerechtigkeitsliebe mit denen der Menschenliebe zusammen. Die eine wie die andere fordert eine positive Wirksamkeit für die in der Gesellschaft

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ungerecht Benachteiligten. Die an und für sich negativen Anforderungen der Gerechtigkeit, die Interessen der andern nicht zu mißachten, gehen - wie bereits die Pflichtenlehre zeigte in positive Anforderungen über, wo die von uns behandelten Personen im Gegensatz zu uns nicht in der Lage sind, ihre Interessen selber zu wahren. Wo der Einzelne durch die Ungunst der Verhältnisse oder durch künstliche Unterdrückung seitens anderer verhindert wird, durch Selbsttätigkeit zu einem wertvollen Leben zu gelangen, da fordert die Gerechtigkeitsliebe, diese Hindernisse seiner Bildung wegzuräumen, sofern er durch sie andern Mitgliedern der Gesellschaft gegenüber benachteiligt ist, und ihm die gleiche Gelegenheit zur Selbsttätigkeit zu geben, über die jene verfügen, mag er dann von dieser Freiheit Gebrauch machen oder nicht. Er kann jedenfalls keinen Gebrauch von ihr machen, solange sie ihm vorenthalten wird. § 125.

Das Recht der Kultur. Wir haben die Ideale der Freiheit und der Gleichheit neben einander eingeführt. Es wäre nun eine durch nichts zu rechtfertigende Voraussetzung, daß in der Durchführbarkeit dieser beiden Ideale eine prästabilierte Harmonie herrschen müßte. Vielmehr ergibt sich die Frage, welches von ihnen im Konfliktsfall bevorzugt werden sollte. Damit kommen wir auf die umstrittene Frage nach dem Vorrang zwischen dem Ideal der Kultur und dem des Rechts. Recht verstanden sind die Anforderungen der Kultur gar nicht unabhängig von denen des Rechts, sondern das Ideal der Gerechtigkeit ist ein notwendiges Element des Ideals der Kultur. Wenn nämlich die Ideale der Kultur die öffentlichen Zwecke überhaupt umfassen, so gehört zu ihnen unmittelbar das Ideal des Rechts; denn dieses ist der Gegenstand der Gerechtigkeitsliebe. Im Grunde wird aber durch diese Betrachtung die Frage nur verschoben auf die andere, was geschehen soll, wenn ein

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Ideal der Kultur, nämlich das des Rechts, mit den übrigen Idealen der Kultur in Widerstreit gerät. Hier liegt es nahe, den Vorrang des Ideals des Rechts dadurch zu begründen, daß Gerechtigkeit als Inhalt des Sittengesetzes unmittelbar Pflicht ist, und daß gemäß dem Rigorismus der Pflicht hier jeder andere Zweck dem der Realisierung des Rechts hintanzusetzen sei. Wer so argumentiert, verkennt, daß wir es an dieser Stelle mit Idealen zu tun haben und also auch mit dem Recht nur insofern, als es selber nicht eine Pflicht, sondern ein Ideal darstellt, nämlich das Ideal der Realisierung des rechtlichen Zustandes in der Gesellschaft. Wir haben hier also nicht ein Ideal mit einer Pflicht zu vergleichen, sondern ein Ideal mit einem andeTn Ideal. Um zwischen ihnen zu entscheiden, müssen wir auf den Ursprung der Ideale des öffentlichen Lebens zurück.gehen. Wir haben sie abgeleitet als Ideale der Gemeinschaft und also aus dem objektiv ästhetischen Wert der Gemeinschaft. Wie verhält sich nun der Wert, den das Ideal des Rechtszustandes der Gemeinschaft erteilt, zu den übrigen Idealen der Gemeinschaft? Der Rechtszustand ist dadurch definiert, daß in der Gemeinschaft die Anforderungen des Sittengesetzes erfüllt sind. Er erteilt daher der Gemeinschaft noch keinen positiven Wert, sondern ist die notwendige negative Bedingung des Werts einer Gemeinschaft überhaupt. Der positive Wert einer Gemeinschaft wird erst bestimmt durch die Ideale der Kultur. Aber jeder positive Wert, den die Gemeinschaft sonst haben könnte, würde durch eine Verletzung des Rechts gänzlich vernichtet, und das Recht hat daher im Kollisionsfall den Vorrang. Es gibt keinen noch so hohen Wert, der im öffentlichen Leben eine Verletzung des Rechtszustandes rechtfertigen könnte. Wenn eine Gemeinschaft eine Kulturgemeinschaft sein soll, dann muß in ihr das Recht als unverletzlich, als heilig gelten, nach den W orten Kants: ,, Wenn die Gerechtigkeit untergeht, hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben." Die Anwendung dieses Satzes scheint nun freilich auf Schwie-

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rigkeiten zu führen; denn das Rechtsgesetz ist kein materiales, sondern nur ein formales Prinzip; seine Anwendung ist infolgedessen nicht möglich ohne Rücksichtnahme auf die Anforderung der Kultur. Bei der Abwägung der Interessen, wie sie zu einer rechtlichen Entscheidung erforderlich ist, kommt es nämlich nicht allein auf das Verhältnis der Stärke der einzelnen Interessen an, sondern auf ihre objektive Vorzugswürdigkeit, und diese bestimmt sich nach dem positiven Ideal der Kultur. Hier scheint also doch die Vorzugswürdigkeit einer kulturellen Anforderung erwiesen zu sein. Daran ist so viel richtig, daß der Rechtliebende ein sicheres Urteil über den positiven Wert der Kultur besitzen muß. Aber damit ist nicht gesagt, daß in jedem Fall die rechtliche Entscheidung notwendig auf die Seite der höheren Kultur fallen müßte. Das Maximum der Kultur ist an und für sich nicht das Kriterium des Rechts im öffentlichen Leben. Es läßt sich a priori nicht ausschließen, daß die Stärke eines sinnlichen Interesses in der Abwägung das Ubergewicht erhält gegenüber einer positiven Anforderung der Kultur. Aber gesetzt selbst den Fall, daß ein Kulturideal sich als vorzugswürdig erweist, so ist es doch das Ideal des Rechts und nicht dieses positive Ideal der Kultur, das den Kampf der widerstreitenden Interessen zu Gunsten des vorzugswürdigen Ideals entscheidet. § 126.

Die Organisation des öffentlichen Lebens. Die Ideale des öffentlichen Lebens stellen Anforderungen an eine Gemeinschaft vernünftiger Wesen in der Natur. Nach Naturgesetzen bleibt es aber zufällig, ob die Zwecke, die durch diese Ideale als öffentliche Zwecke ausgezeichnet sind, sich im Kampf mit den widerstreitenden Interessen durchsetzen. Für denjenigen, der die Herrschaft öffentlicher Zwecke anstrebt, bleibt daher die Frage bestehen, durch welche Mittel er in der Natur die überwiegende Kraft auf die Seite dieser Zwecke ziehen kann. Wir haben uns hier mit dieser Frage so weit zu befassen,

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wie sie eine philosophische Antwort zuläßt. Da können wir zunächst wieder, noch ehe wir auf den Inhalt der Ideale des öffentlichen Lebens eingehen, bereits aus dem Begriff eines solchen eine weittragende Folgerung ableiten. Welche Zwecke es nämlich auch sein mögen, die die Vernunft dem öffentlichen Leben vorzeichnet, so folgt doch schon aus dem bloßen Begriff solcher Zwecke die Anforderung einer Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, die die Möglichkeit der Erfüllung dieser Zwecke bietet, ja die darüber hinaus - soviel wenigstens von ihr abhängt auch mit Notwendigkeit zur Erfüllung dieser Zwecke führt. Das öffentliche Leben entsteht durch die Gemeinschaft vernünftiger Wesen als solcher. Welche Zwecke aber auch als vernünftig gelten mögen, so ist doch die notwendige Bedingung ihrer Verwirklichung die Möglichkeit des zweckmäßigen Verhaltens überhaupt. Die Möglichkeit, zweckmäßig zu handeln, beruht aber ihrerseits auf der Vorausbestimmbarkeit des Erfolgs des Handelns. Die Zweckmäßigkeit des Handelns wird also nur durch die Ausschließung der Unbestimmtheit seines Erfolgs gesichert. Die erste Anforderung an das öffentliche Leben ist daher die Einführung solcher Formen der Gesellschaft, d. h. des Verkehrs der Menschen untereinander, daß dadurch der Erfolg des Handelns des einen und andern in ihrem wechselseitigen Verhalten dem Zufall entzogen wird. Ein vernünftiger Verkehr muß zu allererst ein f r i e d 1 i c h er Verkehr sein. Diese Anforderung entspringt nicht erst dem Ideal des Rechts, sondern, schon unabhängig von diesem, dem bloßen Begriff eines Ideals des öffentlichen Lebens. Wo nämlich die Gewalt das Wechselverhältnis vernünftiger Wesen regelt, da ist es dem Zufall überlassen, ob die Regelung ihres Verkehrs gemäß dem Ideal der Gemeinschaft erfolgt, wodurch dessen Inhalt auch immer bestimmt sein mag. Es muß also an die Stelle des bloßen Gewaltverhältnisses ein friedlicher Verkehr treten. Die Sicherheit der Formen des friedlichen Verkehrs besteht aber nur vermöge der Organ i s a t i o n der Gesellschaft. Organisation ist eine solche Gestaltung einer Gesellschaft, daß die Erfüllung des Zwecks dieser Gesellschaft dem Zufall

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entzogen wird. Sie beruht also auf äußeren Einrichtungen, die die Bestimmung und Erreichung des Zwecks der Gesellschaft von der bloßen Einsicht und dem Belieben der Einzelnen unabhängig machen. Die Organisation der Gesellschaft verlangt daher einmal die Feststellung derjenigen Formen des Verkehrs, die der Zweck der Gemeinschaft erfordert, und andererseits Sicherung dieser Formen, um ihre Innehaltung dem individuellen Belieben der Glieder der Gesellschaft zu entziehen. Daher die beiden Anforderungen an das öffentliche Leben: einerseits gesetzliche Ordnung des Verkehrs und andererseits Sicherung dieser Formen durch eine der Willkür der Einzelnen überlegene Macht. Eine Organisation der Gesellschaft ist nun in dreifacher Hinsicht möglich und erforderlich. Es kann nämlich im Verkehr der eine vom andern auf dreierlei Weise abhängig und dadurch seiner Willkür unterworfen werden. Eine solche Abhängigkeit kann einmal geradezu auf physischem Zwang beruhen. Andererseits kann sie darauf beruhen, daß der eine hinsichtlich der Mittel zur Befriedigung seiner Interessen von der Willkür des andern abhängig ist, d. h. seine Interessen nur so weit befriedigen kann, wie der andere, der über die Mittel zu ihrer Befriedigung verfügt, es zuläßt. Und hier wiederum ist zu unterscheiden, ob es sich um die Befriedigung subjektiver oder objektiver Interessen handelt, d. h. um solche, die sich auf den Lebensgenuß, oder um solche, die sich auf den Wert des Lebens beziehen. Die Organisation der Gesellschaft kann daher einmal die Regelung des physischen Abhängigkeitsverhältnisses der einen von den andern betreffen; dies ist die p o 1 i t i s c h e Organ i s a t i o n im engeren Sinn des Wortes. Sie kann zweitens die Abhängigkeit der einen von den andern hinsichtlich der Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse regeln; dieses ist die wir t s c h a f tl i c h e O r g an i s a t i o n der Gesellschaft. Endlich kann sie das Verhältnis der geistigen Abhängigkeit der einen von den andern in der Gesellschaft regeln; dies ist die k u 1t u r e 11 e O r g an i s a t i o n der Gesellschaft. Die erste Art der

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Organisation betrifft unmittelbar den äußeren physischen Verkehr, die zweite das, was man im engeren Sinn den Güterverkehr nennen kann, die dritte den Gedankenverkehr. § 127.

Despotische Organisationen. Eine weitere Frage erst ist es, im Dienst welcher Zwecke die eine oder andere Organisation der Gesellschaft stattfindet. Was diese Frage betrifft, so kann die Organisation der Gesellschaft entweder im Dienst von Privatzwecken oder im Dienst von öffentlichen Zwecken stehen. Eine Organisation der Gesellschaft im Dienst von Privatzwecken heißt despotisch. Demgemäß lassen sich drei Formen des Despotismus denken: erstens politischer Despotismus, zweitens wirtschaftlicher Despotismus und drittens geistlicher Despotismus. Wir wollen diese der Reihe nach ins Auge fassen. Despotismus überhaupt entsteht dadurch, daß in der Gesellschaft nicht das Ideal des öffentlichen Lebens gilt, sondern die subjektive Willkür herrscht, sei dies die Willkür eines einzigen oder mehrerer oder noch so vieler in der Gesellschaft. Die Willkür aber wird bestimmt durch die bloße Stärke des Privatinteresses. Despotismus ist nun in dreifacher Form möglich, gemäß den drei Arten der Organisation einer Gesellschaft überhaupt. Die Willkür kann nämlich erstens herrschen auf Grund eines unmittelbaren Gewaltverhältnisses vermöge der Unterwerfung der Gesellschaft unter die Gewalt des Despoten. Dies nenne ich den p o 1 i t i s c h e n D e s p o t i s m u s. Für diesen Begriff des politischen Despotismus kommt es nicht darauf an, ob die Gewalt geradezu angewandt oder nur angedroht wird. Ob die Einzelnen der Anwendung der Gewalt freiwillig zuvorkommen, macht hierfür keinen Unterschied; denn auch die angedrohte Gewalt ist nur insofern wirksam, als sie gegebenenfalls wirklich angewandt wird. Der Despotismus ist daher sehr wohl auch in einer der Form nach friedlich organisierten Gesellschaft mög-

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lieh, wenn er sich nämlich in der Form von Gesetzen geltend macht, in denen der Despot seinen Willen niederlegt und deren Befolgung er durch Androhung von Gewalt erzwingt. Man nennt die Gewalt, sofern sie im Dienst der Organisation der Gesellschaft steht, Polizeigewalt und, sofern sie nicht nur im Innern der Gesellschaft, sondern auch nach außen hin gebraucht wird, Militärgewalt. Der politische Despotismus herrscht also durch Militärgewalt, und wir können diese Form des Despotismus als militärischen Despotismus oder Militarismus bezeichnen. Der Despotismus kann zweitens erscheinen in der Form einer wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft. Der w i r t s c h a f t 1 i c h e D e s p o t i s m u s beruht darauf, daß die einen über die andern herrschen auf Grund eines Monopols. Ein Monopolverhältnis liegt vor, wenn einzelne in der Gesellschaft die alleinige Verfügung über eine bestimmte Art von Gütern haben, so daß sie andere, die auf den Gebrauch jener Güter angewiesen sind, von diesem Genuß oder Gebrauch willkürlich ausschließen können. Diese andern werden also von der Willkür der Monopolinhaber abhängig, indem diese ihnen die Bedingungen vorschreiben können, unter denen allein sie zum Genuß oder Gebrauch dieser Güter und also zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu gelangen vermögen. Man kann daher diese Form des Despotismus monopolistischen Despotismus nennen oder Monopolismus. Sofern das Monopol insbesondere im ausschließlichen Besitz der Produktionsmittel besteht, kann man ihn Kapitalismus nennen; denn Kapitalismus ist die Form einer Gesellschaft, in der eine bestimmte Klasse im ausschließlichen Besitz der Produktionsmittel ist, d. h. der Mittel zur Beschaffung der für die Befriedigung der Bedürfnisse erforderlichen Güter. Wo daher diese der Befriedigung der Bedürfnisse dienenden Güter nicht unmittelbar zur Verfügung stehen, sondern nur durch Arbeit erworben werden können, da sind die Einzelnen auf den Gebrauch der Produktionsmittel angewiesen, um zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu gelangen, und so geraten sie in Abhängigkeit von den Kapitalisten, die ihnen nach willkürlichem Ermessen die Bedingungen diktieren, auf deren Annahme sie zur

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Fristung ihrer Existenz angewiesen sind. Die Ausnützung der absichtlich herbeigeführten oder aufrecht erhaltenen Notlage eines andern zur Erreichung eines privaten Vorteils nennt man Erpressung. Der wirtschaftliche Despotismus herrscht also durch Erpressung, so wie der politische durch unmittelbare Gewalt. Der Despotismus in der Organisation des Gedankenverkehrs endlich ist der geistliche Despotismus. Es gibt nämlich nicht nur ein Monopol, wodurch die einen die andern in wirtschaftlicher Abhängigkeit halten, sondern auch ein Monopol an geistigen Gütern, das sich darin äußert, daß die einen sich des - sei es wirklichen oder vermeintlichen - ausschließlichen Besitzes der Mittel zur Erlangung des Seelenheils bedienen, um den anderen die Bedingungen vorzuschreiben, die diese zur Erlangung ihres Seelenheils annehmen müssen, eben darum, weil sie, um dieses Ziel zu erreichen, von einem fremden Willen abhängig sind oder doch vermeinen, es zu sein. Das geistliche Monopol besteht also in dem ausschließlichen Besitz der Schlüssel, die den Zugang zum Seelenheil eröffnen, oder in der Kunst, andere zu überreden, man befinde sich in diesem Besitz. Und der geistliche Despotismus beruht auf einer Organisation des Gedankenverkehrs der Art, daß die einen von den andern in Abhängigkeit gehalten werden hinsichtlich der Erkenntnis der Mittel zur Erwerbung des Seelenheils: Auf Grund der wenigstens vorgeblich a"9sschließlichen Verwaltung dieses Seelenheils durch die Bevorzugten werden die andern der Willkür ihrer geistlichen Vormünder unterworfen. Eine solche Organisation zum Behuf der Regelung der Abhängigkeit der einen von den andern hinsichtlich der Erkenntnis der Mittel zur Erwerbung des Seelenheils ist eine Kirche, und den darau~ fußenden Despotismus nennt man Klerikalismus. Wie der Kapitalismus auf einer Form der Erpressung beruht, so beruht auch der Klerikalismus auf einer Form der Erpressung, indem hier die geistige Not der einen von den andern ausgebeutet wird, um sich der Herrschaft über ihre Gewissen zu versichern. Auf Grund des Begriffs des Despotismus ist klar, daß der Despot nach der Alleinherrschaft streben muß. Denn solange er

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einen Rivalen hat, ist, entsprechend der Macht, über die dieser verfügt, seine eigene Herrschaft stets bedroht; die Sicherheit der eigenen Herrschaft kann nur durch die Ausschließung einer ihr nebengeordneten Herrschaft gewährleistet werden. Die Folge davon ist, daß die Teilung der Herrschaft unter die dreierlei Despoten stets nur auf einem Waffenstillstand zwischen ihnen beruhen kann, nicht aber ein Dauerzustand ist, mit dem sich der eine oder der andere zufrieden geben könnte, weil er darin seinen Zweck verwirklicht fände. Die Natur des Despotismus bringt es vielmehr mit sich, daß ein gesellschaftlicher Zustand, der überhaupt in irgend einer Hinsicht despotisch ist, dahin führt, daß die verschiedenen Formen der despotischen Organisation in einer und derselben Hand vereinigt werden. Denn solange dies nicht geschehen ist, ist die Herrschaft des einen stets von der Gefahr bedroht, durch die Machtmittel, über die der andere verfügt, in ihrem Plan durchkreuzt zu werden. Aus demselben Grunde, aus dem der Despot in seinem Herrschaftsbereich auf die Dauer keine Despoten anderer Art neben sich dulden kann, muß er aber auch danach streben, seinen Herrschaftsbereich nach außen hin immer mehr zu erweitern. Denn solange außerhalb seiner Machtsphäre andere despotisch verwaltete Gemeinschaften bestehen, ist er gegen die Möglichkeit eines fremden Eingriffs in seine eigene Machtsphäre nicht gesichert. Daher hat jede despotisch verwaltete Gemeinschaft die Tendenz, andere, neben ihr noch bestehende Gemeinschaften in sich aufzusaugen. Dieses Streben nach derWeltherrschaft ist das, was man Im per i a 1 i s m u s nennen kann. Jeder Despotismus ist daher seiner Natur nach zugleich Imperialismus, und solange überhaupt despotische Organisationen bestehen, ist jeder Zustand der menschlichen Gesellschaft, in dem es nicht eine einzige, die ganze Gesellschaft umfassende despotische Organisation gibt, nur ein provisorischer insofern, als das Ziel des Imperialismus in ihm noch nicht verwirklicht ist.

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§ 128.

Mißverstandene Gesellschaftsideale. Dem Despotismus ist eine Gestaltung des Gemeinschaftslebens entgegengesetzt, die von öffentlichen Zwecken geleitet wird. Ausschließung des Despotismus ist nur eine negative Anforderung des Ideals des öffentlichen Lebens, und es fragt sich erst, welche Zwecke denn an die Stelle der Privatzwecke des Despoten treten sollen. Die Antwort auf diese Frage liegt in der Lehre von den Idealen der Kultur. Kultur ist, unmittelbar dem Ideal der persönlichen Selbstbestimmung gemäß, nur durch freie Selbsttätigkeit der Einzelnen möglich. Allein sie bedarf der äußeren Formen des gesellschaftlichen Lebens, wenn die zu solcher Selbsttätigkeit erforderliche Freiheit den Einzelnen gesichert werden soll. Die Möglichkeit eines öffentlichen Lebens hängt daher einerseits ab von der Erfindung und Ausbildung einer Kunst d e r ö f f e n t 1 i c h e n E r z i e h u n g , um die Einzelnen zur Teilnahme an der Kultur, d.h. zu freier Selbsttätigkeit zu bilden, und andererseits von der Erfindung und Ausbildung einer Kunst d e r ö ff e n tl i c h e n R e g i er u n g , wodurch die äußeren, dem Ideal des öffentlichen Lebens dienenden Formen bestimmt und gesichert werden. Verkennt man diese idealen Zwecke als die des öffentlichen Lebens, so entsteht eine Verfälschung der Ideale des öffentlichen Lebens. Gemäß den verschiedenen Arten, wie eine solche Verfälschung möglich ist, ergeben sich verschiedene m i ß ver s t an d e n e G e s e 11 s c h a f t s i de a 1 e. Wo diese mißverstandenen Gesellschaftsideale herrschen, da wird auch ohne alle selbstsüchtige Absicht derer, die die Organisation der Gesellschaft in Händen haben, das Ideal des öffentlichen Lebens verfehlt. Die mißverstandenen Gesellschaftsideale entstehen alle dadurch, daß man die Vernunft der Menschen, als das Vermögen, sich selber die wahren Zwecke für die Gestaltung ihres Lebens zu setzen, verkennt, ein Fehler, der um so näher liegt, als die rein vernünftige Erkenntnis ursprünglich dunkel ist.

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vVo man infolge dieses Fehlers das vernünftige Prinzip der Selbstbestimmung nicht anerkennt, ist man genötigt, entweder subjektive Privatzwecke an die Stelle der wahren, öffentlichen Zwecke zu setzen, oder aber die öffentlichen Zwecke dadurch von bloßen Privatzwecken unabhängig zu machen, daß man sie als Zwecke eines den Einzelnen übergeordneten Wesens darstellt, dessen Wille dann für die Einzelnen zum Gesetz wird. Betrachten wir den ersten Fall! Hier bleiben als angeblich öffentliche Zwecke nur die subjektiven Zwecke der Wohlfahrt übrig, und man gelangt zu dem sogenannten Ideal des öffentlichen Wohles, einem falschen Ideal der Menschheitsbeglückung. Dieser Begriff des öffentlichen Wohles, d. h. der Befriedigung der subjektiven Interessen der Menschen, als eines öffentlichen Zweckes, enthält unmittelbar einen Widerspruch. Denn Wohlfahrt kann als Befriedigung subjektiver Interessen und also bloßer Privatzwecke keinen öffentlichen Zweck darstellen. Man könnte die aus dieser Verwechslung subjektiver Zwecke mit öffentlichen Zwecken entspringende Lehre den E m pi r i s m u s d e s ö f f e n tl i c h e n L e b e n s nennen. Den Fehler dieser Lehre kann man nur vermeiden durch die Feststellung objektiver Zwecke, d. h. solcher, die nicht durch bloße Privatinteressen der Einzelnen bestimmt sind. Verkennt man aber die praktische Vernunft der Menschen als das Vermögen eine:, objektiven Interesses am Wert ihres Lebens, so kann die Objektivität der gesuchten Zwecke, und also ihre Unabhängigkeit vom subjektiven Belieben der Einzelnen, nur behauptet werden durch die Fiktion objektiver Zwecke in dem Sinn, daß diese überhaupt nicht durch die Interessen der Einzelnen bestimmt sind, sondern unabhängig von solchen als der Zweck eines höheren Wesens. Diese Lehre, die auf der Fiktion der so definierten objektiven Zwecke beruht, nenne ich den Mys t i z i s m u s d e s ö ff e n tl i c h e n L e b e n s. Dieser Mystizismus kann seinerseits in zweierlei Form auftreten, je nachdem nämlich, ob man die Gesellschaft oder den Weltschöpfer selber als das höhere Wesen annimmt, dessen Zwecke die Ziele des öffentlichen Lebens bestimmen sollen.

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Dem Mystizismus der einen Art - man könnte ihn den soziologischen nennen - gilt die Gesellschaft selber als eine überindividuelle Wesenheit, als ein Organismus im eigentlichen Sinn des Wortes, d. h. als ein sein eigenes Leben führendes Wesen, dessen Zwecke die Ziele bezeichnen, nach denen die Organisation der Gesellschaft erfolgen soll. So erhält man ein Ideal der Selbstbehauptung und Machterweiterung der Gesellschaft. Der St a a t - denn das ist die Machtorganisation der Gesellschaft - wird hier zum Selbstzweck.. Der Mystizismus der anderen Art - man könnte ihn den theologischen nennen - bestimmt die objektiven Zwecke als solche des Weltschöpfers. Dieser Weg führt auf die Idee der göttlichen Erziehung des Menschengeschlechts oder der Selbstoffenbarung Gottes in der Geschichte. Nach der Konsequenz dieser Lehre bestimmt nicht, wie dort, der Staat, sondern die Kirche die Zwecke des öffentlichen Lebens. Denn nur vermittels einer geistlichen Organisation der Gesellschaft - und das ist die Kirche - kann der Gesellschaft der göttliche Wille übermittelt werden und in ihr zur Herrschaft gelangen. Die Ausführung dieser Idee erfordert einen eigenen Priesterstand als Verkünder und Vollstreck.er der Zwecke der Weltregierung. Das Ideal des gesellschaftlichen Lebens, zu dem wir so gelangen, ist das Ideal der Hierarchie, d. h. einer despotischen Verfassung der Gesellschaft unter der Herrschaft des göttlichen Willens. Nun ist aber klar, daß diese beiden Formen des Mystizismus an und für sich gar keinen eigenen Inhalt von Zwecken für das Gesellschaftsleben bezeichnen. Denn wir müßten zuerst wissen, welches die Zwecke des gesellschaftlichen Organismus oder die Zwecke Gottes sind, um ihnen gemäß das gesellschaftliche Leben gestalten zu können. Für die Bestimmung des Inhalts dieser Zwecke ist der Mystizismus also darauf angewiesen, eine Anleihe bei andern Prinzipien zu machen. Aber angenommen auch, es gelänge wirklich, bestimmte Zwecke der Gesellschaft oder Gottes als solche zu erkennen, so würde daraus für die Bestimmung des Ideals des öffentlichen Lebens doch nichts

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gewonnen sein. Denn es wäre erst die Frage, warum die Zwecke eines noch so mächtigen Wesens, sei dieses die Gesellschaft oder die Gottheit selber, bestimmend sein sollten für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens durch die Menschen, und was also dem Zweck dieser höheren Wesen den Anspruch verleiht, zum Zweck der Menschen zu werden. Privatzwecke können ihrem Begriff zufolge nicht die Zwecke des öffentlichen Lebens sein, mögen sie auch die Privatzwecke eines noch so mächtigen, ja des allmächtigen Wesens sein. Für den Mystizismus bliebe freilich kein anderes Kennzeichen der hier maßgebenden Zwecke übrig als die Macht des Wesens, das sich diese Zwecke setzt. Soll nämlich die Eigenschaft eines Wesens, durch seine Zwecke für uns Ziele zu bestimmen, nicht wieder nur an der objektiven Vorzugswürdigkeit dieser Zwecke erkannt werden, wodurch wir auf einen Zirkel kämen (weil dazu schon eine anderweitige Bestimmung dessen vorausgesetzt wäre, was als objektiv vorzugswürdiger Zweck zu gelten hat), so bliebe nur die faktische Uberlegenheit der Macht jenes Wesens als Grund der Auszeichnung der fraglichen Zwecke übrig. Eine solche Lehre, wonach der Wille einer höheren Macht und also eine Autorität den Inhalt des Ideals des öffentlichen Lebens bestimmt, läßt sich aber konsequent nur in der Form des theologischen Mystizismus durchführen. Denn wenn die Macht das Kennzeichen der Verbindlichkeit irgend welcher Zwecke für uns darstellt, so können sich alle Ideale des gesellschaftlichen Lebens letzten Endes nur herleiten aus dem Zweck des mächtigsten Wesens, und also Gottes. § 129.

Der Anarchismus des öffentlichen Lebens. Diese beiden Lehren, der Empirismus sowohl als auch der Mystizismus des öffentlichen Lebens, gründen ihr Ideal auf ein heteronomes Prinzip, d. h. auf ein solches, das der menschlichen Vernunft übergeordnet wird und von ihr Unterwerfung beansprucht. Die Ablehnung jedes heteronomen Prinzips zur Bestimmung des Ideals des öffentlichen Lebens führt uns auf das

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Prinzip der Autonomie. Autonomie aber, als bloße Verwerfung eines heteronom bestimmten Ideals verstanden, würde uns auf das Ideal der An a r chi e führen, wonach kein bestimmter öffentlicher Zweck übrig bleibt, der die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens leiten könnte und dem sich die Privatinteressen der Einzelnen unterzuordnen hätten. Unbeschränktes Walten der Privatinteressen würde hiernach das Leben der Gesellschaft gestalten. Als ein Ideal des öffentlichen Lebens gedacht, widerspricht sich aber das Prinzip der Anarchie ebenso, wie dies die anderen, heteronomen Prinzipien tun. Denn selbst wenn die Privatinteressen der Einzelnen in der Gesellschaft übereinstimmen sollten, so würde uns dies doch nicht auf einen öffentlichen Zweck für die Gestaltung der Gesellschaft führen; denn im Begriff eines solchen liegt Unabhängigkeit von der zufälligen Ubereinstimmung der faktischen Interessen der einzelnen Mitglieder der Gesellschaft. Da der Anarchismus des öffentlichen Lebens aus der Opposition gegen die despotische Ausartung der gesellschaftlichen Organisation hervorgeht, so kann er, je nachdem gegen welche der drei möglichen Formen des Despotismus er seine Spitze kehrt, seinerseits in drei verschiedenen Formen auftreten. Der p o 1 i t i s c h e An a r chi s m u s bekämpft jede politische Organisation der Gesellschaft. Er verwirft also die Einrichtung des Staates überhaupt. Der Staat ist nämlich nur durch eine Regierung möglich, d. h. durch eine den Einzelnen in der Gesellschaft überlegene Macht, die sich das Privatinteresse der Einzelnen unterwirft. Nun muß allerdings jede Regierung in Händen einzelner Personen liegen, und sie wird daher, wenn diese die Regierungsgewalt in den Dienst ihres Privatinteresses stellen, notwendig despotisch sein. Die Regierungsgewalt braucht aber nicht im Dienst des Privatinteresses der Regierenden zu stehen, sondern kann von diesen auch im Dienst öffentlicher Zwecke gehandhabt werden. In der Natur herrscht notwendig die stärkere Gewalt über die sdJ.wächere. Dieses Naturgesetz läßt sich bei keiner Gesellschaftsordnung umgehen.

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Es wird sich daher auch in der Anarchie geltend machen. Wenn es aber unmöglich ist, die Herrschaft der Gewalt überhaupt auszuschließen, so bleibt uns nur die Wahl, ob wir den rechtlosen Zufall walten lassen oder aber die Macht in den Dienst des öffentlichen Rechtsgesetzes ziehen wollen. Soll daher in der Natur nicht die zufällig stärkere Gewalt, sondern das Recht herrschen, so kann dies gerade nur durch den Staat gelingen. Die Ausschließung des politischen Despotismus ist also nicht durch die Anarchie möglich, sondern allein durch den Rechtsstaat. Der w i r t s c h a f tl i c h e An a r c h i s m u s besteht in der Ablehnung einer Organisation des Wirtschaftslebens. Er ist das Prinzip der unbedingten Handelsfreiheit und gründet sich auf das Dogma von der notwendigen Harmonie der Interessen. Bei der Entfesselung des freien Spiels der Kräfte wird aber in Wahrheit der wirtschaftlich Schwächere der Ausbeutung seitens des Stärkeren schutzlos preisgegeben. Und so haben wir auch hier nur die Wahl zwischen dem rechtlosen Zufall und einer der Ausbeutung wehrenden Organisation der Gesellschaft. Die Ausschließung des wirtschaftlichen Despotismus kann daher nicht durch die wirtschaftliche Anarchie gesichert werden, sondern allein durch den Sozialismus. Der k i r c h 1 i c h e An a r chi s m u s verwirft jeden staatlichen Eingriff in das religiöse Leben. Er ist das Prinzip der unbedingten Toleranz und gründet sich auf das Dogma, daß es genügt, den Kampf der Religionsgesellschaften auf den Gebrauch geistiger Waffen zu beschränken, um auch die geistliche Knechtung der Menschen unmöglich zu machen und dem Einzelnen die Freiheit der Selbstbestimmung zu sichern. Da es aber zur Aufrichtung der geistlichen Herrschaft keiner gewaltsamen Unterdrückung bedarf, sondern das Erwachen der Menschen zu geistiger Selbsttätigkeit sogar weit sicherer durch das sanfte Mittel der Verführung vereitelt wird, so wird durch das Prinzip der Toleranz in Wahrheit dem geistlichen Terrorismus Tür und Tor geöffnet und die Freiheit des Gewissens um so sicherer der Herrschsucht der Priester ausgeliefert. Die Ausschließung des

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geistlichen Despotismus kann uns daher nicht durch das anarchische Prinzip einer sogenannten Gedankenfreiheit zuteil werden, sondern allein durch die Organisation der Vernunft.

§ 130.

Möglichkeit einer nicht despotischen Organisation. Es ist der gemeinsame Ausgangspunkt der verschiedenen Formen des Anarchismus, daß man, um nicht den Willen der Einzelnen einer fremden Willkür auszuliefern, es für nötig hält, eine Organisation der Gesellschaft überhaupt zu verwerfen. Es hängt daher hier alles von der Frage ab, ob und wie überhaupt eine Organisation der Gesellschaft möglich ist, die nicht auf Despotismus hinausläuft. In der Tat: Jede Organisation der Gesellschaft unterwirft den Willen der Einzelnen einem höheren Zweck. Unterwerfung des Willens der Einzelnen unter einem fremden Zweck ist aber Despotismus. Wie ist also eine nicht-despotische Organisation der Gesellschaft möglich? Dieses Problem muß freilich unauflöslich scheinen, d. h. der Begriff einer nicht-despotischen Organisation der Gesellschaft muß als ein innerer Widerspruch gelten, solange man keine anderen Zwecke anerkennt als solche, die durch die faktischen Interessen der Einzelnen bestimmt werden. Und dieser Fehler ist seinerseits so lange unvermeidlich, wie man die Vernunft infolge ihrer ursprünglichen Dunkelheit verkennt und mit dem an und für sich leeren, willkürlich reflektierenden Verstande verwechselt. In diesem Fall bleibt nichts übrig, als entweder bei den bloßen Privatzwecken der Einzelnen stehen zu bleiben oder zu der mystischen Annahme objektiver Zwecke zu greifen, objektiver Zwecke in dem Sinn, daß sie überhaupt nicht durch ein Interesse der Einzelnen, sondern durch den Willen eines diesen übergeordneten Wesens bestimmt sind. Der ursprünglichen Dunkelheit der praktischen

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Vernunft zufolge sind allerdings die idealen Zwecke, durch die allein die Ziele des öffentlichen Lebens bestimmt werden können, nicht notwendig durch ein faktisches Interesse der Einzelnen vertreten. Denn wie weit der Einzelne selber sich seiner eigenen wahren Zwecke bewußt ist, hängt von dem Grad der Ausbildung seiner Reflexion ab. Durch die Aufweisung solcher Zwecke, die nur je nach dem Maß der Ausbildung der Reflexion der Einzelnen auch zu einem Gegenstand ihres faktischen Interesses werden, eröffnet sich uns der Weg zur Auflösung des Problems, wie eine nicht-despotische Organisation möglich ist. Wenn nämlich die Organisation der Gesellschaft im Dienst der wahren öffentlichen Zwecke steht, so wird freilich durch sie der individuelle Wille des Einzelnen einem höheren Zweck unterworfen, aber darum keineswegs einem fremden Zweck, sondern einem solchen, den er bei hinreichender Ausbildung seiner Reflexion als seinen eigenen anerkennen muß. Eine Organisation der Gesellschaft also, die die Bestimmung und Verwirklichung ihrer Zwecke dem individuellen Belieben entzieht, ist dann nicht despotisch, wenn der Zweck, dem sie dient, kein privater, sondern der allgemeine Zweck aller einzelnen hinreichend Gebildeten in der Gesellschaft ist. Man nennt denjenigen, der die Macht in Händen hat, um die Organisation dem Zweck der Gesellschaft gemäß zu leiten, den Regenten. Die Frage nun, ob die Gesellschaft die Form einer Despotie hat, hängt nicht davon ab, wer in ihr der Regent ist, sondern davon, im Dienst welcher Zwecke die Regierung steht. Wenn es aber an und für sich gleichgültig ist, wer in einer Gesellschaft regiert, so soll es um so weniger zufällig bleiben, ob der Regent sein Privatinteresse den öffentlichen Zwecken unterordnet. Diese Bedingung bleibt aber so lange unerfüllt, wie nicht diejenigen die Regierung in Händen haben, die hinreichend gebildet sind, um die öffentlichen Zwecke als solche zu erkennen und sie, unbekümmert um ihr Privatinteresse, durchzusetzen. Und insofern hängt freilich alles davon ab, wer regiert. Es soll nämlich die Regierung in den Händen der hinreichend Gebildeten liegen.

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Hier wird man fragen: Wer sind die Gebildeten? Und wer entscheidet darüber, ob jemand zum Regieren hinreichend gebildet ist? Auf die erste Frage wird die Antwort gegeben durch die Lehre von den Idealen der Bildung. Ich brauche sie daher hier nicht noch einmal zu entwickeln, und es mag die Erinnerung genügen, daß die Gebildeten jedenfalls nicht die „Gelehrten" sind. Was aber die zweite Frage betrifft, nämlich wer beurteilen soll, ob jemand zum Regieren hinreichend gebildet ist, und wer also berufen ist, den Regenten zu wählen, so ist die einzig verständige Antwort darauf: Diejenigen, die selber hinreichend gebildet sind, die erste Frage entscheiden zu können, und die bereit sind, sich nach dieser Entscheidung zu richten, - also die Gebildeten selber. Andern darüber eine Anweisung zu geben, wäre ebenso töricht wie überflüssig, weil sie sie weder verstehen noch befolgen würden, indem sie selber schon gebildet sein müßten, um sie verstehen und befolgen zu können. Nun entsteht aber das Problem, wie eine nicht-despotische Organisation der Gesellschaft möglich ist, von neuem, wenn wir nämlich den In h a 1t der öffentlichen Zwecke näher ins Auge fassen. Wir haben dieses Problem bisher nur in formaler Hinsicht aufgelöst, d. h. nur insoweit, als es aus dem Begriff einer nicht-despotischen Organisation entsprang. Eine nichtdespotische Organisation ist insofern möglich, als sie im Dienst öffentlicher Zwecke steht. Der Inhalt der öffentlichen Zwecke ist nun bestimmt durch die Ideale der Freiheit und der Gleichheit. Das Ideal der Freiheit bedeutet hier die vernünftige Selbstbestimmung der Einzelnen. Wie kann aber eine Organisation der Gesellschaft der Realisierung eines Ideals dienen, das nur durch die freie Selbsttätigkeit der Einzelnen verwirklicht werden kann? Hier wiederholt sich daher unser Problem. Denn persönliche Selbstbestimmung und Organisation, d. h. Unterwerfung des individuellen Willens, scheinen mit einander in Widerspruch zu stehen. Die Frage verlangt daher noch eine tiefer dringende Antwort. Die Unterwerfung des Willens der Einzelnen unter die öffentlichen Zwecke kann, sofern deren In-

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halt durch das Ideal der Freiheit bestimmt wird, nicht erzwungen werden. Denn freie Selbstbestimmung und äußerer Zwang schließen einander in der Tat aus. Die Auflösung dieser Schwierigkeit ergibt sich aus der Uberlegung, daß Menschen, als vernünftige Wesen, der Ausbildung ihrer Vernunft fähig sind und dadurch zur Selbstbestimmung geführt werden können. Ausbildung der Vernunft der Menschen, um sie zur Selbstbestimmung zu führen, ist Erziehung. Durch Erziehung also ist es zu bewirken, daß das öffentliche Interesse zum wirklichen Interesse aller einzelnen in der Gesellschaft wird. D i e O r g a n i s a t i o n d e s ö f f e n t liehen Lebens kann also nur eine Organisation der Erziehung sein. Jede andere Organisation muß in der Tat den freien Geist, statt ihn zu entwickeln, vielmehr töten, und also in Despotismus ausarten. Zwang als Mittel der Organisation ist, wenn diese nicht despotisch sein soll, nur möglich entweder gegenüber solchen Wesen, die keiner Erziehung fähig sind und die also insofern gar nicht als vernünftige Wesen im eigentlichen Sinn gelten können, oder aber gegenüber solchen, die zwar der Erziehung an sich fähig sind, sich aber, aller Aufklärung ihrer Reflexion ungeachtet, böswillig den öffentlichen Zwecken widersetzen. Zur freien Selbstbestimmung zwar kann niemand gezwungen werden, aber die Ausübung von Unrecht kann durch Zwang verhindert werden. Der Rechts zustand läßt sich erzwingen, und Anwendung von Zwang :z;ur Sicherung des Rechts geschieht im Dienst der öffentlichen Zwecke und nicht im Dienst eines Privatzweckes. Das Problem, wie eine Organisation freier Menschen möglich ist, entspringt zutiefst aus dem Umstand, daß die ursprüngliche Dunkelheit des wahren Interesses der Menschen und also die Evidenzlosigkeit der öffentlichen Zwecke deren Existenz überhaupt ignorieren läßt und so die Meinung begünstigt, die Unterwerfung der Willkür der Einzelnen unter eine Organisation sei nur im Dienst fremder Privatzwecke möglich und könne also auf nichts anderes als Despotismus hinauslaufen, eine Meinung, die unvermeidlich zur Folge hat, daß man, um

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den Despotismus auszuschließen, jede Organisation der Gesellschaft überhaupt verwerfen zu müssen glaubt. In der Tat: Ubersieht man die durch die Vernunft bestimmten öffentlichen Zwecke, so bleibt nichts übrig, als entweder, um der Vermeidung der Anarchie willen, den Despotismus zuzulassen oder aber umgekehrt, um der Vermeidung des Despotismus willen, jede Organisation der Gesellschaft überhaupt abzulehnen. Es wird hier also aus dem an sich richtigen Prinzip der Autonomie auf das falsche Prinzip der Anarchie geschlossen und aus der an sich richtigen Verwerfung der Anarchie oder der Erkenntnis der Notwendigkeit der Organisation der Gesellschaft zur Realisierung des Ideals des öffentlichen Lebens auf die Unvermeidlichkeit des Despotismus. Der Fehler, der auf dieses Dilemma führt, ist auf der einen und der andern Seite derselbe: Man verwechselt den Begriff der Organisation der Gesellschaft mit dem der Unterwerfung der Einzelnen unter fremde Willkür und infolgedessen das Prinzip der Autonomie, d. h. der Unabhängigkeit von fremder Willkür, mit der Anarchie, d. h. der Unabhängigkeit der individuellen Willkür von höheren Zwecken überhaupt. Wir können diesen Fehler vermeiden und die beiden an sich richtigen Voraussetzungen, aus denen hier auf der einen und der andern Seite geschlossen wird, widerspruchslos vereinigen durch Aufweisung des ursprünglich dunkeln wahren Interesses der Einzelnen als des Prinzips der öffentlichen Zwecke, wodurch sich uns die Möglichkeit einer Organisation der Freiheit eröffnet. Die Auflösung des Fehlers können wir uns an folgendem Schema verdeutlichen:

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Materiale Ideallehre. Autonomie = Anarchie, Organisation = Despotismus.

Prinzip der Autonomie.

Prinzip der Organisation.

Anarchismus.

Despotismus.

Organisation der Freiheit.

§ 131.

Die Partei des Rechts. Zwei Feinde hat das öffentliche Leben. Beide müssen überwunden werden, wenn ein öffentliches Leben sich gestalten soll: Mangel an Klarheit über die öffentlichen Zwecke - dessen Quelle Irrtum ist - und Mangel an Bereitschaft, diesen Zwecken zu dienen - dessen Quelle Selbstsucht ist. Die Tilgung des Irrtums, der zur Verkennung der wahren öffentlichen Zwecke führt, kann nur von einer aufgeklärten Philosophie erwartet werden. Den Weg, auf dem allein dieses Werk gelingen kann, habe ich soeben gekennzeichnet. Sind die wahren öffentlichen Zwecke einmal als solche erkannt, so ist damit aber nur die Vorbedingung geschaffen, auf Grund deren erst ihre Verwirklichung möglich wird, und es bleibt noch der andere Feind zu besiegen, die Selbstsucht, als die Wurzel des Despotismus. Wie

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jene Aufgabe durch die fortschreitende Ausbildung der Wissenschaft allmählich gelöst wird, so erfordert die Lösung dieser Aufgabe die Eroberung der Macht, um sie in den Dienst der wahren öffentlichen Zwecke zu ziehen. So werden wir hier auf ein Ideal des Kampfes geführt und auf die Bevorzugung einer tatenfrohen Lebensansicht vor einer nur beschaulichen. Das Ideal der tatenfrohen Lebensansicht ist ein Ideal der Kampfesfreude im Dienst öffentlicher Zwecke. Denn wer zur Klarheit über das Ideal des öffentlichen Lebens gelangt ist, dem erwächst unmittelbar die Aufgabe, für das erkannte Ideal einzutreten. Das Ideal des öffentlichen Lebens ist eine Aufgabe für den Willen der Menschen. Die Gesellschaft als solche hat keinen Willen, durch den sie zu handeln vermöchte und Zwecke verfolgen könnte. Auch die Ideale des gesellschaftlichen Lebens können nur durch das Zutun der Einzelnen verwirklicht werden. Diese Aufgabe kann von ihnen einzig gelöst werden durch den Kampf gegen alle Bestrebungen, die darauf abzielen, die Gesellschaft bloßen Privatzwecken dienstbar zu machen. Das vermeintliche Ideal der allgemeinen Duldsamkeit würde nur auf das falsche Ideal eines allgemeinen Indifferentismus hinauslaufen. Nur wer der Wahrheit und Gerechtigkeit gleichgültig gegenübersteht, kann dem Irrtum und dem Unrecht gegenüber in Toleranz verharren. Das Interesse an der Erhaltung und Ausbreitung der Wahrheit und an der Durchsetzung des Rechts schließt notwendig ein solches an der Verdrängung und Vernichtung des Irrtums und an der Beseitigung des Unrechts ein. Daher müssen wir uns hier vor einer falschen Anwendung des Ideals der Gemeinschaft hüten. Das Ideal der Gemeinschaft kann nicht ohne weiteres durch einen Zusammenschluß aller Menschen verwirklicht werden, noch auch nur durch einen Kreis von Menschen, die sich durch zufällige, äußere Bande von Natur aus vereinigt finden, sondern es ist das Ideal einer Gemeinschaft der Gleichgesinnten, d. h. einer Gemeinschaft, die durch Geistesverwandtschaft begründet wird und nicht durch zufällige physische Verwandt-

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schaft. Geistesgemeinschaft verlangt eine Gemeinschaft idealer Zwecke. Nur eine solche verdient, Kulturgemeinschaft zu heißen. Ohne dies bliebe sie eine bloße physische Gemeinschaft, die als solche keinen ethischen Wert begründet. Das Ideal der Gemeinschaft stellt eine A u f g a b e dar. Es läßt sich nur verwirklichen durch diejenigen, die sich in seinem Dienst vereinigen und den Kampf gegen die dem Ideal feindlich Gesinnten aufnehmen. Eine solche Kampfgemeinschaft, um die nur physische Gemeinschaft zu einer Kulturgemeinschaft zu machen, kann zunächst nur eine Partei in der Gesellschaft sein. Daher kommen wir hier auf das Ideal einer Partei, die sich das Ziel setzt, die in der physischen Gemeinschaft herrschende Macht in den Dienst der Ideale des öffentlichen Lebens zu ziehen. Die physische Gemeinschaft kann zu einer Kulturgemeinschaft werden nur durch den Sieg dieser Partei. Denn die Kultur kann in der Natur nur erscheinen durch den Kampf mit der Unkultur, und das Recht nur durch den Kampf mit dem Unrecht. Welche Tendenzen in einer Gesellschaft den Sieg erlangen, das hängt ab von den in ihr herrschenden Machtverhältnissen. Die Verteilung der Macht in der Gesellschaft allein entscheidet, im Dienst welcher Zwecke sie verwaltet wird. Es ist ein Naturgesetz, daß die stärkste Partei in der Gesellschaft den Ausschlag gibt. Die öffentlichen Zwecke können in der Gesellschaft nur herrschend werden, wenn sie durch hinreichend starke Interessen vertreten werden, wenn also eine hinreichend mächtige Partei sich ihrer annimmt. Das Ideal des öffentlichen Lebens kann daher nur mittelbar verwirklicht werden durch die Wirksamkeit der Gemeinschaft derer, die die Herrschaft der öffentlichen Zwecke in der Gesellschaft erstreben, und also der hinreichend Gebildeten in der Gesellschaft. So erhalten wir denn als die einzig mögliche unmittelbare Anwendung der Lehre von den Idealen des öffentlichen Lebens die Aufgabe für die Gebildeten in der Gesellschaft, zu einer Partei zusammenzutreten, um mit Hilfe einer hinreichend mächtigen Organisation die in

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der physischen Gesellschaft herrschende Macht in den Dienst der öffentlichen Zwecke zu ziehen. Der Idealismus kann sich im öffentlichen Leben nur zeigen in dem Bestreben, auf die reale Machtverteilung in der Gesellschaft Einfluß zu gewinnen und sie so zu verschieben, daß das Ubergewicht der Macht den öffentlichen Zwecken dienstbar wird. Dies ist zugleich die allein richtige Anwendung der Maxime des Realismus im öffentlichen Leben. Keineswegs bedeutet dies, daß die Erringung von Macht an und für sich als Ideal gelten kann, aber der Wille zur Macht ist die unerläßliche Bedingung alles idealen Strebens im öffentlichen Leben. In der Natur entscheidet unvermeidlich die größere Macht, und es kann daher allein die Frage sein, ob man will, daß diese Macht despotisch, d. h. zu selbstsüchtigen Zwecken mißbraucht, oder daß sie in den Dienst öffentlicher Zwecke gestellt werden soll. Wer das eine ausschließen will, der muß sich das andere zur Aufgabe setzen und also selber nach Erringung der größten möglichen Macht in der Gesellschaft streben, um sie denen aus den Händen zu winden, die sie zu selbstsüchtigen Zwecken mißbrauchen. Wo man, von abweichenden Ansichten ausgehend, ein Ideal der Duldsamkeit hochhält, da geschieht dies im allgemeinen gar nicht aus ethischen Motiven, sondern aus bloßer Klugheit, mit Rücksicht auf die Schwäche der eigenen Position. Wer zu schwach ist, einen Kampf mit Aussicht auf Sieg zu wagen, tut freilich klug daran, Toleranz zu predigen; er wird dann wenigstens selber der Gefahr des Unterliegens entgehen. Eine solche Toleranz ist aber kein ethisches Ideal, sondern lediglich eine Maxime der Klugheit für die Schwachen. Diese Schwäche zu einer Tugend zu stempeln, hieße in Wahrheit nur, aus der Not eine Tugend machen. Sie ist eine Scheintugend, womit der Schwache seine Schwäche bemäntelt, um ihr den Schein eines ethischen Vorzugs zu geben. Man darf dieses falsche Ideal der Duldsamkeit auch nicht verwechseln mit dem recht verstandenen Ideal der Friedfertig-

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keit, und das Ideal des Kampfes nicht mit einem falschen kriegerischen Ideal. Wir müssen Toleranz und Friedfertigkeit unterscheiden, wie wir Kampf und Krieg unterscheiden müssen. Ignoriert man diesen Unterschied, so entsteht ein mißverstandener Streit, indem man aus dem Ideal der kampfesfrohen Lebensansicht ein falsches kriegerisches Ideal ableitet, das mit dem recht verstandenen Ideal der Friedfertigkeit im Widerspruch steht, während man durch denselben Fehler veranlaßt wird, aus dem an sich richtigen Ideal der Friedfertigkeit ein falsches Ideal der allgemeinen Toleranz oder Parteilosigkeit herzuleiten. Nur durch die Unterscheidung zwischen Kampf und Krieg, zwischen Friedfertigkeit und Parteilosigkeit können wir das Ideal der Friedfertigkeit mit dem Ideal der kampfesfrohen Lebensansicht in Einklang bringen. Und diese beiden Ideale lassen sich nicht nur widerspruchslos vereinigen, sondern der Friede, als die Ausschließung gewaltsamer Austragung von Konflikten physischer Gemeinschaften, ist sogar die erste Bedingung dafür, daß der Kampf für die Ideale des öffentlichen Lebens auch nur aufgenommen werden kann. Denn die Möglichkeit dieses Kampfes verlangt die Aufhebung des Kriegszustandes, eines Zustandes, der seiner Natur nach den Zusammenschluß aller Kräfte der physischen Gemeinschaft zu einer möglichst wirksamen Aktion nach außen hin erfordert und der daher im Interesse der Wehr kraft des Ganzen keine Zersplitterung durch Parteikämpfe zuläßt. Die Aufhebung dieses Zustandes, des sogenannten Burgfriedens, als einer Bedingung der Möglichkeit der Kriegführung, ist der erste Schritt, um in den Kulturkampf einzutreten, durch den allein ein öffentliches Leben in der Gesellschaft wirklich werden kann. Der erste Kampf also, dessen Austragung das Ideal der kampfesfrohen Lebensansicht uns aufgibt, ist der Kampf um den Frieden, und solange dieser Kampf nicht gewonnen ist, bleibt das öffentliche Leben eine Utopie. Diese Aufgabe, sich als Vorkämpfer für das öffentliche Leben einzusetzen, ist eine Pflicht der Gebildeten. Und zwar dies in mehrfacher Hinsicht.

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Ethik.

Sie erwächst ihnen einmal aus dem Umstand, daß nur, wer kraft besserer Einsicht die Bedingungen der Rechtlichkeit des Gemeinschaftslebens und die wahren öffentlichen Zwecke erkennt, diese auch zu verwirklichen berufen ist. Mit wachsender Einsicht erweitert sich notwendig auch der Umkreis der Pflichten des Menschen. Uber die ihm unmittelbar obliegenden Pflichten hinaus wird er es als Pflicht erkennen, sich nach seinem Vermögen des Rechtes derer anzunehmen, die es nicht selber verfolgen können, sei es, daß man es ihnen aus Unkenntnis der Tatsachen vorenthält oder aus schlechtem Willen oder aus Mangel an Einsicht in das aus dem wahren Interesse der Menschen ihnen erwachsende Recht. In allen diesen Beziehungen ist es an und für sich zufällig, ob das Recht in der Natur gilt oder nicht, indem es von dem Maß der Kenntnis und Einsicht und dem guten Willen der einzelnen Verpflichteten abhängt, wie weit sie das Recht wahren, und es bleibt daher den Gebildeten überlassen, die Geltung des Rechts in der Gesellschaft diesem Zufall zu entziehen. Aber noch in anderer Rücksicht entsteht hier eine solche Verpflichtung für den Gebildeten. Es fragt sich nämlich, wie weit der Vorzug, den die Gebildeten als solche den andern Mitgliedern der Gesellschaft gegenüber genießen, seinerseits eine Folge bloß zufälliger äußerer Verhältnisse ist. Beruht dieser Vorzug nur auf der Gunst ihrer äußeren Lage, die es ihnen ermöglichte, zur Bildung zu gelangen, während andere durch Unglück oder absichtliche Unterdrückug davon ausgeschlossen blieben, so entsteht für die Bevorzugten die Pflicht, diesen Vorzug auszugleichen; denn auch fremde Schuld kann für uns der Grund einer Verpflichtung werden, wenn die von solcher Schuld Betroffenen auf unseren Beistand angewiesen sind. Der Vorzug der Gebildeten betrifft einmal ihre wirtschaftliche Lage, sofern diese ihnen erlaubt, über die Befriedigung der bloßen Notdurft hinaus ihrem Leben einen positiven Wert zu geben, und dann die ihnen in geistiger Hinsicht gebotenen Gelegenheiten, an der Kultur Anteil zu nehmen. Es kann Umstände geben, z.B. in Zeiten einer gesteigerten

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sozialen Gebundenheit, d. h. der Abhängigkeit der Einzelnen von ihrem gesellschaftlichen Milieu, wo die Hindernisse für die Mehrzahl der Mitglieder der Gesellschaft, sich aus eigener Kraft zu einem menschenwürdigen Leben emporzuarbeiten, unüberwindlich werden. Unter solchen sozialen Verhältnissen kann es eines Gebildeten unwürdig werden, sich einem wissenschaftlichen oder künstlerischen - also unter andern Umständen idealen - Beruf zuzuwenden, darum nämlich, weil, was sonst nur eine Anforderung der Gerechtigkeitsliebe wäre, ihm durch die Umstände zur Pflicht gemacht wird, zu einem Gebot, das die Zurücksetzung aller anderen Interessen, mögen sie auch sonst noch so stark oder wertvoll sein, bedingungslos fordert. Unter solchen sozialen Verhältnissen ist der Egoismus derer, die sich die zufällige Gunst ihrer Lage zunutze machen und sich ihren sozialen Pflichten entziehen, um so verächtlicher, mit je höheren Ansprüchen auf die Idealität ihres Berufes sie ihn beschönigen. Man könnte sie die Parasiten des öffentlichen Lebens nennen. Je größer der Uberfluß an eigenen Gütern ist, seien es materielle oder geistige, desto unabweislicher wird die Verpflichtung zum Ausgleich in der Verteilung der Güter, desto größer also auch der Raub, den man an den andern begeht, wenn man sich dieser Verpflichtung entzieht. Und es macht in rechtlicher Hinsicht wenig aus, ob man sich einen solchen Uberfluß durch absichtlichen Raub angeeignet hat oder ob man nur an ihm festhält, wenn man zufällig in seinen Besitz gekommen ist, und ihn denen vorenthält, die ein Anrecht auf ihn haben. Ein Kampf um das Recht ist von seiten der rechtlich Benachteiligten nur möglich unter der Voraussetzung, daß das Interesse, auf dessen Befriedigung sie ein Recht haben, in ihnen lebendig ist. Nur ein wirk 1 ich es Interesse kann Wirksamkeit im sozialen Mechanismus ausüben und die Auslösung der Kräfte verursachen, die seine Befriedigung erzwingen. Nur ein solches kann für die Unterdrückten eine Triebfeder werden, sich zum Kampf für die Durchsetzung ihres Rechts zusammenzuschließen. Sofern eine solche Gemeinschaft nach der Hebung

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Ethik.

ihrer äußeren Lage strebender Menschen um ihr Recht kämpft, wird sie keineswegs von selbstsüchtigen Zwecken geleitet. Denn das Recht ist niemals ein Privatzweck Einzelner in der Gesellschaft, sondern der notwendige Zweck jedes hinreichend Gebildeten. In diesem Kampf ums Recht sind deshalb alle Gebildeten mit den um ihr Recht Kämpfenden solidarisch. Die Gebildeten dürfen bei einem solchen Kampf unterdrückter Klassen in der Gesellschaft nicht abseits stehen, sondern sie müssen in dem Ziel dieses Kampfes ihren eigenen Zweck erkennen. Nur zwei Lager sind es, aus denen dem Recht seine Vorkämpfer erstehen können: Zu diesem Kampf ist zunächst berufen, wer selber um sein Recht zu ringen hat, um so mehr, je mehr es ihm geschmälert wird (denn um so weniger hat er über das nackte Leben hinaus aufs Spiel zu setzen), sodann aber, wer am meisten zu opfern w i 11 e n s ist, - die Entrechteten einerseits und die Gebildeten andererseits. ,, Wir brauchen", nach einem Wort von K a r 1 M a r x , ,, um die Gesellschaft zu erneuern, ein Bündnis der Leidenden und der Denkenden, der Wissenschaft und des Proletariats." So wichtig aber diese Aufgabe für die Gebildeten ist, so ist dies doch noch nicht ihre vornehmste Aufgabe im öffentlichen Leben. Das sinnliche und eben darum wirkliche Bedürfnis der Menschen drängt schon von sich aus auf Befriedigung hin, und je weiter es von der Befriedigung entfernt bleibt, desto mehr hat es die Tendenz, Sympathie zu erwecken und damit diesen mächtigen Hebel der sozialen Gerechtigkeit in Bewegung zu setzen. Wo aber das Recht der Menschen in Frage kommt, zur Befriedigung ihres w a h r e n Interesses zu gelangen, da verhält es sich ganz anders. Hier ist das Recht nicht ohne weiteres durch ein wirkliches Bedürfnis vertreten. Hier hängt es nämlich von der Ausbildung der Reflexion des Einzelnen ab, ob und wie weit er zur Einsicht in sein wahres Interesse gelangt, uncf wie weit also in ihm überhaupt ein Bedürfnis nach dem wach wird, was seinem Leben Wert gibt. Hier gilt, daß die wahre Not da nicht mehr am größten ist, wo sie

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überhaupt als solche empfunden wird. Denn da erhebt sich der Einzelne zum Bewußtsein seiner menschlichen Bestimmung und damit schon auf die erste Stufe eines menschenwürdigen Lebens. Mit dem erwachenden Bedürfnis findet er aber auch Sympathie und damit wenigstens die Möglichkeit fremder Hilfe. Wer dagegen der Hilfe am meisten bedarf, der kann sie von bloßer Sympathie am wenigsten erwarten. Denn Sympathie wird hier im Gegenteil der Hilfe zum Hindernis. Sympathie muß ja vielmehr darauf hinzielen, den Menschen vor der Empfindung der Not zu bewahren. So bietet sich hier für die Härte der Menschen der willkommene Vorwand der Sympathie. Kein Betrug kann ja täuschender sein als der, daß es ein unmittelbares Gebot der Menschenliebe sei, die Menschen nicht absichtlich unglücklich zu machen. Hier sind daher die Gebildeten in der Gesellschaft die all ein Berufenen zum Kampf um das Recht, und die Pflicht, diesen Kampf zu führen, ist für sie um so weniger erläßlich. Ja sie sind nicht nur die dazu allein Berufenen, sondern sie müssen sogar damit rechnen, auch die, für deren Recht sie kämpfen, zu Feinden zu haben, und darüber hinaus alle, die mit diesen sympathisieren und die, besorgt um die Zufriedenheit ihrer Mitmenschen, diese gern in geistlicher Vormundschaft festgehalten wissen, sei es aus Sympathie mit den noch Schlafenden, sei es aus Eigennutz. In diesem Kampf sind also in der Tat die Gebildeten auf sich allein angewiesen und stehen der ganzen übrigen Gesellschaft gegenüber. Die Aussicht, in diesem Kampf zu siegen, erscheint daher um so geringer, je höher sein Ziel steht und je würdiger es also eines solchen Kampfes ist. Denn hier geht es nicht um den Lebensgenuß, sondern um den Wert des Lebens. Bei dieser Lage der Dinge gibt es aber doch einen Trost für diejenigen, die auf dem verloren scheinenden Posten ausharren. Denn die Gemeinschaft, die sich hier zum Kampf um das Recht vereinigt, wird nicht gestiftet durch die zufällige Ubereinstimmung faktischer Interessen, sondern sie ist die notwendige Gemeinschaft aller hinreichend Gebildeten. Sie ist die

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wahre unsichtbare Kirche, die ohne Dogmen und Zeremonien besteht, und die allein von den Priestern der Wahrheit und Gerechtigkeit verwaltet wird. Während in einer Gemeinschaft, die bloß durch die faktische Ubereinstimmung subjektiver Interessen begründet wird, jeder Einzelne letzten Endes nur seinen Privatvorteil sucht und also die Gemeinschaft in Wahrheit keine solche der Zwecke, sondern nur der Mittel zur besseren Befriedigung des individuellen Bedürfnisses ist, so ist es hier der wahre Zweck selber, der kraft seiner Allgemeingültigkeit die Gemeinschaft begründet. Mit jedem Zuwachs an Bildung in der Gesellschaft muß daher diese Gemeinschaft an Kraft und Größe gewinnen. Und während dort, je näher man dem Ziel kommt, desto näher auch die Gefahr des Zerfalls der Gemeinschaft rückt - denn das Ziel ist dort nur die Teilung der Beute - , so wird hier mit jedem Schritt, den man dem Ziel näher kommt, das Band der Gemeinschaft nur um so fester denn das Ziel ist hier für alle dasselbe. Es steht keineswegs im Belieben des Gebildeten, ob er sich dieser Gemeinschaft anschließen will, sondern ihr Gefolgschaft zu leisten, ist für ihn unmittelbar Pflicht. Solange noch die unendliche Mehrheit seiner Mitgeschöpfe als schlechthin rechtlos gilt, solange es noch Einzelnen vermöge ihrer wirtschaftlichen oder politischen Ubermacht gelingt, ganze Klassen von Menschen oder ganze Völker als bloßes Mittel für ihre selbstsüchtigen Zwecke hinzuopfern, solange noch mächtige Institutionen bestehen, die durch Verbreitung öffentlicher Lügen die freie Geistesentwicklung der Menschen im Keime ersticken und im Namen der Religion der Menschenliebe die heiligsten Rechte der Menschen mit Füßen treten, ja solange nicht die letzte Spur solcher Institutionen vom Erdboden getilgt ist, so lange s o 11 sich der Gebildete in der Schuld seiner entrechteten Mitgeschöpfe fühlen, so lange ist für den Gebildeten kein höheres Interesse und kein höherer Beruf möglich als die Erfüllung der ihm hieraus erwachsenden Pflicht, so lange soll er also auch den Wert seines eigenen Lebens allein nach der Erfüllung dieser Pflicht bemessen.

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Wer sich diesen Aufgaben entzieht, verwirkt den An• spruch, ein gebildeter Mensch zu heißen. Denn entweder fehlt ihm die Wahrheitsliebe, seine Pflicht sehen zu wollen, oder er läßt es nicht nur an tätiger Menschenliebe oder auch nur an Gerechtigkeitsliebe fehlen, sondern er macht sich unmittelbar einer Verletzung seiner Pflicht schuldig, erfüllt also nicht einmal die Bedingung, um ein m oral i scher Mensch zu heißen.

Pädagogik.

„Der Charakter ist kein Mosaik, aus dem man nach Belieben ein Stück herausnehmen könnte, ohne das Ganze zu zerstören. Bedingungslosigkeit ist sein eigentümliches Wesen, und wer ihm daher an e i n e r Stelle ein Opfer zumutet, hat ihn schon gänzlich preisgegeben." NELSON.

Einleitung.

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Pädagogik. § 132.

Vorläufige Begriffsbestimmung der Pädagogik. Wie bei allen philosophischen Wissenschaften, so verhält es sich auch bei der philosophischen Pädagogik: Das Schwierigste ist der Anfang. Schon bei der ersten Frage, der Frage nach dem Begriff dieser Wissenschaft, nach ihrer Natur und Stellung im System der Philosophie, treten uns Schwierigkeiten entgegen. Da von der Verständigung über diese Vorfrage der Erfolg der weiteren Bemühungen abhängt, wollen wir mit der Erörterung des Begriffs unserer Wissenschaft beginnen. Das wird uns zu einigen etwas abstrakten Betrachtungen nötigen, die uns aber später zugute kommen werden. Der Ton liegt bei unserem Thema zwar ganz und gar auf dem Wort „philosophisch". Bevor wir uns jedoch über die Natur der philosophischen Pädagogik verständigen, ist es erforderlich, den Begriff der Pädagogik allgemein zu kennzeichnen. P ä da g o g i s c h , im allgemeinsten Sinn des Wortes, ist alles das, was auf eine bestimmte Gestaltung der Persönlichkeit abzielt. Hieraus ergibt sich zunächst, daß jede pädagogische Betrachtung, je nachdem worin sie die Bestimmung der Persönlichkeit erblickt, ein Ziel voraussetzt, an dem alles, was die Gestaltung der Persönlichkeit betrifft, gemessen wird. Die Beurteilung selber bezieht sich auf den Erfolg der fraglichen Maßnahme, nämlich darauf, wie weit diese zur Verwirklichung des vorausgesetzten Ziels dient. Das Problem der Pädagogik ist

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Pädagogik.

also, wie man bereits hier erkennt, ganz und gar ein Problem der Verwirk 1 ich u n g. Diese Eigentümlichkeit ist es, durch die sich die Pädagogik von der Ethik unterscheidet. Bei ihr fragen wir nicht, wie bei der Ethik, nach dem Ziel, das erstrebenswert ist und in dessen Dienst die fraglichen Maßnahmen gestellt werden sollen, sondern hier fragen wir nach der Verwirklichung eines anderweit vorausgesetzten Ziels. Erziehung ist der Inbegriff der Maßnahmen, durch die dieses anderweit vorausgesetzte Ziel verwirklicht wird. Die Folge davon ist, daß jede pädagogische Beurteilung sich an und für sich nur auf die Zweckmäßigkeit der fraglichen Maßnahmen erstrecken kann und insofern ein technisches Problem betrifft. Jede Zweckmäßigkeit wird beurteilt auf Grund einer Vergleichung des angestrebten Ziels mit der vorliegenden oder vermutlich eintreffenden Wirkung der Maßnahmen. Da demnach alle pädagogischen Beurteilungen nur das Ergebnis einer solchen Vergleichung sein können, ergibt sich ferner, daß sie an und für sich nur r e 1 a t i ver Natur sind, insofern nämlich, als sie verschieden ausfallen müssen je nachdem, mit welchem Ziel man die zu beurteilenden Maßnahmen vergleicht; denn die Entscheidung über das Ziel selber ist nicht eine Angelegenheit der Pädagogik. Dieser Sachverhalt läßt sich auch so ausdrücken: Eine pädagogische Vorschrift trägt an und für sich nur hypothetischen Charakter. Sie kann eine Maßnahme nur insofern vorschreiben, als deren Zweck anderweit feststeht, läßt aber die Wahl dieses Zwecks selber offen. Die technische Natur unseres Problems bedingt es nun, daß die Beurteilung pädagogischer Maßnahmen von der Lösung einer Tatsachenfrage abhängt, der Frage nämlich, ob die zu prüfenden Maßnahmen wirklich den angestrebten Erfolg haben. Das Urteil hierüber ist nichts anderes als die Umschreibung einer theoretischen Wahrheit, nämlich eines Naturgesetzes; denn ein Naturgesetz sagt uns, daß mit einem bestimmten Geschehen ein anderes Geschehen als Wirkung oder Erfolg verbunden ist. Jedes pädagogische System geht insofern auf Naturgesetze zurück und also auf theoretische Wahrheiten.

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Pädagogik.

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Aus dem relativen oder hypothetischen Charakter aller pädagogischen Vorschriften folgt, daß an und für sich ebenso viele pädagogische Systeme möglich und mit einander vereinbar sind, wie sich Zielbestimmungen für die beabsichtigte Einwirkung auf die Persönlichkeit denken lassen. Mag man hier das Ziel in die Glückseligkeit des zu erziehenden Menschen setzen oder in seinen Nutzen für die Gesellschaft, in seine Pflichttreue, seine persönliche Vollkommenheit oder in ein Gott wohlgefälliges Leben, es bleibt immer wahr, daß zur Verwirklichung des einen Ziels die eine Maßnahme und zu der des anderen Ziels eine andere zweckmäßig ist. Die Zweckmäßigkeit der einen Maßnahme schließt nicht die Zweckmäßigkeit einer entgegengesetzten Maßnahme für ein anderes Ziel aus. Nun entsteht hier naturgemäß die wichtige Frage, ob sich unter den vielerlei möglichen und an und für sich mit einander verträglichen pädagogischen Systemen nicht eines kategorisch auszeichnen läßt, nämlich darum, weil es sich an einem Ziel orientiert, das nicht willkürlich festgesetzt, sondern dem Belieben entzogen und darum den anderen gegenüber vorzugswürdig ist. Nur auf Grund eines solchen Ziels kmm ein System pädagogischer Vorschriften aufgestellt werden, das nicht nur hypothetischen Charakter hat, sondern kategorische Vorschriften enthält. Es ist eine heute sehr verbreitete Ansicht, daß eine solche Auszeichnung eines pädagogischen Systems nicht möglich sei. Es ist dies die Ansicht, die man kurz als d i e L e h r e de s p ä d a g o g i s c h e n R e 1 a t i v i s m u s bezeichnen kann. Nach dieser Lehre beruht jede Zielsetzung für die Auswahl pädagogischer Maßnahmen und demgemäß auch jeder Maßstab für deren Beurteilung auf bloßer Willkür. Es gibt danach keine objektive Auszeichnung eines Ziels, d. h. keine solche, die dieses Ziel dem bloßen Belieben entzieht, ihm eine Vorzugswürdigkeit gegenüber allen anderen verleiht. Wenn es sich so verhält, dann kann aller Streit in der Pädagogik nur ein Streit über die Zweckmäßigkeit der Mittel sein. Aber auch dieser hätte keine praktische Bedeutung, da ja

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Pädagogik.

nach der fraglichen Voraussetzung kein Ziel einen Vorrang verdient. Die Pädagogik bleibt hiernach eine Angelegenheit der bloßen Theorie. In der Tat: Wenn wir bei dieser Lehre stehen bleiben müßten, so gäbe es keine philosophische Pädagogik. Das praktische Interesse ist hier nämlich solidarisch mit dem philosophischen. Das eine steht und fällt mit dem andern. Denn es ist gerade die Frage nach dem ausgezeichneten pädagogischen System, die wir vom Standpunkt der Philosophie aus stellen. Die philosophische Pädagogik fragt nach dem System, dessen Vorschriften nicht mit Rücksicht auf ihre Zweckmäßigkeit für ein beliebiges Ziel, sondern auf die Angemessenheit der Mittel in bezug auf ein objektiv vorzugswürdiges Ziel bestimmt sind. Die Frage, ob es etwas Derartiges gibt, ist keine Tatsachen frage mehr. Ihre Entscheidung liegt nicht in einer theoretischen, sondern in einer praktischen Wahrheit im eigentlichen Sinn des Wortes, einer Wahrheit nämlich, die uns Anweisung gibt, nicht, welche Maßnahmen wir ergreifen müssen, wenn wir dieses oder jenes Ziel erreichen wollen, sondern, welche Maßnahmen wert sind, ergriffen zu werden, darum weil das Ziel, dem sie dienen, seinerseits erstrebenswert ist. Ein solches Ziel, das im erörterten Sinn obiektiv feststeht, d. h. unabhängig von willkürlichen Festsetzungen, nennen wir ein I de a 1. Die Auszeichnung eines solchen Ziels kann nicht auf Erfahrung beruhen, sondern muß, unabhängig von aller und jeder Erfahrung, allein durch Nachdenken und also auf dem Wege der Philosophie gefunden werden. Eben darum ist die philosophische Pädagogik ihren Grundlagen nach eine Angelegenheit der praktischen Philosophie und also der Ethik im weiteren Sinn des Wortes.

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§ 133.

Pädagogik und Politik in ihrem Verhältnis zu einander. Um nun die Stellung der Pädagogik im System der Ethik aufzufassen, müssen wir das Ideal, das die Auszeichnung eines objektiv vorzugswürdigen pädagogischen Systems erlaubt und das ich darum kurz da s p ä da g o g i s c h e Id e a 1 nenne, genau betrachten. Es gilt, dieses Ideal allen anderen Idealen gegenüberzustellen, insbesondere dem, das ich das p o 1 i t i s c h e I d e a 1 nenne. Die Unterscheidung zwischen dem pädagogischen und dem politischen Ideal scheint zunächst leicht durchführbar zu sein. Während es das pädagogische Ideal mit dem inneren Verhalten einzelner Menschen zu tun hat, bezieht sich das politische Ideal auf die äußere Gestaltung der Gesellschaft. Das Ziel für das innere Verhalten des Einzelnen wird durch die Tugendlehre bestimmt; für die äußere Gestaltung der Gesellschaft gelten die Anforderungen der Rechtslehre. In diesem Sinn ist die P ä da g o g i k als philosophische Wissenschaft eine Anwendung der Tugendlehre, die Po 1 i t i k eine Anwendung der Rechtslehre. Die Tugendlehre bestimmt das Ziel, auf dem die Auszeichnung des Systems der philosophischen Pädagogik beruht; die Rechtslehre gibt uns die Prinzipien, nach denen sich die philosophische Politik aufbaut. Wir kommen damit zu der Erklärung der philosophischen Pädagogik als der Lehre von den Bedingungen der Verwirklichung der Tugend im Leben des Einzelnen, und der philosophischen Politik als der Lehre von den Bedingungen der Verwirklichung des Rechts in der Gesellschaft. Trotz der Einfachheit dieser Begriffserklärungen sind sowohl in dem Verhältnis der Pädagogik zur Ethik wie in dem der Politik zur Rechtslehre tiefliegende Schwierigkeiten enthalten, auf Grund deren die Möglichkeit und gegenseitige Unabhängigkeit der definierten Ideale fraglich erscheinen kann. Diese Schwierigkeiten treten am deutlichsten auf bei der

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Pädagogik.

Frage nach der Möglichkeit des politischen Ideals. Als Ideal im eigentlichen Sinn des Wortes, also im Sinn einer Aufgabe, gehört auch das politische Ideal in das Gebiet der Ethik. Wenn es so etwas wie ein vorzugswürdiges Ziel für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens gibt, dann muß die Aufgabe dieser Gestaltung ihre Stelle im System der ethischen Aufgaben finden. Dieses System ist die Ethik in dem bestimmten Sinn der Tugendlehre. Damit aber erhebt sich die Frage, inwiefern die Politik als Anwendung der Rechtslehre eingeführt werden kann; denn sie beruht auf einem Ideal, das als solches der Tugendlehre angehört. Um diese Schwierigkeit zu lösen, müssen wir das Verhältnis der Politik zur Tugendlehre genauer ins Auge fassen. In der Tat: Unter den Idealen der Tugendlehre findet sich das Ideal der Gerechtigkeitsliebe, und aus ihm entspringt das politische Ideal, nämlich die Aufgabe, auf einen rechtlichen Zustand der Gesellschaft hinzuwirken, d. h. auf einen Zustand, wie er seinerseits durch die Rechtslehre ausgezeichnet wird. Wir erhalten also das politische Ideal als Aufgabe innerhalb der Tugendlehre, den Gegenstand dieser Aufgabe aber innerhalb der Rechtslehre. Aus der Rechtslehre ergibt sich die praktische Auszeichnung eines Systems politischer Maßnahmen und damit die Möglichkeit einer philosophischen Politik, deren Durchführung uns durch die Ideallehre zur Aufgabe gemacht wird. Mit dieser Ableitung des politischen Ideals geraten wir nun aber in eine andere Schwierigkeit, und zwar in eine solche, die das Verhältnis des politischen Ideals zum pädagogischen betrifft. Wie lassen sich die beiden Ideale koordinieren, wenn das politische Ideal auf das der Gerechtigkeitsliebe zurückgeht und also auf eines der Ideale, die zusammen das Ideal der Tugend bilden, das seinerseits das Ziel der pädagogischen Bestrebungen bestimmt? Diese Frage führt unmittelbar zu einem weiteren Problem. Nicht nur das politische, sondern jedes Ideal, das in der Tugendlehre seine Stelle findet, scheint gemäß diesen Uberlegungen dem pädagogischen Ideal untergeordnet zu sein. In welchem

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Pädagogik.

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Verhältnis zur Tugendlehre steht aber dann das pädagogische Ideal selber? Wird es nicht als Ideal in der Tugendlehre abgeleitet und sich insofern selber untergeordnet? Wir stoßen damit auf das am tiefsten liegende und uns hier am meisten angehende Problem, nämlich auf die Frage, wie die Begründung des pädagogischen Ideals im Sinn einer Aufgabe der Erziehung möglich ist. Die Tugendlehre nennt uns das Ziel für das Verhalten des Einzelnen. Wie läßt sich aber hieraus die Aufgabe der Erziehung als eine kategorische Vorschrift ableiten im Gegensatz zu der bloß theoretischen Aussage, daß gewisse Maßnahmen geeignet sind, das aufgewiesene Ziel zu verwirklichen? Erziehung in dem ausgezeichneten Sinn, in dem wir hier davon sprechen, bedeutet so viel wie Verwirklichung der Tugend im Leben des Einzelnen. Hier müssen zwei Aufgaben unterschieden werden. Tugend ist Erfüllung von Aufgaben seitens des Einzelnen. Das Ziel der Erziehung bestimmt sich also selber durch eine Aufgabe, und diese Aufgabe müssen wir von der Aufgabe der Erziehung scheiden. Mit der ersten Aufgabe haben wir die zweite noch nicht abgeleitet. Wie gelangen wir also von dem Ideal der Tugend auf das der Erziehung, mit anderen Worten: von der Aufgabe, tugendhaft zu sein, auf die Aufgabe, andere tugendhaft zu machen? Es genügt hier nicht, zu den aus der Tugendlehre bekannten Aufgaben das theore• tische Verhältnis hinzuzunehmen, wonach gewisse Maßnahmen geeignet sind, den Menschen zur Erfüllung dieser Aufgaben zu bringen. Denn wir kommen auf diese Weise nicht zu dem Schluß, daß es ein Ideal sei, solche Maßnahmen zu ergreifen, sondern bleiben bei dem hypothetischen Satz stehen, daß die fraglichen Maßnahmen theoretische Bedingungen sind für die Verwirklichung der Tugend. Es bedarf also einer besonderen Begründung für das pädagogische Ideal, und wie das politische Ideal seine Stelle unter den in der Tugendlehre abgeleiteten Teilidealen findet, so muß für das pädagogische Ideal das gleiche gelingen. So etwas ist in der Tat möglich: Dem Ideal der Gerechtigkeitsliebe ist das

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Pädagogik.

Ideal der Schönheitsliebe koordiniert. Aus diesem Ideal der Schönheitsliebe läßt sich, so befremdend das auf den ersten Blick erscheinen mag, das Ideal der Erziehung ableiten. Wir gehen hiermit auf einen Gedanken P 1 a t o n s zurück, der schon aus diesem Grunde klassisch zu heißen verdient. In der Tat: Bei vorurteilsloser Betrachtung ist nichts einleuchtender als dieser Gedanke des griechischen Weisen. Wenn man nämlich einmal fragt, was eigentlich das Schöne sei, so findet sich, daß man darunter nichts anderes versteht als das an sich Wertvolle, d. h. das ohne Vergleichung mit anderem, an sich Schätzenswerte. Wenn diese Schätzung auf den Wert des vernünftigen Wesens geht, so bezieht sie sich auf einen Wert, den dieses Wesen sich selber gibt. Hand 1 u n g ist also hier der Gegenstand der Schätzung. Sofern aber Handlung, die unmittelbare Äußerung eines Willens, schätzenswert ist, bezeichnen wir diesen Wert als das an sich Gute. Die Aufgabe, das an sich Wertvolle zu verwirklichen, soweit dies vom Willen abhängt, ist eine Aufgabe der Schönheitsliebe. Unter das Ideal der Schönheitsliebe fällt also das Ideal der schönen Gestaltung der Persönlichkeit, d. h. das Ideal, den Einzelnen zum an sich Guten zu führen. Dies ist das Ideal der Pädagogik. Es stellt uns die Aufgabe der Erziehung der Menschen, d. h. ihrer Entwicklung zum an sich Guten. Wie beim politischen Ideal, so löst sich also auch beim pädagogischen Ideal die Schwierigkeit dadurch, daß man den Gegenstand der gestellten Aufgabe von dieser selber unterscheidet. Als ethische Aufgaben gehören beide Ideale in die Tugendlehre und wenden sich demnach an Einzelne. Ihre Gegenüberstellung und ihre Auszeichnung vor allen anderen Idealen aber beruht auf ihren Gegenständen. Der Gegenstand ist im einen Fall die Gestaltung des Lebens der einzelnen Menschen gemäß den Anforderungen der Tugendlehre und im andern die Gestaltung ihres gegenseitigen äußeren Verhältnisses gemäß den Bedingungen der Rechtslehre. Der Gegensatz zwischen beiden Idealen liegt also nicht in dem Subjekt, dem die Gestaltung aufgegeben ist, sondern in dem Objekt, das gestaltet werden soll.

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Von hier aus erhalten wir in übersichtlicher Weise eine Koordination von Pädagogik und Politik. Diese Wissenschaften weisen nach, wie die Erfüllung der in der Tugendlehre und in der Rechtslehre gestellten Anforderungen im einzelnen gesichert werden kann. Die erste entnimmt ihre Zielbestimmung der Tugendlehre, die andere der Rechtslehre. Es steht damit nicht im Widerspruch, daß die durch die Rechtslehre bestimmte Aufgabe im System der Tugendlehre ihre Stelle findet. § 134.

Pädagogik als Wissenschaft. Nachdem die Abgrenzung des Begriffs der Pädagogik gegenüber dem der Ethik und dem der Politik gelungen ist, müssen wir nun sein Verhältnis zu dem Begriff der Erziehung untersuchen. Das Wort „Pädagogik" erweist sich im gewöhnlichen Sprachgebrauch als zweideutig, und zwar insofern, als darunter einerseits eine Kunst verstanden wird und andererseits eine Wissenschaft. Pädagogik als Kunst ist gleichbedeutend mit Erziehung. Da wir dieses Wort haben ist es zweckmäßig, das Wort „Pädagogik" in dem anderen Sinn zu verwenden, und zwar als die wissenschaftliche Anweisung zum Erziehen. Wenn ich Erziehung eine Kunst nenne, so gilt das nicht nur im technischen, sondern auch im ästhetischen Sinn. Sie ist eine technische Kunst insofern, als die Maßnahmen der Erziehung sich als geeignete Mittel erweisen müssen zur Erreichung eines anderweitigen Zwecks, des Zwecks nämlich, den zu Erziehenden zur Erfüllung seiner ethischen Aufgaben tauglich zu machen. Dieser Zweck bestimmt sich durch das Ideal der Schönheitsliebe. Und insofern ist Erziehung mehr als eine technische Kunst; sie ist eine Kunst im ästhetischen Sinn des Wortes. Pädagogik als Wissenschaft dagegen ist die systematische Anweisung zur Ausübung dieser Kunst. Das erscheint paradox; denn wenn es wahr ist, daß Erziehung eine Kunst im eigentlichen Sinn des Wortes ist, wie kann sie dann Gegenstand einer Wissenschaft sein? Dieser

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Sachverhalt hat in der Tat nicht seinesgleichen; denn das Schöne ist an und für sich nicht Gegenstand der Wissenschaft. Während aber unser Urteil über das Schöne sonst auf bloßen Gefühlen beruht, d. h. auf Gefühlen, die nicht in Begriffe auflösbar sind und für die also auch keine wissenschaftliche Rechtfertigung möglich ist, so verhält es sich mit dem Urteil über die Schönheit von Handlungen anders: das Schöne ist hier zugleich das ethisch Gute und kann insofern Gegenstand einer Wissenschaft sein; denn Ethik ist als Wissenschaft möglich, - eine Tatsache, für die wir den Beweis in der Tugendlehre erbracht haben. Gibt es aber eine Wissenschaft der Ethik, so gibt es auch eine Wissenschaft von der Kunst der Menschenbildung, von der Erziehung. Denn was hier zu den ethischen Urteilen hinzukommt, sind außer analytischen Prinzipien nur theoretische Urteile über die Zweckmäßigkeit gewisser Maßnahmen, Urteile, die auf Naturgesetze zurückgehen und deren wissenschaftliche Beweisbarkeit daher nicht in Frage steht. §. 135.

Philosophische und empirische Pädagogik. Damit kommen wir unmittelbar auf die Frage nach dem Verhältnis der Erfahrung zur wissenschaftlichen Pädagogik. Es geht aus den bisherigen Ausführungen hervor, daß die Pädagogik einerseits zwar ihre Prinzipien aus der Ethik entnimmt, andererseits aber, um vollständig entwickelt zu werden, über das Gebiet der Ethik und damit über das der reinen Philosophie hinausgehen muß. Die Ethik führt nur zu der Bestimmung des Ziels der Erziehung. Um aber eine hinreichende Anweisung für die Erreichung des Ziels zu geben, dafür darf man nicht bei der Erkenntnis des Ziels stehen bleiben. Man muß darüber hinaus die erforderlichen Mittel kennen, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Diese Mittel finden wir nur mit Hilfe der Erfahrung, und zwar der psychologischen Erfahrung. Denn diese zeigt uns die Naturgesetze, unter denen die Entwicklung des menschlichen Geisteslebens steht.

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Wenn nun zwar gemäß diesen Uberlegungen die Erfahrung für die Pädagogik unentbehrlich ist, so ergibt sich bei näherem Zusehen doch, daß wir an ihr unmittelbar wiederum nur ein theoretisches und nicht ein praktisches Interesse haben. Das praktische Interesse an der Pädagogik, das Interesse daran, daß sie angewandt wird, beruht vielmehr ganz auf der philosophischen Pädagogik, die ihrerseits von aller Erfahrung unabhängig ist. Es bedarf eines gewissen Vertrautseins mit dem hier vorliegenden Sachverhalt, um den Schein einer Paradoxie, der hier aus einem empiristischen Vorurteil entspringt, aufzulösen. Maa glaubt, schon allein aus Erfahrungen praktische Schlüsse ziehen zu können. Aber worauf beruht eigentlich die praktische Tragweite der Erfahrung? Ein Beispiel wird es klar machen. Angenommen, wir haben die empirisch feststehende Tatsache, daß jemand das Versprechen gegeben hat, heute abend um sechs Uhr in der Universität zu sein. Das sei, so wird man sagen, eine praktisch erhebliche Tatsache; sie habe nämlich zur Folge, daß der Betreffende, der das Versprechen gegeben hat, hier erscheinen solle; es liege also eine Anweisung für das Handeln des Betreffenden vor, und zwar auf Grund eines Schlusses. Es fragt sich nun, wie dieser Schluß zustande gekommen ist und was zu ihm berechtigt. Aus der genannten Prämisse, in der die Tatsache des Versprechens zum Ausdruck kommt, läßt sich der Schlußsatz gewiß nicht ziehen. Denn in ihm steht der Begriff des Sollens, der in der Prämisse fehlt. Gerade auf diesem Begriff aber beruht die praktische Bedeutung des Schlußsatzes. Dieser Begriff muß also anderweit hinzukommen, und zwar geschieht dies vermöge einer zweiten, stillschweigend gemachten Voraussetzung, die hier nur deshalb nicht ausgesprochen worden ist, weil sie selbstverständlich erscheint. Diese Voraussetzung liegt in dem Satz: Versprechen soll man halten! Es liegt also folgender Schluß vor: Versprechen soll man halten. Du hast versprochen, um sechs Uhr in der Universität zu sein. Du sollst um sechs Uhr in der Universität sein.

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Um es noch deutlicher zu machen, daß sich aus Erfahrungen allein keine praktischen Schlüsse ziehen lassen, will ich ein zweites Beispiel angeben, in dem es sich nicht um eine einfache Tatsache handelt, sondern um einen Untersatz von allgemeiner theoretischer Natur, um ein Naturgesetz nämlich. Naturgesetze sind es ja, die als solche jene hypothetischen Vorschriften liefern, die an sich relativer Natur sind, aber mittelbar, auf Grund hinzukommender praktischer Voraussetzungen, kategorische Bedeutung erlangen. Eine solche hypothetische Vorschrift, wie sie uns täglich auch unter den einfachsten Verhältnissen begegnet, wäre etwa die: Wenn Du Blumen pflegen willst, mußt Du sie begießen. Dieser Satz ist die Umschreibung eines Naturgesetzes, nämlich des Naturgesetzes, daß Blumen in Ermangelung von Wasserzufuhr verdorren. Was erteilt nun diesem Satz sein~ vermeintliche praktische Bedeutung, die er an und für sich gewiß nicht hat? Dazu muß der Vordersatz, der „Wenn"Satz, eine praktische Assertion enthalten, d. h. er muß seinerseits erst eine praktisch kategorische Bedeutung bekommen. Dies könnte geschehen mit Hilfe der Annahme etwa, daß ein Gärtner es übernommen habe, die Blumen des Gartens zu pflegen; es läge dann von neuem die Anwendung des praktischen Prinzips vor, daß Versprechen gehalten werden sollen. Man würde etwa sagen: Du hast versprochen, die Blumen zu pflegen; also sollst Du sie begießen. Wie die Erfahrungssätze in diesen Beispielen, so können auch die Sätze der Psychologie, die wir zum Aufbau der Pädagogik zu Hilfe nehmen müssen, nur dadurch praktische Bedeutung gewinnen, daß andere, praktische und darum letzten Endes philosophische Sätze sie ihnen verleihen. Ohne die Aufstellung dieser philosophischen Sätze ist die Entwicklung der Psychologie als Hilfswissenschaft der Pädagogik praktisch völlig bedeutungslos. Die Lehre von der Erziehung zerfällt danach in zwei Teile, in einen praktischen und einen theoretischen Teil. Die theoretische Pädagogik hat es als solche mit den Seinsgesetzen zu tun, unter denen die Erziehung steht. Sie fragt nach den die Er-

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Pädagogik.

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ziehung beherrschenden Naturgesetzen. Diese Wissenschaft lehrt uns die Mittel kennen, die zur Erreichung pädagogischer Zwecke notwendig sind; wir können sie darum als pädagogische Klugheitslehre bezeichnen. Sie stützt ihre Erkenntnisse auf die psychologische Erfahrung und ist insofern empirischer Natur. Die praktische Pädagogik fragt nach den Zweckgesetzen, die für die Erziehung maßgebend sind; sie untersucht, wie die Erziehung sein sollte. Diese Lehre muß von aller Erfahrung unabhängig sein; sie ist also philosophischer Natur. Ihre Entwicklung ist eine Voraussetzung dafür, daß die Entwicklung der empirischen Pädagogik praktisch einen Sinn erhält. Denn sie nennt das Ziel, für dessen Verwirklichung die empirische Pädagogik nach den geeigneten Mitteln sucht. Die Frage nach den Mitteln kann aber nur Bedeutung haben, wenn das zu verwirklichende Ziel schon feststeht. Mit anderen Worten: Man kann nur dann methodisch suchen, wenn man weiß, was und wo man suchen soll. Wenn es also auch wahr ist, daß wir die Mittel der Erziehung nur mit Hilfe der Erfahrung bestimmen können und nicht rein philosophisch, so bedürfen wir doch erst einer Lehre, die uns die Richtung weist, in der wir im Gebiet der Erfahrung zu forschen haben und der darum in systematischer Hinsicht der Vorrang vor der empirischen Pädagogik zukommt. Diese Lehre ist die philosophische Pädagogik. Mit ihr allein haben wir es hier zu tun. Diese Trennung zwischen empirischer und philosophischer Pädagogik ermöglicht es nun zugleich, die noch vorhandenen Schwierigkeiten in dem Verhältnis der philosophischen Pädagogik zur Ethik zu klären. Die philosophische Pädagogik entlehnt ihre Aufgabe dem Ideal der Schönheitsliebe, - den Gegenstand dieser Aufgabe, das, wozu sie die Menschen tauglich machen soll, den Prinzipien der Tugendlehre. Diese Prinzipien sind, eben als Ergebnisse der Tugendlehre, noch keine Lehrsätze der Pädagogik. Es fragt sich darum, ob der philosophischen Pädagogik, abgesehen von der Aufstellung des pädagogischen Ideals, eine eigene wissenschaftliche Bedeutung neben der Ethik zukommen kann.

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Pädagogik.

Es bleibt unzweifelhaft, daß die Kenntnis des Ziels, wie es im einzelnen durch die Ethik festgelegt ist, nicht hinreicht, über die Mittel der Erziehung irgend etwas Positives auszumachen; aber sie genügt, die Wahl dieser Mittel immerhin einer gewissen Einschränkung zu unterwerfen, und zwar unabhängig von aller Erfahrung. Sie genügt nämlich, Maßnahmen zu verwerfen, die sich von vornherein zu dem vorausgesetzten Ziel im Widerspruch befinden. Es wird sich also a priori - d. h. unabhängig von jeder Erfahrung - eine Kritik nicht nur aller wirklichen, sondern darüber hinaus aller möglichen Erziehungsmethoden entwickeln lassen. Diese Kritik geht über das System der Tugendlehre hinaus, sie gehört der philosophischen Pädagogik an. Sie verhilft uns freilich nur zu negativen Entscheidungen; aber es wird sich zeigen, daß schon diese negativen Entscheidungen in praktischer Hinsicht von erheblicher Wichtigkeit sind. Man kann noch weiter gehen. Während sich nämlich die Mittel der Erziehung im einzelnen nur aus unserer Kenntnis der inneren Natur bestimmen lassen, so wird sich doch auch ohne diese Kenntnis sogar ein gewisses positives Ergebnis hinsichtlich der Mittel der Erziehung gewinnen lassen, wenn wir hier nur von dem Begriff der inneren Natur ausgehen. Ohne nämlich zu wissen, w e 1 c h es die Naturgesetze sind, die das innere Leben beherrschen, können wir doch schon wissen, d aß das geistige Leben überhaupt unter Naturgesetzen steht, wie auch ihr Inhalt sein mag. Dieser eine Satz, nämlich daß das geistige Leben unter irgend welchen Naturgesetzen steht, erweist sich bereits als fruchtbar für die pädagogische Wissenschaft. Er genügt zur Ableitung praktisch erheblicher und zwar positiver pädagogischer Vorschriften. Wenn dem aber so ist, dann liegt erst recht ein wissenschaftliches Interesse vor, einmal den Versuch durchzuführen, wie weit man auf Grund nur dieser Voraussetzungen vordringen kann; denn das Interesse der Wissenschaft geht darauf, möglichst viel zu beweisen und darum möglichst wenig vorauszusetzen bei dem, was man beweisen will. Wenn sich also ein

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Pädagogik.

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Teil einer Wissenschaft schon ohne Zuhilfenahme weiterer Voraussetzungen streng beweisen läßt, dann fordert das Gebot der systematischen Strenge, diesen Teil zunächst einmal für sich allein zu entwickeln und weitere Voraussetzungen erst hinzuzunehmen, wenn die Folgerungen aus den bisher benutzten erschöpft sind. So werden wir denn von allem Inhalt der psychologischen Naturgesetze absehen und nur die eine Voraussetzung gebrauchen, daß das geistige Leben unter Naturgesetzen steht. Für diese Voraussetzung haben wir nichts weiter nötig als den Begriff der inneren Natur, wie er schon in der Aufgabe unserer Wissenschaft liegt. Durch diese Abstraktion von allen bestimmten Naturgesetzen des geistigen Lebens, und damit von allen bestimmten Naturgesetzen überhaupt, wird die Grenze bezeichnet, bis zu der eine philosophische Pädagogik vordringen kann; denn die Hinzunahme irgend eines Naturgesetzes selber würde uns bereits nötigen, auf die Erfahrung zurückzugreifen.

§ 136.

Einteilung der philosophischen Pädagogik. Bisher ist gezeigt worden, wie eine philosophische Pädagogik möglich ist, d. h. wie ein Teil der pädagogischen Wissenschaft sich aufbauen läßt ohne Hinzunahme irgend welcher Lehren der empirischen Psychologie; wir können auch sagen: unter alleiniger Erwägung des Umstandes, daß die empirische Psychologie für den Aufbau unserer Wissenschaft notwendig ist, aber unter Beiseitelassung ihres Inhalts. Das führt auf die Frage, ob und wie weit ein Teil der Wissenschaft ausführbar ist ohne eine vorhergehende Entwicklung jener anderen für die Pädagogik bedeutsamen Wissenschaft, der philosophischen Ethik. In der Tat können wir innerhalb der philosophischen Pädagogik, wie wir sie durch diese Abstraktion umgrenzt haben, wiederum einen Teil isolieren, und zwar durch eine analoge

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Pädagogik.

Abstraktion in der Ethik, als der Wissenschaft, die uns das Ziel der Erziehung bestimmt. Wir können einen Teil der reinen philosophischen Pädagogik auszeichnen dadurch, daß die in ihm vorkommenden Sätze unabhängig von jeder Behauptung über den I n h a 1 t des Erziehungsziels gelten, also feststehen schon allein auf Grund des Begriffs eines Erziehungsziels, nur unter Hinzunahme der einzigen Voraussetzung, daß es ein solches überhaupt gibt. Wie wir vorher von allen bestimmten Naturgesetzen des geistigen Lebens abstrahierten und uns auf den bloßen Begriff der inneren Natur beschränkten, so abstrahieren wir hier von allen bestimmten Voraussetzungen über den Inhalt des Erziehungsziels und beschränken uns auf den B e g r i ff des Erziehungsziels. Wie jene Abstraktion, so ist auch diese nicht nur wissenschaftlich geboten, sondern sie bringt uns einen Gewinn, sowohl in systematischer als auch in praktischer Hinsicht. Es gibt eine Fülle pädagogisch tiefliegender, und zwar für die Anwendung wichtiger Fragen, die erst durch diese Abstraktion als Probleme hervortreten, so daß also derjenige, der sich zu viel vornimmt und mit so bescheidenen Resultaten, wie sie sich uns hier in der philosophischen Pädagogik ergeben, nicht zufrieden ist, diese Probleme nicht einmal stellen, geschweige denn lösen kann. Die heutigen Pädagogen gehen gleich von den komplizierteren Fragen aus, und sie wundern sich, wenn sie zu keinem Ergebnis kommen. Wenn man es aber nicht der Mühe für wert hält, diese einfachen Fragen überhaupt zu stellen, wie kann man sich dann wundern, die · komplizierteren nicht lösen zu können! Es ist daher ein praktisches Interesse und nicht bloß ein solches der Logik, das hier im Spiele ist. Bei dem hoffnungslos erscheinenden Streit, der heute in den Prinzipienfragen der Pädagogik herrscht und bei dem es dahin gekommen ist, daß die mit diesen Fragen beschäftigten Forscher den Glauben an ein allgemeingültiges Ziel der Erziehung nicht mehr aufbringen können, kann man erst recht nicht auf eine Einigung in Fragen der Anwendung hoffen. Wenn es also möglich ist, unabhängig

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von einer vorläufig noch strittigen Ansicht über das Erziehungsziel zu pädagogisch fruchtbaren Ergebnissen zu kommen, so ist das in Anbetracht der Meinungsverschiedenheiten von der größten praktischen Bedeutung. Es wird also darauf ankommen, aus einem Minimum von Voraussetzungen ein Maximum von Schlüssen zu ziehen, und zwar aus dem Minimum, hinsichtlich dessen sich diejenigen, die sich Erzieher nennen, noch einig sind. Einig sind sie sich darin, daß sie ihren Beruf als Erzieher nicht verleugnen wollen. Dazu müssen sie die Voraussetzung machen, daß es überhaupt ein Erziehungsziel gibt. Wir wollen also erst einmal sehen, wie weit wir in der Entwicklung unserer Wissenschaft kommen, wenn wir alle anderen Voraussetzungen beiseite lassen. Endlich können wir aber noch den letzten Schritt in dieser abstrahierenden Methode tun: Wir können nämlich selbst diese letzte Voraussetzung, die Voraussetzung, daß es überhaupt ein Ziel für die Erziehung gibt, fallen lassen, ohne uns jeder Möglichkeit zu berauben, zu Ergebnissen vorzudringen; denn es bleibt immer noch eine gewisse Anforderung an alle pädagogischen Maßnahmen bestehen, die uns ein Kriterium liefert zur Ausscheidung unbrauchbarer Maßnahmen, nämlich die Anforderung der in n e r e n W i de r s p r u c h s 1 o s i g k e i t. Wir erhalten also einen Teil unserer Wissenschaft, und zwar eine Kritik aller möglichen Erziehungsmethoden, auf Grund des bloßen Postulats der Widerspruchslosigkeit. Dieser Teil wird aus rein analytischen Sätzen bestehen, d. h. aus solchen, deren Inhalt aus dem bloßen Begriff ihres Gegenstandes geschöpft ist. Es wird dies eine rein logische Kritik sein, und ihre Ergebnisse werden negativen Charakter haben. Wir wollen es dem Versuch überlassen, ob auch die Absonderung dieses Teils der ·wissenschaft von praktischem Interesse ist. Bei der Dunkelheit und Verworrenheit, die selbst über die einfachsten Begriffe der Pädagogik herrschen, läßt sich die Vermutung nicht von der Hand weisen, daß eine solche Kritik, die nur den Begriff der Erziehung zum Gegenstand hat, lohnend genug ist.

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Pädagogik.

Durch diese Untersuchungen gewinnen wir nun auch den Gesichtspunkt für die Einteilung der philosophischen Pädagogik. Diese Einteilung darf, da es sich um eine philosophische Wissenschaft handelt~ nicht willkürlich vorgenommen werden, sondern ist durch die Natur der Aufgabe selber vorgezeichnet. Es ergibt sich aus den eben angestellten Betrachtungen, daß unsere Wissenschaft in zwei Teile zerfallen muß, die wir die forma 1 e und die m a t er i a 1 e Pädagogik nennen können. Die formale Pädagogik ist dadurch charakterisiert, daß sie alle die und nur die Sätze umfaßt, die sich ableiten lassen ohne Hinzunahme irgend welcher Voraussetzungen über den Inhalt des Erziehungsziels, während alle anderen Sätze und nur sie der materialen Pädagogik angehören. Die formale Pädagogik geht also aus von dem Begriff der Erziehung, ohne irgend etwas über den Inhalt des Erziehungsziels auszusagen. Sie beschränkt sich auf solche Folgerungen, die keine andere Voraussetzung als die der praktischen Realität des Begriffs der Erziehung erfordern, die Voraussetzung also, daß der Begriff der Erziehung nicht willkürlich gebildet ist, sondern eine wirkliche Aufgabe bestimmt. Dies ist die einzige Voraussetzung nicht rein logischer Natur, die wir innerhalb der formalen Pädagogik zulassen. Auch sie ist nur für einen Teil dieser Wissenschaft notwendig, während ein anderer Teil nicht einmal diese Voraussetzung nötig hat, sondern von dem bloßen Postulat der Widerspruchslosigkeit ausgeht. Die materiale philosophische Pädagogik bringt aus der Ethik die Inhaltsbestimmung für das Ziel der Erziehung hinzu und entwickelt die daraus sich ergebenden Folgerungen. Zwischen diesen beiden Abteilungen der Pädagogik, der formalen und der materialen, besteht nun keine einfache Koordination im Sinn einer gegenseitigen Unabhängigkeit. Zwar ist jeder Satz der formalen Pädagogik unabhängig von den Sätzen der materialen Pädagogik; aber es gilt nicht das Umgekehrte; denn die Sätze der formalen Pädagogik sind notwendige Voraussetzungen für die der materialen Pädagogik. Es kann keine logisch einwandfreie Ausführung der pädagogischen Wissen-

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Pädagogik.

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schaft geben, die auch nur zu einem Satz der formalen Pädagogik in Widerspruch tritt, während beliebig viele Ausführungen der materialen Pädagogik denkbar sind. § 13,.

Das Problem d e r A n w e n d b a r k e i t d e r P ä d a g o g i k. Dem Anspruch auf strenge Vollständigkeit im Gebiet der philosophischen Pädagogik genügt die eben betrachtete Einteilungsweise freilich noch nicht. Es bleibt hier eine Aufgabe stehen, die in den Bereich der philosophischen Pädagogik gehört und die sich aus der praktischen Bedeutung unserer Wissenschaft ergibt, nämlich aus der Frage nach den Bedingungen ihrer Anwendbarkeit. Es versteht sich nicht von selber, daß die Lehren der philosophischen Pädagogik in dem bisher betrachteten Sinn überhaupt anwendbar sind, sondern ihre Anwendbarkeit hängt von gewissen Bedingungen ab, Bedingungen, die nicht a priori als erfüllt gelten können. Das Problem der Anwendbarkeit der bisher betrachteten Pädagogik - wir können sie kurz die a 11 g e m ein e P ä d a g o g i k nennen - ist es, das innerhalb des Rahmens der philosophischen Pädagogik gestellt werden kann und auch gestellt werden muß. Die allgemeine Pädagogik ist eine systematische Anweisung zur Ausübung der Kunst der Erziehung, und das heißt hier, wie wir kurz sagen können: der Kunst, die Menschen zum Guten zu führen. Wie ist nun diese Wissenschaft anwendbar? Ihre Vorschriften wenden sich offensichtlich unmittelbar an diejenigen, in deren Hand die Erziehung der Menschen gelegt ist, von deren Maßnahmen es also abhängt, ob die ihnen anvertrauten Menschen zum Guten gelangen. Nun liegt aber die Erziehung der Menschheit nicht von vornherein - wenigstens steht dies nicht a priori fest - in den Händen derjenigen, die gesonnen sind, nach den Weisungen der philosophischen Pädagogik zu verfahren. Es entsteht also die weitere, in der Anwendung sogar noch

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übergeordnete Aufgabe, die Bedingungen zu bestimmen, von denen die Anwendbarkeit der allgemeinen Pädagogik abhängt. Man sieht ohne weiteres so viel, daß diese Bedingungen von zweierlei Art sind. Damit die Vorschriften der philosophischen Pädagogik Anwendung finden können, müssen zunächst einmal Erzieher da sein, die fähig und gewillt sind, diese Vorschriften anzuwenden. Daraus ergibt sich die Aufgabe, für das Dasein solcher Erzieher zu sorgen. Ehe nicht dafür gesorgt ist, hat es keine praktische Bedeutung, an die Anwendung der philosophischen Pädagogik auch nur zu denken. Aber mag selbst diese Bedingung erfüllt sein, so ist damit doch noch keineswegs die Anwendbarkeit der allgemeinen philosophischen Pädagogik gesichert. Denn angenommen, es seien wirklich Menschen da, die fähig und gewillt sind, den Weisungen der philosophischen Pädagogik zu folgen, so hängt es doch noch von einer weiteren Bedingung ab, ob diese Gesinnung nicht ein frommer Wunsch bleibt; es hängt nämlich von äußeren Verhältnissen der Gesellschaft ab, ob diese Gesinnung zur Praxis führt. Es hängt, mit anderen Worten, von einem p o 1 i t i s c h e n Verhältnis ab, und nicht von einem nur pädagogischen, ob die berufenen Erzieher zur Ausübung ihres Berufs gelangen; denn es ist eine Frage der Machtverteilung in der Gesellschaft, ob die Erziehung in die Hände der dazu Berufenen gelegt wird. Dieses Problem findet seine Erledigung in der Politik. Daneben bleibt aber jene andere Vorbedingung bestehen, nämlich das Problem der Erziehung der Erzieher, die Aufgabe also, zwar nicht die Menschen überhaupt zum Guten zu führen, sondern vielmehr bestimmte einzelne Menschen zur Ausübung ihres Erzieherberufs tauglich zu machen. Hier haben wir es mit einer Erziehungsaufgabe zu tun, die von dem allgemeinen Ideal der Erziehung noch verschieden ist. Denn es ist eine andere Aufgabe, die Menschen zur Erfüllung ihrer ethischen Aufgaben zu erziehen, als bestimmte Menschen tauglich zu machen, die pädagogischen Aufgaben zu erfüllen. Aber dieser Teil unserer Wissenschaft bedarf keiner gesonderten Ausführung; denn die Aufgabe der Erziehung gehört, gemäß den

Aufgabe und Einteilung der philosophischen Pädagogik.

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Nachweisungen der Ideallehre, zu den ethischen Aufgaben, sie bestimmt einen idealen Beruf. Die Erziehung zur Ausübung eines Berufs ist aber bereits Gegenstand der allgemeinen Pädagogik. Ehe wir nun, auf Grund der bisherigen Erwägungen, zum Aufbau der Pädagogik selber schreiten, müssen wir noch eine Vorfrage entscheiden. Der erste Teil unserer Wissenschaft ist die formale Pädagogik. Wie soll sie aufgebaut werden? Vom Standpunkt der systematischen Strenge aus wäre es das Gegebene, innerhalb dieses Teils mit denjenigen Untersuchungen zu beginnen, für die der problematische Begriff der Erziehung ausreicht, weil ihre Sätze analytischer Natur sind. Obgleich diese Untersuchungen die an Voraussetzungen ärmsten der ganzen Pädagogik sind, ziehe ich es vor, den Aufbau des Systems mit der Aufstellung des synthetischen Grundsatzes zu beginnen, der für die Ableitung sämtlicher Lehrsätze der formalen Pädagogik hinreicht, und zwar darum, weil im andern Fall unersichtlich bliebe, wie wir überhaupt auf den Begriff der Erziehung kommen. Wir m\i.ßten, ohne dafür eine Rechtfertigung zu geben, eine dogmatische Definition zum Ausgangspunkt nehmen. Das Interesse der Untersuchung beruht aber darauf, daß wir diesem Begriff praktische Realität, nämlich die Realität einer Aufgabe zuschreiben. Um uns also dieses Interesses zunächst einmal zu versichern, wollen wir den synthetischen Grundsatz an die Spitze stellen und erst nachher von ihm abstrahieren.

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Pädagogik.

1. Abteilung.

Formale Pädagogik. 1. Kapitel.

Das Prinzip der formalen Pädagogik. § 138.

Der Obersatz. Um das Prinzip der formalen Pädagogik zu finden, müssen wir - wie bereits die Betrachtungen der Einleitung zeigen --von einem Satz der Ethik ausgehen. Dieser Satz, der Obersatz unserer Wissenschaft, kann kein anderer sein als der, daß es etwas an sich Gutes für den Menschen gibt. Nur unter dieser Voraussetzung ist eine Aufgabe der Erziehung möglich; das folgt aus dem bloßen Begriff dieser Aufgabe. Wenn wir unseren Obersatz so aussprechen: Es gibt etwas an sich Gutes für den Menschen, so müssen wir alle Einzelheiten dieses Satzes ins Auge fassen. Denn es kommt für das Weitere auf jede dieser Einzelheiten an. Betrachten wir zunächst die Worte „etwas ans ich Gutes"! Wenn man von dem „an sich" Guten für den Menschen spricht, so drückt man damit den Gedanken einer u n mit t e 1baren Wertung des menschlichen Lebens aus. Man behauptet, daß es einen Wert des Lebens gibt, der nicht von einem weiteren Zweck abhängt. ,,An sich" gut ist das, was nicht nur als Mittel zu einem anderweit bestimmten Zweck geschätzt wird, sondern was seinerseits den höchsten Zweck und also das höchste Gut für den Menschen bestimmt. Nehmen wir nicht einen solchen Endzweck für den einzelnen Menschen an, so entfällt die Aufgabe der Erziehung. Ferner: Wir sprechen von dem an sich Guten für den einzelnen Menschen. Was ist hiermit gesagt? Wenn man von dem an sich Guten für den Menschen spricht, so will man damit

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sagen, daß die Verwirklichung des fraglichen Werts ein Gegenstand für den Willen des Einzelnen ist, d. h. daß es einen Wert gibt, den sich der Mensch selber geben sollte, daß es eine Aufgabe für ihn ist, diesen Wert zu schaffen. Dasjenige, dem wir überhaupt einen Wert an sich zuschreiben, das wir also nicht nur vergleichsweise als Mittel zu etwas anderem bewerten, das heißt das S c h ö n e. Sofern es aber von dem Einzelnen selber abhängt, sich kraft eigenen Willens einen solchen Wert zu geben, nennen wir es im engeren, nämlich ethischen Sinn das G u t e. Das an sich Gute für den Menschen ist also die Schönheit seines Lebens, wiefern es von ihm selber abhängt, sie zu verwirklichen; es ist also nichts anderes als das, was wir kurz seine Tu g e n d nennen, d. h. die Erfüllung seiner ethischen Aufgaben. Welches der Inhalt dieser Aufgaben ist, das lassen wir hier in der formalen Pädagogik dahingestellt. Wir können unseren Obersatz daher auch kurz so aussprechen: Es gibt ein Ideal der Tugend. Wenn wir uns, gemäß dem zuletzt Gesagten, darüber klar sind, daß wir von allem Inhalt der ethischen Aufgaben absehen wollen, so dürfen wir andererseits den Begriff einer solchen Aufgabe nicht zu eng fassen. Und das ist das Nächste, was hier beachtenswert ist. Wir müssen uns darüber verständigen, was die Tugend ihrem Begriff nach umfaßt. Tugend bedeutet mehr als bloße Sittlichkeit. Denn diese erschöpft sich in der Pflichterfüllung. Der Begriff der ethischen Aufgabe geht weiter. Im Begriff der Pflicht denken wir eine notwendige Anforderung in dem Sinn, daß ohne ihre Erfüllung unserem Verhalten kein Wert zukommen kann. Ihre Erfüllung ist also nur eine negative Bedingung des Werts unseres Verhaltens, d.h. eine solche, ohne deren Erfüllung jeder sonst mögliche Wert unseres Verhaltens zunichte wird. Der Begriff der ethischen Aufgabe dagegen umfaßt zugleich die positiven Anforderungen an ein wertvolles Leben. Diese Anforderungen unterscheiden wir von denen der Pflicht durch den Begriff des I de a 1 s. Wenn wir die Erfüllung der Pflicht

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Pädagogik.

die S i t t 1 i c h k e i t des Menschen nennen, so nennen wir die Erfüllung des Ideals seine V o 11 kommen h e i t oder seine Bildung. Nun müssen wir bedenken-was sich eigentlich von selber versteht-, daß die beiden Arten von Aufgaben, Pflichten und Ideale, nicht unabhängig nebeneinander bestehen. Denn da die Pflichterfüllung eine notwendige Bedingung für jeden positiven Wert menschlichen Verhaltens ist, so bleibt die Erfüllung des Ideals von der Pflichterfüllung abhängig. Die Anforderungen des Ideals gehen über die der Pflicht hinaus: sie schließen aber die Erfüllung der Pflicht als notwendige Voraussetzung ein. In Hinsicht auf diesen Umstand wird es für unseren Zweck genügen, wenn wir im Interesse der Einfachheit und Kürze in unserem Obersatz von einem ethischen Ideal sprechen. Unter diesem Vorbehalt, den wir nicht aus dem Auge verlieren dürfen, können wir den Obersatz auch so formulieren: Es gibt ein ethisches I de a 1. Ich sage absichtlich: ,,ethisches" und nicht: ,,pädagogisches" Ideal, weil hier der Begriff des Pädagogischen noch völlig aus dem Spiel bleiben muß. Es handelt sich ja gerade darum, die Realität dieses Begriffs, nämlich eines Ideals der Erziehung, erst zu erweisen, und da kommt es darauf an, selbst den Schein zu vermeiden, daß der Obersatz die zu beweisende Behauptung in versteckter Weise bereits voraussetze. Sofern aber schließlich alle Erklärungen, die wir dem Begriff des Ideals hinzugefügt haben, nur Umschreibungen für das sind, was schon im Begriff des Ideals enthalten ist, könnten wir unseren Satz noch kürzer so aussprechen: Es gibt ein I de a 1. Nur um uns zu vergegenwärtigen, was an Bestimmungsstücken schon in diesem B e g r i ff liegt, und nicht, um das fragliche Ideal selber hinsichtlich seines Inhalts zu bestimmen, wollen wir uns an die ausführlichere und gleichsam pedantische Formulierung halten: Es gibt ein I de a 1 des an sich Guten für den einzelnen Menschen. Endlich: Wenn wir es dahingestellt sein lassen, welches der Inhalt des vorausgesetzten Ideals ist, so darf das nicht so verstanden werden, als ob die Inhaltsbestimmung in unser Belie-

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ben gelegt wäre oder als ob das Ideal überhaupt keinen Inhalt hätte oder wenigstens keinen, der für uns erkennbar wäre. Wir wollen von seinem Inhalt hier nur abstrahieren, weil die abzuleitenden Schlüsse unabhängig von der Inhaltsbestimmung des Ideals feststehen sollen. § 139.

Der Untersatz. Unser Obersatz ist ein Satz der reinen, und zwar der formalen Ethik. Aus ihm allein ist kein Schluß auf das Bestehen irgend einer pädagogischen Aufgabe möglich. Dazu müssen wir einen Untersatz zu Hilfe nehmen, und zwar unserer Aufgabe entsprechend einen solchen, der a priori feststeht und die Grenzen des formalen Teils unserer Wissenschaft nicht überschreitet. Wir entnehmen diesen Untersatz dem Begriff der Natur. Im Begriff der Natur liegt, daß, was in ihr geschieht, nach Naturgesetzen geschieht, d. h. nach Gesetzen, denen gemäß das, was geschieht, nicht abhängt vom Wert des Geschehens, sondern von einem anderen Geschehen. Denn ein Naturgesetz besagt ja nichts anderes als die eindeutige Bestimmtheit eines Geschehens durch ein anderes. Wenn aber nach Naturgesetzen jedes Geschehen durch ein anderes eindeutig bestimmt ist, so bleibt es nach Naturgesetzen zufällig, ob das, was geschieht, dem entspricht, was auf Grund eines Wertgesetzes geschehen sollte. In der Natur steht folglich auch 'das Verhalten des einzelnen Menschen unter Gesetzen, die - als Naturgesetze - es unbestimmt lassen, ob dieses Verhalten den Anforderungen eines Wertgesetzes genügt, die es also auch unbestimmt lassen, ob dadurch das Ideal des an sich Guten verwirklicht wird. Mit anderen Worten: Es gibt kein Naturgesetz, durch das die Verwirklichung des an sich Guten gesichert wäre. Diese Zufälligkeit, der die Verwirklichung des an sich Guten

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in der Natur an und für sich ausgesetzt ist, und also die Bedingtheit der Geltung des Ideals in der Natur, das ist es, was unser Untersatz zum Ausdruck bringt. § 140.

Der Schlußsatz. Unser Untersatz folgt aus dem bloßen Begriff der Natur und steht daher ebenso wie der Obersatz a priori fest. Wir wollen nun untersuchen, ob wir auf Grund dieser Prämissen daran gehen können, unseren Schlußsatz, das Prinzip der formalen Pädagogik, abzuleiten. Wenn das Ideal des an sich Guten für den Einzelnen Geltung in der Natur erlangen soll, wo doch seine Verwirklichung von gewissen, an und für sich zufälligen Bedingungen abhängt, so müssen diese Bedingungen k ü n s t 1 i c h gesichert werden. Das heißt, ihre Sicherung kann nur das Werk eines auf diesen Erfolg gerichteten Willens sein, eines Willens also, der es sich zum Zweck macht, die Bedingungen der Verwirklichung des Ideals zu sichern. Nur dadurch, daß die Vorstellung dieses Erfolgs einen Willen dazu bestimmt, die Bedingungen der Verwirklichung des Ideals ihrerseits zu verwirklichen, entzieht dieser Wille die Geltung des Ideals dem Zufall, dem sie sonst in der Natur ausgesetzt bleibt. Die Aufgabe, diese Bedingungen zu verwirklichen und dadurch die Geltung des Ideals im Leben des Einzelnen dem Zufall zu entziehen, ist die Aufgabe der Erziehung. Ich habe schon in der Einleitung die logischen Schwierigkeiten angedeutet, die in der Begründung dieser Aufgabe liegen, und es ist hier nötig, genauer darauf einzugehen. Welches ist das methodische Prinzip für ihre Ableitung? Diese Frage ist durch die Aufstellung unserer beiden Prämissen noch nicht beantwortet. Denn wie sollte es möglich sein, daß das Bestehen einer Aufgabe für alle Einzelnen, wie wir sie im Obersatz voraussetzen, einen Grund enthält, irgend jemandem unter ihnen die neue Aufgabe zu stellen, andere zur Erfüllung jener Auf-

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gaben tauglich zu machen? Wenn es uns nicht gelingt, wirklich diese neue Aufgabe abzuleiten, so haben wir nicht die Aufgabe der Erziehung abgeleitet. Es ist zwar leicht zu verstehen, wie für den Einzelnen selber aus der Voraussetzung, daß es für ihn eine ideale Aufgabe gibt, die weitere Aufgabe folgt, die Bedingungen zu verwirklichen, von denen es abhängt, ob er zur Erfüllung jener Aufgabe tauglich wird. Das folgt nämlich schon auf Grund einer rein logischen Uberlegung: Es wäre ein Widerspruch, eine Aufgabe erfüllen zu sollen, ohne den Bedingungen zu genügen, von deren Erfüllung die Lösung der Aufgabe abhängt. Aber auf diese Weise ergibt sich für niemanden die Aufgabe, einen anderen zur Erfüllung seiner Aufgaben tauglich zu machen. Auf diese neue Aufgabe stoßen wir nur, wenn es ein Ideal gibt, es dem Zufall zu entziehen, daß andere ihre Aufgaben erfüllen. Unter dieser Voraussetzung können wir uns in der Tat nicht damit zufrieden geben, daß diese anderen selber die Aufgabe haben, den Bedingungen für die Erfüllung ihrer Aufgaben zu genügen; denn von dieser zweiten Aufgabe der Einzelnen gilt dasselbe wie von jener ersten: daß es nämlich an und fürs.ich zufällig ist, ob der Einzelne sie erfüllt. Und dasselbe gilt aus dem gleichen Grunde von jeder Aufgabe, die man so dem Einzelnen stellen könnte. Wenn wir uns nur an diese Aufgaben hielten, dann würden wir es eben damit dem Zufall überlassen, ob der Einzelne überhaupt zum an sich Guten gelangt. Gerade durch diese Erwägung tritt die Aufgabe der Erziehung hervor. Sie besteht darin, es dem Zufall zu entziehen, daß die Einzelnen zur Erfüllung ihrer Aufgaben gelangen. Ob es eine solche Aufgabe gibt, hängt davon ab, ob die Voraussetzung zutrifft, daß man sich um die Erfüllung der Aufgaben anderer bemühen sollte. Die Ableitung des Ideals der Erziehung setzt daher - wie schon die Uberlegungen der Ein· leitung ergaben - ein eigenes Ideal voraus, das sich keineswegs rein logisch daraus folgern läßt, daß dem Begriff des Ideals überhaupt praktische Realität zukommt. Wir haben hier nämlich den Fall vor uns, daß wir von einem an sich Guten, das

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außer uns - oder doch nicht notwendig in uns - liegt, schließen auf den Wert unseres Verhaltens, durch das jenes Gute hervorgebracht wird. Das E r z i e h e n s e 1 b e r muß an s i c h gut sein, damit von einem Ideal der Erziehung und nicht nur von einem Nutzen der Erziehung in Hinsicht auf irgend welche willkürlich gesetzten Zwecke die Rede sein kann. Denn daß das Erziehen - wie allerdings aus dem bloßen Begriff der Erziehung folgt - dazu gut ist, andere gut zu machen, das genügt nicht, damit es auch seinerseits an sich gut ist, damit es also ein Ideal der Erziehung gibt. Wir bedürfen hier also über die Voraussetzungen des Oberund Untersatzes hinaus einer eigenen Voraussetzung, wonach ein Verhalten darum selber zum Ideal wird, weil der Erfolg dieses Verhaltens ein Ideal verwirklicht. Diese Voraussetzung ist keine andere als die des Ideals der Schönheitsliebe. Sie sagt uns, daß, wenn irgend etwas schön ist, es auch schön ist, das Schöne hervorzubringen,-eine Aussage, die gewiß nicht logisch selbstverständlich ist. Setzen wir nicht voraus, daß es ein solches Ideal der Schönheitsliebe gibt, so kommen wir niemals auf das allgemeine Ideal der Erziehung, d. h. der Entwicklung des an sich Guten nicht nur in uns selber, sondern in jedem Menschen. Ein Umstand, der hier noch Beachtung erfordert, ist der, daß die Aufgabe der Erziehung gemäß der gegebenen Ableitung nicht von der Geltungsart einer Pflicht ist. Die Aufgabe ist abgeleitet worden als ein Ideal. Es bleibt nach dieser Ableitung dahingestellt, wie weit diese Aufgabe zugleich auch Pflicht werden kann. Es ist nicht etwa gesagt, daß sie nicht Pflicht sein könnte; es ist nur offen gelassen, ob und unter welchen Umständen sie Pflicht ist; dies hängt in der Tat von den Umständen ab. Es läßt sich aber mit unbeschränkter Allgemeinheit ein I de a 1 der Erziehung aufstellen. Da nun andererseits, wie wir wissen, jedes Ideal seinem Begriff nach auf die Bedingung der Pflichterfüllung eingeschränkt ist, so ergibt sich daraus umgekehrt die für die Anwendung wichtige Folge, daß alle Maßnahmen der Erziehung, so gut sie im übrigen sein mögen, doch nur

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unter einem Vorbehalt gut sind, nämlich unter dem, daß sie nicht einer anderweit feststehenden Pflicht widerstreiten. Die Folge davon ist, daß es, um eine bestimmte pädagogische Maßnahme zu rechtfertigen, nicht genügt, sie aus dem Ideal der Erziehung abzuleiten, sondern daß es zu allererst notwendig ist, darüber Rechenschaft abzulegen, ob sie im Einklang mit den Anforderungen der Pflicht steht und also jedenfalls erlaubt ist.

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2. Kapitel.

Das Problem der Möglichkeit der Erziehung. §

141.

Die Paradoxie im Begriff der Erziehung. Bisher ist so viel bewiesen worden, daß der sonst nur willkürlich definierte Begriff der Erziehung objektive Bedeutung hat, d. h. daß es wirklich eine Aufgabe der Erziehung gibt. Es ist also, wie wir verlangt hatten, die praktische Realität dieses Begriffs festgestellt worden. Dabei ist es nun das Eigentümliche dieser Aufgabe - worauf auch die Schwierigkeit und Künstlichkeit ihrer Ableitung beruht-, daß ihr Gegenstand, d. h. das, worauf sie sich richtet, sich einerseits durch eine anderweit vorausgesetzte Aufgabe bestimmt. Denn die Aufgabe des Erziehers richtet sich darauf, die zu Erziehenden zur Erfüllung ihrer Aufgaben tauglich zu machen. In diesem Sachverhalt enthüllt sich noch einmal ein Bedenken gegen die Möglichkeit der Erziehung, das behoben sein muß, ehe es einen Sinn hat, die weiteren Prinzipien zu entwickeln. Eine Aufgabe im eigentlichen, d. h. ethischen Sinn des Wortes kann, welcher Art sie auch sein mag, offenbar nur durch den gelöst werden, dem sie gestellt ist. Wird sie von ihm nicht gelöst, d. h. tut er nicht, was ihm zu tun aufgegeben ist, so bleibt sie überhaupt ungelöst, mag auch vonseiten anderer noch so viel geschehen, um das zu verwirklichen, was von jenem gefordert ist. Die Aufgabe des zu Erziehenden kann also nur durch diesen selber gelöst werden. Wie ist es dann aber möglich, die Aufgabe der Erziehung zu lösen? In der Tat: Jede Aufgabe richtet sich an den Willen eines h?ndelnden Wesens. Die Aufgabe für den zu Erziehenden wird ihm durch das Ideal des an sich Guten vorgeschrieben. Diese Aufgabe kann nur dadurch gelöst werden, daß er selber seinen Willen auf die Verwirklichung des an sich Guten richtet. Wenn nicht der eigene Wille des zu Erziehenden auf das an sich Gute gerichtet ist, wenn er sich lediglich durch einen fremden Willen,

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etwa den des Erziehers, bestimmen läßt, so ist es nicht sein eigenes Handeln, sondern das des Erziehers, wodurch die vermeintliche Ubereinstimmung mit dem Ideal entsteht. Eine solche Art, das Verhalten eines andern Wesens zu bestimmen, ist keine Erziehung; sie verdient vielmehr nur den Namen der Ab r i c h t u n g. Denn Abrichtung ist die Einübung gewisser Fertigkeiten, wodurch jemand tauglich wird, als Mittel zu anderweitigen Zwecken zu dienen. Aber worin besteht dann die Aufgabe des Erziehers? Sie kann nur darin liegen, so auf den zu Erziehenden zu wirken, daß dieser sich selber zum an sich Guten bestimmt. Ubt der Erzieher diese Wirkung nicht aus, so erfüllt er nicht die Aufgabe, die ihm als Erzieher gestellt ist, - mag das, was er bei seinem Zögling im übrigen erreicht, mit der Erfüllung des Ideals auch noch so große Ähnlichkeit haben. Diese Erörterung enthüllt uns die ganze Tiefe der hier vorliegenden Schwierigkeit. Wir stehen vor dem Problem, wie und ob überhaupt so etwas wie Erziehung möglich ist. Diese Frage muß in allem Ernst gestellt werden. Es ist nicht ein bloß logisches Interesse, das wir an dieser Paradoxie nehmen; von ihrer Auflösung hängt vielmehr das Schicksal der Erziehung ab. Erziehung ist ihrem Begriff zufolge nur durch äußere Einwirkung von seiten des Erziehers möglich. Ihr Ziel ist aber wiederum dem bloßen Begriff der Erziehung zufolge - , daß der zu Erziehende sich selber unabhängig von äußerer Einwirkung bestimmt. Wir stehen anscheinend vor einem Widerspruch: Wie kann man jemanden durch äußere Einwirkung dazu bestimmen, sich nicht durch äußere Einwirkung bestimmen zu lassen? Dieses Problem muß sich auflösen lassen, wenn die Aufstellung irgend welcher pädagogischen Vorschriften nicht nutzlose Mühe sein soll. Denn es ist umsonst, nach Mitteln zu suchen für einen Zweck, von dem sich a priori, ja rein logisch einsehen läßt, daß er Unmögliches verlangt. Man kann daher einen bekannten, den Metaphysikern gewidmeten Ausspruch Kants

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auf die Pädagogen anwenden: Alle Pädagogen sind demnach von ihren Geschäften feierlich und gesetzmäßig so lange suspendiert, bis sie die Frage, wie ist Erziehung möglich, genugtuend werden beantwortet haben. Diese Frage liefert uns eine willkommene Probe auf die Richtigkeit und Brauchbarkeit der gegebenen Ableitung. Die Ableitung des Ideals der Erziehung muß sich, wenn sie stichhaltig ist, darin bewähren, daß sie uns den Schlüssel zur Lösung dieser Paradoxie bietet. Denn was wir bewiesen haben, ist ja mehr als das, was hier in Frage steht; es ist die praktische Realität des Begriffs der Erziehung. Was praktische Realität hat, kann gewiß nicht logisch unmöglich sein. § 142.

Verallgemeinerung des Problems: Unverm e i d 1 i c h k e i t d e r B e e i n f 1 u s s u n g i n de r N a t u r. Fassen wir die Paradoxie näher ins Auge: Da wird bald das eine klar: Wäre diese Paradoxie wirklich unlösbar, so wäre damit viel mehr bewiesen als nur die Unmöglichkeit der Erziehung. Äußere Einwirkungen auf den einzelnen Menschen sind nämlich in der Natur unvermeidlich, so daß auch ohne die absichtliche Einwirkung, als die sich die Erziehungsmaßnahmen darstellen, jeder Einzelne äußeren Einwirkungen faktisch unterworfen ist. Denn da in der Natur alles Geschehen miteinander in Wechselwirkung steht, so müßte der Mensch aufhören, ein Naturwesen zu sein, um sich solchen Einwirkungen zu entziehen. Wenn wir auf Erziehung verzichten, so bleibt er unter der Einwirkung seiner Umgebung und seines Lebensschicksals. Ja wir können so weit gehen, zu behaupten, daß sich ohne solche Einwirkungen überhaupt kein geistiges Leben entwickeln könnte. Denn auch der Geist entwickelt sich in der Natur nur unter dem Einfluß äußerer Einwirkungen. Sollte also der Umstand, daß Erziehung nur durch äußere Einwirkungen vor sich gehen kann, ein Grund sein für die Unlösbarkeit der Aufgabe der Erziehung, so würde vielmehr folgen, daß eine Entwicklung zum an sich

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Guten in der Natur überhaupt u n m ö g 1 ich ist. Sie wäre unmöglich, ob der Versuch der Erziehung unternommen oder unterlassen würde. Steht dies aber fest, so können wir umgekehrt schließen: Wenn äußere Einwirkungen mit einer Entwicklung zum Guten nicht ohnehin in Widerstreit stehen, dann kann auch Erziehung nicht darum unmöglich sein, weil sie sich des Mittels äußerer Einwirkung bedient; dann kann also auch unter derjenigen äußeren Einwirkung, die wir Erziehung nennen, der zu Erziehende wirklich zum Guten gelangen. §

143.

Auflösung des allgemeinen Problems: Einfluß und Bestimmungsgrund. Mit diesen Uberlegungen haben wir zwar noch keine Auflösung unseres Problems gewonnen, sondern nur eine Verallgemeinerung. Aber diese erweist sich dadurch als fruchtbar, daß sie uns ohne weiteres auf den Weg zur Auflösung des ursprünglichen Problems leitet. Wir stehen vor dem allgemeinen Problem - in dem der Begriff der Erziehung keine Rolle mehr spielt - , ob der Umstand, daß der Einzelne unter äußeren Einwirkungen steht, für ihn die Möglichkeit der Entwicklung zum Guten ausschließt. Dieses allgemeine Problem können wir in der Tat auflösen. Wir brauchen dazu nur zwei Begriffe zu unterscheiden. Äußere Einwirkung überhaupt bedeutet nämlich etwas anderes als eine solche äußere Einwirkung, die zum Bestimmungsgrund des Willens wird. Daß sich das Verhalten des Einzelnen unter dem Einfluß äußerer Einwirkungen abspielt, besagt noch nicht, daß dieser äußere Einfluß den Bestimmungsgrund seines Verhaltens bildet, mit anderen Worten, daß dieses Verhalten durch Zwang bestimmt wird, auch nicht durch einen mittelbaren psychischen Zwang. Es widerspricht sich nicht, daß der Bestimmungsgrund für sein Verhalten in ihm selber liegt und daß dieser Bestimmungsgrund, nämlich sein eigener Wille zum Guten, sich doch nur unter dem Einfluß äußerer Einwirkungen entwickelt, ja ge-

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Pädagogik.

rade durch deren Einfluß zum Bestimmungsgrund für sein Verhalten wird. Aus der Abhängigkeit jedes Naturwesens von äußeren Einwirkungen folgt also keineswegs die Unmöglichkeit seiner Selbstbestimmung zum Guten. Aus dieser Abhängigkeit folgt vielmehr nur das, was der Untersatz aussagt, den wir zur Ableitung der Aufgabe der Erziehung hinzugenommen haben, daß nämlich die Entwicklung zum Guten für den Einzelnen nicht naturnotwendig ist. Es hängt gerade von der Art der Einwirkungen ab, denen er ausgesetzt ist, ob und wie weit er sich zum Guten entwickelt. Aber daß seine Entwicklung zum Guten von solchen Bedingungen abhängt und also von Natur aus nicht notwendig ist, das besagt keineswegs, daß diese Entwicklung von Natur aus u n m ö g 1 ich ist. Durch eine solche Deutung würde dem Satz, daß es kein Naturgesetz gibt, wonach das Ideal notwendig Geltung hat, der andere untergeschoben, daß es ein Naturgesetz gäbe, wonach das Ideal notwendig keine Geltung hätte. Aber auch ein solches Naturgesetz kann es nicht geben, - aus demselben Grunde, der jenes unmöglich macht. Die Geltung des Ideals kann nach Naturgesetzen ebensowenig unmöglich wie notwendig sein. Denn sie bleibt nach Naturgesetzen zufällig. Wir können also nur sagen, daß die Entwicklung des Einzelnen zum Guten durch seine eigene Natur nicht verbürgt ist. Damit sagen wir aber gerade, daß es von den äußeren Einwirkungen abhängt, ob diese Entwicklung stattfindet oder nicht. Ob sie stattfindet, das hängt zunächst davon ab, ob der Betreffende zu hinreichender Einsicht in das Gute gelangt, um sich durch diese Einsicht auch in seinem Verhalten bestimmen zu lassen. Die Entwicklung dieser Einsicht in das Gute ist für ein Wesen in der Natur an und für sich nicht notwendig. Die Vorstellung des Guten lebt in ihm nicht mit einer so unmittelbaren Klarheit, daß sie ohne weiteres für sein Verhalten maßgebend ist, sondern sie ist - wie wir sagen - ursprünglich dunkel, und es hängt von den Umständen ab, ob sie sich zu einer solchen Klarheit entwickelt, daß sie den Willen des Einzelnen lenkt. Von Natur aus besteht die Möglichkeit, aber

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nicht die Notwendigkeit einer solchen Entwicklung. Dies ist der Grund, der auf die Aufgabe der Erziehung führt. Bestände nämlich von Natur aus schon die Notwendigkeit einer solchen Entwicklung, so bedürfte es keiner Erziehung. Deren Aufgabe ist es gerade, diese Entwicklung dem Zufall zu entziehen, dem sie in der Natur an und für sich ausgesetzt ist. Das bedeutet nicht, daß ohne Erziehung eine solche Entwicklung unmöglich wäre; aber die Tatsache, daß diese Entwicklung nicht mit Notwendigkeit vorausgesetzt werden kann, reicht hin, die Notwendigkeit der Erziehung zu begründen. Wenn es also von den an sich zufälligen äußeren Einwirkungen abhängt, ob sich der Einzelne zum Guten entwickelt, so ist die Einwirkung, die wir Erziehung nennen, so weit davon entfernt, mit dieser Entwicklung unvereinbar zu sein, daß es ihrer vielmehr bedarf, um diese Entwicklung zu sichern. § 144.

Anwendung auf das Problem der Möglichkeit der Erziehung: Erziehung und Abrichtung. Die Unterscheidung der Begriffe des Einflusses und des Zwanges genügt daher, uns die Lösung des Problems der Möglichkeit der Erziehung unmittelbar an die Hand zu geben. Und sie weist zugleich auf die einschränkende Bedingung hin, von der in der Tat die praktische Möglichkeit der Erziehung abhängt. Diese Unterscheidung zeigt nämlich, daß die Erziehung, um durch äußere Einwirkungen ihr Ziel zu erreichen, die Voraussetzung machen muß, daß der zu Erziehende selber fähig sei, seine ethischen Aufgaben zu erkennen. Es kann also nicht Sache der äußeren Beeinflussung, die wir Erziehung nennen, sein, ihm das Prinzip dieser Aufgaben einzupflanzen, sondern sie hat es lediglich damit zu tun, die eigene Einsicht so weit zu entwickeln, daß diese hinreicht, sein Verhalten zu bestimmen. Die Tragweite der gewonnenen Unterscheidung wird noch deutlicher, wenn wir daran denken, daß der Einzelne nicht nur überhaupt in der Natur lebt, sondern in einer bestimmten Natur,

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nämlich inmitten der menschlichen Gesellschaft, wo er nicht nur überhaupt von äußeren Einwirkungen abhängt, sondern von einer bestimmten Art äußerer Einwirkungen, nämlich denjenigen, die von der Willkür anderer Menschen ausgehen, und wo er also der Möglichkeit ausgesetzt ist, dieser Willkür unterworfen und dadurch seiner idealen Bestimmung entfremdet, ja vielleicht absichtlich entfremdet zu werden. Wenn aber eine solche Unterwerfung unter fremde Willkür möglich ist, durch die, falls man ihr freien Lauf läßt, die Entwicklung zum Guten unmöglich wird, so bedarf es erst recht einer Einwirkung, die, als Gegenwirkung, die Möglichkeit solcher Unterwerfung unter fremde Willkür ausschließt. Diese Einwirkung soll das Werk der Erziehung sein. Die Erziehung löst also ihre Aufgabe, indem sie diejenigen Einflüsse, die der Entwicklung zum Guten förderlich sind, willkürlich stärkt und vermehrt, die entgegengesetzten Einflüsse, die der Entwicklung zum Guten hinderlich sind, willkürlich schwächt und vermindert. Aber hierin erschöpft sich auch die Aufgabe der Erziehung. Denn sobald sie dem Menschen eine äußereVerhaltungsnorm als Richtschnur für sein Verhalten aufzwingen will, sinkt sie zu bloßer Abrichtung herab. Sie hindert dann den Menschen daran, zur Selbstbestimmung zu gelangen, zu der ihn zu führen sie berufen ist. Der Fehler, mit dem wir es hier zu tun haben, beruht also im tiefsten Grunde auf einer Verkennung der Bedeutung des Untersatzes, wie er in der Ableitung der Aufgabe der Erziehung auftritt. Dieser Untersatz sagt nämlich gerade, daß die Entwicklung des Menschen von äußeren Einwirkungen abhängt, woraus folgt, daß wir gar nicht die Wahl haben, ob diese Entwicklung unter äußeren Einwirkungen vor sich gehen soll oder nicht, sondern nur die Wahl, ob wir in der Entwicklung des Einzelnen den rohen Zufall walten lassen oder ob wir die seine Entwicklung beherrschenden Einflüsse planmäßig gestalten wollen, so daß sie ihr die Richtung auf das Gute erteilen.

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§ 145.

Schematische Ubersicht über das Problem und seine Auflösung. Wir können das Problem und seine Auflösung in Gestalt eines einfachen Schemas übersichtlich machen. Das Problem entspringt aus dem Verhältnis der beiden Voraussetzungen, die wir als Obersatz und Untersatz einander gegenübergestellt hatten. Wir haben auf der einen Seite die Voraussetzung des Obersatzes, daß es ein Ideal des an sich Guten für den Menschen gibt, und auf der andern Seite die Voraussetzung des Untersatzes, der die Unvermeidlichkeit der Beeinflussung in der Natur zum Ausdruck bringt. Diese beiden Voraussetzungen scheinen mit einander unvereinbar zu sein. Jede von ihnen verleitet zu einem Schluß auf die Falschheit der anderen. Die Geltung des Ideals scheint die Ausschließung aller Beeinflussung zu fordern, und die Tatsache der Beeinflussung scheint umgekehrt die Geltung des Ideals aufzuheben. Man schließt also auf der einen Seite aus dem Ideal des Guten auf die Verwerflichkeit der Beeinflussung oder, wie wir kurz sagen können, auf das Ideal der Nichtbeeinflussung, und auf der andern Seite aus der Unvermeidlichkeit der Beeinflussung in der Natur auf die Nichtigkeit des Ideals des Guten, beide Male, weil es ein Widerspruch wäre, daß jemand dazu beeinflußt werden sollte, sich nicht beeinflussen zu lassen. Der Widerspruch einer solchen Forderung ist in der Tat unlösbar. Aber weder schließt die Geltung des Ideals die Beeinflussung aus, noch die Tatsache der Beeinflussung die Geltung des Ideals. Vielmehr kann durch geeignete Einflüsse, und sogar nur durch sie, die Geltung des Ideals gesichert werden. Mit dieser Einsicht entfällt die Nötigung für den einen und den andern Schluß. Obersatz und Untersatz sind daher widerspruchslos vereinbar.

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Pädagogik. Dogmatische Voraussetzung: Unvereinbarkeit von Ideal und Beeinflussung. Untersatz: Unvermeidlichkeit der Beeinflussung in der Natur.

Obersatz: Ideal des Guten.

Ideal der Nichtbeeinflussung.

Nichtigkeit des Ideals des Guten. Sd1lußsatz: Ideal der Erziehung.

§ 146.

Das Objekt der Erziehung: Der menschliche Wille. Die Voraussetzung, unter der allein die Aufgabe der Er• ziehung lösbar ist, besteht nach alledem darin, daß die Erziehung es mit Wesen zu tun hat, die der Entwicklung zum Guten fähig sind, mit Wesen also, die zu hinreichender Einsicht in das Gute gelangen können, kurz: mit vernünftigen Wesen. Durch diese Voraussetzung ist die Wirksamkeit der Erziehung um• grenzt. Denn wo bei einem Wesen diese Voraussetzung nicht als erfüllt gelten kann, läßt sich die Aufgabe der Erziehung gar nicht stellen. 0 b ein bestimmtes Wesen diese Voraussetzung erfüllt, ist eine psychologische Frage, die als solche nur mit Hilfe der Erfahrung entschieden werden kann.

Formale Pädagogik.

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Mit diesen Uberlegungen leitet uns die Auflösung unseres Problems unmittelbar zur Beantwortung der Frage, welche Wesen Objekte der Erziehung werden können und infolgedessen auch werden sollen. Die Antwort ergibt sich von selber, wenn wir die beiden Sätze, aus denen wir die Aufgabe der Erziehung abgeleitet haben und in deren scheinbarer Unvereinbarkeit das uns hier beschäftigende Problem wurzelt, richtig mit einander verbinden. Da das Ziel der Erziehung sich überhaupt nur bestimmt durch das Ideal des an sich Guten für den Einzelnen, so folgt von selber, daß Erziehung bei dem zu Erziehenden einen Willen voraussetzt, der durch die Einsicht in das Gute bestimmbar ist. Andererseits haben wir die Aufgabe der Erziehung nur unter Hinzunahme der Voraussetzung ableiten können, daß der Wille nicht mit Notwendigkeit durch die Einsicht in das Gute bestimmt wird, daß wir es also mit Naturwesen zu tun haben. Hieraus folgt, daß nur die Erziehung solcher Wes':!n zur Aufgabe werden kann, die, wenn sie auch die Möglichkeit haben, zum Guten zu gelangen, doch darum nicht notwendig zum Guten gelangen, mit anderen Worten: solcher Wesen, deren Wille zwar einerseits durch Vernunft bestimmbar ist, andererseits aber nicht notwendig durch Vernunft bestimmt wird, sondern noch der Möglichkeit unterliegt, durch äußere, zufällige Antriebe bestimmt zu werden. Nennen wir einen Willen, der seiner eigenen Natur zufolge nur auf das Gute gerichtet sein kann, einen h e i 1 i g e n W i 1 1 e n, dagegen einen Willen, der seiner Natur zufolge nicht durch Vernunft, sondern nur durch äußere Antriebe bestimmbar ist, einen t i e r i s c h e n W i 11 e n , und nennen wir endlich einen Willen, der sowohl durch Vernunft als auch durch äußere Antriebe bestimmbar ist, einen m e n s c h 1 ich e n W i 11 e n, so können wir sagen, daß weder ein tierischer noch ein heiliger, sondern nur ein menschlicher Wille Objekt der Erziehung sein kann; denn nur für einen solchen Willen ist es von Natur aus weder notwendig, gut zu sein, noch unmöglich, gut zu werden.

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Pädagogik.

§ 147.

Pädagogischer Optimismus und pädagogischer Pessimismus. Um dieses Ergebnis und seine praktische Bedeutung noch klarer herauszuheben, wollen wir es vergleichen mit den Folgerungen, zu denen man käme, wenn man nicht den Obersatz mit dem Untersatz unseres Schlusses verbinden, sondern einseitig nur eine der beiden Voraussetzungen gelten lassen würde. Ein solcher Fehler liegt in der Tat nahe, da ja diese beiden Sätze einander gerade auszuschließen scheinen. Läßt man sich durch diesen Schein irreführen, geht man also von der Voraussetzung ihrer Unvereinbarkeit aus, so kommt man notwendig zu falschen Folgerungen. Die Gegenüberstellung dieser verschiedenen Folgerungen wird zeigen, daß es sich hier nicht nur um eine Angelegenheit von akademischer Bedeutung, sondern um eine solche von praktischer Tragweite handelt. Geht man allein von dem Ideal des Guten aus, ohne auf die Bedingungen Rücksicht zu nehmen, an die seine Verwirklichung in der Natur gebunden bleibt, sieht man also einseitig nur auf das Vermögen des Menschen zum Guten, so wird man zu einer Uberzeugung gedrängt, die ich als p ä da g o g i s c h e n O p t i m i s m u s bezeichnen will. Das Gute im Menschen muß sich nach dieser Ansicht von selber durchsetzen, weil der Mensch einem Gesetz seiner inneren Natur zufolge unabhängig von äußeren Bedingungen zum Guten gelange; alle Bemühungen des Erziehers werden hiernach durch das Vertrauen auf die gütige Natur entbehrlich gemacht, gemäß dem beliebten Sprichwort: ,,Das Gute bricht sich selber Bahn." Geht man andererseits allein von der Voraussetzung aus, daß der Mensch als ein Naturwesen von äußeren Einwirkungen abhängt, und nimmt man keine Rücksicht auf die durch seine Natur ja auch gegebene Möglichkeit der Entwicklung zum Guten, so wird man zu einem p ä da g o g i s c h e n P e s s i m i s m u s gedrängt, wonach Erziehungsmaßnahmen ebenso entbehrlich sind wie nach der Auffassung des pädagogischen

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Optimismus. Denn wie man dort durch eine fälschliche Idealisierung den menschlichen Willen für einen heiligen hält, so macht man hier den entgegengesetzten Fehler, ihn für einen tierischen Willen zu halten, der nicht zum Guten erzogen, sondern nur mit Gewalt abgerichtet und gebändigt werden kann, und der allen Versuchen, ihn durch äußere Einwirkungen zu veredeln, widersteht nach dem alten Wort: ,,Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf." Die Konsequenz der einen wie der andern Lehre ist die Nichtigkeit des Ideals der Erziehung. Bei allem Unterschied des Ursprungs dieser einander entgegengesetzten pädagogischen Grundauffassungen ist es ein pädagogischer Fatalismus, in dem sie sich vereinigen. Denn beide Lehren gründen sich auf die gemeinsame Voraussetzung, daß es durch ein Naturgesetz, unabhängig vom Zutun der Menschen bestimmt sei, ob sich das Gute in der Natur durchsetzt. Der einzige Unterschied beider Auffassungen ist der, daß die eine ein Naturgesetz voraussetzt, nach dem die Durchsetzung des Guten ohnehin notwendig ist, während die andere ein Naturgesetz annimmt, nach dem trotz aller Bemühungen um Erziehung die Durchsetzung des Guten unmöglich ist. Lassen wir die hiermit ans Licht gezogene, beiden Seiten gemeinsame Voraussetzung fallen, so können wir ohne weiteres die richtigen Voraussetzungen, von denen man auf der einen und andern Seite ausgeht, widerspruchslos vereinigen: Die Durchsetzung des Guten ist von Natur aus weder notwendig noch unmöglich. Nur so kommen wir auf die Aufgabe der k ü n s t 1 ich e n Sicherung seiner Durchsetzung, auf das Ideal der Erziehung. Wir können diese Konsequenz, die sowohl im Gegensatz zum pädagogischen Optimismus wie zum pädagogischen Pessimismus - also zu jeder Art von pädagogischem Fatalismus - steht, füglich den p ä da g o g i s c h e n I de a 1 i s m u s nennen. Wir können die hiermit geprüften Schlüsse in dem folgenden Schema vereinigen:

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Pädagogik. Die Durchsetzung des Guten ist entweder naturnotwendig oder unmöglich. (Päd. Fatalismus.)

Die Durchsetzung des Guten ist von Natur aus nicht unmöglich.

Die Durchsetzung des Guten ist nicht naturnotwendig.

Die Durchsetzung des Guten ist naturnotwendig. (Päd. Optimismus.)

Die Durchsetzung des Guten ist von Natur aus unmöglich. (Päd. Pessimismus.)

Die Durchsetzung des Guten ist weder naturnotwendig noch unmöglich. (Päd. Realismus.)

Der pädagogische Idealismus steht und fällt mit der Voraussetzung, daß der Mensch als vernünftiges Wesen fähig ist, sich zum Guten zu entwickeln, aber andererseits als Naturwesen eben auch nur die M ö g 1 ich k e i t der Entwicklung zum Guten mitbringt. Man kann deshalb sagen, daß der pädagogische Idealismus, recht verstanden, von einem p ä da g o g i s c h e n Re a 1 i s m u s untrennbar ist. Denn pädagogischer Realismus ist die Ansicht, daß - ohne alle Rücksicht auf das Ideal - lediglich die Stärke der in der einen oder andern Richtung wirkenden Einflüsse über den Verlauf der Entwicklung entscheidet. Der pädagogische Realismus steht daher einmal im Gegensatz zum pädagogischen Optimismus: darum nämlich, weil der pädagogische Optimismus die Bedingungen

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vernachlässigt, denen die Durchsetzung des Guten in der Natur unterworfen ist, und sich so verführen läßt, an eine geheimnisvolle, dem Guten selber innewohnende Macht zu glauben, kraft deren es sich ungeachtet aller Widerstände in der Natur siegreich durchsetzt. Der pädagogische Realismus steht andererseits im Gegensatz zum pädagogischen Pessimismus: darum nämlich, weil der pädagogische Pessimismus die in der vernünftigen Natur des Menschen liegende Möglichkeit der Entwicklung zum Guten übersieht und sich verführen läßt, an die von Natur aus unvermeidliche Ohnmacht des Guten zu glauben. Wie der pädagogische Optimismus ein phantastischer S c h ein i d e a 1 i s m u s ist, so ist der pädagogische Pessimismus ein nicht minder phantastischer S c h e i n r e a 1 i sm u s. Der eine wie der andere gibt den praktischen Glauben an das Ideal der Erziehung preis zu Gunsten eines spekulativen, aller Erfahrung vorgreifenden Aberglaubens an das Walten einer allen Gegenkräften überlegenen Macht, durch die dem Guten notwendig Sieg oder Unterliegen bestimmt ist. Den Namen des pädagogischen Realismus verdient daher allein eine Ansicht, die sich hinsichtlich ihrer Erwartungen in bezug auf den Nutzen von Erziehungsmaßnahmen nicht leiten läßt von irgend welchen auf spekulativen Vorurteilen ruhenden Hoffnungen oder Befürchtungen - ebensowenig von einem blinden Vertrauen wie von einem blinden Mißtrauen in die Güte der Menschennatur - , sondern allein von der Erfahrung, wie weit es den durch das eigene Bemühen des Erziehers aufgebotenen Kräften gelingt, das Wechselspiel der Antriebe zu Gunsten der auf das Gute gerichteten Antriebe zu beeinflussen.

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Pädagogik.

3. Kapitel.

Die Antinomie der formalen Pädagogik. § 148.

Die Antinomie der formalen Pädagogik. Wir wenden uns jetzt dem abstraktesten Teil der formalen Pädagogik zu, demjenigen, der sich aus lediglich analytischen Sätzen aufbaut und der also den Anfang des Systems hätte bilden müssen, wenn dabei nicht der Begriff der Erziehung zunächst nur durch eine Nominaldefinition und also, wie es hätte scheinen können, willkürlich eingeführt worden wäre. Wir wissen, daß die Sätze dieses Teils, die ja nur den problematischen Begriff der Erziehung voraussetzen, lediglich zur Ausschließung irriger pädagogischer Lehren dienen. Der Erfolg wird zeigen, ob ein solches bloß kritisches Bemühen lohnend ist. Wir werden diese Kritik planmäßig, nach Prinzipien, vornehmen, so daß wir zu einer vollständigen Ubersicht über die möglichen pädagogischen Irrlehren und die ihnen zu Grunde liegenden Fehler gelangen. Die Quelle dieser Fehler haben wir bereits aufgedeckt. Sie liegt in der Mißdeutung des Verhältnisses des Ideals des Guten zum Naturgesetz. Diese Mißdeutung führt zu einer Verkennung des Verhältnisses der beiden Aufgaben, die hier unterschieden werden müssen, nämlich einerseits der ethischen Aufgabe des einzelnen Menschen und andererseits der pädagogischen Aufgp.be seiner Erziehung. Wenn man das Verhältnis dieser beiden Aufgaben mißdeutet, dann entsteht jenes Dilemma, das wir in seiner allgemeinen Grundform bereits kennen gelernt haben: Die pädagogische Aufgabe verdrängt die ethische, oder umgekehrt. Der Grund des Fehlers ist auf beiden Seiten derselbe: die Gleichsetzung von Einfluß und Bestimmungsgrund. Erziehung ist ihrem Begriff nach nur möglich durch äußere Beeinflussung. Daraus entsteht der Schein, daß Erziehung, als Beeinflussung, unvereinbar sei mit der Selbstbestimmung. Der Bestimmungsgrund des Verhaltens scheint nicht in dem zu Erziehenden

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selber zu liegen, sondern in dem Einfluß des Erziehers. Das Z i e 1, die sittliche Freiheit, wäre also mit der Beeinflussung, dem hierzu erforderlichen Mitte 1, unvereinbar. So ergibt sich die Grundform der in mannigfacher Gestalt erscheinenden Antinomie der formalen Pädagogik und damit auch die Grundform der verschiedenen dogmatischen Doktrinen, die auf diesem Gebiet einander die Herrschaft streitig machen. Jeder weitere Unterschied der Lehrmeinungen beruht nur auf der geringeren oder größeren Inkonsequenz, mit der die einzelnen Pädagogen die eine oder andere von diesen Lehren vertreten. Auf der einen Seite geht man aus von dem Standpunkt der Notwendigkeit der Erziehung. Dabei scheint die Abhängigkeit des Zöglings von seinem Erzieher es mit sich zu bringen, daß die sittliche Freiheit nicht als Ideal in Frage kommen kann. An die Stelle dieses Ideals tritt ein Ideal der Bestimmung des Zöglings durch den Erzieher, womit wir dann als Konsequenz in der einen oder andern Form ein Ideal der Vergewaltigung erhalten. Auf der andern Seite verlangt man, um an der sittlichen Freiheit des Zöglings festzuhalten - die man aber als eine Freiheit vom Einfluß des Erziehers deutet-, die Ausschließung solchen Einflusses. Die Konsequenz ist, wie dort ein Ideal der Vergewaltigung, so hier ein Ideal der Nichterziehung. Auf beiden Seiten verlegt man das Ziel der Erziehung in das Verhältnis des Zöglings zum Erzieher, sei es in seine Unterordnung unter den Erzieher, sei es in die Freiheit vom Einfluß des Erziehers. Es findet also eine Verselbständigung des pädagogischen Ideals statt und damit eine Verdrängung des ursprünglichen, ethischen Ideals, durch das uns in Wahrheit erst das Ziel der Erziehung bestimmt wird und ohne dessen Voraussetzung ~on einem Ideal der Erziehung gar nicht die Rede sein könnte. Das im Begriff des pädagogischen Ideals schon vorausgesetzte ethische Ideal ist als solches unabhängig von aller Beziehung auf das Verhältnis des Zöglings zu seinem Erzieher; es betrifft vielmehr allein das Verhältnis des Menschen zu dem Ideal des an sich Guten. Daher kann es ebensowenig darauf ankommen,

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den Zögling von der Willkür des Erziehers abhängig zu machen, wie etwa umgekehrt den Erzieher von der Willkür des Zöglings. Was hier leicht irreführt, ist die Beurteilung des Erziehungsverhältnisses nach einem staatsrechtlichen Vorbild. Man deutet das Verhältnis des Erziehers zu seinem Zögling als ein Rechtsverhältnis analog dem zwischen dem Regenten und den Regierten, wo entweder - bei autokratischer Verfassung - die Untertanen von der Willkür des Machthabers abhängen, oder - bei demokratischer Verfassung - der Regent von der Willkür des Volkes. Ohne zu fragen, ob diese Analogie im übrigen berechtigt ist und ob nicht in Wahrheit schon das staatsrechtliche Vorbild selber, nach dem man das Erziehungsverhältnis deutet, unhaltbar ist, wollen wir uns hier mit der Feststellung begnügen, daß das Erziehungsverhältnis seinem Begriff nach einen anderweitigen Zweck voraussetzt und nicht unabhängig von diesem gewertet werden kann. Es läßt sich nur im Hinblick auf den außer ihm liegenden Zweck der Entwicklung des Zöglings zum Guten beurteilen. Die Aufgabe der Erziehung fällt als solche nicht zusammen mit dem Ideal des Guten, sondern leitet sich erst ab aus dessen Verhältnis zum Naturgesetz. Aus der Zufälligkeit dieses Verhältnisses entspringt die pädagogische Aufgabe, die in der Natur unvermeidliche Beeinflussung so zu lenken, daß der Mensch sich zum Guten entwickelt. Die Beurteilung pädagogischer Maßnahmen und der Gestaltung des Erziehungsverhältnisses überhaupt kann daher nur die Frage der Mittel betreffen, nämlich ihrer Tauglichkeit zur Erreichung dieses Z w e c k es. Die fraglichen Mittel sind in Anbetracht der Zufälligkeit, deren Ausschaltung sie dienen, nic:ht wiederum ethisch bestimmbar. Das Ergebnis der Anwendung einer Erziehungsmethode darf daher nicht beurteilt werden nach dem Verhältnis, in das sie den Zögling zum Erzieher setzt, - etwa auf Grund eines vermeintlichen Ideals für die Gestaltung dieses Verhältnisses. Es verhält sich gerade umgekehrt: Die Gestaltung dieses an und für sich technischen Verhältnisses ist allein danac:h zu bewerten, wie weit es taugt, die ihm ausgesetzten Menschen zu · e r -

Formale Pädagogik.

365

ziehen, das heißt danach, wie weit der Erfolg mit den Anforderungen des an sich Guten übereinstimmt. Ehe wir nun an Hand des Leitfadens der analytischen Prinzipien der Ethik zur Kritik der möglichen pädagogischen Doktrinen übergehen, will ich ein Wort über die Darstellung dieses Teils unserer Wissenschaft sagen. Bereits der bloßen Form nach lassen sich zwei Arten ethischer Aufgaben unterscheiden. Es gibt nicht nur die negativen Anforderungen der Pflicht, sondern darüber hinaus die positiven ethischen Anforderungen des Ideals. Um aber die Darstellung der pädagogischen Konsequenzen nicht allzu umständlich und schwerfällig zu gestalten, will ich hier, wo es auf den Inhalt der fraglic:hen Anforderungen nicht ankommt, zur Vereinfachung nur von den Anforderungen der Pflicht sprechen; die Anforderungen des Ideals werden sich durch einfache Vertauschung der beiden Begriffe von selber ergeben, und nur da, wo diese Analogie eine Grenze hat, wo dem Unterschied der beiden Begriffe auch eine Verschiedenheit der pädagogischen Folgerungen entspricht, wird es geboten sein, ausdrücklich von dem einen und dem anderen zu sprechen. Weil die Pflichterfüllung die notwendige Vorbedingung ist für die weitergehenden Anforderungen des Ideals, ist es ohnehin für den Erzieher nötig, bei seinen Erziehungsmaßnahmen zuerst die Anforderungen der Pflicht zu berücksichtigen. Darum entspricht es auch dem Interesse der Anwendung, bei der Darstellung die Anforderungen der Pflicht in den Vordergrund zu rücken.

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Pädagogik.

4. Kapitel.

Pädagogische Folgerungen aus den Prinzipien der ethischen Allgemeingültigkeit und Differenzierung. § 149.

Kritik des pädagogischen Uniformitätsprinzips. Es liegt im Begriff des an sich Guten für den Menschen, daß es sich durch ein praktisches G e s et z bestimmt. Wenn etwas unter bestimmten Umständen für irgend jemanden im ethischen Sinn gut ist, so folgt rein logisch, daß es unter gleichen Umständen auch für jeden anderen gut sein muß. Wir können diese Aussage nicht widerspruchslos aufgehoben denken. Mit ihr erhalten wir das analytische Prinzip der ethischen A 11g e mein g ü l tigkei t. Damit ist nicht etwa die Möglichkeit der ethischen Differenzierung ausgeschlossen. Im Gegenteil: Soweit das Gesetz je nach den Umständen Verschiedenes fordert, die ethischen Folgen also von den Umständen abhängig macht, ergeben sich bei verschiedenen Umständen verschiedene ethische Folgen. Das ist es, was wir im Prinzip der ethischen Differenz i e r u n g aussprechen. Hier liegt ein Mißverständnis sehr nahe. Es entsteht, wenn man die Allgemeingültigkeit des Gesetzes nicht von seiner Anwendbarkeit unterscheidet. Die Allgemeingültigkeit des Gesetzes scheint dann nämlich eine Gleichförmigkeit in der Anwendung zu verlangen und damit die Möglichkeit der Differenzierung auszuschließen. Man kommt auf diese Weise zu einem falschen Prinzip, das in der öffentlichen Erziehung eine große Rolle gespielt hat und noch spielt: Im Namen der ethischen Allgemeingültigkeit deutet man die Rücksichtnahme auf dle besonderen Umstände des Falles als eine Durchbrechung des Gesetzes und verficht dementsprechend ein pädagogisches Prinzip, das zweckmäßiger Weise das p ä da g o g i s c h e Uni -

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form i t ä t s p r in z i p genannt werden könnte, weil an die Stelle der Allgemeingültigkeit des Gesetzes Gleichförmigkeit des geforderten Verhaltens tritt, d. h. Unabhängigkeit des Verhaltens von den wechselnden Umständen. Dieses Prinzip, nach dem bei der Anwendung des Gesetzes auf die Individualität des Falles keine Rücksicht genommen werden darf, führt zur Vergewaltigung des zu erziehenden Menschen und artet im Extrem in einen bloßen Drill aus. Die Konsequenz dieser Deutung der Allgemeingültigkeit wäre, daß wir es im Grunde nicht mehr mit einem Gesetz für das Verhalten vernünftiger Wesen zu tun hätten, sondern mit der Anforderung an diese, sich ihrer Vernünftigkeit zu entäußern, um sich wie Maschinen zu verhalten. Es bedürfte für das verlangte Verhalten keiner eigenen Wahl und überhaupt keines eigenen Entschlusses. Eine tote Gewohnheit würde zum Ideal des menschlichen Verhaltens gemacht werden, was für den Erzieher darauf hinausliefe, die Menschen einer gleichförmigen Abrichtung zu unterwerfen und alle Erziehung in Wahrheit aufzuheben. § 150.

Kritik des pädagogischen Originalitätsprinzips. Das pädagogische Uniformitätsprinzip hat ein Gegenstück in einer entsprechenden Mißdeutung des Prinzips der ethischen Differenzierung. Diese Mißdeutung entsteht unvermeidlich, wenn man meint, um die im Begriff des Erziehungsziels schon vorausgesetzte Notwendigkeit der Differenzierung und also der Berücksichtigung der Individualität aufrecht zu erhalten, müsse man die Allgemeingültigkeit des Erziehungsziels preisgeben. Der Fehler ist im Grund derselbe wie auf der Gegenseite. Allgemeingültigkeit und Differenzierung scheinen einander auszuschließen, und wie man dort um der Allgemeingültigkeit willen die Differenzierung fallen läßt, so hier um der Differenzierung willen die Allgemeingültigkeit. Man meint in beiden Fällen,

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daß die Allgemeingültigkeit auf Uniformität hinauslaufe und also auf eine Unterdrückung der Individualität. Nur schließt man hier umgekehrt: Um sich der Konsequenz der toten Gleichförmigkeit zu entziehen, gibt man allen Anspruch auf Allgemeingültigkeit des Erziehungsziels auf. Ich will das Prinzip der so entstehenden pädagogischen Doktrin nach seiner extremen Konsequenz als das p ä d a g o g i s c h e O r i g i n a 1 i t ä t s p r in z i p bezeichnen; man könnte es auch das pädagogische Individualitätsprinzip nennen. Denn nach der Konsequenz dieser Doktrin würde sich das Erziehungsziel unabhängig von jedem allgemeinen Gesetz bestimmen, allein auf Grund der Individualität des zu erziehenden Menschen. Man spricht hier in der Tat von individuellen Pflichten, ja, wo man die Paradoxie nicht scheut, von individuellen Gesetzen. Es wären dies Verpflichtungen, die dem einzelnen Menschen zukämen auf Grund seiner persönlichen Eigenheit, im Gegensatz zu den Verpflichtungen anderer, die sich durch deren Eigenheit bestimmen, hier wie dort unabhängig von einem allgemeinen Gesetz. Die Eigenheit, die hier maßgebend sein soll, ist also nicht etwa die Eigenart, wie sie sich bestimmt durch ein allgemeines Merkmal, das als solches auch in analogen Fällen zutreffen und also auch andern Individuen zukommen könnte. Vielmehr wird die Eigenheit hier im Sinn einer einmaligen, nicht wiederkehrenden Erscheinung gedeutet, was - streng genommen - nur verstanden werden kann als die numerische Bestimmtheit der Person. Das Einzelwesen als solches ist hiernach, bloß weil es ein Einzelwesen ist, gegenüber jedem anderen Einzelwesen ausgezeichnet hinsichtlich der ihm obliegenden Pflichten, und demgemäß bestimmt sich für jeden Einzelnen ein eigenes Erziehungsideal. Um die Mißdeutung zu beleuchten, die hier das Prinzip der ethischen Differenzierung erfährt, weise ich darauf hin, daß sich jedes Gesetz auf die Form eines hypothetischen Urteils bringen läßt. Das Gesetz knüpft nämlich an bestimmte Umstände bestimmte Folgen, das praktische Gesetz an bestimmte reale Umstände bestimmte praktische Folgen. Es sagt also aus, daß,

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wenn die fraglichen Umstände eintreten, dann auch die daran geknüpften Folgen eintreten. Es sagt aber nichts darüber aus, wie oft, wann und ob überhaupt jemals die fraglichen Umstände eintreten. Es könnte recht wohl sein, daß diese Umstände nur ein einziges Mal eintreten und also auch nur bei einer einzigen Person. Dann ist die Anwendungsmöglichkeit auf diesen einzigen Fall beschränkt; aber die Allgemeingültigkeit des Gesetzes leidet nicht darunter. Sie würde auch nicht leiden, wenn nicht einmal dieser einzige Fall einträte. Und so läßt das Gesetz mit seiner Allgemeingültigkeit die Berücksichtigung der Eigenart der einzelnen Fälle durchaus zu. Der Fehler des pädagogischen Individualitätsprinzips besteht darin, gerade dies zu verkennen. Man meint, es der Individualität des zu Erziehenden schuldig zu sein, ihn gar keinem Gesetz zu unterwerfen. Damit kommt man auf den widerspruchsvollen Begriff eines individuellen Erziehungsziels. Wie wenig aber hiermit gerade dem Interesse der Anwendung gedient ist, erhellt daraus, daß auf diese Weise überhaupt jedes Kriterium entfällt, auf Grund dessen wir in einem bestimmten Fall bestimmten Menschen eine bestimmte Verpflichtung zuordnen könnten. Man kann zwar recht wohl sagen, daß das Erziehungsziel von einer historischen Epoche zur anderen variiert, oder von Volk zu Volk, von Klasse zu Klasse, von Stand zu Stand oder je nach dem Alter und Geschlecht. Aber hierbei wird immer, wenn auch oft in versteckter Form, ein allgemeines Ideal vorausgesetzt, das als solches von der Individualität des Falles unabhängig ist und auf Grund dessen wir erst je nach den Umständen die Aufgaben differenzieren. Anderenfalls würde jedes Kriterium fehlen, warum wir gerade der bestimmten Epoche diese bestimmte Aufgabe zuordnen. Denken wir uns, daß wir beispielsweise einem bestimmten Menschen (A) bloß auf Grund seiner zahlenmäßigen Bestimmtheit eine bestimmte Verpflichtung (P1) zusprechen und einem andern Menschen (B), bloß weil er zahlenmäßig ein anderer ist, eine andere Verpflichtung (P2). Dann wäre es gänzlich unverständlich, weshalb wir gerade dem A die Pflicht P1 zusprechen und

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dem B die Pflicht P2 und nicht gerade umgekehrt dem A die Pflicht P2 und dem B die Pflicht Pi. Es würde jeder Grund für diese Zuordnung fehlen. In Wahrheit tun wir recht daran, bei der Bestimmung des Erziehungsziels auf die Eigenart der zu erziehenden Menschen Rücksicht zu nehmen, aber wir tun dies mit Recht nur insofern, als der einzelne Mensch charakterisiert ist durch ein bestimmtes Merkmal seiner Person oder deren Lage, so daß jeder andere Mensch, dem das gleiche Merkmal zukäme, unter dem gleichen Erziehungsziel stünde. Wir müssen also, um den Unterschied der Verpflichtungen und also auch der Erziehungsziele für die einzelnen Menschen zu verstehen, diese Menschen mit ihrer Eigenart als Vertreter von Klassen auffassen, wo dann jedem Vertreter der einen Klasse die gleiche Pflicht P1 und jedem Vertreter der andern Klasse die gleiche Pflicht P2 zukommt. Mit anderen Worten: Wir müssen bei der Bestimmung der Pflicht die Prinzipien der Allgemeingültigkeit und der Differenzierung miteinander verbinden.

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5. Kapitel.

Pädagogische Folgerungen aus dem Prinzip der ethischen Autonomie. (Kritik des pädagogischen Autoritätsprinzips.) § 151.

Unmöglichkeit des pädagogischen Autoritätsprinzips. Da der Einzelne seine ethischen Aufgaben nur selber erfüllen kann, so muß er selber sich ihrer bewußt sein; es genügt nicht, daß sich ein anderer dieser Aufgaben bewußt ist und ihn zu einem Verhalten bestimmt, daß äußerlich diesen Forderungen entspricht. Daher ist es auch, um einen Menschen zur Pflichterfüllung zu erziehen, nicht genug, ja nicht einmal erforderlich, ihn dahin zu bringen, daß er sich in seinem Verhalten nach dem Verlangen seines Erziehers richtet. Der Erzieher ist in dieser Hinsicht überhaupt nicht ausgezeichnet. Denn die Aufgaben, zu deren Erfüllung der Mensch erzogen werden soll, bestimmen sich durch das ihnen zu Grunde liegende praktische Gesetz, ohne Rücksicht auf das Urteil oder Verlangen irgend eines Menschen. Daß ein Erzieher etwas für gut hält und verlangt, kann für einen anderen Menschen kein Grund sein, es ebenfalls für gut zu halten oder von sich selber zu verlangen. Das hiermit eingeführte Prinzip ist das Prinzip der et h i s c h e n Au t o n o m i e. Es besagt, daß eine Verbindlichkeit, von der sich der Verpflichtete nicht durch eigene Einsicht überzeugen könnte, unmöglich ist. Dieses Prinzip ist von der größten Tragweite für die Pädagogik. Aus ihm folgt nämlich unmittelbar die Verwerflichkeit jedes p ä da g o g i s c h e n Auto r i t ä t s p r in z i p s, d. h. einer jeden Erziehungsmethode, die den Bestimmungsgrund für das Verhalten der zu erziehenden Menschen, statt in deren eigenes Urteil über das Gute, in das Urteil des Erziehers setzt. Eine solche Erziehungsmethode widerstreitet nicht etwa erst dem

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richtig bestimmten Inhalt des Erziehungsziels, sondern sie ist schon ohne alle Rücksicht auf dessen Inhalt verwerflich insofern, als ihr Prinzip bereits den im bloßen Begriff der Erziehung liegenden Anforderungen widerspricht. Das Wesen dieser Methode besteht in der Bewirkung von Gehorsam. G eh o r s am ist die Bereitschaft zur Befolgung von Befehlen. Ein Be f eh 1 ist ein an uns gestelltes Verlangen, sofern es Verbindlichkeit beansprucht. Der, dessen Befehl als verbindlich anerkannt wird, gilt insofern als Auto r i t ä t. Nun sage ich, dieser Anspruch eines Befehls auf Verbindlichkeit, d. h. die kategorische Form des Sollens, in der dieser Befehl ausgesprochen wird, ist unter allen Umständen eine bloße Einkleidung, und noch dazu eine völlig widersinnige. In derTat: Wenn mit dem Befehl wirklich ein kategorisches Gebot, d. h. ein Sollen ausgesprochen werden soll, dann kann dieses kategorische Gebot nur durch die Einsicht dessen, an den es sich richtet, erkannt werden. Denn ein kategorisches Gebot ist ein allgemeines Gesetz, das nicht wie eine Tatsache zur Kenntnis genommen, sondern nur eingesehen werden kann; der angebliche Befehl könnte danach im Grunde nichts anderes sein als die Behauptung von dem Bestehen eines kategorischen Gebots, das seinerseits, unabhängig von jedem Befehl, verbindlich ist. Diese Behauptung wäre ihrerseits eine bloße Tatsache, die man als solche zur Kenntnis nehmen kann; aber verbindlich wäre allein jenes kategorische Gebot. Wird der Befehl als ein solcher Hinweis verstanden, so kann die Befolgung des Gebots offenbar nicht aus Gehorsam geschehen. Denn nach dieser Deutung entspringt die Verbindlichkeit nicht dem Verlangen des Befehlenden, sondern der praktischen Notwendigkeit des dem Befehl zu Grunde liegenden Gesetzes. Dann aber kann nicht der Befehl Bestimmungsgrund für die Befolgung des Gebots werden, sondern höchstens die Einsicht in dieses Gebot selber. Es findet also kein Gehorsam statt. Wird aber der Befehl nicht als ein solcher Hinweis verstanden, so gilt dies psychologisch so viel, als ob der Befehl gar

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nicht in der Form eines Sollens ausgesprochen worden wäre, sondern nur als Ausdruck eines tatsächlichen Verlangens seitens des Befehlenden. Die Tatsache eines Verlangens kann aber für sich, so wenig wie sonst irgend eine Tatsache, Verbindlichkeit begründen. In diesem Fall kann sich der Befehl nur dadurch Geltung verschaffen, daß seine Befolgung oder Nichtbefolgung mit gewissen Wirkungen verbunden ist, deren Erwartung einen Antrieb zur Ausführung des Befehls erzeugt. Auch in diesem Fall findet kein Gehorsam statt, und es ist für den Bestimmungsgrund der Handlung wiederum nur zufällig, daß sie befohlen wird; denn es sind nur die hinsichtlich dieser Tatsache zufälligen Folgen, deren Vorstellung den Grund zur Unterwerfung bildet. Während im ersten der beiden erörterten Fälle die Notwendigkeit der verlangten Handlung eingeschränkt ist auf die Bedingung, daß sie mit einem durch Einsicht erkennbaren Gebot übereinstimmt, ist sie im andern Fall auf die Bedingung eingeschränkt, daß sie mit dem subjektiven Interesse an den zu erwartenden Folgen übereinstimmt. Der Anspruch des Befehls auf Verbindlichkeit, und also die Vorstellung einer Pflicht des Gehorsams, enthält daher in beiden Fällen einen Widerspruch. Pflichterfüllung erfordert die bedingungslose Unterwerfung unter die eigene Einsicht in das Gute und schließt daher jede Rücksicht auf die Ubereinstimmung mit dem Verlangen anderer aus. Durch Erziehung zum Gehorsam zur Pflichterfül• lung erziehen zu wollen, widerspricht sich also selber. Hiermit ist die Unmöglichkeit des pädagogischen Autoritätsprinzips festgestellt, insofern nämlich, als weder die Tatsache eines Befehls, noch die Rücksicht auf die mit seiner Befolgung oder Nichtbefolgung verknüpften Folgen die Vorstellung seiner Verbindlichkeit begründen können.

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Pädagogik. §

152.

Das materiale Autoritätsprinzip. Unter diesen Umständen ist es schwer verständlich, wie überhaupt die Vorstellung entstehen kann, daß Gehorsam und Pflichterfüllung dasselbe seien. Daß die Identität von Gehorsam und Pflichterfüllung keine Identität der beiden Begriffe ist, geht aus dem bei einer solchen Gleichsetzung auftretenden Widerspruch hervor. Wenn also eine Identität von Gehorsam und Pflichterfüllung dennoch bestehen soll, so kann sie nur eine Identität des Umfangs der beiden Begriffe sein; d. h. sie kann nur darauf beruhen, daß die G e g e n s t ä n d e, die unter den einen und den anderen Begriff fallen, identisch sind. Das aber würde besagen, daß es ein synthetisches Gesetz geben muß, auf Grund dessen eine notwendige Verknüpfung jener beiden Begriffe stattfindet. Das Gesetz aber, das mit dem Begriff der Pflicht jenen andern Begriff verknüpft, der das Merkmal der unter den Begriff der Pflicht fallenden Gegenstände bildet, dieses Gesetz ist das S i t t e n g e s et z. Es müßte also der vom Begriff der Pflicht unabhängige Inhalt des Sittengesetzes sein, wodurch uns Gehorsam zur Pflicht gemacht würde. Dann und nur dann würde zwischen Gehorsam und Pflichterfüllung, trotz der Verschiedenheit der beiden Begriffe, eine notwendige Ubereinstimmung stattfinden. Um das Autoritätsprinzip von dem aufgewiesenen Widerspruch zu befreien, bleibt also nur der Ausweg, die Befolgung des Befehls selber zum Inhalt des Sittengesetzes zu machen. Denn nur unter der Voraussetzung, daß das durch eigene Einsicht erkennbare Gesetz seinerseits den Gehorsam gegenüber dem Willen einer Autorität gebietet, nur unter dieser Voraussetzung würde bedingungsloser Gehorsam mit dem Prinzip der ethischen Autonomie vereinbar und also auch moralisch sein können. Der Befehl würde zwar auch dann die Bedeutung einer Tatsache haben, die als solche nicht verbindlich ist, aber doch einer Tatsache, an die das objektive Sittengesetz die Pflicht des Gehorsams knüpft, so daß der Bestimmungsgrund zur Befol-

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gung des Befehls in der eigenen Einsicht des Handelnden liegen könnte, der Einsicht nämlich in die Pflicht des Gehorsams. Die hier zu Grunde gelegte Voraussetzung nenne ich das „materiale Autoritätsprinzip". Ich behaupte, daß das Autoritätsprinzip auch in dieser Gestalt unhaltbar ist, und zwar wiederum schon logisch unhaltbar. § 153.

Widerspruch jedes materialen Autoritätsprinzips. Um den Beweis dieser Behauptung möglichst übersichtlich zu machen, wird es gut sein, ihn in deutlich getrennte Schritte zu zerlegen. 1. Unmöglichkeit eines allgemeinen Gesetzes

der Verbindlichkeit von Befehlen überhaupt. Ein materiales Autoritätsprinzip wäre ein Sittengesetz, das durch seinen Inhalt zur Befolgung von Befehlen verpflichtet. Daß es ein solches Sittengesetz, sofern es allgemein zur Befolgung von Befehlen verpflichtet, nicht geben kann, folgt aus der Möglichkeit widerstreitender Befehle. Denn wenn widerstreitende Befehle verpflichtend wären, so wäre in einem solchen Fall eine bestimmte Handlung sowohl geboten als auch verboten; damit wäre aber Unmögliches verlangt. Es liegt im Begriff der Pflicht, daß eine Verpflichtung zum Unmöglichen selber unmöglich ist. Ein allgemeines Gesetz der Verbindlichkeit von Befehlen kann es also nicht geben. 2. Notwendigkeit eines a priori feststehenden Kriteriums der Autorität. Hieraus folgt, daß, wenn es dennoch eine Verbindlichkeit von Befehlen geben soll, das fragliche Gesetz eine Einschränkung erfordert in dem Sinn, daß diejenigen Befehle, deren Befolgung Pflicht ist, ausgezeichnet sein müssen durch irgend ein

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für uns erkennbares Merkmal. Das Sittengesetz müßte also ein Kennzeichen dafür enthalten, w e 1 c h e von den einander widerstreitenden Befehlen verbindlich sind. Da nun das Sittengesetz unabhängig von allen Tatsachen feststehen muß, wir also seine Erkenntnis nicht aus der Erfahrung schöpfen können, so müßte das Kennzeichen der verbindlichen Befehle a priori gegeben sein. Denn sollte selbst dieses Kennzeichen aus der Erfahrung entnommen werden können, so wäre es zwar möglich, es in der Erfahrung vorzufinden, aber wie sollte Erfahrung uns darüber belehren, daß es ein Kennzeichen der Verbindlichkeit ist? Woran können wir also die Autorität erkennen, d. h. jenen Befehlshaber, dessen Vorschriften notwendig mit dem durch das Sittengesetz objektiv Gebotenen zusammenfallen?

3. Unmöglichkeit eines sittlichen Kriteriums der Autorität. Eine solche notwendige Uberlieferung ist offenbar nur auf zwei Arten möglich. Entweder der Wille der Autorität richtet sich seiner Natur nach notwendig auf das Gute, oder es bestimmt sich umgekehrt das, was gut ist, notwendig nach dem Willen der Autorität. Im ersten Fall, wonach das Kennzeichen der Autorität darin besteht, daß ihr Wille auf das Gute gerichtet ist, ist das Merkmal, das die verbindlichen Befehle auszeichnet, s i t t 1 i c her Art. Nicht der Umstand, daß jemand etwas befiehlt, verpflichtet hiernach zum Gehorsam, sondern erst der Umstand, daß er das Gute befiehlt. Ob aber dieser Fall vorliegt, können wir nur wissen auf Grund einer Vergleichung dessen, was befohlen wird, mit dem, was gut ist, und also mit dem durch das Sittengesetz Gebotenen. Es müßte folglich ein von der Autorität unabhängiges Sittengesetz geben, das uns seinerseits erst das Kriterium für die Verbindlichkeit der von der Autorität erlassenen Vorschriften lieferte. Denn wenn die Verbindlichkeit von

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Befehlen nur darauf beruht, daß durch sie das Gute befohlen wird, so muß das, was gut ist, unabhängig von den Befehlen der Autorität feststehen. Wir würden uns sonst im Kreise drehen und kein Kriterium erhalten. Die Annahme, nach der die Autorität in sittlicher Hinsicht ausgezeichnet ist, führt also auf einen Widerspruch. Wenn die Verbindlichkeit der Befehle in ihrer Ubereinstimmung mit einem Sittengesetz beruht, dann kann nicht umgekehrt der Wille der Autorität das Kennzeichen des Guten sein, wie dies der Begriff der Autorität verlangt. 4. Die Macht als Kriterium der Autorität. Sollen wir also wirklich, wie es das Autoritätsprinzip verlangt, zur Bestimmung dessen, was gut ist, auf das Gebot einer Autorität angewiesen sein, so bleibt nur der andere Fall möglich, wonach es umgekehrt von der Ubereinstimmung mit dem Willen der Autorität abhängt, ob etwas gut oder schlecht ist. Dann aber kann das Kennzeichen der Autorität nicht darin liegen, daß ihr Wille auf das Gute gerichtet ist, da ja umgekehrt das, was gut ist, sich erst durch den Willen der Autorität bestimmen soll. Das Kennzeichen der Autorität kann daher nach dieser Voraussetzung kein sittliches Merkmal sein; denn das Kennzeichen des Sittlichen läge umgekehrt in dem Willen der Autorität. Der Wille der Autorität kann also nur durch ein physisches Kriterium als solcher ausgezeichnet sein. Nun läßt sich aber a priori keine andere physische Auszeichnung eines Willens denken, als die Auszeichnung auf Grund der Kraft, durch die sich der Wille Geltung zu verschaffen vermag. Nur nach dem Verhältnis der Macht also, die sie für ihre Durchsetzung aufzubieten vermögen, könnten Autoritätsansprüche gegeneinander abgewogen werden. Nur durch die Uberlegenheit ihrer Macht könnte sich die wahre Autorität vor der nur angemaßten auszeichnen. Die Autorität wäre hiernach nichts anderes als der Gewalthaber, d. h. der Inhaber der größten Macht. Und das Sittengesetz wäre kein anderes als das Gebot

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der Unterwerfung unter die überlegene Macht, nach dem Grundsatz: ,,Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat." Diese Voraussetzung bleibt als die einzige übrig, unter der man hoffen kann, das Autoritätsprinzip mit dem formalen Prinzip der ethischen Autonomie in Einklang zu bringen und es widerspruchslos durchzuführen. Diese Voraussetzung ist daher auch die einzige, unter der die zu erziehenden Menschen einen Sinn finden - oder wenigstens suche:r;i - können in dem, was ihnen die Methode des Autoritätsprinzips zumutet. Die Bereitschaft, sich der Gewalt zu fügen, Fügsamkeit also, muß ihnen gemäß dieser Voraussetzung als ihre höchste sittliche Pflicht erscheinen. 5. Widerspruch eines solchen Kriteriums. Unser Problem spitzt sich also auf die Frage zu, ob die Annahme eines Gesetzes, das zur Unterwerfung unter die höhere Gewalt verpflichtet, den Anforderungen der logischen Widerspruchslosigkeit genügt. Denn nur wenn es gelingt, in der Annahme eines solchen Gesetzes einen Widerspruch nachzuweisen, können wir, ohne die Grenzen der formalen Pädagogik zu überschreiten, die Kritik des pädagogischen Autoritätsprinzips bis zur Ausschließung auch seiner letzten denkbaren Formen durchführen. Der Inhalt des angenommenen Sittengesetzes läge in dem Gebot, sich der höheren Macht zu fügen, oder, was auf dasselbe hinausläuft, in dem Verbot, sich der höheren Macht zu widersetzen. Ein solches Gebot läßt sich aber ohne inneren Widerspruch nicht einmal denken; denn es liegt in dem Begriff der höheren Macht, daß ein wirksamer Widerstand gegen sie unmöglich ist. Das Verbot des Widerstandes gegen die höhere, d. h. der unsrigen überlegene Macht verbietet also Unmögliches. Es liegt andererseits im Begriff der Pflicht, daß nicht nur ihre Befolgung, sondern auch ihre Unterlassung möglich sein muß. Was zu tun ohnehin unvermeidlich ist, kann uns nicht als Pflicht

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geboten sein. Von solcher Art aber wäre das Gebot, sich der höheren Macht zu fügen. Hiermit ist nicht etwa nur bewiesen, daß das Gebot des Gehorsams nicht der Inhalt des Sittengesetzes ist, sondern darüber hinaus, daß eine solche Annahme schon mit dem Begriff eines Sittengesetzes unvereinbar ist. Womit denn in der Tat den Verfechtern des pädagogischen Autoritätsprinzips auch der letzte Ausweg abgeschnitten ist. § 154.

Abstrakter Beweis der Unmöglichkeit des materialen Autoritätsprinzips. Dieser Beweis der Unmöglichkeit des materialen Autoritätsprinzips ist zwar ohne Hinzuziehung einer Voraussetzung über den Inhalt des Sittengesetzes geführt worden, hat aber doch den Mangel, daß er von gewissen formalen Voraussetzungen Gebrauch macht, die nicht ohne weiteres schon mit dem analytischen Prinzip der ethischen Autonomie gegeben sind. Es wäre deshalb erwünscht, den Beweis dahin zu vereinfachen, daß er auch von diesen formalen Voraussetzungen unabhängig wird. Nehmen wir an, irgendeine Person sei durch das Sittengesetz als Autorität ausgezeichnet, so daß dem Gesetz zufolge ihre Befehle verbindlich sind. Nennen wir diese Person N, so würde sich das Sittengesetz kurz aussprechen lassen: N hat Befehlsgewalt. Betrachten wir den Inhalt dieses Satzes (A) näher! Wenn der Satz: A) N hat Befehlsgewalt, das Sittengesetz ausspricht, so muß er, als Gesetz, ohne Einschränkung gelten. Wenn er aber ohne Einschränkung gilt, so muß sich die Befehlsgewalt von N auch auf die Geltung des in diesem Satz selber ausgesprochenen Sachverhalts erstrecken. Dies heißt aber nichts anderes, als daß die Autorität vermöge ihrer uneingeschränkten Verfügungsmacht diese selber einschränken und uns somit von der Verbindlichkeit ihres Willens

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entbinden könnte. Wir würden damit eine Einschränkung des Autoritätsprinzips erhalten, im Widerspruch zur Allgemeingültigkeit des. Gesetzes. Um das Prinzip von diesem Widerspruch zu befreien, bliebe nur übrig, die Geltung des Satzes A der Befehlsgewalt von N zu entziehen und also das Gesetz dahin einzuschränken, daß N Befehlsgewalt habe über alles, außer über seine eigene Befehlsgewalt. Wir kämen damit zu einem neuen Satz: B) N hat Befehlsgewalt außer über A. Außer über A, daß heißt: Die Geltung von Aist seiner Befehlsgewalt entzogen. A gilt also unbeschränkt, und wir kommen somit auf den Satz zurück, der gerade den Widerspruch erzeugte, und den wir um dieses Widerspruchs willen einschränken wollten. Sehen wir aber selbst davon ab, so wäre doch nunmehr B der Willkür von N unterworfen. Wir müßten daher auch B der Befehlsgewalt entziehen. Für den so entstehenden Satz: C) N hat Befehlsgewalt außer über B, würde aber wieder dasselbe gelten wie für den vorhergehenden und so auch für jeden weiteren, den wir durch die Fortsetzung dieses Verfahrens erhielten. Jeder Satz, den wir ausnehmen, würde eben dadurch, daß wir ihn ausnehmen, auf den Widerspruch zurückführen. Und da infolgedessen die Reihe dieser Ausnahmen ins Unendliche führen würde, so würde sich das vermeintliche Sittengesetz nicht einmal aussprechen lassen. So liegt denn der logische Widerspruch klar zu Tage, der dem materialen Autoritätsprinzip unvermeidlich anhaftet. § 155.

Gefahr jeder dogmatischen Sittenlehre. Wenn wir die pädagogischen Folgen ins Auge fassen, zu denen die Anwendung des Autoritätsprinzips führt, so ist zunächst klar, daß sich unter diesen Folgen die befinden werden, die jede dogmatische Aufstellung sittlicher Vorschriften mit sich bringt. Die Ethik des Autoritätsprinzips ist nämlich notwendig

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eine dogmatische Ethik, d. h. eine solche, die keine Einsicht in die Gründe der Verbindlichkeit ihrer Vorschriften zuläßt. Die Gefahr einer auf dogmatischer Grundlage aufgebauten Pädagogik besteht darin, daß das vernünftige Wesen früher oder später, wenn sich seine Einsicht entwickelt, zum ethischen Skeptizismus gedrängt wird, d. h. dazu, an der Verbindlichkeit ethischer Anforderungen überhaupt irre zu werden. Denn wer keine anderen ethischen Normen kennt als dogmatisch aufgestellte Vorschriften, der wird unvermeidlich, sobald er einmal die Grundlosigkeit dieser Vorschriften durchschauen lernt, jeden sittlichen Maßstab verlieren und alles Vertrauen auf ethische Grundsätze überhaupt aufgeben. So schließen die Skeptiker aller Zeiten aus der Grundlosigkeit der dogmatischen Sittenlehre, der einzigen Sittenlehre, die sie kennen, auf die Nichtigkeit ethischer Verbindlichkeit überhaupt. § 156.

Uberredung als Methode des pädagogischen Autoritätsprinzips. Eine weitere pädagogische Folge der Anwendung des Autoritätsprinzips besteht in der Einwirkung auf die Wahrhaftigkeit des zu erziehenden Menschen. Die Methode des Autoritätsprinzips widerstreitet unmittelbar der Anforderung der sittlichen Wahrhaftigkeit und damit einer Grundbedingung der Pflichterfüllung überhaupt. Sittliche Wahrhaftigkeit ist der Wille, sich über keinen Umstand zu täuschen, dessen Kenntnis zur Bestimmung der Pflicht und infolgedessen auch zu deren Erfüllung notwendig ist. Daher folgt aus dem bloßen Begriff der Pflicht, daß, wenn es überhaupt eine Pflicht gibt, sittliche Wahrhaftigkeit selber Pflicht ist. Sehen wir ganz davon ab, daß die Vorstellung einer Pflicht des Gehorsams widerspruchsvoll ist und daß der zu Erziehende also von seinem Erzieher belogen wird, wenn dieser in ihm die Vorstellung einer solchen Pflicht erweckt - das betrifft nämlich

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an und für sich nur die Wahrhaftigkeit des Erziehers - , so müßten wir doch darauf Gewicht legen, daß der zu Erziehende nicht von der Richtigkeit jener Vorstellung überzeugt, sondern nur zum Glauben an sie überredet wird. U b er r e dun g ist die Erweckung von Meinungen, ohne daß eine Einsicht in deren Gründe gewährt wird. Es kommt also dabei nicht auf die objektive Richtigkeit oder Falschheit der fraglichen Meinung an, sondern nur auf die Art, sie zu übermitteln. Die Methode der Uberredung ist aber nicht nur als Lüge zu verurteilen, wo die erweckte Meinung unwahr ist, und als Bevormundung zu verwerfen, wo sie wahr ist, sondern sie ist allemal für den andern, auf den sie angewandt wird, unmittelbar eine Verführung zur Pflichtverletzung. Denn die sittliche Wahrhaftigkeit fordert von uns Aufrichtigkeit gegen uns selber hinsichtlich der Vorstellung, die wir uns von unseren Pflichten bilden, und damit Widerstand gegen die Versuchung, grundlose sittliche Meinungen, zu denen wir überredet werden sollen, anzunehmen. Die Uberredung als Methode der Erziehung ist infolgedessen eine Verführung zum Selbstbetrug. Sittliche Wahrhaftigkeit ist aber nicht nur ein Erfordernis der Pflichterfüllung, sondern bereits die Grundbedingung dafür, daß der zu Erziehende für pädagogische Einwirkungen überhaupt offen ist. Denn wo sie fehlt, besteht keine Zugänglichkeit für Gründe. Wo aber die Zugänglichkeit für Gründe fehlt, besteht keine Möglichkeit der sittlichen Belehrung und folglich erst recht keine Möglichkeit der Erziehung. Eine Methode, die damit anfängt, die sittliche Wahrhaftigkeit der zu erziehenden Menschen zu untergraben, zerstört das Fundament, auf dem allein eine erzieherische Wirksamkeit aufbauen könnte.

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§ 157.

Notwendigkeit des Wunderglaubens für die Durchführbarkeit des Autoritätsprinzips. Es ist nichts anderes als eine verwickeltere und also künstlichere Anwendung derselben Methode und insofern auch nur eine Steigerung der mit dieser Methode verbundenen Unwahrhaftigkeit, wenn der Erzieher seine eigene Autorität ergänzt oder ersetzt durch eine andere, höhere, sei es auch durch die höchste Autorität, die eines göttlichen Gesetzgebers. Hier genügt nicht die Uberredung von der Verbindlichkeit der Befehle, sondern es wird darüber hinaus noch ein anderer, besonderer Glaube gebraucht, um die Vorstellung von der Verbindlichkeit einer religiös sanktionierten Autorität hervorzubringen, von der dann, als der höchsten Autorität überhaupt, die Autorität des Erziehers nur als entlehnt vorgestellt werden kann. Da Autoritätsansprüche nur nach dem Grad der Macht derer, von denen sie ausgehen, abgewogen werden können, so kann die höchste Autorität nur die des mächtigsten Wesens sein und also in der Tat nur die des allmächtigen oder göttlichen Wesens. Daher wird hier außer dem ursprünglichen Glauben an die Verbindlichkeit der Befehle des Erziehers noch ein eigener, neuer Glaube erforderlich, nämlich der Glaube an gewisse theoretische Behauptungen, aus denen sich die sittlichen Gebote erst ableiten sollen. Denn während der zu erziehende Mensch von der Existenz des Erziehers und von der Macht, die dieser über ihn hat, nicht überredet zu werden braucht, da sie ihm vor Augen stehen und ihm nötigenfalls mit beliebiger Deutlichkeit spürbar gemacht werden können, kann er sich von der Existenz einer übernatürlichen Autorität und - was mehr ist - von den Tatsachen, wodurch diese dem Menschen angeblich ihren Willen offenbart hat, nicht durch den Augenschein überzeugen. Der Glaube daran muß ihm künstlich eingepflanzt werden. Denn damit sich der Mensch dem Willen eines übernatürlichen Machthabers unterwerfen kann, genügt nicht der Glaube an dessen Dasein, sondern es bedarf auch des Glaubens an die Tatsachen,

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durch die der Wille dieses Gewalthabers den Menschen offenbar geworden ist. Die Tatsachen aber, durch die sich der Wille der höchsten Autorität kundtut, können nur solche sein, durch die ihre allem möglichen Widerstand überlegene Macht in Erscheinung tritt. Denn nur durch die größte mögliche Macht dokumentiert sie ihren Charakter als höchste Autorität. Hieraus folgt aber, daß, da in der Natur zu jeder Kraft eine größere Gegenkraft möglich ist, die höchste Autorität eine allen Naturkräften überlegene und also unendliche Macht haben muß, die sich als solche nur durch ihre Uberlegenheit über jede in der Natur mögliche Kraft und also nur in der Durchbrechung der Naturgesetze, d. h. durch W und e r , offenbaren kann. Wenn aber auch die Tatsachen, die als Wunder gelten, dem Augenschein zugänglich sein mögen, so können sie in ihrer Eigenschaft als Wunder doch nur geglaubt werden, da sich weder durch die Sinne wahrnehmen, noch mit dem Verstande auffassen läßt, daß für eine bestimmte Erscheinung eine natürliche Ursache ausgeschlossen sein soll. Es ist hier also ein Wunder g 1 au b e nötig, - ein Glaube, dessen Annahme alle mögliche Einsicht übersteigt und darum nur durch Künste der Uberredung erzwungen werden kann. Und zwar ist hierzu eine weit künstlichere Uberredung nötig als jene erste von der Autorität des Erziehers, eben weil uns hier aller Sinnenschein verläßt. Um diese Uberredung dennoch durchzuführen, dürfen keine Anstalten gescheut werden. Denn da es hier das Seelenheil des Menschen gilt, nach den Worten: ,,Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden; wer aber nicht glaubet, der wird verdammet werden", so ist allein dadurch schon jedes Mittel, die Menschen eines solchen Gutes teilhaftig werden zu lassen, gerechtfertigt, ja viel mehr: es ist durch die Menschenliebe unmittelbar geboten. Es kommt hier also alles darauf an, eine eigene Methode auszubilden, mit deren Hilfe man diesen Wunderglauben erzeugen, und das heißt: der sich widersetzenden Wahrheitsliebe des zu erziehenden Menschen Herr werden kann. Denn diese fordert von ihm, einen solchen Glauben nicht anzunehmen, weil

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er nur auf Uberredung und nicht auf Uberzeugung beruhen kann. Die Kunst der Anwendung des pädagogischen Autoritätsprinzips besteht also darin, einen eigenen Mechanismus zu erfinden, der zur Uberwindung des Antriebs der inneren Wahrhaftigkeit hinreichend starke Antriebe in Bewegung setzt. § 158.

Die Pflicht zu glauben. Das allein sichere Mittel, den Antrieb zur sittlichen Wahrhaftigkeit zu überwinden, besteht darin, daß man dem zu erziehenden Menschen die Annahme jenes Wunderglaubens ihrerseits zur Pflicht macht. Wie sollte es auch nicht einleuchten, daß dasjenige, von dem alle Möglichkeit abhängt, ein sittliches Wesen zu werden, für uns in der Tat Pflicht sei. Alle Bedenken, die sich sonst von seiten der Wahrhaftigkeit dagegen aufbäumen könnten, einer unwahrscheinlichen, ja evidenter Weise unwahren Behauptung Glauben zu schenken, müssen ihre Kraft und Würde verlieren, wenn es Pflicht wird, sie verstummen zu lassen und jenen Glauben anzunehmen. Diese Vorstellung der Glaubenspflicht ist aber auch das einzige Mittel, die aus jenen Bedenken entspringenden Hemmungen gegen den zugemuteten Selbstbetrug unwirksam zu machen. Während es nämlich zur wirksamen Bekämpfung jedes anderen, auf einem nur subjektiven Interesse beruhenden Antriebes genügen würde, ihm an irgend einem sonstigen, hinreichend starken Interesse ein Gegengewicht zu bieten, versagt dieses Mittel hier, wo es sich darum handelt, einen Antrieb zu bekämpfen, der seine Kraft aus dem Pflichtbewußtsein schöpft und der daher aus demselben Grunde, aus dem er überhaupt gefährlich werden kann, die Kraft besitzt, jedem ihm widerstreitenden Interesse ein Gegengewicht zu bieten. Von solcher Art ist der Antrieb der sittlichen Wahrhaftigkeit, der, sofern er seinerseits aus dem Bewußtsein der Pflicht entspringt, nicht auf ein ihm an und für sich zukommendes Maß der Stärke beschränkt ist, sondern sich der Stärke der ihn erst hervorrufen-

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den Gegenantriebe anpassen kann, auf deren Uberwindung er gerichtet ist. Auch ein solcher Antrieb kann zwar im einzelnen Fall von einem stärkeren Interesse überwältigt werden, aber es gibt außer dem sittlichen Antrieb selber keinen anderen, der seiner Natur nach die Möglichkeit einschließt, sich zu der für die Uberwindung des jeweiligen Gegenantriebes erforderlichen Stärke zu erheben. Diese Möglichkeit zu behaupten, wäre allerdings unzulässig, wenn wir dafür auf die psychologische Erfahrung angewiesen wären. In der Tat steht sie aber unabhängig von jeder Erfahrung fest. Sie ist nämlich eine einfache Folge aus dem Begriff der Pflicht. In diesem Begriff wird bereits die Möglichkeit der Pflichterfüllung vorausgesetzt, also auch die Möglichkeit der Uberwindung jedes der Pflichterfüllung entgegenwirkenden Antriebes und damit die Möglichkeit, den sittlichen Antrieb zum stärksten zu machen. Es ist die ausschließliche Eigentümlichkeit des sittlichen, nämlich auf die Pflichterfüllung gerichteten Antriebs, daß er das Bewußtsein eines unendlichen, d. h. allen möglichen Gegenantrieben überlegenen Vorzugs bei sich führt, eines Vorzugs, dessen Vorstellung unmittelbar einen Antrieb bilden kann, die Stärke des sittlichen Antriebs bis zu dem für die Uberwindung der jeweiligen Gegenantriebe hinreichenden Maße zu steigern. Wenn aber dies feststeht, welches Mittel gibt es dann, dessen sich die Pädagogik des Autoritätsprinzips als einer Schutzvorrichtung bedienen könnte, um die Annahme jenes Wunderglaubens gegen die aus dem Pflichtbewußtsein erwachsenden Hemmungen zu sichern? Da die Eigenart, wie sie von dem hier gesuchten Gegenantrieb verlangt wird, einzig dem aus der Vorstellung der Pflicht erwachsenden Antriebe zukommt, muß jener Gegenantrieb dadurch erzeugt werden, daß die Vorstellung einer der Pflicht der sittlichen Wahrhaftigkeit entgegengesetzten Pf 1 ich t zur Annahme jenes Glaubens erweckt wird. Denn da die Vorstellung der Pflicht das einzige Hindernis bildet, dem gegenüber auch die höchste Würde eines Antriebes machtlos

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wird, ist unter allen Versuchungen zur Pflichtübertretung die jeder sittlichen Hemmung allein standhaltende die Uberredung, daß die vorgestellte Pflicht nur eingebildet sei und daß ihrer Erfüllung nicht etwa nur ein subjektives Interesse, sondern vielmehr eine objektive Notwendigkeit, also selber eine Pflicht, gegenüberstehe. So kann denn auch der sittlichen Wahrhaftigkeit kein noch so starkes subjektives Interesse mit Sicherheit ein Gegengewicht bieten, sondern allein die Vorstellung der Pflicht, die aus der sittlichen Wahrhaftigkeit entspringenden Bedenken zurückzustellen. In einem solchen Zustand, wo das Pflichtbewußtsein mit sich selber in Widerstreit gerät, nämlich das Bewußtsein der Pflicht der inneren Wahrhaftigkeit mit dem Bewußtsein der Pflicht, ohne Gründe dennoch zu glauben, wo also Für und Wider einander gerade das Gleichgewicht halten, kurz: im Zustand der Gewissensnot, ist der Mensch für jeden weiteren Antrieb empfänglich, der von außen her das Gleichgewicht durch den mindesten Zuwachs eines neuen Interesses aufhebt. In diesem Zustand ist er für jeden Anstoß dankbar, der ihm überhaupt zu einem Entschluß verhilft und ihn dadurch aus seiner qualvollen Lage befreit. In diesem Zustand wird er daher bereit sein, zu Gunsten irgend eines Sinnenreizes seine Vernunft gefangenzugeben. Das „sacrificium intellectus", das Opfer des Verstandes, erweist sich somit als die erste und vornehmste Pflicht, zu deren Erfüllung die Pädagogik des Autoritätsprinzips ihren Zögling bewegen muß, wenn ihr Werk gelingen soll. Daher ist es in der Tat nichts anderes als die einleuchtendste Konsequenz aus dem pädagogischen Autoritätsprinzip, eine Konsequenz, der man sich nicht entziehen kann, ohne die Pädagogik des Gehorsams selber von Grund aus abzulehnen, wenn in dem großartigsten und in seiner Folgerichtigkeit imponierendsten System, das je auf dieses Prinzip gegründet worden ist, der Satz gilt: ,,Wir müssen, um in allem sicher zu gehen, immer festhalten: dasjenige, was unsern Augen weiß erscheint, sei schwarz, sobald die hierarchische Kirche dies so entscheidet."

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159. Provisorische Bedeutung der Methode des Gehorsams mangels der für die Anwendung einer anderen Methode erforderlichen Reife. Es bleibt nach dem bisher Gesagten gegen die völlige Ausschließung aller Autoritätspädagogik nur noch ein einziges Bedenken bestehen. Man könnte auf den Gedanken kommen, die Bedeutung der Pädagogik des Gehorsams dahin eimmschränken, daß sie nur den Anspruch macht, eine provisorische Erziehungsmethode zu sein, d. h. nur Anwendung zu finden, wo die zur Anwendung des Prinzips der Autonomie nötige geistige Reife bei dem zu Erziehenden noch nicht vorhanden ist. Sobald diese eingetreten sei, müsse eine andere, der Fähigkeit zur Selbstbestimmung entsprechende Methode an die Stelle der Autoritätspädagogik treten. Mit diesem Einwand wird vorausgesetzt, daß die Menschen zunächst nicht das nötige Verständnis für eine an ihre Vernunft appellierende Methode besäßen und deshalb bis auf weiteres nur nach der Methode des Autoritätsprinzips erzogen werden könnten. Da ist denn zunächst die Frage nicht ohne Interesse, ob die Methode der Autoritätspädagogik ihrerseits leichter verständlich ist als die von ihr verworfene, verständlich nicht etwa hinsichtlich der Zweckmäßigkeit zur Erreichung sonstiger Absichten, sondern verständlich hinsichtlich der Vorschriften, die der Erzieher seinem Zögling erteilt. Auf diese Frage ist nur eine einzige Antwort möglich, nämlich die, daß die Methode des Autoritätsprinzips überhaupt nicht und für niemanden verständlich sein kann und also erst recht nicht für den noch unentwickelten Verstand eines Kindes. Denn das Prinzip dieser Methode verstehen, hieße verstehen, wie die Uberlegenheit an Macht zu dem Anspruch auf Verbindlichkeit berechtigen kann. Dies zu verstehen, wird auf ewig den Witz auch des Weisesten übersteigen. Antwortet man hierauf, daß die fragliche Methode gar nicht den Anspruch erhebe, von demjenigen, auf den sie angewandt wird, verstanden zu werden, da der Erfolg davon nicht abhänge, §

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so hat man alles zugestanden, worauf es hier ankommt, nämlich daß das Autoritätsprinzip nicht das Prinzip einer Erziehungsmethode sein kann. Eine Methode, die sich damit begnügt, blinden Gehorsam zu erzielen, eine solche Methode kann zwar recht wohl zur Abrichtung taugen, aber es widerspricht ihrem Prinzip, daß sie zur Erziehung dienen könne - und mehr sollte hier nicht behauptet werden. Lassen wir aber selbst diese Frage auf sich beruhen, so werden wir billiger Weise die andere Frage stellen, woher die einstweilen noch vermißte Reife kommen soll, die einmal erlauben wird, von der provisorischen zur endgültigen Methode der Erziehung überzugehen. Im Sinne der Pädagogik des Gehorsams müßte man annehmen, daß deren Methode die geeignete Vorbereitung für die spätere geistige Reife darstellt. Durch den Gebrauch dieser Methode wird aber der Entwicklung zur geistigen Reife gerade entgegengewirkt, und zwar in einer so planmäßigen und sicheren Weise, wie sie nicht besser erfunden werden könnte, wenn man geradezu die Absicht hätte, die Entwicklung zur geistigen Reife zu unterbinden. Es ist in der Tat richtig, daß die einmal nach dieser Methode behandelten Menschen schwerlich die Reife des Geistes zeigen werden, die von der Anwendung einer andern Methode Erfolg versprechen läßt. Deshalb hat die Autoritätspädagogik einen Schein von Recht, wenn sie ihre Methode durch Berufung auf die Tatsachen rechtfertigt, die den Erfolg einer andern Methode ausschließen. Nur sind es die Pädagogen des Autoritätsprinzips selber, die durch ihre Methode die Tatsachen so gestaltet haben, daß diese die fragliche Behauptung wahr machen. Wer daher den Grund dieser Wahrheit kennt, den jene wohlweislich verschweigen, um sich mit Erfahrung und Menschenkenntnis zu brüsten, der kann auch ohne alle Erfahrung und Menschenkenntnis vorhersagen, daß Menschen, die einmal durch eine verkehrte Methode künstlich verdorben worden sind, nicht zur Anwendung einer besseren Methode taugen. Nur wird er daraus nicht den Schluß ziehen, daß gerade die Methode, die das Dbel verursacht hat, das geeignete Mittel sei, ihm abzuhelfen.

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§

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Unkorrigierbarkeit des konsequenten Autoritätsglaubens durch nachträgliche Belehrung. Nicht genug aber, daß die Methode des Autoritätsprinzips den Menschen nicht zur geistigen Reife entwickelt, sie vereitelt sogar die Möglichkeit, das von ihr angerichtete Ubel nachträglich durch eine andere Methode wieder gutzumachen. Wo der Verstand des Menschen nur unentwickelt bleibt, da hat man es mit bloßer Unbildung zu tun oder mit Roheit,. einem Zustand, der für den Menschen nicht die Möglichkeit ausschließt, später einmal zur Bildung zu gelangen. Wo aber der Verstand durch moralische Perversion verbildet worden ist, d. h. wo der vernünftige Inhalt des Pflichtbewußtseins künstlich in sein Gegenteil verkehrt worden ist, da ist die Bedingung der Möglichkeit freier Geistesentwicklung und damit die Möglichkeit der Bildung selber vernichtet. Der Pädagoge des Autoritätsprinzips erweckt in seinem Zögling das Bewußtsein, daß Aufklärung sündhaft sei, und bewirkt hierdurch, daß sich dessen Wille gegen alle Einflüsse abschließt, die der Aufklärung des Geistes dienen. Die Folge davon ist, daß ein solcher Einfluß auch später nicht zur Geltung kommen kann, so daß der Mensch in der Tat für alle wirkliche Erziehung unempfänglich wird. Wo das freie Denken mit der Autoritätsmoral in Konflikt kommt, die ja nicht eingesehen, sondern nur blind geglaubt werden kann, da ist dieses freie Denken als sündhaft gebrandmarkt und damit von Anfang an zum Unterliegen verurteilt. Durch den konsequenten Autoritätsglauben wird daher der geistig geknechtete Mensch zugleich aller Möglichkeit beraubt, sich durch Gründe aus seiner Knechtschaft zu befreien. Man darf hier nämlich die psychologischen Bedingungen nicht außer acht lassen, von denen die Möglichkeit abhängt, durch den Gebrauch von Gründen etwas auszurichten. Wo diese Bedingungen einmal aufgehoben worden sind, da verliert alle Kunst im Gebrauch von Gründen ihre Kraft. Darum ist es ein ebenso phantastisches wie gefährliches

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Vertrauen auf die Macht der Wissenschaft, zu meinen, man könnte den im Autoritätsglauben verkümmerten Menschen später durch wissenschaftliche Belehrung geistig wieder freimachen. Wo einmal in der Erziehung die Moral preisgegeben worden ist, da fruchtet auch wissenschaftliche Belehrung nicht mehr. Der Autoritätsglaube mag allmählich, unter Einschränkung seines faktischen Gebrauchs, durch sinnliche Ablenkungen und Gegenwirkungen, zum Schwinden gebracht werden. Er kann aber nie durch wissenschaftliche Gründe erschüttert oder umgestoßen werden. Derartiges zu erstreben wäre ein Versuch mit durchaus untauglichen Mitteln. Denn was hier in Frage steht, ist nicht Sache der Einsicht, sondern des Willens. Und nicht nur die Belehrung durch objektive Gegengründe versagt hier, sondern auch die psychologische Aufdeckung des Mechanismus der Uberredung, der den Autoritätsglauben erzeugt. Alle solchen Versuche appellieren an die eigene Einsicht und stützen sich auf Gründe, arbeiten also mit Mitteln, die da, wo gerade die Vernunftwidrigkeit als Kriterium der Wahrheit gilt, schon an und für sich von jeder Wirksamkeit ausgeschlossen sind. Je mehr die Vernünftigkeit eines solchen Grundes einleuchtet, desto mehr wird er dem im Autoritätsglauben befangenen Menschen als eine Eingebung des bösen Prinzips erscheinen und darum mit desto größerem sittlichen Abscheu abgelehnt werden. Nur insofern, als der Appell an Gründe durch eine - logisch zufällige - psychologische Wirkung die suggestive Macht der Autorität schwächen kann, nur als ein mechanisch wirkendes Gegenmotiv also, kann der Hinweis auf Gründe hier etwas ausrichten. Man kann durch Verstandesgründe zwar Verstandesgründe bekämpfen und widerlegen; hier aber handelt es sich um Motive, die durch eine planmäßig geübte Suggestion und Gewöhnung in das Gefühlsleben der Menschen eingesenkt worden sind in eine Tiefe, in die die Kritik des Verstandes nicht mehr hinableuchtet. Gesetzt also selbst, daß eine logische Widerlegung des Autoritätsprinzips glückt und Einsicht in seine Grundlosigkeit oder Falschheit bewirkt, so ist doch damit das Entscheidende

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noch nicht erreicht. Denn es käme darauf an, diese Einsicht für den Willen des Menschen bestimmend zu machen, um die praktische Herrschaft des Autoritätsglaubens zu brechen. Ein im Autoritätsglauben aufgezogener Mensch wird aber durch eine solche Belehrung zunächst nur in einen inneren Zwiespalt versetzt zwischen einer gefühlsmäßig und einer verstandesmäßig geltenden Uberzeugung. Das Gefühl wird in ihm noch keineswegs dadurch zerstört, daß das Gewicht der Gründe den Glauben an die logische Berechtigung des Gefühls aufhebt. Die Kraft des Gefühls, und damit die Stärke seines Einflusses auf den Willen, hängt nicht ohne weiteres davon ab, ob der Verstand die Berechtigung dieses Gefühls anerkennt oder sie ihm abspricht. Die Entwicklung des Gefühls braucht also keineswegs Schritt zu halten mit der Entwicklung des logischen Denkens. Daher dürfen wir uns nicht wundern, wenn hinreichend früh erworbene und durch Gewohnheit hinreichend befestigte Gefühlsdispositionen durch Verstandesgründe nicht mehr korrigiert werden können. Sie könnten durch nichts anderes als durch entgegengesetzte und gleich starke Gefühle in ihrer Wirksamkeit aufgehoben werden. Aber für solche Gefühle besteht in dem fraglichen Zustand keine Empfänglichkeit mehr. Wo bestimmte Motive durch hinreichend gefestigte Gewohnheit herrschend geworden sind, da läßt sich ihre Macht nicht mehr brechen. Der Geist hat seine Bildungskraft verloren. § 161.

Autorität und Beispiel. Wir könnten die Kritik des pädagogischen Autoritätsprinzips verlassen, wenn es nicht wichtig wäre, diese Kritik selber vor gewissen Mißdeutungen zu schützen. Man muß sich nämlich davor hüten, diese Kritik auf Methoden auszudehnen, die sich nur dem oberflächlichen Anschein nach mit dem Gebrauch des Autoritätsprinzips decken, und deren Verwechslung mit der Anwendung dieses Prinzips dazu führt, daß man entweder mit dem Autoritätsprinzip andere, berechtigte Er-

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ziehungsmethoden verwirft oder, umgekehrt, mit diesen zusammen das Autoritätsprinzip zuläßt. Der Gebrauch des Autoritätsprinzips in der Erziehung muß zunächst unterschieden werden vom Gebrauch des Bei spie 1 s. Es gibt eine pädagogische Bedeutung des Beispiels. Diese beruht darauf, daß das Beispiel, indem es uns vor Augen tritt, unsere Einsicht in seine ethische Bedeutung weckt. Seine ethische Bedeutung aber besteht darin, daß es den Fall der Anwendung einer ethischen Norm darstellt. Wenn also das Beispiel über• haupt als ein solches verstanden werden soll, und um so mehr, wenn es, seinem Zwecke gemäß, pädagogisch wirksam werden soll, so bedarf es dazu der eigenen ethischen Einsicht des zu Erziehenden. Denn das Beispiel wirkt auf den Menschen nicht durch das, was es i s t, sondern durch das, als was es ver standen wird. Um also seinen pädagogischen Zweck zu erfüllen, muß das Beispiel als Anwendungsfall eines ethischen Gesetzes erkannt werden. Die Möglichkeit einer solchen Bedeutung des Beispiels beruht darauf, daß das Bewußtsein um den einzelnen Fall der Anwendung dem Bewußtsein um das allgemeine Gesetz vorausgeht. Es ist dies eine Folge der Evidenzlosigkeit der ethischen Erkenntnis. Da das allgemeine Gesetz nicht selber anschaulich erkennbar ist, gewinnt man die Einsicht in seine Gültigkeit nur dadurch, daß man von anschaulich erkannten Fällen seiner Anwendung ausgeht. Dadurch bestimmt sich der Nutzen des Bei.spiels. Er kann also nur darin liegen, daß das Beispiel den Menschen jenes allgemeine Gesetz ins Bewußtsein ruft, so daß auch sie ihrerseits dieses Gesetz in entsprechenden Fällen anwenden. Diese Bedeutung des Beispiels geht aber gerade verloren, wenn es sich den Charakter unmittelbarer Verbindlich• keit anmaßt, d. h. wenn es mit dem Anspruch auf Nachahmung auftritt, ohne Rücksicht darauf, ob es als Anwendungsfall eines praktischen Gesetzes verstanden wird. Denn dann tritt das Beispiel an die Stelle des Gesetzes, und der Gebrauch des Beispiels wird zu einer Anwendung des Autoritätsprinzips. Die Gefahr einer solchen Verwechslung des Beispiels mit

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der Norm muß daher jederzeit von dem Erzieher bedacht werden. Er muß im Gebrauch des Beispiels die Grenzen innehalten, durch deren Uberschreitung er in dem zu erziehenden Menschen die Vorstellung einer Autorität erwecken würde. Welches im einzelnen die Bedingungen sind, unter denen der Gebrauch des Beispiels von der Gefahr einer solchen Wirkung frei ist, läßt sich nicht a priori feststellen. Die Untersuchung dieser Bedingungen muß der pädagogischen Psychologie überlassen bleiben. Hier ergibt sich ein Fall, der deutlich zeigt, daß die pädagogische Psychologie zur Lösung ihrer Aufgaben darauf angewiesen ist, sich über diese Aufgaben von der philosophischen Pädagogik orientieren zu lassen. §

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Autorität und Vertrauen. Wie der Gebrauch der Autorität unterschieden werden muß von dem des Beispiels, so auch von dem des Vertrauens. Das Vertrauen zum Erzieher erfordert keineswegs bedingungslosen Gehorsam, sondern es schränkt diesen vielmehr ein auf die Bedingung der Ubereinstimmung des eigenen Urteils des zu Erziehenden mit dem des Erziehers. Es scheint zwar auf den ersten Blick, als ob da, wo das Vertrauen eine Rolle spielt, von der Vergleichung des fremden Urteils mit dem eigenen gerade Abstand genommen wird. Denn unser Vertrauen zu einem Menschen bekundet sich eben darin, daß wir uns auf seine Ein• sieht verlassen, wo die unsrige nicht ausreicht. Gehen wir aber diesem Verhältnis tiefer auf den Grund, so zeigt sich, daß in Wahrheit das Vertrauen nur einen besonderen Fall der Anwendung des eigenen Urteils darstellt; denn derjenige, der auf die Einsicht des andern vertraut, tut dies nur insofern, als er da, wo sein eigenes Urteil zur sicheren Entscheidung nicht hinreicht, von der Wahrscheinlichkeit der größeren Sicherheit des fremden Urteils Gebrauch macht. Diese Wahrscheinlichkeit der größeren Sicherheit des fremden Urteils muß aber ihrerseits auf Grund eines eigenen Urteils angenommen werden, wenn wirk-

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lieh Vertrauen auf die Wahrheit des fremden Urteils vorliegen soll und nicht ein blinder Glaube an seine Autorität. Diese Grenze zwischen Autorität und Vertrauen ist so scharf, daß die Möglichkeit, Vertrauen zu gewinnen und festzuhalten, gerade die Ausschließung jeglichen Gebrauchs des Autoritätsprinzips fordert. Vertrauen wird verdient durch Wahrhaftigkeit und Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht des andern. Der autoritative Anspruch aber verletzt sowohl die Anforderung der Wahrhaftigkeit wie das Selbstbestimmungsrecht des andern. Er entzieht also dem Vertrauen gerade den Grund. Man darf sich daher durch die Berechtigung des Gebrauchs des Vertrauens in der Erziehung nicht bestechen lassen, dem pädagogischen Autoritätsprinzip wieder eine Hintertür zu öffnen. Und man muß um SQ mehr davor auf der Hut sein, als wirklich die Gefahr droht, daß der Gebrauch des Vertrauens in den Gebrauch des Autoritätsprinzips ausartet. Diese Gefahr, daß der Gebrauch des Vertrauens in den des Autoritätsprinzips ausarten könnte, hat ihren Grund auf beiden Seiten, sowohl auf der Seite des Erziehers wie auf der Seite des zu Erziehenden. Sie hat ihren Grund zunächst in der für den Erzieher selber naheliegenden Versuchung, das ihm entgegengebrachte Vertrauen zu mißbrauchen, um sich zur Autorität aufzuwerfen. Denn es ist allemal leichter und bequemer, die Menschen zu gefügigen Sklaven und willenlosen Werkzeugen zu erniedrigen, als sich den hohen Anforderungen, durch deren Erfüllung allein man des Vertrauens der Menschen würdig wird, zu unterwerfen. Dieser Mißbrauch wird ferner dadurch begünstigt, daß ihm von seilen des zu Erziehenden eine entsprechende Neigung entgegenkommt. Nicht nur bedarf man ohnehin schon einer gewissen Reife des Verstandes, um überhaupt einen so feinen Unterschied wie den zwischen Autorität und Vertrauen mit hinreichender Sicherheit anzuwenden, sondern durch den Gebrauch des Vertrauens entsteht auch unvermerkt eine Gewohnheit, sich auf das fremde Urteil zu verlassen ohne Rücksicht darauf, ob dies noch gerechtfertigt ist. Und diese Gewohnheit wird um so leichter das eigene Verantwortungs-

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gefühl abstumpfen, je verlockender es ist, die Verantwortung in die Hände eines andern zu legen, um der aus eigener Prüfung und Verantwortung erwachsenden Mühen und Sorgen enthoben zu sein. So entsteht hier wieder eine höchst wichtige Aufgabe, deren Lösung die philosophische Pädagogik nicht selber vornehmen kann, sondern die sie von der pädagogischen Psychologie fordern muß, die Aufgabe nämlich, die Bedingungen im einzelnen zu bestimmen, deren Innehaltung den Gebrauch des Vertrauens vor der Gefahr der Ausartung in den des Autoritätsprinzips sichert. § 163.

Autorität und Führerschaft. Nunmehr sind wir auch in der Lage, die Bedeutung des Unterschiedes zu ermessen zwischen dem, was ich „Autorität", und dem, was ich „Führerschaft" nenne. Führerschaft verlangt nicht die bedingungslose Unterwerfung der Geführten unter einen fremden Willen, sondern bedeutet die Leitung auf Grund des Vertrauens, das die Geführten in die bessere Einsicht des Führers setzen. Die Wichtigkeit dieser Unterscheidung läßt es geraten erscheinen, sie auch im populären Sprachgebrauch festzuhalten und jede Vermischung der Bedeutung dieser Ausdrücke zu vermeiden, damit nicht das Ideal der Führerschaft von denen mißbraucht wird, die gern einen solchen Deckmantel ergreifen, um sich zur Autorität aufzuwerfen, und damit nicht auf der andern Seite diejenigen, die mit Recht besorgt sind, ihre Freiheit könnte den Anmaßungen einer Autorität zum Opfer fallen, am Ende dazu getrieben werden, jede Führerschaft abzulehnen. Auch die Bedeutung der Führerschaft beruht auf der ursprünglichen Evidenzlosigkeit der sittlichen Erkenntnis, wodurch es bedingt wird, daß zwischen den Menschen Gradunterschiede in der Deutlichkeit der sittlichen Einsicht und der Kraft des sittlichen Willens bestehen. Die weiteren Anwendungen

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dieser Begriffe gehören nicht in die formale Pädagogik; denn sie erfordern eine Inhaltsbestimmung der sittlichen Erkenntnis. Aber die Unterscheidung der Begriffe der Autorität und der Führerschaft kann - und muß daher - bereits hier durchgeführt werden. Denn die Gefahr der Verwechslung des einen mit dem andern läßt es als eine der höchsten und schwierigsten Aufgaben der Erziehung erscheinen, die Menschen zur Einsicht in die wahre Bedeutung der Führerschaft zu erziehen. Dies ist eine Auf g ab e der Erziehung, und es ist durchaus falsch, die Führerschaft von seiten des Erziehers als eine Voraussetzung zu betrachten, von der er, als dem zuerst gegebenen, ausgehen könnte oder gar müßte, um seinen Zögling späterhin, wenn dieser unter seiner Führung zu reiferer Einsicht gelangt ist, aus dem Verhältnis der Gefolgschaft auf den Weg der Selbstbestimmung zu entlassen. Es verhält sich gerade umgekehrt: Erst muß die eigene Einsicht in die Notwendigkeit der Führerschaft und also das Vermögen zur Selbstbestimmung in den Menschen entwickelt sein, ehe sie reif sind, sich einer Führung anzuvertrauen. Anderenfalls besteht gar keine Führung, sondern blinde Gefolgschaft gegenüber einer Autorität. Der Führerberuf ist also vielmehr das letzte und höchste Ziel, dem ein Erzieher zustreben kann. Um die Notwendigkeit dieser Umkehrung des gewöhnlich in der Pädagogik angenommenen Verhältnisses deutlich einzusehen, muß man nur den Begriff des Führers, so wie ich ihn erklärt habe, genau von dem des Erziehers unterscheiden. Erziehung erfordert allerdings eine planmäßige Einwirkung auf den Zögling, um in ihm die Entwicklung zum Guten zu fördern. Will man dies Führung nennen, so ist es eine solche doch nur im objektiven Sinn, nämlich nur der Absicht des Erziehers nach, unabhängig davon, ob diese Absicht vom Zögling verstanden wird, und also ohne Rücksicht auf dessen Zustimmung oder gar eigene Wahl. In Ermanglung dieser eigenen Wahl spräche man hier besser von „Lenkung". Führerschaft erfordert mehr. Sie verlangt, daß der zu Erziehende seinerseits sich auf Grund eigener Einsicht und Wahl jener Führung anvertraut. Zu ihr

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muß also der, den man führen will, erst erzogen werden, und sie ist keineswegs nur durch Maßnahmen von seiten des Erziehers möglich. Daß die Menschen das Bewußtsein ihrer freien Selbstbestimmung mit der Einsicht in die Notwendigkeit der Gefolgschaft zu verbinden wissen und sich in dieser Einsicht selber den rechten Führer zu wählen verstehen, ohne der Gefahr der Unterwerfung unter eine Autorität anheimzufallen, dies kann so wenig als eine Fähigkeit vorausgesetzt werden, die den Menschen von Natur aus innewohnt, daß es vielmehr das höchste Ziel ist, zu dessen Erreichung ihnen die Erziehung verhelfen kann und zu dessen Erreichung es für sie der Erziehung bedarf. Einen Führ e r nenne ich den, der andern einen Weg weist, ohne sich anzumaßen, ihnen selbstherrlich, durch eigenmächtige Erteilung von Vorschriften, ein bestimmtes Ziel vorzuzeichnen, da er vielmehr davon ausgeht, daß ihnen, als vernünftigen Wesen, ihr wahres Ziel durch ihre eigene Vernunft vorgezeichnet ist, und daß es daher nur darauf ankommen kann, daß sie ihm auf dem Wege, den sie bei hinreichender Einsicht selber finden würden, auf Grund des Vertrauens in seine überlegene Einsicht folgen. Einen V e r führ e r dagegen nenne ich den, der sie bestimmt, von diesem Wege abzuweichen, und sie auf einen andern, von ihrer wahren Bestimmung abführenden Weg lockt durch Anpreisung eines mit dem Verlassen jenes rechten Weges verbundenen Vorzugs. Es gibt zwei Arten solcher Verführung, je nach der Art des angepriesenen Vorzugs. Ein solcher Vorzug kann in einem Vorteil für den zu Verführenden gesucht werden, d. h. in einer Befriedigung seines subjektiven Interesses, wobei es nicht darauf ankommt, ob dieser Vorteil durch die Verführung wirklich erreicht oder nur zu ihrem Behufe vorgetäuscht wird. Dies kann man s i n n l i c h e Verführung nennen. Ihr Wesen besteht darin, daß man den Neigungen des Menschen schmeichelt, indem man ihm die Aussicht auf einen Genuß eröffnet, um die aus einer sittlichen Einsicht entspringenden Hemmungen zu überwinden. Es gibt aber noch eine andere und feinere Art der Ver-

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führung. Feiner, weil sie solcher Lockmittel nicht bedarf, da sie es gar nicht nötig hat, die aus dem Pflichtbewußtsein der Menschen entspringenden Hemmungen durch Erzeugung von Gegenantrieben zu überwinden. Sie bedient sich zur Erreichung ihres Zwecks eines weit raffinierteren Mittels. Dieses Verfahren besteht darin, in den Menschen Mißtrauen gegen die Zulänglichkeit der eigenen sittlichen Einsicht zu erwecken und sie zu überreden, nicht etwa, daß sie sich durch das ihnen zugemutete Verhalten einen subjektiven Vorteil sichern würden, sondern daß, recht verstanden, die Pflicht selber sie zu diesem Verfahren nötige. Dieses Verfahren kann man s i t t 1 i c h e Verführung nennen. Sie bedarf keiner Gegenantriebe gegen den sittlichen Antrieb; denn es genügt ihr, den Inhalt des Pflichtbewußtseins in sein Gegenteil zu verkehren, um so den sittlichen Antrieb selber als Triebfeder der Verführung in Bewegung zu setzen. Ihr Verfahren unterscheidet sich von dem der sinnlichen Verführung nicht dadurch, daß es auf Uberredung beruht, sondern vielmehr durch die besondere Art der Uberredung, nämlich durch die Vorspiegelung eines mit der zugemuteten Handlung verbundenen sittlichen Vorzugs. Sie verlockt nicht durch den Anreiz eines zu erwartenden Genusses, sondern sie erreicht ihr Ziel durch s i t t I i c h e P e r v e r s i o n. Ich nenne dies eine feinere Art der Verführung, weil sie ohne alle Aufbietung künstlicher Lockmittel nur um so sicherer ihr Zid erreicht,· indem sie die sittlichen Hemmungen selber, die den Menschen sonst vor der Verführung schützen können, durch eine Verkehrung des sittlichen Gefühls in' den Dienst der Verführung zieht. Eine solche Art der Verführung ist es, auf der die Pädagogik. des Autoritätsprinzips beruht und der sie ihre Erfolge verdankt. In der Tat: Für jeden sittlich noch nicht hinreichend gefestigten Menschen ist die Versuchung ohnehin groß genug, den Anmaßungen der auf die Beugung seines Willens abzielenden Herrschsucht eines übermächtigen fremden Willens nachzugeben und ihnen seine sittliche Freiheit zum Opfer zu bringen. Weit entfernt, den Menschen gegen diese Versuchung

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standhaft zu machen, was die Erziehung tun sollte, zielt die Pädagogik des Autoritätsprinzips vielmehr darauf ab, ihn zum sicheren Opfer dieser Versuchung werden zu lassen, indem sie ihn nicht nur schutzlos dieser Gefahr aussetzt, sondern überdies den Schutz, den ihm einzig sein Pflichtbewußtsein bieten könnte, unwirksam macht, und zwar um so erfolgreicher, als sie dieses Pflichtbewußtsein, das gegen die Verführung zu wirken bestimmt war, selber in den Dienst der Verführung zieht. Die Methode des pädagogischen Autoritätsprinzips ist daher eigentlich diese: Zuerst macht sie sich die moralische Empfänglichkeit des Zöglings zunutze, um durch den Anspruch auf Verbindlichkeit, womit sie ihre Befehle vorträgt, diesen eine höhere Sanktion zu verschaffen und Ehrfurcht vor der Autorität einzuflößen. Ist aber dieses Ziel erreicht, so zerstört sie den entwicklungsfähigen Keim des Guten, indem der Anspruch auf Verbindlichkeit, der sich zuerst nur durch seine Ubereinstimmung mit der eigenen Pflichtüberzeugung des Zöglings Ansehen verschaffen konnte, von der Bedingung dieser Ubereinstimmung und damit von dem ursprünglichen und einzigen Prinzip aller moralischen Verbindlichkeit losgelöst und in seiner bindenden Kraft verselbständigt wird. Gerät ihr dies, so ist der Erfolg blinder Gehorsam. Mißlingt es ihr, so geht mit dem Ansehen der Autorität das Bewußtsein sittlicher Verbindlichkeit überhaupt verloren. Und so ist die Wirkung dieser Methode im einen Fall moralische Perversion, im anderen Demoralisation. Wo in einer Gesellschaft die Erziehungseinrichtungen nicht auf eine andere Grundlage gestellt sind, da kann nur Untertanengeist und Knechtssinn gedeihen. Das Opfer einer solchen Erziehungsmethode zu werden, ist weit schlimmer, als alle Erziehung überhaupt entbehren zu müssen. Denn wer ohne alle Erziehung in natürlicher Wildheit aufwächst, der wird zwar zu keiner Bildung gelangen, er wird aber wenigstens vor dem Schicksal der Verbildung bewahrt bleiben, die nicht nur keine Bildung verleiht, sondern deren schlimmere Wirkung die ist, daß sie, indem sie dem Menschen einen Zustand äußerer Ge-

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bundenheit als den ihm allein angemessenen und erstrebenswerten vorspiegelt, den ihm von Natur innewohnenden Freiheitstrieb erstickt und ihn so mit seinem Schicksal obendrein zufrieden macht, wodurch sie ihn der jedem anderen offenstehenden Möglichkeit beraubt, sich durch eigene Anstrengung zu sittlicher Freiheit emporzuarbeiten, und ihn so um allen Wert seines Lebens betrügt.

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6. Kapitel.

Pädagogische Folgerungen aus dem Prinzip der ethischen Objektivität. (Kritik des pädagogischen Subjektivismus.) § 164.

Unmöglichkeit des pädagogischen Subjektivitätsprinzips. Wie wir das Prinzip der ethischen Allgemeingültigkeit mit dem der ethischen Differenzierung verbinden mußten, um die pädagogische Tragweite des einen und anderen abzumessen, so bedarf auch das Prinzip der ethischen Autonomie einer Ergänzung, die eine Uberspannung der aufgestellten Forderungen verhindert. Diese Ergänzung bietet sich uns dar in dem Prinzip der ethischen Objektivität. Die Gefahr einer Uberspannung des Autonomieprinzips liegt in der Tat nahe. Nach diesem Prinzip ist Pflichterfüllung nur möglich auf Grund des Urteils des Handelnden über seine Pflicht, und also scheint es für den, den man zur Pflichterfüllung erziehen soll, nur darauf anzukommen, daß er seinen eigenen sittlichen Urteilen folgt, ohne Rücksicht auf deren Ubereinstimmung mit einem objektiv feststehenden Gebot. Wer so schließt, stellt sich auf den Boden des pädagogischen Subjektivismus und verkennt das Prinzip der Objektivität. Dieses sagt, daß das praktische Gesetz, aus dem sich das Erziehungsziel herleitet, einen objektiven und also eindeutig feststehenden Inhalt hat. Die bisherigen Untersuchungen haben wiederholt darauf geführt, daß das Sittengesetz über den bloßen Begriff des an sich Guten hinaus uns ein Merkmal an die Hand gibt für das, was unter den Begriff des an sich Guten fällt. Nur dadurch wird der Begriff des Guten und damit auch der Begriff der Erziehung überhaupt anwendbar. Wir hätten sonst nur den Begriff eines Sittengesetzes, aber kein Sittengesetz selber, und also auch nur den Begriff eines Erziehungs-

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ziels, aber kein Erziehungsziel selber, und also keine Möglichkeit der Erziehung. Der Begriff, der das Kriterium des Guten liefert, kommt zwar im Inhalt des Sittengesetzes erst s y n t h et i s c h zum bloßen Begriff des Guten hinzu. Aber daß ein solcher Begriff hinzukommt, das folgt schon an a 1y t i s c h aus dem bloßen Begriff des Sittengesetzes und also auch aus dem bloßen Begriff der Erziehung. Durch diese Feststellung ist der pädagogische Subjektivismus ausgeschlossen. Hier erhebt sich nun aber die Frage nach der Vereinbarkeit dieser Uberlegungen mit dem Prinzip der Autonomie. Diesem Prinzip zufolge darf dem zu Erziehenden nicht ein fremdes Urteil über seine Pflicht zur Richtschnur gemacht werden. Wer hieraus die naheliegende Konsequenz zieht, daß die Erziehung die fragliche Richtschnur in das eigene Urteil des zu erziehenden Menschen setzt, so daß durch das eigene Urteil das für ihn Gute hinreichend bestimmt ist, der hat damit das Prinzip der Objektivität abgelehnt. Denn wo es nur noch auf das eigene sittliche Urteil des zu Erziehenden ankommt, .nicht aber auf die Ubereinstimmung dieses Urteils mit dem objektiven Inhalt des Gesetzes, da ist in der Tat das Subjektivitätsprinzip an die Stelle der ethischen Objektivität getreten. Es sieht so aus, als ob hier ein unlösbares Dilemma vorliegt: Wenn wir das pädagogische Autoritätsprinzip vermeiden, scheinen wir uns eben damit dem pädagogischen Subjektivismus zu verschreiben, und wenn wir diesen ausschließen, so scheinen wir der Methode des Autoritätsprinzips zu verfallen. Wie verhält es sich aber mit der Vollständigkeit dieser Alternative? Ist es wahr, daß die Richtschnur für sittliches Handeln entweder in einem fremden Urteil, also dem einer Autorität, oder in dem eigenen Urteil liegen muß? Die Antwort hierauf ergibt sich unmittelbar aus den analytischen Prinzipien der Ethik. Die Richtschnur liegt im Sittengesetz und in gar keinem Urteil, weder im fremden noch im eigenen. Sowohl das fremde als auch das eigene Urteil müssen sich erst durch die Ubereinstimmung mit dem Sittengesetz rechtfertigen, anderenfalls verlieren sie ihren Anspruch auf Wahr-

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heit und also erst recht den auf Verbindlichkeit. Nur auf Grund der Verbindlichkeit, die aus dem Gesetz hervorgeht, kann man von der Wahrheit oder Falschheit eines sittlichen Urteils sprechen; denn seine Gültigkeit entscheidet sich danach, ob das, was sittlich geboten ist, in dem fraglichen Urteil richtig angegeben ist oder nicht. Wenn man aber die Voraussetzung eines dem Inhalt nach objektiv bestimmten Sittengesetzes fallen läßt, so entfällt jede Verbindlichkeit überhaupt und damit auch jede Aufgabe der Erziehung. Der Versuch, unter Umgehung des Prinzips der ethischen Objektivität den Subjektivismus mit Hilfe des Prinzips der Autonomie zu rechtfertigen, wird also hinfällig durch eine Berufung auf das Prinzip der Autonomie selber. Denn dieses Prinzip setzt zu seiner Anwendbarkeit bereits die ethische Objektivität voraus. Ethische Autonomie besteht darin, daß sich der Mensch gemäß der eigenen Einsicht in die Pflicht zum Handeln bestimmt. Solche Einsicht ist aber nur möglich, wenn es eine Pflicht gibt, die ihrerseits etwas anderes gebietet als die Unterwerfung unter die eigene sittliche Einsicht. Denn sonst bliebe die Frage offen, aus Einsicht in welche Pflicht man handeln solle. Das Prinzip des pädagogischen Subjektivismus steht somit in unmittelbarem Widerspruch nicht nur zum Prinzip der Objektivität, sondern auch zu seiner eigenen Vorau:;;setzung, dem Prinzip der Autonomie. Die Aufdeckung dieser im Grunde so einfachen Zusammenhänge ist erforderlich, um der Doktrin des pädagogischen Subjektivismus den Boden zu entziehen und sie als das hinzustellen, was sie ihrem Wesen nach ist: als den Verzicht auf ein eigenes Erziehungsziel. Diese innere Leerheit des pädagogischen Subjektivismus schließt es aus, daß er zur Grundlage eines Systems in sich zusammenstimmender Erziehungsmaßnahmen genommen wird. Mit inhaltlich bedeutsamen pädagogischen Konsequenzen dieses Prinzips haben wir also nicht zu rechnen. Bei der angeblichen Bescheidenheit und dem Schein von Berechtigung, mit dem sich diese Lehre umgibt, ist es aber um so wichtiger, sie selbst in ihre Schlupfwinkel zu verfolgen

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und an ihren einzelnen Formen die bisher angestellten Uberlegungen zu prüfen. Der aufgewiesene Widerspruch zu den eigenen Voraussetzungen, in den sich der Subjektivismus verstrickt, liegt in der Tat mehr oder weniger versteckt in jeder seiner Formen, selbst wenn er zur Wahrung seines Standpunktes die extremste Fassung annimmt, wonach er bis zur Leugnung der Pflicht selber geht. In diesem Radikalismus zeigt sich wenigstens eine gewisse Konsequenz. Denn wo man die Existenz eines Sittengesetzes zugibt, da erkennt man eben damit ein dem eigenen sittlichen Urteil übergeordnetes Prinzip der Verpflichtung an und setzt sich also in Widerspruch zu der Lehre des pädagogischen Subjektivismus. Dieser Folgerung entzieht sich der radikale Subjektivismus, indem er die praktische Bedeutung von Pflichtüberzeugungen preisgibt Aber damit gerät er nur in einen andern Widerspruch, sofern er jedenfalls als p ä da g o g i scher Subjektivismus noch an der Aufgabe der Erziehung festhält. Denn wenn es überhaupt keine Pflicht gibt, dann gewiß auch nicht die, der eigenen Pflichtüberzeugung zu folgen. Damit entfällt aber auch das Erziehungsziel des pädagogischen Subjektivismus, die Menschen zur Befolgung ihrer eigenen Pflichtüberzeugung zu veranlassen. Die Einsicht in die Unmöglichkeit eines solchen extremen Standpunktes verführt nun dazu, der Doktrin eine weniger radikale Form zu geben, indem man etwa sagt, es gäbe zwar ein Sittengesetz, nur sei sein Inhalt uns nicht erkennbar, und wir seien infolgedessen auf das eigene sittliche Urteil angewiesen. Diese Auffassung wird unterstützt durch eine Schwierigkeit, die in der Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes liegt. Wegen des Mangels an Anschaulichkeit sittlicher Erkenntnis kann sich nämlich diese Inhaltsbestimmung nur auf Grund von Urteilen vollziehen. Hier scheint das sittliche Urteil des einen gegen das des andern zu stehen, ohne daß das Gesetz objektiv zur Entscheidung angerufen werden könnte. Wer als Erzieher in Anbetracht dieser Schwierigkeit seine Zuflucht zum Subjektivismus nimmt, wird sich den zu er-

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ziehenden Menschen gegenüber jeder Kritik ihrer Pflichtüberzeugung zu enthalten suchen, um sie ohne Rücksicht auf den Inhalt dieser Uberzeugungen zu deren Befolgung anzuleiten, ein Verfahren, das sich überall da großer Beliebtheit erfreut, wo man es auf Grund der Evidenzlosigkeit der sittlichen Erkenntnis für unbescheiden und anmaßend hält, die eigene Uberzeugung entgegen den widerstreitenden Uberzeugungen anderer zu vertreten. Dabei übersieht man nur, daß die gepriesene Bescheidenheit hier am wichtigsten Punkt versagt: Der Zweifel an der eigenen Fähigkeit, über die Wahrheit von Pflichtüberzeugungen zu entscheiden, führt einen solchen Erzieher dazu, den Menschen die Befolgung ihrer eigenen Pflichtüberzeugung als Pflicht vorzuschreiben! Sehen wir aber selbst von diesem Widerspruch ab, so erhebt sich ein noch tiefer liegender Einwand, der nämlich, daß hier das Lob der Bescheidenheit zu einem bloßen Deckmantel der Verantwortungslosigkeit wird. Denn wer zugibt, sittliche Uberzeugungen zu haben, der kann ehrlicher Weise den widerstreitenden Uberzeugungen anderer gegenüber nicht in Toleranz verharren. Mag er den Verzicht auf eine klare und eindeutige Stellungnahme damit begründen, daß er die Pflicht überhaupt leugnet, oder damit, daß er sie nur für unerkennbar hält, soviel ist sicher, daß er durch diese Argumentation die eigene Uberzeugung verleugnet. Wenn er sagt, er kenne keine Pflicht, sondern nur seine Uberzeugung von der Pflicht, so weiß er entweder nicht, was er sagt, oder er lügt; denn wenn er eine sittliche Uberzeugung hat, dann ist er davon überzeugt, daß etwas Bestimmtes seine Pflicht ist. Er erhebt damit den Anspruch, die Pflicht zu kennen, und auf Grund dieses Anspruchs jedes seiner Uberzeugung widersprechende Urteil über die Pflicht als irrig und unverbindlich zu verwerfen. Das Ausweichen vor dieser Konsequenz ist kein Ausdruck der Achtung vor den Uberzeugungen anderer, sondern nur ein Beweis der Angst vor dem Bekenntnis zur eigenen Uberzeugung.

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§ 165.

Unmöglichkeit des materialen pädagogischen Subjektivitätsprinzips. Nach diesen Betrachtungen scheint zur Rettung des pädagogischen Subjektivismus nur ein Ausweg offen zu bleiben. Es ist der Gedanke, zwar die hier festgestellten inneren Widersprüche zuzugeben, das Prinzip aber wieder einzuführen, indem man in dem eigenen Urteil das Kriterium der Pflicht sucht und sich also mit dem pädagogischen Subjektivismus in den Inhalt des Sittengesetzes zurückzieht. Man gibt damit zu, daß das Sittengesetz einen objektiv bestimmten Inhalt hat, wie es das analytische Prinzip der ethischen Objektivität verlangt, ja noch mehr, man behauptet, daß dieser Inhalt erkennbar sei; man gibt ihn in einem synthetischen Grundsatz an, in dem Satz nämlich, daß das fragliche Kriterium das eigene Urteil des Verpflichteten sei. Die Leerheit des Subjektivitätsprinzips wäre so vermieden. Wir hätten ein objektiv bestimmtes Sittengesetz und blieben doch beim ethischen Subjektivismus stehen, insofern als hier das Urteil des Handelnden zum Kriterium der Pflicht gemacht wird, so daß es kein vom eigenen Urteil des Handelnden unabhängiges Kriterium der Pflicht gibt und zu geben braucht. Wir kommen so auf ein materiales Subjektivitätsprinzip, wie wir es kurz nennen können, d. h. auf die Voraussetzung eines Sittengesetzes, nach dem das eigene Urteil des Handelnden zum Kriterium seiner Pflicht wird. Wir können den Inhalt dieses Sittengesetzes so formulieren: Handle gemäß Deiner Einsicht in die Pflicht! Bei genauerem Zusehen erweist sich aber dieses Gesetz als ebenso widerspruchsvoll wie das materiale Autoritätsprinzip, das zur Rettung der Autoritätspädagogik aufgestellt wurde. Wenn das Kriterium der Pflicht im eigenen Urteil des Handelnden gesucht werden soll, dann kann dieses Urteil nicht als ein sittliches ausgezeichnet sein; denn das würde ein anderes, vom eigenen Handeln unabhängiges Kriterium der Pflicht erfordern

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im Widerspruch zu der Behauptung, daß das eigene Urteil erst das Kriterium der Pflicht darstellt. Um diesem Widerspruch zu entgehen, liegt es nahe, überhaupt nicht von der eigenen Einsicht und überhaupt nicht vom eigenen Urteil zu sprechen, sondern allgemein vom eigenen Gutdünken, wobei dieses Gutdünken sich nicht durch ein sittliches Urteil, sondern durch freie Wahl bestimmt. Das Gesetz hieße dann: Handle nach jeweiligem Gutdünken! Oder noch kürzer: Handle nach Belieben! Diese Formulierung aber trägt erst recht den Widersinn an der Stirn. Denn während das Wesen des Sittengesetzes in der Einschränkung des freien Beliebens besteht, geht diese Formulierung geradezu darauf hinaus, jede solche Einschränkung zurückzuweisen. § 166.

Folgen der Anwendung des pädagogischen Subjektivitätsprinzips. Durch diese Nachweisungen ist dem ethischen und damit auch dem pädagogischen Subjektivitätsprinzip der letzte Ausweg abgeschnitten. Da aber eine logische Kritik wenig auszurichten vermag, wenn sie dem doktrinären Starrsinn des vermeintlich vorurteilsfreien Praktikers gegenübersteht, so ist es nötig, den praktischen Folgen dieses sich so liebenswürdig anbietenden Prinzips nachzugehen und dadurch die Aufmerksamkeit der Erzieher auf die unheilvollen Wirkungen jenes Widerspruchs zu lenken. Diese Untersuchung ist um so dringlicher, als dem Pädagogen des Subjektivitätsprinzips allen bisherigen Einwänden gegenüber eine Berufung auf die Praxis der Erziehung möglich ist. Er kann darauf verweisen, daß er als Erzieher einzutreten habe für die innere Wahrhaftigkeit und die eigene Verantwortung der ihm anvertrauten Menschen und daß es darum seine höchste Aufgabe sei, sie zur Befolgung der eigenen Pflichtüberzeugung anzuhalten. Daran ist so viel richtig, daß die Erziehung zur Befolgung inhaltlich bestimmter Pflichten an Be-

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deutung zurücktritt hinter die andere Erziehungsaufgabe, in den zu Erziehenden die Bereitschaft zur Pflichterfüllung zu wecken, welches auch der Inhalt der Pflicht sein mag. Denn in dieser Bereitschaft besteht erst das, was die Sittlichkeit des Charakters ausmacht. Aber auch hier verfehlt der Vertreter der Subjektivitätspädagogik sein Ziel; denn sein Bestreben, diese Bereitschaft zu pflegen, geht auf Kosten der Entwicklung sittlicher Einsicht und hebt daher in seiner Konsequenz alle innere VJ'ahrhaftigkeit und eigene Verantwortung auf. Denn wie kann man von der Bereitschaft zur Pflichterfüllung sprechen, aber die Frage nach dem, was die Pflicht verlangt, als unberechtigt ablehnen? Wie kann man einen Menschen zur eigenen Verantwortung erziehen, wenn man ihm einredet, es sei überhaupt nichts gegeben, wofür er die Verantwortung übernehmen müßte und zu dessen Verwirklichung er verpflichtet sei? Wenn also bei dem Zögling einer solchen Erziehungsweise innere Wahrhaftigkeit und eigene Verantwortung angetroffen werden, so ist das nur dem Umstand zu danken, daß er sie trotz des Einflusses dieser Erziehung bewahrt hat. Für den Erzieher ist das ein bloßes Glück, dessen Bestand zudem stets gefährdet ist. Denn wie wird sich das Verantwortungsbewußtsein eines so erzogenen Menschen durchsetzen, wenn er, dem in sittlichen Fragen jede Hilfe versagt wird, in seinen sittlichen Urteilen schwankt? Auf sich allein gestellt, wird der Gewissenhafte, wenn die innere Stimme keine klare und eindeutige Antwort gibt, die Entscheidung aufschieben. Er wird sich der Gewissensforschung ergeben und aus der Pein solcher Bemühungen, für die ihm jeder Leitfaden fehlt, den Schluß ziehen, daß eine Rechtfertigung für seine Handlungen unmöglich ist. Er wird danach trachten, die wirren Händel der Welt, für die er kein Schiedsgericht kennt, zu meiden, um auf stillen Wegen sich selber die Treue zu wahren. Die Folge der im Namen sittlicher Wahrhaftigkeit auftretenden Pädagogik des Subjektivitätsprinzips wird also der Selbstbetrug des Schwärmers sein, der - da er ein ethisches Ideal nicht kennt und nicht kennen will - nur für die

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vermeintliche Reinheit seiner Seele schwärmt, in Wahrheit also nur für eine Schwärmerei. Der weniger Empfindsame dagegen, unterstützt durch die Toleranz, die man der sittlichen Entscheidung des Einzelnen gewährt, gerät in Zweifelsfällen in die Versuchung, der Stimme zu folgen, der am wenigsten persönliche Hemmungen entgegenstehen. Er wird sich nicht durch Gewissensskrupel vom Handeln abhalten lassen und seinem Handeln die Entscheidungskraft mitgeben, die man nur findet, wo ein Mensch rücksichtslos und entschlossen hinter seinen Taten steht; je mehr er bei reifendem Verstande den sittlichen Nihilismus des seinen Erzieher leitenden Prinzips durchschaut, desto mehr wird er sich durch das Erziehungsziel selber ermächtigt fühlen, alle sittlichen Bedenken als Vorurteile und Aberglauben beiseite zu schieben. Der Spielraum, der dem Zögling im Fall eines Gewissenskonflikts gelassen wird, bewegt sich also von dem Pol der sentimentalen Tatenscheu bis zu dem des resoluten Zynismus. Auf der einen Seite erfüllen den Zögling Skrupel hinsichtlich der Reinheit des Charakters, ohne daß er diesen je praktisch erprobt. Auf der andern Seite erprobt man die Willenskraft des Charakters, ohne Skrupel hinsichtlich seiner Reinheit aufkommen zu lassen. Aber dies ist bei weitem noch nicht die verhängnisvollste Wirkung einer solchen Erziehung. Der Vertreter des ethischen Subjektivismus hat sich mit seinem Prinzip nicht nur die Hände gebunden, wo es gilt, der Gewissensnot des Zöglings zu Hilfe zu kommen; seine Verleugnung jedes positiven Erziehungsziels nötigt ihn, die Uberzeugung des andern auch da zu achten, wo sie sich gegen den ethischen Subjektivismus selber kehrt. Er muß jede sittliche Uberzeugung gelten lassen, also auch die seiner Uberzeugung widerstreitende Ansicht der Autoritätspädagogik. Es klingt so unverfänglich und einleuchtend, daß man jede ehrliche Uberzeugung achten soll, und in der Tat: keine Uberzeugung kann als solche verächtlich sein; denn sittlicher Beurteilung und insbesondere sittlicherVerurteilung unterliegt allein das Tun des Menschen, und nicht seine Uberzeu-

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gung, wie irrig und gefährlich sie auch sei. Aber dieser Grundsatz verlangt nicht, jeder Uberzeugung Freiheit der Betätigung zu gewähren; denn das würde bedeuten: Freiheit für die einander ausschließende Betätigung entgegengesetzter Uberzeugungen und insbesondere: Freiheit für die Vergewaltigung jeder ehrlichen Uberzeugung, sofern diese Vergewaltigung nur einer Uberzeugung entspricht. Wo wir es wirklich mit Uberzeugungstreue zu tun haben, da erprobt diese sich gerade in der Festigkeit, mit der man der Betätigung einer entgegengesetzten Uberzeugung entgegentritt. Will man jedoch im Ernst an dem Grundsatz des Gewährenlassens für die Betätigung jeder ehrlichen Uberzeugung festhalten, so werden wir fragen müssen: Wie steht es mit der in diesem Grundsatz ausgesprochenen Uberzeugung? Wer den Mut der Ehrlichkeit hat, sich auf diese Frage einzulassen, wird nicht verkennen, daß die Befolgung dieses Grundsatzes die Betätigung jeder ehrlichen Uberzeugung lähmt und also das Gegenteil von Uberzeugungstreue bewirken muß, und daß also auch dieser im Namen sittlicher Uberzeugung ausgesprochene Satz seinerseits nicht der Ausdruck. einer sittlichen Uberzeugung, sondern eines sittlichen Selbstbetruges ist. Wäre daher auch sonst nichts gegen ihn einzuwenden, so könnte doch gerade für die in diesem Grundsatz anscheinend ausgesprochene Uberzeugung der Anspruch auf Achtung nur zu Unrecht erhoben werden, und dies darum, weil sein Standpunkt, der in Wahrheit der einer sittlichen Uberzeugungslosigkeit ist, keine Achtung verdient. Welche Folgen sich aber aus dieser, alle Uberzeugungstreue ausschließenden Uberzeugungslosigkeit ergeben, ist nicht schwer zu sagen. Wo sie herrscht, ist das Feld freigegeben für die Betätigung jeder beliebigen pädagogischen Zielbestimmung, und im Wettbewerb ihrer Vertreter kann die Entscheidung nicht nach Gründen der Wahrheit, die es ja hier nicht geben kann, erfolgen, sondern allein nach den der einen oder andern Richtung zur Verfügung stehenden Machtmitteln. Sehen wir nun von allen äußeren Machtmitteln ab und berücksichtigen wir nur die geistigen Mittel, wie dies ja auch der Voraussetzung

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eines wirklich freien Spiels der Kräfte entspricht. so ist klar, auf welche Seite sich das Ubergewicht des Erfolges neigen muß. Hat der Vertreter einer sittlich bestimmten und also überhaupt einer klaren und ehrlichen ethischen Uberzeugung vor dem Vertreter des Subjektivismus schon allgemein die Eindeutigkeit und Festigkeit der Zielbestimmung voraus, so wird dieser Vorsprung um so größer, je einfacher und müheloser sich die Zielbestimmung dem zu Erziehenden anbietet. Wo der ethische Subjektivismus die Pädagogik beherrscht, wird daher derjenige seinen pädagogischen Grundsatz zum Ziel führen, der den zu Erziehenden von den Zweifeln der Gewissenserforschung befreit, indem er ihn der eigenen Verantwortung enthebt und ihn einem fremden Willen unterwirft. Mit anderen Worten: Der pädagogische Subjektivismus bereitet da, wo er herrscht, seinem Gegner, dem Anhänger des pädagogischen Autoritätsprinzips, den Weg zum Triumph.

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7. Kap i t e 1.

Pädagogische Folgerungen aus dem Prinzip der Gesinnungsethik. (Kritik des pädagogischen Opportunitätsprinzips.) §

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Unmöglichkeit des pädagogischen Opportunitätsprinzips. Die Prinzipien der ethischen Autonomie und der ethischen Objektivität beziehen sich auf die sittliche Uberzeugung. Sie müssen ergänzt werden durch Prinzipien, die sich auf den sittlichen Willen beziehen. Denn zum moralischen Handeln ist mehr erforderlich als sittliche Einsicht, die ja von sich aus noch keine Gewähr dafür bietet, daß der Handelnde ihr auch folgt. Er könnte auch bei der besten Einsicht einer dieser Einsicht widerstreitenden Neigung folgen, wenn nämlich seine Neigung stärker ist als sein Pflichtbewußtsein. Es genügt aber ferner für eine moralische Handlung nicht, daß sie objektiv mit dem Inhalt des Sittengebots übereinstimmt. Sie besäße damit nur Legalität. Hinsichtlich der Gesinnung, d. h. der ihr zu Grunde liegenden Motive, könnte sie zufällig sein. Moralisch ist eine Handlung nur dann, wenn dieser Zufall ausgeschaltet ist, wenn also die Einsicht in die Pflicht der Bestimmungsgrund des Willens ist. Diesen Satz, wonach moralisches Handeln nur da möglich ist, wo die sittliche Einsicht den Bestimmungsgrund des Handelns bildet, nenne ich das Prinzip der Gesinnungstreue. Auch dieses Prinzip ist offenbar unabhängig von aller Rücksicht auf den Inhalt des Sittengesetzes; es müßte für jedes Sittengesetz gelten, wie dessen Inhalt auch bestimmt sein mag. Es ist ein analytisches Prinzip wie die bisher betrachteten, und die pädagogischen Folgerungen, so fruchtbar sie sein mögen, bleiben darum innerhalb der Grenzen der formalen Pädagogik. Die dem Prinzip der Gesinnungstreue widerstreitende Er-

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ziehungsmethode will ich das p ä da g o g i s c h_ e O p p o r tu n i t ä t s p r in z i p nennen. Ich verstehe darunter das Prinzip einer solchen Pädagogik, die den Beweggrund für das Verhalten der zu erziehenden Menschen statt in das Bewußtsein der Pflicht - oder allgemeiner: einer ethischen Aufgabe -, in die Rücksicht auf die als Erfolg der Handlung zu erwartende Interessenbefriedigung setzt. Man nennt die Befriedigung eines Interesses, sofern sie absichtlich als Folge an die verlangte Handlung geknüpft wird, Lohn, und eine Interessenverletzung, sofern sie absichtlich an die Unterlassung der verlangten Handlung gebunden wird, Strafe. Rücksicht auf Lohn oder Strafe sind also die Beweggründe, durch die die Pädagogik des Opportunitätsprinzips ihr Ziel zu erreichen sucht. Und eben dadurch ist dieses Prinzip definiert. Nun behaupte ich, daß jede von diesem Prinzip ausgehende Erziehungsmethode auf einem inneren Widerspruch beruht, daß also durch sie das Ziel der Erziehung gewiß nicht erreicht werden kann. Was bedeutet es nämlich, daß die Richtschnur eines Verhaltens in der Rücksicht auf Lohn oder Strafe liegt? Eine solche Richtschnur ist ein hypothetischer Imperativ. Er stellt ein Gebot dar, das allein mit Rücksicht auf einen vorausgesetzten Zweck Verbindlichkeit beansprucht, dessen Verbindlichkeit infolgedessen nicht weiter gehen kann als die Verbindlichkeit des Zwecks. Dieser Zweck besteht in der Befriedigung eines Interesses, wozu wir auch die Vermeidung einer Interessenverletzung zu rechnen haben. Die Erziehung aber soll zur Befolgung der Pflicht tauglich machen, und also zur Unterwerfung unter einen kategorischen Imperativ, d. h. einen solchen, der durch keinen zu erreichenden Zweck eingeschränkt ist. Aus Rücksicht auf Opportunität die Pflicht zu erfüllen, ist daher ein innererWiderspruch. DieserWiderspruch wird noch deutlicher, wenn wir die folgende Uberlegung anstellen. Die Handlung, zu der der Erzieher durch die Rück.sieht auf Lohn oder Strafe nötigt, ist entweder zugleich Pflicht oder sie ist es nicht. Ist sie es nicht, so kann durch sie die Pflicht offenbar nicht erfüllt werden. Ist sie es aber, so

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kann man zwei Möglichkeiten unterscheiden: Entweder wird die Pflicht mit Rücksicht auf das objektiv bestehende kategorische Gebot erfüllt, dann ist es für die Handlung nur zufällig, daß ihre Erfüllung zugleich mit Lohn und ihre Unterlassung zugleich mit Strafe verbunden ist. Oder aber der Zögling tut die Handlung wirklich mit Rücksicht auf den zu erwartenden Lohn oder die zu erwartende Strafe. Dann bildet die Vorstellung dieses durch die Handlung zu erreichenden Zwecks den Bestimmungsgrund, und es verhält sich, moralisch betrachtet, nicht anders, als wenn diese Handlung überhaupt nicht Pflicht wäre. Die Verteidiger des fraglichen Prinzips könnten sich nun freilich auf ein anderes Argument zurückziehen und etwa anführen, daß eine Handlung, die nur oft genug unter dem Eindruck von Lohn oder Strafe getan worden ist, schließlich ohne diese Triebfeder getan werde. Das ist in der Tat richtig. Infolge der Gewöhnung an eine bestimmte Handlungsweise verschwindet allmählich die Erinnerung an Lohn oder Strafe, und die Handlung geschieht auch ohne Rücksicht auf diese. Aber statt daß an die Stelle der Opportunitätsrücksichten das Bewußtsein der objektiven Notwendigkeit der Handlung getreten wäre, erfolgt sie jetzt in blinder Gewohnheit, ohne Rücksicht auf das durch die Pflicht Gebotene. Wir kommen dadurch der Sittlichkeit um keinen Schritt näher. § 168.

Das materiale Opportunitätsprinzip. Bisher ist so viel bewiesen, daß Rücksicht auf Lohn oder Strafe niemals einen Verpflichtungsgrund enthalten kann. Denn ein hypothetischer Imperativ läßt sich nicht in einen kategorischen verwandeln. Die Vorstellung, daß Lohn und Strafe überhaupt eine Richtschnur für sittliches Handeln abgeben, kann also nur entstehen und kann sich nur behaupten, wenn man die Voraussetzung macht, daß es einen kategorischen Imperativ gibt, der die Befolgung des hypothetischen gebietet, wodurch eine notwendige Verknüpfung zwischen Pflichterfüllung einer-

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seits und Lohn und Strafe andererseits hergestellt würde. Diese Voraussetzung läuft auf nichts anderes hinaus, als auf die Annahme eines Sittengesetzes, das seinerseits unmittelbar alle diejenigen und nur diejenigen Handlungen gebietet, die belohnt, und alle diejenigen und nur diejenigen verbietet, die bestraft werden, ein Gesetz also, nach dem Tugend belohnt und Untugend bestraft wird. Ich nenne diese Voraussetzung das materiale Opportunitätsprinzip, da es sich hier um eine Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes handelt, und es entsteht die Frage, ob sich die Annahme eines solchen logisch als zulässig erweist. § 169.

Widerspruch des materialen Opportunitätsprinzips. Bei der Untersuchung des materialen Opportunitätsprinzips können wir genau den Uberlegungen folgen, durch die wir die Unmög lichkei t des materialen A utori tä tsprinzi ps erwiesen haben. Da für eine und dieselbe Handlung von seiten einer Person Lohn versprochen, von seiten einer anderen dagegen Strafe angedroht werden kann, so erweist sich zunächst ein Gesetz, nach dem allgemein Lohn und Strafe die Kriterien für Recht und Unrecht sind, als widerspruchsvoll; denn es würde in einem solchen Fall, in dem Ankündigungen von Lohn und Strafe einander entgegenstehen, gebieten, eine Handlung zu tun und zu unterlassen. Um das materiale Opportunitätsprinzip zu halten, bedürfen wir also auch hier wieder einer Einschränkung, und zwar einer solchen, wonach auf Grund eines Merkmals eine bestimmte Strafe und ein bestimmter Lohn als Richtschnur des sittlichen Verhaltens ausgezeichnet sind. Der natürlichen Vorstellung entspricht es, dieses Merkmal in einer sittlichen Auszeichnung zu suchen und also anzunehmen, daß der sittliche Wert oder Unwert einer Handlung den Grund ihrer Belohnung oder Bestrafung bildet. Aber diese Vorstellung läßt sich hier nicht aufrechterhalten; denn um diesen sittlichen Wert oder Unwert zu erkennen, müßten wir ein von

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Lohn und Strafe unabhängiges Kriterium voraussetzen, nach dem sich der Wert oder Unwert einer Handlung bestimmt, im Widerspruch zum materialen Opportunitätsprinzip, dem zufolge gerade Lohn und Strafe dieses Kriterium enthalten. Dem Wesen des Opportunitätsprinzips können wir also nur dadurch gerecht werden, daß wir die Größe des Lohns und die Größe der Strafe als das auszeichnende Merkmal ansehen; denn eine Unterscheidung a priori hinsichtlich ihrer Qualität kommt so wenig wie beim materialen Autoritätsprinzip in Frage. Uberwiegender Lohn und überwiegende Strafe wären danach die Kennzeichen von gut und böse, im Einklang mit dem Grundsatz der Opportunität, wonach immer diejenige Handlung den Vorzug verdient, die insgesamt die größte Befriedigung oder die geringste Verletzung von Interessen nach sich zieht. Es bleibt uns danach nur die eine Deutung des materialen Opportunitätsprinzips, nach der dieses Prinzip den Menschen das Streben nach dem größtmöglichen Glück als Pflicht vorschreibt. Dieses Streben liegt aber auf Grund der hier gemachten Voraussetzung gar nicht in der Wahl des Menschen. Für ihn als ein mit Interessen begabtes Wesen ist es naturnotwendig; denn das einzige, was dieses Streben einzuschränken vermöchte, wäre die Vorstellung der Pflicht, von der aber gerade angenommen wird, daß sie eine solche Einschränkung nicht enthalte. Die Annahme eines allgemeinen Pflichtgebots, nach dem Glück zu streben, ist also widersinnig. Denn eine solche Annahme liefe auf die Vorstellung eines Sittengesetzes hinaus, das überhaupt nicht übertreten werden könnte. § 170.

Folgen der Anwendung des pädagogischen Opportunitätsprinzips. Es liegt auf der Hand, daß die Anwendung des Opportunitätsprinzips ebenso wie die des Autoritätsprinzips - soweit von einer konsequenten Durchführung derart widerspruchsvoller Prinzipien überhaupt die Rede sein kann - zum sittlichen

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Skeptizismus treiben wird, sobald sein dogmatischer Charakter dem zu erziehenden Menschen zum Bewußtsein kommt. In gleicher Weise wird es, da seine Vorschriften nur auf Grund von Uberredung den Schein von Verbindlichkeit gewinnen, die sittliche Wahrhaftigkeit zerstören. Und seine sittliche Verwerflichkeit wird offenbar nicht dadurch geringer, daß die Uberredung hier insofern leichter gelingt, als das subjektive Interesse des Zöglings dieser Uberredung entgegenkommt. Ferner kann unter der Voraussetzung, daß überwiegender Lohn oder überwiegende Strafe die Kennzeichen der guten oder der schlechten Handlung sind, nur dann der glückliche Erfolg einer Handlung das Zeichen ihrer sittlichen Vorzugswürdigkeit sein, wenn er alle Mißerfolge, die die Handlung nach sich zieht, überwiegt. Nur der Uberschuß der Interessenbefriedigung, der bleibt, wenn wir die Gesamtheit aller Folgen der Handlung in Betracht ziehen, kann sie als gut erweisen. Und ebenso kann zur Feststellung der sittlichen Verwerflichkeit der Handlung das mit ihr verknüpfte Unglück nur dann dienen, wenn es größer ist als ihr gesamter glücklicher Erfolg. Damit sich aber von glücklichem und unglücklichem Gesamterfolg überhaupt sprechen läßt, ist erforderlich, daß die Reihe der glücklichen und unglücklichen Folgen unseres Handelns einen Abschluß findet; denn sonst wäre es, bei der Unendlichkeit der Zukunft, immer möglich, daß jedes noch so große endliche Glück oder Unglück im weiteren Verlauf einmal durch einen entgegengesetzten Erfolg überwogen wird. Das Ergebnis, zu dem wir kommen, wenn wir die Reihe der glücklichen und unglücklichen Wirkungen durchlaufen, muß, wo es ein glückliches ist, ein so großes Glück darstellen, daß es alles im Gefolge der Handlung eintretende Unglück überwiegt, und wo es unglücklich ist, ein so großes Unglück, daß alles durch die Handlung mit verursachte Glück dahinter zurück.tritt. Denn nur dann läßt sich von einem glücklichen oder unglücklichen Gesamterfolg reden, ohne den uns das Kennzeichen der Sittlichkeit oder Unsittlichkeit verloren ginge. Wollten wir uns für die Abschätzung des zu erwartenden

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Glücks oder Unglücks an die Erfahrung halten, so bliebe es immer zufällig, ob das Ergebnis dieser Abschätzung mit den Wünschen unserer Erzieher harmoniert; denn es ist an und für sich zufällig, ob der naturgesetzlich bestimmte Erfolg unserer Handlung so ausfällt, wie der Erzieher ihn als Lohn oder Strafe gewollt hat. Uberdies läßt sich die angenommene Reihe der Folgen nicht überblicken. Wie weit wir auch die Wirkungen unserer Handlungen in die Zukunft verfolgen mögen, niemals bietet uns die Erfahrung die Gewähr, daß nicht ein weiterer Erfolg das Ergebnis unserer Abschätzung in dessen Gegenteil verkehrt. Der Enderfolg muß aber eindeutig feststehen, wenn die an ihn gebundenen Vorschriften für unser Handeln feststehen sollen. Damit also die Prophezeiungen des Erziehers hinsichtlich des glücklichen oder unglücklichen Erfolgs unseres Verhaltens nicht durch die Erfahrung Lügen gestraft werden, ist es erforderlich, daß derjenige glückliche oder unglückliche Erfolg, den er uns als Lohn oder Strafe ankündigt, sich aller Kontrolle unsererseits entzieht und daß dieses Glück oder Unglück größer ist als jedes im Lauf der Erfahrung zu erwartende Glück oder Unglück. Wenn demnach der Enderfolg unseres Verhaltens kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, so muß er ein Gegenstand des Glaubens sein, und zwar, um aller Kritik der Erfahrung entrückt zu sein, eines Glaubens, der den fraglichen Erfolg unseres Verhaltens über die Natur hinauslegt. An dieser Stelle wird daher für das pädagogische Opportunitätsprinzip eine religiöse Sanktion nötig, und wir kommen damit zu der Brücke, durch die das pädagogische Opportunitätsprinzip mit dem pädagogischen Autoritätsprinzip verbunden wird. Denn wenn der Erzieher so in den Naturlauf eingreifen will, daß der von ihm beabsichtigte Erfolg an Glück oder Unglück alles das übertrifft und durch alles das nicht durchkreuzt wird, was sich nach Naturgesetzen als Erfolg einer Handlung erwarten läßt, wenn der Erzieher also unendliches Glück und unendliches Unglück verhängen will, dann muß er über eine allen Naturkräften überlegene Kraft verfügen, d. h. er muß allmäch-

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tig sein. Nur der allmächtige und also göttliche Wille kann als Urheber einer solchen Verteilung von Glück und Unglück gedacht werden, und nur ein Wesen, das mit der Allmacht Allwissenheit verbindet, kann diese Verteilung den pädagogischen Zwecken gemäß ausführen; denn nur ein solches Wesen entgeht mit Sicherheit der Uberlistung von seiten der Menschen, die, wo sie es können, der verhängten Strafe entrinnen oder sich unverdienten Lohn aneignen. Ein menschlicher Erzieher, der sich selber zum Richter machen wollte, würde sich ständig bedroht sehen sowohl durch die ihm anhaftende Irrtumsmöglichkeit wie durch die von dem Zögling in Szene gesetzten Uberlistungsversuche, die er diesem nicht einmal zum Vorwurf machen könnte. Denn warum sollte der Mensch nicht nach dem Höchstmaß an Glück streben, da ihm doch Opportunitätserwägungen als oberste Richtschnur des Handelns vorgestellt worden sind? Wenn daher die Erziehung zur Betrügerei auch nicht in der Absicht des Erziehers liegt, so ist sie doch die tatsächliche Folge seiner Maßnahmen. Es bleibt also dem Erzieher, da er nicht über Allmacht und Allwissenheit verfügt, gar nichts anderes übrig, als sich zum Stellvertreter und Interpreten des allmächtigen Wesens zu machen, das Herz und Nieren prüft und vor dem alle Schliche zu Schanden werden. Hier kommt das Opportunitätsprinzip nicht ohne eine Anleihe beim Autoritätsprinzip aus. Wunder und Zeichen sind nötig, um den Willen des allmächtigen Gesetzgebers und Richters kund zu tun und um uns wissen zu lassen, was als Tugend und was als Laster zu gelten habe. Wenn es auch unmittelbar nur darauf ankommt, daß der Zögling glaubt, ein bestimmter Erfolg werde eintreten, so braucht er zur Begründung dieses Glaubens doch den weiteren Glauben an solche Tatsachen, durch die sich der göttliche Wille offenbart. Andererseits hatte sich ergeben, daß auch das Autoritätsprinzip in seinen letzten Konsequenzen die Methode des Erfolgs zu Hilfe nehmen muß; denn die göttliche Autorität muß sich darin bekunden, daß der endgültige Erfolg oder Mißerfolg unserer Handlung von der Achtung oder Mißachtung des gött-

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liehen Willens abhängt. Da also auf der einen Seite die Allmacht nur dadurch verbürgt ist, daß sie als strafender Richter auftritt, und auf der anderen Seite die angedrohte Strafe nur da nötigt, wo sie durch Allmacht verbürgt ist, so ist es klar, daß die beiden Methoden darauf angewiesen sind, sich gegenseitig Schlupfwinkel zu leihen. Wir begreifen, warum sie in der Praxis stets vermischt vorkommen, was dann wiederum erklärt, daß sie vielfach unter geborgtem Namen auftreten und sich dadurch der Kritik entziehen. Aber auch die Verquickung mit dem Prinzip der Autoritätund sei es selbst die Autorität Gottes - vermag der Opportunitätspädagogik keine höhere Weihe zu geben; sie nimmt ihr nicht einmal den Charakter, den sie ihren Grundsätzen nach nun einmal hat: den eines bloßen Geschäftsunternehmens, an dem sich zu beteiligen für den Zögling zwar gewisse Unbequemlichkeiten zur Folge hat, das zu vernachlässigen aber die Gefahr eines nicht wieder gut zu machenden Dbels bedeutet. Denn wenn überhaupt mit der Möglichkeit gerechnet werden muß, daß es eine Vergeltung im Jenseits gibt, dann ist es ein Gebot der Klugheit, sich gegen die Wirkungen seiner Sünden zu versichern und die Prämie in Form verdienstlicher Werke zu leisten. Wenn man ganz gewiß wäre, daß im Jenseits ein solches Strafgericht stattfindet, dann wäre es klug, sich aller Güter zu entäußern, um einen möglichst großen Anteil an den himmlischen Freuden zu erwerben. Aber es wäre ebenso unklug, den sicheren Besitz an irdischem Glück ganz preiszugeben zugunsten einer nur erhofften, himmlischen Glückseligkeit. Darum macht man am besten Halbpart: man sichert sich einen gewissen Teil irdischer Güter, um in diesem Leben nicht zu viel zu entbehren, und leistet eine kleine Abschlagszahlung an die Ewigkeit. Gibt es wirklich eine Hölle, so hat man gutgetan, sich wenigstens vor ihren ärgsten Schrecknissen zu bewahren. Gibt es keine, so ist es um so besser; man kann das kleine Opfer leicht verschmerzen, das wenigstens den durch Sorgen ums Jenseits nicht getrübten Genuß der irdischen Freuden zu sichern vermochte.

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Wie ist nach alledem die Wirkung der Opportunitätspädagogik auf die zu Erziehenden? Ein Verlangen, das durch Verheißung von Lohn oder Androhung von Strafe zur Nachgiebigkeit nötigt, ist nichts anderes als ein Rat der Klugheit, und seine Befolgung nichts anderes als ein Akt der Geschicklichkeit, sofern er nämlich das geeignete Mittel ist, den angekündigten Lohn zu gewinnen oder der angedrohten Strafe auszuweichen. Es kann aber für denjenigen, auf den die Methode angewandt wird, nur darauf ankommen, sich um einen möglichst geringen Preis Vorteile zu sichern, sich also den Maßnahmen des Erziehers mit Klugheit zu entziehen, sofern sich bequemere Wege anbieten als die Unterwerfung unter dessen Anforderungen. Es kommt bei dieser Methode also faktisch für Zögling und Erzieher alles auf einen Wettstreit der gegenseitigen Uberlistung an, auf die Ausbildung der Kunst, möglichst geschickt zu betrügen. In Anbetracht der Verbreitung, deren sich diese Methode erfreut, darf man sich daher nicht über die Klage wundern, daß alle Mühe der Erzieher vergeblich sei und daß es nicht gelinge, die Gesinnung der Menschen zu veredeln. In der Tat: Durch keine pädagogische Kunst wird es je gelingen, dem Menschen Beweggründe zum sittlichen Handeln einzupflanzen. Erziehung zur Sittlichkeit ist nur möglich dadurch, daß man die Triebfeder zum sittlichen Handeln von den Hemmungen befreit, die ihre Wirksamkeit zu gefährden drohen, und sie so, wie sie ursprünglich im Wesen des Menschen liegt, zur freien Entwicklung kommen läßt. Die Methode des pädagogischen Opportunitätsprinzips geht von der irrigen Annahme aus, daß der sittliche Antrieb nicht hinreiche, den Menschen zum sittlichen Handeln zu bewegen, sondern daß es dafür äußerer Anreize bedürfe. Jeder Versuch aber, den sittlichen Antrieb durch äußere Antriebe zu ersetzen oder auch nur zu unterstützen, muß dahin führen, daß er geschwächt, wenn nicht gar völlig gelähmt wird. Es beweist nicht die Kunst des Pädagogen, sondern im Gegenteil die Widerstandskraft des Zöglings gegen eine solche Erziehung, wenn diese keine derartige Lähmung hinterläßt. Die

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angeblichen Erfolge dieser Methode sind also in Wahrheit nur ein Beweis des Gegenteils der ihr zu Grunde liegenden Voraussetzung, nämlich ein Beweis dafür, daß der sittliche Antrieb, der ursprünglich im Menschen liegt, in diesen Fällen selbst durch allen Aufwand an Kunst nicht ausgerottet worden ist. Mehr als die Erbringung dieses Beweises kann aber durch diese Methode nicht erreicht werden. Denn jeder Versuch ihrer Anwendung geht von der Voraussetzung aus, daß der sittliche Antrieb von sich aus den Willen nicht zu bestimmen vermag und daß darum gar nicht ernstlich der Versuch gemacht zu werden braucht, die Wirksamkeit dieses Antriebs zu erproben. Der Erzieher hindert den Zögling daran, die Kraft der eigenen sittlichen Einsicht zu erfahren, indem er ihn von vornherein mit Mißtrauen gegen diese Kraft erfüllt und ihn dadurch zur Selbstverachtung bringt. Er erweckt die Meinung, daß die Erfüllung der Pflicht nicht möglich sei. Was ein Mensch aber nicht für möglich hält, wird ihm auch niemals gelingen. Ein solcher Erzieher mutet seinem Zögling zu, sittlichen Grundsätzen nicht weiter zu trauen, als sich ein subjektives Interesse auf die sittlich gebotene Handlung richtet, d. h. er mutet ihm zu, auf die sittlichen Grundsätze selber nichts zu geben. Diese Methode kann also kein sittliches Handeln hervorbringen, sondern allenfalls zufällig Legalität, und zwar aus Furcht vor Strafe. Furcht ist die Unlust aus der Erwartung der unangenehmen Folgen einer Handlung, sofern diese Unlust einen Gegenantrieb gegen unsere Interessen an der Handlung bildet. Sie ist moralische Furcht, wenn dieses Interesse an der Handlung ein moralisches ist. Die Kraft der Dberwindung der Furcht nennen wir Mut und, wenn sie den fortwirkenden Gegenantrieben standhält, Tapferkeit. Sie ist moralischer Mut oder moralische Tapferkeit, wenn das Interesse an der Handlung ein sittliches Interesse ist. Den moralischen Mut und die moralische Tapferkeit zu stärken, ist Aufgabe der Erziehung. Die Erziehungsmethode, die wir hier betrachten, tut das Gegenteil. Sie erzieht den Menschen zur Fe i g h e i t und ertötet in ihm

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den Mut und die Tapferkeit, die zu entwickeln ihre Aufgabe ist. Die Wirkung der Opportunitätspädagogik ist daher wie die der Autoritätspädagogik nicht ein sittlich freier Mensch, sondern ein sittlich geknechteter. Es besteht allerdings ein gewisser Unterschied in dem Erfolg dieser beiden Methoden. Durch die Lohn- und Strafpädagogik wird der Mensch zwar nicht wie durch die Gehorsamspädagogik unmittelbar zum Knecht des Willens gemacht, der die Gewalt über ihn hat, wohl aber mittelbar, nämlich insofern, als der Erfolg, nach dem der Mensch sein Verhalten bestimmt, bei hinreichender Macht des Erziehers von dessen Gefallen oder Mißfallen abhängt. Wir nennen die Gesinnung eines Menschen, der seinen Willen unmittelbar dem Willen eines Gewalthabers unterwirft, Untertänigkeit , und ihn selber den Untertan oder Duckmäuser; die Gesinnung eines Menschen, der sich einem anderen darum unterwirft, weil dieser die Macht hat, die Befolgung seiner Vorschriften zu belohnen oder ihre Ubertretung zu bestrafen, nennen wir Kriecherei oder Strebertum, und ihn selber den Kriecher oder Streber. Denn Strebertum ist die Gesinnung eines Menschen, der die eigene Zufriedenheit mit sich selber der Anerkennung seitens eines andern hintansetzt, sofern dieser sich dazu bestimmen läßt, ihm einen Vorteil zuzuwenden. Es ist der natürliche Wunsch eines jeden, sich die Zufriedenheit derer zu sichern, von deren Willkür sein Wohl und Wehe abhängt. Denn dieser Wunsch geht unmittelbar hervor aus dem Streben, sich die Mittel zur Befriedigung der eigenen Interessen zu sichern. Die Erhebung dieses Strebens zum beherrschenden und alle widerstreitenden Rücksichten seinerseits ausschließenden Prinzip des Handelns ist daher eine um so gefährlichere Verderbnis der Gesinnung, als für ein Wesen, das sich überhaupt in Abhängigkeit von fremder Willkür befindet, die Versuchung, seine eigene sittliche Freiheit für den Preis der fremden Zufriedenheit hinzugeben, unmittelbar der stärksten natürlichen Triebfeder entstammt. Für niemanden aber ist diese Abhängigkeit größer als für ein der geistigen und physischen Ubermacht ausgesetztes Kind.

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Die Gefahr wird vollends unüberwindlich dadurch, daß man die sittliche Einschränkung nicht nur wegfallen läßt, sondern die sonst vielleicht nur unter einer übermächtigen Versuchung sich entwickelnde Kriecherei zum Inhalt der Pflicht selber stempelt. Auch die Wirkung dieser Methode ist daher, wenn nicht Demoralisation, so doch moralische Perversion. § 171.

Provisorische Bedeutung des Opportunitätsprinzips. Wie kann es sich nun angesichts dieser aller Sittlichkeit Hohn sprechenden Machenschaften der Opportunitätspädagogik mit dem Einwand verhalten, daß eine solche Methode wenigstens provisorische Bedeutung zu beanspruchen habe, in Ermanglung der für die Anwendung einer idealeren Methode erforderlichen geistigen Reife des Zöglings? Nun, wie die Methode des Autoritätsprinzips, so erstreckt auch die des Opportunitätsprinzips ihre Wirkungen so weit, daß, wo sie einmal mit hinreichender Kohsequenz angewandt worden ist, die Möglichkeit einer anderen Erziehungsmethode gar nicht bestehen bleibt; denn weit entfernt, die der sittlichen Entwicklung drohenden Gefahren zu bekämpfen, läuft diese Methode auf nichts anderes hinaus als auf die Kunst, die größte dieser Gefahren, den Zweifel an der sittlichen Kraft, unüberwindlich zu machen und damit der sittlichen Einsicht die Bewegkraft für den Willen zu nehmen. Ist aber einmal das Pflichtbewußtsein von den Bestimmungsgründen des Willens ausgeschlossen, so darf man sich nicht wundern, wenn der Appell an das Pflichtbewußtsein ungehört verhallt, wenn Nötigung über Nötigung erforderlich wird, um den Menschen zu Taten anzutreiben, die er aus freien Stücken tun sollte. Wer einmal durch Erziehung planmäßig dazu angehalten worden ist, sich nur zu der Handlungsweise zu entschließen, die den größten Vorteil verspricht, für den ist es praktisch bedeutungslos, von Handlungen zu wissen, die getan werden sollen, auch wenn

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keine Aussicht auf Lohn winkt. Selbst wenn also mit der Anwendung dieser Erziehungsmethode die Entwicklung des Geistes zur sittlichen Klarheit Hand in Hand ginge, würde diese sittliche Klarheit in praktischer Hinsicht, d. h. für das Handeln des Menschen ohne alle Bedeutung bleiben. Das Mißtrauen in die sittliche Kraft des Menschen, d. h. in die Bewegkraft der sittlichen Einsicht, setzt den Erzieher in die Verlegenheit, einen plausiblen Grund auftreiben zu müssen, der anstelle des für ohnmächtig erklärten Pflichtbewußtseins den Willen zur Erfüllung der Pflicht bestimmt. Er wird sich also nach einem außermoralischen Antrieb umsehen, zu dessen Befriedigung die Pflichterfüllung sich als Mittel empfiehlt. Um uns die Inkonsequenz dieser Methode deutlich vor Augen zu führen, wollen wir sie an einem typischen Beispiel, das dieser Verworrenheit seine Wirkung verdankt, näher untersuchen. Wenn mir mein Erzieher sagt: ,,Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es Dir wohl gehe und Du lange lebest auf Erden", so weiß ich zunächst nicht, was diese Zumutung bedeuten soll. Würde er mir einfach sagen: ,,Du sollst Vater und Mutter ehren", so würde ich dies ohne weiteres verstehen. Es würde bedeuten, daß ein solches Verhalten Pflicht sei, und daß es also ohne alle Rücksicht auf anderweitige Zwecke mir geboten sei, meine Eltern zu ehren. Auch wenn er mir sagte: „Willst Du, daß es Dir wohl gehe und Du lange lebest auf Erden, so mußt Du Vater und Mutter ehren", so könnte ich das wenigstens verstehen, d. h. ich könnte einen Sinn mit diesen Worten verbinden. Sie würden bedeuten, daß es sich aus Klugheitsgründen von selber verbiete, anders zu handeln. Sagt man mir aber: ,,Du so 11 s t Vater und Mutter ehren, auf daß es Dir wohl gehe und Du lange lebest auf Erden", so verstehe ich gar nichts; denn entweder so 11 die fragliche Handlung geschehen und ist darum notwendig ohne Rücksicht auf irgend einen Zweck; dann ist es widerspruchsvoll, ihre Verbindlichkeit von einem vorausgesetzten Zweck. abhängig zu machen, wie das im Nachsatz geschieht. Oder aber die Notwendigkeit der Handlung ist in der Tat nur die eines notwendigen Mitte 1s ;

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dann kann ihr nicht die kategorische Verbindlichkeit zukommen, die der Vordersatz ausspricht. Obwohl ich hiernach den fraglichen Satz als solchen ganz und gar nicht verstehe, verstehe ich aber recht wohl, wie der Erzieher dazu kommt, ihn aufzustellen. Einerseits sucht er aus mangelndem Glauben an die sittliche Kraft nach einer anderweitigen Stütze für das Gebot der Pflicht, und darum hält er es für gut, diesem Gebot die Aussicht auf den Vorteil hinzuzufügen. Andererseits kann er nicht erwarten, daß sich die Menschen durch die Lockung eines ungewissen und nur versprochenen Gewinns dazu bewegen lassen, einen sicheren Vorteil auszuschlagen; darum hält er es für geraten, diese Lockung durch den Zusatz einer Pflicht zu ergänzen. Er läßt sich also nach beiden Seiten einen Ausweg offen und beweist damit, daß er im Grunde auch der Macht einer durch Lockungen und Drohungen ausgeübten Nötigung mißtraut. Er könnte nie und nimmer darauf verfallen, an das Pflichtbewußtsein zu appellieren, wenn er es für gänzlich ausgeschlossen hielte, daß die Vorstellung der Pflicht den Willen auch entgegen einer solchen Nötigung zu bestimmen vermöchte. Und doch wagt er es nicht, mit dem Pflichtbewußtsein als einem Bestimmungsgrund für den Willen zu rechnen, sondern sucht nach einem anderweitigen Grund, der die Pflichterfüllung tunlich erscheinen lassen könnte. Der Glaube an die religiöse Sanktion der sittlichen Gebote, auf die er dabei letzten Endes verfallen muß, ist also nichts anderes als der Ausfluß eines sittlichen Unglaubens. Wer aber in diesem Unglauben befangen ist und demgemäß mit den ihm anvertrauten Menschen verfährt, sollte wenigstens so ehrlich sein, sein Handwerk nicht für Erziehung auszugeben, und sich mit dem bescheideneren Anspruch begnügen, die Wesen, denen er keine sittliche Kraft zutraut, wie Tiere abzurichten. Fragen wir uns unbefangen, also ohne schon von einem solchen Unglauben auszugehen, ob wirklich das reine Pflichtbewußtsein so untauglich zu einem Beweggrund des Handelns ist, wie dies von den Anhängern des Opportunitätsprinzips vorausgesetzt wird! Zur Entscheidung dieser Frage ist nichts an-

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deres nötig als eine einfache Betrachtung des Begriffs der Pflicht. Es wäre nämlich unmittelbar ein Widerspruch, eine Pflicht anzunehmen, deren Erfüllung abhängig ist von den zufällig hinzukommenden außermoralischen Triebfedern. Denn im Bewußtsein der Pflicht, das von jedem Bewußtsein einer subjektiven Nötigung verschieden ist, liegt die Vorstellung eines Wertes, der die Befriedigung aller möglichen widerstreitenden Neigungen ausschließt. Diese Vorstellung muß daher in der Tat genügen, einen jeden zur Befolgung des Pflichtgebotes -zu bestimmen, der überhaupt die hinreichende Geistesklarheit hat und fähig ist, sich zu dem zu entschließen, was er gemäß eigener Einsicht für das Bessere hält. Die Meinung, als ob zum pflichtbewußten Menschen ein gebrochener Wille und Unterwürfigkeit der Gesinnung gehörten, verdanken wir erst der Verwirrung, die durch die Machenschaften der Opportunitäts- und Autoritätspädagogik angerichtet worden ist. Das Gegenteil ist der Fall: Das Bewußtsein der Pflichterfüllung ist das Bewußtsein uneingeschränkter Selbständigkeit und Freiheit des Menschen; denn es ist das Bewußtsein, daß wir uns bei aller Abhängigkeit von Trieben und Neigungen, in die wir von Natur aus verstrickt sind und die wir uns nicht selber gewählt haben, von aller Sklaverei dieser Triebe und Neigungen freimachen und uns dadurch einen Wert geben können, wie er durch die Befriedigung der widerstreitenden Neigungen nicht erreicht werden könnte. Um dem Opportunitätsprinzip noch einen Schlupfwinkel zu öffnen, könnte man hier einwenden, daß eine Erziehungsmethode, die sich allein der Erweckung und Entwicklung des Pflichtbewußtseins widmet, darum untauglich sei, weil einem geistig noch nicht hinreichend entwickelten Menschen keine so subtile Unterscheidung zugemutet werden könnte, wie die zwischen der subjektiven Nötigung durch ein Interesse und der objektiven Nötigung durch eine Pflicht, eine Unterscheidung, die bekanntlich solche Geisteskräfte erfordere, daß sich selbst die Philosophen noch nicht über sie verständigt hätten. Nun mag es mit der Schwierigkeit dieser Unterscheidung stehen,

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wie es will, jedenfalls ist eine Erziehungsmethode, die sich der Vermischung dieser beiden verschiedenen Prinzipien bedient, nicht verständlicher. Denn eine solche Erziehungsmethode ist objektiv überhaupt nicht verständlich und kann nur subjektiv verstanden werden als ein Ausfluß der Verlegenheit des Erziehers, der sein eigenes Handwerk nicht versteht. Aus dem Zweifel an der Tauglichkeit einer nur an die sittlichen Antriebe appellierenden Erziehungsmethode läßt sich nicht auf das schließen, was hier erschlossen werden soll, daß nämlich irgend eine andere Methode erlaubt oder auch nur entschuldbar sei. Der einzige bündige Schluß wäre nur der, daß es überhaupt unmöglich sei, Menschen zu erziehen, woraus die Notwendigkeit folgen würde, von allen Bemühungen um Erziehung ein für allemal abzulassen. Wie der Beweis, daß die Vorstellung der Pflicht nicht hinreichend sei, den Willen zu bestimmen, denen überlassen werden darf, die sich zu einer solchen Behauptung versteigen, so liegt auch die Beweislast auf seiten desjenigen, der die Empfänglichkeit des zu erziehenden Menschen für eine moralische Erziehungsmethode bestreitet. Denn bei einem Wesen, das überhaupt erzogen werden soll, müssen wir notwendig diese Empfänglichkeit voraussetzen, wenn wir uns nicht in einen Widerspruch verwickeln wollen. Will aber jemand den Beweis dafür antreten, daß sich die Menschen faktisch nur durch Betrug und Nötigung zur Einhaltung der Pflichtgebote bewegen lassen, so soll er sich vorsehen, daß er sich diesen Beweis nicht zu leicht macht. Er darf ihn nämlich nur auf solche Beispiele gründen, in denen die moralische Erziehungsmethode von Anfang an, unter konsequenter Ausschaltung jeder Opportunitätspädagogik, angewandt worden ist. In jedem andern Fall nämlich würde ein Mißerfolg keinen eindeutigen Rückschluß auf die moralische Unempfänglichkeit des Zöglings zulassen, sondern er könnte seinen Grund ebenso darin haben, daß der Zögling durch die Beimischung anderer Methoden für die Wirksamkeit der moralischen Einwirkung verdorben worden ist. Haben diese Pädagogen die moralische Empfänglichkeit ihrer Zöglinge ein-

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mal durch falsche Erziehungsmethoden unterbunden, dann haben sie es leicht, an Hand von Tatsachen die moralische Unempfänglichkeit zu beweisen, dies aber nur darum, weil sie selber es sind, die diese Tatsachen herbeigeführt haben. Sie haben jedoch keineswegs bewiesen, daß Menschen, die von der Anwendung einer unmoralischen Erziehungsmethode verschont worden sind, keine Empfänglichkeit für eine moralische Erziehung besäßen. Wenn man sich endlich einmal entschließen wollte, die Frage in dieser allein angemessenen Weise zu stellen, und dann an Hand der Erfahrung zu prüfen, welche Bewandtnis es mit dem moralischen Pessimismus hat, dann würde man vielleicht zu seiner Uberraschung finden, daß die Empfänglichkeit für moralische Beweggründe alles das übertrifft, was man vor diesem Versuch erwartet hatte, und man wird dann den wahren Menschenkennern recht geben, die, freilich ohne Gehör zu finden, dafür eingetreten sind, daß es nicht der Verwerflichkeit der menschlichen Natur, sondern dem Unglauben und der Tölpelhaftigkeit derer, die sich den Namen von Erziehern anmaßen, zugeschrieben werden müsse, daß das Werk der Erziehung, das diese in Wahrheit gar nicht betreiben, nicht gelingen will. § 172.

Erziehung und Nötigung. Die Vertreter des Opportunitätsprinzips könnten allen gegen ihre Erziehungsmethode vorgebrachten Bedenken gegenüber den Standpunkt einnehmen, daß eine konsequente Vermeidung der Opportunitätspädagogik zur Ablehnung jeder Nötigung und jeden Zwanges führen müsse; diese Ablehnung aber könne in der Erziehung unmöglich eingehalten werden. An dieser Uberlegung ist so viel richtig, daß der Erzieher zur Wahrung der Interessen seines Zöglings unter Umständen auf die Anwendung von Zwangsmitteln angewiesen ist. Das Kind ist bei seinem Mangel an Einsicht und Kraft von Gefahren bedroht, denen es nicht auszuweichen versteht, ja die es viel-

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leicht nicht einmal als solche erkennt. Wie soll sich der Erzieher in solchen Fällen verhalten? Um hier nicht durch die am Opportunitätsprinzip geübte Kritik irregeleitet zu werden, muß man bedenken, daß diese Kritik sich gegen den Versuch richtet, durch Androhung von Strafe oder durch Verheißung von Lohn zu sittlichem Handeln anzuleiten. In dem vorliegenden Fall ist die Frage anders gestellt. Hier handelt es sich überhaupt nicht um Erziehung, sondern darum, ob es zulässig ist, die Wohlfahrt des zu erziehenden Menschen durch Zwangsmaßnahmen zu schützen, sei es dadurch, daß man ihn unmittelbar durch physische Gewalt an einer schädlichen Handlung hindert, sei es dadurch, daß man künstlich mit einer solchen Handlung Folgen verbindet, die das Kind zur Unterlassung der Handlung bestimmen. Diese Frage ist durch die Widerlegung des Opportunitätsprinzips noch nicht entschieden. Sehen wir aber näher zu, so finden wir, daß durch die Schwierigkeit selber, die auf diese Frage führt, bereits gewisse Grenzen festgelegt sind, innerhalb deren die Anwendung von Zwang allein sinnvoll und gerechtfertigt sein kann. Wenn der Erzieher nämlich an eine schädliche Handlung künstlich Folgen knüpft, die das zu erziehende Kind von dieser Handlung abhalten sollen, so setzt er damit bei dem Kind das Verständnis für Kausalzusammenhänge voraus. Denn wo dieses Verständnis fehlt, können die künstlich eingeführten Folgen nicht als Wirkung der Handlung verstanden werden und dadurch einen Antrieb zur Unterlassung der Handlung hervorrufen. In einem solchen Fall würde die Herbeiführung solcher Folgen nur die Roheit des Erziehers und seine Nichtachtung gegenüber der Persönlichkeit des zu erziehenden Kindes beweisen. Die Berechtigung der Nötigung setzt andererseits voraus, daß die Schädlichkeit der Folgen der Handlung, um derentwillen der Erzieher das Kind von ihr zurückhalten will, ihrerseits noch nicht hinreichend verstanden wird, um einen Bestimmungsgrund zur Unterlassung der Handlung abzugeben. Sobald daher die Möglichkeit besteht, dem Kind diese Wirkung

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seiner Handlung verständlich zu machen und es dadurch zu veranlassen, aus eigener Einsicht auf die Handlung zu verzichten, verliert die Anwendung von Zwangsmaßnahmen jede Berechtigung. Fragen wir nun, wie weit die Nötigung innerhalb der abgeleiteten Grenzen zulässig ist, so folgt aus der Kritik an der Opportunitätspädagogik die einschränkende Bedingung, daß die Nötigung nie in die Form des Gebots gekleidet werden darf. Mit der Einführung künstlich an eine Handlung geknüpfter Folgen wendet sich der Erzieher an die Klugheit des zu erziehenden Kindes und stellt es vor einen hypothetischen Imperativ. Er soll darum auch den Schein vermeiden, als sei es Pflicht, die Handlung zu unterlassen. Nur dadurch, daß er in solchen Fällen auf jedes Gebot, ja schon auf die Äußerung eines Verlangens verzichtet, kann er die eingeführten Maßnahmen vor der Verwechslung mit einer Strafe im Sinn des Opportunitätsprinzips sichern. Zur Rechtfertigung einer Zwangsmaßnahme genügt es aber keineswegs, daß diese nicht den Charakter der Strafe trägt. Es bleibt die Gefahr bestehen, daß der durch die Nötigung erzielte Vorteil wieder aufgehoben wird durch den Schaden, den sie dem Werk der Erziehung zufügt dadurch nämlich, daß die Anwendung von Zwangsmitteln auf den zu erziehenden Menschen wie bloße Gewalttätigkeit wirkt. Dieser Eindruck wird z. B. dann entstehen, wenn die Zwangsmaßnahmen nicht alle Glieder der Gemeinschaft, in der das Kind lebt, gleichmäßig betreffen. Jede Bevorzugung oder Benachteiligung Einzelner, die hier zugelassen wird und die von dem Kind als ein Akt der Willkür verstanden wird, erweckt in ihm die Dberzeugung, daß es selber der rohen Gewalt ausgeliefert ist. Damit wird in ihm das Vertrauen zu seinem Erzieher erschüttert. Ohne dieses Vertrauen ist aber die Erziehung nicht möglich. Das zu erziehende Kind muß die Sicherheit haben, daß der Erzieher seine Zwangsmittel niemals mißbraucht, daß er vielmehr das Selbstbestimmungsrecht seines Zöglings achtet und dessen Willen nicht zu brechen, sondern gerade zu stärken bemüht ist.

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Die Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht des Zöglings, wie übrigens auch der Zweck, um dessentwillen der Erzieher zu Zwangsmaßnahmen greift, verlangen ferner, daß der Erzieher diese Maßnahmen, wo er sie anwendet, mit unerbittlicher Konsequenz durchführt. Um als Wirkung der Handlung aufgefaßt zu werden, muß die vom Erzieher festgesetzte Folge mit der Handlung wie durch ein Naturgesetz verknüpft sein. Anderenfalls würde sie als Ausfluß der Laune des Erziehers erscheinen und nichts weiter bewirken als eine Einschüchterung des Zöglings, d. h. eine durch die Unvorhersehbarkeit der Folgen seines Handelns bedingte Lähmung seiner Tatkraft. Wer nie vorauswissen kann, welche Folgen er sich durch seine Handlung zuzieht, der wird bedenklich werden, sich überhaupt zu einer Handlung zu entschließen, und er wird, wenn sein Zustand irgend erträglich ist, lieber alles damit verbundene Elend in Kauf nehmen als durch das Wagnis einer Veränderung seiner Lage die ihm stets drohende Gefahr größerer Ubel heraufzubeschwören. Ob im einzelnen Fall eine Zwangsmaßnahme diesen Bedingungen genügt, ist eine Frage der Erfahrung. Um aber diese Frage entscheiden zu können, muß man im Besitz der Kriterien sein, durch die die scharfe Grenze zwischen pädagogisch zulässigen Zwangsmaßnahmen und den verderblichen Methoden der Opportunitätspädagogik hinreichend gekennzeichnet wird. Nur bei völliger Klarheit über diese Grenze kann der Erzieher der Gefahr entgehen, daß er das Kind um der Vermeidung äußerer Schäden willen unversehens auf den Weg von Opportunitätserwägungen lockt und ihm dadurch den inneren Halt nimmt, der in der Festigkeit des Charakters liegt.

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8. Kapitel.

Pädagogische Folgerungen aus dem Prinzip der ethischen Bereitschaft. (Kritik des pädagogischen Moralismus.) § 173.

Widerspruch des pädagogischen Moralismus. Mit der Verwerfung des Opportunitätsprinzips ist das ridltige Verständnis für das Prinzip der Gesinnungsethik noch keineswegs gesichert. Im Gegenteil: Die Ablehnung jeglicher Art von Opportunitätsrücksichten auf sittlichem Gebiet schließt zwar eine Anerkennung des Prinzips der Gesinnungsethik ein, legt aber andererseits eine Dberspannung dieses Prinzips nahe, die Auffassung nämlich, daß dieses Prinzip alle Handlungen verbiete, deren Bestimmungsgrund nicht das Pflichtbewußtsein ist, mit anderen Worten, die nicht moralisch sind. Diese Auffassung beruht auf dem Mißverständnis, als sei eine Handlung, die nidlt durch das Bewußtsein der Pflicht bestimmt ist, sondern durch eine Neigung, darum schon sittlich verwerflich. Man übersieht dabei, daß sie, wenn auch nicht moralisch, so doch redlt wohl amoralisch sein könnte, sofern sie nämlich, ohne ihren Bestimmungsgrund dem Bewußtsein der Pflicht zu entnehmen, doch mit diesem in Einklang ist. Die Möglichkeit solcher Handlungen steht fest auf Grund des bloßen Begriffs der Pflicht. Die Ansicht, wonach nur Handlungen aus Pflicht erlaubt, Handlungen aus Neigung dagegen verboten sind, nenne idl das Prinzip des Moralismus. Jede Ansicht, die auf diesem Prinzip beruht, und infolgedessen jede Erziehungsmethode, die von ihm geleitet wird, ist in sich widerspruchsvoll und läßt sich daher bereits an dieser Stelle, im formalen Teil unserer Wissenschaft, zurückweisen. Eine Handlung aus Neigung ist nämlich entweder der Pflidlt gemäß oder sie widerstreitet ihr. Ist sie der Pflicht gemäß, so kann sie nicht verboten sein und ist also

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erlaubt. Widerstreitet sie ihr aber, so ist sie darum verboten, weil sie der Pflicht widerstreitet, nicht aber darum, weil ihr Bestimmungsgrund eine Neigung ist. Der Umstand, daß wir eine Handlung gern tun, kann folglich in keinem Fall ein Grund ihrer sittlichen Verwerflichkeit sein. Da, wo die Neigung der Pflicht widerstreitet, aber auch nur da, soll die Pflicht unter Uberwindung der Neigung erfüllt werden. Hier allein also besteht die Möglichkeit und Notwendigkeit etner moralischen Handlung. Denn es würde sich allerdings widersprechen, Handlungen, die der Neigung widerstreiten, aus Neigung zu tun. Eine solche Handlung kann in der Tat nur aus Pflicht geschehen, d. h. sie muß moralisch sein. Nun ist es aber an und für sich zufällig, ob Pflicht und Neigung im einzelnen Fall zusammenstimmen oder mit einander in Widerstreit kommen. Wir müssen also bereit sein, im Falle eines Widerstreits die Pflicht unter Uberwindung der Neigung zu tun. Diese Bereitschaft nenne ich die moralische Bereitschaft. Nur durch ihre Stiftung kann die Pflichterfüllung dem Zufall entzogen werden. Sittliche Gesinnung besteht also nicht im moralischen Handeln, sondern vielmehr in der moralischen Bereitschaft. Ja sie ist überhaupt nichts anderes als diese Bereitschaft. In dem Satz, wonach nur die Stiftung der Bereitschaft zum moralischen Handeln, nicht aber die moralische Handlung selber, Pflicht sein kann, liegt der Ton, sofern es sich um die Ergänzung des Prinzips der Gesinnungsethik handelt, auf dem Negativen, nämlich darauf, daß es nicht Pflicht ist, immer moralisch zu handeln. Diesen Satz, der sich analytisch aus dem Begriff der Pflicht ergibt, nenne ich das Prinzip der sittlichen Bereitschaft. Dieses Prinzip wird verkannt in der Pädagogik des Moralismus, die damit selber widerspruchsvoll wird. Sie beruht im Grunde auf dem gleichen Fehler wie der pädagogische Opportunismus. Es wird nämlich hier wie dort aus dem zufälligen Verhältnis von Pflicht und Neigung ein notwendiges gemacht. So wie der Opportunist die Ubereinstimmung mit der Neigung zur notwendigen Bedingung der Pflichterfüllung macht,

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so können wir von dem Moralisten sagen, daß er die Ubereinstimmung mit der Abneigung zur notwendigen Bedingung der Pflichterfüllung erhebt. Nun ist aber der eine Umstand für die Verbindlichkeit einer Handlung ebenso zufällig wie der andere. Der Unterschied der Begriffe genügt, um einen logischen Ubergang von der Neigung zur Pflicht oder auch von der Abneigung zur Pflicht auszuschließen. § 174.

Widerspruch des materialen Moralismus. Nur wiederum durch Hinzunahme eines synthetischen Satzes könnte der Vertreter des moralistischen Prinzips den behaupteten Zusammenhang zwischen Pflicht und Neigung aufrechtzuerhalten versuchen, durch einen Satz nämlich, der die beiden an sich nicht identischen Begriffe in Verknüpfung, und zwar in notwendige Verknüpfung, bringt. Dies gelingt, indem das Prinzip des Moralismus in den Inhalt des Sittengesetzes selber verlegt wird. Das Sittengesetz wäre nach dieser Voraussetzung das Gebot, stets entgegen der Neigung zu handeln, stets das zu tun, was man ungern tut. Hiernach läge der Verpflichtungsgrund wirklich im Sittengesetz und nicht in dem Umstand, daß wir der Handlung abgeneigt sind. Andererseits erscheint hier die Abneigung als das Kriterium der Pflicht. Wie der hier versuchte Ausweg aus den Widersprüchen des Moralismus genau den früher behandelten materialen Prinzipien entspricht, so können wir uns auch in der Kritik weitgehend an die dort eingeschlagene Methode der Widerlegung halten. Zunächst ist wieder so viel klar, daß ein allgemeines Gebot, schlechthin der Neigung entgegenzuhandeln, undenkbar ist, da unter Umständen die Verletzung der einen Neigung die Befriedigung einer anderen nach sich zieht. Wir bedürfen darum auch hier eines Merkmals, an dem sich die zu überwindend~ Neigung als solche erkennen läßt; diese Auszeichnung kann, wie bei den bisher untersuchten materialen Prinzipien, nicht in

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einem sittlichen Merkmal liegen. Anderenfalls müßten wir ja bereits ein höheres Gebot voraussetzen, dem gemäß gute und schlechte Neigungen unterschieden werden könnten. Es bleibt folglich auch beim materialen Moralismus nur die Möglichkeit, die ausgezeichnete Neigung durch ihre Stärke zu bestimmen, dieses Prinzip also aufzufassen als das Gebot, der überwiegenden Neigung entgegenzuhandeln. Nehmen wir also an, es sei allemal Pflicht, der überwiegenden Neigung entgegenzuhandeln. Die überwiegende Neigung ist derjenige Antrieb, der, wenn nicht ein sittlicher Antrieb hinzuträte, den Bestimmungsgrund der HanJlung bilden müßte. Wir hätten hier also ein Sittengesetz, durch das eine Handlung geboten wäre, die, abgesehen von einem auf sie gerichteten sittlichen Antrieb, nach Naturgesetzen unmöglich wäre. Es liegt aber im Begriff der Pflicht, daß das, was sie gebietet, ohnehin, d. h. abgesehen vom Sittengesetz, wenigstens möglich sein muß. Denn die Neigung ist, wie man sich treffend ausdrücken kann, blind; ihre Stärke steht in keinem gesetzmäßigen Verhältnis zur Vorzugswürdigkeit ihres Gegenstandes, ebensowenig in dem des Widerstreits wie in dem der Ubereinstimmung. Es gibt keinen notwendigen Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung. Es müßte aber einen solchen geben, wenn es das Sittengesetz geben sollte, stets der überwiegenden Neigung entgegenzuhandeln. Also ist ein solches Sittengesetz unmöglich. Man kann sich die Ungereimtheit, die in der Annahme eines solchen Sittengesetzes liegt, auch durch eine etwas andere Uberlegung deutlich machen: Es wäre nämlich eine Konsequenz der fraglichen Auffassung des Sittengesetzes, daß die Möglichkeit eines sittlich vollkommenen Wesens, d. h. eines solchen, das an sich gut ist, logisch ausgeschlossen wäre. Ein Wesen ist an sich gut, wenn es seiner Natur nach nur das Gute tun kann, d. h. wenn sein Wille von Natur aus auf das Gute gerichtet ist, von Natur aus, d. h. ohne daß dazu eine Uberwindung widerstreitender Antriebe nötig wäre. Unter Naturgesetzen kann es ein solches Wesen nicht geben, aber das schließt nicht aus, daß

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der Begriff eines solchen Wesens logisch einwandfrei bleibt, seine Möglichkeit also wenigstens nicht logisch undenkbar ist. Nach dem moralistischen Sittengesetz wäre aber gerade das der Fall. Denn einerseits müßte für ein solches Wesen der stärkste natürliche Antrieb auf das Gute gerichtet sein, andererseits bestünde aber das Gute nach der Voraussetzung dieses Sittengesetzes in der Uberwindung des stärksten natürlichen Antriebes, so daß der stärkste natürliche Antrieb auf die Uberwindung des stärksten natürlichen Antriebes gerichtet wäre, was sich widerspricht. Es könnte also nach dieser Voraussetzung ein Wesen, das an sich gut ist, gar nicht existieren. Seine Möglichkeit wäre nicht erst durch die Naturgesetze ausgeschlossen, sondern durch das Sittengesetz selber, durch das bloße Kriterium des Guten. § 175.

Abstrakter Beweis für die Unmöglichkeit des materialen Moralismus. Man kann den etwas umständlichen Beweis für die Unmöglichkeit des materialen Moralismus vereinfachen und ihn auf eine durchsichtigere, wenn auch abstraktere Form bringen. Man braucht nur zu fragen, was denn hier unter der zu überwindenden Neigung verstanden werden soll. Wenn wir sonst an eine sittliche Vorschrift denken, so nötigt sie auch, Neigungen zu überwinden, nämlich alle die Neigungen, die dem durch die Vorschrift Gebotenen entgegenstreben. Diese Neigungen sind daran erkennbar, daß sie im Widerstreit mit dem objektiv Gebotenen sind. Wollen wir z. B. die Vorschrift: ,,Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Gut!" befolgen, so müssen wir alle diejenigen Neigungen überwinden, die in dem Ausdruck „begehren Deines Nächsten Gut" gekennzeichnet sind. In dem Fall des Moralismus bietet das fragliche Gebot kein Merkmal, an dem man die zu überwindende Neigung erkennen könnte. Sein Inhalt erschöpft sich in der Forderung: ,,Uberwinde die Neigung!" Was fällt aber unter den Begriff der Neigung?

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Offenbar alle die Interessen, die sich uns unmittelbar auf' drängen in dem Streben nach Lust oder nach Vermeidung von Unlust. Nun können wir aber rein logisch nicht ausschließen, daß auch das Bewußtsein erfüllter Pflicht für uns zu einer Quelle der Lust, vielleicht einer alle anderen Neigungen überwiegenden Lust wird. Was fordert der materiale Moralismus in einem solchen Fall? Das Streben nach dieser Lust fällt zusammen mit dem Streben nach der Pflichterfüllung, kann also nicht ohne inneren Widerspruch verboten sein. Der materiale Moralismus muß daher eine Ausnahme zulassen; seine Forderung kann nur besagen: ,, Uberwinde die Neigung, sofern sie sich nicht auf die Lust richtet, die aus dem Bewußtsein erfüllter Pflicht entspringt!" Das Bewußtsein um die Pflichterfüllung ist nun aber für den materialen Moralismus nichts anderes als das Bewußtsein, um der Pflicht willen die Neigungen überwunden zu haben, wobei wir wieder die Einschränkung anbringen müssen, daß das Streben nach der Lust am Bewußtsein der Pflichterfüllung nicht unter die zu überwindenden Neigungen fällt. Wir sehen leicht, daß wir uns im Kreise drehen. Dieser Zirkel ist bei der Formulierung des moralischen Sittengesetzes unvermeidlich: Um dieses Gesetz zu formulieren, müssen wir die zu überwindenden Neigungen kennen; deren Bestimmung setzt eine Kenntnis der Ausnahme voraus, die, wie wir sahen, an der Forderung einer Uberwindung aller Neigungen angebracht werden muß; die Angabe dieser Ausnahme ist aber ihrerseits von einer Formulierung des moralistischen Sittengesetzes abhängig. § 176.

Folgen des pädagogischen Moralismus. Das Prinzip des pädagogischen Moralismus ist nicht nur logisch widerspruchsvoll, sondern es ist überdies, wie die früher abgelehnten Prinzipien, ein in seinen Folgen verhängnisvolles Prinzip. Es liegt nämlich in der Natur dieses Prinzips begründet, daß durch seine Anwendung das Ziel der Erziehung

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nicht nur nicht erreicht werden kann, sondern im Gegenteil vereitelt wird, so paradox das gerade bei einem Prinzip klingen mag, das darin besteht, das moralische Handeln zur Pflicht zu erheben. Ja diese Gefahr ist hier um so größer, als das Prinzip durch den Begriff der Moralität, den es an die Spitze stellt, gerade in moralischer Hinsicht unverdächtig erscheint. Wer nach einem solchen Prinzip sein Verhalten zu bestimmen versucht, der wird unvermeidlich in die Gefahr der Pflichtverletzung geraten, weil sich seine Aufmerksamkeit von dem, was in Wahrheit Pflicht ist, abwendet. Dem objektiven Inhalt der Pflicht schiebt sich die Vorstellung unter, daß es für den Menschen nur Pflicht sei, die Neigungen zu bekämpfen. Dadurch gerät er in einen beständigen Kampf - nicht mit der Pflichtverletzung, sondern mit der eigenen Neigung, und er wird die Erfüllung seiner Pflicht um so mehr versäumen, als diese ja ihrem Begriff nach auf die Neigung keine Rücksicht nimmt. Wir kommen hier auf die Form vermeintlicher Pflichterfüllung, die man As k e s e nennt, und zwar einer Askese, die zum Selbstzweck geworden ist, da sie sich in der Ubung erschöpft, Neigungen zu bekämpfen, ohne die hierdurch erreichbare Disziplin in den Dienst einer sittlichen Aufgabe zu stellen. Es ist eines der beschränktesten Erziehungsziele, dessen Unfruchtbarkeit sich schon darin zeigt, daß es den Menschen, anstatt ihn von seinen Neigungen unabhängig zu machen, zur andauernden Beschäftigung mit ihnen nötigt.

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9. Kapitel.

Pädagogische Folgerungen aus dem Prinzip des moralischen Rigorismus. (Kritik des pädagogischen Libertinismus.) § 177.

Widerspruch des pädagogischen Libertinismus. Die bisher betrachteten analytischen Prinzipien gelten für alle ethischen Aufgaben, sowohl für die Pflichten wie für die Ideale. Da sich Pflichten und Ideale aber bereits ihrem Begriff nach von einander unterscheiden, so können mit diesen Prinzipien nicht alle analytischen Prinzipien der formalen Ethik erschöpft sein. Es läßt sich in der Tat rein logisch ein Merkmal angeben, das die Pflichtgebote im Gegensatz zu den Idealen charakterisiert. Die Notwendigkeit der Pflichterfüllung kann, dem Begriff der Pflicht zufolge, durch keine Bedingung irgend welcher Art eingeschränkt werden; weder widrige Tatsachen noch irgend welche widerstreitenden Werte können eine Pflichtverletzung rechtfertigen. Ein kategorisches Gebot, bei dem eine Einschränkung zugelassen wird, wird als Gebot selber aufgehoben. Diese Notwendigkeit liegt nicht im Begriff des Ideals. Wenn wir also den Grundsatz von der Unentschuldbarkeit der Pflichtverletzung als das Prinzip des moralischen Rigorismus bezeichnen, so gilt dieses Prinzip, im Gegensatz zu den bisher untersuchten Prinzipien, nur für die Pflichtenlehre und nicht für die Ideallehre. Das Prinzip des moralischen Rigorismus steht im schroffen Gegensatz zu dem Bestreben, der moralischen Schwäche des Menschen durch eine Einschränkung sittlicher Gebote Rechnung zu tragen. Die Ansicht, wonach eine solche Einschränkung in der Erziehung zulässig oder gar geboten ist - ich nenne sie die des pädagogischen Libertinismus - , gewinnt eine besondere

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Bedeutung durch den Anschein von Menschenkenntnis, mit dem sie ihre pädagogischen Forderungen vertritt. Aber dieser Schein kann uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit der Preisgabe des Rigorismus die Aufgabe der sittlichen Erziehung verraten ist insofern nämlich, als damit jede Verbindlichkeit überhaupt geleugnet wird. Die Aufgabe, auf dem Wege des pädagogischen Libertinismus zur Pflichterfüllung zu erziehen, widerspricht sich also selber. Durch die angestellten Uberlegungen ergibt sich zugleich, daß der sittliche Libertinismus dem aufgewiesenen Widerspruch nicht dadurch ausweichen kann, daß er, wie sich das bei den anderen Prinzipien zunächst als Ausweg anzubieten schien, seine Zuflucht zu einem materialen Prinzip nimmt. Da er nämlich die unbedingte Verbindlichkeit sittlicher Anforderungen aufhebt, so kann er nicht den Inhalt eines Sittengesetzes bestimmen, dem ja als solchem unbedingte Verbindlichkeit zukommen müßte. Die logische Kritik des Libertinismus bedarf also keiner Ergänzung durch die Kritik eines materialen Libertinismus. Wir können darum hier die aus dem Prinzip des Rigorismus entspringenden pädagogischen Konsequenzen und damit überhaupt die Folgerungen aus den analytischen Prinzipien der formalen Ethik abschließen. § 178.

Folgen der Anwendung des pädagogischen Libertinismus. Die Anziehungskraft, die der pädagogische Libertinismus trotz dieses offensichtlichen Widerspruchs ausübt, beruht auf der Begrenztheit der moralischen Kräfte des Menschen. Denn sie führt den Erzieher in die Versuchung, mit Rücksicht auf die moralische Schwäche des zu erziehenden Menschen diesem etwas abzulassen von den in der Erziehung bereits anerkannten Forderungen der Pflicht. Ein solches Nachgeben liegt schon dann vor, wenn im Falle der Ubertretung des Gebots ein Entschuldigungsgrund zugelassen wird, mag dieser in Hindernissen

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theoretischer Natur gesucht werden oder in der Höhe des Werts, der durch die Erfüllung des Gebots beiseite gesetzt werden müßte. Die Tendenz, solche Entschuldigungsgründe zuzulassen, mag naheliegend erscheinen, ihre Wirkung kann aber nur eine Lähmung aller sittlichen Kraft sein. Wo sich ein Erzieher von ihr leiten läßt, in der Hoffnung, durch Verständnis für die Schwäche des zu erziehenden Menschen diesen aufzurichten, da tut er alles, um den noch vorhandenen Rest an Kraft vollends zu zerstören, indem er die Verletzung der Pflicht nicht auf einen Mangel an Willen zurückführt, sondern auf die vom Willen unabhängigen Verhältnisse, wodurch denn nicht nur di.e Entschlußkraft, sondern schon das Bewußtsein sittlicher Kräfte untergraben wird.

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Synthetische Sätze der fonnalen Pädagogik. 10. Kapitel.

Die Aufgabe der Charakterbildung. § 179.

Die Möglichkeit der Selbstdisziplin. Die bisher gewonnenen Ergebnisse, für die wir uns nur auf den Begriff der Erziehung gestützt haben, sind von negativer Bedeutung; sie dienen zur Kritik widerspruchsvoller und pädagogisch verwerflicher Methoden. Obgleich sich schon dieser zunächst wenig versprechende Versuch als überaus fruchtbar erwiesen hat, so haben wir damit doch noch nicht die Grenzen der formalen Pädagogik erreicht. Es gelingt nämlich, das bisher Geleistete zu überbieten und innerhalb dieses Teils unserer Wissenschaft über die bloß negative Kritik hinaus praktische pädagogische Lehren und Vorschriften abzuleiten. Wir brauchen dazu nur auf den Existenzbeweis zurückzugreifen, den wir zu Beginn unserer Untersuchungen geführt haben, und also vorauszusetzen, daß es eine Aufgabe der Erziehung gibt, nämlich die Aufgabe, Menschen zum an sich Guten zu führen. Denn dann erhebt sich die Frage nach den Maßnahmen, die zur Lösung einer solchen Aufgabe notwendig sind, die also der Entwicklung des Menschen zum an sich Guten, insbesondere zur Pflichterfüllung, dienen. Diese Entwicklung hängt, wie die Ethik gezeigt hat, von der Stiftung der sittlichen Bereitschaft ab, d. h. der Bereitschaft, die Pflicht unter allen Umständen, gegebenenfalls auf Kosten der überwiegenden Neigung, zu erfüllen. Für den Erzieher ergibt sich damit die Aufgabe, in den zu erziehenden Menschen diese Bereitschaft hervorzubringen. Ja wir könnten die Aufgabe der Erziehung geradezu dahin bestimmen, daß sie keine andere sei als die, in dem Menschen die sittliche Bereitschaft zu erzeugen.

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Die Lösung dieser Aufgabe hängt ab von der Lösung einer allgemeinen Frage, nämlich der, wie es überhaupt möglich ist, einer überwiegenden Neigung entgegenzuhandeln. Das hiermit bezeichnete Problem entspringt daraus, daß dem Begriff der Natur zufolge der überwiegende Antrieb notwendig den Entschluß bestimmt, daß es also unmöglich ist, dem überwiegenden Antrieb entgegenzuhandeln. Das objektiv notwendige, nämlich nach einem praktischen Gesetz vorgeschriebene Verhalten ist in der Natur nur möglich unter der Voraussetzung, daß es gegebenenfalls gelingt, einer vorherrschenden subjektiven Neigung entgegenzuhandeln. Da der Begriff der Pflicht nur für das vernünftige Wesen in der Natur Anwendung findet, so müssen wir andererseits voraussetzen, daß in der Natur Pflichterfüllung möglich ist, d. h. daß es allemal möglich ist, diejenige Handlung, die nach einem praktischen Gesetz notwendig_ ist, zum Gegenstand des der Stärke nach überwiegenden Antriebes zu machen. Da es aber ferner von Natur aus zufällig ist, ob der überwiegende Antrieb sich auf den überwiegenden Wert richtet, müssen wir die Möglichkeit voraussetzen, auf Grund einer Vergleichung mit der objektiven Regel des Wertes, wie sie durch das Gesetz gegeben ist, das Stärkeverhältnis der Antriebe zu regulieren derart, daß im Endergebnis unter den unmittelbar auf das Handeln gerichteten Antrieben der überwiegende Antrieb auf den überwiegenden Wert gerichtet wird, d. h. daß es eine Disziplin der Antriebe gibt. Ich verstehe unter „Disziplin" den Inbegriff von Maßnahmen, die dazu dienen, die Willkür in der Befolgung der Neigungen auf die Bedingung der Ubereinstimmung mit einer vorausgesetzten Regel des Verhaltens einzuschränken, und zwar unterscheide ich zwei Arten der Disziplin, eine äußere und eine innere. Ich nenne äußere Disziplin eine solche, die nicht das Werk des eigenen Willens des Handelnden ist. Für diesen Begriff kommt es nicht darauf an, welcher Art die äußeren Mittel der Disziplin sind, genug, daß sie nicht Ausfluß des eigenen Willens des Handelnden sind, mögen sie nun in unmittelbarem Zwang bestehen, d. h. in der Anwendung physischer Gewalt, oder in mittelbarem, psychischem

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Zwang durch Nötigung, Lockung oder Drohung. Innere Disziplin, Se 1b s t disziplin oder - mit dem deutschen Wort Selbstzucht heißt dagegen eine solche, die das Werk des eigenen Willens des Menschen ist. Eine Disziplin, die nicht bloß zufällige Legalität, sondern Moralität bewirken soll, kann, gemäß dem Prinzip der Gesinnungsethik, nur innere Disziplin sein. Selbst wenn nämlich durch Zwang die äußerliche Dbereinstimmung des Verhaltens mit den Anforderungen des Sittengesetzes bewirkt werden kann, so reicht doch kein Zwang hin, einen widerstrebenden Willen entgegen der Neigung zur Befolgung des Gesetzes zu bestimmen. Durch psychischen Zwang, durch Nötigung also, d. h. durch die Erweckung der Antriebe der Furcht oder der Hoffnung, kann zwar recht wohl auf das innere Verhalten des Menschen eingewirkt werden, aber doch nur so, daß eine stärkere Neigung die schwächere überwindet; die Dbereinstimmung des dadurch herbeigeführten Erfolges mit den Anforderungen des Gesetzes bleibt für den Willen des Handelnden auch hier zufällig. Hieraus folgt also, daß in der Tat nur durch innere, nicht aber durch äußere Disziplin die sittliche Bereitschaft gestiftet werden kann. Steht dies aber fest, so ist nicht nur die Zulässigkeit, sondern die Notwendigkeit erwiesen, unabhängig von aller und jeder psychologischen Erfahrung, also rein a priori, die M ö g 1 i c h k e i t einer inneren Disziplin vorauszusetzen, d. h. vorauszusetzen, daß der Wille in das Spiel der Antriebe einzugreifen vermag, daß es also ein Vermögen gibt, willkürlich einen zunächst schwachen Antrieb zu stärken oder einen starken zu schwächen, mit anderen Worten: das Stärkeverhältnis der Antriebe auf Grund ihrer Vergleichung mit einer Regel des Wertes willkürlich zu verändern. Da ferner diese Veränderung als ein Werk innerer Disziplin selber nur möglich ist durch den Willen, so müssen wir voraussetzen, daß die bloße Einsicht in die objektive Regel des Wertes ihrerseits einen hinreichenden Antrieb abzugeben vermag, vielleicht nicht unmittelbar zur Befolgung dieser Regel, sicher aber dazu, das hierfür erforder-

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liehe Stärkeverhältnis der anderweitigen Antriebe herzustellen. Wie dieser Mechanismus, dessen Existenz wir a priori beweisen können, seinerseits psychologisch möglich ist, bleibt eine psychologisch zu lösende Frage, die eben darum aus der philosophischen Untersuchung ausscheidet. § 180.

Die Stärkung des Charakters. Dieser Nachweis der Möglichkeit einer inneren Disziplin setzt uns in den Stand, die Aufgabe der Erziehung positiv zu bestimmen. Im Gegensatz zu einer auf der Wirkung von äußerer Disziplin beruhenden bloßen Abrichtung verlangt die Erziehung die W eckung der inneren Disziplin. Wir können diese Aufgabe mit einem einfachen und gebräuchlichen Ausdruck die Aufgabe der Charakterbildung nennen. Ch a r a kt er ist nichts anderes als Unabhängigkeit des Willens von der Herrschaft des zufällig stärksten Antriebes. Also kann Erziehung ihre Aufgabe nur lösen durch die Bildung des Charakters, dessen wesentliche Züge, wie die Ethik nachweist, Stärke, Lebendigkeit und Rein heit sind. Die Stärke des Charakters zeigt sich in dem Grad der Unabhängigkeit des Willens von triebhaft wirkenden Antrieben. Charakterstärke ist nichts, was dem Menschen von Natur aus mitgegeben wäre; von Natur aus ist er ein Spielball der auf seinen Willen einwirkenden Neigungen. Was er tut, hängt zunächst nur ab von dem an und für sich zufälligen Stärkeverhältnis dieser Neigungen. Davon unabhängig zu werden, ist also ein Ziel, das zu erreichen ihn die Erziehung befähigen soll. Die hierzu erforderliche Kraft des Widerstandes gegen die zufällig auf den Willen einwirkende Neigung kann nach Naturgesetzen nur stetig anwachsen, und sie muß stetig anwachsen, wenn sie einmal da verfügbar sein soll, wo sie zur Erfüllung der Pflicht nötig wird. Wenn also die zur sittlichen Bereitschaft notwendige Stärke des Willens erworben werden soll, d. h. wenn der Wille die Stärke erhalten soll, die er braucht,

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um die Neigung zu überwinden, falls sie mit den Anforderungen der Pflicht in Widerstreit gerät, so bedarf es der Schulung in der Uberwindung der Neigungen auch da, wo die Pflicht diese Uberwindung nicht verlangt. Anderenfalls wird sie da fehlen, wo der Mensch zur Pflichterfüllung auf sie angewiesen ist. Aber nicht erst hierzu ist solche Willensstärke erforderlich. Die Beherrschung der triebhaft wirkenden Antriebe ist eine Bedingung des besonnenen Handelns überhaupt; diese Bedingung muß erfüllt sein, wenn der Mensch überhaupt vernünftig handeln soll - überhaupt, und nicht nur in praktischer Hinsicht vernünftig, d. h. sittlich. Sie ist also schon eine Forderung der bloßen Zweck mäßig k e i t des Handelns, auch wo der Zweck seinerseits in der Befriedigung einer Neigung liegt. Diese Besonnenheit, die ihrerseits eine Vorbedingung für die Erwerbung der sittlichen Bereitschaft ist, kann nur entwickelt werden, wenn hinreichende Gelegenheit geboten ist, den Willen im Kampfe mit der Neigung zu stärken. Man bezeichnet im allgemeinen' die Uberwindung der Neigung, wo sie zur Stärkung des Willens geübt wird, mit dem bereits einmal gebrauchten Wort Askese. Dieses Wort ist ursprünglich durchaus richtig gewählt zur Bezeichnung dieses Begriffs. Es bedeutet nichts anderes als Ubung. Aber die Bedeutung, in der es heute im allgemeinen gebraucht wird, erweckt das Mißverständnis, als ob die Bekämpfung der Neigung an und für sich einen sittlichen Wert hätte und nicht bloß als Mittel zur Erwerbung einer sittlichen Kraft. Um dieses moralistische Vorurteil nicht zu begünstigen, ist es zweckmäßig, den Ausdruck. ,,Askese" zu meiden und nach einem andern Wort zu suchen, das nicht diesen düsteren und unliebenswürdigen Beigeschmack. hat. Es gibt dafür keinen besseren Ersatz als das Wort „Sport". Dieses Wort bedeutet Uberwindung von Hindernissen um der Erprobung der eigenen Kräfte willen. So verstanden kann man sagen, daß Sport eine Vorschule des Charakters ist.

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§ 181.

Die Weckung der Lebendigkeit des Charakters. Die Herrschaft des Willens über das zufällige Verhältnis der Antriebe erschöpft sich nicht in der Beherrschung der triebhaft aufwallenden Antriebe oder Affekte; dazu gehört vielmehr auch die Beherrschung derjenigen Antriebe, die sich unter dem Einfluß der Gewohnheit zu einer dauernden Kraft entwickelt haben und die bei hinreichender Stärke zur Unterscheidung von den Affekten Leidenschaften genannt werden. Die Kraft des Willens gegenüber diesen dauernd wirkenden Antrieben, in der allein die Unabhängigkeit des Willens von der Macht der Gewohnheit beruht, ist seine Lebendigkeit. Für die Erziehung zur Lebendigkeit des Charakters kommt es darauf an, klar im Auge zu behalten, daß Charakter selber so wenig eine Sache der Gewohnheit sein kann, daß er vielmehr die Bereitschaft verlangt, angenommene Gewohnheiten zu durchbrechen, dann nämlich, wenn unter besonderen Umständen ein sonst geübtes und sogar zu billigendes Verhalten den anerkannten Grundsätzen widerstreitet. Die Konstanz des Verhaltens, in der sich der Charakter zeigt, beruht auf der Herrschaft von Grundsätzen und läßt darum - im Gegensatz zu der toten Gleichförmigkeit der Gewohnheit - eine Berücksichtigung der jeweiligen Umstände zu. Ja man kann sagen, so paradox es auch klingt, daß sich der Charakter gerade daran erprobt, wie weit sich mit den wechselnden Umständen die Handlungsweise ändert; Gleichförmigkeit unter allen Umständen würde Charakterlosigkeit verraten. Sie ist das Ergebnis der Abrichtung. Erziehung erfordert dagegen Lebendigkeit des Charakters. Sie verlangt daher die Darbietung einer hinreichenden Mannigfaltigkeit an Situationen, weil nur so die Möglichkeit besteht, die Lebendigkeit des Willens zu üben und zu erproben.

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§ 182.

Die Reinheit des Charakters. Stärke und Lebendigkeit machen zusammen das aus, was wir Charakter im weiteren Sinn nennen. Charakter im engeren Sinn, d. h. ein guter Charakter, verlangt darüber hinaus Reinheit des Willens, nämlich die Bereitschaft, die Pflichterfüllung zur obersten und einschränkenden Bedingung des Verhaltens zu machen. Reinheit des Willens zu entwickeln, bleibt die höchste und letzte Aufgabe der Erziehung. Die letzte: denn wo der Wille keine Kraft hat oder seine Kraft gar schon gebrochen ist, da ist er nicht einmal zum Schlechten fähig, geschweige denn zum Guten. Ja ein Mensch, der nur darum nichts Schlechtes tut, weil ihm die Kraft zum Handeln überhaupt fehlt, ist vom Guten weiter entfernt als einer, der wenigstens die Kraft zum Schlechten aufbringt. Die Entwicklung der Reinheit des Willens setzt daher die der bloßen Kraft des Willens voraus. Was schon erforderlich ist, um Stärke und Lebendigkeit des Willens zu bilden, das ist darum erst recht erforderlich, um die Reinheit des Willens zu bilden. Dazu gehört vor allem Gelegenheit zum Handeln überhaupt. Keine Einsicht, auch keine sittliche Einsicht genügt zur Herbeiführung der Reinheit des Willens; denn zu dieser gehört Hand e l n , und zwar nicht nur insofern, als sie sich durch Handeln äußert, sondern insofern, als sie selber durch Handeln entsteht. Die Stiftung des Charakters selber ist kein Werk des Zufalls, sondern ein solches der Absicht. Eine Erziehung, die sich in der Studierstube abspielt, hemmt die Möglichkeit, Charaktere zu bilden; denn sie setzt die Gelegenheit zum Handeln herab. Die Erziehung zur Reinheit des Charakters verlangt aber einen noch kühneren Schritt als den, Gelegenheit zum Handeln überhaupt zu bieten; sie setzt Gelegenheit zum u n m o r a l i s c h e n Handeln voraus. Im Grunde ist dies selbstverständlich und brauchte darum gar nicht ausgesprochen zu werden, wenn man sich nur darüber klar wäre, daß es keine Gelegenheit

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gibt, moralisch zu handeln, die nicht als solche zugleich eine Gelegenheit wäre, unmoralisch zu handeln. Eine moralische Handlung ist nur möglich, wenn Neigung und Pflicht in Widerstreit miteinander treten, d. h. nur da, wo wir in Versuchung kommen, unmoralisch zu handeln. Um dem zu erziehenden Menschen Gelegenheit zum moralischen Handeln zu geben, soll der Erzieher also die Versuchung zum unmoralischen Handeln an ihn herantreten lassen. Wer vor jeder Gelegenheit bewahrt wird, unmoralisch zu handeln, weil sein Vormund ihn nicht in eine solche Gefahr stürzen läßt, sondern alle Versuchungen von ihm fernhält, der wird gewiß nie moralisch handeln lernen. Und er wird um so eher der ersten Versuchung zum Opfer fallen, die an ihn herantritt, als er nie die Macht der Versuchung erfahren hat. Es ist nicht die Aufgabe des Erziehers, seinen Zögling jeweils von einzelnen unmoralischen Handlungen fernzuhalten, sondern ihn davor zu bewahren, ein unmoralischer Mensch zu werden; also muß er, sofern das zur Erreichung dieses Zweckes notwendig ist, bereit sein, jenen anderen Zweck, ihn vor unmoralischen Handlungen zu schützen, hintanzusetzen. Hiermit ist nicht gesagt, daß jeder Anreiz zum unmoralischen Handeln bereits ein geeignetes Erziehungsmittel darstellt. Wenn es nur darauf ankäme, den Zögling in die Versuchung zum unmoralischen Handeln zu führen, so könnte man der Erziehung entraten. Soll der Zweck, die Bildung des Charakters, erreicht werden, so bedarf es dazu einer Auswahl geeigneter Gelegenheiten zum unmoralischen Handeln, d. h. solcher, die nicht die entgegengesetzte Wirkung haben, den Charakter zu brechen. Das aber heißt: Das Maß des zu überwindenden Widerstandes muß der bereits gewonnenen Kraft des zu erziehenden Menschen angepaßt sein und darf nur nach und nach im Verhältnis zu deren Wachstum gesteigert werden. Denn wenn die Anforderungen in dieser Hinsicht überspannt werden, so wird der entgegengesetzte Erfolg eintreten: Es wird dann nicht die moralische Kraft des zu erziehenden Menschen geweckt, sondern er wird im Gegenteil an dieser Kraft und damit an sich selber irre werden.

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Man soll ferner bedenken, daß eine Gelegenheit zum unmoralischen Handeln etwas anderes bedeutet als eine Gelegenheit zum unrechtlichen Handeln. Nur wenn der Handelnde selber das Bewußtsein hat, daß die Befriedigung einer bestimmten Neigung Unrecht wäre, liegt der Fall einer Versuchung vor. Nicht, was in den Augen des Erziehers schlecht ist, sondern allein, was das Kind selber als schlecht erkennt, kann bei der Wahl der Mittel zur Charakterbildung maßgebend sein. Und umgekehrt: Mag das, was ein Erzieher seinem Zögling an Gutem zumutet, nach der Ansicht des Erziehers das Gute sein, - wenn der Zögling selber es nicht als gut erkennt, so wird ihm damit eine Unmoralität zugemutet. Und wenn die in dieser Zumutung enthaltene Versuchung größer ist als die Widerstandskraft des Zöglings, so ist der Erfolg die Zerstörung des Charakters, mag auch hundert Mal die Ansicht des Erziehers objektiv die bessere sein. Uber den Anforderungen, die durch die Aufgabe der Charakterbildung gestellt werden, darf der Erzieher schließlich nicht vergessen, daß auch das moralische Handeln nicht Selbstzweck ist, sondern der Pflichterfüllung dienen soll. Die Pflicht kann auch durch Handlungen erfüllt werden, die aus Neigung oder Gewohnheit geschehen, sofern nur die Bereitschaft besteht, Neigungen und Gewohnheiten im Fall ihrer Kollision mit der Pflicht zu durchbrechen. Es ist darum recht wohl möglich, die Ausbildung von Neigungen und Gewohnheiten in den Dienst der Erziehung zu stellen. Diese Ausbildung ist um so dringender, als dem sittlichen Willen gar keine andern Mittel zur Verfügung stehen, wenn er seinen Zweck, die Erfüllung der Pflicht, nicht allein von der eigenen, in jedem einzelnen Fall begrenzten Kraft abhängig machen will. Daß er selber nicht durch Neigungen und Gewohnheiten bestimmt wird, das schließt nicht aus, daß er sich ihrer bedienen dürfte, ja bedienen müßte, um alle geeigneten Mittel für seinen Zweck einzusetzen. Hierauf beruht das, was wir die Technik der Pflichterfüllung nennen und was im Grunde nichts anderes ist als das Werk der inneren Disziplin, von der wir sprachen. Wo der sittliche Antrieb selber

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nicht ausreicht, unmittelbar die Pflichterfüllung zu bewirken, da kann er doch ausreichen, eine Neigung genügend zu stärken, deren Befolgung zur Pflichterfüllung führt. Es ist also die Aufgabe des Erziehers, solche Neigungen und Gewohnheiten in hinreichender Zahl und Vielseitigkeit auszubilden, deren sich der sittliche Wille bedienen kann, um sie, wenn eine Versuchung zur Pflichtübertretung an ihn herantritt, als einen Gegenantrieb gegen den auf die Pflichtverletzung gerichteten Antrieb zu benutzen und diesen dadurch zu überwinden. Um diese Aufgabe der Ausbildung geeigneter Gewohnheiten mit den Anforderungen der Lebendigkeit des Charakters in Einklang zu bringen, gilt es zu bedenken, daß auch nach den jetzigen Uberlegungen die Pflichterfüllung nie einer Gewohnheit anvertraut werden kann. Auch solche Gewohnheiten, die im allgemeinen für die Pflichterfüllung günstig sind, können unter Umständen zur Pflichtverletzung verführen. Es bedarf also auch ihnen gegenüber der Wachsamkeit und der Bereitschaft, sie zu durchbrechen, sofern die Pflicht das verlangt.

§

183.

Ethischer Realismus. Der Verständigung über die abgeleiteten Anforderungen der Charakterbildung steht leicht ein Vorurteil im Wege, das vor allem den Ubergang zu der Forderung, Neigungen und Gewohnheiten als Hilfsmittel des sittlichen Willens auszubilden, völlig unverständlich erscheinen läßt. In diesem Vorurteil vereinigen sich die Fehler des Subjektivismus und des Moralismus und führen dazu, das ethische Ziel seiner eigentlichen Bedeutung zu berauben und ihm ein lediglich subjektives Verhältnis innerhalb des Geistes des zu erziehenden Menschen unterzuschieben. Dieser Fehler wird besonders begünstigt durch die Lenkung der Aufmerksamkeit auf das pädagogische Problem, wobei man denn die ethischen Voraussetzungen aus dem Bewußtsein verliert, die ihrerseits erst den Grund zur Stellung

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des pädagogischen Problems enthalten und allen pädagogischen Bemühungen ihren Sinn verleihen. Die in Frage kommende Mißdeutung entsteht, wenn man das, was zur ethischen Wertung des Charakters erforderlich ist, fälschlich zu einer Zielbestimmung für das Handeln werden läßt, wenn man also meint, bei der Bestimmung der sittlichen Aufgaben alles Interesse am Erfolg ausschließen zu müssen, um es einzig und allein der ethischen Gesinnung selber zuzuwenden. Man verkennt, was eigentlich ethische Gesinnung heißt und worauf ihre Möglichkeit beruht. Das Wort „ethische Gesinnung" bezeichnet eine Richtung des Willens, und zwar die Richtung des Willens auf das Gute. Wie jedes Ziel, das Menschen in der Natur verfolgen, so läßt sich auch dieses nur erreichen durch die Anwendung der dazu erforderlichen Mittel. Jeder Wille zum Erfolg ist notwendig verbunden mit dem Interesse an der Verwirklichung der für den Erfolg notwendigen Bedingungen. Wir können daher auch umgekehrt schließen: Wo das Interesse fehlt, die zur Erreichung des ethisch bestimmten Ziels notwendigen Bedingungen zu verwirklichen, da liegt überhaupt kein ethisches Wollen vor. Da kann folglich auch von ethischer Gesinnung nicht gesprochen werden. Die genannte Mißdeutung des Prinzips der Gesinnungsethik führt zu einer ähnlichen Folge, wie sie bei der Verkennung der ethischen Objektivität auftreten kann, nämlich zu dem, was wir dort als ethische Schwärmerei bezeichnet haben. Schwärmerei besteht darin, daß man von einem Ziel zwar eine hohe Vorstellung hegt und es also dem Wert nach preist, daß aber die Verwirklichung dieses Ziels nicht zum Gegenstand des Willens wird. Je höher die Ziele sind, mit denen man sich beschäftigt, ohne für sie einzutreten, desto leichter gelingt die Selbsttäuschung des Schwärmers. Diese Gefahr ist darum besonders groß, wenn es sich um ideale Aufgaben handelt, um Aufgaben also, die durch die Höhe positiver Werte bestimmt sind. Hier zeigt sich die Schwärmerei in der Form des Scheinidealismus, der die Hingabe an diese Werte in der bloßen Be·· trachtung statt in ihrer Verwirklichung sucht. Trotz seines inne-

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ren Widerspruchs hat dieser Scheinidealismus in der Pädagogik die größte Verwirrung gestiftet und einen Streit entfacht, in dessen Gefolge sich die Pädagogen wie in zwei feindliche Heerlager spalten, in die Humanisten und die Realisten, wie sie sich selber nennen. Die Humanisten gehen davon aus, daß der ethische Wert des Menschen nicht von der Verwirklichung eines Erfolges abhängt, die Realisten davon, daß wir in der Natur leben, in der nur derjenige ans Ziel gelangt, der die zur Herbeiführung des Erfolges notwendigen Mittel beherrscht. Die pädagogischen Parteien trennen sich nun, je nachdem ob sie die Erziehung zum Realismus oder die zum Idealismus für notwendig halten, und das heißt hier, die Erziehung zur Beherrschung der Natur oder die zur Anerkennung ethischer Grundsätze. Wenn man, wie es hier geschieht, annimmt, daß die Grundsätze des Humanismus und die des Realismus einander ausschließen, daß also der eine die Beherrschung der Natur, der andere die ethische Zielsetzung außer acht läßt, so ist der Fehler offenbar. Wir werden daher weder auf die Seite der einen noch auf die der anderen Partei treten, sondern wir müssen diesen Streit, der die Folge bloßer Verwirrung von Begriffen ist, durch die Klärung der Begriffe schlichten, durch den Nachweis nämlich, daß ethische Gesinnung ihrem Begriff nach eine realistische Denkart voraussetzt, daß also die eine ohne die andere sich selber aufhebt. Der Erzieher, dem es Ernst ist mit seiner Aufgabe, ideal gesinnte Menschen heranzubilden, der also die Reihe der betrogenen Betrüger nicht vermehren will, muß seine Zöglinge zu Realisten erziehen. Er wird daher nichts dringlicher finden, als sie die Kenntnis der Naturgesetze und die Kunst ihrer Anwendung zu lehren, damit sie mit ihren Idealen nicht als Schwärmer dastehen, sondern für diese Ideale tätig in den Kampf treten. Ein solcher Pädagoge wird nicht die Denkart unterstützen, wonach die guten Menschen es den schlechten überlassen müssen, sich in den Besitz der Mittel zum Erfolg zu setzen. Er wird eine solche Denkart nicht als Idealismus gutheißen, sondern als Zynismus verurteilen.

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Wenn wir den Begriff der ethischen Schwärmerei so weit fassen, daß jede Denkart unter ihn fällt, die, angeblich zu Gunsten des Ideals, die notwendigen Bedingungen der Verwirklichung des Ideals ignoriert, dann können wir zwei Formen solcher Schwärmerei unterscheiden, je nachdem es sich um Vorbedingungen des Ideals in theoretischer oder in praktischer Hinsicht handelt. Schwärmerei der ersten Art, das Ignorieren der notwendigen Mittel zur Verwirklichung idealer Ziele in der Natur-man könnte sie kontemplative Schwärmerei nennen-, ist der Gegensatz zur realistischen Denkart und steht im Widerspruch zum Prinzip des ethischen Realismus. Schwärmerei der zweiten Art, das Ignorieren der notwendigen Bedingungen des Wertes aller menschlichen Bestrebungen - man könnte sie praktische Schwärmerei nennen - , steht dagegen im Widerspruch zu dem Prinzip des moralischen Rigorismus. Ihre Kritik führt uns daher zur Ableitung positiver pädagogischer Maßnahmen, die ihrem Inhalt nach auf dem Prinzip des moralischen Rigorismus beruhen.

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11. Kapitel.

Positive Folgerungen aus dem Prinzip des moralischen Rigorismus. § 184.

Die Forderung der Konsequenz. Nach dem Prinzip des moralischen Rigorismus gilt das Gebot der Pflicht mit unbeschränkter Verbindlichkeit. Damit ergibt sich für den Erzieher die Forderung, in dem System der Maßnahmen, durch die er dem Ziel der Erziehung näher zu kommen sucht, kurz: in der von ihm angewandten pädagogischen Technik, unbedingte Konsequenz herrschen zu lassen. Diese Konsequenz verlangt zunächst, daß der Erzieher bei einem einmal anerkannten Gebot keine Einschränkung zuläßt oder gar selber von dem zu erziehenden Menschen fordert; denn jede solche Einschränkung würde in ihrer pädagogischen Wirkung einer Aufhebung des Gebots gleichkommen. Zur Konsequenz in der pädagogischen Technik genügt es aber keineswegs, daß der Erzieher konsequent ist in den Forderungen, die er den zu erziehenden Menschen gegenüber vertritt; es muß Konsequenz in seinem eigenen Leben hinzukommen; denn weit mehr als durch Forderungen erzieht er durch sein eigenes Verhalten, sofern es überhaupt auf den Zögling wirkt, d. h. durch das Beispiel, das er absichtlich oder unabsichtlich gibt, kurz: durch seine eigene Lebensführung und insbesondere durch die Behandlung, die er dem zu erziehenden Menschen zuteil werden läßt. Das Beispiel, das er durch sein eigenes Verhalten gibt, soll sowohl in sich selber einstimmig sein als auch mit den Forderungen übereinstimmen, die er als solche seinem Zögling vorhält. Die Einwirkung, die der Erzieher durch Gebot und Beispiel auf den zu erziehenden Menschen ausübt, ist für diesen nur ein Sonderfall derjenigen Einwirkung, die er von seiner Umgebung erfährt. Für die erzieherische Wirksamkeit ist darum alles das von Bedeutung, was überhaupt auf den zu erziehenden Men-

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sehen einwirkt, also die gesamte Umgebung, in der er lebt, auch soweit sie nicht zum Bereich dessen gehört, wodurch der Erzieher absichtlich auf seinen Zögling einwirkt. Wir müssen daher alles das mit in Betracht ziehen, dessen Einfluß auf den Zögling überhaupt zugelassen, d. h. nicht geradezu ausgeschaltet wird. Und so gelangen wir zu der Forderung nicht nur der Ubereinstimmung der absichtlichen erzieherischen Maßnahmen, sondern überhaupt alles dessen, was ich das pädagogische Milieu nenne. Ich verstehe darunter den Inbegriff sämtlicher Umstände, die, sei es förderlich, sei es hinderlich, sei es gewollt, sei es ungewollt, den Erfolg der Erziehung und also überhaupt die Entwicklung des zu erziehenden Menschen beeinflussen. Dieses pädagogische Milieu soll so beschaffen sein, daß die Einwirkungen, die von ihm auf den zu erziehenden Menschen ausgehen, in hinreichender Ubereinstimmung mit einander sind, insbesondere mit den ausdrücklich in der Erziehung anerkannten Grundsätzen. Diese Anforderung geht viel weiter, als man zunächst denken möchte. Wir müssen hier vor allem erwägen, daß alles, was innerhalb des pädagogischen Milieus mit dem Erziehungszweck nicht harmoniert, ihm faktisch entgegenwirkt und daß es nichts als ein bloßer Machtspruch von seiten des Erziehers wäre, wenn er verlangen würde, daß ein von ihm bewußt ausgeübter Einfluß mehr Anspruch auf Beachtung hätte als irgend ein anderer seinen Zögling bestimmender Einfluß. Ja solche anderen Einflüsse können auf den Menschen eine viel größere Wirkung haben nicht nur als die bloße Macht der Worte, sondern darüber hinaus als alle absichtlich zu Erziehungszwecken gegebenen Beispiele. Tatsachen wirken ohnehin allemal mehr als Forderungen. Durch die Tatsachen dokumentiert sich die Tunlichkeit dessen, was tatsächlich geschieht. Bloße allgemeine Forderungen behaupten nur die Tunlichkeit dessen, was durch die wirkliche Ausführung erst als tunlich e r wie s e n wird. In diesem Sinn wirkt aber faktisch alles, was in dem pädagogischen Milieu überhaupt Platz findet, als Beispiel, mag dieses absichtlich geschehen oder nicht.

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Ferner müssen wir bedenken, daß das, was auf den Geist des Zöglings wirkt, sich nicht unmittelbar durch seine objektive Beschaffenheit bestimmt, sondern durch die Beschaffenheit, mit der es sich in der Auffassung des zu erziehenden Menschen darstellt, und also durch den Eindruck, den es auf diesen macht. Jeder Umstand wirkt in dem Maße und in der Art, wie er von dem Zögling verstanden wird auf Grund seiner mehr oder weniger begrenzten Auffassungskraft. Der Erzieher darf also seinem Zögling nicht das volle Verständnis für die objektive Beschaffenheit des pädagogischen Milieus zumuten, sondern muß stets daran denken, daß der V erstand des Menschen sich erst unter äußerer Einwirkung entwickelt. Hieraus folgt, daß eine scheinbare Inkonsequenz dieses Milieus ebenso schwer wiegt und ebenso verwerflich ist wie eine wirkliche. Eine solche scheinbare Inkonsequenz entsteht insbesondere dadurch, daß ein Fall, der - objektiv betrachtet - keinen Verstoß gegen ein sittliches Gebot darstellt, subjektiv von dem zu erziehenden Menschen als ein solcher Verstoß aufgefaßt wird. So wird der Erzieher z. B. - objektiv vielleicht mit Recht - für sich selber die Freiheit beanspruchen, ein Gebot, das er für den Zögling geltend macht, nicht zu befolgen, weil er sich seinen persönlichen Umständen nach in einer Lage befindet, in der das Gebot keine Anwendung verlangt; der Zögling aber, der für eine solche Differenzierung noch kein Verständnis hat, wird dadurch den Eindruck erhalten, daß der Erzieher für sich eine Ausnahme in Anspruch nimmt. Auch der bloße Schein eines solchen Verstoßes des eigenen Beispiels gegen das anerkannte Gebot muß ausgeschlossen werden, wenn der Forderung der Konsequenz des pädagogischen Milieus Genüge geschehen soll. Hieraus ergibt sich die Weisung, das pädagogische Milieu hinreichend einfach zu gestalten, damit es auch für einen mit unentwickeltem Unterscheidungsvermögen begabten Geist verständlich bleibt. Es ist wichtig, zu bemerken, daß wir durch diese Forderung eine gewisse Einschränkung für die Anwendung einer früher abgeleiteten Forderung erhalten, nämlich der einer hinreichenden Mannigfaltigkeit der Situationen. Diese Mannig-

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faltigkeit erwies sich als erforderlich mit Rücksicht auf die Bildung der Lebendigkeit des Charakters. Die Anwendung dieser Regel wird nun eingeschränkt durch die jetzt abgeleitete Forderung hinreichender Einfachheit des pädagogischen Milieus. Wie weit von Fall zu Fall die eine oder die andere dieser Forderungen im Vordergrund steht, das muß der psychologischen Erfahrung überlassen bleiben. Die Forderung der Einstimmigkeit des pädagogischen Milieus könnte den Gedanken nahelegen, daß dieses Milieu nur mustergültige, insbesondere nur moralisch mustergültige Verhältnisse aufweisen dürfe. Solche Mustergültigkeit braucht aber nur in dem Maß vorzuliegen, als die fragliche Einrichtung auch als mustergültig hingestellt wird, ein Satz, bei dessen Anwendung stets bedacht werden muß, daß jede Einrichtung leicht als vorbildlich wirkt, sofern sie nicht geradezu als verwerflid1 gekennzeichnet ist. Wenn ein Umstand innerhalb des pädagogischen Milieus ethisch verwerflich ist und auch als ethisch verwerflich hingestellt wird, dann kann er sogar in demselben Maß wie ein positives Vorbild zur Erziehung beitragen, unter der einen Voraussetzung freilich, daß nicht etwa der Eindruck erweckt wird, als dürfe die Existenz solcher Zustände ohne Widerstand hingenommen werden; denn die Einsicht in die ethische Verwerflichkeit schließt unmittelbar die Anerkennung der Aufgabe ein, nach Kräften auf die Beseitigung der fraglichen Mißstände hinzuarbeiten. Wo daher eine Einrichtung als ethisch verwerflich erkannt, die Aufgabe, auf ihre Beseitigung hinzuwirken, aber nicht gestellt, sondern vielmehr die Zumutung erhoben wird, sich mit ihrem Bestehen abzufinden, da besteht eine Inkonsequenz der pädagogischen Technik. Wird diese Inkonsequenz vermieden, so kann gerade die Existenz ethisch verwerflicher Zustände eine hervorragende erzieherische Wirkung haben insofern, als sie der Gefahr einer bloßen Anlehnung an vorbildliche Einrichtungen entgegentritt. Die Erziehung soll die zu erziehenden Menschen so früh wie möglich befähigen, im Gegensatz zu einem gewohnten Milieu zu handeln und zu leben und sich von positiven Vorbildern un-

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abhängig zu machen; denn da ihnen als moralischen Wesen die Notwendigkeit eines solchen Entschlusses auf die Dauer doch nicht erspart werden kann, so soll man sie rechtzeitig dazu erziehen, diesen Entschluß zu fassen und durchzuführen. Es muß also Gelegenheit geboten werden, einen solchen Entschluß zu fassen; diese Gelegenheit wird aber nur geboten, wenn den zu erziehenden Menschen die Kenntnis ethisch verwerflicher Zustände oder Einrichtungen nicht vorenthalten wird, freilich in kluger Anpassung an ihre Fassungskraft und Willensstärke. In der Tat: Wer zu früh versucht, die Menschen in Gegensatz zu ihrer Umgebung zu bringen und sie in diesem Gegensatz handeln zu lassen, gerät in die Gefahr, die Forderungen zu überspannen und die zarten Kräfte seiner Zöglinge an der Ubermacht der Widerstände erlahmen zu lassen, anstatt sie durch den Kampf zu stärken. Aus alledem müssen wir den wichtigen Schluß ziehen, daß da, wo das sich natürlich darbietende Milieu den erhobenen Ansprüchen nicht genügt, nichts übrig bleibt, als ein eigenes pädagogisches Milieu künstlich zu schaffen, das diesen Ansprüchen gerecht wird. §

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Die Versuchung durch das Ideal. Mit dem Bisherigen haben wir die Forderung der Konsequenz für die in der Erziehung anerkannten moralischen Gebote erörtert. Wir müssen aber eine weitere Konsequenzforderung erheben, nämlich für den Fall, in dem eine Kollision möglich wird zwischen den Anforderungen der Pflicht einerseits und denen des Ideals andererseits. Die Anforderungen des Ideals enthalten nicht die praktische Notwendigkeit der Pflicht und sind eben darum eingeschränkt auf die Bedingung ihrer Vereinbarkeit mit der Pflicht. Solange der zu erziehende Mensch noch nicht gelernt hat, seine Pflicht zu erfüllen, wird der Erzieher sich also hüten müssen, ihn für ideale Ziele und verdienstvolle Handlungen zu begeistern; es wäre eine bloße Täuschung, wenn er in seinem Zögling die Vorstellung er-

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weckte, daß dieser durch solche Handlungen seinem Leben einen Wert geben würde. Um so mehr ist es die Aufgabe des Erziehers, den zu Erziehenden standhaft zu machen gegenüber den Anforderungen des Ideals, wo diese mit denen der Pflicht in Konflikt kommen; denn es erfordert eine größere Standhaftigkeit, der Pflicht im Falle eines solchen Konflikts treu zu bleiben als da, wo sie nur mit den Neigungen kollidiert. Vergleichen wir einen Menschen, der ohne Rücksicht auf irgend welche Ideale seine Pflicht nur im Kampf mit den ihr widerstreitenden Neigungen zu erfüllen sucht, mit einem solchen, der neben seinen Neigungen und seiner Pflicht ideale Zwecke kennt und diese in seinem Leben zu erfüllen strebt, so ist die Anforderung an den Charakter ungleich. Denn wo der Kampf sich nur zwischen Pflicht und Neigung abspielt, da heben sich die Anforderungen der Pflicht in ihrer Strenge ab und dies um so deutlicher, je mehr bei einem reinen Charakter aller Zweifel ausgeschlossen ist, auf welcher Seite der Vorzug liegt. Widerstreiten dagegen die Anforderungen der Pflicht denen eines Ideals, dann steht der Pflichterfüllung nicht bloß die subjektive Neigung eines Triebes gegenüber, sondern da entsteht im Gegensatz zur Pflichterfüllung der Anschein eines positiven Werts. Die Erfüllung der Pflicht hat in der Tat an und für sich gar keinen Wert; sie ist Schuldigkeit und nicht Verdienst. Nur hat die Unterlassung der Pflichterfüllung einen unendlichen Unwert; sie ist Schuld und kann durch keinen noch so großen positiven Wert, der sich als Entschuldigung anbietet, ausgeglichen werden. Die Versuchung zur Pflichtverletzung ist aber um so größer, je verführerischer der Anschein wird, als könnte durch sie doch ein Verdienst erworben werden, je mehr also der praktische Wert der Verwirklichung des Ideals gegen die bloße Schuldigkeit der Pflichterfüllung streitet. Und so ist der Mensch, der ohne irgend welche Ideale bloß im Kampf mit seinen Neigungen steht, vor der Gefahr einer Verführung geschützt, der jener andere ausgesetzt ist. Mit diesen Uberlegungen beantwortet sich die Frage, ob es richtig sei, die sittlichen Anforderungen in der Erziehung vor-

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anzustellen, oder ob es für die Erziehung zur Moralität dienlich sei, den Ubergang von der bloß sinnlichen Stufe zu der moralischen durch die Zwischenstufe der Herrschaft der idealen Antriebe zu erreichen. In diesem Sinn könnte man versuchen, eine ästhetische Erziehung als Vorbereitung der Erziehung zur Sittlichkeit einzuführen. Das Mißliche einer so verstandenen ästhetischen Erziehung ist nach dem Vorhergehenden klar. Zwar kann man durch eine solche Erziehung den Menschen von der Herrschaft der rohen sinnlichen Antriebe befreien. Aber die Schwierigkeit ist bestenfalls nur verschoben; denn der Ubergang von der Herrschaft der idealen Antriebe zu der moralischen Stufe stellt ein neues pädagogisches Problem, dessen Lösung keineswegs leichter ist als der unmittelbare Ubergang von der sinnlichen zur moralischen Stufe. Ja während dort bloß die subjektive Stärke der Neigung die Versuchung zur Pflichtverletzung enthält, tritt hier an ihre Stelle die Rücksicht auf einen objektiven Wert, der gegenüber der Pflichterfüllung im Glanz einer verdienstvollen Handlung erscheint. Man kann die Gefahr, die bei dieser Art der Erziehung auftritt, durch eine andere Uberlegung in ein noch helleres Licht rücken. Eine Zwischenstufe zwischen der Herrschaft der sinnlichen und der der sittlichen Antriebe liegt nur vor, wenn der Erzieher zunächst zu einem Handeln anleitet, das rein ästhetisch bestimmt ist, das also keine Beschränkung des ästhetischen Wertes durch die negative Bedingung der Pflichterfüllung berücksichtigt. Anderenfalls erhielten wir nicht eine Zwischenstufe, sondern wir müßten die Erziehung zur Sittlichkeit schon erreicht haben, um die ästhetische Erziehung auch nur ins Werk setzen zu können. Eine ästhetische Erziehung als Vorstufe zur sittlichen kann also die Erfüllung der sittlichen Anforderungen noch nicht als Bedingung der Schönheit des Handelns einschließen. Sieht man aber von dieser Bedingung ab, so kann die Schönheit des Handelns tatsächlich der Pflichterfüllung widerstreiten, und die Erziehung zum ästhetisch wertvollen Handeln wäre eine Anleitung zur Pflichtverletzung in allen den Fällen, wo die unter anderen Umständen ästhetisch wertvolle

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Handlung nur durch eine Pflichtverletzung möglich ist. Diese Gefahr haftet jeder Erziehung zum idealen Handeln an, die den zu erziehenden Menschen vor ideale Aufgaben stellt, ehe er Klarheit gewonnen hat über die praktische Notwendigkeit der Pflicht. Diese Klarheit zu schaffen und den Menschen damit gegen die Verführung zu festigen, die in den Lockungen des Ideals liegt und die denjenigen, der ihr erliegt, in dem Selbstbetrug der praktischen Schwärmerei untergehen läßt, das ist die letzte und schwierigste Aufgabe, die der Erziehung durch den moralischen Rigorismus gestellt wird.

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2. Abteilung.

Materiale Pädagogik. Einleitung.

Die Aufgabe der materialen Pädagogik. § 186.

Ubergang zur materialen Pädagogik. Die formale Pädagogik, die nur von der Voraussetzung der praktischen Realität des Erziehungsbegriffs ausgeht, hat sich uns als die Lehre von der Charakterbildung dargestellt. Denn sehen wir vom Inhalt des Erziehungsziels ab, d. h. vom Inhalt der Aufgaben, die das an sich Gute für den Menschen bestimmen, so bleiben nur diejenigen Erziehungsaufgaben bestehen, die sich darauf richten, in dem zu erziehenden Menschen das Streben nach der Erkenntnis des Guten und die Bereitschaft zur Unterwerfung unter dessen Anforderungen zu wecken. Nun ist es aber klar, daß sich die Aufgabe des Erziehers nicht in der Charakterbildung erschöpft und daß also die Pädagogik über die Abstraktion des formalen Teils hinausgehen muß. Denn ebensowenig, wie die Bereitschaft zur Pflichterfüllung von dem Streben nach der Pflichterkenntnis unabhängig sein kann, darf es dem Erzieher gleichgültig sein, ob die seiner Obhut anvertrauten Menschen ihre Aufgaben in der richtigen Weise bestimmen oder nicht. Neben die Aufgabe der Charakterbildung, die Asketik, wie wir sagen können, tritt darum für ihn die Aufgabe der Didaktik, der Ausbildung der richtigen ethischen Uberzeugung. Mit dieser zweiten Aufgabe haben wir es in der materialen Pädagogik zu tun. Denn um die Aufgabe der Didaktik zu lösen, müssen wir über die bisher benutzten Voraussetzungen hinausgehen und eine Voraussetzung über den Inhalt des Erziehungsziels hinzunehmen. Diese Voraussetzung ergibt sich

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aus der materialen Ethik. Hier erhalten wir Auskunft über die ethischen Aufgaben des Menschen und damit über das Ziel der Erziehung. Diese Aufgaben bestimmen sich durch die Pflicht der Gerechtigkeit einerseits und das Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung andererseits. Was zunächst das Verhältnis der materialen zur formalen Pädagogik betrifft, so ergibt sich von selber, daß die Anwendbarkeit der materialen Pädagogik die Anwendung der formalen voraussetzt. Wo nicht die ethische Gesinnung bereits als vorhanden vorausgesetzt werden kann, da ist die Frage nach dem Inhalt der ethischen Anforderungen pädagogisch bedeutungslos. Denn die Schulung der ethischen Einsicht hat nur für den praktische Bedeutung, dessen Bereitschaft, sich der besseren Einsicht zu unterwerfen, schon gestiftet ist. Die Trennung von formaler und materialer Pädagogik darf allerdings nicht so gedeutet werden, als müßte die eigentlich erzieherische Aufgabe nachträglich durch einen ethischen Unterricht ergänzt werden, d. h. durch Maßnahmen, die sich ausschließlich an die Einsicht des zu erziehenden Menschen wenden und die von der Ausbildung seines Willens getrennt zu halten wären oder gar erst nach Abschluß der formalen Erziehung einzusetzen hätten. Es gibt natürlich auch einen eigenen ethischen Unterricht, aber so ist die Aufgabe der Didaktik nicht gemeint. Ein eigentlicher ethischer Unterricht würde zur intellektuellen Ausbildung gehören und insofern allerdings auch unter die Didaktik fallen. Aber es verhält sich nicht so, daß die richtige ethische Einsicht von der Vertrautheit mit einem ethischen Lehrsystem abhängig wäre. Eine solche Vertrautheit kann nur durch die Kunst des Abstrahierens erworben werden - eine Fähigkeit, die dem Geist nicht von Haus aus mitgegeben ist, sondern erst durch eine eigene intellektuelle Ausbildung entwickelt werden muß. Die sittliche Einsicht ist an diese Ausbildung nicht gebunden; denn sie ist auch ohne alle abstrakten Begriffe in der Form des sittlichen Gefühls möglich. Freilich bedarf es einer Bildung des Gefühls. Aber die Aufgabe, die hiermit vor dem Erzieher steht, wird nicht durch Unterweisungen

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gelöst - mögen diese noch so systematisch sein - , sondern am besten durch die Darbietung von Beispielen, die unmittelbar das sittliche Gefühl des zu erziehenden Menschen ansprechen. Die Klärung dieses Gefühls geht nämlich vom Einzelfall aus. Das Erlebnis selber ist es, das hier belehrt, und diese Belehrung wird um so wirksamer sein, je weniger dabei die Absicht einer Belehrung zu merken ist. Der Erzieher soll nur dafür Sorge tragen, daß sich solche für die Belehrung wirksamen Beispiele finden. § 187.

Der Aufbau der materialen Pädagogik. Die Einteilung der materialen Pädagogik werden wir vom Gesichtspunkt der Anwendbarkeit ihrer Lehren aus vornehmen. Damit verzichten wir auf die Durchführung des systematischen Aufbaus, wie er der Pädagogik durch ihre der Ethik entnommenen Prinzipien vorgezeichnet ist. Dem logischen Interesse an einem solchen Aufbau ist hinreichend durch die Entwicklung der reinen Ethik gedient. Wollten wir jedes einzelne Lehrstück aus dem System der materialen Ethik auf seine pädagogischen Konsequenzen hin untersuchen, so würden wir in systematischer Hinsicht damit nichts gewinnen, dem Interesse der Anwendung aber würde ein solcher Aufbau widerstreiten, da diese das logisch Zusammenhängende unter Umständen trennen und das logisch Getrennte unter Umständen verbinden muß. Diese Regel gilt sogar für das Verhältnis der Anforderungen, wie sie einerseits durch das Sittengesetz und andererseits durch das Ideal der Bildung bestimmt sind, selbstverständlich unter der einschränkenden Bedingung des sittlichen Rigorismus. Da sich nämlich nicht nur der Inhalt der Pflicht, sondern zum Teil auch der des Ideals durch die Anforderungen der Gerechtigkeit bestimmt, so können die pädagogischen Folgerungen aus der Pflicht der Gerechtigkeit und dem Ideal der Gerechtigkeitsliebe zusammengefaßt werden. Auf Grund dieser Zusammenfassung ergibt sich eine Dreiteilung der materialen Pädagogik, sie zerfällt in die Lehre von

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der sittlichen, der intellektuellen und der ästhetischen Erziehung, d. h. der Ausbildung des sittlichen Interesses, des Erkenntnisvermögens und des Interesses am Schönen, wobei aber diese Ausbildung keineswegs Selbstzweck ist: sie erhält vielmehr nur insofern Bedeutung, als sie den zu erziehenden Menschen zur Erfüllung seiner ethischen Aufgaben tauglich machen soll.

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1. Kapitel.

Sittliche Erziehung. § 188.

Das sittliche Interesse als wahres Interesse. Die Aufgabe der sittlichen Erziehung betrifft die Ausbildung des Interesses an der Gerechtigkeit; dies ist in der Tat die genaue Bestimmung des Begriffs, auf den es hier ankommt. Es handelt sich nicht um Willenserziehung im Sinn der Asketik, obwohl Asketik und Didaktik für die Praxis gerade hier unlösbar ineinander greifen. Die Ausbildung des sittlichen Interesses, wie sie eine Anforderung der Didaktik ist, hat die Aufklärung der sittlichen Einsicht ihrem Inhalt nach zum Gegenstand. Dieser Inhalt bestimmt sich durch das Gebot der Gerechtigkeit und der mit ihm verbundenen Pflicht der inneren Wahrhaftigkeit. Die sittliche Erziehung hat daher in materialer Hinsicht die Aufgabe, die Einsicht in die Anforderungen der Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit zu wecken und praktisch wirksam zu machen. Unter dem Gesichtspunkt der Anwendung, der für unsere Betrachtung im Vordergrund steht, werden wir aber zweckmäßiger Weise die Erziehung zur Wahrhaftigkeit in Verbindung mit den pädagogischen Anforderungen aus dem Ideal der Wahrheitsliebe besprechen. Was nun die Erziehung zur Gerechtigkeit betrifft, so wird hier ein ·Ergebnis der formalen Pädagogik bedeutsam. Die Ablehnung jeder Art von Autoritätspädagogik hat erwiesen, daß der Erzieher die Pflicht nicht hinstellen darf als Gebot einer fremden Macht, der sich der Zögling zu unterwerfen hätte, sondern nur als den Gegenstand der eigenen praktischen Einsicht des Zöglings in das, was er bei freier Beurteilung selber als das Gute und damit als den Gegenstand seines eigenen wahren Interesses erkennt. Bei der Ausbildung des sittlichen Interesses handelt es sich also um gar nichts anderes als um eine Aufklärung des Menschen über das eigene wahre Interesse. Nur eine solche Methode wird pädagogisch Erfolg haben; denn da

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die Pflicht nicht mehr verlangt, als dem wahren Interesse zu folgen, soll sie ihm auch nicht anders vorgestellt werden. Dieses ist die tiefe pädagogische Bedeutung des alten sokratischen Satzes, wonach die Tugend im Wissen besteht und wonach niemand freiwillig Unrecht tut, freiwillig, d. h. im Einklang mit seinem eigenen wahren Interesse. In diesem Sinn, befreit von aller intellektuellen Mißdeutung, bleibt dieser alte Satz wahr. Nur bei einer Darstellung der Pflicht, die mit dieser Wahrheit im Einklang ist, wonach also die Erfüllung der Pflicht das Werk der eigenen Freiheit ist, liegt Erziehung und nicht Abrichtung vor. In jeder anderen Darstellung liegt eine Demütigung für den Menschen, die das Gefühl der eigenen Würde und Freiheit verletzt und damit den mächtigsten Hebel sittlicher Kraftentfaltung unwirksam macht oder gar zerbricht. § 189.

Pflichtbewußtsein und Rechtsbewußtsein. Nun haben wir es hier aber nicht mehr mit der Frage zu tun, wie man Menschen zur Pflichterfüllung erziehen kann, sondern wir fragen nach der Erziehung zur Gerechtigkeit. Die Antwort hierauf ist durch die eben angestellten Dberlegungen erleichtert. Da es bei der sittlichen Erziehung auf die Erweckung des wahren Interesses ankommt, so ergibt sich als erste Bedingung die Anforderung an den Erzieher, dieses Interesse nicht zu verletzen. Das erscheint als eine triviale Bemerkung, aber ihre hohe Bedeutung tritt hervor, wenn wir den Inhalt der Pflicht ins Auge fassen, wie er sich durch den Begriff der Gerechtigkeit bestimmt. Das Bewußtsein der Pflicht, nämlich der Pflicht der Gerechtigkeit, läßt sich nicht trennen von dem Bewußtsein um unsere eigenen rechtlichen Ansprüche; dies liegt unmittelbar in der Allgemeingültigkeit der Pflicht. Die Pflicht gegen andere Personen entspringt dem Gebot, die persönliche Gleichheit zu achten; dieselbe Pflicht gilt für die andern uns gegenüber: Und hier besteht ein pädagogisch höchst wichtiges Verhältnis. Es ist ein psychologisches Verhältnis, wonach das

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Gefühl für das eigene Recht dem Gefühl für das Recht anderer vorhergeht. Denn um zu einem Gefühl für das Recht anderer Personen zu gelangen, ist eine Abstraktion erforderlich, deren es für das Gefühl des eigenen Rechts nicht bedarf. Jedes Recht wird bestimmt durch ein Interesse. Die Achtung dieses Interesses ist der Inhalt des Rechts. Das Bewußtsein um das eigene Interesse stellt sich mit diesem Interesse selber ein; zur Erweckung eines Gefühls für das eigene Recht ist es also nur erforderlich, daß wir uns hinsichtlich der Befriedigung unseres Interesses von der Willkür anderer Menschen abhängig fühlen. Das fremde Interesse und darum noch mehr das fremde Recht kommt uns dagegen nicht unmittelbar zum Bewußtsein. Wir erkennen dieses Interesse vielmehr nur vermittels eines Analogieschlusses aus der physischen Äußerung des andern. Daher stellt die Anerkennung fremder Rechte an die Reife der geistigen Entwicklung weit höhere Ansprüche als das Gefühl der eigenen Rechte. Hieraus folgt, daß der Erzieher zuerst für die Entwicklung des Rechtsgefühls der Kinder Sorge tragen muß, ehe er irgend hoffen kann, ihr Pflichtgefühl zu wecken. Wer das Rechtsgefühl eines Kindes nicht nur nicht zu stärken bemüht ist, sondern es obendrein mit Füßen tritt, der darf sich nicht wundern, wenn es ihm nicht gelingt, das Pflichtgefühl zu entwickeln. Es ist dann nicht die Verstocktheit des Zöglings, sondern die eigene Gewissenlosigkeit des Erziehers, die an dem Mißerfolg seiner Bemühungen die Schuld trägt. § 190.

Die Entwicklung des Rechtsgefühls. Wie kann aber das Rechtsgefühl entwickelt werden? Die pädagogische Aufgabe besteht in der Hauptsache nicht in der positiven Entwicklung des Rechtsgefühls, sondern darin, diese Entwicklung nicht zu hindern und nicht von dritter Seite hindern zu lassen. Ein Mensch, der in einer Umgebung aufwächst, die von Anfang an seine persönliche Würde mißachtet, ein solcher Mensch wird um so schwerer selber zum Gefühl seiner per-

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sönlichen Würde gelangen. Wer aber das Gefühl seiner eigenen persönlichen Würde eingebüßt hat, von dem kann man nicht erwarten, daß er die persönliche Würde anderer achten wird. Aus der Forderung, das Rechtsgefühl der zu erziehenden Menschen zu schonen und zu pflegen, folgt zunächst von neuem die Notwendigkeit einer Beschränkung des Gebrauchs von Zwangsmitteln in der Erziehung. Eine solche Beschränkung ergab sich bereits in der formalen Pädagogik aus der Uberlegung, daß moralisches Handeln nur möglich ist aus eigener sittlicher Einsicht und eigenem sittlichen Entschluß, daß es also unmöglich ist, durch Zwang zur Pflichterfüllung zu erziehen. Hier erhalten wir nun einen weiteren Gesichtspunkt für die Einschränkung von Zwangsmaßnahmen, den nämlich, daß sie das Ehrgefühl des zu Erziehenden nicht verletzen dürfen. Wir stoßen damit wieder auf dieselben Bedingungen, die sich auch bei den Untersuchungen des formalen Teils als notwendig erwiesen und die sich dahin zusammenfassen lassen, daß der Zwang sich dem zu erziehenden Menschen wie eine Naturkraft darstellen soll, nicht aber wie der Ausfluß einer bloßen Laune des Erziehers. Wird diese Bedingung eingehalten, dann braucht die Anwendung von Zwang nicht das Ehrgefühl zu verletzen. Denn die unpersönliche Macht der Natur kann zwar schmerzen und verletzen, aber sie kann nicht moralisch kränken, beleidigen und demütigen. Die Achtsamkeit gegenüber dem Rechtsgefühl des zu erziehenden Menschen verlangt aber nicht nur, daß dieser vor den Launen seines Erziehers gesichert ist, sondern auch, daß er darauf vertrauen kann, nur um seines eigenen wahren Interesses willen einem Zwang unterworfen zu werden. Dafür genügt es nicht, daß die Zwecke, die der Erzieher mit seinen Maßnahmen verfolgt, objektiv im wahren Interesse des Kindes liegen. Denn da dieses tatsächlich noch nicht über eine entwickelte Einsicht verfügt, kann die Verletzung eines faktischen Interesses ihm als die Verletzung seines Rechts erscheinen und also sein Rechtsgefühl beleidigen. Daraus folgt, daß man die Zwecke, die das wahre Interesse des Kindes erfordert, nach

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Möglichkeit ohne Verletzung seines Rechtsgefühls durchsetzen soll. Hierin liegt z. B. die Forderung, dem Kind nicht eine ihm uninteressante Beschäftigung aufzuzwingen, sofern es seiner Fassungsgabe nach den Sinn und Nutzen der von ihm verlangten Arbeit nicht einsehen kann. Eine Arbeit, die dieser Bedingung nicht genügt, ist pädagogisch unzweckmäßig gewählt und wird, da sie das Rechtsgefühl verletzt, mehr schaden als sie in anderer Hinsicht nützt. § 191.

Die Entwicklung des Pflichtbewußtseins. Der Schutz des Rechtsgefühls ist nur der erste Schritt der sittlichen Erziehung. Gerade wenn die Erziehung den Menschen zu einem lebendigen Gefühl für das eigene Recht geführt hat, erhebt sich das Problem, wie er von hier aus zu einer bewußten Abwägung der von einer Handlung betroffenen Interessen gelangen kann. Denn nur auf Grund einer solchen Interessenabwägung ist für ihn die Anerkennung der Rechte anderer und damit die Anerkennung der eigenen Pflichten möglich. Um diese Interessenabwägung vornehmen zu können, muß das Kind die Wirkung seines Handelns auf die behandelten Personen kennen. Dies ist aber nur möglich, sofern es eine entsprechende Wirkung an sich selber erfahren hat. Nur dann kann es sich in die Lage des Behandelten versetzen und dessen Interessen bei der Abwägung in Rück.sieht ziehen. In solchen Fällen, in denen das Kind fremden Interessen gegenübersteht, die es nicht einzuschätzen vermag, kann der Erzieher ihm zu einer gerechten Interessenabwägung verhelfen, indem er es selber eine Verletzung jener Interessen erleben läßt, die es ohne diese Erfahrung nicht in ihrer Stärke und Bedeutung zu beurteilen vermag. Sofern das Kind die Analogie zwischen seiner eigenen Lage und der jener anderen Personen auffassen kann, werden ihm durch eine solche Maßnahme des Erziehers die Interessen der anderen gleichsam evident gemacht. Es wird ihm unmittelbar vor Augen geführt, was es

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heißt, die von der Handlung betroffenen Interessen in der eigenen Person vereinigt zu denken, und die Abwägung, die es so unter seinen eigenen Interessen vornimmt, ermöglicht ihm die Rücksichtnahme auf die Interessen anderer. Eine gewisse Schwierigkeit bleibt noch bestehen für den Fall, daß das Kind in seiner Unwissenheit die Interessen anderer bereits verletzt hat. Die Maßnahmen, durch die der Erzieher dem Kind die Interessen der andern ins Bewußtsein bringt, würden in diesem Fall darin bestehen, daß er das Kind künstlich in die Lage bringt, in die es andere gebracht hat, und es erleiden läßt, was jene durch seine Handlung erlitten haben. Eine solche Maßnahme scheint den Charakter der Strafe zu tragen. Die Kritik am Opportunitätsprinzip, die zu einer Verwerfung der Strafe als eines Erziehungsmittels führte, nötigt uns daher zu der Frage, ob die hier vorgenommene Interessenverletzung wirklich eine Strafe in dem dort festgelegten Sinn ist und, sofern sie es ist, ob irgend ein Grund vorliegt, um dessentwillen in diesem Fall eine Strafe pädagogisch gerechtfertigt werden kann. Die Annahme eines solchen Grundes liegt in der Tat nahe: Die Gerechtigkeit verlangt für die Fälle, in denen das Recht verletzt ist, Strafe als Vergeltung. Sie verlangt, daß derjenige, der andern widerrechtlich eine Interessenverletzung zugefügt hat, in eine gleiche Mißachtung der eigenen Interessen einwilligt, mit anderen Worten: daß er einwilligt, in die gleiche Lage versetzt zu werden, in die er andere widerrechtlich versetzt hat. Strafe in diesem Sinn ist nicht auf Opportunitätserwägungen begründet. Wie es scheint, könnte sie also in die Erziehung eingeführt werden, ohne die verderblichen Folgen der Opportunitätspädagogik heraufzubeschwören, und würde zugleich den Zweck erfüllen, dem zu erziehenden Menschen die Lage der von seiner Handlung betroffenen Person anschaulich vor Augen zu führen. Betrachten wir die angestellten Uberlegungen unter diesem Gesichtspunkt, so ergibt sich aber, daß hier von der Einführung einer Strafe als Vergeltung nicht die Rede sein kann.

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Denn Strafe als Vergeltung kommt nur da in Frage, wo ein Unrecht vorliegt. Wo aber der zu erziehende Mensch die von seiner Handlung betroffenen Interessen überhaupt nicht beurteilen kann, da ist seine Handlung kein Unrecht, sondern höchstens ein Unglück für den von ihr Betroffenen. Die Maßnahme des Erziehers ist also nicht die Vergeltung eines begangenen Unrechts, sondern die Belehrung über ein angerichtetes Unglück, eine Belehrung allerdings, die sich zugleich an das Rechtsgefühl des Menschen wendet, indem sie die gerechte Abwägung zwischen den eigenen und den fremden Interessen ermöglicht und damit zur Einsicht in die Rechte anderer führt. Nur in dem Fall, daß der zu erziehende Mensch ein, wenn auch dunkles Bewußtsein besitzt, daß er durch seine Handlung die Interessen anderer widerrechtlich verletzt, kann die Maßnahme des Erziehers, durch die dieser ihm die Wirkung seiner Handlung klarmacht, den Charakter der Strafe tragen. Denn nur in diesem Fall liegt wirklich ein Unrecht vor, das Strafe verdient. Daraus folgt aber nicht, daß es im Interesse der Erziehung geboten wäre, die erforderliche Belehrung in die Form der Strafe zu kleiden. Im Gegenteil: Gegen eine solche Anwendung der Strafe, die durch das Vergeltungsgesetz in rechtlicher Hinsicht begründet ist, erheben sich vom Standpunkt der Erziehung dieselben Einwände wie gegen die Opportunitätspädagogik. Nur unter einer Bedingung wird die Anwendung der Strafe in der Erziehung nicht in eine Erziehung zu Feigheit und Kriecherei ausarten, dann nämlich, wenn die Strafe von dem zu erziehenden Menschen selber als gerechte Vergeltung eines begangenen Unrechts verstanden wird. Dafür aber muß dieser bereits ein Verständnis für das Gesetz der gerechten Vergeltung haben und nicht nur für das der gerechten Abwägung. Eine solche Reife des Verständnisses können wir aber bei dem zu erziehenden Menschen nicht von vornherein voraussetzen. Sie zu wecken ist vielmehr eine Aufgabe der Erziehung. Nur wo diese Aufgabe gelöst ist, kann die Strafe eine erzieherische Bedeutung gewinnen, nämlich dadurch, daß sie die

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widerrechtlich begangene Interessenverletzung eindringlich ins Bewußtsein ruft. Es könnte hier die Frage auftauchen, ob nicht auch dem Lohn - unter ähnlichen einschränkenden Bedingungen - eine erzieherische Wirksamkeit zugesprochen werden kann. Wir müssen diese Frage verneinen, und zwar aus verschiedenen Gründen. Zunächst ergibt sich bereits aus dem Begriff der Pflicht, daß wohl die Anwendung der Strafe, nicht aber die des Lohnes mit dem Sittengesetz in Einklang steht. Die Belohnung der Pflichterfüllung würde diese als Verdienst erscheinen lassen und damit der praktischen Notwendigkeit, wie sie der Pflichterfüllung zukommt, widerstreiten. Sie würde daher an Stelle von Pflichttreue vielmehr Hochmut züchten, nämlich das Bewußtsein eines eigenen Verdienstes da, wo in Wahrheit nur die Pflicht und Schuldigkeit erfüllt worden ist. Durch eine solche Einrichtung kann das Pflichtbewußtsein nur untergraben und zerstört werden, mag der Lohn in noch so verfeinerter Gestalt erscheinen, wie in der Gestalt der Selbstzufriedenheit, des Ruhmes bei der Nachwelt oder der ewigen Seligkeit in einem künftigen Leben. Aber selbst wenn wir von der Interessenbefriedigung, die wir etwa mit einer Pflichterfüllung verknüpft hätten, jede Anerkennung eines Verdienstes fernzuhalten und ihr damit den Charakter des Lohnes im strengen Sinn des Wortes zu nehmen vermöchten, so würde auch eine solche Maßnahme keine derartige erzieherische Wirkung ausüben können wie die Strafe. Das folgt aus dem Inhalt des Sittengesetzes. Denn für die Anwendung des Sittengesetzes kommt es nur darauf an, widerrechtliche Interessenverletzungen zu vermeiden; es ist aber nicht die Förderung der Interessen anderer geboten. Dies müßte jedoch der Fall sein, damit eine Interessenförderung eine analoge erzieherische Bedeutung haben könnte wie die Strafe. Ebensowenig wie die Ablehnung der Strafe als eines Erziehungsmittels einen grundsätzlichen Verzicht auf jede Zwangsmaßnahme zur Folge hatte, bedeutet natürlich die Ablehnung des Lohnes ein Verbot jeder Interessenbefriedigung,

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die der Erzieher dem Kinde zukommen lassen könnte. Nur auf eins kommt es dabei an: darauf, daß jeder Schein vermieden wird, als diene eine solche Interessenbefriedigung der sittlichen Erziehung. Denn anderenfalls würde die Maßnahme beim Kind lediglich eine Verwirrung aller sittlichen Vorstellungen hervorrufen.

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2. Kapitel.

Intellektuelle Erziehung. § 192.

Die Methode des Unterrichts. Indem wir von der Betrachtung der sittlichen Erziehung zu der der intellektuellen und der ästhetischen übergehen, wird es notwendig, sich der im formalen Teil der Pädagogik auseinandergesetzten Warnung zu erinnern, in der Erziehung den Unterschied von Pflichten und Idealen außer acht zu lassen. Wenn wir das Ziel der Erziehung in einem ethisch bestimmten Wert des zu erziehenden Menschen suchen, dann dürfen wir nicht einseitig von einer Betrachtung dessen ausgehen, was sich auf Grund eines Ideals als Erziehungsziel für den Menschen anbietet. Der hier besonders schwerwiegende Fehler, der aus solcher Einseitigkeit entspringt und den man als den des pädagogischen Ästhetizismus bezeichnen kann, tritt da in Erscheinung, wo ein Erzieher ohne Berücksichtigung der einschränkenden Bedingungen der Pflicht immer nur nach dem Höchstmaß an positiven Werten fragt, die der Zögling durch sein Handeln realisieren könnte. Mag das bloße Fehlen der Bildung bei einem Menschen ein Mangel sein, so zeigt doch der Anspruch auf Bildung, die durch Pflichtverletzung erkauft wird, einen ungleich größeren und ethisch verwerflicheren Mangel. Wir werden deshalb bei der Frage, wie die Erziehung zu den Idealen der Wahrheits- und Schönheitsliebe möglich ist, immer im voraus die Beschränkung zu bedenken haben, die dem Erzieher durch die Aufgabe der Erziehung zur Pflichterfüllung auferlegt wird. Der positive Wert, den der gebildete Mensch sonst haben könnte, wird durch die Verletzung der Pflicht gänzlich vernichtet. Der pädagogische Ästhetizismus ist also nicht nur an sich verwerflich, sondern er ist doppelt verwerflich, weil er den Menschen, die durch die Erziehung instand gesetzt werden sollen, ihre Pflicht zu erfüllen, vorspiegelt, daß sie trotz Nichtachtung der Pflicht ihrem Leben dennoch einen Wert, ja einen

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besonders hohen Wert verleihen könnten. Unter Berücksichtigung dieser Gefahr wollen wir fragen, wie die Erziehung zur Bildung im materialen Sinn des Wortes möglich ist, und zwar zunächst die intellektuelle Erziehung. Die intellektuelle Erziehung dient dem Ziel der Erziehung einerseits dadurch, daß sie den Zögling die richtigen Mittel zur Erfüllung seiner Zwecke und also auch seiner ethischen Aufgaben finden lehrt, andererseits dadurch, daß sie ihn anleitet, unmittelbar der Pflicht der inneren Wahrhaftigkeit und dem Ideal der Wahrheitsliebe zu folgen. Die erste Bedingung, der die intellektuelle Erziehung genügen muß, um den hiermit bestimmten Zwecken gerecht zu werden, ist Konsequenz im Urteil überhaupt und also insbesondere im Unterricht, der ja nichts anderes ist, als eine in sich zusammenhängend gedachte, intellektuelle Erziehung. Es ist ein trivialer Satz, daß von zwei einander widerstreitenden Lehren wenigstens eine falsch sein muß, und. daß also, wer beide für wahr ausgibt, ein Lügner ist. Wo daher im Unterricht Inkonsequenz der Lehren vorkommt, wo ein Fürwahrhalten einander widerstreitender Lehren geduldet oder gar verlangt wird, da verkehrt der Unterricht das Ziel der intellektuellen Erziehung in sein Gegenteil, indem er zur Unwahrhaftigkeit erzieht. Die zweite Anforderung an die Methode des Unterrichts bezieht sich auf das Verhältnis des Denkens zur Bezeichnung der Gedanken, d. h. zur Sprache. Sprache ist der Gebrauch eines äußeren Zeichens, sofern ihm ein Gedanke zugeordnet ist. Alle Verständigung unter Menschen, und also auch aller Unterricht, beruht auf solcher Gedankenbezeichnung und ist daher nur möglich, wenn man an eindeutiger Zuordnung des Gedankens zum Wort festhält; anderenfalls bliebe es unbestimmt, welcher Gedanke durch ein Wort bezeichnet werden soll, wobei dann in Wahrheit gar nichts durch das Wort bezeichnet und alle Möglichkeit der Verständigung ausgeschaltet wäre. Wahrhaftigkeit fordert daher Bestimmtheit im Gebrauch der Sprache. Hieraus folgt, daß Worte nur da angewandt werden sollen, wo sie einen bestimmten Sinn haben, d. h. wo ihnen eindeutig ein Gedanke

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zugeordnet ist. Wer gegen diese Bedingung verstößt, wer ein Wort gebraucht, ohne mit ihm den Gedanken zu verbinden, zu dessen Bezeichnung es bestimmt ist, der wird den andern oder auch sich selber gegenüber zum Betrüger; denn er redet andern oder auch sich selber etwas vor, was er in Wahrheit gar nicht denkt. Gegen diese Forderung wird überall da verstoßen, wo der Erzieher gestattet oder gar dazu anleitet, Worte zu gebrauchen, für die im Geiste dessen, der sie gebraucht, noch kein bestimmter Gedanke ausgebildet worden ist, - also bei jedem Auswendiglernen unverstandener Worte und deren Gebrauch in Rede und Schrift. Jedes Verfahren, das der Anforderung der Bestimmtheit im Gebrauch der Sprache nicht genügt, ist nicht etwa nur als eine Unwahrhaftigkeit des Erziehers gegenüber dem Kinde zu verurteilen, sondern das Kind selber wird dadurch zur Unwahrhaftigkeit verführt, und zwar nicht nur gegen andere, sondern auch gegen sich selber, indem es sich daran gewöhnt, Worte zu gebrauchen, für die es keine bestimmte Bedeutung kennt. Es gewöhnt sich also an die Selbsttäuschung, daß es sich einbildet, zu denken, wo es in Wahrheit nur Worte macht. Dies ist eine Gefahr, die jedem Auswendig lernen anhaftet, da nämlich beim Auswendiglernen nicht auf den Sinn der Worte geachtet wird, sondern nur auf ihren äußeren Zusammenhang, wodurch dann die Achtung vor der Sprache - d. h. davor, daß die Worte eine Bedeutung haben - und damit auch die Wahrheitsliebe mehr und mehr untergraben wird. Am aHerwenigsten kann es als erlaubt gelten, eine solche Gefahr auch nur aufkommen zu lassen da, wo es sich um die ernstesten und heiligsten Angelegenheiten des Menschen handelt: um Angelegenheiten der Moralität und der Religion. Jedes Wort, das hier dem Kind zugemutet wird, ohne daß es seinen Sinn verstehen kann, bedeutet ein Verbrechen des Erziehers gegenüber dem Kinde. Die dritte Forderung an die intellektuelle Erziehung verlangt die Ausschließung jedes dogmatischen Unterrichts. Sie ergibt sich bereits aus der Pflicht der Wahrhaftigkeit, und um so mehr aus dem Ideal der Wahrheitsliebe. Dogmatisch ist jeder

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Unterricht, der Urteile erlernen läßt, ohne eine Einsicht in die Gründe zu gewähren, insbesondere also jeder Unterricht, dessen Lehren auf Autoritätsglauben hin angenommen werden sollen. Mit der Verwerfung des Dogmatismus ist gefordert, daß der Lehrer auch von dem Vertrauen seiner Schüler in seine eigene Wahrhaftigkeit nur so weit Gebrauch machen soll, daß er nicht zur Gefahr des Autoritätsglaubens Anlaß gibt. Er soll sich an die eigene Einsicht des Kindes wenden und ihm Gelegenheit geben, sich in der Kritik zu üben. Nichts soll der freien Prüfung seitens des Schülers entzogen oder gar künstlich dunkelgehalten werden. § 193.

Das Problem des Religionsunterrichts. Diese Regeln finden ihre bedeutsamste Anwendung in der Frage des Religionsunterrichts. Ein Unterricht in der Religion kann aus verschiedenen Gründen gefordert werden. Man kann einen solchen Unterricht für notwendig halten zum Zweck der moralischen Erziehung. Man tut dies, falls man von der Meinung ausgeht, daß moralische Vorschriften in das Gemüt nur Eingang finden, wenn man ihnen eine religiöse Sanktion erteilt, wenn man also die Vorstellung der Pflicht nicht für einen hinreichenden Bestimmungsgrund des Handelns hält, wenn man um mit Kant zu sprechen - davon ausgeht, daß reine Vernunft für sich nicht praktisch sein könne. Ein solcher Unterricht würde offenbar auf eine heteronome, nur durch Autoritätsglauben zu stützende Moral hinauslaufen und ist selber unmoralisch. Hier bleibt aber ein Einwand offen: Setzt nicht die autonome Moral in dem Gefühl der Verantwortung das Bewußtsein der Freiheit voraus, so daß also ein religiöser Glaube notwendig ist zur Begründung ethischer Uberzeugungen? Wenn man hier Klarheit gewinnen will, muß man zweierlei auseinanderhalten. Es handelt sich einmal um die Frage nach dem objektiven Zusammenhang von Verantwortung und Freiheit, mit anderen Worten: um die Frage, ob es eine Moral gibt, die hinsichtlich ihrer Geltung und ihres systematischen Aufbaus von religiösen

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Voraussetzungen unabhängig ist. Dieses logische Verhältnis hat nichts zu tun mit dem psychologischenVerhältnis der Entwicklung ethischer und religiöser Uberzeugungen im Menschen. Dies ist das andere, worauf wir achten müssen. Für die Erziehung kommt es unmittelbar nur auf das zweite Verhältnis an. Denn hier handelt es sich nicht um die Frage, ob die Geltung sittlicher Wahrheiten von der Geltung religiöser Wahrheiten abhängig ist, sondern darum, ob im Geist des Menschen eine moralische Gesinnung bestehen kann, ohne daß sie auf einen religiösen Glauben gestützt wird. Mag man auch der Meinung sein, daß jene logische Frage zu verneinen ist, daß es also eine von religiösen Wahrheiten unabhängige sittliche Wahrheit nicht gibt, so folgt daraus doch nicht, daß auch die psychologische Frage zu verneinen ist, ob es eine moralische Gesinnung geben kann, ohne daß diese erst auf Grund einer religiösen Sanktion dem Menschen zum Bewußtsein kommt. Denn selbst wenn gemäß dem logischen Verhältnis die Moral von der Religion abhinge, so ist doch das psychologische Verhältnis der einen und andern Uberzeugungsart das umgekehrte. In der Tat: Es verhält sich psychologisch so, daß in Ermangelung einer anschaulichen Erkenntnis religiöser Wahrheiten, insbesondere der Idee der Freiheit, das Pflichtbewußtsein gerade der Anlaß ist, der im Menschen das Gefühl der Verantwortlichkeit und dadurch das Bewußtsein seiner Freiheit und seiner Zugehörigkeit zu einem die Natur übersteigenden Reich der Zwecke erweckt. Wer diese natürliche Ordnung der Dinge in der Ausbildung des Geistes künstlich umkehrt, indem er die Vorstellung der sittlichen Verbindlichkeit von religiösen Uberzeugungen abhängig macht, der muß seine religiösen Lehren dem Zögling dogmatisch einflößen und beraubt damit die so vermittelte Glaubenslehre alles festen Halts im Geist des Schülers. Aber nicht genug damit! Es gibt nun einmal keinen Ubergang von der religiösen zur ethischen Erkenntnis. Wer also einen solchen Ubergang versucht, muß auch den zweiten Schritt, die Weckung der ethischen Uberzeugung, dogmatisch einführen und also eine heteronome Ethik aufbauen. Das Bestreben, die

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:noralische Erziehung auf die religiöse zu gründen, untergräbt also die Autonomie an ihrer Wurzel. Erst muß die moralische Gesinnung im Gemüt der Menschen befestigt sein, ehe sie religiös erzogen werden können. Anderenfalls wird mit dem Glauben an die religiöse Sanktion auch der sittliche Glaube selber erschüttert werden und einem ethischen Skeptizismus Platz machen. Aber gerade von pädagogischer Seite glaubt man dieser Beweisführung ein neues Bedenken entgegenhalten zu müssen: daß es nämlich bei der Mehrzahl der Menschen verlorene Mühe sei, zu einer autonomen Sittlichkeit zu erziehen, und daß sie eines äußeren Antriebes bedürften, um sich der Versuchungen zur Pflichtverletzung zu erwehren. Als ein solcher Gegenantrieb gegen die Versuchungen zur Pflichtverletzung sei die Religion unentbehrlich für die Wahrung guter Sitten und darum für die Volkserziehung. Der erzieherische Erfolg, der hier der Religion zugemutet wird, besteht nicht in einer Erweckung der moralischen Gesinnung, sondern zugestandener Weise nur in der Hervorbringung von Handlungen, die bestenfalls äußerlich mit den aus einer moralisch guten Sinnesart hervorgehenden übereinstimmen können - ein Verfahren, das mit seiner Bevormundung das Erstarken der moralischen Gesinnung unterbindet und darum selber unmoralisch ist. Da aber auch die besten Zwecke ein unmoralisches Mittel niemals rechtfertigen können, so müßten wir die fragliche Erziehungsmethode auch dann verurteilen, wenn sie noch so vortreffliche Wirkungen aufzuweisen vermöchte. Entfällt nun damit die Berechtigung des Religionsunterrichts überhaupt? Es gibt eine Ansicht, wonach auch bei Ablehnung aller Bevormundung ein eigener Unterricht für die religiöse Ausbildung gefordert wird, wenn auch nicht, um den Schülern ein bestimmtes Glaubensbekenntnis aufzuzwingen, so doch, um ihnen die Kenntnis der Religion zu übermitteln und dadurch die Möglichkeit zu geben, selber zu den religiösen Fragen Stellung zu gewinnen. Wenn auch der Zweck, die Schüler zum eigenen Urteilen in religiösen Fragen zu befähigen, durch-

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aus billigenswert ist, so läßt sich doch hieraus nicht auf die Notwendigkeit eines Religionsunterrichts schließen; denn dieser Zweck führt in Wahrheit gar nicht auf die Forderung eines Religionsunterrichts, sondern nur auf die eines religionsgeschichtlichen Unterrichts, genauer: eines Unterrichts über die historisch vorliegenden Glaubensbekenntnisse. Es ist ein himmelweiter und durch keine Spitzfindigkeit der Welt wegzudisputierender Unterschied, ob ich etwa einem Menschen zumute, zu glauben, Jesus sei Gottes Sohn gewesen, oder ob ich ihm die Tatsache vermittle, Jesus habe sich selber für Gottes Sohn gehalten. Das eine wäre eine religiöse, das andere eine religionsgeschichtliche Lehre. Diese ist Sache historischer Ermittlung, jene eine Sache religiösen Glaubens. Von der ersten Tatsache kann man überzeugt sein, ohne den religiösen Glauben zu teilen. Behauptet man, nur diese Tatsachen mitteilen zu wollen, so ist es also eine Anforderung der Ehrlichkeit, den Namen „Religionsunterricht" durch den Namen „Religionsgeschichte" zu ersetzen. Anderenfalls besteht die Gefahr, daß der Unterricht, der den Namen „Religionsunterricht" führt, doch eine Nötigung einschließt, die Nötigung nämlich, sich religiöse Glaubenssätze einzuprägen, wobei nur scheinbar die Annahme oder Verwerfung dieser Sätze einer späteren, freien Entscheidung überlassen bleiben soll. Aber selbst bei einem rein geschichtlichen Unterricht sollte man nicht vergessen, daß alle positiv ausgeführten Glaubensbekenntnisse Dokumente des Aberglaubens sind, so daß die Beschäftigung mit ihnen sicher nicht unmittelbar aus dem Interesse an der religiösen Wahrheit gerechtfertigt werden kann. Wenn aber der Zweck der religiösen Erziehung ein an und für sich wertvoller Zweck ist, wie ist dann die religiöse Anlage zu entwickeln ohne einen Unterricht in der Religion? Die Antwort ist sehr einfach. Wie die Darstellung der Ideale der Bildung zeigt, ist Religion nicht Sache der wissenschaftlichen Belehrung, sondern des lebendigen, wissenschaftlich unauflöslichen Gefühls. Hieraus folgt, daß sie überhaupt nicht in den Unterricht gehört. Die sittliche Wahrheit kann in wissenschaftlicher Form

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gelehrt, die religiöse dagegen nur erlebt werden. Es gibt keine religiös - wissen s c h a f t 1 ich e, sondern nur eine religiösä s t h et i s c h e Weltansicht. Durch das Gesagte wird also nicht etwa die religiöse E r z i e h u n g verworfen, sondern nur die Methode, diese religiöse Erziehung durch einen Religionsu n t er r i c h t zu bewerkstelligen. Hieraus ergibt sich die Forderung, die Religion aus der intellektuellen Erziehung in das Gebiet der ästhetischen Erziehung zu verweisen. §

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Die Auswahl des Unterrichtsstoffes. Was die Wahl des Unterrichtsstoffes überhaupt betrifft, so ist es wichtig, diese Frage nicht von dem Gesamtziel der intellektuellen Erziehung abzulösen. Wir dürfen nicht einfach von der Frage ausgehen, welcher Wissensstoff für sich betrachtet als der wertvollste anzusehen wäre, sondern wir müssen vorher fragen: Welches Wissen zu besitzen ist notwendig mit Rücksicht auf die ethische Erziehung überhaupt? Nur wenn sich hier keine weiteren Einschränkungen ergeben, dürfen wir uns die Frage vorlegen, welches Wissen an und für sich vorzugswürdig wäre. Zum ethischen Handeln bedarf es der Ausbildung der Erkenntnis; die in dieser Hinsicht bedeutsame Erkenntnis soll deshalb vorzugsweise ausgebildet werden. Welche dies ist, ergibt sich aus einer einfachen Uberlegung. Die Erkenntnis, die der Mensch zur Erfüllung seiner ethischen Bestimmung braucht, kann sich nur beziehen auf seine Umgebung, in der allein er ethische Aufgaben hat. Dies ist einerseits die ihn umgebende äußere Natur und andererseits der gesellschaftliche Zustand, unter dem er lebt. Erst wenn der Aufgabe genügt ist, daß die zu erziehenden Menschen in Erkenntnis ihrer Umwelt hinreichend ausgebildet sind, wird man sich mit Fug und Recht fragen dürfen, welche Erkenntnisse man ihnen sonst noch zuteil werden lassen sollte. Alle weiteren Rücksichten sind daher bei der Wahl des Unterrichtsstoffes dieser ersten Rücksicht nachzusetzen. Man nennt die Unterrichtsstoffe, die sich hiernach als vorzugs-

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würdig erwiesen haben, gewöhnlich die realistischen, und damit kommen wir auch bei der Frage nach der Wahl des Unterrichtsstoffes auf die Streitfrage zurück nach dem Vorrang der sogenannten realistischen oder der humanistischen Bildung. Wir sahen bereits, daß in diesem Streit beide Parteien von einer falschen Voraussetzung ausgehen, von der Ansicht nämlich, daß man entweder auf die Beherrschung der Natur oder auf die ethische Zielsetzung verzichten müsse. Diese Auffassung zeigt sich auch in der Wahl der Unterrichtsfächer, wie sie auf jeder der beiden Seiten vorgenommen wird. Die Realisten gehen dabei von einem Ideal aus, das man als das der Utilität, der Nützlichkeit, bezeichnen kann. Um den Vorzug der realistischen Bildung vor der humanistischen, d. h. hier: des Studiums der Naturwissenschaften vor dem Studium der Antike, oder allgemeiner vor dem Studium der Vergangenheit, zu beweisen, berufen sie sich auf die größere Nützlichkeit des Studiums der Natur, also auf die technische Bedeutung der Naturwissenschaften. Die Humanisten bedienen sich desselben Arguments, des Hinweises auf die Utilität der von den Realisten bevorzugten Stoffe, um gegen die Bevorzugung dieser Stoffe zu sprechen. Nach ihnen soll die Erziehung den Menschen von bloßen Nützlichkeitserwägungen freimachen. Sie wählen darum ihren Unterrichtsstoff nach einem Ideal, das dem der Utilität gerade entgegengesetzt ist und das wir das der Futilität, der Nutzfreiheit, nennen können. Beide Ideale sind als solche unhaltbar; auf beiden Seiten macht man sich die Lösung der Aufgabe zu leicht, indem man das durch die Vernunft vorgeschriebene Erziehungsziel durch die leeren Ideale der Utilität und der Futilität ersetzt. Wenn wir auf Grund dieser Uberlegungen sowohl das realistische wie das humanistische Erziehungsziel und damit die Begründungen für die auf beiden Seiten getroffene Wahl der Unterrichtsfächer verwerfen müssen, so folgt daraus noch nicht die Ablehnung der aufgestellten Unterrichtspläne selber. Es bleibt noch die Frage, ob der realistische Unterricht, der den Bildungsstoff in der Erkenntnis der Wirklichkeit sucht, oder der humanistische Unterricht, der die Kenntnis der Vergangenheit

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vermitteln will, die geeignetere Methode ist, uns dem Ideal näherzubringen, durch das wir das Ziel der Erziehung bestimmt haben. Hier müssen wir zunächst daran erinnern, daß es nicht hinreicht, einem Menschen ein schönes Ziel vor Augen zu stellen und ihn dafür zu begeistern, daß es vielmehr darauf ankommt, ihm Mittel in die Hand zu geben, an der Verwirklichung des Ziels zu arbeiten. Anderenfalls wäre es besser, ihn überhaupt nicht ein solches Ziel kennen zu lehren. Der Idealismus, den man so züchtete, würde völlig neben dem Menschenleben stehen. Es wäre ein Feiertagsidealismus, aber kein Idealismus des Lebens und der Tat. So sehr wir die realistische Bestimmung des Erziehungsziels verwerfen, so sehr sind wir daher genötigt, den Realismus als Erziehungs m et h o de zu bevorzugen. Wer die Methode, die man die humanistische nennt, bevorzugt, der entwickelt das intellektuelle Interesse der Menschen durch die Beschäftigung mit der als klassisch gepriesenen Vergangenheit. Er geht dabei von einer idealisierenden Geschichtsauffassung aus, wonach diese Vergangenheit selber das Ideal enthält, mit dem wir die Gegenwart vergleichen und nach dem wir sie werten sollen. Diese Methode beruht auf der romantischen Lebensansicht, die wir verworfen haben, weil sie den Menschen seinen ethischen Aufgaben entfremdet. Die Bildung erfordert, daß der Blick nicht auf die nur historisch hinzunehmende Vergangenheit gerichtet ist, mag sie noch so ideal gewesen sein, sondern daß der praktische Gesichtspunkt der Zukunft in den Vordergrund gestellt wird. Alle ethischen Aufgaben haben ihren Gegenstand in der Zukunft. Auch die Gegenwart verdient unser ethisches Interesse nur, sofern sie sich nach einem Ideal zur besseren Zukunft entwickeln läßt. Die Vergangenheit kann uns nur mittelbar lehren, wie wir auf die Gegenwart einwirken müssen, um sie unserem Ideal näherzubringen. Das Studium der Vergangenheit hat daher nur einen mittelbaren Wert für die Erziehung zur Bildung. Was die Menschen erzieht, ist nicht das Schwärmen von den Leistungen anderer, sondern das Streben

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nach eigenen Leistungen. Die Anleitung zu einer eigenen, idealen Betätigung wird daher die richtige Erziehungsmethode sein. Die gleichen Oberlegungen gelten für diejenige Ausbildung der Erkenntnis, die unmittelbar dem Ideal der Wahrheitsliebe dient. Wir müssen hier den Unterschied zwischen Bildung und bloßer Gelehrsamkeit anwenden. Bildung beruht nur auf Selbsttätigkeit, auch intellektuelle Bildung. Sie fordert, daß auch im Erkennen ein selbständiges Verhältnis zur Wirklichkeit gewonnen wird, und sie kann sich daher nicht mit einem Schöpfen aus zweiter Hand begnügen. Derjenige Unterrichtsstoff wird daher der beste sein, der am meisten Gelegenheit zu eigenem Forschen bietet und am wenigsten bloß gedächtnismäßigesWissen verlangt. Dazu gehört, daß nur von eigenen Beobachtungen der Tatsachen ausgegangen wird und daß jeder Schritt über die Beobachtung hinaus durch Selbstdenken getan wird. Dieser Anforderung entspricht der historische Unterricht am wenigsten; denn das geschichtliche Wissen ist nur ein Wissen aus zweiter Hand. Es setzt das Vertrauen auf das Urteil anderer voraus, die Zeugen der Vergangenheit waren. Der Wert des Geschichtsunterrichts liegt also nicht unmittelbar in der Bildung des Erkenntnisvermögens. Diese erhält vielmehr erst mittelbar dadurch Bedeutung, daß sie ihrerseits zu einer Bedingung für das Handeln des zu erziehenden Menschen wird. Denn der Geschichtsunterricht weist die Kräfte auf, die das gesellschaftliche Leben beherrschen und deren sich darum der Schüler selber bedienen muß, wenn er das gesellschaftliche Leben seinen Idealen gemäß gestalten will. Diesen Feststellungen gegenüber weisen die Freunde der sogenannten humanistischen Bildung darauf hin, daß zwar vielleicht nicht das historische Studium im engeren Sinn, aber dafür um so mehr das Sprachstudium eine geeignete Schule des selbständigen logischen Denkens biete. Dieser Behauptung liegt offenbar eine Verwechslung zwischen Logik und Grammatik zu Grunde. Die Sprachformen sind zufällige Produkte der geschichtlichen Entwicklung und können deshalb nur historisch gelernt und nicht nach Gesetzen begriffen werden. Die Gesetze

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der Grammatik verdienen ihren Namen nur in sehr uneigentlichem Sinn. Das einzige Gesetz, das hier diesen Namen zu verdienen scheint, lautet bekanntlich: ,,Keine Regel ohne Ausnahme." Es bedeutet, daß in diesem Gebiet in Wahrheit überhaupt keine Gesetze gelten. Das spricht nicht gegen die rechtliche Notwendigkeit der Heilighaltung der Sprache und die Anforderungen, die sich, wie wir sahen, daraus für die Erziehung ergeben. Aber die Sprache hat diese Bedeutung doch nur als ein Ausdrucksmittel, als ein Werkzeug der Gedankenmitteilung. Sie sollte daher, wenn man hier von dem ästhetischen Gesichtspunkt noch absieht, nur nach ihrer Brauchbarkeit für diesen Zweck beurteilt werden. Der Sprachunterricht sollte nur nach Zweckmäßigkeitsgründen bestimmt werden und nicht nach dem angeblich wissenschaftlichen Wert des Sprachstudiums. Damit fällt aber gerade für den Sprachunterricht die Anwendung des humanistischen Gesichtspunktes völlig weg. Denn der Wert, den wir dem Sprachstudium zuerkennen, ist nur ein solcher der Utilität. Die Bedeutung der Sprache als eines Werkzeuges der Gedankenmitteilung macht das Studium der Sprache in dem Maße notwendig, als sie wirklich zur Verständigung im Leben gebraucht wird. Wenn unter dieser Einschränkung das Sprachstudium notwendig ist, so ist damit durchaus nicht gesagt, daß der Stoff, an dem die Sprache geübt werden soll, seinerseits die Sprache sein muß. Die Sprache ist an und für sich nur eine Ausdrucksform; sie setzt daher zu ihrer sinngemäßen Anwendung die Vertrautheit mit Sachen voraus. Diese muß also vorhergehen, ehe es einen Sinn hat, den sprachlichen Ausdruck der Gedanken über diese Sachen zu üben. Wo daher der Sprachunterricht vor dem Sachunterricht in den Vordergrund tritt, da wird die sprachliche Form zum Selbstzweck gemacht und alles Sachinteresse dem Interesse an der bloßen Form geopfert. Nun meint man zwar, der sprachlichen Ausbildung darum einen besonders hohen Bildungswert beilegen zu müssen, weil sie eine einseitige Beschränkung auf ein bestimmtes Sachgebiet vermeidet. Und dies ist auch unwidersprechlich richtig insofern,

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als man über alles ohne Unterschied sprechen kann, auch ohne irgend eine von den Sachen, über die man spricht, zu verstehen. Dieses Ideal der Vielseitigkeit des Sprachkünstlers ist aber nur das Ideal der Rhetorik, d. h. das Ideal der einseitigen Schätzung der sprachlichen Form unter Vernachlässigung der Sachkunde. Man muß sich daher wundern, wenn dieses Ideal gerade von den Verehrern P 1 a t o n s so hoch gehalten wird, da doch das rhetorische Bildungsideal gerade_ das Ideal der von diesem Manne unermüdlich bekämpften Sophistik war und er selber niemanden in seine Akademie eintreten lassen wollte, der nicht mathematisch vorgebildet war. Um so höher werden wir den unmittelbaren Bildungswert gerade derjenigen Fächer zu veranschlagen haben, denen er im allgemeinen abgesprochen wird, der sogenannten realistischen Fächer. Den geeignetsten Unterrichtsstoff wird nämlich das Gebiet liefern, das sich am strengsten wissenschaftlich behandeln läßt, das alle Willkür ausschließt und dadurch zugleich Ehrfurcht vor wissenschaftlicher Wahrheit erweckt. Solche Wissenschaften des Selbstdenkens sind die philosophischen und die mathematischen Wissenschaften. Damit soll selbstverständlich nicht behauptet werden, daß reine Philosophie und reine Mathematik allein den Inhalt des Unterrichts ausmachen sollen. Vielmehr kommt es darauf an, diese Wissenschaften auf die Wirklichkeit anzuwenden. Denn das Ideal der Erkenntnis ist immer ein Ideal der Erkenntnis der Wirklichkeit. Die Wissenschaft, die am vollkommensten dieser Anforderung genügt, ist die mathematische Naturwissenschaft. Sie ist nichts anderes als die Anwendung der durch reine Selbsttätigkeit zu erwerbenden mathematischen und philosophischen Erkenntnis auf die Wirklichkeit und gibt uns zugleich das Muster einer vollständigen wissenschaftlichen Theorie. Den vorzüglichsten Bildungswert hat weder ein Wissensstoff, der allein aus der Beobachtung, noch ein solcher, der rein aus dem Denken geschöpft wird, sondern ein solcher, der beide Erkenntnisweisen zu einem Ganzen vereinigt. Die Naturwissenschaften haben ferner mehr als irgend eine

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andere Wissenschaft den Be.griff des Gesetzes ausgeprägt und in seiner Bedeutung für die Wirklichkeit hervortreten lassen. Das Studium dieser Wissenschaften wird daher den Menschen auch am ehesten empfänglich machen, mit dem Begriff des Gesetzes vertraut zu werden und ihn auf praktische Gebiete anzuwenden. Hierbei braucht man durchaus nicht den logischen Unterschied zu übersehen, der zwischen einem Naturgesetz und einem praktischen Gesetz besteht. Es gibt keinen logischen Ubergang von den Naturgesetzen zu den praktischen Gesetzen. Psychologisch verhält es sich aber anders. Gerade die Einsicht in die Trennung von Naturgesetz und Sittengesetz, die Einsicht in die Zufälligkeit aller Naturgesetze hinsichtlich der Anforderungen des Sittengesetzes, die Einsicht, daß sich die Natur nicht nach Wertgesetzen richtet, hat eine unersetzliche ethische Bedeutung für den Menschen. Denn sie nimmt der ethischen Verbindlichkeit jeden Schein einer äußeren Stütze oder Sanktion und führt dazu, die ethische Gesinnung auf sich selber zu stellen, sie unabhängig von allen theoretischen Voraussetzungen zu begründen, und ihr damit den einzigen wirklich festen Standort zu geben. Durch die Einsicht, daß die Natur keine Sicherheit gibt für die Erfüllung ethischer Aufgaben, ja daß ihre Kräfte den menschlichen Zwecken gegenüber blind sind, nötigt das Studium der Natur den Menschen, von sich selber zu fordern, was er von ihren Gewalten nicht fordern kann. Je größer diese Kräfte sind, denen er sich gegenüber sieht, desto klarer wird er sich seiner eigenen sittlichen Freiheit bewußt werden, für die er von der Natur weder etwas zu hoffen noch zu fürchten hat. Kein Forschen kann den Menschen darum in ethischer Hinsicht mehr erheben und befreien als das folgerichtige Studium der Natur. Dieses Studium sollte jedem zugemutet werden, der auf Bildung Anspruch macht. Man könnte hier die Frage aufwerfen, ob nicht das Studium der sozialen Verhältnisse, in denen der zu erziehende Mensch lebt, die gleiche Beachtung verdient wie das Studium der äußeren Natur. Denn auch in den Fragen des Gesellschaftszustandes handelt es sich um eine Erkenntnis der Wirklichkeit, sofern

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diese unter Gesetzen steht. Aber der Begriff des Gesetzes läßt sich hier, wo es nicht nur um die Gegenstände der äußeren, sondern auch um die der inneren Erfahrung geht, nicht mit der gleichen Strenge anwenden wie auf dem Gebiet der mathematischen Naturwissenschaften, weil die innere Natur von der mathematischen Behandlung nicht in gleicher Weise erfaßt wird wie die äußere. Der erzieherische Wert des Studiums sozialer Verhältnisse liegt danach nicht so sehr in einem unmittelbaren Bildungswert als vielmehr in der praktischen Bedeutung, die dieses Studium mittelbar für das Handeln des Menschen gewinnt. In der Tat: Um dieser Bedeutung willen sollte die Kenntnis der sozialen Zustände von jedem Gebildeten verlangt werden. Aber der Erzieher muß bei seinem Unterricht bedenken, daß er seine Schüler da, wo es sich für sie darum handelt, die Maßstäbe des Erkennens erst zu gewinnen, zunächst auf den festen Boden der Naturwissenschaften zu stellen und nur von da aus zu den weniger leicht angreifbaren Problemen des Gesellschaftszustandes zu führen hat, zumal das Interesse des erwachenden Geistes sich den Rechtsfragen, durch die diese Probleme ihre praktische Bedeutung erhalten, erst später erschließt als der Aufgabe einer Eroberung der äußeren Welt. Die bisherigen Uberlegungen lassen für die Ausgestaltung der intellektuellen Erziehung noch einen weiten Spielraum. Es bleibt hier offen, welche Fächer im Mittelpunkt der Ausbildung stehen sollen. Die Ausbildung eines Menschen bedarf nämlich eines solchen Mittelpunktes, wenn sie nicht im Dilettantismus steckenbleiben soll. Man darf darum die Anleitung zur Spezialisierung nicht als einseitig tadeln. Diese Einsei_tigkeit, die durch eingehende Beschäftigung mit einem Gegenstand bedingt ist, steht im Gegensatz zu einer bloßen Anhäufung von Kenntnissen und Fertigkeiten, denen der Mittelpunkt eines leitenden Interesses fehlt, und wir haben die Spezialisierung daher mit dem Ideal der Bildung nicht nur als vereinbar, sondern als durch dieses Ideal notwendig gefordert erkannt. Das Ideal fordert die Ausbildung für einen Beruf, und das heißt nichts anderes als

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die Spezialisierung auf die Entwicklung em1ger vorzugsweise ausgebildeter Anlagen. Welchen Beruf ein Mensch sich wählt, das sollte ihm im Rahmen der bisher abgeleiteten Forderungen selber überlassen bleiben. Die Aufgabe des Unterrichts ist es nur, jedem die Möglichkeit zu geben, sich frühzeitig zu spezialisieren und auf einen Beruf vorzubereiten.

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3. Kapitel.

Die ästhetische Erziehung. §

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Schönheitsliebe und Geschmacksbildung. Bei der ästhetischen Erziehung kommt es darauf an, die in ihr liegenden Anforderungen von denen bloßer Geschmacksausbildung zu unterscheiden. Die ästhetische Erziehung ist die Ausbildung des Interesses der Schönheitsliebe. Sie darf sich also nicht beschränken auf eine Ausbildung des Vermögens, über das Schöne richtig zu urteilen, wie es der Geschmack. tut. Das Geschmacksurteil bezieht sich auf die Form des Gegenstandes, auf die bloße Zusammenstimmung der einzelnen Teile zu einem Ganzen, ohne auf seine Existenz Rücksicht zu nehmen. Schönheitsliebe dagegen ist ein ästhetisches Interesse an dem Gegenstand; sie schließt also eine Wertschätzung des Daseins dieses Gegenstandes ein.Wo die ästhetische Erziehung in bloßer Geschmacksausbildung gesucht wird, da muß dem Menschen Schein und Wirklichkeit gleichbedeutend werden. Er wird also nicht zur Schönheitsliebe gelangen. Schönheitsliebe ist ferner etwas anderes als ästhetischer Genuß. Dieser ist die Lust an der Beschauung des Schönen. Das führt uns auf die Unterscheidung zwischen der Schönheitsliebe und der sinnlich angeregten Freude am Schönen. Dieses Interesse des ästhetischen Genusses bezieht sich subjektiv auf unseren eigenen Empfindungszustand bei der Beschauung des Schönen, die Schönheitsliebe dagegen auf das Schöne selber, ohne Rücksicht auf unseren Empfindungszustand. Wenn in der ästhetischen Ausbildung die Schönheitsliebe durch das Interesse am Genuß verdrängt wird, so wird die Steigerung der Genußfähigkeit zum Ziel, die Schönheit selber aber wird zum bloßen Mittel entwertet, und die Beschäftigung mit ihr ist ihres Bildungswerts beraubt. Die ästhetische Erziehung darf darum nicht beschränkt werden auf die Ausbildung des Interesses an der Kunst, sondern

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sie soll Ausbildung der Schönheitsliebe schlechthin sein, und diese bezieht sich letzten Endes auf das Naturschöne. Zum Naturschönen gehört aber nicht nur das Schöne der äußeren Natur, sondern auch das der inneren Natur, d. h. die Schönheit des Lebens. Es soll also in der ästhetischen Erziehung das Interesse am Kunstschönen nicht über das Interesse am Naturschönen und insbesondere über das an der Schönheit des Lebens gestellt werden. Ja sofern die schöne Gestaltung des eigenen Lebens der Inhalt der ethischen Aufgaben des vernünftigen Wesens ist, sollte das Interesse an der Schönheit des Lebens im Vordergrund der ästhetischen Erziehung stehen. Wenn wir die ästhetische Erziehung so verstehen, dann, aber auch nur dann, werden wir bei ihr die Gefahr des Ästhetizismus vermeiden. Denn wo das ästhetische Interesse sich unmittelbar auf die Schönheit des Lebens richtet, und auf das Kunstschöne nur, sofern die Beschäftigung mit ihm in die Schönheit des Lebens eingeordnet wird, sind wir auch vor der Gefahr gesichert, uns durch die Schönheitsliebe zu einer Untreue gegenüber der Pflicht verleiten zu lassen. Denn die Pflichterfüllung ist die negative Bedingung der Schönheit des Lebens. Recht verstanden wird also die Pflichterfüllung nie als ein Opfer der Schönheitsliebe, sondern als deren notwendige Anforderung erscheinen. Mit dem Fehler, der Schönheit des Lebens das Kunstschöne voranzustellen, ist ein anderer nahe verwandt: Die ästhetische Erziehung darf sich nicht auf eine bloße Ausbildung des ästhetischen G e fühl s beschränken, sondern sie soll auch die ästhetischen Antriebe ausbilden. Bildung besteht auch hier nicht in bloßer Kontemplation, sondern erfordert Selbsttätigkeit. Am wenigsten darf die ästhetische Erziehung in einer bloßen Betrachtung der Kunst gesucht werden. Hier würden wir die beiden Fehler mit einander vereinigen: die Voranstellung des Interesses am Kunstschönen gegenüber dem an der Schönheit des Lebens, und die der kontemplativ-ästhetischen Ausbildung gegenüber der praktisch-ästhetischen. Man kann den pädagogischen Fehler, der auf der Bevor•

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zugung der Kontemplation vor der Selbsttätigkeit beruht, p ä da g o g i s c h e R o m anti k nennen. Dieser Fehler zeigt sich auch da, wo man nicht die Kunst, sondern die Schönheit des Lebens zum Gegenstand der Betrachtung macht, und zwar ist die ausgeprägteste Form, in der hier die Romantik auftritt, die des Heroenkults. In der idealisierenden Liebe, die man der gefeierten Persönlichkeit entgegenträgt, steigert man nicht nur ihre Eigenschaften zu denen eines Helden und entzieht sie dadurch vor sich selber dem Zugriff der Kritik, sondern man vergrößert den Abstand zwischen dem Gegenstand der Verehrung und sich selber häufig noch dadurch, daß man die eigenen Kräfte unterschätzt. Die Folge davon ist, daß derjenige, der zu einem solchen Heroenkult angeleitet wird, sich nur zu leicht mit der Bewunderung der Taten anderer bescheidet und sich über solcher Schwärmerei die Aufgabe nicht zutraut, selber etwas zu tun. Hieraus ergibt sich der pädagogisch bedeutsame Hinweis, im Geschichtsunterricht darauf zu achten, daß das Gefühl der eigenen Kraft in den zu Erziehenden hinreichend lebendig ist, um sie vor der Ablenkung in die bloße Verehrung der Leistungen anderer zu bewahren. § 196.

Religiöse Erziehung. Diese Gefahr einer Lähmung der Tatkraft ist noch bedenklicher in der religiösen Erziehung, die, wie wir bereits gesehen haben, ihren Platz im Gebiet der ästhetischen Erziehung findet. Es ließe sich freilich einwenden, daß hier von einer Verführung nicht die Rede sein könne, da das religiöse Interesse seinem Wesen nach gar nicht auf das Handeln gerichtet sei; im religiösen Leben trete die Tatbereitschaft von selber hinter die Betrachtung zurück. Hieran ist so viel richtig, daß sich das religiöse Interesse in der Tat auf das schlechthin Vollkommene bezieht, demgegenüber e_in Antrieb zur Vervollkommnung nicht entstehen kann; das religiöse Interesse ist als.o nicht unmittelbar praktisch.

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Daraus folgt aber keineswegs, daß dieses Interesse die Antriebe zur Vervollkommnung des eigenen oder des öffentlichen Lebens zurückdrängen und damit zu einem nur betrachtenden Leben führen müßte. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sahen bereits, wie eng das religiöse Gefühl mit dem sittlichen Interesse verknüpft ist, ja daß es darüber hinaus sittliches Handeln voraussetzt, sofern die Religion jedenfalls selber das Leben des Menschen durchdringen soll. Dieses Verhältnis wird verfälscht, wo die religiöse Erziehung durch einen dogmatischen Religionsunterricht ersetzt wird; es wird verkannt, wo man, etwa unter Berücksichtigung der Unzulänglichkeit eines solchen Unterrichts, durch die unmittelbare und ausschließliche Anregung des ästhetischen Gefühls zu religiöser Vertiefung anleiten will. Von dem Glauben geleitet, daß das Interesse am Schönen· im Grunde religiöser Natur sei, hofft man, durch die Darbietung des Schönen das religiöse Interesse zu wecken. Dabei ist aber zu bedenken, daß allem Schönen in der Natur nur insofern religiöse Bedeutung zukommt, als es zum Symbol wird, und zwar zum Symbol für eine über die Natur erhabene Wirklichkeit. Solange dem Menschen jedes Verständnis für eine solche Wirklichkeit fehlt, ist er daher einer solchen Deutung des Naturschönen nicht fähig. Der Umgang mit dem Schönen kann also nur insofern zur religiösen Erziehung beitragen, als die Anschauung des Schönen das Gefühl für Vollkommenheit weckt und bildet, ein Gefühl, das der erwachende Geist als Ahndung einer der Natur überlegenen Welt erkennt. In der Ahndung gewinnt die religiöse Betrachtung einen Gegenstand, der zwar einer positiven wissenschaftlichen Bestimmung unzugänglich ist, aber doch in den Ideen des Glaubens durch die Negation der Schranken unserer Naturerkenntnis begrifflich aufgefaßt wird, wenn auch nur in negativer Form. Die so gewonnenen religiösen Ideen der Ewigkeit und Vollkommenheit bleiben aber dem tätigen Leben gegenüber fremd und erweisen sich als einseitig. Sie offenbaren die Ohnmacht des Menschen gegenüber der Einheit und Vollendung jener in der Natur nur geahnten Welt, vor der sich der

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Mensch im Gefühl der Andacht beugen kann, ohne aber damit an ihr teilzuhaben. Wo nur diese Ideen das religiöse Gefühl eines Menschen beherrschen, da werden sie ihn in dem Maße, wie sie sein Bewußtsein erfüllen, dem Handeln in der Natur entfremden und ihm eben damit den Zugang zu dem vollen religiösen Leben verbauen. Denn ein volles, lebendiges Verhältnis zur religiösen Welt läßt sich nur durch Hinzutreten praktischer Vorstellungen gewinnen. Im Bewußtsein um die eigene Pflicht und die eigene Verantwortung bilden sich dem Menschen die Ideen der Freiheit und eines Reichs der Zwecke, dem er sich selber als ein freies, für sein Tun verantwortliches Wesen zurechnet. Damit tritt an die Stelle der Ohnmacht das Bewußtsein der Kraft. In der sittlichen Tat wird der Mensch sich des Vermögens bewußt, sich über die Schranken der Natur zu erheben und sich handelnd der Welt des an sich Wirklichen einzuordnen oder zu widersetzen. § 197.

Die pädagogische Bedeutung der Gemeinschaft. Wir hatten es als die Aufgabe der materialen Pädagogik erkannt, die Maßnahmen zu bestimmen, die den zu erziehenden Menschen zur Einsicht in seine ethischen Aufgaben führen. Diese Einsicht hat ihren Grund in einem ästhetischen Interesse, nämlich dem am Wert des eigenen Lebens. Die Aufklärung über dieses Interesse bleibt daher der ästhetischen Erziehung vorbehalten, die damit die Aufgabe der Erziehung überhaupt erst zum Abschluß bringt. Hat nämlich die Entwicklung des Charakters den Menschen frei gemacht vom Zufall seiner Neigungen und Leidenschaften, so erhält er mit der Einsicht in das Ideal eines wertvollen Lebens ein positives, über die bloße Pflichterfüllung noch hinausgehendes Ziel, für das es lohnt, diese Freiheit einzusetzen. Dieses Ziel ist ihm durch das Ideal der vernünftigen Selbstbestimmung gegeben. Wenn wir die bisher betrachteten Maßnahmen der materi-

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alen Pädagogik unter diesem Gesichtspunkt betrachten, so erhebt sich die Frage, ob der Erzieher in ihnen die hinreichende Handhabe hat, um die Einsicht in die Bedingungen eines wertvollen Lebens in dem zu erziehenden Menschen zu wecken. Alle diese Maßnahmen gehen darauf aus, die vernünftigen Anlagen des Kindes zu entwickeln und es zu ihrer weiteren Ausbildung und Betätigung anzuregen. Wir haben dabei bisher offen gelassen, ob die Betätigung dieser Anlagen eine Sache jedes Einzelnen für sich ist, oder ob sie in der Gemeinschaft vernünftiger Wesen erfolgen sollte. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus einem Ideal, das sich seinerseits aus dem der Schönheitsliebe ableitet, aus dem Ideal der Gemeinschaft, nach dem das Leben in einer vernünftigen Gemeinschaft einen Wert hat und darum zu einer idealen Aufgabe für den Menschen wird. Der Erzieher steht damit vor der Aufgabe der Erziehung zur Gemeinschaft. In dieser Aufgabe treten ihm die Anforderungen der Erziehung zur vernünftigen Selbstbestimmung noch einmal in einem neuen Licht entgegen. Denn wie es das Ziel der Erziehung ist, den zu erziehenden Menschen zu einem vernünftigen Leben anzuleiten, so fordert das Ideal der Gemeinschaft Vernünftigkeit in der Wechselwirkung der einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft. Die Anforderung der Vernünftigkeit, die den Leitfaden der Didaktik überhaupt bildet, kommt daher hier von neuem, und zwar in verstärkter Weise zur Geltung. Die Vernunft kann ungehemmter in Erscheinung treten, wenn vernünftige Wesen in Gemeinschaft wirken, als wenn der Einzelne den Widerstand, den die Vernunft in der Natur findet, allein überwinden muß. Darauf beruht die besondere Bedeutung der Erziehung zur Gemeinschaft. So wenig wie man die übrigen Aufgaben der Erziehung durch bloß theoretische Lehren lösen kann, so wenig wird dies bei der Erziehung zur Gemeinschaft der Fall sein. Erziehung setzt stets Konsequenz der Methode voraus, also Harmonie der Lebenseinrichtungen und der Lebensweise mit den theoretischen Lehren. Die Erziehung zur Gemeinschaft, die soziale Erziehung,

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soll daher zu tätigem Gemeingeist anleiten und nicht nur theoretisch den Wert der Gemeinschaft lehren. Nur das Handeln in der Gemeinschaft kann den Gemeingeist entwickeln, indem es dem Menschen Gelegenheit bietet, sich verantwortlich zu fühlen für das, was in der Gemeinschaft geschieht. Die Erziehung soll also nach Möglichkeit eine Erziehung in der Gemeinschaft sein und die Kinder Verantwortung übernehmen lassen für die Gesellschaft, in der sie leben. Nun ist es von Natur aus zufällig, ob in dem Milieu, in dem das Kind lebt, vernünftige Zwecke vertreten werden. Folgt daraus, daß die Erziehung öffentlich sein, d. h. in einer Gemeinschaft erfolgen sollte, die zur V ertretung öffentlicher Zwecke gestiftet worden ist? Offenbar ist die Schaffung eines eigenen pädagogischen Milieus da geboten, wo die Gemeinschaft durch subjektive Interessen bestimmt wird, die vernünftigen Zwecken zuwiderlaufen. Im übrigen soll man bedenken, daß sich die vernünftigen Zwecke als solche dem sich entwickelnden Geist des Menschen erst langsam erschließen, daß also die Vernünftigkeit einer Gemeinschaft auch nur insoweit als Vorbild wirken kann, wie sie als solches von dem Kind aufgefaßt wird. Der enge Zusammenhang zwischen den Anforderungen der Gemeinschaft und dem Ziel der Erziehung zeigt sich vor allem, wenn man die höchste Form der Gemeinschaft ins Auge faßt, die Freundschaft. Die Ideale der Freundschaft und der Erziehung entspringen letzten Endes der gleichen Quelle, dem Ideal der Menschenliebe. Das Interesse an der Bildung oder Vollkommenheit einer anderen Person ist die Wurzel alles pädagogischen Interesses. Auf diesem Interesse beruht ferner jede Freundschaft, die dem Ideal entspricht. Zur rechten Erziehungsmethode wird deshalb Freundschaft zwischen dem Erzieher und dem durch ihn zu erziehenden Menschen nicht fehlen dürfen oder wenigstens anzustreben sein. Die pädagogische Bedeutung dieser Freundschaft geht aus von dem Interesse an dem persönlichen VI/ ert des anderen. Sie führt also zum Streben nach der Vervollkommnung dieses anderen und erfordert daher auch Kritik ihm gegenüber. Ein wahres Freundschaftsverhältnis

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darf nicht ein solches idealisierender Liebe sein. Denn diese tötet gerade das Interesse an der Vervollkommnung des andern, indem sie die Selbsttäuschung erzeugt, der andere sei schlechthin vollkommen und bedürfe also keiner Vervollkommnung. Wo eine solche Idealisierung nicht besteht, da wird gerade die Kritik ein mächtiger Hebel der Erziehung sein. Je lebhafter das Interesse an der Freundschaft des andern ist, desto lebhafter wird auch der Wunsch, seine Ansprüche zu befriedigen, und desto stärker daher der Antrieb, sich zu vervollkommnen. So erweckt und stärkt die Freundschaft den Antrieb zur eigenen Vervollkommnung und wird damit zu dem wirksamsten Erziehungsmittel, um so mehr, als die Kritik, die der Freund übt, sich sehr wesentlich von der Selbstkritik unterscheidet. Die Kritik, die der Freund an uns übt, wird nämlich nicht durch die subjektiven Gegenantriebe beeinträchtigt, die unser eigenes Urteil über uns trüben können; der Freund steht uns objektiver gegenüber, als wir selber uns gegenüberstehen. Der Maßstab seiner Kritik ist trotzdem kein anderer als der, den wir selber an uns anlegen würden; denn die Freundschaft setzt gerade Ubereinstimmung der praktischen Lebensansichten, also der Wertmaßstäbe, voraus. Es könnte hiergegen der Verdacht sich regen, daß ein solcher Antrieb zur eigenen Vervollkommnung, der aus dem Interesse an der Schätzung von seiten des Freundes entspringt, ein Antrieb des Ehrgeizes oder der Eitelkeit sei, da er nur hervorgehe aus dem Wunsch, im Urteil des andern mehr zu gelten, und also aus Gefallsucht, oder aber, daß er auf einer blinden Anlehnung an den andern beruhe und damit zum Verzicht auf die Entwicklung des eigenen Urteils verleite. Dies darf aber nicht gegen die pädagogische Bedeutung der Freundschaft geltend gemacht werden; denn das Interesse am Urteil des andern entspringt ja hier aus der Freundschaft und also gerade aus der objektiven Schätzung des Urteils des andern; nur weil wir das Urteil des andern als objektiv begründet schätzen, wollen wir in seinem Urteil etwas gelten. Das Interesse, im Urteil des andern mehr zu gelten, ist also weder ein bloßes In-

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teresse der Eitelkeit, noch ein solches an der Vermeidung eigener Entscheidungen, sondern es gründet sich auf die Einsicht in den objektiven Wert dieses Urteils. Bei einer solchen Freundschaft muß allerdings das Kind darauf vertrauen können, daß sein eigenes wahres Interesse das höchste leitende Ziel für alle Maßnahmen seines Erziehers ist, d. h. es muß der Liebe des Erziehers sicher sein. Durch die Liebe zu dem zu Erziehenden wird der Erzieher überhaupt erst als solcher qualifiziert. Hier findet denn auch die Forderung nach der Offentlichkeit der Erziehung von neuem ihre Schranke. Denn wo dem Erzieher die Liebe fehlt, da rechtfertigt die Vernünftigkeit der Zwecke der Erziehungsgemeinschaft nicht deren Existenz. Wo die Liebe fehlt, da fehlt die Möglichkeit, daß sich das Kind dem Erzieher aus Gegenliebe erschließt. Um der Gegenliebe des zu Erziehenden aber würdig zu sein, bedarf der Erzieher der Bildung, und zwar des höchstmöglichen Maßes an Bildung; er würde anderenfalls das Vertrauen der Menschen täuschen, die sich seiner Führung überlassen. Angesichts dieser Forderung erhebt sich allerdings die Frage, ob das Ideal der Erziehung nicht als bloße Utopie jede praktische Bedeutung verliert. Scheint es doch, als setze die Erziehung zu ihrer Möglichkeit bereits eine vollkommen gebildete Person voraus, die doch ihrerseits erst das Produkt der Erziehung sein soll. In der Tat: Wer darauf warten wollte, daß unter dem blinden Walten der Naturkräfte die Vernunft in einem Wesen zur vollen Herrschaft durchdringt, der würde eben damit das Werk der Erziehung dem Zufall ausliefern. Aber wir sind auf diesen Zufall nicht angewiesen. Der Erzieher kann die ihm anvertrauten Menschen zu Höherem anregen, als er selber erreicht hat. Nur eine Anforderung an seine Bildung ist dabei unerläßlich, die nämlich, daß er das Ziel, zu dem er jene führen soll, unverrückt im Auge behält und daß seine Arbeit getragen ist von dem starken Vertrauen in die Kraft des Menschen, dieses Ziel zu erreichen, kurz: daß er an die Möglichkeit glaubt, die

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Aufgaben, die er als Erzieher übernommen hat, auch zu lösen. Ohne diesen Glauben wird die Erziehung unmöglich und aller Aufwand an pädagogischer Kunst nutzlos. Es ist nicht nur ein Mangel an Freundschaft, sondern unmittelbar eine Verletzung der Achtung, die der Erzieher dem zu Erziehenden schuldet, wenn er nicht an die Möglichkeit einer Erziehung glaubt. Wer von der Voraussetzung ausgeht, daß die Erziehung den Menschen doch nicht bilden kann, der sollte den Beruf des Erziehers nicht ausüben. Jedenfalls hat er kein Recht, sein allgemeines pessimistisches Urteil ohne weiteres auf einen bestimmten Fall anzuwenden; denn er kann nicht im voraus wissen, ob es gelingen wird, gerade diesen Menschen zu erziehen. Er muß also bis zum Beweis des Gegenteils das Mißlingen seiner Versuche immer auf einen Mangel seiner eigenen Erziehungsmethode zurückführen. Er muß erst seinerseits alle Bemühungen aufgewandt haben, seine Aufgabe zu lösen; er würde sich sonst nicht nur einer Nichtachtung gegenüber dem zu erziehenden Menschen, sondern, sofern er mit der Erziehung dieses Menschen betraut worden ist, unmittelbar einer Untreue gegen seine einmal übernommene Pflicht schuldig machen. Als Erzieher hat er die Pflicht, das Höchstmögliche aus der Erziehung dieses Menschen zu machen. Diese Möglichkeit nimmt er sich selber, wenn er das Ziel der Erziehung niedriger stellt. In Wahrheit kann der Pädagoge von der Bestimmung der durch ihn zu erziehenden Menschen überhaupt nicht hoch genug denken. Er soll ja gerade darauf hinwirken, daß sich die Menschen, deren Erziehung er übernommen hat, möglichst hohe Ziele setzen. Um so weniger darf er sie hindern, das denkbar Höchste zu wollen und zu erreichen. Das tut er aber in dem Maße, wie er es unterläßt, den Willen der zu erziehenden Menschen auf das höchste Ziel zu lenken. Allerdings ist nicht jeder zum Höchsten berufen, weder zu den höchsten Leistungen noch zu dem höchsten Wollen. Aber niemand sollte in die Lage kommen, seine Erzieher anklagen zu müssen, daß er durch ihre Schuld nicht vermocht habe, Höheres zu wollen und Größeres zu leisten. Von solchen Erziehern wird man sagen müssen, daß

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Pädagogik.

sie eine Schuld auf sich geladen haben, die nie vergeben werden kann. Wenn sie sich nicht zutrauen, die Menschen zum Besseren zu führen, warum mußten sie deren Vertrauen dazu mißbrauchen, sie zum Schlechteren anzuleiten? Sie haben sich nicht nur an den ihnen anvertrauten Menschen, sondern an der Menschheit versündigt; denn wer kann wissen, ob nicht die von ihnen unterdrückte Tatkraft die Menschheit auf eine höhere Stufe gehoben hätte?

Register.

Aberglaube 247 f., 484. Abhängigkeit von fremder Willkür 174, 178, 226, 229, 289 ff., 353 f., 364, 424, 471. Abrichtung 349, 354, 367, 427, 447, 449, 470, s. a. Drill. Absicht 70. - und Versprechen 187. Absichtliche Täuschung 182 f. Abstraktion vom Inhalt des Erziehungsziels 333 ff. - der ethischen Normen 44 ff. - psychologischen Naturgesetze 333. - praktischen Irrtum 125 ff., 136 f., 140. - Zufall der Umstände 14. - von der numerischen Bestimmtheit der Personen 135 ff., 144, 147. Abstufung: objektive A. der Schuld 82, 142. - subjektive A. der Schuld 82. Abwägung: Gesetz der gerechten A. 143 ff. - der Interessen 135 ff., 169 ff., 181, 190, 287, 473, 475. - Wirkungen einer Handlung 174. Achtung 116, 222, s. a. Selbstachtung. - als Bedingung der Freundschaft 255, 268. - der Interessen anderer 119, 127, 176, 470. - Uberzeugungen anderer 406, 410 f. - eigener Interessen 126. - vor dem zu Erziehenden 503. - Gesetz 59, 101, 222. - Selbstbestimmungsrecht 258, 432. - Person als Gegenstand der A. 126. Affekt 93 ff., 449. Ahndung 19, 497. Alleinherrschaft des sittlichen Interesses 230. - der Schönheitsliebe 230. - Wahrheitsliebe 229. - Streben des Despoten nach A. 292. Allgemeine Pädagogik 337. Allgemeingültigkeit: ethische A. 98, 197, 366 ff., 470. Allgemeingültigkeit ethischer Prinzipien 14. - und Anwendbarkeit des Gesetzes 53, 366, 369. Altruismus 132 f., 160 f., 169. Amoralisch 59, 261, 434.

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Register.

Analogieschluß von körperlichen Äußerungen auf innere Vorgänge 165, 471. Analytische Prinzipien aus dem Begriff der Anwendbarkeit des Sittengesetzes in der Natur 65 ff. - ethischen Aufgabe 197 f. - Pflicht 51 ff. Analytische Urteile 16 f. Androhung von Gewalt 290 f. - Strafe 422, 431. Anstand und Sitte 39 f. Antike 486. Antinomie der formalen Pädagogik 363. Antrieb 87. - ästhetischer A. 495. - dauernd wirkender A. 96 f., 449. - Pflichtbewußtsein als überwiegender A. 91, 100 f. - sittlicher A. 101, 453, s. a. sittliches Interesse. - triebhafter A. 92, 100, 447 f. - Stärkeverhältnis der A. 89, 446 f. - und Interesse 118. - Reflexion 92, 100. Anwendbarbeit: Gesichtspunkt der A. 467. - der allgemeinen Pädagogik 337. - des Sittengesetzes in der Natur 65 ff. - und Allgemeingültigkeit des Gesetzes 53, 366, 369. Anwendung der Ethik 14, 27, 44. - Tugend und Rechtslehre 31, 323. Apathisch 95. Arbeit 154, 239 ff., 473. Arbeitswut 241. Askese 228, 440, 448. Asketik 465, 469. Asketische Moral 61. Ästhetik: System der Ä. 20. Ästhetische Erziehung 468, 485, 494 f., 496, 498. - Naturbetrachtung 21. - Wertung 19 f. - und ethische Wertung 21. - ideale Wertung 195. Ästhetischer Antrieb 495. - Genuß 223 f., 246, 494. Ästhetisches Gefühl 495, 497. Ästhetisches Urteil 19 ff., 247, 494. Ästhetizismus 230, 495. - pädagogischer Ä. 478. Aufgabe der Charakterbildung 447. - Erziehung 247, 325, 344, 397, 444, 478, s. a. Ideal der Erziehung. - ethische A. 24, 30, 194, 196 f., 252, 324 ff., 341 f., 345.

Register. Aufklärung 258, 263, 278 f., 390, 469. Ausbildung für einen Beruf 492 f. - intellektuelle A. 466, 485 f., 487 f. - des sittlichen Interesses 469 ff. - von Erkenntnis und Interesse 217 ff. - ethischen Uberzeugungen 465. - Neigungen und Gewohnheiten 452. Auswendiglernen 480. Äußere Einwirkung in der Natur 350 f. - Zeichen 179, 479, s. a. Sprache. Außersittliche Antriebe 100, 108. - Handlungen 108._ - Interessen 125. Autonomie: Prinzip der A. 55 ff., 105, 197, 213, 216, 298, 402 f. - und Bildung 216. Autorität 56, 281, 372. - religiös sanktionierte A. 383 ff. Autoritätsglaube 390 ff., 481. - Unkorrigierbarkeit des konsequenten A. 390. Autoritätsmoral 56, s. a. heteronome Moral. Autoritätsprinzip: pädagogisches A. 371 ff., 419 ff. - materiales A. 374 ff. Bedingungen der Anwendbarkeit der Pädagogik 337 ff. - Freundschaft 255, 259, 263 ff., 268. - Verwirklichung des Guten 358. - idealer Zwecke 240, 456. - von Tugend und Recht 31, 323. - Zurechnung 66 f. - des Charakters 91 ff., 206. - für die Inhaltsbestimmung des Sittengesetzes 138 f. - Moralität als B. der Selbstachtung 159. - notwendige B. des Werts einer Gemeinschaft 286. - für das Handeln vernünftiger Wesen 101, 196, 315, 461 ff. Beeinflussung und Selbstbestimmung 363. - Unvermeidlichkeit der B. in der Natur 350, 362 f. Befehl 56, 372. - widerstreitende B. 375. Befehlsgewalt 379 f. Begeisterung 210 f., 231, 461. Begriff der Erziehung 320, 336, 339, 346, 348 ff. - ethischen Aufgabe s. ethische Aufgabe. - inneren Natur 34 ff. - Natur 65, 343. - Neigung 439. - Pflicht 45 ff., 48 ff., 64, 341, 378 f., 428 f.

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Register.

Begriff der Tat 70. - des Erziehungsziels 334. - Guten 48 ff., 341. - Ideals 42, 194, 341. - Interesses 115. Begründung ethischer Prinzipien 6, 12. Beispiel: pädagogische Bedeutung des B. 393 f., 457 ff., 467. Belieben: Einschränkung des B. durch das Gesetz 50, 116, 408. - Spielraum des freien B. 175. Beobachtung 488, 490. Bereitschaft: ethische B. 197, 209, 466. - moralische B. 60, 101, 435, 444 ff. Beruf des Forschers 241, 249. - Pädagogen 249. - Staatsmanns und Politikers 249 f. - idealer B. 239 ff., 339. - technischer B. 239 ff. - Ausbildung für einen B. 492 f. - im Dienst der Religion 247. - Rangordnung idealer B. 250. - Verschiedenheit der B. bei Freunden 265 f. Beschränkender Charakter des Sittengesetzes 106 ff., 138, 214. Besonnenheit 77, 92 f., 99 f., 102, 201, 216, 448. - des Gemeingeistes 273. Bestimmungsgrund des Willens 87, 437. - Einfluß und B. 351, 362 f. - Erkenntnis von Gesetzen als B. 173. - Pflichtbewußtsein als B. 58 f., 100, 102, 413, 427. - Vorstellung von Lohn und Strafe als B. 415. Bevormundung 257 f., 280, 284, 483. Bevorzugung einer Person 134, 146. - gewisser Anlagen 238 f., 493. Bildung 42, 214 ff., 227, 261, 342, 400, 478. - als Bedingung der Freundschaft 264 f. - Vorzug einzelner 310 f. - Bedingungen der B.: Bedürfnisbefriedigung 277 f. - : Studium der Natur 491. - des Charakters 447 ff., 453. - Erziehers 502. - Hindernisse der B. 283 ff. - humanistische und realistische B. 455 ff., 485 f. Bildung: Ideale der B. 216, 226, 239, 271, 302. - und Autonomie 216. - Beruf 239. - Gelehrsamkeit 241 f., 488. Billigkeit: Pflicht der B. 190. Burgfrieden 309.

Register. Charakter 91 f., 450. - Bedingungen des C. 91 ff., 201. - Gebot des C. 89 f., 102, 105, 155. - Ideal des C. 200, 204, 212 f. - Lebendigkeit des C. 96 ff., 201, 447, 449 f., 453. - Reinheit des C. 99 ff., 201, 274, 439, 447, 450 ff. - Stärke des C. 93 ff., 201, 447 ff. _:_ Stiftung des C. 101, 450. Charakterbildung 447 ff., 453. Definition des Pflichtbegriffs 48, 52. - dogmatische D. 339. Demoralisation als Wirkung der Autoritätspädagogik 400. - Opportunitätspädagogik 424 ff. Denken 241 f., 390, 479, 488, 490. Despotismus 290 ff. - geistlicher D. 292 f. - politischer D. 290 ff. - wirtschaftlicher D. 291 ff. Didaktik 465 f., 469. Differenzierung: ethische D. 53, 98, 197, 366, 459. Disziplin 440, 445 ff. - äußere D. 445 f. - innere D. 446 f., 452. Dogmatische Definition 339. - Ethik 6, 380 f., 417 f. Dogmatischer Unterricht 480 f., 482, 497. Dogmatismus 244. Doktrin: ethische D. 10. Doktrinarismus 15, 207 f. Dokumente des Aberglaubens 484. Drill 367, s. a. Abrichtung. Duckmäuser 424. Duldsamkeit 261, 306, 308 f. Duldung der Verletzung des eigenen Rechts 157 f. - Toleranz als D. 198, s. a. Toleranz. Egoismus 131 f. Ehre: Pflicht der E. 156 ff. - Wertung der E. 159, 222. Ehrgefühl 472. Ehrlichkeit des Versprechens 187, 191 ff. Ehrliebe 222 f., 259. Eigenart 368 ff. Einfachheit des pädagogischen Milieus 459 f. Einfluß und Bestimmungsgrund 351, 362 f.

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Register.

Einschränkung des Beliebens durch das Gesetz 50, 116, 408. Einsicht s. a. Erkenntnis. - als Bedingung der Zurechnung 80. - Bestimmungsgrund des Willens 59, 102, 202, 209, 352, 392, 404, 413. - Erweiterung des Pflichtenkreises mit wachsender E. 310. - ethische Bedeutung der E. in die Naturgesetzlichkeit 491. - sittliche E. 57, 69, 111, 114, 352,374,380,404,407, 466, 469. - und Autoritätsglauben 391 f., 481. - Gefühl 281, 466 f. - Kenntnis 242. - Reinheit des Willens 450. Einwilligung in die Verletzung eines berechtigten Interesses 141, 157 f. - .,Dem Einwilligenden geschieht kein Unrecht" 141. Eitelkeit 95, 501. Empfänglichkeit als Maß der Bildung 221. - moralische E. 400, 429. Empirische Kenntnis der Tatsachen 114, s. a. Kenntnis der Tatsachen. - Natur der pädagogischen Klugheitslehre 331. Empirismus des öffentlichen Lebens 295. Empiristisches Vorurteil 329. Endzwecke: Gemeinschaft der E. 263, s. a. Gemeinschaft der Zwecke. Enthusiasmus 209 f. Entschlossenheit 94 f. Entwicklung des Weltgeschehens 22. - zum an sich Guten 350 ff., 356, 358, 364, 425, 444. - zur geistigen Reife 389 f. Entwicklungsgang der Geschichte 23 f. Erfahrung 28, 206, 386, 419 f., 430, 433, 460, s. a. Kenntnis der Tatsachen Beobachtung. - Anwendung ethischer Lehren auf die Tatsachen der E. 14. - Belehrung über die Interessen anderer durch E. 473 ff. - Verhältnis der E. zur wissenschaftlichen Pädagogik 328 ff. Erfolg: Unabhängigkeit vom E. 211. - Unbestimmtheit des E. 174 f., 178 f. - vom Erzieher beabsichtigter E. 419 f. - Voraussicht des E. 74 ff. - Vorstellung des E. 174. - Wille zum E. 454. - und Zweck 70. Erkenntnis s. Einsicht. - Ausbildung der E. als Bedingung ethischen Handelns 485. - technischer oder als idealer Beruf 243. - unter dem Ideal der Wahrheitsliebe 485, 488 ff. - Ideal der Ausbildung der E. 217 f., 221. - Pflicht der Ausbildung der praktischen E. 129 f. - sittliche E. 56, 376. - von Gesetzen als Bestimmungsgrund des Willens 173, 254.

Register. Erkenntnis und Wissenschaft 242. Erzieher: Bildung des E. 502. - Erziehung der E. 338. - Verhältnis des E. zum Zögling 364 f., 500 f. Erziehung als äußere Einwirkung 349 ff. - Kunst 327 f. -- der Erzieher 338. - im ausgezeichneten Sinn 325. - zur Gemeinschaft 499 f. - Begriff der E. 320, 335, 339, 346, 348 ff. - Möglichkeit der E. 348 ff. - Organisation der E. 303. - Wissenschaft von der E. 327 f. - staatsrechtliches Vorbild der E. 364. - der menschliche Wille als Objekt der E. 357, s. a. 427. - ästhetische E. 463, 468, 485, 494 ff. - intellektuelle E. 468, 478 ff. - öffentliche E. 294, 500, 502. - religiöse E. 484 f., 496 ff. - sittliche E. 422, 463, 469 ff. - soziale E. 499 f. - und Abrichtung s. Abrichtung, Drill. - Freundschaft 500 f. - Führerschaft 396 ff. - Nötigung 430 ff. - Unterricht 448 ff. Erziehungsmethode: Kritik aller möglichen E. 332, 362. Ethik als Wissenschaft 4 ff., 10 ff., 243 ff., 328. - praktische Metaphysik 16. - Naturlehre 28. - die praktische Wissenschaft 29. - subjektive Teleologie 18, 196. - Begründung der E. auf objektive Teleologie 21. - Reformation der E. durch KANT 24. - evolutionistische E. 23. - lebensbejahende und lebensverneinende E. 23. - reine und angewandte E. 14 f., 27 f., 44. - soziologische E. 23. Ethik und Moral 41. - Tugendlehre 31, 42 f. Ethisch 41. Ethische Aufgabe 24, 30, 194, 197, 252, 324 ff., 341 f., 345. - Allgemeingültigkeit 197, 366 f. - Autonomie 197, 371 ff., 402. - Bereitschaft 197, 209, 434 ff., 466. - Differenzierung 197, 366 ff.

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Ethische Doktrin 10 f. - Gesinnung 454. - Objektivität 197, 402 ff. - Schwärmerei 409 f., 454 ff. - Uberzeugung 412. Ethischer Realismus 455 f. - Rigorismus 198, s. a. Rigorismus. - Skeptizismus 381, 418, 483. - Unterricht 466. Evident: praktisch e. 87. Evidenzlosigkeit der öffentlichen Zwecke 303. - sittliche Einsicht 56, 61, 88, 393, 396, 406. Evolutionistische Ethik 23. Extensität der Freundschaft 266 f., 270. Fahrlässigkeit 73 ff. Falschheit 182. Fatalismus 205 f. - pädagogischer F. 359 f . .,Faust" 95. Feigheit 423, 475. Feindesliebe 262. Form der Gemeinschaft 271, 500. - eines Sollenssatzes 51 f., 58. - und Inhalt ethischer Normen 44 ff., 194. Formale Ideallehre 45 f., 194. Pädagogik 336, 339, 340 ff., 465. - Pflichtenlehre 46, 85. Formaler Charakter des Sittengesetzes 109 f., 140, 150, 189. Formal-ideale Wertung 197. Forscher 241, 249. Freiheit 428, 470, 481 f. - Ideal der F. 284 ff., 302. - innere F. 96. - sittliche F. 363, 424, 491. - der Wahl 67. - Willensbestimmung 79. - des Willens 90. - und Verantwortung 481 f. Frieden: Kampf um den F. 309. Friedfertigkeit 176, 261, 308 f. Friedlicher Verkehr 288. Fries 18. Freundschaft 255. - Bedingung der F.: Achtung und Liebe 255. - : Wahrheitsliebe 258, 265. - Intensität und Extensität der F. 266 f., 270.

Register. Freundschaft: Verschiedenheit der Berufe in der F. 265 f. _:_ zwischen Erzieher und Zögling 500 f. Frömmigkeit: Ideal der F. 232 f. Fügsamkeit 378. Führer und Verführer 398. Führerschaft 396. - und Lenkung 397 f. - Selbstbestimmung 397. Furcht 95, 423, 446. - moralische F. 423. Furchtlosigkeit 95. Futilität: Ideal der F. 228, 486. Gebot des Charakters 89 f., 101 f., 105, 155. - der Ehre s. Ehre. - Gerechtigkeit 131 f., 143, 150, 169, 469, s. a. Gerechtigkeit. - Klugheit s. Klugheit. Gedanken: Bezeichnung der G. 179, 243, 479 f. Gedankenmitteilung 259, 489. Geduld 94 f. Gefühl: ästhetisches G. 495, 497. - ideales G. 232 f. - religiöses G. 497 f. - sittliches G. 9 ff., 466 f. - der Ohnmacht 235. - Würde 470. - für das Recht 470 f. - und Einsicht 281, 466 f. Gehorsam 372 ff. Geistesgegenwart 94. Geistesklarheit 202, 205, s. a. sittliche Klarheit. Geltung eines Gesetzes 9 f., 86. Gemeingeist 272 ff. Gemeinheit und Unbildung 261. Gemeinschaft vernünftiger Wesen 270 f. - der Endzwecke 263 f. - Zwecke 270 f. Gemeinschaft: pädagogische Bedeutung der G. 499 ff. - Erziehung zur G. 499 ff. - Ideal der G. 251 ff., 269 ff., 499. - Vernünftigkeit einer G. 253, 269, 500. - Wert der G. 251 ff., 270. Genuß 33 ff., 421, s. a. Lebensgenuß. - an der Beschauung des Schönen 223, 246, 494. Gerechtigkeit 131, 138 f., s. a. Gleichheit. - als die einzige unmittelbare Pflicht 150. - im öffentlichen Leben 283, 285 ff., 306, 311 f.

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Gerechtigkeit: Berufe im Dienst der G. 241, 248. - Erziehung zur G. 469 ff. - Interesse an der G. 218, 222, 248, 469. - Priester der Wahrheit und G. 314. - und Abwägung 143. - Vergeltung 146. Gerechtigkeitsliebe 218, 222, 248 f., 282, 284 f., 315. Geschichte 23 f., 242, 324. Geschichtsphilosophie 23 f. Geschichtsunterricht 488, 496. Geschmack: guter G. 33, 40, 246 f., 494. Geschmacksausbildung 494. Gesetz 52 ff., 65 ff., 173, 366, 491, s. a. Naturgesetz und Sittengesetz. - Achtung vor dem G. 59, 101, 222. Allgemeingültigkeit und Anwendbarkeit eines G. 53, 366, 369. - Erkenntnis von G. 173, 254. - individuelle G. 368. - positives G. 38 f. Gesellschaft: Erziehung in der G. 353 f. - Benachteiligte in der G. 284 f. - Formen der G. 29, 271, 288. - Geltung des Rechts in der G. 222, 248, 286. - Gestaltung der G. 31, 273, 323. - Pflichten gegenüber der G. 153. - Wert eines Gesellschaftszustandes 29 f. - des Lebens in der G. 252. - Wohlfahrt und Kultur in der G. 275 f., 277 ff. - Zwecke der G. 270 f., 275 f., 296. Gesinnung 58 f., 204, 413, 424, 454 ff. - sittliche G. 102 f., 435. Gesinnungsethik 58 f., 197, 413, 434, 446, 454. Gestaltung der Gesellschaft 31, 273, 323. - des Lebens des Einzelnen 247, 319. - Leben als selbsttätige G. 215. Gewalt: physische G. 431, 445. - Androhung von G. 290 f. Gewalthaber 377. Gewissen 36, 208. Gewissenserforschung 409, 412. Gewissensskrupel 410. Glaube 383 ff., 419. - Ideen des G. 497 f. - religiöser G. 481 ff. Glaubensbekenntnis 483 f. Gleichförmigkeit in der Anwendung des Gesetzes 53, 366. - des Handelns 97 ff., 449. Gleichgewicht widerstreitender Interessen 144 f.

Register.

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Gleichheit: persönliche G. 131, 134 ff., 142, 146 f., 161, 283, 284 f., 302, 470, s. a. Gerechtigkeit. Glück: Opfer des G. 256. - ,,wahres" G. 35 f. - Zufall des G. 71, 211. Glückseligkeit 26, 34. Gnade 280. Goethe 95, 208, 210, 260. Gott: Autorität G. 383, 420 f. - Pflichten gegen G. 153. - Selbstoffenbarung G. in der Geschichte 23, 296. - Wille G. 152. - Zwecke G. 26 f., 296 f. Grad des Unrechts 82, 142. - der Zurechnungsfähigkeit 79, 82 f. Grammatik und Logik 488. Grausamkeit 163. Grundbegriff der Ideallehre 194. - Pflichtenlehre 48. Grundsätze: Handeln nach G. 93, 97, 99 f. Gültigkeit s. Verbindlichkeit. - und Anwendbarkeit des Gesetzes 53, 366, 369. Gutdünken: handle nach G. 408. Gute: Begriff des G. 48 ff., 341. - das an sich G. für die Menschen 340 ff., 355, 362, 366. - Einsicht in das G. 352, s. a. sittliche Einsicht. - Entwicklung zum an sich G. 350 ff., 356, 358. - ,,Das G. bricht sich selber Bahn" 358. - das G. im Menschen 358, 364, 444. - Kriterium des G. 403. - Menschen zum G. führen 337 f., 444. - Sieg des G. in der Natur 204. - Verwirklichung des G. in der Natur 343 f., 358. - Wille zum G. 351 f. Gütermoral 128, s. a. 48 f. Handeln: Gleichförmigkeit des H. 97 ff., 449. - nach Grundsätzen 93, 97, 99 f. - in der Natur 66, 87. - zweckmäßiges H. 174, 288. Handelsfreiheit 299, s. a. Konkurrenzkampf. Handlung: moralische, unmoralische und amoralische H. 59, 434. - sittlich indifferente H. 107 f. - Wert einer H. 21, 43, 49, 62 ff., 115 f., 195, 462 f. - und Wert ihres Produkts 49, 195. Haß 260 ff. Hegel 23.

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Register.

Heiliger Wille 68 f., 357. Heroenkult 234 f., 496. Herrschaft der Ideale im öffentlichen Leben 273 f. - Reflexion 92, 282. - Vernunft 216, 243, 281. Heteronome Moral 111, 481, s. a. Autoritätsmoral. Historische Wissenschaft 242. Historischer Unterricht 488, 496. Humanismus 455, 486. - humanistischer Unterricht 486 f. Humanität 217. Hypothetische Form eines Gesetzes 368. - Imperative 24 ff., 330, 414, 432. Hypothetischer Charakter pädagogischer Vorschriften 320. ldeal 42 f., 194, 341 ff. - Inhalt des I. 212. - pädagogisches I. (1. der Erziehung oder der Menschenbildung) 248, 323, 325, 344, 363, 444. - politisches I. 323 f. - der Bildung 216, 226, 239, 271 f., 302. - Feindesliebe 262. - Freiheit 284 f., 302 f. - Freundschaft 255, 268, 500. - Friedfertigkeit 261, 308 f. - Frömmigkeit 232 f. - Futilität 228, 486. - Gemeinschaft 251 ff., 269 ff., 499. - Gerechtigkeitsliebe 218 ff., 222 f., 248, 282, 324. - Gleichheit 283, 302. - Kultur 276. - Liebe 260. - Menschenliebe 179 f., 262, 282. - Menschlid1keit oder Humanität 217. - Niditbeeinflussung 355. - Nichterziehung 363. - Objektivität 244. - Originalität 228. - Pietät 227 f. - Rhetorik 490. - Schönheitsliebe 218 ff., 223 f., 230, 246 f., 253, 326 f., 346, 499. - Tugend 341. - Utilität 226 f., 486. - Vergewaltigung 363. - vernünftigen Selbstbestimmung 216, 466, 498. - Wahrheitsliebe 181, 218 ff., 242, 479, 488. - Wissenschaft 242.

Register. Ideal des Berufs 239. - Charakters (der Idealität) 200, 204, 212 f. - an sich Guten 342, 355, 362. - guten Geschmacks 247. - Hasses 262. - öffentlichen Lebens 271 f., 275 ff. - und Pflicht 42 f., 194, 286, 341 f., 441, 461 ff. Ideale Wertung 195 ff. Idealer Beruf 239 ff., 339. Idealisierende Geschichtsauffassung 487. - Liebe 257, 496, 501. Idealismus 200. - pädagogischer I. 360. - und Realismus 203 ff., 360, 455 f., 487. Idealität 201 f. - Ideal der I. 200 f., 213, s. a. Ideal des Charakters. Ideallehre und Pflichtenlehre 43, 61, 196. - formale I. 45 f., 194. - materiale I. 45, 194, 212 ff. Idee der Freiheit 482. - des Glaubens 497 f. Ideenlehre: praktische I. 19, 28. Imperativ 4 ff. - hypothetischer I. 24 ff., 330, 414, 432. - kategorischer I. 24, 27, 48 f., 194, 414. Imperialismus 293. Indifferent: sittlich i. Handlungen 107 f. Indikativ 4 ff. Individualität 135, 367 f. lndividualitätsprinzip 368 f. Individuelle Pflichten und Gesetze 368. Individuum 52 f., 368. Inhalt: Form und Inhalt ethischer Normen 44 ff., 194. - des Erziehungsziels 334, 336, 403, 465 f. Inhalt des Ideals 212. - Sittengesetzes 104 ff., 109, 115, 131, 407. Intellektualistische Lebensansicht 229, 231. Intellektuelle Ausbildung 466. - Erziehung 468, 478 ff. Intensität der Freundschaft 266 f., 270. Interesse 115. - am Leben 168 ff., s. a. 151. - an der Beschauung des Schönen 223 f., 247, 494. - Realität des Schönen 247, 494. - Möglichkeit zweckmäßigen Handelns 174. - achtungswürdiges I. 119 f., 149. - außersittliches I. 125.

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Interesse: faktisches I. (vermeint!. I.) 120 ff., 140 f., 156 f., 256, 258. - mittelbares I. 121. - rechtlich notwendiges I. 120. - rechtliches I. 222. - religiöses I. 233, 247, 496 f. - überwiegendes I. 134, 151, 156 f., 160 f., 169 f., 175, 178, 191. - unmittelbares I. 121 f. - ursprünglich dunkles I. 123. - wahres I. 121 f., 126, 141, 157 f., 170 f., 256 ff., 262 f., 303, 312, 469 f., 502. - widerrechtliches I. 119 f., 148 f., 184, 189. - Widerstreit (Kollision, Konflikt) von I. 115, 126, 136, 143 f., 150, 169, 176. Interessenabwägung 134 ff., 143, 169 ff., 181, 189, 287, 473 f., 475. Irrlehren: pädagogische I. 362. Irrtum 122, 305. - praktischer I. 124 ff., 136, 140. - und Lüge 182 f., 188, 261. Jesus 261 ff., 484. Kampf als Los 145 f. - um den Frieden 309. - das Recht 311 ff. - und Haß 261 f. - Krieg 309. Kampflust 95. Kant 16, 24, 40, 59, 137 f., 255, 278, 286, 349 f. Kapitalismus 291. Kategorische Auszeichnung eines pädagogischen Systems 321. Kategorischer Imperativ 24, 27, 48 f., 194, 414. - Optativ 194 f. Kenntnis der Tatsachen 114, 242. Kinder und Tiere 170. Kirche 292, 296, 314, 387. Klarheit: sittliche K. 102 ff., 114. - des Gemeingeistes 274 f. Klasse von Erscheinungen 67 f. - Individuen 52. Klerikalismus 292. Klugheit 33, 38 f., 421 f., 426. - und Weisheit 241. Kollision von Interessen s. Widerstreit von Interessen. Kompromiß 208 f. Konflikt der Interessen s. Widerstreit von Interessen. - sittlichen Gefühle 10 f. Konkurrenzkampf 146. Konsequenz 166, 433, 457 ff., 479.

Register. Kontemplation 233 f., 495 f. Kraft: Begrenztheit der moralischen K. 442. - des Willens 450. - Zweifel an der sittlichen K. 425 ff. Kriecherei 425, 475. Krieg und Kampf 309. Kriterium der Autorität 375 ff. - Moralität 104. - Pflicht 110. - Rechtlichkeit 104, 117. - des Guten 403. - Vernunftwidrigkeit als K. der Wahrheit 391. - Wert als K. der Pflicht 128 f. Kritik aller möglichen Erziehungsmethoden 332, 362. - der Pflichtüberzeugung 406. Kultur 273, 275 ff. - und Recht 285 ff. Kulturelle Organisationen 289. Kunst 234, 246 f., 494 f. - Erziehung als K. 327. Kunstschöne: das K. 495. Leben 215. - Erhaltung des eigenen L. 151 ff. - Interesse am L. 168 ff. - öffentliches L. 271 ff. - Parasiten des öffentlichen L. 311. - Schönheit des L. 18, 219 f., 247, 255 f., 314, 495. Lebendigkeit des Charakters 96 ff., 201, 449 f., 453. - Gemeingeistes 273. Lebensgenuß 256, 283, 289. Lebhaftigkeit 96. Leidenschaft 96 ff., 449. Leidenschaftslosigkeit 13. Lenkung und Führerschaft 397 f. Lessing 23. Libertinismus 441 ff. Liebe, 61, 218 - als Bedingung der Freundschaft 255, 258 f., 263, 268. - zu dem zu Erziehenden 502. - idealisierende L. 257, 496, 501. - und Haß 260. Logik 16, 334. - und Grammatik 488. Lohn 414 ff., 476 ff. Los 145 f.

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Register.

Lüge 181. - als Notwehr 184. - Pflicht 185. - und Irrtum 182 f., 188, 261. Lust und Unlust 118, 122 f., 439. Macht als Kriterium der Autorität 297, 377 ff. - Verteilung der M. in der Gesellschaft 307. Makarius 133. Märchen 234. Marx 312. Mäßigkeit 154. Mäßigung 94 f. Materiale Ideallehre 45, 194, 212 ff. - Pädagogik 336, 465 ff. - Pflichtenlehre 46, 82, 104 ff., 150. - ideale Wertung 197. Materialer Moralismus 436 ff. Materiales Autoritätsprinzip 375 ff., 416. - Prinzip des Libertinismus 442. - Opportunitätsprinzip 415 f. - Subjektivitätsprinzip 407. Materie der Pflicht 109 ff., 140, 150. Mathematik als Unterrichtsfach 490. Mehrdeutigkeit in der Beurteilung des Werts einer Handlung 115 f., 125. Mensch 163. - als Naturwesen 350, 358. - das an sich Gute für den M. 340 ff., 355, 366. - M. zum Guten führen 337 f., 444. - Pflichten der M. gegen andere M. 174 ff. - Vernünftigkeit als auszeichnendes Merkmal des M. 170, 173 f., 217. - und Tier 164 ff. Menschenbildung 247. Menschenkenner (Menschenkenntnis) 389, 430, 44-L Menschenliebe 262 f., 282, 284, 500. Menschlicher Wille 69, 357. Menschlichkeit 217. Metaphysik 16. Methode des Autoritätsprinzips 400. - Opportunitätsprinzip 422 f. - Unterrichts 479. Milieu: pädagogisches M. 458, 459 ff., 500. Militärgewalt 291. Militarismus 291. Mittel zur Befriedigung von Interessen (zur Erreichung von Zwecken) 25 f., 121 f., 173, 239 f., 276 f., 283, 455. - Bildung zu gelangen 278.

Register. Mittel zur Erreichung des Ziels der Erziehung 328, 331 f., 364. - Verwirklichung eines Ideals 487. - etwas zum bloßen M. machen 156 ff. Möglichkeit der Erziehung 348 ff., 403, 502 f. - Voraussicht 75 ff. - Zurechnung 69. Mondwechsel 67. Monopol 291 f. Monopolismus 291. Moral und Ethik 40 f. Moralisch 59, 315, 413, 434 f., 451. Moralische Bereitschaft 60, 101, 435, 444 ff. - Empfänglichkeit 400, 429. - Wertung 62 f. - Zurechnung 83. Moralischer Pessimismus 430. - Rigorismus s. Rigorismus Moralismus 107, 157, 434 ff., 453. Moralistisches Vorurteil 448. Moralität 101, 104, 446. - und Idealität 201. Müssen 25 f. Mut 94 f. Mystizismus des öffentlichen Lebens: soziologischer M. 295 f. - theologischer M. 296 f. Natur: Begriff der N. 65, 343. - Anwendbarkeit des Sittengesetzes in der N. 65 ff. - äußere Einwirkung in der N. 350 ff. - Beherrschung der N. 486. - Erkenntnis der N. 7, s. a. Naturwissenschaft - innere N. 332 ff. - Handeln in der N. 66, 87, 498. - Macht der N. 472. - Zufall der Geltung des Ideals in der N. 200, 344. Naturbetrachtung: ästhetische N. 21. Naturerkenntnis: Schranken der N. 19, 497. Naturgesetz 9, 25, 65, 66, 75, 87, 137 f., 200, 320, 332, 343, 433, 491. - Verhältnis des N. zum Ideal des an sich Guten 200, 343, 362. - und Sittengesetz 9, 87, 89, 491. Naturlehre: praktische N. 19, 28. - theoretische N. 28. Naturschöne: das N. 247, 495, 497. Naturwissenschaft 5, 25, 486, 490 f. Negativer Charakter der sittlichen Wertung 64, 106, 341, 461 f. Neigung und Absicht 75 f., 79. - Liebe 223.

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Register.

Neigung und Pflicht 58 f., 100 ff., 434 f., 437 ff., 447 f., 461 ff. Newton 8. Nichtachtung in der Freundschaft 260. - gegenüber dem zu Erziehenden 503. Nichtbeeinflussung 355. Nihilismus: sittlicher N. 410. Nötigung 425 ff., 430, 446. - subjektive und objektive N. 428. Notwehr 148 f. - Lüge als N. 184. Notwendigkeit: praktische N. 50. Nüchternheit 13. Numerische Bestimmtheit 135, 368. Nutzen (Nützlichkeit) 226, 486. Übjektive Abstufung der Schuld 82, 142. - Auszeichnung eines pädagogischen Ziels 315. - Nötigung 428. - Teleologie 18 ff., 233. Objektiv wertvoll 194 ff., 233, 252. Objektivität und Parteinahme 243 f. - Prinzip der ethischen 0. 57, 109, 197, 212, 402 ff. Offentliche Erziehung 294, 500, 502. - Regierung 294. Offentliches Leben 271 ff. - Anarchismus des ö. L. 297 ff. - Empirismus des ö. L. 295. - Mystizismus des ö. L. 295 ff. - Parasiten des ö. L. 311. Offentlichkeit der Erziehung 502, Opportunismus 209. Opportunitätsprinzip 414 ff., 474. - materiales 0. 416. Optativ 42, 194 f. Optimismus und Idealismus 205 ff. - pädagogischer 0. 358 ff. Organisation 288 ff. - despotische 0. 290. - kulturelle 0. 289. - politische 0. 289. - wirtschaftliche 0. 289. Originalität: Ideal der 0. 228 f. Originalitätsprinzip 368. Pädagoge 249, 349 f. Pädagogik 319 ff.

Register.

525

Pädagogik als Anwendung der Tugendlehre 31, 323. - Wissenschaft 327. - Antinomie der formalen P. 363. - Anwendbarkeit der allgemeinen P. 337 f. - allgemeine P. 337. - formale P. 336, 339 f., 465. - materiale P. 336, 465 ff. - philosophische und empirische P. 329 ff. - und Erziehung 327. - Ethik 31, 320, 331 f. - Politik 31, 323. Pädagogisch 319. Pädagogische Bedeutung des Beispiels 393 f., 457 ff., 467. - Irrlehren 362. - Klugheitslehre 331. - Psychologie 394, 396, s. a. 330 f., 460. - Romantik 496. Pädagogischer Ästhetizismus 478. - Fatalismus 359 f. - Idealismus 359 f. - Optimismus 358 ff. - Pessimismus 358 ff. - Realismus 360 f. - Relativismus 321. Pädagogisches Ideal (Ideal der Erziehung oder der Menschenbildung) 247 f., 323, 324 f., 344, 363, 444. - und politisches Ideal 323. - Milieu 458, 459 ff., 500. Paradoxie im Begriff der Erziehung 348 ff. Parasiten des öffentlichen Lebens 311. Partei: politische P. 249, 307 f. Parteilosigkeit 309. Parteinahme und Objektivität 243 f. Person 51, 115 ff., 131 f., 133 ff., 143 ff., 162. - numerische Bestimmtheit der P. 135. - vollkommen gebildete P. 502. - Würde der P. (persönliche Würde) 115 ff., 471 f. Persönliche Gleichheit 131, 134 ff., 142, 146 f., 161, 283, 284 f., 302, 470. - Würde 115 ff., 471 f. Persönlichkeit: Gestaltung der P. 319, 326. - Wert der P. 251, 255 ff., 500, Perversion 399 f., 425. Pessimismus 7. - pädagogischer P. 358 ff. - moralischer P. 430. - Idealismus und P. 205 ff. Petitio principii 6.

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Register

Pflanze: Grenze zwischen Tier und P. 166. Pflicht 41 ff., 194. - Begriff der P. 45 ff., 48 ff., 64, 341, 378 f., 428 f. - Kriterium der P. 109 f. - und Ideal 42 f., 194, 286, 341 f., 441, 461 ff. - Neigung 58 f., 100 ff., 434 f., 437 ff., 442, 462. - Subjekt von P. (Pflichtsubjekt) 117 ff., 162. - erläßliche und unerläßliche P. 61. - individuelle P. 368. - allemal moralisch zu handeln 59 f., s. a. 434. - der Ausbildung der Fähigkeiten 154. - praktischen Erkenntnis 129 f. - Billigkeit 190. - Ehre 156 ff. - Friedfertigkeit 176. - Gemeinschaft 251 f. - Mäßigkeit 154. - Treue 182, 186 ff. - Verträglichkeit 176. - Wahrhaftigkeit 180 ff., 221. - inneren Wahrhaftigkeit 114, 129, 155, 221, 387, 469, 479. - sittlichen Wahrhaftigkeit 103, 381 f., 386 f., 469, s. a. 114. - Zuverlässigkeit 179 ff. - sittlichen Zuverlässigkeit 180. - zu lügen 185. Pflichten gegen andere Menschen 174 ff. - die Gesellschaft 153. - eigene Würde 126 f., 151. - Gott 153. - Tiere 163 ff. Pflichten gegen uns selber 150 ff. Pflichtbewußtsein (Pflichtüberzeugung) 57 ff., 104, 465. - als Bestimmungsgrund des Willens 58 f., 100 f., 102, 413, 427. - und Rechtsbewußtsein 470 f. Pflichterfüllung 89, 101, 374, 423, 426, 462 f. Pflichtenkollision 112 f. Pflichtenlehre und Ideallehre 43, 61, 196. - formale P. 46 f., 85. - materiale P. 46, 82, 103 ff., 150. Phantast 203 f. Philosophie 16, 328, 336. - als Unterrichtsfach 490. Philosophisch 16. Philosophische Pädagogik 323, 329 ff. - Politik 323. Philosophischer Charakter der reinen Ethik 15, 28. Physische Gewalt 431, 445.

Register Pietät: Ideal der P. 227 f. Platon 326, 490. Poincare 4 ff. Politik 338. - als Anwendung der Rechtslehre 31, 323 f. - Verhältnis der P. zur Tugendlehre 324. - und Pädagogik 31, 323. Politiker 249. Politische Partei 249, 307 f. - Organisation 289. Politisches Ideal 323 f. Positive Anforderungen 285, 341. Positiver Wert 64, 195. Positives Gesetz 38 f. Postulat der Widerspruchslosigkeit 335. Praktisch 27 ff. -- evident 87. Praktische Erkenntnis 129 f. - Realität 85 f., 339. Praktischer Irrtum 124 ff., 136, 140. -- Unglaube 207, s. a. 424. Praktisches Gesetz s. Sittengesetz. Praxis und Wissenschaft 14, 243. Prinzipien der formalen Ethik 51 ff., 197, 266 ff. - der Pädagogik 328. Problematische Begriffe 46, 339. Produkt: Wert des P. einer Handlung 195, 253, s. a. 49. Proletariat 312. Provisorische Bedeutung des Autoritätsprinzips 388 f. - Opportunitätsprinzips 425. Prüfung der Umstände 110 f., 112. Psychologie 330, 333, 394, 396. Psychologische Erfahrung 328, 330, 460, 491. Pythagoras 8. Rache 149. Radikaler Subjektivismus 405. Rangordnung der idealen Berufe 250. Raum und Zeit 19. Realismus 205, 360 f., 453 ff., 487. Realistische Bildung 485 f. Realistischer Unterricht 486, 490. Realität: praktische R. 85 f., 339. Recht 116 f. - auf Grund der Vernünftigkeit eines Wesens 172. - der Tiere 162 ff. - Gebot, sein R. zu wahren 157 f.

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Register

Recht: Kampf ums R. 311 ff. - Subjekt von R. (Rechtssubjekt) 117 ff., 162 f. - unveräußerliche R. 141, 158, 177 f. - und Kultur 285 ff. Rechtlich notwendige Interessen 120. Rechtliche Wertung 62 f. - subjektiv r. W. 63. - Zurechnung 83 f. Rechtlichkeit 104, 117, 310. Rechtsbewußtsein 470 f. Rechtsgefühl 471 ff. Rechtslehre 29 ff., 323. Rechtssicherheit 159. Rechtssphären: Abgrenzung der R. 175 f. Rechtsverhältnis 364. Rechtszustand 30, 286. Reflexion 78 f., 88, 100, 121 ff., 225, 282. Reformation der Ethik durch Kant 24. Regel: keine R. ohne Ausnahme 489. Regent 301. Reich der Zwecke 482. Reine Ethik 14 f., 27 f., 44. Reinheit des Charakters 99 ff., 201, 274, 439, 447, 450 ff. - Gemeingeistes ·273 f. - der Seele 409. Relative Natur der pädagogischen Beurteilung 320 f. Relativismus 244. - pädagogischer R. 321. Religion 19, 247, 418 f., 497. Religionsgeschichte 484. Religionsunterricht 481, 484 f., 497. Religiös-ästhetische und religiös-wissenschaftliche Weltansicht 485. Religiöse Erziehung 484 f., 496 ff. - Sanktion 383, 427, 482. - Wahrheit 482. Religiöser Glaube 481 ff. Religiöses Ideal 232 f. - Interesse 233, 247, 496 f. Resignation 211, 235. Rhetorik: Ideal der R. 490. Rigorismus 60 ff., 197 ff., 286, 441 f., 456 f., 464. Romantik 281 f. - pädagogische R. 496. Romantische Lebensansicht 231, 487. - Kunst 234. Ruhe und Tatenlosigkeit 232.

Register Sacrificium intellectus 387. Sanktion: religiöse S. 383, 427, 482. Scheinidealismus 207, 361, 454. Scheinrealismus 361. Schöne: das Sch. 218, 223 f., 246 f., 260 f., 326, 341, 494 f., 497. Schönheit 246, 255 f. - des Lebens 18, 219 f., 247, 255 f., 495, s. a. Wert des Lebens. Schönheitsliebe 218 ff., 223 f., 235 f., 246 ff., 253, 326, 346, 494. Schuld 64, 81 f., 142, 314 f., 503 f. Schuldigkeit der Pflichterfüllung 462 f. Schwäche: moralische Sch. 442. Schwärmerei 203 f., 410, 454 ff., 464. Seelenheil 297, 384. Selbstachtung 159. Selbständigkeit 428. Selbstbeherrschung 94 f. Selbstbestimmung 216, 258, 278, 280 ff., 295, 354, 362, 397 f. Selbstbestimmungsrecht 433. Selbstbetrug: sittlicher S. 114, 382, 409 ff. Selbstdisziplin 446. Selbstkritik 501. Selbstliebe 255 f. Selbstmord 151 ff., 169. Selbstsucht 256, 305. Selbsttätigkeit 215 ff., 228 f., 257 f., 262, 284, 488. Selbsttäuschung 209, 480. Selbstvertrauen 207. Sentimentale Lebensansicht 231. Sinn einer Aussage 182, 479 f. Sinnliche Verführung 398. Sitte: Anstand und S. 33, 39 f. Sittengesetz 50, 65 ff., 83, 85 ff., 104-149. - Anwendbarkeit des S. 65 ff. - beschränkender Charakter des S. 106 f., 125 f., 138 f., 151. - Existenz des S. 51, 85, 405. - formaler Charakter des S. 109 ff., 140, 150. - Inhalt des S. 57, 103 ff., 138, 374, 403 ff., 416, 436, 442. - und Naturgesetz 9, 87, 89, 491. Sittenkodex 110 f. Sittenregel 112. Sittlich 41. Sittliche Allgemeingültigkeit 53. - Autonomie 55 ff., 105. - Differenzierung 53. - Einsicht s. Einsicht. - Erkenntnis 56, 376. - Erziehung 422, 463, 469 ff.

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Sittliche Freiheit 363, 424,491. - Gesinnung 102 f., 435. - Klarheit 102 ff., 114. - Kraft 425 ff. - Objektivität 57. - Perversion 399 f., 425. - Verführung 399. Sittlicher Rigorismus 60, s. a. Rigorismus. - Selbstbetrug 114, 409 ff. - Unglaube 427, s. a. 206 f. Sittliches Gefühl 9 ff., 466 f. - Kriterium der Autorität 376. Skeptizismus 381, 418, 483. Sklaverei der Triebe und Neigungen 428. Sokrates 7. Sollen 25 f., 32 f., 41, 49. Sophistik 490. Soziale Erziehung 499 f. Soziologische Ethik 23. Spezialisierung 493. Sport 448. Sprache 165, 179, 243, 479, 488. Sprachunterricht 488 ff. Sprachwissenschaft 243. Staat 38 f., 248, 296, 298 f. Staatsmann 249. Staatsrechtliches Vorbild der Erziehung 364. Standhaftigkeit 94. Stärke des Charakters 93 ff., 201, 447 ff. - sittlicher Antriebe 385 f. Stärkeverhältnis der Antriebe 89. Stetiges Anwachsen der Willensstärke 447. Strafe 147 ff., 414 ff., 474 ff. Strebertum 424. Strenge: wissenschaftliche, systematische S. 13 f., 47, 333, 339. Subjekt eines Sollenssatzes 52. - von Pflichten, von Rechten s. Pflichtsubjekt; Rechtssubjekt. Subjektive Nötigung 428. Subjektivismus 281. - materialer S. 407 f. - pädagogischer S. 402 ff., 453. - radikaler S. 405. Symbol: das Schöne als S. 497. Sympathie 160 f., 256, 312 f. Synthetische Urteile 16 f. Systematik 14. Systematische Strenge s. Strenge.

Register Systematischer Aufbau 467. Tapferkeit 94, 423. Tat 66, 70 f. - Begriff der T. 70. Tatenlosigkeit und Ruhe 232. Tatenscheu 410. Tatenscheue und tatenfrohe Lebensansicht 230 ff., 250. Technik 240, 276 f. - pädagogische T. 457. - der Pflichterfüllung 452. Teleologie: subjektive und objektive T. 18 ff., 196. - innere und äußere subjektive T. 29. - Ethik als subjektive T. 18, 21, 62, 196. Temperament 98. Temperamentstugend 98. Theoretisch 28. Theoretische Pädagogik 330. Theorie und Praxis 243. Tier 163. - Interesse der T. am Leben 168 ff. - Pflichten gegen T. 163 ff. Tiere und Kinder 170. - Menschen 163, 164 ff., 427. - Pflanzen 166. Tierischer Wille 68 f., 357. Tierquälerei 163, 165 f. Toleranz 198, 299, 306, 406, 410. Treue: Pflicht der T. 182, 186 ff. - gegenüber den Gesetzen des Staates 188. Triebhafter Antrieb 92, 100, 447 f. Tugend 32, 94 f., 98, 102 f., 323, 341. - und Glück 35. - Wissen 470. Tugendlehre 29 ff. - Anwendung der T. 31, 323. - formale und materiale T. 45 ff. - Verhältnis der Politik zur T. 324. - des pädagogischen Ideals zur T. 325. Ubereinkunft 176 ff. Uberredung 382 f., 418. Uberwiegendes Interesse 134, 151, 156 f., 160 f., 169 f., 175, 178, 191. Uberzeugung: Achtung vor den U. anderer 406, 410 f. - ethische und religiöse U. 482. - sittliche U. 406, 410. - und Uberredung 382.

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Uberzeugungstreue 411. Umstände: Prüfung der U. 110 f., 112. Unbildung 261. Unentschuldbarkeit der Pflichtverletzung 441, s. a. 61 f., 462. Unglaube: sittlicher (praktischer) U. 207, 424. Unglück 71. Uniformitätsprinzip: pädagogisches U. 366 f. Unkorrigierbarkeit des konsequenten Autoritätsglaubens 390 f. Unmoralisch 59, 261, 450 ff. Unmündigkeit 278. Unrecht: Grade des U. 82, 142. - .,Dem Einwilligenden geschieht kein U." 141. Unterlassung 73, 106. Unterricht: dogmatischer U. 480 f., 482, 497. - ethischer U. 466. - historischer U. 488, 496. - humanistischer U. 486 f. - realistischer U. 486, 490. - religionsgeschichtlicher U. 484. - in der Religion 481, 484 f., 497. - Konsequenz im U. 479. - Methode des U. 479 ff. Unterwerfung unter fremde Willkür 354. - die überlegene Macht 378. Unveräußerliche Rechte 141, 158, 177 f. Unvernünftige Wesen 163, 172 ff., 193. Unwahrhaftigkeit des Erziehers 480, s. a. 382. - Erziehung zur U. 479, s. a. 382, 385. Unzurechnungsfähigkeit 74, 77 ff., s. a. 183, 189. - Zurechnung der U. 80 f. Ursprünglich dunkles Interesse 123. Urteil: analytische U. 16 f. - synthetische U. 16 f. Utilität: Ideal der U. 226 f., 486. Utopismus 15. Vater und Mutter ehren 426. Verantwortung 408 f., 481. Verbildung 400 f. Verbindlichkeit 9, 49 f., 55 f., 60, 400, 404, 427, 442. - von Befehlen 56, 372. - eines hypothetischen Imperativs 414. Verbot 106. Verbrecher 100, 111. Verführung durch das Ideal 464. - sinnliche und sittliche V. 398 f. Vergangenheit: Studium der V. 486.

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Vergeltung: Gesetz der gerechten V. 147 ff. - Strafe als V. 148, 474 f. Vergewaltigung 367. - Ideal der V. 363. Verhaltungsmaßregel 110. Vernunft 173, 215, 254, 357. - als auszeichnendes Merkmal des Menschen 163, 170, 173 f., 217. - Herrschaft der V. 216, 243, 281. - und Gemeinschaft 254, 271, 499. Vernünftige Selbstbestimmung s. Selbstbestimmung. - Wesen 163, 172 ff., 193, 254, 356 f., 367, 499. Vernünftigkeit 172 f., 367. - einer Gemeinschaft 269, 500. Vernunftwidrigkeit als Kriterium der Wahrheit 391. Versprechen 186 f. - ehrliche und unehrliche V. 187, 191 f. - unsittliche V. 189. - und Absicht 187. Verstand s. Reflexion. - und Aufklärung 281 f. Versuchung durch das Ideal 462 f. - zum unmoralischen Handeln 450 f. Vertrag 17 6. Verträglichkeit: Pflicht der V. 176 f. Vertrauen in die Zuverlässigkeit 180, 255. - in der Freundschaft 255, 267, 502. - und Autorität 394 f., 481. Vervollkommnung 257, 496 f., 500 f. Verwirklichung 240, 320, 454 f. - der Tugend 31, 323. - des an sich Guten 343 f. - Ideals 200, 456, 462. - Rechts 31, 323 . • Volenti non fit iniuria" 141. Vollkommenheit (das Vollkommene) 234, 247, 342, 496 f., 500 f. Voraussicht 74 ff. Vorbild: Unabhängigkeit vom V. 460 f. - Vernünftigkeit als V. 500. Vorurteil: empiristisches V. 329. - moralistisches V. 448. Vorsatz und Versprechen 186. Vorzug s. Bevorzugung. - der Gebildeten 310. Wahl: Möglichkeit der W. 67. Wahres Interesse 121 f., 126, 141, 157 f., 170 f., 256 ff., 262 f., 303,312, 469 f., 502. - Aufklärung über das w. I. 258, 263, 469.

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Wahres Interesse: Unveräußerlichkeit des Rechts auf Befriedigung des w. I. 141,158, 177f. Wahrhaftigkeit 180 ff., 221. - innere W. 114, 129, 155, 221, 387, 408 f., 469, 479. - sittliche W. 103, 381 f., 386 f., 409, 469, s. a. 114. Wahrheit eines sittlichen Urteils 403 f. - sittliche und religiöse W. 482. Wahrheitsliebe als Bedingung der Freundschaft 258, 265. - Ideal der W. 181, 218 ff., 242, 479, 488. Weisheit 42 ff. - und Klugheit 241. Weltgeschichte 20. Weltherrschaft 293. Weltzweck. 18 ff., 26. Wert als Kriterium der Pflicht 128 f. - einer Handlung 21, 43, 49, 62 ff., 115 f., 195, 462 f. - und W. ihres Produkts 49, 195. - der Aufklärung 278. - Gemeinschaft 251 ff., 270. - des Lebens 226, 256, 313, s. a. Schönheit des Lebens. - der PersönlidJ.keit 251, 255 ff., 500. Wertung: ideale W. 195 ff. - ästhetische W. 195. - moralische W. 62 f. - redJ.tlidJ.e W. 62 f. - subjektiv rechtliche W. 63. - sittliche W. 62. - negativer Charakter der sittlichen W. 64, 106. Werturteil 37, 123. Wetterwechsel 67. WiderredJ.tliche Interessen 119 f., 148 f., 184, 189. Widerspruchslosigkeit 335. Wille 215. - Freiheit des W. 90. - heiliger, menschlicher und tierischer W. 68 f., 357. - mensdJ.licher W. als Objekt der Erziehung 357. - Sicherung des Guten als Werk des W. 344. - zum Guten 351 f. - und Sittengesetz 58, 89, 187 f. Willenskraft (Willensstärke) 410, 447 f., 450. Willkür: Abhängigkeit von fremder W. 174, 178, 226, 229, 289 ff., 353 f., 364, 424, 471. Willkürlichkeit des Handelns 78. WirtsdJ.aft 276. Wirtschaftliche Organisation 289. Wissen und Tugend 470. - Wissenschaft 241 f.

Register Wissenschaft 241 f. Wissenschaft: Ideal der W. 242. - Ethik als W. 4 ff., 10 ff., 243 ff., 328. - historische W. 242. - Pädagogik als W. 327. - philosophische W. s. Philosophie. - praktische W. 244. - und Proletariat 312. Wohl (Wohlfahrt) 132, 277 f., 295, s. a. Genuß; Lebensgenuß. Wort und Gedanke 479 f. Wunderglaube 383 ff., 420. Würde der Person 115 ff., 471 f. - Pflichten gegenüber der eigenen W. 126. Zeit und Raum 19. Zufall 71. - der Erfüllung des Sittengesetzes 89, 343 f. - Geltung des Ideals 200, 343 ff. Zufriedenheit 33. - mit uns selber 37 f., 232. - fremde Z. 424. Zurechenbarkeit 81, 183 f. Zurechnung 66 ff. - Abstufung der Z. 81 ff., 142. Zurechnung: moralische und rechtliche Z. 83 f. - der Fahrlässigkeit 74 ff. - Unzurechnungsfähigkeit 80 f. Zurechnungsfähigkeit 77 ff. Zuverlässigkeit: Pflicht der Z. 179 ff. - sittlichen Z. 180. Zwang 289, 351, 430 ff., 445 f., 472. Zweck: Lehre vom Z. oder Wert der Dinge s. Teleologie. - der Gesellschaft 270 f., 275, 296. - Gottes 26 f., 296 f. - Gemeinschaft der Z. 263 f., 270 f. - Reich der Z. 482. Zweckgesetz 331. Zweckmäßiges Handeln 174, 288. Zweckmäßigkeit: Ideal der Z. s. Ideal der Utilität. Zweifel an der sittlichen Kraft 425 ff. Zynismus 410, 455.

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