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German Pages [112] Year 1964
HYPOMNEMATA HEFT
HYPOMNEMATA U N T E R S U C H U N G E N ZUR A N T I K E U N D ZU I H R E M N A C H L E B E N
Herausgegeben von Albrecht DiMe / Hartmut Erbse Wolf-Hartmut Friedrich / Christian Habicht Bruno Snell
Heft 5
VANDENHOECK & R U P R E C H T IN GÖTTINGEN
P A U L G E R H A R D SCHMIDT
Supplemente lateinischer Prosa in der Neuzeit Rekonstruktionen zu lateinischen Autoren von der Renaissance bis zur Aufklärung
wÄMVFyr/ VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Heft 1 ERNST-RICHARD SCHWINGE Die Stellung der Trachinierinnen im Werk des Sophokles Heft 2 JÜRGEN SPRUTE Der Begriff der DOXA, in der platonischen Philosophie Heft 3 HERWIG MAEHLER Die Auffassung des Diehterberufs im frühen Griechentum bis zur Zeit Pindars Heft 4 K J E L D MATTHIESSEN Elektra, Taurisehe Iphigenie u n d Helena
© Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen 1964. - Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung dea Verlages ist es nicht gestattet das Buch oder Teile daraus auf loto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Herstellung: Buchdruckerei Georg Appi, Wemding
M E I N E R MUTTER
VORWORT Die vorliegende Arbeit bietet eine kaum geänderte Fassung meiner Dissertation. Ich möchte allen denen herzlich danken, die zu dem Werden und der Veröffentlichung dieser Untersuchung beigetragen haben : In erster Linie meinen verehrten Göttinger Lehrern, Herrn Professor Karl Deichgräber und Herrn Professor Wolf-Hartmut Friedrich, für ihre stets gern gewährte, liebenswürdige Förderung meiner Studien; sodann den Herausgebern der Hypomnemata, unter ihnen namentlich Herrn Professor Hartmut Erbse, der gemeinsam mit Herrn Professor Friedrich den Druck der Arbeit betreute; weiterhin der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität, die großzügig einen Druckkostenzuschuß bewilligte ; und schließlich meinem Freund Ulrich Schindel für seine nie versagende Hilfsbereitschaft, die er diesmal durch das Mitlesen der Korrekturen bewiesen hat. Rom, im November 1963
Paul Gerhard Schmidt
INHALT Einleitung
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1. T E I L
Supplemente zu Obsequens Supplemente zu Curtius Supplemente zu Livius Supplemente zu Tacitus Supplemente zu Vellejus Supplemente. Begriffsbestimmung und Überblick über die bis 1700 verfaßten Supplemente
11 13 25 37 45 46
2. T E I L
Brotiers Leben und Schriften Brotiers Tacitussupplemente Suppl. Ann. 7,1-20 Brotier im Verhältnis zu seinen Quellen Der Stil Brotiers Der zeitgeschichtliche Hintergrund in Brotiers Rekonstruktionsversuch Urteile über Brotiers Supplemente
52 59 67 76 80 84 87
3. T E I L
Charles de Brosses : Sallusts Historien J. E. D. Bernardi : Cicero, de re publica Schlußbetrachtung Anhang Literaturverzeichnis Namenverzeichnis
92 95 98 100 110 111
Jedes gute Buch, und besonders die der Alten, versteht und genießt niemand, als wer sie suppliren kann. GOETHE
EINLEITUNG „SUPPLÉMENT, en matiere de Littérature, se dit d'une addition faite pour suppléer à ce qui manquoit à un livre. Frenshemius a composé divers supplémens pour rétablir les livres de plusieurs auteurs de l'antiquité, dont on avoit perdu des fragmens" lautet der Artikel „Supplément" in der Enzyklopädie von Diderot und d'Alembert1. Der Hinweis auf Freinsheims Supplemente macht deutlich, daß man in der Mitte des 18. Jahrhunderts unter dem Begriff Supplement nicht nur „Nachtrag, Zusatz oder Anhang zu einem Buch"2 verstand, sondern darüberhinaus Ergänzungen im eigentlichen Sinn, also durchgeführte, nicht nur entworfene Rekonstruktionen verlorener Schriften. Der heute weitgehend unbekannte Name Freinsheims wurde von dem Verfasser des Lexikonartikels dabei stellvertretend für die nicht geringe Zahl von Gelehrten genannt, die die Lücken in lateinischen Dichtern und Schriftstellern durch eigene Arbeiten zu ergänzen suchten. Es gab Supplemente zu Julius Obsequens von Lycosthenes, zu Tacitus von Savile, Ryckius, Brotier, zu Livius von Freinsheim, zu Curtius Rufus von Bruno, Freinsheim, Cellarius, zu Vellejus von Brinck, zu Lucan von May, zu Ovid von Morisot, zu Plautus von Codrus, Beccadelli und zu Valerius Flaccus von Baptista Pius - um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen. Fast alle diese Supplemente wurden veröffentlicht; sie begegnen in vielen Ausgaben des 16., 17. und 18. Jahrhunderts. Daß diese Ergänzungen noch nicht untersucht, ja sogar noch nicht einmal zusammengestellt sind, wird man auf den häufig beklagten Umstand zurückführen dürfen, daß die Geschichte der klassischen Philologie nur unzureichend erforscht ist3. Die vorliegende Arbeit 1 Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers . . . par Diderot et d'Alembert, Paris 1751 ff., Bd. 15, 1765, S. 681. 2 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, 1854ff., 10. Bd., 4. Abt., 1942, S. 1245. 3 Vgl. M. Fuhrmann in: „Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte" Jg. 33, 1959, S. 199: „Für die Geschichte der altertumswissenschaftlichen Fächer . . . fehlt es sowohl an Einzel- wie an Gesamtbetrachtungen." Die einschlägigen Darstellungen der Geschichte der Philologie (vgl. das Literaturverzeichnis) gehen auf die Sup plemente mit keinem Worte ein.
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Einleitung
zielt darauf hin, eine Entwicklungsgeschichte der Supplemente zu lateinischen Autoren nachzuzeichnen. Zu diesem Zweck sollen die Supplemente lateinischer Prosa1 und ihre Verfasser charakterisiert, ihre Arbeitsweise, z.B. der Stil, die Art der Quellenbenutzung und die bei der Abfassung der Supplemente verfolgten Ziele betrachtet werden. Ferner werden neben der Zahl der Nachdrucke - und eventuell der Übersetzungen - , die ein Supplement gefunden hat, Urteile von Zeitgenossen und Späteren angeführt werden, um so einen Eindruck von der Beliebtheit des betreffenden Supplements zu vermitteln2. Im ersten Teil der Arbeit werden verschiedene Supplemente behandelt, die vor dem Jahre 1700 entstanden. Neben Supplementen, die in lateinischer Sprache abgefaßt sind, werden auch einige nationalsprachliche Ergänzungen betrachtet werden. In einem abschließenden Kapitel soll versucht werden, eine Übersicht über die Entwicklung der Supplemente bis zum Ende des 17. Jahrhunderts zu geben. Im zweiten Teil werden Brotiers Tacitussupplemente (1771) untersucht, um an einem Beispiel die Arbeitsweise eines Ergänzers zu beschreiben. Sie verdanken diese Sonderstellung neben ihrer relativ hohen Qualität vor allem der Tatsache, daß bei ihrem Erscheinen die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit einer solchen Ergänzungsarbeit aufgeworfen wurde. Die Konsequenzen, die sich aus dieser Diskussion ergaben, fanden ihren Niederschlag in der Rekonstruktion von Sallusts Historien durch de Brosses (1777), auf die am Schluß eingegangen werden soll. Da die Supplemente im allgemeinen nicht leicht zugänglich sind, schien es sinnvoll, die eine oder andere Probe zu geben ; diese und alle anderen Zitate werden in Orthographie und Interpunktion unverändert übernommen3. Die einzige Arbeit zu diesem Thema ist m.W. das Schulprogramm von Hans Kern, Supplemente zur Aeneis aus dem 15. und 17. Jahrhundert, Nürnberg 1896. 1 Der einzige Weg, der dazu führt, die Zahl der Supplemente zu ermitteln, besteht darin, Bibliographien (vgl. das Literaturverzeichnis) lateinischer und griechischer Autoren systematisch durchzugehen, da die Supplemente meistens im Titel der Ausgaben mitaufgeführt werden. Zuweilen fehlen sie jedoch im Titel, und dann vermag erst das Durchblättern der Ausgaben selbst sie ans Licht zu bringen. Das gesammelte Material kann darum keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Die Supplemente lateinischer Dichtungen werden zwar berücksichtigt, können aber nicht in der gleichen Ausführlichkeit behandelt werden. Die griechischen Supplemente, deren Zahl verschwindend gering ist, bleiben in der Untersuchung unberücksichtigt. 2 Es kommen die Rezensionen in wissenschaftlichen Zeitschriften (seit 1665 gibt es das „Journal des Savants", seit 1682 die „acta eruditorum"), Literaturgeschichten, sowie die Urteile in den Vorreden späterer Ausgaben des gleichen Autors hierbei in Frage. 8 Was in diesen Zitaten besonders wichtig zu sein scheint, wird durch Kuraivdruck hervorgehoben. Da in den meisten Vorreden bis zum 18. Jh. die Seiten nicht paginiert sind, werden die Zitate ohne Angabe der Seitenzahl gegeben.
ERSTER TEIL Supplemente zu Obsequens
Im Jahre 1508 hatte Aldus Manutius die kleine Schrift des Julius Obsequens „de prodigiis" zum ersten Mal ediert1. In diesem Werk hat Obsequens Prodigien, die sich in den Jahren 190-12 v. Chr. ereigneten, aufgezeichnet. Als Quelle diente ihm Livius. Der Anfang seiner Schrift ist offensichtlich verlorengegangen. Wie nämlich der Titel der von Aldus benutzten Handschrift besagt2, setzte das Werk ursprünglich mit der Aufzeichnung der Prodigien des Jahres 249 v. Chr. ein. Wer den stark ausgeprägten Glauben an Wunder und die große Beliebtheit von Prodigiensammlungen in der Renaissance kennt3, den überrascht es nicht, daß der Versuch unternommen wurde, das in dieser Schrift Fehlende zu ergänzen: Der Baseler Professor Konrad Wolfhart bzw. Lycosthenes läßt als Vorarbeit zu seinem fünf Jahre später folgenden „Chronicon prodigiorum et ostentorum" im Jahre 1552 den Julius Obsequens mit eigenen Ergänzungen erscheinen4. In den ersten 54 in der Art des Obsequens geschriebenen Kapiteln führt er Prodigien von der Gründung Roms bis zu dem Zeitpunkt an, mit dem der Bericht des Obsequens einsetzt. Weiterhin vervollständigt er den erhaltenen Text an vielen Stellen, so daß die Schrift im ganzen ungefähr das Doppelte des ursprünglichen Umfangs gewinnt. Das Material 1 Plinius Secundue, Epistolarum libri X, Ejusdem de viris illustribus ; Suetonii de claris grammaticis et rhetoribus; Julii Obsequentis Prodigiorum liber, ap. Aldum, Venet. 1508. 2 Der Titel der heute nicht mehr vorhandenen Handschrift lautete nach Angabe der Aldina: Julii Obsequentis ab anno urbis condita« quingentésimo quinto prodigiorum liber imperfectus. 3 Vgl. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, hg. von Werner Kaegi, Bern 1943, S. 533-575. R. Schenda, Die französische Prodigienliteratur in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. 1961 (Münchener Romanistische Arbeiten Nr. 16); ders. in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 17. Jg., 28. 9. 1961, 77», 1635-1671: Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Das starke Interesse an Obsequens zeigt sich in der hohen Zahl der Nachdrucke. Von 1508-Í544 gab es 13 Drucke. 1 Julii Obsequentis prodigiorum liber, ab urbe condita usque ad Augustum Cae sarem, cuius tantum extabat Fragmentum, nunc demum Historiarum beneficio, per Conradum Lycosthenem Rubeaquensem integritati suae restitutus. Basilea« 1552. Über Lycosthenes vgl. Allgemeine Deutsche Biographie (ADB) 19. Bd., 1884, S. 727f.; ferner Zedier, Jöcher, Pökel s. v. Lycosthenes bzw. Wolffhart.
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Erster Teil
für diese Ergänzungen stammt aus Livius, Dionysios von Halikarnaß, Orosius und Eutropius. Die Darstellungsweise ist völlig der schmucklosen, exzerpierenden Art des Obsequens angeglichen. Kein Hinweis deutet in den Supplementen auf einen modernen Verfasser. - Lycosthenes selbst hatte seine Supplemente im Druck gegen den Obsequenstext abgehoben. Spätere Herausgeber ließen diese Sorgfalt vermissen1. Die Unterlassung führte dazu, daß längere Zeit hindurch die ergänzten Teile der Schrift für echt gehalten wurden2. Lycosthenes hatte nicht die Absicht, den originalen Text des Obsequens wiederherzustellen. Man kann dies leicht an der Tatsache erkennen, daß er weit mehr ergänzt, als verlorengegangen ist, nämlich nicht allein die Prodigien, die sich in den Jahren 249-191 v. Chr. ereigneten, sondern auch die von der Gründung Roms an. Er erstrebte eine möglichst umfangreiche Sammlung von Prodigien. Die Überlegung, die ihn dabei leitete, lautet zusammengefaßt folgendermaßen: Mochten auch die Vorzeichen der Alten vom Satan3 stammen, dessenungeachtet blieb ihr Wert ungeschmälert, denn stets wurden die Zeichen durch ein folgendes Unheil bestätigt. So sollte auch der Christ sie nicht verachten, sondern sein Verhalten sorgfältig nach ihnen einrichten4. Solange diese Geisteshaltung bestand, war es sinnvoll, in jede Obsequensausgabe die Supplemente aufzunehmen. Erst die heftigen Angriffe, die van Dale5, Fontenelle® und vor allem P. Bayle7 am Ende des 17. Jahrhunderts gegen eine solche Auffassung führen, haben zur Folge, daß im Jahre 1703 eine Ausgabe ohne Lycosthenes' Ergänzun1
Z.B. in der Ausgabe Julius Obsequens, ap. Joh. Tornaesium, Lugd. 1589. Vgl. die praefationes der Obsequensausgabe von Joh. Scheffer, Amsterdam 1Θ79, und der von Otto Jahn, Leipzig 1853, S. 16. 3 Lycosthenes, a.a.O., praef. „Sathanas, quem eo tempore sub Apollinis, . . . aliorumque deorum specie colebant". * Lycosthenes, a.a.O., praef. „quo aliorum tandem exemple moniti, evitandorum periculorum rationes eo diligentius iniremus." Lycosthenes, Prodigiorum ac ostentorum Chronicon, Basel 1557, Epistula nuncupatoria: „Ideo autem haec mea collectanea . . . hoc tempore in lucem edere amicorum Consilio placuit, ut una cum verbi Dei admonitionibus atque sacrarum literarum exemplis, extaret etiam ex aliis historiis per omnes aetates horrendum ultionis divinae erga impios speculum, an fortassis mundus, praesentissimis illis signis aliorum perìculo edoctus, aliqua ratione ad poenitentiam moveri possit, praesertim cum viderem hodie non multos esse, in tanta nostri saeculi felicitate, quo diu nobis abscondita Veritas Dei benignitate revelata est." 6 A. van Dale, De oraculis ethnicis, Amst. 1683 (vgl. von WilamowitzMoellendorff, Geschichte der Philologie, Leipzig 1959, S. 31). 6 Fontenelle, Histoire des Oracles, Amst. 1687. ' P. Bayle, Lettre à M.L.A.D.C., docteur de Sorbonne. Où il est prouvé par plusieurs raisons tirées de la philosophie et de la Théologie que les Comètes ne sont point le présage d'aucun malheur, Cologne 1682 (vgl. Paul Hazard, La Crise de la Conscience Européenne, 1680-1715, Paris 1935, S. 158-164). 2
Supplemente zu Curtius
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1
gen erscheint . Ihr Herausgeber war Thomas Hearne (1678-1735), zweiter Bibliothekar an der Bodleiana in Oxford. Nichts kennzeichnet besser den weiten Abstand zwischen englischer und holländischer Philologie zu Beginn des 18. Jahrhunderts als das erneute Auftauchen der Supplemente in der mit Anmerkungen überladenen Ausgabe von Oudendorp2. Dem Holländer folgen weitere Herausgeber, die dem aufgeklärten Jahrhundert zum Trotz die Prodigiensammlung weiterhin mit den Zusätzen Lycosthenes' abdrucken lassen2. Auch die Kritik so gewichtiger Gelehrter wie Christian Gottlob Heynes vermag daran nichts zu ändern3. Erst mit Otto Jahns Obsequensausgabe aus dem Jahre 1853, in der auf den Abdruck der „unnützen" Supplemente verzichtet wird4, verlieren Lycosthenes' Supplemente endgültig ihren genau 300 Jahre lang behaupteten Platz in den Obsequensausgaben.
Supplemente zu Curtius
Den Verlust der beiden ersten Bücher der Alexandergeschichte des Curtius Rufus hat man auf verschiedene Arten zu ersetzen gesucht. Um den Leser über die wichtigsten Ereignisse von Philipps Tod bis zu Alexanders Einmarsch in Phrygien, mit dem das 3. Buch beginnt, zu unterrichten, druckte man 1575 zugleich mit Curtius eine lateinische Übersetzung des 1. Buches der Anabasis Arrians und der Kapitel 2-29 des 17. Buches von Diodor ab5. Dies Verfahren fand jedoch wenig Verbreitung. Auch ein angeblicher Handschriftenfund der zwei ersten 1 Eutropius, Breviarium Historiae Romanae; Obsequens, Prodigia. Oxon. 1703. 2 Julius Obsequens, ed. Oudendorp, Lugd. 1720. 8 Vgl. Heynes Rezension der Obsequensausgabe von J o h . Kappe, Hof 1772, in Gotting. Anzeigen von Gelehrten Sachen, 1772, S. 1092f. : „was sollen sie (sc. junge Leser) wohl aus dem Buche lernen? Was sollen sie sich von den schrecklichen Wunderzeichen denken ? u n d nicht eine Anmerkung, Warnimg, Erklärung u n d Erläuterung des Aberglaubens u n d Vorurtheils oder so etwas finden wir irgendwo beygefüget! dagegen sind des ehrlichen Prof. zu Basel, Conrad Wolfhart (Lycosthenes) Ergänzungen eingeschaltet, der, wie m a n aus seiner Vorrede sieht, an die schwatzhaften Kälber (bos locuta est), die schwitzenden Apolls, an die Blut- u n d Milchregen u n d ihre Bedeutung von ganzem Herzen geglaubt h a t . " 4 Obsequens, ed. Otto J a h n , Leipzig 1853, praef. p. 16: „quae u t prorsus inutilia . . . omittenda ratus sum." 5 Curtius ed. H . Glareanus, Basel 1575. - Arrian wird darin in der lat. Übersetzung von Barth. Facius, Lugd. 1552, Diodor in der lat. Übersetzung der Ausgabe Lugd. 1553, abgedruckt. Schon 1516 h a t t e Angelo Cospi in Wien das 16. u n d 17. Buch Diodors zu gleichem Ziele ins Lateinische übersetzt. Pier Candido Decembrio (1399-1477) übersetzte Curtius ins Italienische, wobei er die Lücken aus Plutarchs Alexandervita ergänzte. (Vgl. Georg Voigt, Wiederbelebung des classischen Altertums, Berlin 1893, 3. Aufl., Bd. I, S. 512.)
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Erster Teil
Bücher, der 1555 in Venedig veröffentlicht wurde und sich als recht erbärmliche Fälschung erwies1, konnte sich nicht behaupten, obgleich die Möglichkeit bestanden hätte, die einmal erkannte Fälschung als Supplement abzudrucken2. Das erste Supplement zu Curtius, das sich auch im Titel als Supplement ausweist, wurde von Christoph Bruno3, einem Zeitgenossen Lycosthenes' im Jahre 1545 in Basel herausgegeben: Auf dichtem Raum - die beiden Bücher zusammen sind nur halb so stark wie ein Buch des Curtius - werden die wichtigsten Begebenheiten aus Plutarch, Arrian, Diodor und Justin zusammengetragen. Die bevorzugte Quelle ist Justin, dessen Wortlaut oft unverändert in die Supplemente übernommen wurde4. Das erste Buch („Philippus Macedo . . . Amyntae . . . filius fuit") stellt Leben und Taten Philipps, Geburt und Jugend Alexanders dar. Bei der Erwähnung der Belagerung von Byzanz durch Philipp findet man eine Überschau über die späteren Geschicke der Stadt, in der von historischen Ereignissen berichtet wird, die lange nach der Abfassungszeit von Curtius' Alexandergeschichte eintraten. An dieser Stelle der Supplemente gibt sich der moderne Ergänzer als Mensch seiner Zeit zu erkennen, der seinen Schmerz über den Fall Konstantinopels und die Herrschaft der Türken in der Stadt nicht unterdrücken kann5. Nach antikem Vorbild schließt sich an den Bericht von der Ermordung Philipps eine Charakteristik des Königs an, mit der das erste Buch zu Ende geführt wird. Das zweite Buch („Anno ab Urbe condita CCCCXXVI... Alexander ... assecutus est imperium") schildert Alexanders erste Taten bei der Übernahme der Herrschaft, die Kriegsvorbereitungen und den Verlauf des Feldzuges bis zur Schlacht am Granikos. Neben den wichtigsten politischen Ereignissen fehlen auch die bekannten Anekdoten (z.B. die Bitte Diogenes' an Alexander, ihm aus der Sonne zu treten) nicht. Das in klarem Latein abgefaßte Supplement gibt in verständiger Auswahl 1
Q. Curtii Rufi . . . duo priores libri haotenus desiderati. Venet. 1555. Ebert, 1562: „Höchstselten, aber untergeschobenes und schlechtes Machwerk". Mir bisher nicht zugänglich. 2 Vgl. S. 48f. 3 Curtius Rufus . . . cum Supplemento, Basel 1545. In der Vorrede nennt sich der Herausgeber Christoph Bruno: „juris utriusque licentiatus, ejusdemque ac bonarum literarum professor Monaci, in schola poetica." Weiteres über Bruno findet sich bei H. Krauß: Zwei vergessene Curtiusausgaben. Programm Neuburg a. D. 1911. 4 Direkt in die Supplemente übernommen wurde Justin VII, 4, 5-8; 5, 1-6; 9-10; 6, 4-16 etc. 6 Bruno, a.a.O. lib. I: „haec urbs (sc. Byzantium) . . . circiter MCXI annos sacratissimi Imperii sedes totiusque Orientis caput fuit. Nunc tarnen (proh dolor !) foedissimae atque impiissimae Turcarum gentis imperio subiacet."
Supplemente zu Curtius
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aus den betreffenden Quellen dem Leser die nötige Einleitung in die Lektüre des Curtius1. So wird Brunos Supplement dank diesen Eigenschaften fester Bestandteil der meisten Curtiusausgaben2. In der Regel wird dabei der Name des Verfassers unterdrückt, da das Gerücht wissen will, der wahre Autor sei Quintianus Stoa (1486-15573.) Es bleibt - bisher jedenfalls - im ungewissen, ob Stoa überhaupt ein Supplement zu Curtius verfaßt hat. Sollte ein klares Zeugnis dafür vorliegen, so bedeutet das noch nicht, daß er wirklich der Verfasser gerade des von Bruno herausgegebenen Supplements ist. Denn es ist ein weiteres Curtiussupplement vorhanden, über dessen Autor keine Klarheit besteht. Es ist in der äußerst seltenen Curtiusausgabe von 1615 enthalten4. Der Herausgeber, Johannes Masson, druckt zuerst Brunos Supplement ab. Im Anhang des Buches legt er dann einen Handschriftenfund vor: Eine Curtiushandschrift der Bibliothek der Abtei von St. Victor enthalte die ersten zwei Bücher der Alexanderhistorie. Obwohl sie offensichtlich nicht von Curtius selbst stammten, wolle er sie doch veröffentlichen5. Im ersten Buch („Alexander vesanus juvenis . . .") werden Philipp und Alexander miteinander verglichen. Im zweiten Buch („Proficis1 Eine vorherrschende Tendenz ist nicht festzustellen. So ist z. B. die so häufig in der Antike diskutierte Frage, ob Alexander seiner άρετή oder der τύχη mehr verdanke, in seinem Supplement »inbeantwortet geblieben. E s heißt anläßlich der Schilderung der Schlacht am Granikos „Alexander suae fortunae ac virtuti . . . confisus". 2 D a seine Supplemente nur in seltenen Fällen im Buchtitel erwähnt werden, sind sie bibliographisch nur unvollkommen erfaßbar. Von 23 Ausgaben aus dem Zeitraum zwischen 1545 u n d 1700, die sich in der Göttinger Universitätsbibliothek befinden, enthalten 14 die Supplemente Brunos, 5 die Freinsheims, 2 die Cellarius'; nur 2 Ausgaben enthalten keinerlei Supplemente. - I n dem eben gen a n n t e n Zeitraum gab es jedoch nach Angabe des „Index E d i t i o n u m " der Curtiusausgabe, Biponti 1782, 69 Ausgaben; d . h . in der oben gegebenen Aufstellung ist n u r ein Drittel des gesamten Materials berücksichtigt. 3 Diese Vermutung findet sich bei A. Possevinus, S. J., Bibliotheca Selecta de ratione studiorum, Venet. 1603, p. 373, u n d danach in den Vorreden vieler Curtiusausgaben. Ein von Stoa verfaßtes Supplement ist bibliographisch nicht nachweisbar. Zwar sprechen Jocher, 3. Bd., 1751, S. 1845 s. v. Quintianus u n d die Biographie Universelle, 36. Bd., 1823, S. 451 ff. s. v. Quinzano von einem Curtiussupplement; ihre Angaben beruhen aber auf denselben vagen Vermutungen, wie sie nach Possevinus noch häufiger geäußert wurden. 4 Q. Curtii Rufi, Historiarum . . . libri octo; quibus accesserunt libri duo ex Victoriano Manuscripto exscripti a J o a n n e Massono, Bajocensis Ecclesia© Archidiácono, et nunc primum excusi, Lugd. 1615. Das einzige mir bekannte Exemplar liegt in der Pariser Nationalbibliothek. 6 Masson, a . a . O . , p. 655: „Primus igitur et secundus adhuc incogniti mihi visi sunt nec inutiles nec indigni luce, et si non sint Q. Curtii, u t ex stylo aliisque argumentis sat apparet; a t non contemnendae auctoritatis nescio quem illi scriptorem h a b e n t . "
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Erster Teil
cens Alexander ad Persicum bellum . . .") werden die ersten Taten Alexanders bis zur Schlacht am Granikos beschrieben. Fast so häufig wie in Brunos Supplement sind ganze Sätze und kleinere Abschnitte unverändert aus Justin übernommen1. Ferner begegnen Sätze aus Seneca (de benef. 1,13 - 1. Buch S. 657) und Cicero (z.B. pro Marcello 6,19 - 2. Buch S. 673). Viele Redewendungen verdankt der anonyme Verfasser auch Curtius selbst (z.B. 2. Buch S. 687 - Curtius 4,15: „jamque non pugna, sed caedes erat"). Über den Verfasser vermag Masson keine Angaben zu machen. Die Handschrift habe er ungefähr zehn Jahre vor der Veröffentlichung Fachleuten vorgelegt, die auf Grund paläographischer Merkmale zu dem Schluß kamen, daß sie um das Jahr 1500 geschrieben worden sei2. Scaliger äußert als einziger eine Vermutung über den Verfasser; er erklärt, es handele sich um ein Werk Petrarcas3. Leider teilen die Gewährsleute für diesen Ausspruch Scaligers nicht die Gründe mit, die ihn veranlaßt haben, dies anzunehmen. Der Gedanke, in Petrarca den Verfasser der Ergänzungen von 1615 zu sehen, hat einige Wahrscheinlichkeit für sich. Petrarca hat nicht nur eine Handschrift mit Curtius' Alexandergeschichte besessen und sie mehrfach gelesen, er hat auch versucht, eine Lücke in Curtius zu ergänzen, die Lücke nämlich zwischen dem 5. und 6. Buch4. Auch sind ihm alle in den zwei ergänzten Büchern benutzten Quellen (Seneca, Cicero, Justin) zugänglich gewesen®. Gegen eine solche Annahme spricht allerdings die Tatsache, daß in den Ausgaben von Petrarcas Schriften diese Arbeit nicht zu finden ist, und daß der Zweig der Petrarcaforschung, der sich mit Petrarcas Verhältnis zu den antiken Autoren befaßt, nur die oben erwähnten geringfügigen Ergänzungen zu Curtius kennt. Mit den vorläufig zur Verfügung stehenden Quellen kann die Frage nach dem Verfasser der Ergänzungen zu Buch 1 und 2 nicht beantwortet werden. Die Ergänzungen von 1615 haben so gut wie keine Beachtung 1
Der Schluß des ersten Buches z.B. stammt aus Justin X I ,6, 4-8. Masson, a.a.O., p. 655. Diese Datierung schließt die Möglichkeit nicht aus, daß Stoa der Verfasser der zwei Bücher ist. Leider ist es mir noch nicht gelungen, ein Exemplar der Curtiusfälschung von 1555 (vgl. S. 14) einzusehen. Es müßte nachgeprüft werden, ob es sich bei ihr und den beiden Büchern von 1615 nicht um ein und denselben Ergänzungsversuch handelt. 3 Secunda Scaligerana, Amst. 1740, p. 287: „In Bibliotheca sancti Victoris primus liber Q. Curtii erat, sed deprehendi esse compositum a Petrarcha." 4 Pierre de Nolhac, Pétrarque et l'humanisme, Paris 1907, Bd. II, S. 97, beschreibt den aus Petrarcas Besitz stammenden Curtiuscodex und gibt einige Randnotizen Petrarcas und die überleitenden Sätze zwischen dem 5. und 6. Buch wieder. 6 Vgl. R. Sabbadini, Le Scoperte dei Codici Latini e Greci ne' Secoli X I V e XV, Firenze 1905, Bd. I, S. 23-28. 2
Supplemente zu Curtius
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gefunden. Sie wurden nicht wieder abgedruckt. Die Ursache dafür ist vermutlich in der großen Beliebtheit von Brunos Supplementen zu suchen, die bis 1700 in mehr als der Hälfte aller Ausgaben enthalten waren1. Selbst als im Jahre 1640 die berühmten und hochgepriesenen Curtiussupplemente von Freinsheim erscheinen2, behaupten sich Brunos Ergänzungen weiterhin daneben, so daß von 1700-1800 fast die Hälfte aller Curtiusausgaben beide Supplemente gemeinsam enthält3. Johannes Freinsheim (1608-16604) darf auf Grund seiner Supplemente zu Curtius und zu Livius als der Fürst der Ergänzer betrachtet werden. Sein Name verband sich für die Nachwelt so eng mit dem Begriff Supplement, daß sich hartnäckig die Meinung behaupten konnte, er habe auch Tacitus suppliert5. Bei der ungeheueren Arbeitskraft dieses Mannes wäre es freilich nicht weiter verwunderlich. Allein zur Wiederherstellung des Curtius hat er u. a. folgende Schriften hinzugezogen: Aelian, Aischines, Ammianus Marcellinus, Apollodor, Apulejus, Aristoteles,Arrian, Athenaios, Cicero, Demosthenes, Dinarch, 1
Vgl. S. 15, Fußnote 2. Curtius R u f u s . . . cum supplementis Freinshemii, Argent. 1640. Freinsheim h a t Supplemente zu den ersten beiden Büchern u n d zu den Lücken im 5., 6. u n d 10. Buch verfaßt. 3 Auch hier lassen sich - wie oben dargelegt wurde - nur unvollständige Angaben ermitteln. Von sechs in der Göttinger Universitätsbibliothek befindlichen Ausgaben zwischen 1700 u n d 1800 enthält nur eine Ausgabe kein Supplement (London 1716). Eine acht J a h r e später in Leyden erschienene Ausgabe enthält dagegen drei Supplemente. Zwei Ausgaben enthalten Freinsheims Supplemente, eine Ausgabe Brunos Supplemente, u n d eine weitere Ausgabe enthält Brunos u n d Freinsheims Supplemente gemeinsam. 4 Zu Freinsheim vgl. ADB, 7. Bd., 1878, S. 348f. 6 1743: A Historical, Genealogical . . . Dictionary, London 1759: Dictionnaire historique . . . Avignon 1761: Dizionario storico . . . Napoli 1786: Encyclopédie Méthodique . . . Paris 1797: Historisch-biographisches Handwörterbuch, Leipzig 1810: Dictionaire universel, historique . . . Paris. Jeweils s. v. Freinsheim werden neben den Curtius- u n d Liviussupplementen Freinsheims Tacitussupplemente aus seiner Feder erwähnt. (Bisweilen wird sogar ihre schlechte Ausführung kritisiert.) Die Tacitusparaphrase, die wir Freinsheim verdanken - Specimen paraphraseos Cornelianae, Argent. 1641 - enthält keinerlei Versprechen, ein Supplement herauszugeben, geschweige denn ein Supplement selbst. I n dem Verzeichnis seiner gedruckten u n d ungedruckten Schriften wird ebenfalls kein Tacitussupplement angeführt (vgl. H . Witten, Memoria Philosophorum . . . F r a n k f u r t 1679, S. 346ff.). Vielleicht geht dies Gerücht auf J . H . Boeder, einen Zeitgenossen Freinsheims, zurück. I n seiner „Bibliographie Critica" (ed. J . G. Krause, Leipzig 1715, S. 273) lobt er überschwenglich Freinsheims Curtius- u n d Liviussupplemente. E r f ä h r t fort; „Hic est, si quisquam, qui et Tacito supplendo integrandoque par existimari p o t u i t . " 2
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Erster Teil
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Dio Chrysostomos, Diodor, Dionysios von Halikarnaß, Eustathios, Frontin, Gellius, Herodot, Hieronymus, Himerios, Horaz, Justin, Iliasscholien, Livius, Lukian, Lukrez, Mela, Nepos, Orosius, Pausanias, Philostratos, Plinius, Plutarch, Polyaen, Quintilian, Seneca, Servius, Solin, Strabo, Sueton, Suidas, Tacitus, Themistios, Tzetzes, Valerius Maximus, Vellejus Paterculus und Vitruv. - Bescheiden bemerkt er in seiner Vorrede zu den Curtiussupplementen : „In materia certe conquirenda non segnis fui". Das Ergebnis seiner Studien entspricht denn auch im Umfang mindestens drei Büchern des Curtius. Es fehlt wohl keine einzige Nachricht der Antike über Alexander. Da kann man etwa den Brief Philipps an Aristoteles lesen, in dem dieser gebeten wird, Alexander zu erziehen1, oder man erfährt von einer Freundschaft zwischen einem Knaben und einem Delphin, die von Alexander als günstiges Vorzeichen angesehen wird2, man hört einen lakonischen Ausspruch Alexanders, mit dem er ein zu üppiges Mahl zurückweist3, kurzum Freinsheim öffnet die Schleusen seiner großen Belesenheit und bringt es nicht über sich, irgendetwas mit Stillschweigen zu übergehen, was sich auch nur in geringste Beziehung zu Alexander setzen läßt. Er greift sogar in einem Exkurs dem Geschehen voraus und berichtet von dem fabulosen Besuch Alexanders in Jerusalem, der Anbetung im Tempel und seiner großen Milde den Juden gegenüber, einem Ereignis, das Curtius im erhaltenen vierten Buch hätte darstellen können4. Abgesehen von dem Mangel an historischer Kritik ist das Supplement recht lesenswert. In der Darstellungsweise nähert sich Freinsheim stark an Curtius an, d. h. das rhetorische Element herrscht vor. Immer wieder finden sich Reden5 und Wechselreden6, Schilderungen7, psychologische Analysen der handelnden Personen8 und allgemeine Reflexionen9. Die benutzten lateinischen Quellen sind selten im unveränderten Wortlaut übernommen. Nach Gutdünken hat 1
Freinsheim, a.a.O., Suppl. 1,2 nach Gellius 9,3 Freinsheim, a.a.O., Suppl. 2,7 nach Plinius, n.h. 9,27 3 Freinsheim, a.a.O., Suppl. 2,8 nach Plutarch, reg. et imp. apophthegm. Alex. 9 4 Der Besuch in Jerusalem - Suppl. 2,11 — ist eine tendenziöse Erfindung Josephus' (cf. RE, s. v. Alexandros, Sp. 1422). Josephus, Ant. Jud. 11, 313; 329 sqq. 5 Z.B. Suppl. 2,2: Alexanders Rede, in der er die Bedenken der Gegner des Feldzuges besiegt. β Z.B. Suppl. 1,6: Python-Demosthenes vor der thebanischen Volksversammlung. 7 Z.B. Suppl. 1,9: Belagerung und Einnahme von Halikarnaß. 8 Z.B. Suppl. 2,4: Die Siegeszuversicht des Darius auf die Kunde von Alexanders Einmarsch in Asien. • Reflexionen über das Schicksal der Menschen, z.B. Suppl. 1,1: „apparet, non forte nec temere res humanas ferri"; 1,2: „equidem education! plurimum tribuí debere non infiteor". 2
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Freinsheim sie gekürzt oder erweitert. In Syntax und Wortwahl finden sich Anklänge an Curtius' Stil1. In zwei Punkten führt Freinsheim wichtige Neuerungen ein, die für einige Ergänzer nach ihm maßgebend geworden sind. Die eine formuliert er folgendermaßen: „consentaneum putavi, ut eius personam induerem, cuius mimum susceperam"2. Dieses Prinzip, das in Brunos Curtiussupplement nicht beachtet war3, verlangt von dem Ergänzer, sich in die Rolle Curtius' bzw. jedes anderen zu ergänzenden Autors mit allen daraus entstehenden Konsequenzen zu versetzen. So ist es eine der Hauptsorgen Freinsheims und anderer Ergänzer nach ihm, jeden Anachronismus zu meiden. Ferner unterziehen sie sich der schweren Aufgabe, die Geistesart des betreffenden Autors nachzuahmen4. Die andere Neuerung ist technischer Art: Freinsheim gibt die von ihm zum Verfassen der Supplemente benutzten Autoren jeweils an. Auch hierin richten sich spätere Ergänzer nach ihm. In der Folgezeit wurden seine Supplemente hoch gepriesen. Daniel Wilhelm Moller, Professor der Geschichte in Altdorf, schreibt im Jahre 1683: „mihi ostendere foret in proclivi, contentione inter Curtii et Freinshemii dicendi rationem instituta, vix ovum ovo esse similius, adeoque facile, si Freinshemio, quam saepius aliis Scriptoribus in mentita quorundam Autorum editione fuisse novimus, mens quoque laeva fuisset, pro ipsissimo Curtii foetu a se forte fortuna reperto dare potuisset Orbi erudito deosculandum, sine ulla eum tollendi tergiversatione, praesertim si Autorum nomina, ex quibus singula depromsit, more hujus seculi pessimo, artificiose occultasset"5. Der Jesuit Le Tellier versteigt sich sogar bis zu der Äußerung: „nova supplementa fecit tanta fide ac diligentia, ut propemodum optabilis jactura fuisse 1 Zur Wortwahl vgl. Suppl. 1,10: „Alexander tamquam salutare sidus, componendis tantis fluctibus tempestivus affulsit", dazu das berühmte Kapitel Curtius 10,9: „populo Romano novum sidus illuxit". Suppl. 1,4: „equitabilis planities" ist Reminiszenz an Curtius 4, 8, 10. „Equitabilis" begegnet in der lateinischen Literatur nur noch zweimal (Amm. Marc. 22, 15, 12; Itin. Alex. 24; cf. Thes. LL s. v.). Freinsheim ist einer der ersten Philologen, der (unter dem Einfluß seines Schwiegervaters Bernegger) sprachliche Indices angelegt hat. Es sind Indices zu Curtius, 1640; Tacitus, 1638; Justin, 1631; Phaedrus, 1664. Für seine guten Curtiuskenntnisse zeugt sein umfangreicher „Commentarius in C. Rufum", Arg. 1639. a Freinsheim, a.a.O., praef. p. 5. 3 Vgl. S. 14. 4 Freinsheim verweist z.B. in Suppl. 1,1 mit den Worten „ut postea trademus" auf Curtius 4,7. Bei der Erwähnung des Gerüchtes von Alexanders göttlicher Abstammung fügt er hinzu „apud maiores nostros de Scipione qui Carthaginem prior afflixit, eadem ferme fama fuit". 6 Dan. Guil. Moller, Dissertationes L de totidem omnia aevi scriptoribus. Nürnberg 1683-1698, Diss. I, p. 6. 2*
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videatur, quam ille tarn opportune resarserit"1. Der allgemeinen Anerkennung entsprechend werden die Supplemente Freinsheims den meisten Curtiusausgaben beigegeben. Auch in den französischen, schwedischen und deutschen Curtiusübersetzungen fehlen sie nicht2. Jedoch fanden Freinsheims Ergänzungen nicht bei allen Lesern ungeteilten Beifall. So erscheinen ungefähr 50 Jahre später neue Curtiussupplemente. Ihr Verfasser, Christoph Cellarius (1638-1707 3 ), ist nicht weniger bekannt als Freinsheim. Er kann für sich den Ruhm in Anspruch nehmen, das erste Institut zur Bildung von Lehrern an den Höheren Schulen in dem „Collegium politioris doctrinae sive elegantium meliorumque litterarum" 1697 in Halle gegründet zu haben 4 . Im Verlaufe seiner pädagogischen Tätigkeit hatte Cellarius festgestellt, daß die beiden bisher verbreiteten Supplemente für die Schule ungeeignet waren: ,,Ne ergo tironibus imponatur, quos in Brunonis supplemento frustra saepe quaesisse novimus, quae indagaverant ; in ubertate autem Freinshemii multum temporis consumsisse, et legendi paene fregisse cupiditatem, ut ad Curtii genuinos libros postmodum torperent; novo modo, quae desunt, per summaria indicare . . . ut animus integer ad τά γνήσια nostri scriptoris adferatur, nec tarnen rudis inanisque rerum sit, quas temporum iniquitate in Curtió perdidimus. . . . nunc solliciti sumus, ut priores libros non quidem verbis ac stilo, sed brevi materiarum significatione restituamus . . ."5 1
Curtius in U s u m Delphini, Paris 1678, ed. Le Tellier, S. J., praef.: „immensae vir eruditionis summique ingenii Joannes Freinshemius magno rei literariae bono n a t u s ; . . . rem aggressus est incredibilis pariter utilitatis et laboris . . . Etsi enim a d Curtiani styli suavitatem deesse aliquid videbitur, t a m e n hoc rerum copia, quam expectare a Curtió parem non potuimus, cum virili sermonis gravit a t e conjuncta, facile compensât." 2 Deutsch: 1653 von H a n s Friedrich von Lehsten, Nachdrucke 1661, 76, 96, 1705; 1768 von J o h . F r a n z Wagner; 1783-85 von J . P . Ostertag. Französisch: in der Vaugelas'schen Curtiusübersetzung, in der die Supplemente von d u Ryer übersetzt sind, 1664; 1684 nachgedruckt; 1881 von Abbe Dinouart erneut übersetzt. Schwedisch: 1695. 3 Curtius Rufus, ed. Chr. Cellarius, Lipsiae 1688. Die einzige mir bekannte Rezension s t a m m t von Cellarius selbst (Acta Eruditorum, 1688, p. 13. sq.). Sie bietet gegenüber seiner Vorrede keinen neuen Gesichtspunkt. Zu Cellarius vgl. ADB, 4. Bd., 1876, S. 80f. Bursians Behauptung (Geschichte der klassischen Philologie . . . Bd. 1, S. 348ff.) - die sich auch bei Sandys I I , 369 findet - , Cellarius habe als erster seinen Ausgaben K a r t e n zur Veranschaulichung der im Text erwähnten geographischen Verhältnisse beigefügt - „ f ü r jene Zeit etwas ganz Neues" — ist unhaltbar. Allein zu Curtius gibt es vor diesem Zeitpunkt mehrere Ausgaben mit K a r t e n , z.B. Elzevir, 1658 u n d 1664; ferner Tacitus, Germania, ed. Kirchmaier, 1664; Livius, ed. D u j a t , 1679. 4 Vgl. Paulsen, Geschichte des Gelehrten Unterrichtes, Leipzig 1919, 3. Aufl. I. Bd. ,S. 544ff. 5 Cellarius, a.a.O., praef.
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Er fordert eine neue Form von Supplementen, da er der grundsätzlichen Ansicht ist: „stilum ingeniumque Curtii aequare, supra conditionem saeculi nostri est"1. So verzichtet er in seinen „Coniecturae de supplemento libri I et I I Curtianae historiae" darauf, Curtius' Stil zu imitieren oder etwa selbst die Rolle des Römers zu spielen. Ein Vergleich zwischen dem Beginn der Supplemente Freinsheims und dem ersten Kapitel des Cellarius zeigt am besten die verschiedene Auffassung der beiden. Freinsheim Supplementum Curtii I, 1 Alexandri, qui ademtum Persis Imperium in Graeciam intulit, vitam atque res gestas plurimi Graecorum memoraverunt. E x quibus plerosque operum suorum spectatores, quosdam suorum spectatores, quosdam etiam socios atque ministros habuit; nonnullos, ut erat avidus mansurae post mortem gloriae, ad hoc ipsum evocavit, u t res suae traderent posteritati. Ceterum praeter ipsam rerum magnitudinem, innata genti fabularum cupido effecit, u t eorum complures monstris quam vero similiora proderent. fide autem dignissimi videntur Ptolemaeus, qui postea regnavit, et Aristobulus. Etenim exstincto iam Alexandra sua edentibus metus et assentaiionis causae decesserant, quibus fere narrandarum rerum Veritas corrompi solet: nam Ptolemaeum etiam regii nominis dignitatem mendaci historia polluere voluisse, quia crederei? Uterque autem cum multis ad res Alexandri pertinentibus negotiis non interfuerint modo, verum etiam praefuerint; verissima prae aliis tradere potuisse liquet. Quoties igitur consentiunt, ceteris antehabuimus: ubi in diversum abeunt, ex copia rerum ea potissimum secrevimus quae diligenter inter se composita proximo ad rerum gestarum fidem videbantur accedere. Quod etiam post aetatem Alexandri alios Graecorum secutos video, quibus aliqua veri cura fuit; et
Cellarius Coniectura de Supplemento Curtii I, 1
Illorum, qui Alexandri res gestae scripsere, fide dignissimus Ptolemaeus Lagi videtur, quod ipse rebus interfuerat, nec ulla, si secus scripsisset, suspicio lucri apparebat: proximus Aristobulus, quos longo intervallo Diodorus Siculus, non minus gravis auctor, secutus est.
1 Cellarius, a. a. O., Lectori Amico: „Supplementa nova . . . malui quam vetera aliorum proponere, u t neque copia impedimento sint adolescentibus, neque damno sterilitate nimia. Utrumque enim usu evenisse multis exemplis didiceram."
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nuper ex Sicilia Diodorum. Nam qui ex Romanis animum ad historiam applicuerunt, ii patriis rebus contenti, externa neglectui habuere: quia Victoria populi gesta componentibus neque maiestas rerum deerat; et plus utilitatis allatura videbantur in eadem república degentibus. Quorum Studium ut laude dignissimum arbitror; sic extra reprehensionem fore confido, si nostris etiam hominibus ostendam eum regem, qui unus omnium mortalium, intra brevissimum aevi spatium, plurimum terrarum occupavit. quo appareat, non forte neque temere res humanas ferri; sed plerumque fortunam pro moribus; neque diuturnam esse felicitatem, quae virtute destituatur.
Als Vorlage diente Freinsheim, wie er angibt, Arrians Vorrede zur Anabasis. Er malt sie jedoch farbig aus. Um die Glaubwürdigkeit des von Ptolemäus Berichteten zu erhärten, führt Arrian an: „Πτολεμαίος δέ προς τω ξυστρατεϋσαι δτι και αύτω βασιλεϊ 8ντι αίσχρότερον ή τω άλλω ψεύσασθ-αι ήν." Freinsheim, der fast jeden Ausdruck in seiner Fassung steigert (ζ. B. βασιλεϊ 6ντι - regii nominis dignitatem; ψεύσασθ-αι - mendaci historia), kleidet dies Argument außerdem noch in die Form einer rhetorischen Frage (quis crederet?). Bei Arrian schließt sich an: ,,άμφω δέ, δτι τετελευτηκότος ήδη 'Αλεξάνδρου ξυγγράφουσιν αύτοις ή τε ανάγκη καί ó μισθός του άλλως τι ή ώς συνηνέχθ-η ξυγγράψαι άπην. Freinsheim nimmt diese Begründung wieder auf, knüpft aber noch einen Relativsatz an, in dem er diesen Gedanken in der Form einer allgemeinen Sentenz ausspricht (quibus fere narrandarum rerum Veritas corrumpi solet) 1 . Über das von seinen Quellen Gebotene geht Freinsheim hinaus bei der Darlegung der Gründe, die ihn bzw. Curtius veranlaßt haben, der römischen Öffentlichkeit die Geschichte Alexanders vorzulegen (nostris hominibus ostendam). Mit dieser Improvisation erfüllt er die Aufgabe, die er sich gestellt hat, völlig in der Person des zu supplierenden Autors aufzugehen. Bei Cellarius ist von derartigem Spiel nichts zu finden. Er bietet nichts als einen Auszug aus Freinsheim, wie er sich kürzer kaum denken läßt. Dieser Kürze fällt jeder rhetorische Schmuck zum Opfer. Der Wert des Supplements besteht vor allem in der kritischen Haltung des Verfassers : I n Anmerkungen legt Cellarius seine Vermutungen über 1 Freinsheims Neigung zu Sentenzen wurde oben (vgl. S. 18, Fußnote 9) schon erwähnt.
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Form und Inhalt der verlorenen zwei Bücher dar. Zu dem ersten Kapitel heißt es beispielsweise : „Ut soient rerum antiquarum scriptores, videtur Curtius etiam de auctoritate, quam sequatur, praedixisse. Coniectura de Ptolemaeo et Aristobulo ex Arriani praefatione est; de Diodoro ex utriusque collatione . . .: quamquam dubium est, an Diodorum, quod recentior erat, eumque pressius nonnunquam sequebatur, nominatim manifestaverit." Aus dem Bergwerk der Freinsheimischen Supplemente fördert er so stets mit kundiger Hand die wichtigsten und zuverlässigsten Nachrichten zutage. Da das Supplement, genauer die „Coniectura de Supplemento" auf eine fortlaufende Darstellung der Ereignisse verzichtet, enthält es in seiner stichwortartigen Aneinanderreihung der Tatsachen mehr Informationen1 als das etwas längere Supplement von Bruno. Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde Cellarius' Supplement mehrfach abgedruckt, vor allem in den für die Schule bestimmten Ausgaben. Ein anderes Supplement ist jedoch noch häufiger in den Schulausgaben des 18. Jahrhunderts vertreten. Obwohl es nicht in lateinischer Sprache abgefaßt ist, soll es dennoch an dieser Stelle behandelt werden, da es einen guten Einblick in die Philologie jener Zeit gewährt. Der Titel dieser Curtiusausgabe mit deutschen Ergänzungen lautet: „Quintus Curtius Rufus, de rebus Alexandri Magni; captui juventutis accomodatus. worinnen 1. die Antiquitäten zulänglich erläutert 2. die härtesten constructiones leichter gemacht 3. die schweren Stellen durch Teutsche Paraphrases und Anmerckungen erklärt 4. die Idiotismi latini gezeigt und in den jetzigen Mode-Stylum übersetzt werden. Nebst Teutschen Summarien, Tewtschen Supplementis wie auch einer gantz neuen accuraten Land-Charte und Register"2. In seinem „Vorbericht" zu der Ausgabe legt der anonyme Verfasser dar, warum er es ablehnt, die schon vorhandenen Supplemente abzudrucken. Seinem ersten Argument gegen Freinsheims Ergänzungen kann man nur zustimmen: Sie sind für die Schule zu „weitläuffig". Seine weitere Begründung, daß Freinsheims „Stylus ebenso schwer als des Curtius seiner" sei, und daß ferner „die Jugend ihn so wenig als den Curtius ohne Erklärung lesen könne", sowie das Eingeständnis, daß Curtius auch für die Lehrer zu schwer sei, - dies alles gibt einen Einblick in die Anforderungen, die man zu jener Zeit an die sprachlichen Fähigkeiten zu stellen pflegte. Man erinnere sich nur der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit verbreiteten Ausgaben von lateini1
Cellarius berichtet z.B. von Memnons Tod oder von der Bestattung der am Granikos Gefallenen. Beides fehlt bei Bruno. 2 So der Titel der mir greifbaren 4. Auflage Augspurg 1734. Die erste Auflage erschien 1716 (danach 1718, 20, 34, 45, 47, 50, 57, 76). Der Herausgeber nennt sich nur mit seinen Initialen: J. M. H. M. Ph.
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sehen Autoren „ad modum Minellii"1, in denen ebenso wie in dieser Curtiusausgabe jede sprachliche Schwierigkeit den Schülern durch eine deutsche Paraphrase aus dem Wege geräumt wird. Zu jener Zeit ist die Kenntnis des Lateinischen auf ein Minimum gesunken. Es ist die Zeit des höfisch-modernen Bildungsideals, das in Frankreich von Fénelon vorgezeichnet worden ist. Unter der Herrschaft dieses Bildungsideals „verdrängt der moderne Weltmann den Gelehrten"2. „Die Philologie hätte sich danach umstellen müssen; aber sie fuhr nur die alten Geleise vollends aus."3 Wenn auch die meisten Einzelheiten dieses Prozesses noch nicht untersucht worden sind, so kann doch nicht daran gezweifelt werden, daß die Beschäftigung mit den antiken Autoren in dieser Zeit stark zurückgegangen ist4. Es handelt sich dabei um eine Erscheinung, die sich nicht auf Deutschland beschränkt, sondern in gleicher Weise in Frankreich, weniger ausgeprägt auch in England auftritt5. Nach diesem Exkurs nun zurück zu der Curtiusausgabe. Der Verfasser der im Titel angeführten „Teutschen Supplemente" hat nicht beabsichtigt, Curtius in irgendeiner Weise nachzuahmen. Auf wenigen Seiten hat er die wichtigsten Informationen zusammengetragen, so daß der Schüler sich ohne große Mühe über den Inhalt der beiden ersten Bücher unterrichten kann. Diese deutschen Curtiussupplemente bleiben - anders als die lateinischen - in ihrer Verbreitung auf das 18. Jahrhundert beschränkt. Die große Zahl der Supplemente und die Tatsache, daß bis zum Jahre 1850 in fast jeder Ausgabe ein Supplement zu finden ist6, läßt 1
Zu „ad modum Minellii" vgl. Bursian, a.a.O., I 375f. Die französische Ausgabensuite von lateinischen Autoren vom Ende des 17. Jahrhunderts unter dem Sammelnamen „in Usum Delphini" stellt etwas höhere Ansprüche. Sie bietet gleichfalls Paraphrasen, jedoch nicht in französischer, sondern in lateinischer Sprache. Diese Ausgaben werden bis zum Jahre 1820 wiederholt nachgedruckt. 2 Vgl. A. Reble, Geschichte der Pädagogik, 1960, 5. Aufl. S. 115. 8 Von Wilamowitz-Moellendorff, a.a.O., S. 34. 4 Bei einigen Autoren kann man die Regression zahlenmäßig nachweisen. Von 1650-1700 gab es z.B. 15 Ausgaben von Tacitus (opera omnia), zwischen 1700 und Í750 sinkt die Zahl der Ausgaben auf 9, und von 1750-1800 steigt ihre Zahl auf 29. Die entsprechenden Werte für Boethius lauten: 7; 3; 6. Statius: 5; 1; 4. Plautus: 11; 5; 11. (Die hier gemachten Angaben stützen sich auf Schweigers Handbuch der classischen Bibliographie, Leipzig 1832-34.) 5 Die griechische Sprache und Literatur wird in noch höherem Maße während dieses Zeitraumes vernachlässigt. Vgl. dazu Ulrich Schindel, Demosthenes im 18. Jahrhundert. Zehn Kapitel zum Nachleben des Demosthenes in Deutschland, Frankreich, England. Zetemata 31, 1963. 6 Einer englischen Ausgabe von 1716 (und 1746) ohne jedes Supplement steht eine holländische, „Curtius cum omnibus supplementis", curavit H. Snakenburg, Delphis et Lugd. 1724, gegenüber. Als Begründung für seine Handlungsweise gibt Snakenburg an: „nos omnia coniunximus, ut Primo (sc. Brunoni), qui huic damno sub venerai, suus servaretur honor; eruditione Freinshemii fruerentur
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sich wohl am ehesten dadurch erklären, daß Curtius längere Zeit hindurch (von 1600-1850 ca.) fest zum Kanon der Schulautoren gehörte1. Lag es doch im Interesse des Schulunterrichtes, daß dem Verluste gerade der ersten in die Handlung einführenden Bücher abgeholfen wurde. Erst seitdem Curtius von der Mitte des 19. Jahrhunderts an in der Schule nur noch ein Schattendasein fristet2, ist die Zahl der Curtiusausgaben verschwindend klein geworden. Aber auch in diesen wenigen Ausgaben ist zuweilen noch eins der Supplemente enthalten3. Findet man in der wissenschaftlichen Ausgabe der Bibliotheca Teubneriana von 1908 auch nicht mehr die Supplemente zu den ersten beiden Büchern, so sind doch die größeren Lücken im 5., 6. und 10. Buch durch Freinsheims Supplemente geschlossen4. Und noch heutzutage stellt sich einem Curtiusherausgeber die Frage, ob er den Text mit Freinsheims Supplementen edieren soll. So heißt es bei Henry Bardon, der im Jahre 1947 die Alexandergeschichte Curtius' in der Reihe „Belies Lettres" herausgab: „La narration de Freinsheim, d'un latin facile et pur, est jointe, dans certaines éditions, au texte de Quinte-Curce ; nous n'avons pas cru devoir nous conformer à cet usage"5. Supplemente zu Livius Sieben Jahre nach der Veröffentlichung seiner Curtiussupplemente gelangt Freinsheim an den schwedischen Königshof. Sein durch verschiedene wissenschaftliche Arbeiten begründeter Ruhm und seine schwedenfreundliche Haltung6 hatten ihm im Jahre 1642 die Berufung auf die Professur für Eloquenz an der Universität Upsala eingeboni; et ut festinantes taedio absolverentur; denique, ne quid a quoquam hic desideraretur". 1 F.A. Eckstein, Lat.-griech. Unterricht, Leipzig 1887, S. 204-206. 2 Eckstein, a.a.O., S. 206: „Die Bücher des Curtius können wegen des märchenhaften Tones der Erzählung und des Mangels an historischer Forschung als reales Bildungsmittel . . . nicht bestehen." 3 Z.B.: Curtius cum supplementis Freinshemii, Paris 1864; Leipzig 1872. Curtius cum supplementis Cellarii, ed. Henry Grosby, New York 1883. Eine Schulausgabe von Paul Menge, Gotha 1911, weist die Supplemente Freinsheims zum 5. Buch auf. * Q. Curtii Rufi, Historiarum Alexandri libri, ed. E. Hedicke, Leipzig, Teubner 1908, 2. Aufl. 6 Quinte-Curce, Histoires. Text établi et traduit par Henry Bardon, Paris 1947 („Les belles lettres"), Introduction p. XVIII, Ν. 2. Die zweisprachige Ausgabe in „Loeb Classical Library": Quintus Curtius with an English Translation, by John C. Rolfe, London 1956, gibt auf den ersten 59 Seiten die englische Übersetzung von Freinsheims Supplementen zu den beiden ersten Büchern. β Sein „Panegyricus Gustavo Adolpho scriptus" war 1632 erschienen. Im gleichen Jahr widmete er seine Ausgabe des Florus, Straßburg 1632, dem Kanzler Oxenstierna.
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tragen. Dort lernte ihn 1647 Königin Christina kennen und zog ihn als ihren Bibliothekar und Historiographen nach Stockholm. Freinsheim wurde so einer der ersten in der großen Reihe der namhaften Gelehrten, die für kürzere oder längere Zeit dem Rufe der „Pallas Septentrionalis" Folge leisteten1. Aus den Briefen Freinsheims, in denen er u.a. Isaac Vossius auffordert, nach Schweden zu kommen, oder die Bedenken Descartes', der noch zaudert, die Einladung der Fürstin anzunehmen, erfolgreich zerstreut, geht ebenso wie aus seinen bei feierlichen Anlässen vor der Königin gehaltenen Reden hervor, wie interessiert die hochbegabte junge Königin an allen Fragen der klassischen Studien, d.h. der Philosophie und Altertumsstudien, war2. Um die historischen Studien der Königin zu fördern, verfaßte ihr Bibliothekar eine Geschichte Roms der Jahre 293 v. Chr. bis 219 v. Chr., eines Zeitraumes, für den die entsprechende Darstellung bei Livius, die zweite Dekade, nicht überliefert ist. Freinsheim kleidete das in kurzer Zeit vollendete Werk in die ihm eigentümliche Form des Supplements. Es fand den Beifall der Königin, die sogleich seinen Druck veranlaßte3. Es erschien im November 1649 unter dem Titel: „Supplementorum Livianorum ad Christinam Reginam decas"4. 1
Vgl. H . W . Grauert, Königin Christina von Schweden u n d ihr Hof, Bonn 1837-42, Bd. I, S. 262. Ihren Hof suchten auf u . a . : H e r m a n n Conring, Hugo Grotius, J o h . Boeder, Claudius Salmasius, Sam. Bochart, Pet. Dan. H u e t , Rene Descartes, Nicolaus Heinsius u n d Isaac Vossius. Die beiden letzteren trugen für sie jene große Handschriftensammlung zusammen, die nach ihrem Tode in die Vatikansbibliothek überging. 2 Freinsheims Briefe, vgl. Grauert, a. a. O., Bd. I, S. 260-264. Seine Reden gab er 1655 in F r a n k f u r t heraus: „Orationes X X I I I in Suetia habitae cum quibusdam declamationibus". I n der 19. Rede heißt es: „Annon igitur haec regna t a n t u m sibi polliceri de faustissimo Principie huius imperio debent, q u a n t u m intellexit ille, cuius nobilissima sententia t u m demum felices f u t u r a e censentur Respublicae si aut sapientes regnent, a u t Reges sapientiam amplexentur ?" S. 370. 3 Freinsheim, Supplementorum . . . decas, Holmiae 1649, praef.: „pro eximia illa orbique nota bonitate T u a piacere Tibi conatum m e u m t e s t a t a es, ad eum finem, ut, t a m q u a m Tibi profuisset, a d aliorum etiam utilitatem publici juris fieri oportere judicares." 4 Freinsheims Supplement stellt nicht den ersten Versuch einer Ersetzung der zweiten Dekade dar. Leonardo Brunis (1369-1444) „de bello Punico primo", eine freie Übersetzung des Polybios, diente eine Zeitlang als Ersatz f ü r die zweite Dekade (z.B. ; T. Livius . . . addito Leonardi de primo bello punico, Venet. 1520). Brunis Werk war jedoch vom Verfasser selbst nicht als Liviussupplement geschrieben worden. I n der Regel erschien es auch getrennt von den Liviusausgaben. Es wurde häufig aufgelegt. 1487 wurde es in das Französische, 1540 ins Deutsche übersetzt. I n der deutschen Liviusübersetzung „Romische Historie uß Tito Livio gezogen, Mentz 1505" liest m a n zu Beginn der zweiten Dekade die Klage des Übersetzers Bernhard Schöferlin (S. 90) : „So f y n d ich grossen mangel an den Latinisch büchern. Nit das der römer manlich t a t t u n n d geschichten von den alten nit be-
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In der Vorrede, die ein schönes Dokument für die echte Dankbarkeit eines von Christina geförderten Gelehrten bietet, preist Freinsheim „humanitas" und „eruditio" der Fürstin. Den Plan, weitere Supplemente zu Livius zu schreiben, äußert er dabei noch nicht. Der Beifall, den die zweite Dekade fand, bewegt ihn jedoch vermutlich, das Unternehmen sogleich fortzusetzen. Neben vielen anderen zeitraubenden Verpflichtungen und trotz seiner Kränklichkeit1 betreibt Freinsheim so intensiv seine Studien, daß schon im Jahre 1654 ein weit umfangreicherer Teil, nämlich Supplemente zu den Büchern 46-95, erscheint2. Wahrscheinlich erst kurz vor seinem Tode (1660) hat Freinsheim dies einzigartige Werk vollendet. Der Druck der letzten 45 Bücher, Supplemente zu Buch 96-140, zog sich aus diesem Grunde hinaus. Endlich wurde das Manuskript den Erben aus der Schatulle Ludwig des XIV. abgekauft3 und zuerst in der Ausgabe Livius in Usum Delphini, Paris 1679, veröffentlicht4. Als Grundlage seiner Ergänzungsarbeit haben Freinsheim die Periochae zu Livius gedient, die bis zum Buch 142 vorliegen, mit dem das - vermutlich durch den Tod des Livius unvollendet gebliebene schriben, Sonder das die besten bucher durch verlassikeit der nachkommen verseht/ unnd verloren syen." Er verspricht: „allen vlyß ankeren / unnd uß allen buchern die ich erfarn mag, die nachgenden geschichten der romer (glycher wyse Als die binen honig uß manchen blumen versameln) also will ich nach mynem besten vermögen diß buch ze samen bringen / unnd uß vil historien ersetzen." Eine italienische Liviusiibersetzung enthält ebenfalls ein Supplement zur zweiten Dekade: „Le Deche die Tito Livio trad, da Jacopo Nardi . . . accresciutte del Supplimento della Seconda Deca da Francesco Turchi. Venet. 1575." Freinsheim hat dies Supplement vermutlich gekannt und benutzt. Denn sowohl Turchis wie auch sein Supplement (Suppl. Liv. 20, 64) enden mit dem Bericht von dem Auftreten des ersten Arztes in Rom (vgl. Plinius, n.h. 29, 12). 1 Aus Gesundheitsrücksichten verläßt Freinsheim 165Í Schweden. 2 Supplementorum Livianorum tomus prior libros LX continens Arg. 1654. Er enthält Buch 11-20, 46-95. (Nachdruck: 1662) 1674 wird er erneut nachgedruckt unter dem Titel: „Vetua Romana historia si ve supplementa Liviana". 3 Vgl. Vine. Paravacinus: Singularia de viris eruditione claris, Basel 1713, p. 35. 4 Livius, historiarum libros ed. J . Doujatius in Usum Delphini acc. Librorum deperditorum supplementa per J . Freinshemium, Paris 1679, 4 voll. Doujat hat selbst Supplemente zu den kleinen Lücken in den Büchern 41, 43, 44 und 45 verfaßt und in dieser Ausgabe abdrucken lassen. Doujats Supplemente entsprachen nicht dem Geschmack der durch Freinsheims Supplemente verwöhnten Leser. Man druckte sie in den Liviusausgaben mit ab, aber nur bis zum Jahre 1735. Denn in diesem Jahr erschien Creviers Liviusausgabe mit neuen Supplementen zu den Lücken in den vier Büchern (41, 43, 44, 45). Creviers Supplemente wurden allgemein gebilligt. Vgl. Drakenborch, Livius . . . 1738, Bd. 7, S. 76: „ad haec supplementa Freinshemii alia, quae clarissimus Crevierus lacunis librorum, quibus Freinshemius non providerat explendis concinnavit, et prioribus Doujatianis, Livii neque stilo ñeque diligenti rerum narrationi respondentibus, substituit, itidem recepì".
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Erster Teil
- Werk abbrach. Das Füllmaterial stammt aus den Schriften antiker Autoren, die Freinsheim mit großem Fleiß auf historische Informationen hin durchlas1. In einem alphabetisch angeordneten, von Aelian bis Zonaras reichenden Katalog2 der benutzten Quellen fehlen neben den Historikern, Epistolographen, Antiquaren, Dichtern und Grammatikern auch die Kirchenväter und Philosophen nicht. Inschriften sind nur in geringem Maße zur Ergänzung hinzugezogen worden3. Anders als bei Curtius' Alexandergeschichte bietet sich Freinsheim zur Ergänzung des Livius nicht ausreichendes Material dar. Die Fülle der livianischen Darstellung kann er darum nicht erreichen4. Seinem Prinzip, die Rolle des zu supplierenden Autors zu übernehmen, wird Freinsheim nach einem Drittel der Arbeit untreu, da sich zu große Schwierigkeiten diesem Unterfangen entgegenstellen. Diese zum Nutzen des Lesers übernommene Rolle könne er nicht mehr tragen: „Sed ego quidem hactenus, ut licuit, historiae Livianae detrimenta, quamquam eloquentia copiaque longe impari, conquisitis undique supplementis, ita resarcire studui : ut nullum posterions aetatis vestigium notaretur; gratiora studiosis rerum Romanarum, quae componebam, fore arbitratus, si sub qualicumque colore magni nominis, et tamquam antiquis temporibus scripta, legerentur. Illud autem propositum diutius retiñere difficultas tradendarum rerum vetat. Nam penuria scriptorum plurima ignorare, de plerisque dubitare cogor, quae, cum viveret Livius, recentis adhuc memoriae, publicisque ac privatis monumentis plurimis et certissimis compertissimafuerunt"5. Es folgt eine Klage über die Verluste der römischen Literatur. Er sei nicht mehr in der Lage, die Maske des Livius fernerhin zu tragen, da ihm nicht ebensoviel Quellen bei seiner Arbeit zur Verfügung stehen. Im 62. Buche z.B. habe Livius das Konsulat des Marcus Aemilius Scaurus (115 v. Chr.) nach dessen - inzwischen verlorener Autobiographie (3 Bücher ,,de vita sua") darstellen können. Er ziehe es darum vor, jetzt die Maske abzunehmen. „Igitur persona, quam sustinere nequeo, deposita; ñeque meam aetatem ultra, ñeque Joannis Freinshemii nomen dissimulabo; sed, Deo bene adjuvante, quidquid Livianis annalibus tractatum periit, Epitomarum vestigia legens, ita pertexere conabor, ut opinioni CHRISTINAE Reginae, quae mihi titulum Historiographie sui non 1
Die Quellen sind - oft sehr ungenau - am Rand jeweils angegeben. Freinsheim, Supplementorum . . . decas, Holmiae 1649, S. 513f.: Auctorum omnium quorum fide supplementum hoc nititur catalogue. 3 Das lateinische Inschriftenmaterial lag seit Janus Grater : „Inscriptiones antiquae", 1602/03 gesammelt vor. 1 Die insgesamt 105 Bücher der Supplemente sind nicht viel länger als die 35 erhaltenen Bücher. 6 Suppl. Liv. 62, 44. 2
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rogata, sed tamquam merituro, tribuit; si non facundia, diligentia certe et fide respondeam." 1 Froh über die Befreiung von der zur Last gewordenen Rolle des Livius widmet Freinsheim das folgende Kapitel dem Lob der schwedischen Königin. Gleichsam an einem neuen Anfang des Werkes stehend verspricht er, die von Livius behandelte Geschichte mit aller Sorgfalt und unter Berücksichtigung der historischen Zuverlässigkeit der einzelnen Zeugen zu vollenden. Der Wechsel in der Schreibart gibt ihm auch Anlaß, seine Arbeit mit den Werken der Alten zu vergleichen. Wie sehr er sich auch seinen Zeitgenossen überlegen fühlt, was er an anderer Stelle einmal deutlich ausspricht 2 , so ist er im Einklang mit den herrschenden Anschauungen seiner Zeit davon überzeugt, die Antike nicht erreichen zu können; als einzigen Vorteil gesteht er sich die Befreiung vom Heidentum zu. „Ceterum, tamquam in principio operis, testifican licebit, eo me animo ad historiam scribendam accedere, ut nemini legisse earn aliquando fraudi noxaeque, sed utilitati potius atque emolumento fore confidam. Temporum enim eorum scriptores omnes, ceteris fortasse rebus quolibet antiquorum inferior, una illa, sed eadem sane maximi momenti re superaturum esse ominor, quod Christianae philosophiae praeceptis institutus inhaerensque, nullas illorum more, sub blandae eloquentiae involucris, exitiosas moribus insidias struam" 3 . Seine Auffassung von den moralischen Aufgaben der Geschichtschreibung illustriert er im folgenden Abschnitt mit der Anspielung auf einen Mythos. Seine Arbeit, die darin besteht, die in einzelne Teile zerstreute römische Geschichte zu sammeln, lasse sich mit der Suche nach den zerstreuten Gliedern des zerrissenen Osiris vergleichen, dessen Schamteile allein nicht wieder aufgefunden werden konnten. So solle der Leser nichts Anstößiges in seinem Werke finden. Laster und Fehler werde er so schildern, daß sie Abscheu erregen. 1
Suppl. Liv. 62, 45. Suppl. Liv. libri LX, Arg. 1654, praef.: „Materia, vetus Romana historia, quatenus a Livio quondam expósita, in multis aliis antiquorum libris varie dispersa latuit verius quam extitit. Hanc ego pro virili parte erui, contexui, etiam expolivi; hactenus utique, ut situs atque squalor detergeretur. Adhibui tamen diligentiam et judicium, quod potui, et Tibi quidem judicare licet, benigne Lector, me vero non piget confiteri de animi mei sententia: me neutiquam metuere, ne quia ex omnibus his scriptoribus, qui sunt in hominum manu, aliquid ejjiciat in hoc genere concinnius, copiosius, verius." 3 Suppl. Liv. 62, 47. Da Freinsheim nun nicht mehr in Livius' Geisteshaltung schreibt, kann er vom christlichen Standpunkt und von der Warte des modernen Historikers aus über die Aufnahme Caesars in die Zahl der Götter folgendes schreiben: „Hoc primum Romae impiae stoliditatis exemplum fuit: a quo postea manavit mos absurdissimus, defunctos Imperatores appellandi „deos", quos vivos ne Reges quidem appellari majorum gravitas tulerat." (Suppl. Liv. 116, 97). 2
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„Mihi enim Romanam historiara varie sparsam, atque saepe in minutissimas partículas dissectam, redintegranti, quum Hippolyti et Osiridis fabulae observentur animo, similitudinem Osiridis praetulerim; cujus quum lacerata et disiecta membra colligerentur, pudendas partes nusquam comparuisse memorant. Eadem mihi opera sedulo dabitur, ne quid superstitione spurcum, aut adulatione foedum, aut qualibet vitiorum labe pudendum, etiamsi ut ab aliis dicta factave referri neccessum erit, me auctore quisquam amet probetve"1. Er verzichtet jedoch nicht auf die Erwähnung und Aufzählung von Prodigien. Er begründet diese Handlungsweise mit dem Mangel an anderen historischen Informationen, mit dem Hinweis auf die politische Bedeutung der Prodigien im Altertum und mit der Verpflichtung, in seiner Ergänzung alles das zu berichten, was auch Livius aufgezeichnet hat. „Sed mihi talia (sc. prodigia) saepe referenti faciundum omnino videtur, ut quo proposito quaque caussa haec recenseam, et quale de his concipiendum judicium putem, semel exponam. Ego vero, quod in vetustioribus libris reperiebam, quum saepe his recisis pauca de quorumdam annorum gestis superessent, quadam necessitate, et quia subinde inerant, quae congnoscere cupidi antiquitatis non nollent ; nequaquam praetermittenda censui : praesertim quum priscis temporibus tanti haberentur, ut in iis saepe Senatus populi Romani, Sacerdotesque, diu plurimumque fuerint occupati. Accedebat, quod idem a Livio diligenter factum esse videbam: neque consilium erat, historiam illius utcumque supplenti, praeterire, quae ab ipso pertractata fuisse constaret"2. Hin und wieder streut er dann im folgenden bei der Erwähnung von Prodigien Bemerkungen ein, in denen er sich vom Dargestellten distanziert, z.B. „Pudet referre vanissimae superstitionis sordes: nisi vel ideo magis sunt referendae, ut intelligamus, quam turpi dementia orbem terrarum Christiana disciplina liberaverit"3. Den letzten Büchern - sie sind kurz und trocken - merkt man die Unlust an, mit der Freinsheim die übernommene Arbeit fortführte. Man spürt, wie er dem Ende zueilt. Ein Schluß, wie er sich bei Livius mit dem Tode des Drusus darbietet, kann Freinsheim nicht befriedigen. Für ihn als christlichen Historiker findet die römische Geschichte ihren Abschluß mit dem Hinweis auf die Geburt Christi und dessen mächtigere Herrschaft. Er beschließt sein Werk mit den Worten: „Ceterum praesenti labori meo in his temporibus actisque finem fació, circa quae Livianam etiam historiam desiisse indicio Epitomarum deprehenditur ; toto animo versus in majoris et constantioris Imperii auctorem dominumque JESUM CHRISTUM, quem sub hosce annos 1 2 3
Suppl. Liv. 62, 48. Suppl. Liv. 71, 3. Suppl. Liv. 77, 38.
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Supplemente zu Livius
(de natali enim eius haud levibus argumentis inter doctos disputatili·) hominem natum suus adspexit potius quam adgnovit orbis. Hujus beneficio, si quid utiliter elaboravi, debere me totum profiteor : eumque suppliciter oro, ut porro mentem eam mihi servet, omnia, de quibus hic scripsi Regna, victorias, Triumphos nullo modo digna reputantem, ob quae illius sanctissima secta, aut quidquid ea facere ac pati iubet, ulla ex parte negligatur"1. Welchen Eindruck die Liviussupplemente bei Freinsheims Zeitgenossen hervorgerufen haben, kann man in einer Gedenkrede auf den Verstorbenen nachlesen. Es heißt dort: „. . . supplementa Liviana, opus magnum, et, sine figura loquor, incomparabile, cum enim Historiae Romanae princeps iam multis a seculis, parte sui meliore ac potiore truncatus atque conclamatus esset, eaque de caussa doctissimorum virorum gravissima© quidem et iustissimae querelae passim audirentur, sed de remedio nemo ne cogitare quidem auderet, unus Freinshemius exortus est, qui plusquam Hercúleo ausu, laborem infinitum ac difficillimum eo ardore suscepit, eo ingenio et industria tractavit, ea felicitate absolvit, ut periisse
Livium
propemodum
placeat,
quo
tanto felicius renasceretur"2. Ähnliche Lobeserhebungen über Freinsheims Werk finden sich während der nächsten 200 Jahre in den meisten biographischen Handbüchern, Enzyklopädien und Literaturgeschichten3. 1 Suppl. Liv. 140, 32. U m den Verdacht zu entkräften, Freinsheim schließe sein Werk vorzeitig mit dem 140. Buch, während Livius 142 Bücher geschrieben habe, sei der Hinweis gestattet, daß Freinsheim - von einer einzigen Ausnahme abgesehen — in allen Liviusausgaben die Zahl der Bücher mit 140 angegeben fand. Einzig Sigonius h a t t e (Livius, Ven. 1566) auf das Fehlen zweier Epitomae nach Epitome 135 hingewiesen. E r s t seit 1857 (Livius, ed. M. Hertz, Lips.) setzt sich in den Ausgaben die Zählung von 142 Büchern durch. 2 Joannis Freinshemii Laudatio Posthuma, auctore Abrahamo Freinshemio, 1661, S. 16f. (Abraham Freinsheim war ein Neffe J . Freinsheims.) Le Telliers Urteil über die Curtiussupplemente (S. 19) stimmt auffallend damit überein. 3 Oft werden die Formulierungen der Laudatio Posthuma wiederholt. Dafür ein Beispiel: Adrien Baillet, Jugemens des Savans, Amsterdam 1725, nouvelle édition, I I , 244: „ Q u e l q u e s - u n s estiment encore davantage les Supplémens qu'il a faits de Tite-Live, ils disent que c'est u n Ouvrage incomparable et qui mérite d'être mis au nombre des t r a v a u x d'Hercule pour la difficulté de l'execution. mais qu'il en est venu à bout très-heureusement, et qu'il y paroit t a n t d'esprit, de jugement, et d'industrie, qu'on seroit presque fâché de n'avoir point perdu Tite-Live." Weitere Urteile: D. W . Moller, Dissertationes L . . . , Nürnberg 1683-98. Diss. X X , 1688, S. 21: „ u t ita merito orbi erudito gratulandum sit, quod supplementum Livianum, a Freinshemio egregie adornatum, nunc (d.h. in D o u j a t s Ausgabe, 1679) integrum prodierit." Acta Eruditorum, Lipsiae 1683, S. 86 (in der Rezension der Ausgabe von Doujat): „Freinshemii solius ingenii felicitas et doctrinae copia . . . " Thomas Crenius, de Philologie, Lugd. 1696, S. 383: „erudita Supplementa Freinshemii."
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So fehlten die Supplemente in den wichtigsten Liviusausgaben dieser Zeit nicht. Clericus (1710), Crevier (1735) und Drakenborch (1738) gaben sie - dem Vorbild Doujats (1679)1 folgend - heraus. In zahlreichen Nachdrucken finden sie sich bis zum Jahre 18252. Die Liviusiibersetzer verschiedener Länder kamen dem Wunsche der breiten Öffentlichkeit, die die bewunderten Supplemente kennenlernen wollte, mit Übertragungen in die Landessprache entgegen3. Den Ruhm des Werkes hat wohl nicht zuletzt die Sorgfalt, mit der Freinsheim alle ihm erreichbaren Nachrichten zusammentrug, begründet. Hearne nennt es: „spissum opus et magnae diligentiae"4. Dieses Urteil kehrt J . H . Boeder, Bibliographia Critica, ed. J . G. Krause, Lips. 1715, S. 273: „Aiicipitis plenum negotii certamen, comparari antiquis velie. Nisi quod unus omnium forte sui exempli partes singulas optime expressisse videtur, qui Curtii et Livii d a m n a magna vi ingenii et eloquentiae sarcire contendit. I d loco et tempore et ratione factum, cum aliorum scripture et historia hactenus nil commune habet." D. G. Morhof, Polyhistor Literarius, Lübeck 17084, I. Bd., S. 858: medelam ingenti jacturae h a u d q u a q u a m vilipendendam attulit J o h . Freinshemius... " G. E. Müller, Historisch-critische Einleitung zu nöthiger Kenntniß u n d nützlichem Gebrauche der alten lateinischen Schriftsteller, Dresden 1747-49; 3. Theil, S. 117: „ . . . die so schönen u n d schätzbaren Ergänztingen, oder Supplementa des J o h . Freinshems. Dieser fürtreffliche Mann, der auch den Curtius so schön ergänzet, ü b e r n a h m die schwere Arbeit, auch das Yerlohrne des Livius, durch einen bewunderungswürdigen Fleiß, aus anderen Scribenten, herzustellen. E s geriet i h m auch selbige so schön. . . " Th. Chr. Harles, Introductio in Notitiam Litteraturae Romana®, Nürnberg 1781, I I . Theil, S. 412: „Quae in Livio desiderantur, ea eleganter docteque restituit J o . Freinshemius . . . summo studio diligentiaque . . . congessit atque feliciter explicuit." F . A. Wolf, Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft, hg. von J . D. Gürtler, Leipzig 1831,1, S. 488: „Freinsheim ist a m meisten durch seine K u n s t b e r ü h m t , durch die er den Livius ergänzt h a t . E r sucht auch so ziemlich den Stil des Livius nachzuahmen . . . " I I I , S. 270: „ . . . sein Fleiß ist g u t . " F . Schoell, Histoire abrégée de la Littérature Romaine, Paris 1815, I I . Bd., 5. 35: J e a n Freinsheim, savant Allemand du dix-septième siècle, a composó une suite de supplémens . . . il y a admirablement imité le style et la manière de Tite-Live . . . ce travail, qui fait honneur au goût et à l'érudition de l ' a u t e u r . . . " Th. Vallaurius, Historia Critica Litterarum Latinarum, Aug. Taur. 1864, 6. Aufl., S. 90: „Sed omnium maxime laudandus est Joannes Freinshemius, vir sane immortalitatis dignus, . . . romani historici stilum atque elegantiam, quant u m fieri posset, imitatus." 1 Vgl. S. 27. 2 Zwischen 1714 u n d 1825 gibt es m . W . elf Nachdrucke. 3 Ins Englische: 1686, 1745, 1761; ins Französische: 1653, 1696 von du R u y e r , sehr oft nachgedruckt; 1742 von B r u n e t ; 1769 von Guerin; ins Italienische: 1824; ins Portugiesische: 1828. Eine deutsche Übersetzung k a n n ich nicht nachweisen. 4 Livii Historiarum libri, ed. Th. Hearne, 1708, praef. (Das dort gegebene Versprechen „supplementa editurus seorsim" wird nicht eingehalten, vermutlich, weil 1710 Clericis Liviusausgabe mit den Supplementen zuvorkommt.)
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Supplemente zu Livius 1
in abgewandelter Formulierung immer wieder . Der Stil der Supplemente erreicht nach der vorherrschenden Meinung nicht die livianische Vollkommenheit2. Drakenborch stellt eine im Verlauf des Werkes zunehmende Nachlässigkeit fest : „In prima parte quaedam, sed pauca, in secunda et tertia longe plura observavi, quae stilo Livii et aequalium scriptorum convenire nequeunt"3. Ähnlich urteilt F. A. Wolf über die Supplemente: " . . . Freinsheim hat die fehlenden facta im Stile des Livius bearbeitet. Seine Latinität ist aber nicht weit her und nicht musterhaft."4 J.G. Eichhorn führt Freinsheims Ergänzungen als Beispiel dafür an, wie groß der Rückgang in der Beherrschung der lateinischen Sprache während des 17. Jahrhunderts gewesen sei: ,,. . . man gewöhnte sich so stark an den Gebrauch vieler unreiner und unlateinischer Wörter, so gar aus den mittleren Zeiten, daß selbst vorzügliche Philologen, wie Johann Freinsheim in seinen Supplementen zum Curtius und Livius, von Wörtern und Ausdrücken sich beschleichen ließen, die nur in späteren, wohl gar nur in mittleren Schriftstellern vorkommen"5. Der Leser der Supplemente stößt in der Tat auf viele nachklassische Vokabeln, z.B. „perplexitas" (Suppl. Liv. 120, 86), „res annonaria" (97, 25), „iuvencula" (97, 40), „quaquaversum" (128, 36), „obryzum" (98, 16), „abnavigare" (98, 14; 97, 47), „occla1 Z . B . Ersch-Grüber, Enzyklopädie . . . s . v . Freinsheim, Bursian, a . a . O . , B d . I , S. 238. 2 Die allgemein herrschende Ansicht über den Stil der Supplemente gibt z.B. der Polyhistor Conrad Samuel Schurtzfleisch wieder: „Supplementa Liviana Freinshemii variam eruditionem autoris probarunt, aliquot t a m e n formulae non Latinae, non opinanti, exciderunt." (Introductio in Notitiam Scriptorum variar u m a r t i u m a t q u e scientiarum, Vittenbergae 1736, Teü I I , S. 76). Als einziger ist anderer Ansicht D. H . Morhof, a . a . O . , Buch IV, K a p . X I , S. 150: „stilo non inconcinno Supplementa Liviana s t r u x i t . " 3 Livü Historiarum libri, ed. Drakenborch, 1738-1746, 7. Bd., praef. S. 76. Differenzierter äußert sich Clericus in der Vorrede zu seiner Ausgabe (Livius, Amst. 1710, 1. Bd.): „Quin et hoc adjicere, sine ulla invidia, u t puto, possumus, virum ingeniosum et eruditum Supplementa ilia sua scripsisse, t a n t a sermonia elegantia, praesertim secundum Decadem, seu librum X I et novem sequentes, qui . . . a b ipso vivo editi et expoliti fuerunt, nihil u t in ilio genere elegantius fieri nunc posse putem. Conciones illic habet adeo ingeniosas, adeo disertas, u t quamvis puritate et elegantia Latini sermonis non eum modo, sed omnes alios Recentiores m u l t u m anteeat Livius, ad res ipsas, quod adtinet, ordinemque et perspicuitatem, vix quidquam melius a b ipso fieri potuisse omnino existimem. Adi, Lector, orationem Tribunorum contra Claudiam Vestalem, quae legitur Lib. X I X , c. 41 et sqq., eaque perfecta, judicium hoc nostrum, si potes, reprehende. Cum decern hosce Libros laudo, non ideo alios, qui post mortem ejus prodierunt, sperno, aut vitupero; quos magno sane in pretio habeo, quamvis, u t mihi quidem videtur, non usque adeo elaborates." 4 F . A. Wolf, Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft... 3. Bd., Vorlesung über die Geschichte der römischen Litteratur, 1832, S. 270. 5 J . G . Eichhorn, Geschichte der Litteratur, Göttingen 1805ff. 3. Bd., 1. Abtheilung, 1810, S. 326.
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mare" (97, 21), „suspiciuncula" (128, 42)1. Auch der Satzbau entspricht nicht dem des Livius. Statt abgerundeter Perioden findet man abgehackte Kola, z.B.: „Gallio magistratum abrogarunt collegae: populus diripuit domum : Patres capitis damnaverunt, alii formidine, multi favore, pars magna praemiis incitabantur" 2 . Der allgemeinen Wertschätzung, der sich die Supplemente für lange Zeit erfreuten, taten diese sprachlichen und stilistischen Mängel jedoch keinen Abbruch. So liest man in J . A. Fabricius' „Bibliotheca Latina", dem Standardhandbuch des 18. Jahrhunderts: „Qui judicare possunt, fatebuntur, egregium opus esse, quale singulis seculis vix singuli conficere possint." Er fährt dann fort: „Ac dolendum est, ea (sc. supplementa) vix hodie legi" 3 . Geblieben ist in diesem Urteil die Anerkennung einer einzigartigen Leistung ; neu ist zu diesem Zeitpunkt - im Jahre 1773 - die Klage über das mangelnde Interesse an den Supplementen. Im folgenden soll versucht werden, den Gründen nachzugehen, die zu dieser Vernachlässigung führten : An den Schulen, die den Curtiussupplementen bereitwillig offenstanden, war für dieses voluminöse Werk kein Platz. Die Liviuslektüre, die seit den Tagen der Humanisten ihren festen Platz im Lehrplan hatte, erstreckte sich im allgemeinen nicht über mehr als eine Dekade 4 . In der Regel trugen Auswahlausgaben aus Livius - unter vornehmlicher Berücksichtigung der Reden den Bedürfnissen des Unterrichtes Rechnung. Zwar wird den Schülern gelegentlich die Lektüre der Supplemente empfohlen, es geschieht dies aber unter soviel Einschränkungen, daß man leicht erkennen kann, für wie wenig durchführbar die Ratgeber selbst diese Lektüre hielten 5 . Nur einmal begegnen m . W . die Supplemente in einem für Schüler bestimmten Werk. Der schon oben erwähnte J.G. Eichhorn hat in seiner „Antiqua historia, ex ipsis veterum Scriptorum Latinorum narrationibus contexta" 6 große Teile von Freinsheims Supplementen 1 Die ersten fünf der angeführten Vokabeln finden sich erstmals in Schriften des 4. nachchristlichen Jahrhunderts. Die letzten drei lassen sich in keinem der üblichen Lexika nachweisen. (Als Hilfsmittel dienten neben dem Thes. LL Georges, Lewis-Short, Forcellini.) 2 Suppl. Liv. 120, 7. 3 J. A. Fabricius - J. A. Ernesti: „Bibliotheca Latina aucta", Leipzig 1773/74, S. 292. Dieser Passus stammt von Ernesti. Fabricius hat in den ersten Auflagen (z.B. Venedig 1728) die Supplemente stets lobend erwähnt, ohne über mangelndes Interesse an ihnen zu klagen. 1 Eckstein, a.a.O., S. 225ff. 6 G. E. Müller, Historisch-kritische Einleitung . . ., 3. Theil, S. 158: „. . . die großen Lücken, welche der Verlust so vieler Bücher des Livius macht, müssen sie (sc. die Schüler) entweder schlecht und recht, aus den Epitomen, ausfüllen, oder, wenn sie Zeit und Fähigkeit haben, müssen sie die schönen Ergänzungen des Freinshems dabey zu Rathe ziehen." 6 J. G. Eichhorn, Antiqua Historia . . . Göttingen 1811.
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aufgenommen. Bezeichnenderweise rät er den Lehrern: „Servandos tarnen censemus tales locos privatae magis et domesticae juvenum diligentiae, quam publicis lectionibus tractandos, quorum argumentum scholarum magistris suaderem viva tantum voce praeire, privataeque discipulorum diligentiae relinquere, ut narrata ipsis lingua patria domi perlegant in talibus supplementis a recentiore aliquo scriptore latinis verbis expressa"1. Von der englischen akademischen Jugend schien man immerhin die Kenntnis der zweiten Dekade zu erwarten, wie zwei Ausgaben aus der Mitte des 18. Jahrhunderts „in usum iuventutis academicae" vermuten lassen2. Einen festen Leserkreis fanden für längere Zeit die Supplemente bei allen, die die römische Geschichte kennenlernen wollten ; denn zusammen mit den erhaltenen Büchern des Livius boten Freinsheims Ergänzungen die „erste zusammenhängende Darstellung der römischen Geschichte bis auf Augustus" 3 . Rund 50 Jahre lang behaupteten sie diese Stellung als einzige römische Geschichte. Im Jahre 1710 fordert dann der Rezensent der Liviusausgabe „Livius cum supplementis, ed. Clericus, 1710" dazu auf, eine römische Geschichte in französischer Sprache zu verfassen4. Es vergingen noch 15 Jahre, bis dieser Gedanke in die Tat umgesetzt wurde. Dann erschien die „Histoire Romaine" (1725ff.) der Jesuiten Catrou und Rouillé, eine trockne Materialsammlung in 20 Bänden, und bald darauf die „Histoire Romaine" (1738fiF.) von Charles Rollin. Über die römische Geschichte von Catrou und Rouillé urteilt Johann Matthias Gesner folgendermaßen: „ E t hi Galluli parum profecto profecissent sine Freinshemio nostro, cuius Supplementa Liviana sunt quasi fundus ; quo usi potuerunt tanto felicius systema condere"5. Rollins Histoire lehnt sich ebenfalls stark an Freinsheim an®. Seine elegante, von moralischen Reflexionen Eichhorn, a.a.O., praef. S. V I I I . J. Freinshemii, Supplementorum libri X in locum decadis secundae Livianae deperditae. In usum iuventutis academicae, Oxonii 1746; 1768. 3 Vgl. C. Wachsmuth, Einleitung in das Studium der Alten Geschichte, Leipzig 1895, S. 12. 4 Bibliothèque Choisie par Jean le Clerc, Amsterdam 1703ff., Bd. 19, 1710, S. 205: „ L a lecture de cette Histoire m'a fait venir une pensée, que quelque habile homme pourroit effectuer, et qui seroit très-utile au Public. C'est qu'il seroit à souhaiter que quelcun entreprit d'écrire en François l'Histoire Romaine." 6 J. M. Gesner, Primae lineae Isagoges in Eruditionem universalem, ed. Nicol. Nielas, Leipzig 1784, Bd. I, S. 417. β Β. G. Niebuhr, Vorträge über römische Geschichte, 1846, Bd. I, S. 72: „Als römische Geschichtsschreibung ist nicht zu rechnen, was der würdige Rollin aus Livius und Freinsheims Supplementen geschrieben hat." Rollin urteilt über Freinsheim in seiner „Histoire ancienne . . . Halle 1756, 4. Bd., S. 800: „Jean Freinshemius a tâché de consoler le Public de cette perte par ses Supplémens; et il y réussi, autant que la chose étoit possible. La Republique Litéraire lui a une obligation infinie . . . " 1 2
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Erster Teil
durchtränkte Darstellung sprach ein breites Publikum - vor allem auch die Jugend - an1. Zu diesen beiden Darstellungen der römischen Geschichte kamen bald weitere hinzu, z.B. „An Universal History", London 1736ff., in der deutschen Übersetzung als „Algemeine Welthistorie" von Jacob Baumgarten, Halle 1744 ff. herausgegeben, „The Roman History" by Ν. Hooke, London 1738ff., „General History of the World" by Guthrie and Gray, London 1764ff., die Christian Gottlob Heyne als „Allgemeine Weltgeschichte" in Deutschland herausgab, Göttingen 1765ff., „Storia Romana" von Gaspare Garzia, Napoli 1778ff., „Romeinsche Geschiedenissen" door M. Stuart, Amsterdam 1793ff., „Histoire critique de la République Romaine" par PierreCharles Levesque, Paris 1803; - und in allen diesen Werken werden Freinsheims Supplemente als Quelle benutzt. Infolge ihrer Verbreitung schränkten sie das Interesse an Freinsheims Supplementen auf einen engeren Gelehrtenkreis ein. In diesem wurde Freinsheim weiterhin bis ins 19. Jahrhundert hinein gelesen. Die wohlfundierte Kritik Niebuhrs muß die Unentbehrlichkeit des Werkes noch für seine Zeit zugeben: „An einzelnen Factis hat Freinsheim wenig unbemerkt gelassen, aber die Anordnung der Umstände in den dunklen Zeiten und das tiefere Begreifen der Zeit sind ihm nur unvollkommen gelungen. Er hatte keinen Begriff vom römischen Staat weder in Kriegsnoch in Friedensverhältnissen; er bildet sich aber doch auf seine civilis prudentia viel ein. Für die zweite Dekade, besonders Buch 11-15 und auch etwa Buch 46-60, hatte er vollständigere Materialien und benutzte sie frisch und rüstig, weiterhin wird er immer sorgloser und vom Bundesgenossenkrieg an ganz schlecht. Dennoch ist das Buch von keinem zu entbehren, der die römische Geschichte bearbeitet. Freinsheim ist ein Mann, der mit seinen Landsleuten Boeder und Obrecht unter die Zierden Deutschlands seiner Zeit zu rechnen ist. Daß er sein ungeheures Werk nicht gleichmäßig fortgesetzt hat, ist sehr verzeihlich ; die Verkehrtheit des Unternehmens an sich ist dem Geschmack seiner Zeit zuzuschreiben"2. 1 Rollins Werk wurde bald ins Deutsehe übersetzt. „Rollins Antike Geschicht e " , übersetzt von H. Müller, Dresden 1738ÍF., 13 Bde. 2 Niebuhr, a.a.O., Bd. I, S. 70. An anderer Stelle (B. G. Niebuhr, Römische Geschichte, Berlin 1827, 2. Ausgabe, 1. Th. S. 5) heißt es: „Mit Livius als Geschichtschreiber wetteifern zu wollen; zu wähnen es ließen sich die verlornen Theile seines Werks ersezen, wenn nur der Stoff reichlicher wäre; würde lächerlich seyn."
Supplemente zu Tacitus Zwei Gelehrte haben fast zur gleichen Zeit Lücken in Tacitus' Schriften zu schließen gesucht: Sir Henry Savile (1549-1622) und Justus Lipsius (1547-1606). Saviles Name ist heute so gut wie vergessen. Zu seiner Zeit war er als einer der bedeutendsten englischen Philologen im In- und Auslande gleichermaßen anerkannt1. Das erste Werk, mit dem er hervortrat, war eine Übersetzung von Tacitus' Historien ins Englische mit einem reichen Kommentar und einer Einleitung versehen, die den Sturz Neros und die Übernahme der Macht durch Galba schilderte, Ereignisse, für die der entsprechende Bericht bei Tacitus - der Schluß der Annalen - verlorengegangen ist2. Die Übersetzung gefiel allgemein und wurde wiederholt nachgedruckt. In der gelehrten Welt wurde bald der Wunsch nach einer Übersetzung des Kommentars und der Einleitung ins Lateinische geäußert3. Freinsheim - er beherrschte mindestens zehn Sprachen - kündigte im Nachwort seiner Tacitusparaphrase den Entschluß an, diese Aufgabe zu übernehmen4. Er gelangte jedoch nicht zur Ausführung seines Vorhabens, da ihm Isaac Gruter im Jahre 1649 zuvorkam. Seit Gruters Übersetzung findet sich Saviles „Mors Neronis et initium principatus Galbae" in lateinischer Sprache als Supplement in mehreren Tacitusausgaben6. Es war in den Ausgaben üblich, dies Supplement zwischen Annalen und Historien einzuschieben. Es bietet jedoch nicht eine vollständige Ergänzung der Lücke, die zwischen den beiden Werken klafft. Die mit dem Jahre 66 n. Chr. abbrechende Handlung (Tod des Thrasea, Ann. 16, 35) wird nicht fortgeführt, vielmehr setzt die Schrift mit dem Jahre 68 n. Chr. („Galerio Trachalo et Silio Italico consulibus Julius Vindex . . . primus extulit publicae aggressionis signum") neu 1 Dictionary of National Biography (DNB), London 1885ff., 50 Bd., 1897, S. 367 ff., s.v. Savile. Henry Hallam, Introduction to the Literature of Europe in the 15., 16. and 17. centuries, London 1855, 5. Aufl., Bd. II, S. 45, nennt ihn: „the most learned Englishman, in profane Literature, of the reign of Elizabeth". 2 Savile: The Ende of Nero and Beginning of Galba. Fower bookes of the histories of C. Tacitus, Oxonii 1591. Neun Nachdrucke bis 1730. 3 Vgl. dazu den von Isaac Gruter: „H. Savilii in Taciti historias . . . commentarius, Amst. 1649" zitierten Ausspruch des Josias Mercier (Notae ad Taciturn, Paris 1598) über Savile: „malo máximo Rei literariae Anglica tantum lingua publicatus". 4 J. Freinshemii Specimen paraphraseos Cornelianae, Arg. 1641; im Schlußwort (Berneggeriani Typographie). 6 Z.B. Taciti opera, Amst,. Elzevir, 1673, 1685; Taciti Opera, Traject. Bat. 1721. Späterhin ist der Abdruck üblich in der von Pichón überarbeiteten Fassung. "Vgl. Taciti Opera in Usum Delphini, ed. J. Pichón, Paris 1682ff., 3. Bd., praef.: „Haec (sc. supplementa) primum vulgari idiomate Anglico composita, dein Latió sinistre donata, ac multis locis subobscura, nos cum auctoribus, unde hausta sunt, sedulo contulimus, purgavimus, atque elucidavimus."
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Erster Teil
ein. Mit aller Sorgfalt werden die einzelnen Phasen der Entwicklung aneinandergereiht : Der Beginn der Erhebung gegen Nero durch Julius Vindex, Galbas Entschluß zur Teilnahme an ihr, seine Rede, die sich daran anschließenden Kriegsvorbereitungen in Spanien, das Verhalten der germanischen Legionen unter Verginius Rufus, die unglückliche Schlacht zwischen den Truppen des Vindex und Verginius, des Vindex Selbstmord, Neros Reaktion auf die Nachricht vom Aufstand, seine ziellosen Pläne, der Abfall seiner Soldaten, seine Flucht und sein Tod, Galbas Zug nach Rom, seine Begegnung mit Verginius, sein blutiger Einzug in die Stadt und der rasche Popularitätsverlust seiner Regierung. Das Werk führt bis zum Ende des Jahres 68 n. Chr. und schließt mit dem bekannten Ausspruch Galbas: „legi a se militem, non emi" (Sueton, Galba 16; Tacitus, Hist. I, 5). Saviles Quellen sind Sueton, Plutarch, Cassius Dio und hie und da Tacitus selbst. So eng ist die Anlehnung an die Vorlagen, daß Gruter bei seiner Übersetzung ins Lateinische neben dem englischen Text die genannten Autoren hinzuziehen kann 1 . In der gedrängten, keine Abschweifungen duldenden Darstellung werden nicht nur die wichtigsten politischen Ereignisse dieses einen Jahres berichtet, sondern es werden auch die Gründe angeführt, die hinter dieser oder jener Aktion als treibende Kräfte standen. Der Stil wird ganz unverkennbar von dem Streben nach Kürze und Erhabenheit geprägt. Savile beabsichtigte weniger eine Ergänzung des verlorenen Schlusses der Annalen als vielmehr eine Einleitung in die Historien zu geben. Tacitus hat seiner Meinung nach nicht klar genug gezeigt, warum Galba nach so kurzer Herrschaft scheitern mußte. Am Anfang des Supplements stellt er den Satz auf: „neque raro evenit, ut, sublato principe malo, qui novus et melior successit imperator, tamen citra ruinam non subsistât" 2 ; damit liefert er die Begründung, warum er Galbas Herrschaft nicht allein für sich, sondern nur in Verbindung mit der Neros betrachtet. Alles, was folgt, ist nach diesem Gesichtspunkt ausgewählt und ihm untergeordnet. Eine Wiederherstellung des Tacitus ganz in dessen Stil und Darstellungsart („Corneliano exemplo stiloque") hat der große Tacitusherausgeber und -erklärer Justus Lipsius unternommen, der wohl wie kein anderer auf Grund seiner Kenntnisse dazu befähigt war. Seine Supplemente zu den verlorenen Büchern 7-10 der Annalen schrieb er schon in jungen Jahren, hielt sie zunächst nicht wert, veröffentlicht zu werden, und verlor sie dann später im Laufe seines unsteten Wanderlebens3. So läßt sich nur vermuten, daß Lipsius sicherlich großen 1
Das gleiche gilt für Pichón, vgl. S. 37 Fußnote 5. Savile, in der Gruterschen Übersetzung, a.a.O., S. 2. 8 Taciti Opera, recensuit Justus Lipsius, Paris 1606, S. 139, commentarius ad librum X I annalium: „Olim adolescens contexui Caianam historiam Corneliano 2
Supplemente zu Tacitus
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Wert auf eine gute Nachbildung des taciteischen Stils gelegt hat, den er auch sonst im Gegensatz zu den Ciceronianern schrieb1. Um die Variationsbreite innerhalb der Tacitusergänzungen sichtbar werden zu lassen, sollen im folgenden drei Supplemente sehr verschiedener Prägung behandelt werden. Es sind in zwei Fällen Ergänzungen in Tacitusübersetzungen, bei dem dritten Supplement handelt es sich um eine Universitätsrede. Am Anfang des 17. Jahrhunderts ergänzt der Leibarzt des Herzogs von Orléans, Rodolphe le Maistre, in seiner französischen Tacitusübersetzung2 die Lücke im 5. Buch der Annalen, die Bücher 7-10, schreibt den Anfang des 11. Buches, vollendet das 16. Buch mit dem Bericht von Neros Tod, läßt eine Biographie Galbas folgen und setzt die Historien mit der Schilderung der Herrschaft Vespasians, Titus', Domitians, Nervas und Trajans fort. Sein Ziel ist es dabei, den Leser an einem Faden durch das Labyrinth der Geschichte jener Zeiträume zu führen, für die Tacitus' Bericht verlorengegangen ist3. Wie le Maistre bei seiner Arbeit vorgeht, soll seine Darstellung der Geschichte der Jahre 37-41 n. Chr. zeigen. Er legt ihr eine einzige Quelle zu Grunde: die Caligulavita Suetons, die er in leicht gekürzter Form, aber unverändertem Aufbau wiedergibt. Er berücksichtigt dabei nicht, daß der biographische Charakter der Darstellung Suetons sich nicht in eine annalistische Geschichtsdarstellung einfügt. So wenig scheint le Maistre eine Tacituswiederherstellung zu beabsichtigen, daß er sachliche Widersprüche zwischen Sueton, d.h. seinem Supplement, und dem erhaltenen Tacitustext bestehen läßt4. exemplo stiloque. At foetum eum t a n t i non puto, u t agnoscam a u t tollam." Tacitus in usum Delphini, Paris 1682ÉF., 2. Bd. ,S. 101, Lipsii Nota ad Librum X I annalium: „Olim adolescens contexui Caianam historiam et initia Claudii Corneliano exemplo stiloque. Distuli a u t sprevi edere: postea in migrationibus meis, u t alia quaedam, periit mihi hic labor fraude an casu, non dicam." 1 Zu Lipsius' Stil vgl. E d . Norden, Antike Kunstprosa, Bd. 2, S. 775f. Lipsius behauptete von sich, den ganzen Tacitus auswendig zu können, vgl. Jocher, 2. Bd. 1750, S. 2464. 2 Les oeuvres de Tacite, Traduction nouvelle, augmentée des six derniers Livres des Annales, de Supplémens, Ensemble des vies de Tite, Vespasian, Nerva et T r a j a n , Rouen 1650. I m Exemplar der Göttinger Universitätsbibliothek fehlen die Seiten 802-1342, d . h . die Historien mit den dazugehörigen Supplementen. Die erste Auflage von le Maistres Übersetzung erschien 1627. 3 Le Maistre, a. a. O., praef.: „Lesqueis (sc. les livres mutilez et imparfaits) nous avons aucunement remply par nos supplémens pour le fil de l'histoire. . . " * Z.B. nach Suet. Cal. 12 verführte Caligula Ennia u n d gewann durch sie ihren einflußreichen Gatten Macro f ü r sich. Macro verdankte er zu einem guten Teil, daß er die Herrschaft erlangte. Diesen Bericht h a t le Maistre übernommen, ohne zu beachten, daß bei Tacitus, Ann. 6, 45 die handelnde Person Macro ist, der durch die von ihm gebilligte Untreue seiner F r a u größeren Einfluß auf Caligula gewinnen will.
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Erster Teil
Auf eigene Zusätze zu der von ihm benutzten Quelle hat le Maistre verzichtet. Wenn man von diesen Ergänzungen zu den Büchern 7-10 der Annalen auf die anderen Teile von le Maistres Arbeit schließen darf, so kann man über die ganze Arbeit das Urteil fällen, daß hier mit dem denkbar geringsten geistigen Aufwand der Versuch gemacht wird, den Leser über die Lücken in Tacitus hinwegzuführen. Von einigen Freunden wurde le Maistre zwar hoch gefeiert, seine Tacitusübersetzung fand jedoch wenig Anklang und wurde rasch vergessen. Dem damals allgemein verbreiteten Wunsche nach Supplementen kamen viele Übersetzer und Herausgeber nach. Auch eine deutsche Tacitusübersetzung vom Jahre 1657 trägt dieser Forderung Rechnung1. Der „Behütende" - diesen Namen trägt der „Chur-Baierische geheime Rath" Carl Melchior Grotnitz von Grodnau2 als Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft - will mit seiner Übersetzung sowohl den Nachweis erbringen, daß die deutsche Sprache der lateinischen ebenbürtig ist, wie auch die Deutschen in den politischen Wissenschaften unterrichten, die man aus Tacitus lernen kann. Ein solcher Unterricht bedeutet für die Deutschen eine besondere Notwendigkeit, „weil der ausländischen Völker Politic zu des unerfahrenen Teutschen Mannes Nachteil eingerichtet zu sein scheinet"3. Grotnitz ergänzt die Lücken in den Annalen und führt die Historien bis zu Domitians Tod fort. Die Formulierung, mit der er seine kurzen „Zusätze" ankündigt, läßt nicht deutlich erkennen, ob er selbst umfangreichere Ergänzungen plante, sie von einem anderen - Freinsheim ? - erwartete, oder gar mit der Auffindung einer vollständigen Tacitushandschrift rechnete4. Aus den verschiedenen zur Verfügung stehenden Quellen - die Benutzung von Sueton, Dio, Plutarch und Josephus läßt sich nachweisen - wählt Grotnitz die Nachrichten aus, die ihm am ehesten geeig1
Des C. Corn. Tacitus besohreibung etlicher der ersten Römischen Keiser und anderer denkwürdiger Geschichte; samt einem Zusatz an stat derer daran ermangelnder Bücher . . . Alles voller herrlicher, nachtrücklicher, scharfsinniger und nüzlicher Erinnerungen zu aller Standesleute Lehre . . . in ungezwungene, verständlichste Teutsche Sprache gebracht, durch Carl Melchior Grotnizen von Grodnou. Frankfurt 1657; 1675; 1696. 2 Zu Grotnitz vgl. Jöcher-Adelung, Bd. 2, 1787, S. 1629 und F. G. Barthold, Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft, Berlin 1848, S. 282. 3 Grotnitz, a.a. O., in der Vorrede „An die Hochlöbliche Fruchtbringende Gesellschafft des alles zu Nuzen gebärenden Palmenbaumes". 4 Grotnitz, a.a.O., Vorrede an die Fruchtbringende Gesellschaft: „Dessen sich ereigneter etlicher Geschichte Mangel, inmittels und biß zu desselben weitläuffiger Ergänzung mit einem kurzen Zusaz zu dem Ende ersetzet wird, damit die Geschieht-begierigen Teutschen (für welche es vornemlich gemeinet ist) hiedurch einige Nachrichten haben möchten, wie eines auf das andere folgen sollte, wann nicht die vollkommene Einzelung der übrigen Bücher hierin ermanglete."
Supplemente zu Tacitus
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net erscheinen, Nationalgefühl und politisches Verständnis der Deutschen zu fördern und zu kräftigen. Es ist ihm „an der Geschichte, ihrer Ordnung und einigen deroselben ümständen warhafter Erzehlung so sehr nicht, aber daran am meisten gelegen, zu betrachten, wie es Tacitus eingeteilt hat: dessen Zwek dahin zielete, daß er die ganze Politic in Geschichte verfassen möchte"1. Diesem Programm getreu berichtet Grotnitz in seinen Ergänzungen weniger den Ablauf der Ereignisse, vielmehr bemüht er sich darum, allgemeingültige politische Urteile auszusprechen. Er schreibt z.B. über Claudius: „gemeiniglich pflegen sich dergleichen Einfältige Pürsten und Herren von den nähesten besten ihnen an die Hand geratenden Hofdienern regiren zu lassen; Dem die gemeine Wolfart des Vaterlandes zur Gaukeltasche dienen muß, daraus er nach seinem beheben spielet und die Zusehenden blendet ; wie dann eben bei dieses Keisers Regirung ein solches Muster zu sehen war"2. Wie sehr Grotnitz auf solche Belehrung Gewicht legt, zeigt am besten seine kurze Darstellung der Regierung Domitians; der hier folgende Abschnitt beträgt ein Drittel des über die ganze Regierungszeit dieses Herrschers Gesagten: „Es santen die Teutschen einiger Angelegenheit halber einsmals Abgeordnete zu ihm : welche wider aller Völker Recht übel von ihm beschimpfet und endlich gar hingerichtet worden sein: worüber es zwischen ihm und gemelten Teutschen Völkern zu einem Treffen kam: in welchem er den kürzern zog. Und üm sich hinwider desto besser an ihnen zurächen, vom Siebenbürgischen Fürsten Decebalus, mit welchen er vorhero im Krieg verwikelt war: Friede zuerhandeln sich bemühete, gleichwol weder hierin noch ferners bei den Teutschen Völkern etwas fruchtbarliches auszurichten, nur dieses als ein Keiser bei den Seinigen zuerhalten vermochte, daß sie ihm glauben musten, er habe diese Völker erleget, und dadurch zutriumphiren verdienet. Dergleichen Pralereien von den Römern zum öftern an stat der Warheit vorgegeben, geglaubet, und endlich in die Geschichte für eine warhaftige Sache eingezeichnet worden sein. Derer Ungrund leichtlich in vielen Geschichtsbüchern würde entdeket werden können, wo die streitbaren Teutschen Völker so wol Geschichtschreiber hetten gehabt, als schrift- und denkwürdig ihre dapfere Thaten sein : derer teils Römischen Geschichtsschreiber selbst nicht vergessen wolten"3. Es erscheint verständlich, daß weder Grotnitz' noch le Maistres Supplemente ins Lateinische übersetzt wurden, wie es mit Saviles 1
Grotnitz, a.a.O., Vorrede an den Leser. Grotnitz, a.a.O., S. 412, Zuersäzung Ordentlicher Jargeschichte, zehendes Buch, das 1. Capitel. 3 Grotnitz, a.a.O., S. 1171 f., Zuersäzung Allgemeinergeschichte, das 34. Capitel. 2
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Erster Teil 1
Arbeit geschah . Das eine Supplement lag schon in lateinischer Fassung (Sueton) vor, das andere war einzig und allein für deutsche Leser bestimmt. Der letzte Tacitusergänzer im 17. Jahrhundert war Theodor Ryckius (1640-1690 2 ), ein Schüler Gronovs und sein Nachfolger auf dem Leydener Lehrstuhl für Geschichte und Eloquenz. Ryckius hat einen großen Teil seiner Vorlesungen der Erklärung von Tacitus' Schriften gewidmet. Das Ergebnis einer 14-jährigen Lehrtätigkeit faßte er in seinen „Animadversiones ad Cornelium Taciturn" zusammen, einem Kommentar zu Annalen und Historien, den er 1686 herausgab. Als er anläßlich eines akademischen Festaktes im Jahre 1679 eine Rede mit dem Titel „de vita et morte C. Aelii Sejani" vortrug, hatte er damit ein Thema gewählt, das ihn zu diesem Zeitpunkt besonders beschäftigte. Er war gerade in seiner Tacitusvorlesung bis zum 6. Buch der Annalen gelangt. Dies Buch setzt nach der ersten der drei großen Lücken in den Annalen ein. Verlorengegangen ist der größte Teil des 5. Buches mit der Schilderung von Sejans Umtrieben und Tiberius' Gegenaktionen, die den Sturz des mächtigen Günstlinge herbeiführten. Um diese Lücke auszufüllen 3 , stellte Ryckius die wichtigsten Nachrichten über Sejan zusammen, die sich bei Sueton, Cassius Dio und Tacitus finden. Er beschränkt sich jedoch nicht darauf, nur die letzten Jahre des Prätorianerkommandanten darzustellen, sondern zeichnet sein Leben nach von der Geburt an, seine Erziehung und Jugendzeit, seinen Eintritt in Tiberius' Dienste, das Anwachsen seines unheilvollen Einflusses auf den Herrscher, seinen unersättlichen Machthunger, der ihn zu mehreren erfolgreich verlaufenden Intrigen gegen Mitglieder der kaiserlichen Familie trieb, seine Machtfülle in Rom, seit der Kaiser 1
Den Weg von einer nationalsprachlichen in eine lateinische Fassung sind mir englische Supplemente gegangen: Saviles Tacitussupplemente und Thomas Mays Lucansupplemente. May hat seine „Continuation of Lucan, London 1630," wenige Jahre später selbst in lateinische Hexameter übersetzt. 2 Zu Ryckius vgl. Biographischen Woordenboek der Nederlanden, Haarlem 1852 ff., Bd. 16, 1874, S. 604. 3 Ryckius, „Sejanus sive oratio de vita et morte C. Aelii Sejani dicta Lugduni Batavorum Postridie Kai. Mai. A. C. MDCLXXIX" in: Tacitus Opera, ex editione Ryckii, Dublin 1730, 1. Bd., S. 349-387. Ryckius, a.a.O., S. 351: „Multum autem dolendum, quod postrema huius tragoediae pars injuria temporis perdita sit apud ilium, qui tam feliciter primam docuerat, Taciturn dico: in cujus quinto Annali trium circiter annorum lacuna est, qua dirissima historiae hujus catastrophe absorbta latet. Hujus sex priores Annales, cum pro muneris mei ratione hactenus exposuerim, antequam ad reliquos transeam, putavi me rem non inutilem facturum aut auribus vestris plane indignam, si de vita et morte Sejani pro conciono aliquid dicerem: partim, ut historiae hujus imaginem, quae apud scriptores aliis rebus intermista jacet, oculis vestris solam tamquam in tabella subjicerem: partim, ut loci, in quo de coniurationis indicio Sejanique supplicio a Tacito fuerat actum, minus gravem aliunde redderem defectionem."
Supplemente zu Tacitus
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sich auf Capri aufhielt, den jäh erwachten Argwohn des Tiberius und seine Gegenzüge gegen den gefährlichen Nebenbuhler, die zur Verlesung jenes Briefes im Senat führten, der den Sturz Sejans besiegelte. Die Darstellung der äußeren Ereignisse wird von Ryckius durch eigene Zusätze erweitert, die vor allem eine moralische Beurteilung einzelner Handlungen bieten. Der Bericht von Drusus' Ermordung z.B. - den er wörtlich nach Tacitus, Ann. 4, 3 und 4,8 gibt1 - veranlaßt ihn zu dem Ausruf : „ 0 quanta scelera committuntur in aulis" 2 . Neben solchen etwas allgemeinen Bemerkungen finden sich zahlreiche Stellen, in denen Ryckius seine persönliche Meinung äußert. So stellt er beispielsweise die Behauptung auf, Sejan sei allein für die Grausamkeit des Tiberius verantwortlich: „Ego enim sie existimo, Auditores, Tiberium ista crudelitate nunquam fuisse imperaturum, nisi miris Sejani artifieiis in eam semel illectus inflammatusque esset. . . . Quis igitur te non miserum dicat atque infelicem, Caesar Tiberi, qui, cum non exhauseris tributis rem publicam et tarnen vicies ac septies millies sestertium ad illam tuendam reliqueris ; qui, cum pacem in omnibus ferme illius partibus per tres et viginti annos stabiliveris ; . . . qui humanas hostias, crudelissima sacrificia, usque ad tuam aetatem in Galliis et Africa durantia, penitus sustuleris ; qui, cum de Christianorum religione tam benevole senserie, ut Servatorem orbis in Deorum numerum referre cogitaveris . . . nihilominus tanta nominis laboras infamia, ut omnes boni ad illius prolationem toto corpore contremiscant ?" 3 . Die tendenziöse Nachricht von Tertullian4 kam ihm dabei äußerst gelegen, Tiberius habe Christus in die Schar der Götter aufnehmen wollen und sei nur von Sejan daran gehindert worden. In der Regel will Ryckius allgemeingültige Lehren aussprechen. Die Darstellung der Erziehung Sejans schließt er darum mit folgender Betrachtung ab: „Quid tali deesse poterat ad maxima quaeque sine iniuria consequenda, si rectum vitae iter voluisset insistere, si fertilissimum ingenii campum salutaribus seminibus consevisset ? At cum sementem fecerit pestiferam, quid praeter zizaniam et venenatas herbas potuit producere ? E x quo elucet, quantum rei publicae intersit, ut juveniles animi rectis imbuantur prineipiis de Deo, de honesto, de animarum immortalitate. Quibus si recte Sejanus imbutus fuisset, aut omnia me vehementer fallunt, aut is nunquam tam insana impietate in Deum, tam detestabili nequitia in genus humanum grassatus fuisset" 6 . 1 Ryckiua bemüht sich darum, möglichst viel Stellen wörtlich aus Tacitus zu übernehmen. s Ryckius, a.a.O., S. 361. 8 Ryckius, a.a.O., S. 354f. 4 Tertullian, Apologet. 5. 6 Ryckius, a.a.O., S. 353.
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Erster Teil
In diesen Sätzen offenbart sich das Hauptanliegen Ryckius'. Die Geschichte Sejans ist nicht um ihrer selbst willen wichtig, sondern wird nur darum erzählt, weil sie das beste Beispiel für das Wirken der göttlichen Gerechtigkeit bietet 1 . Der Epikureer Sejan erleidet mit seinem Tod die gerechte Strafe für seine Verachtung Gottes und der Unsterblichkeit der Seele: „Hunc tragicum finem Sejanus habuit 2 . In quo adoranda Dei ter Optimi Maximi Providentia justitiaque visibili ter elucet. Iste enim qui per omnem vitam Providentiam divinam cum Epicuro proscripserat, in morte vidit insaniam suam. Iste qui mentis suae acumine, quodcumque scelerata voluntas concupisceret, efficere se posse crediderat, tandem deprehendere potuit, esse Mentem Infinitam, quae supra nos negotium curet. Iste qui per omnem vitam cum eodem Epicuro justi leges mentibus nostris a Deo impressas negaverat, in morte justitiam divinam evadere non potuit. Iste qui homines a natura ad discordiam factos, statumque illorum naturalem bellicum fuisse existimaverat, et cuilibet jure naturae in quemlibet licere quodlibet, errorem pestilentissimum sanguine ejuravit. Atque utinam, Auditores, inter Christianos non numerarentur, qui blasphemantia Epicuri decreta, Providentiam Divinam, id est ipsum Deum, et justitiam naturalem tollentia recoxissent. Tanta scilicet est malitiae vis, tanta in hominibus impiis audacia, ut Caussam illam caussarum omnium „summum illud et aeternum neque mutabile ñeque interiturum" 3 negare malint et mundum hunc aspectabilem, opus manuum ipsius pro ipso artifice conoscere, quam ad illius voluntatem conformare se atque componere" 4 . Mit dieser Warnung vor den Lehren Epikurs und anderer Philosophen polemisiert Ryckius gegen die Schüler Gassendis („Epicurum recoxit") und Descartes' („mundum agnoscere"), den er auch an anderer Stelle angreift 6 . Gegen sie richtet sich sein Bannstrahl: „Sed Mens ista Aeterna et Infinita, quae mundum condidit et gubernat, confundet hos Sejanos punietque in aeternum; cui honos et 1 Ryckius, a.a.O., S. 351: „Hinc Sejani vita et mors pro illustri divinae providentiae justitiaeque documento in Historia proponitur." 2 Ryckius spricht nicht von ungefähr vom tragischen Ende Sejans. Die Gestalt Sejans war von mehreren Dichtern zur Titelfigur von Tragödien gewählt worden; z.B. Ben Jonson, „Sejanus, his Fall", 1603; Jean Magnon, „Sejanus", 1647. In politisch-historischen Schriften erscheint Sejan als Typ des machthungrigen Günstlings schlechthin, vgl. Georg Horn, Dissertationes historicae et politicae, Lugd. 1655, Diss. X X X : „de Seianismo". Pierre Matthieu, „Aelius Seianus, histoire Romaine, recueilli de divers Autheurs", Lyon 1618, stellte die Nachrichten über Aufstieg und Fall Sejans unter ständiger Anspielung auf den 1617 gestürzten Marschall von Ancre zusammen. 3 Ein Zitat aus Historien 5,5. Die heutige Lesart lautet „imitabile" statt „mutabile". 4 Ryckius, a.a.O., S. 380f. 5 Vgl. Ryckius, Taciti Opera, Lugd. 1687; Ad Lectorem.
Supplemente zu Vellejus
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gloria in omnia saecula" . Die Beschäftigung mit Tacitus wird somit bei Ryckius zum Mittel der geistigen Auseinandersetzung mit den zunehmenden Tendenzen seiner Zeit, sich der naturwissenschaftlichen Forschungsmethoden zu bedienen und sich vom christlichen Menschenbild zu emanzipieren. Ryckius hat seine Arbeit nicht als Supplement bezeichnet und nicht in seiner Tacitusausgabe, wohl aber in seinem Tacituskommentar herausgegeben2. Wenn die Rede dennoch in einige Tacitusausgaben des 18. Jahrhunderts3 aufgenommen wird, so beweist es von neuem das starke Interesse an Supplementen jeder Art zu dieser Zeit. Supplemente
zu
Vellejus
In den fast hundert Jahren zwischen dem Erscheinen von Ryckius' Rede über Sejan (1679) und Brotiers Tacitussupplementen (1771) werden nur wenige Supplemente zu lateinischen Autoren verfaßt. Neben zwei Curtiussupplementen sind es einmal die schon oben erwähnten Ergänzungen Creviers (1735) zu den Lücken in Livius, Buch 41, 43, 44 und 454, zum anderen Vellejussupplemente, die im Jahre 1697 linter dem Titel „Imperii Romani ortus et progressus a condita urbe ad Bellum Macedonicum secundum finitum, in Supplementum Velleji Paterculi compendio repraesentatus a Petro Brinch, Jacobi Filio" in Kopenhagen erschienen. Ihr Verfasser, der dänische Pastor Peder Jacobsen Brinck5, ergänzte nicht den fehlenden Anfang von Vellejus' Werk, sondern nur die große Lücke im ersten Buch ; er beabsichtigte also nicht, seinen Autor völlig wiederherzustellen, ihn leitete vielmehr einzig und allein das Bestreben, ein Kompendium zu schaffen, das in Verbindung mit Vellejus' Schrift einen raschen Überblick über die römische Geschichte bietet6. In seinem Stil ahmt er nicht Vellejus nach, sondern behält meist den Wortlaut seiner Quellen - deren wichtigste Livius ist - unverändert bei. Als Probe für die Form der Darstellung möge der jeweils erste und letzte Satz der Kapitel 2-5 des Supplements dienen : Cap. 2: „Primus regnavit Romulus . . . regnavit Romulus annos X X X V I I . " 1
Ryckius, „Sejanus . . .", S. 387. Ryckius, „Animadversiones ad Taciturn", Lugd. Í686; Ryckius, Taciti Opera, Lugd. 1687. 3 Z.B.: Taciti Opera, ex Editione Ryckii, Dublin 1730; London 1754. 4 Vgl. S. 27 Fußnote 4. 6 Zu Brinck vgl. Dansk Biografisk Lexikon, Kopenhagen 1887 ff., 17. H., 1889, S. 61. • Brinck, a.a.O., praef.: „Ratio scribendi haec fuit, ut ex Livio inprimis . . . aliisque rerum Romanarum scriptoribus Epitomen Historiae Romanae contraxerim." 2
Erster Teil
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Cap. 3: „Post mortem Romuli N u m a m ad. regnandum accivit Senatus populusque Romanus, regnavit N u m a annos X L I I I . " Cap. 4: „Mortuo N u m a Tullum Hostilium regem populus jussit. regnavit Tullus annos X X X I I . " Cap. 5: „Mortuo Tullo, Ancum Martium populus Regem creavit. Regnavit Anous annos X X I V . "
Die Zeitgenossen übergingen das so ungeschickte und trockene Kompendium mit Stillschweigen. Brincks Supplement wurde weder neu aufgelegt, noch jemals in einer Vellejusausgabe abgedruckt1. Supplemente.
Begriffsbestimmung und Überblick über die bis 1700 verfaßten Supplemente
Im Interesse der Übersichtlichkeit muß darauf verzichtet werden, auf weitere Supplemente einzugehen. Die bisher behandelten Supplemente tragen so unterschiedliche Züge, daß sich die Frage aufdrängt, was denn eigentlich unter einem Supplement zu verstehen ist. Es ist hier wohl der rechte Ort, darauf eine Antwort zu geben, bevor Brotiers Tacitussupplemente behandelt werden. Wenn man noch einmal die Reihe der Supplemente und ihrer Verfasser - Lycosthenes zu Obsequens; Bruno, Freinsheim, Cellarius und die beiden Anonymi zu Curtius Rufus; Freinsheim zu Livius; Savile, Lipsius, le Maistre, Grotnitz, Ryckius zu Tacitus ; Brinck zu Vellejus - vor dem geistigen Auge Revue passieren läßt und sich der großen Unterschiede erinnert, die zwischen ihnen bestehen, so wird aus dieser ersten Betrachtung das eine ganz deutlich, daß die Bezeichnung „Supplement" vorerst nichts weiter über das Wesen einer Schrift aussagt, als daß diese Schrift dazu bestimmt ist, eine oder mehrere Lücken in einem Werke zu schließen2. Die Ansichten darüber, wie diese Lücken 1
Das einzige mir bekannte Exemplar von Brincks Veliejussupplement befindet sieh in Kopenhagen. 2 I n der Einleitung zu dieser Arbeit wurde schon darauf hingewiesen, daß der Begriff „Supplement" in der Regel dazu dient, Nachträge, Ergänzungen u n d Erweiterungen eines bestehenden Werkes zu bezeichnen. I n dieser Untersuchung soll dagegen der seltenere Gebrauch des Wortes „Supplement", d.i. Ergänzung von etwas Verlorengegangenem behandelt werden. Die beiden Seiten dieses Begriffes wurden zu keiner Zeit voneinander geschieden. So schreibt J . G. Walch in seiner „Historia critica latinae Linguae", Leipzig 1761, 3. Aufl. S. 565: „supplementa (sc. Curtii) elaboraverunt Christopherus Bruno, Franciscus Petrarcha, Quintianus Stoa, Jo. Freinshemius, Christophorus Cellarius, Christianus J u n c k e r u s " . Juncker gibt nämlich auf dem Titelblatt seiner Curtiusausgabe, Leipzig 1700, an: „accessit Supplementum n o v u m " . Bei diesem Supplement handelt es sich u m einen historischen Überblick über die griechischen Staaten von Alexanders Tode
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zu schließen seien, gehen bei den einzelnen Ergänzern jedoch weit auseinander. Ließ sich doch beobachten, daß bisweilen zu kleine Flikken notdürftig aufgesetzt wurden1, oder daß Stoff von ganz anderer Farbe verwendet wurde2. Im Laufe der Betrachtung setzt sich immer stärker der Eindruck durch, als sei die Ausführung der Arbeit völlig in das Belieben der Ergänzer gestellt. Deren Ziele liegen weit entfernt voneinander. Der eine will in einem kurzen Abriß die Leser über das historische Geschehen informieren, ein zweiter schreibt speziell für die Bedürfnisse des Schulunterrichtes, der dritte sieht sein Ziel in der politischen und moralischen Belehrung, der vierte will theologisch wirken. So wird man über die Aussage hinaus, daß mit einem Supplement eine bestehende Lücke ausgefüllt werden soll, nur noch eine zweite Feststellung treffen können, die auf alle Supplemente zutrifft: Sie alle wurden unter Benutzung von antiken Quellen verfaßt. Die einzelnen Ergänzer weichen jedoch in der Art ihrer Quellenbenutzung voneinander ab. So verspricht beispielsweise der Ergänzer in der deutschen Liviusübersetzung von 1505, allen Fleiß auf zuwenden. So emsig wie die Bienen den Honig aus den Blüten saugen, so fleißig wolle er aus allen antiken Autoren, deren er habhaft werden könne, Material zur Ergänzung Livius' zusammentragen3. Freinsheim sieht ebenfalls seine vornehmste Aufgabe darin, möglichst vollständig alle antiken Nachrichten zu sammeln, die geeignet scheinen, den betreffenden Autor zu supplieren4 ; - auf der anderen Seite geben sich le Maistre und der Anonymus der Curtiusausgabe von 1615 mit ein oder zwei Autoritäten zufrieden. Einige Ergänzer beschränken sich auf die Wiedergabe des - wie auch immer - gesammelten Materials. Der italienische Liviusergänzer Turchi weist besonders darauf hin: ,,Νοη vogliamo scrivere altro che quel, che troviamo ne' buoni autori"5. Nach der gleichen Maxime handeln u.a. Lycosthenes, Cellarius und Brinck. In Freinsheims Curtiussupplement stößt man dagegen immer wieder auf eigene Zusätze des Verfassers6. Bei Grotnitz überwiegen sogar die eigenen Zusätze7. Bei einer derartig großen Variationsbreite erscheint es mehr als fraglich, ob weitere Übereinstimmungen zwischen allen Supplementen gefunden werden können. bis zur Herrschaft der Römer in Griechenland, also um eine Fortsetzung von Curtius' Werk. 1 Z.B. Grotnitz und Bruno. 2 Vgl. die Benutzung von Sueton in le Maistres Tacitussupplement, S. 39 Fußnote 4. 3 Vgl. S. 26 Fußnote 4. *• Vgl. S. 17/18. 6 Turchi, a.a.O., S. 175. • Vgl. S. 22. 7 Vgl. S. 41.
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Erster Teil
Einige Supplemente jedoch lassen sich noch unter ein weiteres gemeinsames Prinzip zusammenfassen. Es sind dies die Aeneissupplemente von Decembrio (1419), Vegio (1427) und Foreest (1650)1, Lipsius' Tacitussupplemente (1560-80 ca.), Morisots Ovidsupplemente (1649)2, Mays Lucansupplemente (1639 bzw. 1640)3, Freinsheims Curtiussupplemente (1640) und das erste Drittel seiner Liviussupplemente (von 1648-1654). Diese Supplemente - die alle lateinisch abgefaßt sind - sollen nach der Intention ihrer Verfasser möglichst gleichwertigen Ersatz für die Verluste in den betreffenden Autoren bieten. Diese Ergänzer sind deswegen darum bemüht, in Stil und Aufbau der Supplemente das ihnen vorhegende Werk nachzuahmen4. Sie füllen ferner - im Gegensatz zu anderen Ergänzern — die Lücke wirklich mit der Darstellung dessen, was mutmaßlich verlorengegangen ist; und sie achten darauf, daß ihre Supplemente nicht ungebührlich lang oder zu kurz ausfallen. Denn sie sollen in jeder Hinsicht genau die Lücke füllen, so daß Werk und Supplement eine Einheit bilden. Mit dem Vorhandensein des Supplements soll der Verlust der betreffenden Bücher nicht nur überbrückt, sondern völlig aufgehoben werden. Darum unterdrücken diese Ergänzer jede Äußerung, die auf einen modernen Verfasser deuten könnte. In diesem Punkte kann man sie mit den Fälschern vergleichen. Denn die hier genannten Ergänzer wie die meisten Fälscher richten ihr Streben darauf, möglichst „echt" zu wirken, d.h. so zu schreiben, wie der Autor, den sie gerade nachahmen. Der Ergänzer zerstört jedoch selbst die Illusion, die er erwecken will, durch die Nennung 1
Pier Candido Decembrio (1399-1477): ,,liber tertius decimus Aeneidos suffectus", Cod. Ambros. D 112 fol 173-175; Maffeo Vegio (1406-1458): „Supplementum libri duodecimi Aeneidos sive liber duodecim Aeneidos libris additus", zuerst gedruckt in: Virgili Opera, Venet. 1471; späterhin oft abgedruckt und in verschiedene Sprachen übersetzt; Jan van Foreest (gest. 1651) widmete sein „Aeneidos liber X I I I et X I V " der Königin Christine von Schweden. Es blieb ungedruckt. Das Manuskript liegt in der vatikanischen Bibliothek (Codex Regin. 1665). Die Verfasser von Supplementen zur Aeneis dürfen nicht als Fortsetzer über den von Vergil beabsichtigten Rahmen hinaus betrachtet werden. Sie waren vielmehr der Meinung, Vergil selbst habe noch die Bestattung des Turnus und die Hochzeit des Aeneas mit Lavinia darstellen wollen. Vgl. Kern, Supplemente zur Aeneis . . . 2 P. Ovidius Naso, Fastorum libri XII, quorum sex posteriores a Claud. Barth. Morisoto substituti sunt. Divione 1649. Nachdrucke sind mir nicht bekannt. 3 Thomas May, A continuation of Lucan, London 1630; die lateinische Fassung: Supplementum Lucani, libri VII, Lugd. 1640; es wurde oft nachgedruckt und übersetzt. Zu May vgl. Allan Chester Griffith, „Thomas May, Man of Letters" Phil. Diss. Philadelphia 1932. 4 Vgl. Lipsius („Corneliano exemplo stiloque") und Freinsheim („eius personam induere, cuius mimum susceperis").
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seines eigenen Namens auf dem Titelblatt und die Bezeichnung „Supplement"; damit zieht er eindeutig einen Trennungsstrich zwischen sich und dem Fälscher1. Ein Beispiel dafür, wie nahe Fälschung und Supplement nebeneinanderliegen, bieten Nodots Petronfälschungen (1693). Bald nachdem sie als Fälschungen entlarvt waren, wurden sie als Supplemente in den Petronausgaben abgedruckt 2 . Auch in der deutschen Petronübersetzung von Wilhelm Heinse „Begebenheiten des Enkolp", Schwabach 1773, sind sie zu finden. Heinses Urteil über Nodot ist um des Vergleiches mit der bildenden Kunst willen nicht uninteressant: „Was aber das betrifft, was Nodot herausgegeben, so sag' ich, wie jeder, der nur ein wenig Latein und nur etwas weniges vom Petron gelesen hat, sagen muß, daß es Nodot aus seinen wenigen Kenntnissen, die er von der römischen Litteratur hatte und aus dem Vorrathe von Gedanken seines ganz kleinen Geistes, ohngefehr wie ein moderner Töpfer einen Arm und einen Fuß an eine schöne Bacchantin - an den alten Enkolp gekleibet hat. Er hat auch weiter nichts gewagt, als den Zusammenhang zu ergänzen, wie ihn die Überbleibsel vom Satyricon deutlich anzeigen. Ich habe sein Fragment deswegen auch mit übersetzt, und zwar sehr frey, damit diese Übersetzung einiger Maaßen sich als ein Ganzes lesen lasse" 3 . Daß auch Heinse mit dem Gedanken spielte, vermittels einer Fälschung die verlorenen Bücher zu ergänzen, gesteht er bald danach ein : „Wenn Sie nicht so gewaltig strenge wären, meine Herren, so weiß ich wohl, was ich gethan hätte. Ich hätte nämlich das Nodotische Fragment gänzlich weggelassen, das ganze Manuscript im Herkulaneum oder sonst wo gefunden und Ihnen nur einstweilen die Uebersetzung davon mitgetheilet und einen Strauß gewaget" 4 . Der Altdorf er Historiker D. W. Moller rechnet es darum Freinsheim als hohes Verdienst an, daß dieser seine Curtiusergänzungen als Supplemente unter eigenem Namen herausgab; denn nach Mollers Meinung hätte Freinsheim die ergänzten Bücher sehr wohl für Curtius' eigene Schriften ausgeben können 5 . Als Richtschnur bei der Beur1
Die Geschichte der pseudoantiken Literatur der Neuzeit ist noch zu schreiben. Es mangelt bisher an einer brauchbaren Materialsammlung. 2 Z.B. „Petronius cum supplementis", Leipzig 1781; Biponti 1790. In der „Notitia Auctorum antiqua et media" von Benjamin Hederich, Wittenberg 1714, heißt es auf S. 446: „Inzwischen lasset sich doch, es mögen die Supplemente Nodotiana beschaffen seyn, wie sie wollen, der Petronius mit denselben besser lesen, weil alles dadurch ordentlich connectiret ist, und da der Editor sie mit den Typen unterschieden hat, darff man sich nicht befürchten, man werde dieselben mit dem ächten Petronio confundiren." 3 Heinse, Begebenheiten des Enkolp, Schwabach 1773, S. 40. 4 Heinse, a.a.O., S. 42. « Vgl. S. 19. 4
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Erster Teil
teilung der Supplemente dient der supplierte Autor. Es gilt deshalb kein höheres Lob für den Ergänzer, als wenn man von seiner Arbeit erklärt, daß sie ihrem Vorbild so ähnlich sei wie ein Ei dem anderen („vix ovum ovo esse similius")1. Dagegen ist die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mehrfach begegnende Formulierung: „ut propemodum optábilis jactura fuisse videatur, quam ille tarn opportune resarserit"2 in ihrer sich selbst entwertenden Übersteigerung lediglich als Zeichen des Geschmacks dieser Zeit zu werten. Das bisher vorgelegte Material gestattet es, einen Überblick über die Supplemente bis zum Jahre 1700 zu gewinnen. Der Antike und dem Mittelalter sind Supplemente noch unbekannt3. Der Archeget der Gattung - wenn man den Ausdruck Gattung auf so verschiedenartige Schriftwerke anwenden darf, die nur durch diese gemeinsame Benennung Supplement verbunden sind - , der hier zuerst genannt werden müßte, ließ sich bisher noch nicht ermitteln. Nur das eine steht fest, daß es einer der italienischen Humanisten des 14. oder des frühen 15. Jahrhunderts ist. Mit Petrarca, dem man das Curtiussupplement von 1615 zuschrieb4, mit Bruni, dessen Polybiosübersetzung als Liviussupplement diente5, und mit Decembrio, der ein Aeneissupplement verfaßte und in seiner italienischen Curtiusübersetzung die zwei ersten Bücher ergänzte6, beginnt die Reihe derer, die sich nicht damit zufrieden gaben, in allen Teilen Europas den Handschriften antiker Autoren nachzuspüren, sondern die darüberhinaus die schon gewonnenen Schätze dazu benutzten, um die Lücken in anderen Werken auszufüllen7. Aus der großen Vertrautheit mit der Antike und der Beherrschung der lateinischen Dichtersprache entstanden in jener Zeit die Ergänzungen der Plautuskomödien, die man Hermolaus Barbarus, Antonio Beccadelli und Antonius Codrus verdankt8. Ein anderer italienischer 1
Vgl. S. 19. Vgl. S. 19/20 und S. 31. Die in der Antike ergänzten Halbverse Vergile können nicht als Supplemente bezeichnet werden. Das gleiche gilt für das achte Buch des Bellum Gallicum, das von Hirtius als Fortsetzung, nicht aber als Ersatz für ein verlorenes geschrieben wurde. Auch diese Tätigkeit wird von Sueton (Julius 56) als ein „supplere" bezeichnet. 4 Vgl. S. 16. 5 Vgl. S. 26 Fußnote 4. • Vgl. S. 13 Fußnote 5. 7 Voigt, Die Wiederbelebung des klassischen Altertums, Berlin 1893, 3. Aufl., 2. Bd., S. 163 zitiert einen Ausspruch Brunis: „Seit der große Chrysoloras die Disciplin des Griechischen nach Italien brachte, wo man sie seit 700 Jahren nicht mehr gekannt, richteten wir jungen Leute, die wir von ihm ausgebildet worden, unser ganzes Sinnen darauf, durch die griechischen Schriften die Lücken der lateinischen Literatur zu füllen." 8 Vgl. Teuffei, Geschichte der römischen Literatur, 1916, 6. Aufl., l.Bd., S. 170f. 2 3
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Dichter, Johannes Baptista Pius (Battista Pio; gest. 1540), verfaßte unter weitgehender Benutzung der Argonautica Apollonios' Supplemente zu Valerius Flaccus, die dessen unvollendete Argonautica zu Ende führten1. Mit dem Vordringen des Humanismus nach Norden werden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch außerhalb Italiens Ergänzungen verfaßt; so in Basel (Lycosthenes) und München (Bruno). Am Ende desselben Jahrhunderts werden in den Niederlanden (Lipsius, Grotius2, Scaliger3) und in England (Savile) antike Autoren ergänzt. Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts sieht dann die Hochblüte der Supplemente. Die bedeutendsten Werke aus dieser Zeit sind zweifellos Mays Lucan- und Freinsheims Curtiussupplemente. Freinsheim, der wie kein anderer bemüht war, solche Supplemente zu verfassen, die den betreffenden Autor völlig wiederherstellen sollten, sah selbst im Verlauf seiner Arbeit an den Liviussupplementen ein, daß ein derartiges Ziel nicht zu erreichen ist. Während Freinsheim dies noch in der Hauptsache mit dem Mangel an Quellen begründete, betont ca. 30 Jahre nach ihm Cellarius ausdrücklich die Unmöglichkeit, Supplemente in dem Stil („verbis ac stilo") des zu supplierenden Autors zu verfassen. Er führt mit seinen Curtiussupplementen (1688) eine neue Form von Supplementen ein, in denen unter Verzicht auf formale Nachahmung die wichtigsten Informationen über die Ereignisse gegeben werden, die in den verlorenen Büchern dargestellt waren. Eben dieser Form bedient sich wenige Jahre später auch Brinck in seinen Vellejussupplementen. W. Creizenach, Geschichte des neueren Dramas, Halle 19112, 1. Bd., S. 570-575. Aulularia Plautina, comediarum lepidissima, quae Θ tai alias incompleta, a Codro Urceo tarnen est perfecta. Arg. 1511 ; 1517. 1 C. Valerli Flacci Commentarli Pio Bononiensi Auctore . . . additis libris tribus, qui adhuc desiderabantur, Bon. 1519; Lugd. 1548. Pius ergänzte die zweite Hälfte des unvollendeten 8. Buches sowie ein 9. und 10. Buch. 2 Hugo Grotius verfaßte ein Supplement zu Ciceros Aratübersetzung. Vgl. „Syntagma Arateorum", Lugd. 1600. 3 J o s . J u s t u s Scaliger stellte Eusebius' Chronik wieder her („Thesaurus Temporum", Lugd. 1606). Vgl. dazu J a c o b Bernays „ J o s . J u s t . Scaliger", Berlin 1855, S. 93-97 und S. 220-225. Bernays, a . a . O., S. 97 : „und so vollständig wußte er den antiken Ton zu treffen, daß viele Leser freilich sehr gegen seinen Willen und mit unverantwortlichem Übersehen seiner ausdrücklichen, wiederholten Erklärungen das Werk für ein aus dem Alterthum stammendes halten konnten." Ewald Scheibel „Josephi Scaligeri 'Ολυμπιάδων αναγραφή", Berlin 1852, S. 3, hat eine Liste der Gelehrten zusammengestellt, die Scaligere Arbeit für ein Werk aus dem Altertum gehalten haben, z . B . Gronovius, Perizonius, Bayle, Lessing, Heyne und Ast. Scaliger hat jedoch niemals eine Fälschung beabsichtigt. - Seine Rekonstruktion fand ihre weitgehende Bestätigung, als im Jahre 1819 eine armenische Übersetzung von Eusebs Chronik auftauchte. 4*
ZWEITER TEIL Brotiers Leben und Schriften
Im Jahre 1771 erschien in Paris eine reich ausgestattete Tacitusausgabe, die der Herausgeber, Gabriel Brotier, mit eigenen Supplementen versehen hatte1. Der Name dieses Gelehrten wird in den meisten Darstellungen der Geschichte der Philologie nicht erwähnt. Das umfangreichste Werk, die „History of Classical Scholarship" von Sandys geht nur mit einem Satz auf ihn ein: „The Jesuit Academician Gabriel Brotier (1723-1789) is best known in connexion with his edition of Tacitus (1771), which has often been reprinted; he also edited Pliny (1779) and Phaedrus (1783)"2. Im folgenden soll darum der geistige Werdegang und die Bedeutung dieses Mannes skizziert werden3. Brotier stammt aus Tannay, einer kleinen Stadt am Westrand der Argonnen. Im Alter von 16 Jahren trat er in den Jesuitenorden ein. Er erfuhr dort eine Ausbildung, die sein Leben bestimmend prägte. Zu einer Zeit, in der die klassischen Studien stark vernachlässigt wurden4, boten allein die Orden - und unter ihnen vor allem die Gesellschaft Jesu, die konservativ an ihrer Studienordnung festhielt® - die 1 C. Cornelii Taciti Opera recognovit, emendavit, supplementis explevit, notis, dissertationibus, tabulis geographicis illustravit Gabriel Brotier, Paris, de la Tour, 1771, 4 voll. Brotier ergänzt in den Annalen: 40 Kapitel zum 5. Buch, das 7.-10. Buch, 5 Kapitel zum 11. Buch, 62 Kapitel zum 16. Buch, in dem er die Ereignisse bis zum Ende des J a h r e s 68 n. Chr. schildert; in den Historien: 26 Kapitel zum 5. Buche (die Ereignisse der J a h r e 70 u n d 71 n. Chr.). I n einer „Appendix Chronologica" gibt er ferner eine Übersicht über die J a h r e 72-117 n. Chr., eine Fortsetzung der Historien. I n der 2. Auflage (Paris 1776) findet sich außerdem noch ein Supplement von 14 Kapiteln zum Dialogue, das die Lücke a m E n d e des 35. Kapitels schließt. Die Göttinger Universitätsbibliothek besitzt nur ein stark beschädigtes Exemplar der 1. Auflage; - als Handexemplar wurde ein Nachdruck aus dem J a h r e 1796 (London/Edinburgh) benutzt. Zitate aus Brotier werden nach diesem Nachdruck angegeben. 2 Sandys, History of Classical Scholarship, Bd. 2, S. 394. 3 Eine Monographie über Brotier ist nicht nachweisbar. Vgl. jedoch „Biographie Universelle", Paris, 1811ff., 6. Bd., 1812, S. 38f. s.v. Brotier; ferner: Eloge de l'Abbé Brotier, in: „Mémoires de l'Académie des Inscriptions et de Belles-Lettres", 1809, Bd. 47, S. 412-422. (Im J a h r e 1790 - vermutlich v o m Sekretär der Akademie, Dacier - gehaltener Nachruf. ) Eine Bibliographie der Werke Brotiers auch der nicht veröffentlichten - bietet Sommervogel, Bibliothèque de la Compagnie de Jésus, Paris 1890ff., s.v. Brotier. * Vgl. S. 23-24. 5 Die „ratio studiorum" der Jesuiten blieb von 1599-1832 praktisch unverändert.
Brotiers Leben und Schriften
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Möglichkeit, die antiken Autoren gründlich kennenzulernen. Brotier machte davon reichen Gebrauch. Er widmete viele Stunden am Tage der Lektüre lateinischer und griechischer Autoren. Das zurückgezogene, der Wissenschaft gewidmete Leben zog ihn völlig in seinen Bann. Den Ordensoberen blieben seine Neigungen und Fähigkeiten nicht lange verborgen. Als die Stelle eines Bibliothekars am Collège Louis le Grand in Paris zu besetzen war, fiel ihre Wahl auf Brotier. Von 1756-62 verwaltete er dieses Amt, das er vermutlich in stiller Beschaulichkeit bis zu seinem Lebensende bekleidet hätte, wenn nicht in dem eben genannten Jahre 1762 der Jesuitenorden in Frankreich aufgelöst worden wäre und zugleich die Verfolgung der Jesuiten eingesetzt hätte1. Brotier mußte wie die meisten seiner Ordensbrüder Frankreich verlassen. In der Zeit des Exils blieb er seinen Studien treu. Er besuchte nämlich die Vatikana, wo er Tacitushandschriften kollationierte. Ohne den Zwang, Frankreich verlassen zu müssen, wäre er wohl niemals ins Ausland gereist. So wichtiges Material für seine späteren Arbeiten er in diesen Wanderjahren auch sammeln konnte, suchte er doch möglichst bald wieder an irgendeinem Ort sich fest niederzulassen: Im Hause der ihm seit langem befreundeten Pariser Verleger Guérin und de la Tour fand er einen sicheren Zufluchtsort, an dem er - ähnlich wie Erasmus beiFroben in Basel - ungehindert seinen Studien nachgehen konnte. Dort verbrachte er die letzten Jahre seines Lebens. In seiner Heimat erfreute er sich eines hohen Ansehens. Diese Anerkennung fand ihren öffentlichen Ausdruck in seiner Aufnahme in die „Académie des Inscriptions et Belles-Lettres" im Jahre 1781. Ihr, der sog. „kleinen Akademie", gehörten als Mitglieder u.a. Jean Jacques Barthélémy (Voyage du jeune Anacharsis), Jean Baptiste Gaspard d'Ansse de Villoison (Herausgeber der Venet. Iliasscholien) und der Elsässer Philipp Brunck (Herausgeber u.a. von Sophokles, Apollonios und Aristophanes) an. Brotier verdankt dem Jesuitenorden eine Erziehung, die in ihren Grundzügen der alten humanistischen Tradition verhaftet war, d. h. sie zielte darauf hin, die Fähigkeit auszubilden, die alten Autoren formal nachzuahmen. Die sog. Realien und die immer stärker aufkommenden Naturwissenschaften wurden darüber vernachlässigt. An einer seiner ersten Schriften kann man ablesen, wie Brotier von dieser Erziehung geprägt worden ist. Er nimmt in einem zu seiner Zeit die gesamte Öffentlichkeit bewegenden Streite Stellung gegen das „Lager" der Aufklärung und verteidigt die Lehre der Kirche. In einer Flugschrift verurteilt er verschiedene Thesen des Abbé de Prades, die 1 Vgl. L. Koch, Jesuitenlexikon, Paderborn 1934, s. v. Frankreich. Erst 1764 wurde der Parlamentsbeschluß vom König bestätigt.
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Zweiter Teil
Angriffe auf christliche Glaubenslehren enthielten1. Die gleiche Streitschrift zeigt Brotier nicht nur als Theologen. Auch als Philologe kritisiert er seinen Gegner. Dieser hatte nämlich erklärt, sich bei der Abfassung seiner lateinisch verfaßten Thesen einzig der Autoren des augusteischen Zeitalters als Stilmuster bedient zu haben. Brotier weist ihm dagegen nach, daß er viele Worte benutzt hat, die Autoren späterer Zeit - vor allem den Kirchenvätern - entnommen sind. Fernerhin hält er ihm mehrere grammatische Fehler vor. Ganz ersichtlich erfüllen die philologischen Beobachtungen Brotiers in diesem Zusammenhang nicht einen Selbstzweck, sondern dienen der Polemik. Es ist jedoch kennzeichnend für ihn, daß er in dieser im übrigen maßvollen Schrift den Fragen des lateinischen Stils seine Aufmerksamkeit schenkt. Auf dieser Stufe seiner Entwicklung ist er noch mit einigen weiteren theologischen Arbeiten beschäftigt. Schon vor der Aufhebung des Ordens verliert jedoch die Theologie ihre Anziehungskraft auf ihn, ohne daß die Gründe dafür genannt werden, und an ihre Stelle treten die verschiedensten philologischen, historischen und antiquarischen Studien. Ihnen ist der größte Teil der über 50 von Brotier verfaßten Schriften gewidmet. Es gibt darunter Untersuchungen über einzelne römische und griechische Inschriften, größere Abhandlungen über antike Münzen, Aufsätze über Geographie und Astronomie der Antike, kurze Betrachtungen über verschiedene Themen, z.B. über die Labyrinthe, die Circusspiele, die Seide bei den Römern, den Gott Apis und eine Geschichte der Gartenanlagen2. Ferner übersetzt er Epiktet, versieht die Plutarchübersetzungen von Amyot mit einem erläuternden Kommentar, gibt Phaedrus' Fabeln mit Supplementen3 und den älteren Plinius heraus, dessen Edition jedoch nicht mit der nötigen Sorgfalt ausgeführt wurde, da der Verleger zu überstürzter Eile drängte. Weiterhin finden sich in Brotiers Nachlaß u.a. unvollendete Kommentare zu Vellejus, Sueton und Florus, außerdem Materialien zur Vorbereitung einer Straboausgabe und eine Abhandlung über die Hieroglyphen, die er entziffert zu haben glaubte. Schon aus dieser Aufzählung geht hervor, welchen Gebieten er sein Interesse zuwandte. Man kann noch darauf hinweisen, daß etwa Homer, die griechische Tragödie, Vergil oder Horaz außerhalb seines Gesichtskreises lagen. Der einzige Dichter, mit dem er sich befaßt hat, Phaedrus, wurde von ihm vermutlich nur wegen der darin regelmäßig 1 „Examen de l'Apologie de l'abbé de Prades" par G. Brotier, 1753. De Prades war kürz zuvor auf Grund seiner Thesen von der Sorbonne verwiesen worden. Er mußte Frankreich verlassen und fand auf Empfehlung Voltaires Zuflucht bei Friedrich dem Großen. 2 Benati Rapini Societatis Jesu Hortorum libri IV, et cultura hortensis. Hortorum historiam addidit Gabriel Brotier, Paris 1780. 3 Phaedri Fabularum libri V cum supplementis Gabrielis Brotier, Paris 1783.
Brotiers Leben und Schriften
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ausgesprochenen. Moral geschätzt. Der Autor, der ihn am stärksten beschäftigt hat, war ohne Zweifel Plinius. Viele von Brotiers Aufsätzen dienen der Erklärung der Naturalis historia. Wie Plinius ist auch Brotier ein unermüdlicher Leser und fleißiger Exzerptor. Um seine Arbeitsmethode kennenzulernen, soll eine seiner oben angeführten Schriften etwas genauer betrachtet werden, nämlich seine Tacitusausgabe, die unter seinen philologischen Schriften wohl den ersten Bang einnimmt. Von Ernestis Ausgabe1 ausgehend, die er seiner Textgestaltung zugrundelegte, kommt er durch erneutes Vergleichen der wichtigsten Tacitushandschriften, Hinzuziehen vieler älterer Ausgaben und Einsichtnahme in die Handexemplare bedeutender Philologen (Muretus, Huetius, Petavius und Cuiacius) an manchen Stellen zu besseren Lesarten, als sie Ernesti bietet. In einem ausführlichen kritischen Apparat führt er jeweils alle ihm erreichbaren Varianten an und begründet dann seine Entscheidung. Eigene Konjekturen wagt er so gut wie gar nicht2. Diesen Mangel an Einfallsgabe sucht er durch verdoppelten Fleiß zu kompensieren. Außer den textkritischen Anmerkungen bietet er noch einen ausführlichen Kommentar mit Erläuterungen, die dem Sachverständnis des Textes dienen sollen3. Fast alle im Text erwähnten Privat- und Staatsaltertümer, Personen und historischen Ereignisse werden unter Hinzuziehung von Inschriften, Münzen, archäologischen Monumenten und natürlich auch der literarischen Überlieferung abgehandelt. In diesem mit großer Sorgfalt gearbeiteten Kommentar tut Brotier sein möglichstes, dem Leser das Verständnis der Schriften Tacitus' zu erleichtern. Seine Fähigkeiten und ihre Grenzen treten klar zutage: er gibt z.B. einerseits in einem „Stemma Caesarum"4 einen ausgezeichneten Überblick über die nicht leicht überschaubaren Verwandtschaftsverhältnisse im Julisch-Claudischen Herrscherhaus, andererseits belastet er den Leser unnötig mit einer Prosopographie6 der Partherkönige von 256 v. Chr. - 233 n. Chr., während zur Erläuterung der Annalen und Historien eine Übersicht über die Könige des ersten Jahrhunderts n. Chr. völlig ausreichend gewesen wäre. So finden sich noch mehrfach neben den zahlreichen Belegen dafür, daß seine große Belesenheit und seine Kenntnis der Monumente sinnvolle Früchte gezeitigt haben, solche Stellen, die mit 1
Taciti Opera, ed. J. A. Ernesti, Leipzig 1752. Z.B. in Ann. 5,4 schlägt er statt des sinnlosen „quandoque Germanicis titium poenitentiae senis", das die Handschrift bietet, vor: „quandoque Germanici stirpem, ubi spatium poenitentiae senis, resurgere". 3 Brotier, a.a.O., Bd. 1, praef. S. 26: „historiae fidem adstruere, lucemque ei adfundere". * Brotier, a.a.O., Bd. 1, S. 462-481. « Brotier, a.a.O., Bd. 2, S. 361-365. 2
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Zweiter Teil
seinem eigentlichen Vorhaben, der Tacituserklärung, schlecht vereinbar erscheinen: Allein 14 Seiten verwendet er dazu, um im Anschluß an Historien 5,13 (Belagerung Jerusalems) alles das wiederzugeben, was er über chinesische Juden erfahren hat1. In der Regel vermag er sich jedoch von Dingen, die nicht zur Sache gehören, freizuhalten und bewahrt sich das Gefühl für die historische Bedeutung der Dinge. Wenn auch der Kommentar sich in den alten Geleisen einer von Zitaten lebenden Sacherklärung bewegt, zeigt er an einer Stelle doch eine neue Betrachtungsweise : Um nämlich die Behauptung zu widerlegen, Tacitus habe in der Germania seiner Phantasie freien Lauf gelassen, vergleicht er die Sitten der Germanen mit denen der Franzosen des frühen Mittelalters und vor allem mit den Sitten der sog. Wilden, d. h. der kanadischen Indianer, Grönländer und anderer Volksstämme, die fern der Zivilisation leben2. Er greift damit einen Gedanken auf, der zu jener Zeit gleichsam in der Luft lag. Leider läßt sich nicht ermitteln, ob er sich durch die Beobachtungen des Engländers Robert Wood hat anregen lassen. Dieser hatte auf Reisen in Griechenland und Kleinasien entdeckt, mit welcher Treue zur Wahrheit Homer Natur und Sitten geschildert hat ; denn Wood hatte viele Sitten aus der Zeit des Epos unverändert vorgefunden. Seine Auffassung von Homer legte er in dem vielbeachteten „Essay on the original genius and writings of Homer" vor (London 1769; 1773 von Michaelis ins Deutsche übersetzt). Aus der Besprechung von Woods Schrift durch den Göttinger Philologen Heyne soll hier ein Satz angeführt werden, in dem diese damals neue Betrachtungsweise zusammengefaßt wird: „Aus Reise- und Länderbeschreibungen der Wilden und anderer Völker, die in einer noch unausgebildeten Gesellschafts- und Staatsverfassung leben, lernt man das meiste für Homer"3. Vertauscht man in dieser Formulierung nur den Namen Homers mit dem Tacitus', so wäre damit genau die Regel ausgesprochen, der Brotier in seinem Germaniakommentar gefolgt ist. Über die Anwendung dieser Betrachtungsweise hinaus lassen sich in Brotiers Arbeit kaum noch weitere 1
Brotier, a.a.O., Bd. 3, S. 571 ff. Es handelt sich dabei um Nachrichten einiger Jesuiten, die als Missionare in China waren. Weitere Beispiele: Er verteidigt den Zölibat (vgl. Bd. 1, S. 396 zu Ann. 3, 28) und verurteilt den Selbstmord (vgl. Bd. 1, S. 453 ff. zu Ann. 6, 29). 2 Brotier, a.a.O., Bd. 1, praef. S. 27: „Ut aboleretur opinio, quae apud quosdam invaluit, Taciturn in Germaniae descriptione plus ingenio, quam veritati induisisse, Germanorum mores cum veteribus nostris legibus et historiis, cum vigentibus adhuc moribus illorum, quos barbaros ferosque appellamus, quod aevi prioris humanitatem nondum dedocuere, assidue contuli. Sic enim approbatum est, Taciturn non modo fuisse maximum antiquitatis pictorem, sed et verissimum." 3 Heyne, Rezension von Woods Essay in: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, März 1770, S. 258.
Brotiers Leben und Schriften
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Berührungspunkte mit aktuellem Gedankengut nachweisen. Unter einem anderen Gesichtspunkt sei seine Tacitusausgabe noch betrachtet. Aus ihrer Vorrede geht hervor, daß Brotier von der Anschauung beherrscht wird, aus den Schriften Tacitus' ließen sich unmittelbar praktische Lehren für das Leben, vor allem für das politische Leben, ziehen1. So finden sich in seinem Kommentar zuweilen moralische und politische Betrachtungen. Neben den textkritischen Erörterungen und den sachlichen und sprachlichen Erläuterungen des Kommentars nehmen sie nur einen verschwindend geringen Raum in Anspruch und treten nicht stark in Erscheinung. Brotier hat jedoch einen anderen Weg - außerhalb des Kommentares - eingeschlagen, um auf die Lehren Tacitus' über sittliches und politisches Handeln hinzuweisen. Er stellt unter einzelnen Stichworten wie „patria, virtus, religio" passende Sentenzen aus Tacitus' Schriften zu einem „Corpus civilis prudentiae" zusammen2. Der Einfall dazu stammt nicht von ihm. Im 17. und 18. Jahrhundert sind Betrachtungen moralischer Natur zu Tacitus nicht selten. Es gibt einen „Tacitus axiomaticus: de principe, de ministris et bello cum sacris exemplis et Thucydide locis congruis sparsim collatus" von 1658, einen Kommentar politischer Art von Scipio Ammirato, 1594, der in mehrere Sprachen übersetzt wurde3, ein ähnlich geartetes Werk Boeclers von 1648, dann die „Reflexions politiques sur Tacite" von Amelot de la Houssaie, 1692, und endlich Gordons „Political discourses upon Tacitus", 1728-314. Diese Erscheinung muß in größerem Zusammenhang gesehen werden. Derartige Kommentare und Florilegien aus dem 17. und 18. Jahrhundert hat man zu fast jedem lateinischen Autor. Es gibt „Excerpta ex Livii Decadibus moralia, politica et histórica", 1625; es gibt „Curtius Rufus cum notis politicis" von Loccenius, 1648; es gibt „Medulla et fructus Terentiani seu sententiae ethicae, politicae, oeconomicae . . . excerptae", 1608; es gibt 1 Brotier, a.a.O., Bd. 1, praef. S. 25: „Quisquís politicam prudentiam addiscere cogitat, Taciturn legat. Qui mentem ea imbutam percupit, Taciturn relegai. Hac via iere sapientiae proceres, quos prior aetas mirata est. Hac pergant, quos gloria et utilitatis publicae Studium accendit." 2 Das Corpus . . . ist erst in der 2. Aufl., 1776, enthalten. Brotier, a.a.O., Bd. 1, praef. S. 29: „Nihil reliquum mihi visum, quam ut miram in Tacito rerum civilium prudentiam, omnibus celebratam, nec umquam satis praedicatam, sub uno quasi intuitu conspiciendam, et politicae scientiae cupidis facile parabilem proponerem. Quod ut adsequerer, Taciti politica non modo collegi, sed et ex iis politicum quoddam corpus conflavi, quod, quae in publicae rei vitaeque communis usu praeeipua sunt, complecteretur." 3 Scipionis Ammirati dissertationes politicae ex Italico in Latinum versae, 1609. In der französischen Tacitusübersetzung von Baudoin, 1628, gleichfalls enthalten. 4 Th. Bitterling, Studien zur Wirkung des Cornelius Tacitus in der Neuzeit, Diss. Göttingen 1959, S. 49£F., führt Beispiele aus Brotiers „civilis prudentiae corpus" an. B. betrachtet auch die Kommentare von Amelot und Gordon.
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„Flores philosophici ex Virgilii . . . libris Aeneidos boni principia ideam ethicam politicamque exhibentibus collecti", 1682; es gibt „Observationes civiles, morales . . . ad Sallustii Opera", 1671; es gibt „Selecta e Cicerone praecepta", 1751; - und alle diese Werke, deren Reihe sich lange fortsetzen ließe, werden nicht einmal, sondern wiederholt gedruckt1. An dieser Art, die Autoren zum Zwecke der politischen und moralischen Belehrung zu lesen, begannen seit dem Ende des 17. Jahrhunderts einige wenige Philologen Kritik zu üben. Der schon erwähnte Hallenser Professor Christoph Cellarius z.B. stellt der „civilis prudentia" die „humanior litteratura" und die Beschäftigung mit der Sprache gegenüber2. J. A. Ernesti lehnt derartige Kommentare noch schärfer ab und fordert ebenfalls stattdessen die intensive Beschäftigung mit der Sprache: „Interpretes nactus est Tacitus numero permultos, sed non admodum valde probandos. Sunt autem duo genera . . . alteram horum, qui prudentiae civilis e Tacito discendae magistros se professi sunt. Hujus generis magna multitudo superiori saeculo extitit. Etenim tempus fuit, quo in magno pretio ista ratio haberetur, atque adolescentes cupide et frequenter ad scholas confluèrent in quibus non tarn agebatur hoc, ut Tacitus recte intelligeretur, quam ut civilis prudentia, ut iactabant, e Tacito disceretur: allicientibus stultitiam adolescentum illius rationis praeconibus, qui Políticas artes induere isti aetati stulte tentarent. Abiit tempus illud. Coeptum est intelligi, quam parum utilis in eo labor susciperetur. Itaque et libri ex eo genere nec requiruntur
hodie, nec leguntur. Merito.
Etenim haec
ratio Taciti interpretandi, quae congerendis similibus sententiis exemplisque, et eliciendis quibusdam consectariis, ad mores vitamque humanam pertinentibus continetur, nec ingenii aliquid requirit, nec quidquam docet, quod non sua sponte cuivis in mentem veniat, ubi verba Taciti recte intellexerit"3. Es ist hier weder der Raum, ausführlich auf die Argumente einzugehen, die jede von beiden Seiten für sich ins Feld führt, noch ist es 1 Die Titel werden nach Schweigers Handbuch der clasaischen Bibliographie, Leipzig, 1832-1834, und nach Eberts Allgemeinem bibliographischen Lexikon, Leipzig 1821, zitiert. Über das Nachleben des Tacitus in Frankreich vgl. Jürgen von Stackelberg, Tacitus in der Romania, Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, Tübingen 1960. 2 Cellarius urteilt in der Vorrede seiner Curtiusausgabe (1688) über die ihm vorliegenden Curtiusausgaben: „philosophiam civilem et morum disciplinam magis, quam humaniorem litteraturam sectantur". Über seine eigene Ausgabe sagt er ebendort: „Adnotationibus iis illustravi, quibus non minus geographiae et historiae, quam usui latinitatis eatur, quod haec praecipua existimamus, ad quae respiciendum iis sit, qui maiorum sibi studiorum ex scholis praesidia expetunt". 3 Ernesti, Taciti Opera, Leipzig 1772, 2. Aufl., praef. S. 49f.
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möglich, die Entwicklung im einzelnen zu skizzieren. Es geht in diesem Zusammenhang nur darum, einen ungefähren Überblick über die Lage zu Brotiers Zeit zu gewinnen : Mit aller Vorsicht läßt sich so viel sagen, daß in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Zahl der mit politischen und moralischen Kommentaren versehenen Ausgaben sehr zurückgegangen ist. Neue Werke dieser Art werden so gut wie gar nicht mehr verfaßt. In Deutschland gelangt man zu jener Zeit durch Winckelmann, Herder und Lessing zu einem neuen Verhältnis zur Antike, das eine derartige Betrachtung eines lateinischen oder griechischen Autors ausschließt. Im 19. Jahrhundert setzt sich diese Auffassung in ganz Europa durch. Brotier steht also am Ende einer langen Tradition. Brotiers
Tacitussupplemente
Wie schon oben dargelegt wurde, steht Brotier noch ganz unter dem Einäuß des althumanistischen Erziehungsideals, dessen Hauptziel darin bestand, so wie die alten Autoren selbst schreiben zu können1. Es kann daher nicht überraschen, daß er sich für sein Vorhaben, Supplemente zu schreiben, ausdrücklich auf einen Vorgänger beruft und dabei den nennt, dem es nach dem allgemeinen Urteil gelungen war, seinem Stilmuster Tacitus in der eigenen Schreibweise nahezukommen, nämlich Lipsius2. Brotier will genau so wie dieser Supplemente im Stil und der Art des Tacitus verfassen. Als Lipsius von seinen Supplementen sprach, gebrauchte er die Formulierung „Corneliano exemplo stiloque"; Brotier nimmt das mit dem Ausdruck „stilo moreque Corneliano" unmittelbar wieder auf3. Neben Lipsius stand auch Johannes Freinsheim Pate zu Brotiers Supplementen: Brotier bleibt dem von Freinsheim formulierten Prinzip treu, in den Ergänzungen keinerlei Anzeichen erkennen zu lassen, die auf einen modernen Ver1
„Die Absicht des alten Betriebes war es, Fertigkeit in der Imitation der Alten zu erzielen." Friedrich Paulsen, Geschichte des Gelehrten Unterrichts, Leipzig 1919, 3. Aufl., Bd. 2, S. 17. 2 Brotier, a.a.O., Bd. 1, praef. S. 21, Fußnote 2: „(Lipsius) majorem laudem adhuc reportaturus, si libros edidisset, quibus contexuerat Caianam historiam et initia Claudii Corneliano exemplo stiloque, ut ipse testatur in notis ad Ann. XI." 3 Brotier, a.a.O., Bd. 1, praef. S. 27: „cum summopere dolorem, Taciturn truncum ac mutilimi circumferri, ad Supplementa advertí animum, non quod Taciturn acquari posse conflderem, sed ut plenior faciliorque flueret ejus narratio, si deperdita ex veterum scriptorum et monumentorum fide supplerentur, stilo moreque Corneliano expressa." Wie der hier hervorgehobene Nebensatz („non quod . . . ") zeigt, kennt Brotier den Einwand des Cellarius („stilum ingeniumque (Curtii) aequare, supra conditionem saeculi nostri esse existimamus") wohl, schiebt ihn aber beiseite.
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fasser deuten könnten. Außerdem folgt er ihm in dem Verfahren, zu jedem einzelnen Kapitel die jeweils gerade hinzugezogenen Autoren als Quellen anzugeben. In einem Punkt schreitet Brotier über Freinsheim hinaus. Da Freinsheim alles in seine Ergänzungen aufnahm, was er irgendwo über Alexander gelesen hatte, enthalten seine viel zu umfangreichen Curtiussupplemente manches, was man bei Curtius wohl kaum würde lesen können. Im Gegensatz dazu trifft Brotier eine sorgfältigere Auswahl aus den Quellen, so daß seine Supplemente in ihrem Umfang ungefähr der Größe der Lücke entsprechen, die sie schließen sollen1. Der Hinweis auf Lipsius und Freinsheim ermöglicht eine Einordnung der Supplemente Brotiers. Brotier hat sich diese beiden Gelehrten und nicht den ihm zeitlich viel näherstehenden Cellarius zum Vorbild genommen. Er verfaßte keine Supplemente in der Form von „Summarien", sondern solche, die ihrer Konzeption nach ins 15.-17. Jahrhundert gehören. Es bleibt die Frage nach ihrer Ausführung zu beantworten. In dem folgenden Teil der Untersuchung sollen darum ausgewählte Stellen aus den Supplementen zu den Annalen einen Einblick in Brotiers Arbeitsweise gewähren. Es soll dabei festgestellt werden, welche Quellen Brotier für seine Ergänzungen benutzt hat, und ob er ihre Angaben gegebenenfalls ändert. Ferner wird gefragt, nach welchen Prinzipien er seine Auswahl aus ihnen getroffen und wie er die Ereignisse gruppiert hat. Weiterhin müssen seine eigenen Zusätze herausgeschält und charakterisiert werden. Dabei wird das Problem berührt, auf welche Punkte Brotier bei der Tacitusnachahmung besonderen Wert gelegt hat. In engem Zusammenhang damit steht der Fragenkomplex, ob sich die Tacitusnachahmung nur auf bestimmte Gebiete erstreckt oder ob sie im ganzen Werk durchgeführt worden ist. Das erste Kapitel des ergänzten 7. Buches der Annalen lautet: „Audita Romae Tiberii morte, trepidatum ne nova abstrusiorque dissimulatio omnium ruinam pararet. Postero die, certioribus nuntiis, quo tardiora, eo acriora erupere odia ; pudebatque, vel post fata, tristissimum principem timuisse. Plebs, ut metus, sie laetitiae et spei immodica, gaudio furere: pars „Tiberium in Tiberini" clamitare: pars „Terram matrem, deosque Manes orare, ne mortuo sedem ullam, nisi inter impíos darent": alii „uneum et Gemonias" cadaveri minitari. Omnes exaeerbavit recens atrocitas : saevitum enim in damnatos, qui in diem deeimum, quo de Tiberio erat nuntiatum, dilati, hominum fidem, absente novo Principe, implorabant. Inritis preeibus, a custodibus, 1
In Brotiers Ausgabe werden vier Bücher von Tacitus' Annalen (Buch 12-15) auf 199 Seiten, vier Bücher der Supplemente zu den Annalen (Buch 7-10) auf 144 Seiten wiedergegeben.
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ne quid adversus constitutum fieret, sunt strangulati, et corpora in Gemonias abjecta, pristina crudelitate superstite"1. Als erstes fällt die teilweise wörtliche Übereinstimmung mit Sueton, Tiberius 75 auf: „Morte eius ita laetatus est populus, ut ad primum nuntium discurrentes, pars Tiberium in Tiberim clamitarent ; pars Terram matrem deosque Manes orarent, ne mortuo sedem ullam nisi inter impíos darent ; alii uncum et Gemonias cadaveri minarentur, exacerbati super memoriam pristinae crudelitatis etiam recenti atrocitate2. Nam cum senatus consulto cautum esset, ut poena damnatorum in decimum semper diem differetur, forte accidit, ut quorundam supplicii dies is esset, quo nuntiatum de Tiberio erat. Hos implorantes hominum fidem, quia absente adhuc Caio, nemo extabat, qui adiri interpellarique posset, custodes, ne quid adversus constitutum facerent, strangulaverunt, abieceruntque in Gemonias. Crevit igitur invidia, quasi etiam post mortem tyranni saevitia permanente." Auch andere Ergänzer hatten Auszüge aus den als Quellen benutzten Autoren im Wortlaut kaum verändert wiedergegeben. Brotier folgt jedoch nicht sklavisch seiner Quelle, sondern trägt den Erfordernissen der verschiedenen literarischen Gattungen Rechnung: In Suetons Biographie war die Erwähnung des Senatsbeschlusses, der eine zehntägige Frist zwischen dem Urteil und seiner Vollstreckung vorsah, zum Verständnis des Sachverhaltes erforderlich. In den Annalen hatte Tacitus zum Jahre 21 (Ann. 3,51) diesen Senatsbeschluß verzeichnet. Darum kann Brotier darauf verzichten, diese Frist von zehn Tagen zu erklären. Er hat somit eine Beziehung zu Tacitus hergestellt und gleichzeitig die ihm vorliegende Quelle gekürzt. Vergleicht man die zwei Berichte unter diesem Gesichtspunkt noch weiter, so fällt eine zweite größere Kürzung der Suetonstelle sofort ins Auge. Statt der ausführlichen Begründung Suetons: „Caligula war noch nicht in Rom, es gab also niemanden, den man um Gnade für die Verurteilten hätte angehen können", bietet Brotier nur die kurze Notiz: „Der neue Herrscher war abwesend". In dem Zusammenhang der Stelle meint Brotier mit seiner Bemerkung das gleiche wie Sueton, er spricht es jedoch nicht aus, sondern überläßt es dem Leser, zu erraten, warum er die Abwesenheit des Herrschers gerade hier erwähnt3. 1 Die Zusätze Brotiers — d.h. das, was er in diesem Kapitel keiner direkten Vorlage verdankt - sind kursiv gedruckt. 2 Brotier hat den Begriff „atrocitas" in seiner Fassung personifiziert, um eine Stileigenheit Tacitus' nachzuahmen (vgl. A. Draeger, Über Syntax und Stil des Tacitus, Leipzig 1882, 3. Aufl., S. 123). Dergleichen stilistische Änderungen nimmt Brotier häufiger am Suetontext vor. 3 Ein weiteres Beispiel für die Kürzung Suetons ist das Fortfallen des „post mortem tyranni" in der Fassung Brotiers.
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Als zweite Quelle für dieses Kapitel (Suppl. 7,1) ist Josephus, Ant. Jud. 18,225 herangezogen worden. Es wird dort die Reaktion in Rom auf die Nachricht von Tiberius' Tod geschildert: ,,'Ρωμαίοις δ' ήκε μέν πύστις της Τιβερίου τελευτης εύφραίνοντό τε τω άγαθω της αγγελίας, ού μην πιστεύειν γε θ-άρσος ήν αύτοΐς, ού τω μή βούλεσθαι, προ πολλών γάρ αν έτιμήσαντο χρημάτων το επαλήθευσαν των λόγων, δέει δέ μή ψευδοϋς της άγγελίας γενομένης προεξαναστάντες επί δηλώσει του αύτών χάρματος είτ' άπολλύοιντο διαβολής αυτών γενομένης." Josephus berichtet, daß man den Tod des Herrschers herbeisehnte, sich jedoch davor fürchtete, seine Freude über die Nachricht zu früh zu äußern, da es möglicherweise ein vom Kaiser selbst lanciertes Gerücht sein könnte. Um nicht hart zur Rechenschaft über vorzeitige Freudensäußerungen gezogen zu werden, zog man es vor, zunächst zu schweigen. Diese Überlegungen faßt Brotier in einem kurzen Satz („trepidatum ne nova abstrusiorque dissimulatio omnium ruinam pararet" 1 ) zusammen. Wiederum überläßt er es dem Leser, sich aus dieser Andeutung den Sachverhalt vorzustellen. Zweifellos beabsichtigt er dabei, mit dieser und den an Sueton vorgenommenen Kürzungen den gedrängten Stil Tacitus' nachzuahmen, dessen allgemein bekannte Kürze von dem Leser dauerndes Mitdenken verlangt 2 . I n einem Punkte weichen die Berichte beider Quellen voneinander ab : Nach Sueton äußert das Volk auf die erste Nachricht von dem Tode des Tiberius seine Freude, während Josephus von dem anfänglichen Mißtrauen berichtet, mit dem die Nachricht in Rom aufgenommen wird. Der eine zeigt damit die allgemeine Unbeliebtheit des Herrschers, ohne ihre Gründe anzugeben, der andere schildert, wie fest verwurzelt im römischen Volk die Anschauung von des Tiberius Tücke und Hinterhältigkeit war. Hier, wo sich die Quellen in einer Einzelheit so eindeutig widersprechen 3 , macht sich Brotier die Lesart zu eigen, die es ihm ermöglicht, das von Tacitus vorgezeichnete Tiberiusbild unverändert zu übernehmen und mit den gleichen Farben weiter auszumalen. Denn den Ausdruck „abstrusior dissimulatio" gebraucht Brotier an dieser Stelle nicht beziehungslos. Beide Worte finden sich 1 Die Verbindung „trepido, ne" ist nur zweimal belegt (Juv. 1,97; 14,64). Vgl. Kühner-Stegmann, Grammatik der lateinischen Sprache, 1955, 3. Aufl., 2. Bd., S. 253. 2 Brotier, a.a.O., Bd. 1, praef. S. 13: „Ula brevitas, quae in Annalibus eminet" ; S. 13: „Pressior, acrior, sententiis quam verbis abundantior." 3 Sueton hätte eine derartige Nachricht nicht verschwiegen, wenn sie ihm bekannt gewesen wäre. Er sagt jedoch zu Caligulas Tode (Cal. 60): „Nam ñeque caede (sc. Cai) vulgata statim creditum est; fuitque suspicio, ab ipso Caio famam caedis simulatam et emissam, ut eo pacto hominum erga se mentes deprehenderet".
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bei Tacitus, der damit Tiberius charakterisiert . Nicht allein diese Formulierung enthält Anklänge an Tacitus. Noch deutlicher tritt die bewußte Anlehnung an einen Gedanken Tacitus' in dem Zusatz Brotiers hervor, mit dem er das Volk charakterisiert, das sich über die Todesnachricht freut: „Plebs, ut metus, sie laetitiae et spei immodica, gaudio furere". Ihren taciteischen Ursprung kann diese Sentenz nicht verleugnen, wenn man ihr die Vorlagen - Ann. 15, 23: „atque ipse (sc. Nero) ut laetitiae, ita maeroris immodicus"; Hist. 1,69: „ut est mos, volgus, mutabile subitis et tarn pronum . . . quam immodicum"; Hist. 2,29: „versi in laetitiam, ut est volgus utroque immodicum" - an die Seite stellt. Mit dieser von Tacitus übernommenen Aussage über die menschliche Natur vollzieht Brotier den Übergang von Josephus' zu Suetons Bericht (von „metus" zu „laetitia"2). Josephus hatte bei seiner Darstellung nur das Schicksal des Agrippa im Auge und berichtete darum so ausführlich über die Gerüchte um die Todesnachricht, weil sein Held seine Freude zu früh geäußert hatte und für kurze Zeit in großer Gefahr schwebte. Die Freude des römischen Volkes über die Befreiung vom verhaßten Tyrannen brauchte er mit keinem Wort zu erwähnen3. So kontaminiert Brotier beider Berichte, da ihm Josephus nur die eine wichtige Nachricht über das Gerücht bei Tiberius' Tod bot, während er aus Sueton eine schon fertig komponierte Volksszene übernehmen konnte, bei der er nur eine Einzelheit („ad primum nuntium") zu unterdrücken brauchte, und die er durch eine einleitende Reflexion („pudebatque, vel post fata, tristissimum Principem timuisse"4) vertiefen konnte5. An vielen Stellen des Supplementes findet man weiteres Material über die Art, wie Brotier aus den Nachrichten der antiken Autoren Tacitus wiederherzustellen versucht. Im 7. Buch, dessen Anfangskapitel eben vorgelegt wurde, schildert er die glückverheißenden Anfänge der Herrschaft Caligulas. Aber in diesem leuchtenden Bild fehlen die dunklen Farben nicht. Die Nachricht Suetons®, Caligula habe den Saturnalien einen weiteren 1
„Abstrusus" begegnet nur einmal bei Tacitus: Ann. 1,24: „abstrusum Tiberium". Zu „dissimulatio" vgl. Ann. 4,71 : „nullam aeque Tiberius, ut rebatur, ex virtutibus suis quam dissimulationem diligebat." 2 Als Bindeglied zwischen den Darstellungen der beiden Quellen dient auch das: „quo tardiora, eo acriora erupere odia". 3 Josephus, 18, 234: „τη 8è ΰστεραία λόγος τε πλείων ήν (certioribus nuntiis) κατά τήν πόλιν ισχυριζόμενος έπί τη τελευτη του Τιβερίου . . . έπιστολαΐ δέ άφίκοντο παρά τοϋ Γάιου . . . " * „Fatum" bzw. „fata" in der Bedeutung von „mors" ist in Anlehnung an den taciteischen Wortgebrauch gesetzt. 6 Aus dem Streben nach stärkerer Wirkung ist die Verwandlung des „laetatus" zu „gaudio furere" zu verstehen. „Gaudio furere" ist eine der Antike unbekannte Zusammenstellung; vgl. Thea. LL s. vv. e Suet. Cal. 17; Dio 59,6,4. Der Suetonbericht steht fast unverändert bei Brotier, Suppl. 7,24.
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Festtag, den sog. Juvenalis, hinzugefügt, übernimmt Brotier und versieht sie mit dem Zusatz : „Olim, vivida adhuc libertate, ea semper optatae, nunquam expertae, felicitatis monimenta uno tantum die fuere celebrata: duos addidit Julius Caesar, imminente Servitute: illa vigente, quarto ac demum quinto crevere. Neo umquam laetior fuit libertatis memoria, quam cum nulla exstitit libertas"1. Diesen historischen Abriß über die Zahl der Festtage an den Saturnalien hat Brotier selbst zusammengestellt. Es lohnt sich, ihn genauer zu betrachten: Mit der Zeitbestimmung „vivida adhuc libertate" wird die Zeit der Republik bezeichnet. Das entspricht der Anschauung Tacitus', nach der die Freiheit in der Republik herrschte. Finden sich doch bei Tacitus mehrfach Gegenüberstellungen der Art, daß die Zeit der Freiheit, die Republik, mit der Zeit der Knechtschaft unter den Kaisern verglichen wird2. Diese Auffassung von einer fortschreitenden Verschlechterung der Zustände von den goldenen Zeiten der Republik an hat sich Brotier zu eigen gemacht. Er spricht darum so, wie Tacitus seiner Meinung nach die Einführung eines neuen Festtages kommentiert haben könnte. Indem er nicht ein einfaches Faktum berichtet, sondern die Zahl der Festtage in ein Verhältnis zur Größe der bestehenden Freiheit setzt, kommt er zu dem Ergebnis: „Je stärker die Freiheit beschränkt wird, desto größer wird die Zahl der Festtage." Etwas von der pessimistischen Bitterkeit Tacitus' ist in dem Schlußsatz Brotiers „Nec umquam laetior fuit libertatis memoria, quam cum nulla exstitit libertas" ohne Zweifel zu spüren. Einen weiteren Beleg dafür, daß Brotier diese taciteische Betrachtungsweise übernommen hat, bietet ein geringfügiger Zusatz in Suppl. 7,36. Die Beschreibung des feierlichen Staatsaktes, in dem Caligula einige Könige über asiatische Reiche einsetzt3, leitet Brotier mit den Worten ein: „Digna vetere Roma melioribusque temporibus scena, nihilque priscae majestatis omissum." Auch hier weist Brotier auf den Abstand zwischen einer besseren Vergangenheit und der bedrückenden Gegenwart hin, der nur in kurzen Augenblicken überbrückt werden kann. Ähnliches findet sich oft bei Tacitus: Ein Ereignis oder ein Mensch können nicht höher gelobt werden als durch den Hinweis auf eine bessere Vergangenheit, der sie eigentlich angehören4. Solche Ur1
Suppl. 7,24. Vgl. Tacitus, Hist. 1,1; Agricola 1,1; Ann. 1,1; 1,4. Den Hinweis auf die glückbringende Herrschaft Nervas und Trajans (Hist. 1,1) braucht man in diesem Zusammenhang nicht zu berücksichtigen. 3 Die Quelle für dieses Ereignis, Dio 59,12,2, gibt keinerlei Wertung des Vorganges. 4 Vgl. Tacitus Hist. 1,3: „Ipsa nécessitas fortiter tolerata et laudatis antiquorum mortibus pares exitus". Ann. 6,29: „Scaurus, ut dignum veteribus Aemiliis damnationem anteiit". Ann. 2,88: „qua gloria aequabat se Tiberius priscis 2
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teile Tacitus' übernimmt Brotier. Er legt in seinen Ergänzungen den gleichen Wertmaßstab an. Im 9. Buch z.B. berichtet Brotier von dem Verfahren Messalinas und der Freigelassenen Claudius', gegen entsprechende Kaufsummen das römische Bürgerrecht bedenkenlos zu verschleudern. Er übernimmt auch von seinem Gewährsmann Dio, dem er hier folgt, die Formulierung, „das Ansehen des römischen Bürgerrechtes sei so tief gesunken, daß es nur noch den Wert von zerbrochenem Glas habe1." Er läßt jedoch den bezeichnenden Zusatz folgen: „sie nomen (sc. civis Romani), quanta cum imperii utilitate, tanta Urbis laude, cum praestantissimis et opulentissimis exterarum regionum viris sapienter a majoribus communicatum, coepit evilescere." Brotiers Hinweis auf das weise und würdige Verhalten in der Republik hebt den in der Kaiserzeit eingetretenen Sittenverfall stärker hervor. Die bisher gebrachten Beispiele haben nur gezeigt, wie Brotier das, was ihm die Quellen vorschrieben, übernommen und mit einem Zusatz in taciteischer Manier versehen hat. Jetzt soll darum ein instruktives Beispiel dafür gegeben werden, wie Brotier sein Material aussucht, es bearbeitet und in die Supplemente einfügt. Bei Plinius fand er unter den zahlreichen Beschreibungen von menschlichen Krankheiten im 26. Buch der Naturalis historia den Hinweis, daß die Flechte (mentagra) während der Herrschaft des Claudius zum erstenmal in Rom auftrat2. Ein römischer Ritter hatte sie aus Asien eingeschleppt. Nebenbei erwähnt Plinius noch, daß diese Krankheit Frauen, Sklaven und das einfache Volk verschonte; nur Männer der höheren Gesellschaftsschicht wurden von ihr befallen. Diese Notiz erweckte Brotiers Interesse. Er brauchte nur noch den naheliegenden Gedanken auszusprechen, daß die Lebensführung der vornehmen Römer das Auftreten dieser Krankheit begünstigt haben muß. Die in der römischen Republik noch unbekannte Krankheit stieß zu dem Zeitpunkt auf keinen Widerstand mehr, als die altrömische ,,virtus" dem Luxus und den Ausschweifungen gewichen war. In der Rolle des Tacitus spricht Brotier die Lehre aus, die man aus dieser Erscheinung ziehen muß: „Im Rom der Kaiser wird der Zuwachs an Macht, Reichtum und Luxus mit dem Auftreten neuer Laster und Krankheiten erkauft3." Brotier wollte diese Betrachtung nicht beziehungslos in die Ergänzungen setzen. Allein für sich stehend und ohne einen Platz im Rahmen der Annalen hätte diese Notiz unorganisch gewirkt. Darum ordnete Brotier sie in einen größeren Zusammenhang ein. Er verstand es, sie imperatoribus, qui venenum in Pyrrum regem vetuerant". Ann. 3, 55: „sed praeeipuus adstricti morie auetor Vespasianus fuit, antiquo ipse cultu victuque". 1 Dio 60, 17,5f. - Suppl. 9,46. 2 Plinius, n.h. 26,1. 3 Der lateinische Text folgt auf der nächsten Seite. 5 8104 Sdmiidt
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mit zwei anderen Berichten zu verbinden und dieser so gewonnenen kleinen Einheit von drei Kapiteln einen exponierten Platz anzuweisen: Seine Betrachtung findet sich zwar mitten im 10. Buch, liegt aber dennoch direkt vor einem deutlich erkennbaren Einschnitt. Mit diesen genannten drei Kapiteln (Suppl. 10,23-25) findet nämlich der Bericht über das Jahr 45 n. Chr. sein Ende und Brotier durfte an diesem Einschnitt - wie es Tacitus bisweilen tat - in einer Rückschau über das zu Ende gegangene Jahr Ereignisse erwähnen, deren Anführung an anderer Stelle störend wirken könnte1. Bevor er von der Krankheit „mentagra" spricht, berichtet er von der neugierigen Schaulust, mit der in Rom damals ein Hermaphrodit aufgenommen wurde2. Das Erscheinen eines Hermaphroditen, bemerkt er dazu, galt einst als ein Zeichen, das Sühnung verlangte, jetzt dagegen bereitet es den Römern einen Augenkitzel. Ferner berichtet er von der Verpflanzung einer Fischsorte in italienische Küstengewässer3. Die Züchtung dieses wohlschmeckenden Fisches dient allein dem Ziel, die seiner Meinung nach schon zu aufwendigen Gelage mit neuen Delikatessen zu überladen. Kurzum, „die Sitten neigen sich dem Luxus zu" 4 . Auf diese Darstellung eines ausschweifend luxuriösen Lebens folgt als Gegengewicht die Schilderung der dadurch hervorgerufenen Krankheit : „At ne vieta videretur natura, paullo post quidam Perusinus, eques Romanus, quaestorius scriba, mentagram, luem maioribus patribusque incognitam, ex Asia importavit. Malum, tamquam feminas plebemque negligerei, in proceribus ad omne luxus ingenium praecipuis veloci transitu oscuü ita grassabatur, ut occuparet in multis totos vultus, oculis tantum immunibus, descenderet in colla pectusque et manus, foedo cutis furfure. ... Et certe id toto aevo observatione dignum, quod quantum opibus et deliciis, tantum vitiis et morbis crevimus"h. Die Zusätze, die Brotier in diesem Kapitel zu seiner Quelle Plinius macht, lassen eines deutlich erkennen : Er faßt Tacitus als Tugendrichter auf, der an seiner entarteten Zeit Sittenkritik hat üben wollen. Diesen Zug seines Vorbildes bemüht er sich nach Kräften nachzuahmen. Wie Tacitus versieht er darum die von ihm benutzten Quellen mit Reflexionen über die sittliche Verfassung der handelnden Personen. 1 Vgl. Tacitus, Ann. 16, 13 (zum Ende des Jahres 65 n. Chr.; mit Ann. 16,14 beginnt ein neues Jahr) : „Tot facinoribus foedum annum etiam dii tempestatibus et morbis insignavere." 2 Quelle dafür ist Phlegon, de rebus mirabilibus, Kap. 6. 3 Es handelt sich um den Fisch „scarus" (vgl. Plinius, n.h. 9,62). 4 Suppl. 10,24: „mores ad luxuriam proni" - vgl. Tacitus, Ann. 6,16: „antiqui et minus corrupti mores". Hist. 2,37: „corruptissimum saeculum". 6 Suppl. 10,25. Die Zusätze Brotiers (zu dem Bericht Plinius', n.h. 26,1) sind durch Kursivdruck hervorgehoben.
Suppl. Ann.
7,1-20
Zur Ergänzung der eben angeführten Stellen und der aus ihnen gewonnenen Erkenntnis soll nun ein zusammenhängender Abschnitt von 20 Kapiteln (Suppl. 7,1-20) betrachtet werden. Denn noch besteht der Einwand zu recht, daß die ausgewählten Stellen nicht repräsentativ für das ganze Werk sind. Ihn zu entkräften, gibt es keine bessere Widerlegung, als in einer größeren Textfolge die gleichen Tendenzen (Streben nach Kürze und moralischer Belehrung) nachzuweisen. Unser Augenmerk wird deshalb darauf gerichtet sein, festzustellen, wie oft Brotier in diesem Abschnitt moralisch wertende Zusätze hinzufügt. Der Übersichtlichkeit halber empfiehlt es sich, die betreffenden Kapitel hier ungekürzt wiederzugeben und Brotiers Zusätze durch Kursivdruck hervorzuheben. Zu diesem Verfahren sei noch ein Hinweis gestattet: Brotier hebt niemals seine Einschübe von dem übrigen Text ab. Es ist darum für diese Kapitel ein Vergleich der Supplemente mit den ihnen zugrundeliegenden Quellen vorausgegangen, wobei geklärt wurde, wie weit Brotier jeweils den von ihm angegebenen Quellen folgt und wo er von sich aus eigenes hinzufügt1. Suppl. 7, 1 : vgl. S. 60f. Suppl. 7,2: „Animos molliere literae Caii Caesaris ad senatum cum testamento Tiberii a Macrone adlatae. 'Caelestes religiones avo decerni' mandabat. 'se modo Romam venturum, et cum patribus de república consulturum. Juvenem, Germanici filium, benevolentia foverent, consiliis regerent'. Testamentum vero, quo Tiberius biennio ante duos nepotes aequis partibus heredes scripserat, Claudium in spem tertiam, legato etiam circa vicies sestertio, adsumpserat, rescindi, et Caium Principerà appellari curabat Macro. De testamento et Caio Principe statim adsensere patres, principatus arbitrio superbi, veteremque ignominiam ulturi pariter et novum, favorem eodem dedecore emercaturi. De mortui caelestibus honoribus post adventum Principis consultandum censuere" 2 . Suppl. 7,3: Interim Miseno Romam Tiberii corpus per milites deportabatur. Effusus oppidorum populus densissimo ac laetissimo agmine undique adcurrit, ad novae dominationis obsequia, quam ad funerum sollemnia, paratior. Non lacrimis, non ploratibus, sed confusis in invisum Princi1 Starke Kürzungen und Zusammenfassungen der in den Quellen gegebenen Berichte gelten nicht als Zusätze. 2 Josephus, Ant. Jud. 18,6,10; Dio 59,1,3; Sueton, Tib. 76, Cal. 6. 5*
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Zweiter Teil
pem dicteriis, festis vocibus et laudibus Caii Caesaris, lugentis habitu funus prosequentis, omnia personant. Ipse incedens inter altaría et victimas taedasque ardentes et feralis pompae ministeria, sui fama fruitur, et in avum convitia majori maestitiae ac pietatia specie invitât1. Suppl. 7,4: Urbem noctu ingressus, mane Tiberium, antequam publico funere cremaretur, plurimis lacrimis, modicis laudibus celebravit, magna de Augusto, maxima de Germanico, nonnulla de se prolocutus. Mox cum patribus curiam subiit; paucaque et modesta praefatus, imbellem coheredis aetatem querens, seque illi patrie loco futurum pollicitus, inrumpente turba, inritaque Tiberii volúntate, Princeps omnium vocibus salutatur. Varia honorum nomina, Augusto probata, a Tiberio spreta, in Caium, gliscente semper adulazione, aggerantur. Modestias retinens incertum, an simulator, omnia remisit: studia hominum, ob memoriam patris, miserationemque prope adflictae domus, jam accensa, omni genere popularitatis incendere enisus2. Suppl. 7,5: Ut magis exardescerent, confestim Pandatariam et Pontias, ad transferendos matris fratrisque ciñeres, festinavit, tempestate túrbida, quo magis pietas emineret: adiitque venerabundus, ac per semet in urnas condidit. Nec minore scena Ostiam, praefixo in biremis puppe vexillo, et inde Romam Tiberi subvectos, per splendidissimum quemque equestris ordinis, medio ac frequenti die, duobus ferculis Mausoleo intulit : inferiasque his annua religione publice instituit : matri Circenses carpentumque, quo in pompa traduceretur, addidit. In memoriam quoque patris Septembrem mensem Germanicum appellavit. Caelestium religionum, quas avo petierat, plane incuriosus3. Suppl. 7,6: Eodem in domus suae superstates studio, Antoniae, aviae, quidquid umquam Livia Augusta honorum cepisset, uno senatusconsulto congessit: patruum Claudium, equitem Romanum ad id tempus, collegam sibi in consulatu destinavit: fratrem Tiberium die virilis togae adoptavit, appellavitque 'principem juventutis'. De sororibus auctor fuit, ut omnibus sacramentis adjiceretur, 'neque me liberosque meos cariores habeo, quam Caium et sorores ejus': consulum vero relationibus, 'quod bonum felixque sit C. Caesari sororibusque ejus' praemitteretur4. 1 2 3 1
Sueton, Sueton, Sueton, Sueton,
Tib. 75, Cal. 13. Cal. 13; 14; 15; Dio, 59,3; Philo, Legat, ad Caium 26. Cal. 15; Dio 59, 3; Gruter, Inscriptions, S. 227 ( = Dessau 180, 183). Cal. 15; Dio, 59,3.
Suppl. Ann. 7, Í-20
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Suppl. 7,7: Haec imperii primordio,, bonum inter ac malum ambigua, et principalibus curis minora, populus, virtutum ruáis, admirari, tamquam felicitatis omina eztollere, diis grates agere tam immodice, ut tribus proximis mensibus, ac ne totis quidem, supra centum sexaginta millia victimarum ceciderint. Caesar, insita levitate, et adulantium lenociniis vanus, insuper opibus a Tiberio acervatis tumens, ad solita juvenum Principum vitia divertere : nova sectari : superioris principatus aequa et iniqua pariter immutare: laudes potius, quam dominationem aucupari1. Suppl. 7,8: Nihil jam pristinae severitatis réliquum. Damnati relegatique ullo sine discrimine restituuntur. Criminum, quae ex priore tempore superant, gratiam facit : ne domesticarum quidem injuriarum memor, commentarios ad matris et fratrum causas pertinentes, convectos in forum, obtestatus déos, 'ñeque legisse, neque attigisse quidquam', concremat: Titi Labieni, Cordi Cremutii, Cassii Severi scripta, senatusconsultis abolita, requiri, vulgari, passim lectitari probat, dictitans 'sua interesse, ut facta quaeque posteris tradantur' 2 . Suppl. 7,9: Auctoritatis aeque negligerle, voluit ut 'magistratibus libera foret jurisdictio, et sine sui appellatione : populus, more comitiorum revocato, ferret suffragia; rationesque imperii, ab Augusto proponi solitae, sed a Tiberio inter arcana habitae, publicarentur.' Adversus ipsa vitia audax, nondum virtutis certus, spintrias, ne profundo mergeret exoratus, Urbe submovit. Saeviit quoque in équités Romanos, equumque palam iis ademit, quibus aut probri aliquid, aut ignominiae inerat: si minore culpa tenerentur, eorum nomina in recitatione omissa3. Suppl. 7,10: Poenas, vitiorum dedecore, reorum dignitate, plebi haud illaetas, liberalitate adhuc exhilaravit, persolutis Tiberii legatis, licet, inrito ejus testamento, fuissent abrogata. Populo CCCCL, praetorianis singula nummum millia, Urbanarum cohortium et Vigilum militibus quingenos nummos, legionariis, ceterisque extra Italiani in numéros relatis, aut in minoribus oppidis praesidia agitantibus trecenos viritim elargitus, addidit ex sua munificentia singulis praetorianis una sestertia, populo sexagenos denarios, quos, quod cum virilem togam sumpsisset promiserat, et Tiberium veritus omiserat, fenore quindecim 1 2 3
Dio 59,2; 6; 7; Philo, Legat, ad Caium l l f . ; 356. Sueton, Cai. 15; 16; Seneca, contr. 5, praef. Sueton, Cai. 16; Dio 59, 9.
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denariorum auetos cuique reddidit. Pari fide ac sine calumnia Liviae Augustae legata, a Tiberio suppressa, exsolvit: singulari utriusque Principie vitio Ule tarda liberalitate, hic praecoce prodigentia pariter damnandus1. Suppl. 7,11: In partem laetitiae venere reges exteri. Agrippa, supremo Tiberii prineipatu imperium Caio precatus, ob idque vinetus, libertatem recuperavit; et ad abolendam injuriae invidiam, simul et in necessitudinis praemium, catena aurea, ferreae aequipondio, donatus, rexque appellatus, Philippi ac Lysaniae tetrarchias aeeepit. Antiochus in Commagenen, patre defuneto, ad jus praetoris translatam, fuit restitutus: ejus quoque regno adjecta Ciliciae maritima; eique redditum sestertium millies2. Suppl. 7,12: Faustos novae dominationis nuntios, per provincias in majus diditos, audiit Artabanus, fugato Tiridate, reeeptoque regno ferox. Mox Vitellii artibus, et adversus Tiberium odio potius, quam in Caium studio, positis hostilibus animis, Euphraten transgressus, pacem paciscitur; atque, ut interpositam fidem magis obligaret, Romanas aquilas, Augustique ac Caii imagines adoravit, liberosque obsides dedit, dignitatis suae oblitus, ut veteres iras ulcisceretur3. Suppl. 7,13: Imperii, ob pacem inopinato firmatam exsultantis, laetitia increvit accessione consulatus, quem Caius Claudiusque Calendis Julii iniere. Numquam acrioribus studiis certatum, intentis ad beneficia consulibus, civitate ad obsequia effusa. Princeps in senatu orationem habuit, qua 'Tiberium suspicacem et obscurum, libidinibus foedum, avaritia sordidum, crudelitate atrocem, religionis ineuriosum, reipublicae splendori infensum' criminatus, adseveravit, 'se avi patrisque virtutes aemulaturum : inter exercitus eduetum, senatus populique Romani alumnum, non sibi, sed patriae victurum: bonis ac miseris facilem, sceleribus tantum implacabilem, nihil dominationis usurpare velie, nisi ut deum sacra, civium jura, publicam libertatem tueatur: satis magna fore, eaque una optare, principati^ sui decora, illaesam imperii majestatem, et adsertam populi felicitatemi Haec quanto rarius audita, tanto avidius accepta. Et ne Principi, qui optimus videbatur, malo fieri liceret, decretum a senatu 'ut ejus oratio quotannis recitaretur': quasi adultam dominantium licentiam moraretur pristinae virtutis memoria11. 1 2 3 1
Sueton. Tib. 76; Cal. 16; Dio 59, If. Dio 59,8; Josephus, Ant.Jud. 18,6; Bell.Jud. 2,9. Tacitus Ann. 6,41; 44; Sueton, Cai. 14; Vit. 2; Dio 59,27. Tacitus, Ann. 1,41; 69; Dio 59,6.
Suppl. Ann. 7, 1 - 2 0
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Suppl. 7,14: Interim Caesar, futurorum improvidus, factis magis, quam verbis, Tiberio invidiam movere; Vetera odia renovare; ad liberalitatem, humanitatem, magnificentiam, aliaque, superiore principatu, rara vel ignota, curas omnes convertere: sublatum majestatis crimen: jus novum de servorum in domini caput quaestione non modo antiquatum, sed et mulier libertina, quod tormentis excruciata, de scelere patroni reticuisset, octoginta millibus sestertium donata est. Edebantur ludi; regaliaque impendia passim ostentabantur. Inter haec speciosiora tarnen, quam laudabiliora, egregia vox excidit : oblatum enim de salute sua libellum non recepit Princeps, 'nihil sibi admissum' dictitans, 'cur cuiquam invisus esset: ñeque se delatoribus aures habere'1. Suppl. 7,15: Quaesita quoque ex religione commendatio. Tertio Calendas Septembres, templum, quod Augusto Tiberius struxerat, a Caio, triumphali veste induto, dedicatum est, virginibus puerisque nobilissimis hymnum cantantibus. Atque ut solemnibus sacris celebritatem adderet, senatui, equestrique ordini, conjugibus etiam ac liberis splendidissimum epulum, congiarium populo trecenos sestertios, dedit. Hilaritati quoque publicae omnigenis musicae concentibus, novatisque ludis consultum2. Suppl. 7,16: Postridie laetiora adhuc rediere spectacula ob Principis natalem. Sejugibus, quod nemini hactenus usurpatum, vectus prodiit. Ceterum nihil oblitus, quo modestiam popularitatemque testaretur, ne signum quidem ludorum dedit, ipse tarnen, circumstantibus sororibus sodalibusque Augustalibus, spectator: vetitis omnibus, quae laetitiam imminuere; quae augere possent, permissis. Supra solitum equi certavere. Interjecta adhuc Trojae decursio, tantaque venatio, ut CCCC urei, totidemque aliae Libycae belluae, perierint3. Suppl. 7,17: Urbs, spectacidorum avida, et renascentis veteris splendoris imagine superba, conceptas de Germanico et Germanici sanguine, spes memorare, supéralas prdedicare. Quisque, ut ingenio validus, privates ac públicos honores excogitabat. Inter públicos, decretus clipeus aureus, quem quotannis collegia sacerdotum in Capitolium ferrent, senatu prosequente, nobilibus pueris ac puellis, carmine modulato, laudes virtutum Principis canentibus: decretum quoque ut dies, quo cepisset imperium, Palilia vocaretur, velut rursus conditae Urbis argumentum4. 1 2 3 4
Tacitus, Ann. 2,30; Sueton, Cai. 15,16; Dio 59,4. Tacitus, Ann. 6,45; Sueton, Tib. 47; Cal. 17; Dio 59,7. Sueton, Cai. 8; 18; Dio 59,7. Sueton, Cai. 16.
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Zweiter Teil
Suppl. 7,18: Consulatus, non vero laetitiae, finem fecere cónsules suffecti Idibus Septembres. Diffusa etiam per provincias festivitate, ubique tanto Hilarius victitatum, quanto maestior fuerat morum austeritas, imperitante Tiberio. At Princeps, natura imbutus malis artibus, mentitas ob avi metum species virtutum ponere: primo conviviis, mox scortis, deinde luxui ita indulgere, ut centies sestertio cenaverit, et immensum illud Tiberii vicies ac septies millies sestertium ferme absumpserit 1 . Suppl. 7,19: Morbus, libidinum comes, artus, olim cardiaco morbo debilitatos, nunc ebriositate, ac turpiore intemperantia corruptos, incessit. Vitiis adhuc secretis, passim publicatis virtutibus, quasi parens patriae ipsaque respublica periclitarentur, sumpto justitio, cunctis circa palatium pernoctantibus, comploratum. Studia civium adeo erant incensa, ut P. Afranius Potitus, plebeius homo, caput suum pro salute Principis voveret ; Atanius Secundus, eques, gladiatoriam operam promitteret. Provincias, navibus ineunte autumno ex Italia remeantibus, periculum statim edoctas, idem luctus occupât 2 . Suppl. 7,20: Recreata Caii valetudine, ut plura sunt gaudii, quam maestitiae, signa, nec jam incerta adulatio, effusior quoque exstitit laetitia. At mentes gravius, quam corpora, saepe adfligit libido. Sano Caesaris corpore, mens aegra, nec remedii patiens, ad vitia delabi: gloriam, ambitionem, quibus ad infamiam, si a virtute defiexeris, nihil validius, sectari : nullus supra ceteros eminendi modus. Primumque scelus omnia vicit superioris principatus facinora3. Alle der eben wiedergegebenen 20 Kapitel enthalten Zusätze Brotiers. In drei Kapiteln ist sogar der größere Teil der Darstellung auf Brotier und nicht auf die von ihm benutzten Autoren zurückzuführen 4 . Für die übrigen 17 Kapitel jedoch und - wenn man dies Ergebnis verallgemeinert - für die Supplemente in ihrer Gesamtheit gilt, daß Brotier von sich aus nur kleinere Bemerkungen einzuflechten pflegt. Man darf vermuten, daß sie alle demselben schon bekannten Ziele dienen, die Supplemente nicht als eine Aneinanderreihung von Quellenberichten über einzelne historische Fakten, sondern als ein 1 Sueton, Cal. 17; 37; Dio 59,2; 7; Philo, Legat, ad Caium l l f f . ; Seneca, Consol, ad Helviam, 9. 2 Tacitila, Ann. 1,16; 2,82; Sueton, Cal. 14; 27; Dio 59,8; Philo, Legat.ad Cai.um 14-21; 356. 3 Philo, Legat.ad Caium 14-21. 4 Suppl. 7,7; 13; 20.
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Suppl. Ann. 7, 1-20
Werk aus dem Geiste Tacitus' erscheinen zu lassen . Geht man diese 20 Kapitel daraufhin durch, so findet man mehrfach Zusätze, die in ihrer Art an die psychologische Bemerkung über das Verhalten des Volkes bei der Nachricht von Tiberius' Tod erinnern (vgl. Suppl. 7,1 : „plebs . . . immodica"; 7,7: „immodica") und ebenso wie diese nicht selten an ähnliche Formulierungen bei Tacitus anklingen. Da heißt es z.B. über das Volk, „es sei zum Gehorsam gegenüber der neuen Herrschaft geneigter als zu den Begräbnisfeierlichkeiten"2; ,,es freue sich über die Bestrafung von Höhergestellten"3 ; „es sei auf Schauspiele erpicht"4 und „es sei nicht in der Lage, Tugenden zu erkennen"5. Den Senatoren wird u. a. der Vorwurf gemacht, mit der Entscheidung über den Prinzipat - den sie gegen den letzten Willen des Tiberius Caligula ungeteilt zuerkannten - „würdelos"6 gehandelt zu haben, da sie mit dieser Entscheidung „in gleicher Weise die alte Schmach hätten rächen und sich neue Gunst erwerben wollen"7. Auf ein Übel wird in besonderem Maße hingewiesen; es ist die Schmeichelei, die sich immer weiter ungehindert ausbreite8. Sie trage zu einem guten Teile Schuld daran, daß der junge Herrscher den Versuchungen der Macht erlegen sei®. 1
1 Die Zusätze, die ausschließlich überleitende Funktion haben - z.B. Suppl. 7,6: „eadem in domus suae superstites studio" - , bleiben dabei unberücksichtigt. 2 Suppl. 7,3: „ad novae dominationis obsequia paratior". Zu vergleichen wäre etwa Tacitus, Dial. 41: „in obsequium regentis paratus"; ferner Ann. 3,65. Man beachte den Gebrauch eines „abstractum pro concreto", eine bei Tacitus häufige Erscheinung. - Belege dafür bei A. Draeger, a.a.O., S. 2f. und H. Furneaux, Tacitus, Annales with notes, 1896, 2. Aufl., Bd. 1, S. 42. Eine direkte Parallele für den Gebrauch von „dominatio" statt „dominus" findet sich in Ann. 12,11: „ut non dominationem et servos, sed rectorem et cives cogitaret". 3 Suppl. 7,10: „poenas . . . plebi haud illaetas". Zu „illaetus" vgl. weiter unten S. 81. 4 Suppl. 7,17: „urbs spectaculorum avida"; vgl. Ann. 14,14: „vulgus cupiens voluptatum" - das Stichwort „spectaculum" ist kurz zuvor gefallen. 6 Suppl. 7,7: „populus virtutum rudis"; vgl. Dial. 19; Hist. 1,35 - eine direkte Parallele ist bei Tacitus jedoch nicht nachzuweisen. • Suppl. 7,2: „dedecore"; vgl. Ann. 3,65: „dedecore". 7 Suppl. 7,2; Unter alter Schmach ist die Behandlung zu verstehen, die Tiberius dem Senat - vor allem bei der Übernahme seines Prinzipats - hat zuteil werden lassen; die neue Gunst ist die des Caligula. Antithesen wie hier „novus vetus" sind in diesen 20 Kapiteln keine seltene Erscheinung: vgl. 7,20: „sano Ca«saris corpore, mens aegra"; 7,19: „vitiis adhuc secretis, passim publicatis virtutibus"; 7,16: „vetitis omnibus, quae laetitiam imminuere; quae aligere possent, permissis"; 7,13: „bonis ac miserie facilem, sceleribus tantum implacabilem." 8 Suppl. 7,4: Das Ergebnis eines historischen Überblicks von Augustus' bis zu Caligulas Zeit lautet: „gliscente semper adulatione"; vgl. Tacitus, Ann. 1,1: „gliscente adulatione"; Ann. 3,47; 14,64; 1,57 etc. (Vgl. Suppl. 8,4: „equus consul destinabatur, magna Principie, majore adulatorum infamia".) * Suppl. 7,7: „Caesar . . . adulantium lenociniis vanus, ad solita juvenum Principum vitia divertere."
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Zweiter Teil
Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht uninteressant, der Frage nachzugehen, wie Brotier den Charakter Caligulas in diesen 20 Kapiteln - vor allem in den eigenen Zusätzen - zeichnet. Gleich das erste öffentliche Auftreten des neuen Herrschers anläßlich der Überführung von Tiberius' Leiche nach Rom erscheint in Brotiers Darstellung nicht als ein Akt der Pietät, sondern als der gelungene Versuch eines Heuchlers, sich die Gunst des Volkes zu erwerben1. Noch mehrfach wird die Heuchelei als eine der hervorstechendsten Charakterzüge des Caligula hervorgehoben2. Findet man diese Eigenschaft auch nur selten von den Quellen bezeugt3, so kann sich Brotier doch auf ein Zeugnis berufen, das ihn verpflichtet, dieses Charakterbild zu entwerfen. Der Autor, den er ergänzen will, Tacitus selbst, spricht davon, daß Caligula von seinem Großvater Tiberius die Verstellung gelernt habe 4 . Eine andere Komponente von Caligulas Wesen ist seine Unbeständigkeit, Leichtfertigkeit und das mangelnde Gefühl für Würde®. Brotier verschweigt z.B. nicht, daß die ersten Entscheidungen und Taten seiner Regierung - u.a. die verschiedenen Ehren für seine nächsten Verwandten - Caligula beim Volk in hohes Ansehen setzten; er fügt jedoch zugleich die einschränkenden Worte hinzu, daß „auf einen Herrscher wohl größere Aufgaben warteten"®. Auch die von Caligula durchgeführte Amnestie, die von allen Autoren ausnahmslos positiv bewertet wird7, läßt Brotier durch eine kleine zusätzliche Bemerkung fragwürdig erscheinen; sie sei „ohne jeden Unterschied" angewendet worden8. Er hält damit dem an sich lobenswerten Gedanken einer Amnestie den Einwand entgegen, daß nicht unterschiedslos begnadigt werden dürfe. Die Amnestie fällt somit unter die Maß nah 1
Suppl. 7,3: „ipse incedens . . . sui fama fruitur, et in avum convitia majori maestitiae ac pietatis specie invitât." Die Verbindung „specie pietatis" bzw. „specie maestitiae" ist so typisch taciteisch, daß eine Anführung der vielen Parallelstellen sich hier erübrigt. 2 Z.B. Suppl. 7,4: „modestiae retinens incertum, an simulator"; 7,18: „at Princeps . . . mentitas ob avi metum species virtutum ponere"; 7,16: „ceterum nihil oblitus, quo modestiam popularitatemque testaretur." 3 Das Bild vom Charakter Caligulas, wie ihn die antiken Autoren sahen, zeigt Wolf Steidle, Sueton und die antike Biographie, München 1951, S. 74ff.; vgl. M. Geizer, RE s. ν. Julius Caligula. 4 Tacitus, Ann. 6,45: „nam, etsi commotus ingenio, simulationum tarnen falsa in sinu avi perdidicerat"; Ann. 6,20: „C. Caesar . . . immanem animum subdola modestia egens." 5 Vgl. Suppl. 7,7: „insita levitate"; 7,8: „nihil iam pristinae severitatis reliquum"; 7,9: „auctoritatis aeque negligens"; 7,14: „futurorum improvidus". Unter diesem Gesichtspunkt sieht ihn Dio 59, 3-4. 6 Suppl. 7,7: „Haec imperii primordia, bonum inter ac malum ambigua, et principalibus curia minora." 7 Vgl. Sueton, Cal. 15; Dio 59, 6, 2. 8 Suppl. 7,8: „Damnati relegatique ullo sine discrimine restituuntur."
Suppl. Ann. 7, 1-20
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men Caligulas, die Brotier kurz zuvor mit den Worten bezeichnet hat : „superioris principatus aequa et iniqua pariter immutare"1. Bald darauf gibt er detailliert die Höhe der einzelnen Geldbeträge an, die Caligula dem Volk und den Soldaten als Geschenk auszahlen ließ2. Sein Bericht erhält jedoch eine eigene Bewertung dieser Freigebigkeit durch die abschließende Betrachtung, die sich nicht in den von ihm benutzten Quellen findet: „Caligula sei in diesem Punkt nicht weniger zu verurteilen als Tiberius. Der eine sei dem Laster des Geizes, der andere der Verschwendungssucht Untertan gewesen"3. Was als Tugend erschien, die Treue, mit der Caligula seinen Verpflichtungen nachgekommen ist - u.a. zahlte er die von Tiberius zurückgehaltenen Legate der Livia aus4 -, eben dies, so legt es Brotier dem Leser nahe, habe man auf den Mangel an ,,virtus" im Charakter des Kaisers zurückzuführen. In seiner gewohnten Kürze hat Brotier-Tacitus nicht expressis verbis den Gegensatz ,,virtus-vitium" ausgesprochen5. Mit diesen und ähnlichen Stellen®, an denen Brotier es verstanden hat, scheinbar lobenswerte Handlungen des neuen Herrschers durch eine kleine Bemerkung unversehens in einem völlig anderen Licht erscheinen zu lassen, bereitet er den Leser auf die dann einsetzenden Ereignisse vor7. Folgt doch nun jene bekannte Krankheit Caligulas und das erste Verbrechen, die Ermordung seines Miterben Tiberius8. Die Her1
Suppl. 7,7. * Suppl. 7,10. 3 Suppl. 7,10: „singulari utriusque Principia vitio, ille t a r d a liberalitate, hic praecoce prodigentia pariter d a m n a n d u s . " (Man beachte wieder die Antithese.) 4 Suppl. 7,10: „pari fide legata exsolvit". 5 Die Gedankenarbeit, die der Leser an dieser Stelle zu leisten hat, ist etwa bei Seneca, Epist. 120, 8 vollzogen: „Adiiciam quod mirum fortasse videatur: mala interdum speciem honesti obtulerunt, et optimum ex contrario nituit. Sunt enim, u t seis, virtutibus vitia confinia, et perditis quoque ac turpibus recti similitudo est. Sic mentitur prodigue liberalem." • Vgl. Suppl. 7,14: „speciosiora, q u a m laudabiliora"; 7,13: Die Rede Caligulas, in der er sein Regierungsprogramm vorlegt. Die großen Hoffnungen, die eine solche Ankündigung erwarten ließ, stellt Brotier als eitel dar durch die bittere Bemerkung: „quasi a d u l t a m dominantium licentiam moraretur pristinae virturis memoria". 7 Alle antiken Autoren berichten übereinstimmend von den glückverheißenden Anfängen der Regierung Caligulas. Vgl. Steidle, a . a . O . , S. 74ff. Brotier weist ebenfalls in fast jedem dieser 20 Kapitel auf die allgemeine Freude des Volkes hin („laetitia, hilaritas, gaudium, imperium exsultans, festae voces . . . " ) . Gleichzeitig bringt er mehrfach Hinweise auf die Fehler des neuen Kaisers u n d f ü h r t den Uberschwang der ersten Freude mehr auf die Unbeliebtheit des Tiberius als auf die Verdienste des Caligula zurück (Suppl. 7, 1-3, 12-14, 18). So k a n n Brotier den jähen Umschwung vermeiden, den Sueton (Cal. 22) in seiner Darstellung vollzieht: „ H a c t e n u s quasi de principe; reliqua u t de monstro n a r r a n d a sunt." 8 Suppl. 7,20: „ P r i m u m q u e scelus omnia vicit superioris principatus facinora"
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Zweiter Teil
vorhebung der Tatsache, daß dies Verbrechen das erste der Regierung Caligulas gewesen sei, ist nicht von ungefähr geschehen. Legt doch Tacitus in den erhaltenen Teilen der Annalen auf diese Formulierung - „primum facinus" - großen Wert1. Dem Kenner der Parallelstellen bot sich daher zwangsläufig die Vermutung an, daß Tacitus auch an der betreffenden Stelle in den verlorengegangenen Büchern der Annalen diesen Ausdruck gebraucht haben wird. Und wie diese eine Formulierung aus Tacitus übernommen worden ist, so gibt es noch viele andere ähnliche Entlehnungen. Wo Brotiers Zusätze in ihrem Wortlaut jedoch nicht auf Tacitus selbst zurückgeführt werden können, lassen sie sich doch fast ausnahmslos unter die taciteische Maxime zusammenfassen: „Praecipuum munus annalium reor, ne virtutes sileantur utque pravis dictis factisque ex posteritate et infamia metus sit"2. Die Urteile Brotiers über Volk, Senat und Princeps3 in diesen 20 Kapiteln bestätigen diese Feststellung. Es gibt darüberhinaus mehrfach Äußerungen Brotiers, in denen er seine Ansicht über die moralischen Ziele der Geschichtsschreibung unumwunden ausspricht, z.B. Suppl. 7,27: „quorum sceleribus historia earn infamiam inurat, ut pares numquam videat aetas postera!" und Suppl. 16,52: „Historia, quae quidquid in vitiis insolens ad odium commendare gestit . . . .".
Brotier im Verhältnis zu seinen Quellen
Bei der Betrachtung von Brotiers Zusätzen ist die Frage nach der Art seiner Quellenbenutzung bisher etwas vernachlässigt worden. Einige Fragen wurden schon im Vorübergehen berührt, z.B. daß er sich oft wörtlich an Sueton anlehnt (Suppl. 7,1)4. Man begegnet dieser Erscheinung häufig bei Brotier. Während in nur vier der 20 Kapitel keine einzige Phrase aus Sueton stammt, sind in jedem der übrigen Kapitel kürzere und längere Partien mehr oder weniger unverändert dem genannten Autor entnommen. Dabei wiederholt sich das, was schon zu Suppl. 7,1 festgestellt wurde: Brotier kürzt die Berichte Suetons. Oft sind die Streichungen nur geringfügiger Art, und man kann auf ganze Sätze und kleinere Abschnitte aus Sueton treffen, die weitgehend unverändert geblieben sind8; andererseits (etwas zu konsequent an der Depravationstheorie festhaltend, läßt Brotier dies eine Verbrechen alle Verbrechen zu Tiberius' Zeiten übertreffen). 1 Jeweils beim Regierungsantritt eines neuen Herrschers; vgl. Tacitus, Ann. 1,6; 13,1; zu Tiberius' und Neros' ersten Verbrechen. 2 Tacitus, Ann. 3,65. 3 Auch der Partherkönig Artabanus erhält einen Seitenhieb: „dignitatis suae oblitus" (Suppl. 7,12). 4 Vgl. S. 60. 5 Z.B. Suppl. 7,5 - Sueton, Cal. 15.
Brotier im Verhältnis zu seinen Quellen
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strafft Brotier die Ausführungen Suetons in ganz erheblichem Maße1. Diese Tendenz zu Kürzungen läßt sich übrigens in allen Teilen der Supplemente feststellen und erstreckt sich gleichmäßig auf alle Quellen2. Brotier ist jedoch der Gefahr entgangen, mit seinen Supplementen einzig einen historischen Überblick in trockener Kürze zu geben. Er spricht ja selbst davon, daß er Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Moral schreiben will3. Dies Ziel hat er mit Tacitus gemeinsam. Diese Übereinstimmung mit seinem Vorbild darf allerdings nicht zu hoch bewertet werden als das Ergebnis etwa einer intensiven Bemühung Brotiers, sich in Tacitus einzufühlen ; denn man darf nicht vergessen, daß noch in Brotiers Jahrhundert die meisten Historiker kaum etwas anderes kannten und pflegten als die moralische Geschichtsschreibung. Von den Erfordernissen dieser traditionsreichen Art der Geschichtsschreibung läßt sich Brotier bei seiner Ergänzungsarbeit leiten. Er prüft die Quellen nicht auf die Frage hin, „wie es eigentlich gewesen ist", sondern wählt aus ihnen die Darstellung einzelner Begebenheiten aus, die ihm geeignet scheinen, dies Ziel zu erreichen. Wenn die betreffenden Ereignisse und Handlungen ohne jede Wertung in den Quellen dargestellt sind, beeilt sich Brotier, das Versäumnis wiedergutzumachen, indem er auf Tugenden oder Fehler der handelnden Personen hinweist4. Die Zusätze Brotiers können in solchen Fällen beträchtliches Ausmaß annehmen. So wird z.B. in Suppl. 7,13 eine kurze Andeutung Dios5 zu einer von Brotier entworfenen Rede ausgeführt, in der Caligula Zug um Zug die hervorstechendsten Charaktereigenschaften Tiberius' aufzählt und ihnen Versprechungen seiner eigenen Tugenden entgegensetzt. Wenn andererseits die Quellen selbst schon in diesem Sinn vorgeformt waren, so scheute sich Brotier nicht, sie unverändert zu übernehmen. Gelegentlich äußert er dabei die Vermutung, eine ihm bei Dio vorliegende Rede sei von Dio direkt aus Tacitus entnommen 1
Vgl. Suppl. 7,3; Brotier faßt Sueton, Tib. 75: „conclamantibus pleris'que, Atellam potius deferendum, et in amphitheatro semiustulandum" und Sueton, Cal. 13: „obviorum agmine super fausta nomina, sidus, et pullum, et puppum, et alumnum appellantium" zusammen zu: „confusis in invisum principem dicteriis, festis voeibus et laudibus Caii Caesaris". 2 Als Beleg für die Kürzung einer weiteren Quelle neben Sueton vgl. z.B. Philo, Legat, ad Caium, 14; dieser Abschnitt wird bei Brotier zu: „morbus, libidinum comes" (Suppl. 7,19) zusammengezogen. Aus dem Bericht bei Dio 59,7, 5-8 zieht Brotier das Fazit in Form einer Antithese: „vetitis omnibus, quae laetitiam imminuere; quae augere possent, permissis" (Suppl. 7,16). 3 Vgl. S. 57-59 und S. 76. 4 Vgl. besonders Suppl. 7, 8-10; 12; 15. 6 Vgl. Dio 59, 6, 7: ,,ό 8' ουν Γάιος έδημηγόρησεν έν τω βουλευτηρίω . . . τόν Τιβέριον καθ' 2καστον ών ήτιάζετο κατατρέχων . . . περί, έαυτοϋ τε πολλά έπαγγελλόμενος."
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worden . Die starken Übereinstimmungen zwischen Dios und Tacitus' Darstellung des Tiberius berechtigten ihn dazu, ein enges Verhältnis zwischen diesen beiden Autoren anzunehmen, sei es, daß Dio von dem gleichen Autor abhängig ist wie Tacitus, sei es, daß er selbst aus Tacitus geschöpft hat2. Als Grundlage für seine Ergänzungsarbeit stand Brotier für diesen Teil der Supplemente Cassius Dio zur Verfügung. Als nächst wertvolle Quelle folgt ihm Sueton. In diesen beiden Autoren, deren Berichte einander teilweise ergänzen, werden ausreichend historische Informationen mitgeteilt, so daß man trotz des Verlustes der betreffenden Bücher von Tacitus' Annalen einen guten Einblick in die Geschichte der Jahre 37-46 n. Chr. gewinnt. Für den Ergänzer des Tacitus ist Dio als Quelle besonders günstig durch den Umstand, daß er streng annalistisch aufgebaut ist3. Dio - allerdings ein stark gekürzter Dio konnte so Brotier gleichsam als chronologisches Gerüst für den Bau der Supplemente dienen. Die Nachrichten aus Sueton, Plinius, Seneca, Josephus, Philon und den vielen anderen herangezogenen Autoren, Inschriften und Münzen ließen sich dann bei einigem Kombinationsvermögen leicht einordnen. Auf diese Weise entstand ein Werk in streng annalistischem Aufbauschema, in dem kein wichtiges historisches Ereignis, sei es in Rom oder in den Provinzen, mit Stillschweigen übergangen worden ist. Vor der Gefahr, ins Anekdotenhafte und Indezente abzugleiten, wozu ihn etwa Sueton hätte verleiten können, hat sich Brotier gehütet. Es ließe sich wohl kaum eine Stelle in den Supplementen anführen, die mit der Würde der Annalen unvereinbar schiene. Bei seinem Versuch einer Tacituswiederherstellung geht Brotier mit großer Umsicht vor. Er prüft sein Material, das er seiner umfassenden Belesenheit verdankt, ehe er es in den Supplementen verwendet, stets sorgfältig, ob es nicht im Widerspruch zu anderslautenden Angaben und Tendenzen Tacitus' steht ; um jedes Abweichen von der von Tacitus vorgezeichneten Linie zu vermeiden, geht er sehr willkürlich mit den Aussagen der Quellen um. Wenn er z.B. eine tiberiusfreundliche Darstellung heranzieht, läßt er zwar den Wortlaut bisweilen unverändert, aber durch seine Zusätze oder durch die Kontamination 1
Vgl. Suppl. 8,7 - Dio, 59, 16, 1-7. Brotier sagt in einer Anmerkung dazu: „Quae quidem aoriora esse, quam ut a Dione sint profecía, nemo non videt. Ea vel a Tacito, vel ab alio id roboris scriptore, mutuatus videtur." 2 Diese Frage ist bis heute noch nicht entschieden, vgl. E. Schwartz, RE, s.v. Cassius Dio, Sp. 1716f., der die These vertritt, Dio habe Tacitus nicht benutzt. Die Gegenmeinung bei Christ-Schmid-Stählin, Geschichte der griechischen Litteratur, 1924, 6. Aufl. Bd. II, 2, S. 789. 3 Die von Sueton berichteten Ereignisse mußten erst umgruppiert werden. Brotier verfuhr darin sehr geschickt; vgl. die Aufteilung von Cal. 15 auf Suppl. 7,8 und 7,14.
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mit einer anderen Quelle wird der ursprüngliche Sinn geändert und zu einer tiberiusfeindlichen Aussage umgebogen1. Das leuchtende Gegenbild zu dem in dunklen Farben gemalten Tiberius ist der strahlende Germanicus, den der antike Historiker zu verherrlichen nicht müde wird. Auch an diesen Zug Tacitus' knüpft Brotier an ; denn die in den 20 Kapiteln häufige Betonung der Tatsache, daß Caligula der Sohn des vom römischen Volk geliebten Germanicus ist, beruht sicher nicht auf einem Zufall2. Wenn gar auf konkrete Angaben Tacitus' selbst zurückgegriffen werden kann, verwirft Brotier alle andere davon abweichende Überlieferung3. So läßt er offene Widersprüche zwischen seinen Supplementen und den erhaltenen Teilen des taciteischen Werkes nicht aufkommen, da ihn die Kenntnis seines Vorbildes davor schützt, eine Kenntnis, die er sich durch die Arbeit an Ausgabe und Kommentar in aller Gründlichkeit erworben hatte. Soweit es sich überschauen läßt, hat er alles für die Ergänzung in Betracht kommende und ihm erreichbare Material benutzt und die einseitige Bevorzugung eines der von ihm eingesehenen Autoren gemieden4. Er ist nicht der Methode Freinsheims gefolgt, dessen Stolz es war, eine möglichst umfangreiche Materialsammlung vorzulegen. Er wählt vielmehr das aus, was auch Tacitus seiner Meinung nach dargestellt haben könnte. Bei seiner Auswahl hat er sich nach einem ganz bestimmten Tacitusbild gerichtet. Man kann das Bild, das ihm vorschwebte, am besten in seinen Zusätzen erkennen, so weit sie mehr als nur überleitende Funktionen erfüllen, und an den Punkten, an denen er sich für eine von mehreren einander widersprechenden Darstellungen entschieden hat6. Denn er will wie Tacitus aus den Charakteren der Personen ihre Handlungen ableiten, Licht und Schatten verteilen, und man muß gestehen, daß er konsequent dabei vorgegangen ist und es verstanden hat, die Ereignisse geschickt zu gruppieren, Unwesentliches zu streichen und dort, wo es ihm nötig schien, nur Angedeutetes wirkungsvoll zu ergänzen®. Vor allem anderen sieht er in 1 Vgl. Suppl. 5,9 - Vellerns Paterculus 2,126; vgl. Suppl. 5,10 - Vellerns Paterculus 2, 130. 2 Germanicus wird erwähnt in Suppl. 7,4; 5; ebenfalls in Suppl. 7, 2; 13; 17. Bei den letzten drei Stellen handelt es sich um Zusätze Brotiers. s Vgl. Suppl. 7,30: „Macro, adulteriorum suasor". Zur Erläuterung dieses Beispieles s. S. 39, Fußnote 4. 4 Hin und wieder - jedoch selten - folgt er Sueton zu weit; ζ. B. beschreibt er in Suppl. 8,80 das Aussehen und die Gestalt Caligulas in enger Anlehnung an Sueton Cal. 50. Tacitus beschreibt in der Regel nicht das Äußere einer Person. (Einzige Ausnahme ist Ann. 4,57.) 6 Vgl. z.B. Suppl. 7,1: die einander widersprechenden Berichte Suetons und Josephus' (s. S. 60 und 63). 8 Es berichtet z.B. keine Quelle von einem „iustitium" (Suppl. 7,19) bei Caligulas Krankheit. Brotier ergänzt von sich aus diese Einzelheit, indem er auf
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Tacitus den „vitiorum perpetuus censor"1; in den Supplementen kehrt darum diese Seite seines Vorbildes - in leicht übersteigerter Weise wieder. Der Stil
Brotiers
Hat Brotier über sein Ziel der moralischen Geschichtsschreibung die Form, d. h. den Stil der Annalen vernachlässigt ? Die unbefangene Verwendung von wörtlich aus Sueton übernommenen Formulierungen läßt diese Vermutung nicht unbegründet erscheinen. In ähnlicher Weise sind ja auch aus anderen lateinischen Autoren kürzere Abschnitte von Brotier fast unverändert in die Supplemente eingefügt worden. Dagegen hat er auffallenderweise von der bei den griechischen Autoren gegebenen Möglichkeit, sie in einer der vorhandenen lateinischen Übersetzungen2 zu zitieren, keinen Gebrauch gemacht. Er hat zwar diese Übersetzungen gekannt, ließ es sich aber doch nicht nehmen, auch dort, wo er ganz eng einer griechischen Quelle folgte, sich eine eigene Übersetzung zu schaffen. So lautet z.B. Dio 59, 16,5-7 in der lateinischen Fassung: „ T u vero, Cai, recte haee et vere omnia; ideoque cave, ne quem h o r u m diligas, neve ulli pareas. Omnes enim t e oderunt, mortem t u a m in votis habent, necabuntque te, si possint. Ne t u igitur cogita, aliquid ipsis g r a t u m facere, neque eorum de te sermones cura; sed voluptatem modo, ac securitatem t u a m , t a m q u a m iustissimam omnium rem, provideto. I t a enim nec mali quicquam patieris, et omnibus iucundis rebus perfrueris, et ab iis, velint, nolint, honoraberis. Ast alteram illam viam secutus, nihil re consequeris; t a n t u m verbis inani gloria affectus, non modo non proficies nihil, sed et insidiis circumventus, inhonesta morte peribis. Nemo enim h o m i n u m sponte imperio subest, sed potentiorem, quoad metuit, colit; fiducia vero auctus, de infirmiore capit vindictam." Bei Brotier lautet es in Suppl. 8, 7: „recta veraque locutus, eorum nemini t e amicum, cunctis severum praesta. Te odio habebunt ; mortemque frustra precati, vitam insidiis petent. Sensus ac verba speme, factis diffide : quod vero jus Tacitus, Ann. 2, 82 (Germanicus' Tod) zurückgriff. Ein „iustitium" gab es nur beim Tode, nie bei der Krankheit eines Herrschers (vgl. R E s.v.). Ebenso n i m m t er eine Bemerkung Tacitus' (Ann. 2,30) über Tiberius: „novi iuris repertor" wieder auf (Suppl. 7,14). Das „novum ius", das gerade kein Recht war, sondern in der Umgehung des Gesetzes bestand, konnte natürlich nie formell von Caligula aufgehoben werden (vgl. R E s . v . antiquo). I n den Quellen sucht m a n d a r u m vergeblich nach einer derartigen Notiz. Durch Brotiers Zusatz: „ius n o v u m . . . a n t i q u a t u m " wird die zufällige Notiz Suetons Cal. 16: „libertinae . . . reticuisset" bedeutungsvoll. Vermittels des Rückgriffs auf Tacitus erreicht Brotier in diesem Kapitel (7,14) ohne Namensnennung einen Vergleich zwischen der Handlungsweise Tiberius' u n d Caligulas. Diese Gegenüberstellung begegnet in Suppl. 7,1-20 häufig. 1 Brotier, a.a.O., Bd. 1, praef. S. 14. 2 Josephus, 1470 von Ruffinus übersetzt; Dio, 1558 von Xylander übersetzt; Philo, 1613 von Gelenius übersetzt. Ausgaben griechischer Autoren mit lateinischer Übersetzung waren bis zum J a h r e 1800 weit verbreitet.
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est Imperatorium, libidini ac securitati consule. Haec principatus via, haee ratio. Si paullulum deflexeris, te laus brevis, mors violenta, turpis manet memoria. Invisa omnibus dominatio. Parent, dum potentiorem metuunt: ubi audacia et vires suppetent, servitium, dominantis exitio, ulciscentur."
Der Vergleich zwischen der lateinischen Übersetzung Dios durch Xylander mit der Fassung Brotiers zeigt, daß dieser eindeutig einen bestimmten Stil anstrebt. Der abgerundeten Periodik Xylanders stehen in den Supplementen einzelne Satzkola, die sparsamste Anwendung von Konjunktionen, der häufige Gebrauch von Ellipsen, auf eine knappe Form gebrachte Sentenzen und eine Fülle von Antithesen gegenüber: Brotier hat in seiner Übersetzung aus der Kenntnis von Tacitus' Stil heraus eine bewußte Nachahmung Tacitus' versucht. Erkennt man dies Ergebnis an, dann ist man auch zu der Annahme berechtigt, daß die zahlreichen am Suetontext vorgenommenen Änderungen nicht zufälliger Natur sind, sondern dem gleichen Ziele dienen. Wenn Brotier jedoch Sueton oft im Wortlaut folgt, so muß er - das darf man ihm unterstellen - der Meinung gewesen sein, daß Suetons Stil dem taciteischen nicht unvereinbar sei. In den 20 abgedruckten Kapiteln steht ausreichend Material zur Verfügung, um daran einige Beobachtungen über Brotiers Stil aufzuzeigen. Offensichtlich hat er sich bei der Auswahl der Worte nicht verpflichtet gefühlt, in den Grenzen des taciteischen Wortschatzes zu bleiben: Er verwendet eine ganze Reihe von Worten, die nicht bei Tacitus bezeugt sind1; sie gehören den verschiedensten Autoren der goldenen und silbernen Latinität an. Einmal ist ihm sogar aus dem Streben nach einer Litotes heraus - vielleicht ungewollt - die Neuschöpfung eines Wortes gelungen: Er gebraucht in Suppl. 7,10 das bei keinem antiken oder mittelalterlichen Autor nachweisbare Adjektiv „illaetus". Auf das Ganze gesehen bestimmt dennoch die Übernahme taciteischer Worte und Phrasen das Erscheinungsbild2. 1 Nicht bezeugt bei Tacitus sind u.a.: „uncus, exacerbo, pristinus (7,1); rescindo (7,3); dicterium (7,3); aucupor (7,7); praecox (7,10); austeritas, mentiri (7,18); ebriositas (7,19)". 2 Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, alle Anlehnungen an Tacitus' Wortgebrauch in Suppl. 7,1-20 aufzuweisen. Einige Beispiele sollen genügen: Suppl. 7,2 - Ann. 1,10: caelestes religiones decernuntur Suppl. 7,2 - Ann. 1,1: gliscente adulatione Suppl. 7 , 1 2 - Ann. 11,1: per provincias diditum Suppl. 7,3 - Ann. 2,13: sui fama fruitur Suppl. 7,4 - Ann. 5,11: modestiae retinens Suppl. 7 , 1 9 - Ann. 2,82: sumpto iustitio Suppl. 7,7 - Hist. 2,101: insita levitas Suppl. 7 , 1 9 - Ann. 13,1: vitiis adhuc secretis (abditis adhuc vitiis) Suppl. 7 , 1 3 - A n n . 3,69: quanto rarius audita, tanto avidius accepta (quanto rarior "apud Tiberium* popularitas, tanto laetioribus animis accepta)
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Bei der stark individuell ausgeprägten Sprache Tacitus' ist es nicht schwer, ihre Besonderheiten zu erkennen. Bei welchem anderen lateinischen Schriftsteller kann man z.B. die Formulierung „tristitiae imitamentis" lesen, die Brotier einmal gebraucht Ì 1 Auffällige Eigenheiten Tacitus' dürften also ziemlich sicher von Brotier als typisch empfunden und darum übernommen worden sein. Ganz konsequent ist Brotier dabei nicht vorgegangen. Beispielsweise folgt er seinem Vorbild zwar in der Bevorzugung der Perfektform auf ère; dagegen hat er auch nicht einmal in seinen Supplementen die bei Tacitus häufige Form quis für quibus benutzt. Auffällig viel historische Infinitive 2 , Vergleichssätze3 und Partizipialkonstruktionen 4 finden sich in den Supplementen ; bei Tacitus sind sie in nicht geringerer Häufigkeit anzutreffen. Das Streben Tacitus' nach Inkonzinnität scheint Brotier weniger geschätzt zu haben; seine Sprache erscheint übersichtlicher in Wortstellung und Satzbau mit zahlreichen parallel angeordneten Gliedern5. Von seinem Ziele einer vollkommenen Nachahmung des taciteischen Stils ist Brotier weit entfernt. So läßt sich eine gewisse Unsicherheit in der Beherrschung der lateinischen Sprache nicht verkennen, wie man leicht an einigen Beispielen sehen kann. Während z.B. bei Tacitus das Verb „exsultare" mit dem Ablativ oder der Präposition „in" und dem Ablativ konstruiert wird, wie bei den meisten anderen lateinischen Autoren auch, und erstmalig in der Vulgata die Verbindung „exsultare propter aliquid" erscheint, gebraucht Brotier die außer bei ihm nirgends anderswo nachweisbare Konstruktion „exsultare ob aliquid"®. Eine ähnlich außergewöhnliche Verbindung eines Verbs mit einer Präposition ist in Suppl. 7,2 zu finden : „consulere cum aliquo de aliqua re". Es heißt stets „consulere aliquem de aliqua re" 7 . Eine Nachahmung irgendeiner Eigenheit des Tacitus liegt nicht vor, vielmehr hat Suppl. 7,2:
emercari: laut Thes. LL s.v. begegnet es - von einer Ausnahme abgesehen (Vulgata) — nur bei Tacitus und Ammian. So oft wie Tacitus gebraucht Brotier auch die Wörter: species, tamquam und quasi. Griechische Fremdwörter vermeidet er allerdings nicht so streng wie Tacitus: z.B. Suppl. 7,19 cardiacus; 7,21 antidotum. 1 Suppl. 7,32 - Ann. 13,4; die Verbindung beider Worte „tristitiae imitamenta" ist nur bei Tacitus nachweisbar; vgl. Thes. LL s.v. imitamentum. a Z.B. Suppl. 7,1: „furere, clamitare, minitari"; Sueton, Tib. 75, die Vorlage für diese Stelle, bietet die finiten Verbformen. 3 Z.B. in Suppl. 7,1; 3; 7; 11; 18; es handelt sich um Zusätze Brotiers. 4 Z.B. Suppl. 7,4: „praefatus . . . querens . . . pollicitus . . . inrumpente . . . inrita". 5 Eine Variation im Ausdruck wie in Suppl. 7,4 („honorum nomina, Augusto probata, a Tiberio spreta . . . " ) ist selten. 6 Suppl. 7,13; vgl. Thes. LL s.v. exsultare; Kühner-Stegmann, a.a.O., Bd. I, S. 396f. 7 Vgl. Thes. LL s.v. consulere.
Der Stil Brotiers
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Brotier - vermutlich verleitet durch gebräuchliches „consultare cum aliquo" - hier diese regelwidrige Konstruktion gebildet. Eindeutig läßt sich die Entstehung einer weiteren Mißbildung in Suppl. 7,6 erklären. Brotier wollte die Formulierung seiner Vorlage Sueton, Cal. 15: „collegam sibi in consulatu assumpsit" variieren und schrieb „collegam sibi in consulatu destinavit". Bei Tacitus und allen anderen Autoren heißt es: „collegam consulatui destinavit" 1 . Als stärkster Verstoß gegen das römische Sprachempfinden erscheint jedoch die Stellung von „quisque" am Anfang eines Satzes in Suppl. 7,17 („Quisque, ut ingenio validus . . ."). In der gesamten lateinischen Literatur des Altertums gibt es nur einige wenige Beispiele für diese exponierte Stellung des sonst enklitisch gebrauchten Pronomens 2 . Da in dem betreffenden Kapitel kein besonderer Anlaß bestand, dieses Wort stärker zu betonen, sähe man lieber das taciteische „ut quisque . . . ingenio validus 3 ". Andere ungewöhnliche Verbindungen (Suppl. 7,1: „post fata" 4 ; 7,3: „convitia invitât" 6 ; 7,4: „honorum nomina aggerantur" 8 ) wird man dagegen aus dem Streben Brotiers erklären können, ebenso kühn und ungewöhnlich wie Tacitus schreiben zu wollen. Denn die Charakteristika des taciteischen Stils hat Brotier sehr gut erkannt. Ganz unverkennbar legt er darum das Hauptgewicht darauf, Kürze des Ausdrucks, das Kennzeichen des hohen Stils, zu erreichen. Daher rührt auch seine Vorliebe für pointierte Sentenzen, die nicht selten in der Form der Antithese 7 auftreten. Trotz großer Bemühungen erreicht er den Stil seines Vorbildes jedoch nur für wenige Augenblicke. 1
Vgl. Thes. LL s.v. destinare; Tacitus, Ann. 2,42. Vgl. Kühner-Stegmann, a.a.O., Bd. I, S. 344 (Plautus, Amph. 241 und Vergil, Aeneis 6,743); Norden, Vergilius, Aeneis Buch VI, 1957, 4. Aufl. S. 311. Die Anfangsstellung findet sieh zudem ausschließlich in Dichtungen. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß sie metrisch bedingt ist; vgl. Stolz-Schmalz, Lateinische Grammatik, 5. Aufl. hg. von Leumann-Hofmann, München 1928, S. 485f. 3 Tacitus, Hist. 1,57. 4 Vgl. S. 63 Fußnote 4. 5 Die Verbindung „convitia invitare" ist anderswo nicht bezeugt. Man würde ein „invitare ad convitia" erwarten; vgl. Thes. LL s . w . * Objekte zu „aggerare" sind in der Regel: „ossa, cadavere, stercorata terra". Es ist ein ausgesprochener terminus technicus der Landwirtschaft. In übertragener Bedeutung kann auch „ira" und „clades" Objekt sein. Ein positiver Begriff - entsprechend dem „honorum nomina" - begegnet als Objekt nicht; vgl. Thes. LL s.v . ' Vgl. S. 73, Fußnote 7. 2
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Zweiter Teil
Der zeitgeschichtliche Hintergrund in Brotiers Rekonstruktionsversuch Nicht nur an Brotiers Stil wird deutlich, daß eine völlige Nachahmung Tacitus' nicht gelungen ist; sondern auch an dem, was Brotier schreibt, läßt sich dies erkennen. Eine konsequent durchgeführte Wiederherstellung des Tacitus verlangt von dem Ergänzer, alles das darzustellen, was Tacitus in den verlorenen Büchern geschildert hat, und verbietet es ihm andererseits, etwas zu berichten, was mit Tacitus' Darstellung unvereinbar ist. Beiden Forderungen wird Brotier nicht gerecht. Die von Brotier eingesehenen Autoren enthalten nicht genügend Informationen, so daß manche Fragen offen bleiben. Wo findet man z.B. eine Nachricht über das Schicksal des Thumelicus ì 1 Wo kann man etwas über die Bestrafung der Ankläger des Titius Sabinus lesen ?2 Diese Ereignisse hat Tacitus - nach seiner eigenen Aussage - in den Annalen schildern wollen. Die betreffenden Kapitel, in denen er sein Versprechen eingelöst hat, sind uns nicht überliefert. Bei dem einmütigen Schweigen aller Sekundärüberlieferung über diese Ereignisse verzichtet Brotier darauf, sich mit einer Geschichte aus dem Reiche der Phantasie zu behelfen ; er zieht es vor, diese und andere Hinweise Tacitus' unberücksichtigt zu lassen. Brotier steht damit vor dem gleichen Problem wie Freinsheim vor ihm 3 . Beide müssen feststellen, daß das Material zur Ergänzung nicht ausreicht. Freinsheim hatte daraus die Konsequenzen gezogen; er änderte mitten in den Liviussupplementen seine Arbeitsweise und brachte die Supplemente als Historiker des 17. Jahrhunderts zu ihrem Abschluß. Er erleichterte sich damit wesentlich seine Arbeit, war er doch nunmehr der Mühe enthoben, sorgfältig jegliche Spuren des Geistes seiner Zeit, d.h. vor allem des christlichen Gedankenguts, aus den Supplementen zu tilgen. Brotier handelt anders. Wenn er auch der ersten Forderung einer Tacitusergänzung aus dem Mangel an nötigen Nachrichten über den Inhalt der verlorenen Bücher nicht gerecht werden kann, so bemüht er sich dennoch, die Vorstellung zu erwecken und aufrechtzuerhalten, seine Supplemente atmeten den Geist der römischen Kaiserzeit. Sein ganzes Streben ist ja darauf gerichtet, alles zu vermeiden, was ihm 1 Tacitus, Ann. 1,58: „Arminii uxor virilis sexus stirpem edidit: educatus Ravennae puer quo mox ludibrio conflictatus sit, in tempore memoraba". Goettling, Gesammelte Abhandlungen, 1851, Bd. 1, S. 395-401, vermutete, Thumelicus sei als Gladiator aufgezogen worden. 2 Tacitus, Ann. 4,71: „Ni mihi destinatimi foret suum quaeque in annum referre, avebat animus antire statimque memorare exitus, quos Lueanius atque Opsius ceterique flagitii eius repertores habuere . . . verum has atque alias sontium poenas in tempore trademus. 3 Vgl. S. 28.
Der zeitgeschichtliche Hintergrund in Brotiers Rekonstruktionsversuch
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mit Tacitus' Darstellung unvereinbar erschien. Von daher erklären sich seine starken Eingriffe in die Berichte der ihm als Quellen dienenden Autoren. Er übernimmt zwar von ihnen, wie oben dargelegt wurde, die Darstellung der Ereignisse, fügt aber von sich aus wertende Zusätze hinzu, in denen er als „censor vitiorum" erscheint. Es erhebt sich die Frage, ob diese moralisch-wertenden, oft pessimistischen Urteile wirklich von Tacitus hätten geschrieben werden können oder ob nicht doch hin und wieder durch den Vorhang der Tacitusnachahmung die Umrisse des Schriftstellers des 18. Jahrhunderts hindurchscheinen. Wird ein solcher Tacitusergänzer wie Brotier, der nachweislich Montesquieus „Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence" kannte, ex eventu nicht geradezu dazu verführt, seinen Tacitus den sicheren Untergang des römischen Reiches prophezeien zu lassen ? Oder wären solche Ausführungen wie in Suppl. 10,9: „Mox gravior, certamque in ruinam aliquando eruptura, rei publicae inlata labes, cum Claudius, humanitatis specie, infregit disciplinam militarem" oder in Suppl. 10,36: „et lenta quidem, sed certa et irreparabili imperii ruina" bei dem römischen Tacitus denkbar ?1 Mutet es ferner nicht eigenartig an, wenn man Brotier-Tacitus davon sprechen hört, was die Herrschaft Roms für die unterworfenen Völker bedeutet, wenn er - anknüpfend an Claudius' Verbot der Menschenopfer in Gallien - räsonniert : „Triumphato enim terrarum orbe haec nobilissima Romanos manebat victoria, ut religionum monstra tollerent, victasque gentes rationi servire, ac felices vivere cogerent."2 Glaubt man hier nicht den romanisierten Franzosen die Römer als indirekte Wegbereiter des Christentums preisen zu hören und außerdem noch das Schlagwort der Aufklärung, „raison", zu vernehmen ? Interessant für den, der die Punkte sucht, an denen Brotiers Tacitusergänzung nicht mit Tacitus übereinstimmt, ist das ganze Kapitel Suppl. 5,8, das im folgenden wiedergegeben werden soll: „Cum Romana civitas in sui internecionem ita fureret, scelus unum, sed in plura scelera et portentosa mala erupturum, patravere Hierosolyma. Pontius Pilatus3, quem Caesar Judaeae procuratorem fecerat, non vecors, imbellis tarnen, Jesum Christum, novae religionis auctorem, a Judaeis pervicacius accusatum, nullius criminis compertum, morte adfecit. Diffissa saxa, concussa terra, sol cassus lumine, ejus 1
Zu Tacitus' Pessimismus vgl. H. Fuchs, Augustin und der antike Friedensgedanke. Neue Philologische Untersuchungen, 1926, passim; R. Heinze, Vom Geist des Römertums, 1938, „Urgentibus imperii Fatis", S. 269-274. 2 Suppl. 9,26. 11 Das Interesse an der Person des Pontius Pilatus zeigt sich auch in Suppl. 8,66, wo sein Tod in der Rückschau auf das Jahr 40 n.Chr. neben anderen Todesfällen dieses Jahres aufgeführt wird.
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Zweiter Teil
caedem ulcisci et innocentiam testari visa: ipse, effracto sepulchro adstantibus custodibus, redivivus ac integer egressus, magnum fuit numinis argumentum ; Tiberiumque omnibus intentum advertit, religionem non infixit" 1 . Brotier war sich wohl bewußt, in einem Konflikt zu stehen. In einer Fußnote sagt er zu diesem Kapitel: „Mortem Jesu Christi paucis memoratam Annal. X V . 44. forte in hac Annalium parte omiserat Tacitus. At Christianum Scriptorem puderet id silere, quo nihil majus peperere saecula, et in quo salus nostra, spes, amor et gloria". Er versteht sich also selbst in seiner Tacitusergänzung als christlichen Historiker. In dieser Eigenschaft kann er nicht umhin, vom Tode Christi zu berichten. Er tut es jedoch in einer Weise, in der auch der Heide Tacitus dies Geschehen hätte darstellen können. Er schließt damit einen Kompromiß zwischen den Forderungen der Supplemente auf der einen und dem Bewußtsein seiner eigenen Zeit auf der anderen Seite2. Diesem Konflikt ist Brotier noch mehrfach ausgesetzt. So ist beispielsweise die Frage des Selbstmordes ein neuralgischer Punkt für ihn. Sein Vorbild Tacitus konnte alle die verherrlichen und lobend hervorheben, die den ehrenvollen Selbstmord der Unfreiheit und dem Zwang vorzogen. Brotier dagegen bezeichnet es einmal in einer Anmerkung zu den Supplementen als „Stoica ferocia insanire"3, wenn man dem eigenen Leben ein Ende setzt. Demzufolge berichtet er dort, wo seine Quellen jemanden preisen, der freiwillig aus dem Leben geschieden ist, wesentlich kühler und reservierter davon. Man darf z.B. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Schilderung des Selbstmords der Arria mit ihrem berühmten Ausspruch: „Paete, non dolet" in den verlorenen Büchern der Annalen einen ergreifenden Höhepunkt darstellte4; Brotiers Darstellung in Suppl. 9,42 wirk äußerst schwach im Vergleich zu den Autoren6, die dies Ereignis schildern, da er allein die Tatsachen berichtet und auf jede Wertung verzichtet. Daß er sonst bisweilen nicht ungeschickt das Pathos Tacitus' nachzuahmen verstand, dafür bieten etwa die Kapitel über Sejan (Suppl. 5,36-49) ein gutes Beispiel. Die gleiche zögernde, d. h. aufgeklärte Haltung nimmt Brotier auch gegenüber Wundergeschichten ein. So berichtet er z.B. anläßlich der 1 Wie Ryckius (vgl. S. 43) hat auch Brotier ohne weitere Prüfung die Nachricht bei Tertullian, Apol. 5, Tiberius habe Christus in die Zahl der Götter aufnehmen wollen, in sein Supplement übernommen. 2 Vgl. den Schluß der Liviussupplemente Freinsheims; s.S. 30 und 31. 3 Brotier, Fußnote zu Suppl. 9,42; s. S. 56 Fußnote 1. 4 Vgl. Tacitus, Ann. 16,34. 5 Plinius, ep. 3,16: „vox immortalis ac paene divina"; Dio, 60,16,5-7:„ίδού Παΐτε, ούκ άλγώ".
Urteile über Brotiers Supplemente
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Expedition des Suetonius Paullinus nach Mauretanien ausdrücklich, daß dem Heer keine Satyrn und andere Fabelwesen begegnet seien: „vanescentibus, quo propius accedebat, fabulis, nulla occurere Aegipanum Satyrorumque vestigia."1 Von solchen aus der verschiedenen geistigen Haltung herrührenden Differenzen abgesehen, gibt es in den Supplementen nur wenig direkte Widersprüche zu Tacitus. Als auffällige Erscheinung wäre noch zu nennen, daß Brotier in seinen Ergänzungen auch die Literaturgeschichte berücksichtigt, was eher zu Velleius Paterculus als zu Tacitus paßt2.
Urteile über Brotiers Supplemente Eine der ersten Rezensionen zu Brotiers Supplementen aus dem Jahre 1771 feiert überschwenglich das Werk: „Ce superbe ouvrage . . . fait pour augmenter la gloire littéraire de la France"3. Der Kritiker, es ist Fréron,4 Herausgeber des „Année littéraire", druckt zur Probe ein Kapitel aus den Supplementen ab und bemerkt dazu: „II seroit difficile, Monsieur, de ne pas reconnoitre dans la latinité de Père Brotier les traits et les caractères de la Langue des anciens Romains, écrite dans ses beaux siècles. Il (se. Brotier) ne s'est pas borné, comme vous venez de le voir, au simple mérite de saisir et de rendre dans la vérité la plus frappante le ton, les couleurs et les nuances du style de Tacite ; il emprunte son ame, son esprit, ses vues, ses penseés; même fierté de pinceau dans les portraits et les caractères, même connoissance du coeur et des passions humaines, même vérité dans les moeurs ; récit vif et serré, parcimonie de paroles, intensité de sens; s'est Tacite lui-même qui raconte, qui peint, qui réfléchit. On s'étonnera sans doute de voir sortir du sein de la Littérature frivole de nos jours un ouvrage de cette importance. Le nouveau Tacite arrivera chez l'étranger emballé avec nos jolis Romans et nos Brochures légères; mais peut-être nous justifiera-t-il chez les Nations voisines . . . Il se trouve encore parmi nous des talens estimables et quelques écrivains dignes d'un meilleur siècle et d'un peuple moins futile." 1
Suppl. 9,28. Z.B. Suppl. 9,59 über Pomponius Mela; 5,23 über Velleius Paterculus; 16,63 über Silius Italicus. 3 L'Année Littéraire, Paris 1771, Bd. 2, S. 169-182. 1 Elie Catherine Fréron (1719-1776). „Er lief neben Voltaire's ganzer fernerer Autorenlaufbahn wie ein bellender Hund her und ist dagegen von ihm in allen Formen, in Prosa und Versen, in Epos und Drama, zerrbildlich verewigt worden"; so D. Fr. Strauß, Gesammelte Schriften, 11. Bd., Bonn 1878, S. 77, „Voltaire, 6 Vorträge". i
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Zweiter Teil
Was den Rezensenten so sehr begeistert, ist die in allen Teilen der Supplemente deutlich hervortretende Betonung moralischer Gesichtspunkte. In der Sittlichkeit des „neuen Tacitus" sieht er ein Gegengewicht gegen die bekannten frivolen französischen Romane. Großzügig übergeht er darum die mancherlei Schwächen in Brotiers Arbeit mit Stillschweigen. Dieses günstige Urteil über die Supplemente fand in Frankreich rasch weite Verbreitung. Im „Journal des Beaux-Arts" heißt es z.B. über Brotiers Supplemente: „On voit dans toutes les parties de son travail, qu'il joint à des connoissances très étendues, le goût et le jugement . . ,"1. Nach der Meinung eines anderen Rezensenten sind die Ergänzungen: „le triomphe de l'érudition parmi nous"2. In den „Dictionnaires historiques, biographiques . . . etc." jener Zeit taucht daher fast stereotyp der gleiche ungeprüft übernommene Satz auf, die Supplemente seien: „l'imitation la plus heureuse du meilleur historien qu' aient eu les Romains". Wie nicht anders zu erwarten war, erhob sich Widerspruch gegen dieses Schlagwort. Ein Leser des „Journal Encyclopédique" opponiert heftig gegen diese seiner Meinung nach völlig verkehrte Beurteilung3. Er führt Boileau, Voltaire und d'Alembert als Autoritäten dafür an, daß es unmöglich sei, in einer toten Sprache gut zu schreiben. Temperamentvoll wendet er sich gegen den Gedanken, Brotier mit Tacitus auf eine Stufe zu stellen : „Auriez-vous jamais cru que le style incorrect et froid d'un écrivian d'anecdotes, que la maniere d'un bibliographe, qui n'a donné aucun mouvement à son ouvrage, pussent être confondus avec le style nerveux et rapide du génie le plus profond de l'ancienne Rome, avec la maniere du peintre le plus vigoureux ? Cette singularité étoit réservée à notre siècle!" Als Beweismittel führt dieser Kritiker die vielen wörtlich aus Sueton entlehnten Partien an, so daß die Supplemente als eine geistlose Kompilation erscheinen müssen. Eine weitaus umfassendere Liste von Vorwürfen gegen Brotiers Arbeit findet sich bei dem Historiker Edme Ferlet: „Je ne releverai pas les défauts de jugement qui s'y trouvent; je ne ferai pas voir le peu d'unité qui règne dans les idées et même dans les récits de deux écrivains, dont l'un est si peu pénétré de l'esprit de l'autre, qu'il le contredit souvent ; je n'examinerai pas s'il est facile d'imiter un génie aussi original, aussi inimitable qu'est celui de Tacite, et si, dans ce cas là même, il seroit possible de le suppléer et de le continuer, sans secours, 1
Journal des Beaux-Arts et des Sciences, Paris 1771, Mai, S. 282. Les trois Siècles de la littérature françoise par l'Abbé Sabatier de Castres, A la Haye (1. Aufl. 1772) 1779, 4. Aufl. I. Bd. S. 199. 3 Journal Encyclopédique, Liège Janvier 1780, S. 318-322; Fevrier 1780, S. 515-520; par l'Abbé Séguret, Chanoine de l'église cathedrale d'Alais. 2
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sans ressources, au milieu d'une disette presque absolue de matériaux, causée par l'extrême rareté, et par la sécheresse des historiens du tems. Je ne chercherai pas à prouver que les supplémens et les appendices chronologiques ne sont qu'un remplissage aussi vuide que l'espace qu'on a prétendu remplir, une compilation informe, une gazette sans faits, sans action, sans mouvement, et par conséquent sans intérêt pour le lecteur."1 Ferlet führt dann als gewichtigstes Beweismittel wiederum die Übernahme von Suetonabschnitten an (z.B. Suppl. 7,5 - Sueton, Cal. 15) und bemerkt dazu: „Peut-on dire qu'on dédommage le public savant de ses pertes, quand on ne lui donne que ce qu'il possédoit déjà; et remplace-t-on l'élocution d'un historien toujours noble et qui pense toujours par le style familier d'un compilateur d'anecdotes, qui ne pense jamais ? Doit-on regarder comme de vrais supplémens le bizare rapiécetage d'un homme qui ne compose son ouvrage que de morceaux rapportés, et qui ose, vil frippier, coudre des lambeaux d'une étoffe grossière à la robe de pourpre du consul romain ?"2 Diesen so entschieden ablehnenden Urteilen stehen auf der Gegenseite nicht weniger überzeugte Lobredner der Supplemente gegenüber. Das „Année Littéraire" etwa bleibt seiner Überzeugung auch nach dem Tode Frérons im Jahre 1776 treu. Der neue Herausgeber, Grosier, repliziert scharf auf Angriffe gegen Brotier3. Seine Besprechung von Ferlets Tacituskommentar z.B. befaßt sich kaum mit dessen Arbeit, sondern enthält in der Hauptsache eine Würdigung Brotiers. Grosier führt u.a. Stimmen von Literaturkennern an, die Brotier bestätigen, daß er seinem Vorbild in allen Zügen gleichgekommen sei. Er zitiert seinerseits einen Abschnitt aus den Supplementen, eine Glanzstelle Brotiers, die dieser völlig unabhängig von irgendeiner Quelle gestaltet hat. Als weiteres Argument für die Supplemente Brotiers führt Grosier ihre große Beliebtheit an, die sich an der nicht geringen Zahl von Nachdrucken und Übersetzungen ablesen läßt. In der Tat sind zwischen 1771 und 1827 die Supplemente mindestens 15 mal gedruckt worden. Es gab außerdem französische, italienische, portugiesische, englische und deutsche Übersetzungen dieser Tacitusergänzungen; einige von ihnen erreichten eine ganze Reihe von Auflagen. Ihre Hauptverbreitung fanden die Supplemente in ihrem Ursprungsland Frankreich, wo seit der Revolution das Interesse an Tacitus stark gewachsen war. In Deutschland rufen Brotiers Ergänzungen kein so großes Echo hervor. Es tobt hier kein heftiger Kampf zwischen zwei Lagern, die unter dem Bannerspruch „ce Tacite lui1 Edme Ferlet, Observations sur les Histoires de Tacite, Paris 1801, Préface, S. 46f. * Ferlet, a.a.O., S. 52. 8 L'Année littéraire, Paris An I X (1801 - vieux style), Bd. V, S. 20-42.
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Zweiter Teil
même" einer- und „un compilateur, qui ne pense jamais" andererseits sich schroff gegenüberstehen. Man durchmustert die deutschen Rezensionen der Brotier'schen Tacitusausgabe zumeist vergeblich auf der Suche nach einem Urteil über die Supplemente. Man las sie zwar, überging sie jedoch mit Stillschweigen. In den wenigen Äußerungen über die Supplemente wird stets bereitwillig eingeräumt, daß Brotier sich viel Mühe bei ihrer Abfassung gegeben habe ; im übrigen hält man sie jedoch für eine leicht zu entbehrende Kompilation, die weit von Geist und Sprache Tacitus' entfernt sei1. Christian Gottlob Heyne spricht einmal wegwerfend von dem „Tacitus im gallischlateinischen Stil des Hrn. Brotier"2. Etwas höher schätzt ihn Friedrich August Wolf, der über Brotiers Tacitusausgabe folgendes Urteil abgibt : „Seine Kritik aber ist unbedeutend; besser sind die Supplemente. Übrigens hat er Stärke in der Latinität, und hat sich in den Ton des Tacitus einzuschmiegen gewusst." Gleichzeitig kündigt Wolf neue Supplemente zu Tacitus an: „Schulz von Ascherode (sie) arbeitet an neuen Supplementen; er hat ganz den Stil des Tacitus"3. Während in Deutschland nur der enge Kreis der Fachleute, die Philologen und Historiker, über die Supplemente urteilt, findet in Frankreich die rege Diskussion über Brotiers Arbeit unter Dilettanten, vorwiegend Geistlichen und Literaten, statt. Man wertet in diesen Kreisen nach festen literarischen Kategorien, die allgemein bekannt sind. Infolgedessen kann der in Paris lebende deutsche Baron Ferdinand Melchior von Grimm, der damals bedeutendste Vermittler zwischen französischer und deutscher Literatur, noch ehe er die Supplemente selbst gelesen hat, ohne weitere Begründung sein Urteil fällen: „C'est une entreprise impossible"4. In Ferlets Rezension wird einige Jahre später derselbe Gedanke ausgesprochen und auch die Begründung dafür gegeben: Tacitus sei ein Originalgenie und könne somit nicht nachgeahmt werden6. 1 Vgl. Walch's Philologische Bibliothek, des zweyten Bandes erstes Stück, Göttingen 1773, S. 35-57; L. Wachler, Geschichte der historischen Forschung und Kunst, Göttingen 1816, 2. Bd. S. 509. 2 Heyne, Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, 1781, S. 111. 3 F.A. Wolf, Vorlesung über die Encyclopädie der Alterthumswissenschaft, hg. von J . D . Gürtler, Leipzig, 1831, Bd. 3, S. 273. Carl Gustav Schulz von Ascherade (gest. 1798) war schwedischer Gesandter am Hof in Berlin. 1787 erschien seine Geschichte Europas von 1750-1763 unter dem Titel „Res suo aevo gestae" (1790 ins Deutsche übersetzt). Sein stilistisches Vorbild war Tacitus. - Supplemente zu Tacitus von Ascherade sind bibliographisch nicht nachweisbar. Man darf vermuten, daß sie nicht gedruckt worden sind (falls sie überhaupt verfaßt wurden). 4 Correspondence littéraire, philosophique et critique, adressée à un Souverain d'Allemagne, par Baron de Grimm et par Diderot, Tome I, Paris 1812, Bd. I, S. 417, Februar 1771. Zu Grimm (1723-1807) vgl. ADB, 9. Bd. 1859, S. 676-678. 5 Vgl. S. 88.
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Der Begriff „Originalgenie" spielt in der Kunsttheorie der Zeit eine große Rolle1. In Edward Youngs „Conjectures on original composition", 1759, wird diese Anschauung am klarsten vorgetragen: „Die Nachahmungen sind von doppelter Art. In einigen wird die Natur, in anderen werden die Autoren nachgeahmet. Wir nennen die erstem Originale, in anderen werden die Autoren nachgeahmt. Originale erweitern das Reich der Wissenschaften und vergrößern ihr Gebiet mit einer neuen Provinz. Nachahmer geben uns nur eine Art von Dupletten von dem, was wir schon vorher und vielleicht weit besser besaßen; sie vermehren nur die bloße Anzahl der Bücher, weil alles, was ein Buch schätzbar macht, Gelehrsamkeit und Genie bey ihnen fehlt."2 Jegliche Nachahmung eines Autors wird strikt veruteilt: „Die Nachahmung, der Affe, . . . vernichtet die ganze Individualität der Seele"3; „sie läßt uns wenig denken (die praktische Anwendung dieses Satzes auf Brotier lautet : „qui ne pense jamais !") und viel schreiben"4. Das Verhältnis zwischen Vorbild und Nachahmer bzw. Ergänzer zeichnet Young folgendermaßen: „Indem das große Genie über alle Heerstraßen hinweg, in frische unbetretene Felder gehet, wadet jener tief im Alterthume, und betritt die heiligen Fußtapfen der großen Vorgänger mit der blinden Ehrerbiethung eines Abergläubischen, der die Päbstliche Zehe küsset"5. „Die Nachahmer und die Übersetzer gehören unter die Gattung des Piedestal, und erheben oft den Ruhm ihres Originals mehr, als ihren eigenen, indem sie zeigen, wie sie dasselbe nicht nachahmen können"6. Wer also wie Brotier ganz aus dem Geiste und in der Art eines antiken Autors zu schreiben suchte, durfte - in Frankreich zumindest7 - gewiß sein, als Nachahmer der Geistlosigkeit geziehen zu werden. 1 Vgl. H.A. Korff, Geist der Goethezeit, 1. Teil: Sturm und Drang, 4. Aufl. Leipzig 1957, S. 125ff., S. 146ff. 2 Die Zitate aus Young sind nach dem Nachdruck der deutschen Übersetzung von H. E. von Teubern, „Youngs Gedanken über die Originalwerke", 1760, angegeben. Den Nachdruck gab K. Jahn in „Lietzmanns Kleine Texte", Bonn 1910, heraus. s Young, a.a.O., S. 21. * Young, a.a.O., S. 21. « Young, a.a.O., S. 25. • Young, a.a.O., S. 26. 7 Vgl. dagegen die Ankündigung neuer Tacitussupplemente in Deutschland; S. 90. Ein deutsch abgefaßtes Tacitussupplement erschien 1861 in Berlin und erlebte bis 1928 sieben Auflagen. Das von Karl Ludwig Roth verfaßte Supplement ist in der Tacitusübersetzung der Langenscheidtschen Bibliothek sämtlicher griechischer und römischer Klassiker enthalten. Die Lücken in den Annalen sind durch vollständigere Supplemente ergänzt, als dies durch Gabriel Brotier geschehen ist. Roth gibt keinerlei eigene moralische Zusätze.
DRITTER TEIL Charles de Brosses : Sallusts Historien 24 Jahre vor dem Erscheinen von Brotiers Tacitussupplementen kündigte ein anderes Mitglied der Akademie der Inschriften Supplemente zu Sallust an. Der französische Politiker und Gelehrte Charles de Brosses (1709-1777)1 beabsichtigte damals, das für Sallust zu tun, was Freinsheim für Livius und Curtius getan hatte. Er will die Fragmente der Historien sammeln und die Lücken durch eigene Ergänzungen schließen. Seine erste Ankündigung atmet noch deutlich den althumanistischen Geist: ,,11 s'est de plus imposé la loi d'employer les propres termes de son auteur, de le suivre mêmes dans toutes les disgressions qu'il avoit faites; et comme Salluste s'exprime souvent à la première personne, il a fallu le faire parler lui même. Ce n'est donc pas un auteur moderne, c'est un Romain, c'est Salluste . . ."2 Wenn de Brosses diese Absicht ausgeführt hätte, wäre ein Werk entstanden, das am besten durch die Formel „Sallustiano exemple stiloque" zu charakterisieren wäre. Er hätte damit die Art von Supplementen, die Lipsius und Freinsheim schufen, trotz der veränderten Situation (Cellarius hatte ja inzwischen eine neue Form von Supplementen eingeführt) im 18. Jahrhundert fortgesetzt - so wie es Brotier getan hat. Er verkörpert jedoch einen anderen Menschentyp als Brotier. De Brosses ist nicht ein Stubengelehrter, sondern ein Mann, der tätig im politischen Leben steht, häufig reist und in stetem Gedankenaustausch mit seinen Zeitgenossen lebt. Der Wandel in der geistigen Situation seiner Zeit bleibt ihm daher nicht verborgen. 1754 - sieben Jahre nach der ersten Ankündigung - legt er einen geänderten Plan vor: Er verzichtet nunmehr darauf, das Werk in lateinischer Sprache abzufassen3. Als es endlich 1777 unter dem Titel „Histoire de la République Romaine, dans le cours de VII e siècle ; par Salluste. En partie traduite du latin sur l'original ; en partie rétablie et composée sur les fragmens qui sont restés de ses livres perdus, remis en ordre dans leur place 1
H. Mamet, „Le Président de Brosses. Sa vie et ses ouvrages", Paris 1874. Histoire de L'Académie Royale des Inscriptions et de Belles-Lettres, Bd. 21, Paris 1754 (Les Mémoires de Littérature depuis l'année 1747, jusques et compris l'année 1748), S. 51. 3 Histoire de l'Académie des Inscriptions . . . depuis l'année 1752 jusques et compris l'année 1754; Paris 1759, 25. Bd., S. 368-391. 2
Charles de Brosses: Sallusts Historien
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véritable ou le plus vraisemblable" erscheint, ist - im Titel zumindest die vorher von de Brosses gebrauchte Bezeichnung „Supplement" fallengelassen. Dieser Begriff hatte inzwischen einen unangenehmen Beigeschmack erhalten; - denn wie die Diskussion über Brotiers Supplemente zeigt, setzte sich die Lehre vom Originalgenie immer stärker durch. Wollte de Brosses dem Schimpf geistloser Nachahmertätigkeit entgehen, so mußte er für seinen Ergänzungsversuch neue Wege beschreiten. Er verzichtet nun ausdrücklich darauf, den Stil Sallusts nachahmen zu wollen: „II faut moins s'attendre à retrouver dans ce supplément le style de Salluste, que l'exacte vérité des citations et des faits: Mon devoir est ici de sacrifier l'élégance à la fidélité"2. Er prüft nicht wie Brotier die Nachrichten seiner Quellen auf ihren moralischen und sittlichen Gehalt, bevor er sie in seine Ergänzungen aufnimmt, sondern forscht nach der Glaubwürdigkeit und der Wahrheit ihrer Aussagen. Es ist eine neue kritische Haltung zu spüren, die, wie Heyne in seiner Rezension sagt, „sich merklich von der fehlerhaften Art der Geschichtsbehandlung unsers Zeitalters entfernt; da man uns nicht Geschichten beschreiben, sondern sie uns vorreflectiren will, da man nicht erzählt, sondern uns etwas vorphilosophirt, und auch selbst dieß nicht mit dem anständigen Ernst eines Mannes, der viel gelebt und viel gesehen hat, sondern mit dem kleinwitzig entscheidenden oder declamirenden Ton des jugendlichen Alters"3. Dieses Werk, „das Frankreich Ehre macht, das man mit Nutzen lesen kan"4, ist nicht mehr unter die nachahmenden Supplemente zu zählen. Während andere Ergänzer nur solche Autoren suppliert hatten, von denen einige wenige Fragmente vorlagen, wählte de Brosses mit Sallusts Historien ein Werk, von dem Hunderte von kleinen Bruchstücken vorhanden sind. Seine Arbeit bestand also in erster Linie darin - so wie ein Archäologe Scherben zu einer Vase zusammensetzt - , die Fragmente ihrem richtigen Platz zuzuordnen. Die Lücken zwischen ihnen füllt er mit Nachrichten, die geeignet sind, die echten Teile miteinander zu verbinden. Diese Informationen nahm er aus solchen Schriftstellern, die - höchstwahrscheinlich - Sallust benutzt haben und sich auch dort, wo sie ihn nicht wörtlich zitieren, auf ihn zurückführen lassen. De Brosses ist der Meinung, daß durch gründliche Sammlung von Fragmenten, d.h. von direkten und indirekten Zitaten, noch viele antike Autoren wiederhergestellt werden könnten. Bisher hätten die 1 Die deutsche Sallustiibersetzung von Joh. Chr. Schlüter, Osnabrück 1799 bis 1803, enthält de Brosses' Ergänzungen. 2 De Brosses, Histoire Romaine . . . Dijon 1777, Bd. 1, S. 27. 3 Heyne, Rezension von de Brosses' Werk, in: Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von Gelehrten Sachen, 1778, 8. Stück, 21, II, 1778, S. 116f. 4 Heyne, a.a.O., S. 113.
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Dritter Teil
Philologen und Historiker diese Möglichkeit noch nicht erkannt : „Nous sommes riches, peut-être plus que nous croyons"1. Wer eine solche Arbeit auf sich nimmt, wird reich belohnt; er gewinnt das verloren gewähnte Original zurück: „Enfin au lieu de quelques passages noyés, pour ainsi dire, dans une mer étrangère, on a sous les yeux, dans les parties ainsi réunies, l'original même que l'on croyoit entièrement perdu, la contexture et le fil de la narration . . ."2 De Brosses' bleibendes Verdienst ist es, sich in seiner Sallustergänzung von einer formalen Nachahmung losgesagt und einer inhaltlichen Rekonstruktion zugewandt zu haben. Während fast zur gleichen Zeit Brotier noch in den Spuren großer Vorgänger wandelte - die Form seiner Supplemente weist ihn als Epigonen aus - leitete de Brosses eine neue Epoche in der Geschichte der Philologie ein. Dankbar weist der letzte Herausgeber der Historienfragmente, Maurenbrecher, auf ihn als Vorgänger hin: „Novam optimamque ad restituendas historias viam ingressus est de Brossius, qui quo erat ingenio splendidissimo, non fragmenta tantum Sallustii sed omnem materiem, quae historiis narrata erat, colligere ac disponere intermixtis Sallustii quae servata sunt verbis sibi proposuit . . . Nunc quidem, si historias restituere videbimus, admonendum erit, ne fragmenta tantum restituamus atque in ordinem redigamus, sed ut omnem Sallustii memoriam apud posteros scriptores reconditam investigemus ac congeramus. Hanc reciperandi Sallustii viam praeivit de Brossius, hanc ostendunt Scaliger Eusebio, Suetonio Reifferscheid restitutis, hanc etiam Wilamowitz in animo habuisse videtur, cum diceret, 'Wenn man erst den Ephoros . . . die Historien des Sallusts, die Antiquitäten des Varrò in dieser Weise inhaltlich rekonstruiert, dann wird ein neues Leben in die Arbeit kommen, wird manches Gespenst gescheucht sein und die Ziele höher gesteckt werden, die Kenntnis in die Tiefen der antiken Wissenschaft dringen können' („Antigonos von Karystos", 1881, p. 5)"3. De Brosses' Vorgänger hatten in der Hauptsache dem Verlust von einigen Kapiteln oder Büchern eines bestimmten Autors abhelfen wollen. Sie bezeichnen ihre Tätigkeit als „damnum resarciré"4 oder „medelam afferre"5. Sie verbanden mit ihrer Arbeit fast ausnahmslos Ziele, die außerhalb des betreffenden Autors lagen ; so schrieb Freinsheim die erste römische Geschichte, Brinck kompilierte ein Geschichts1 Histoire de l'Académie des Inscriptions . . . depuis l'année 1752 jusques et compris l'année 1754; Paris 1759, 25. Bd., S. 382. 2 Histoire de l'Académie des Inscriptions . . . Paris 1759, 25. Bd., S. 383. 3 C. Sallusti Crispí, Historiarum Reliquiae, ed. Bertoldus Maurenbrecher, Leipzig 1891, S. 6 und 7. 4 Vgl. S. 19/20 und S. 31 Fußnote 3. 5 Vgl. S. 31 Fußnote 3.
J . E . D . Bernardi: Cicéron, de la République
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kompendium, und Lycosthenes strebte eine möglichst umfangreiche Prodigiensammlung an. De Brosses unternimmt es dagegen - darin besteht der grundlegende Unterschied - , ein Werk zu rekonstruieren, von dem nur Fragmente erhalten sind. Er sammelt diese Fragmente1, analysiert sie und gewinnt dadurch Plan und Gliederung der Historien wieder. Als Bausteine bei der Synthese des Werkes dienen ihm neben den direkten auch indirekte Zitate. Er verfolgt mit seiner Arbeit keine anderen Ziele als das eine, seinen Autor Sallust wiederherzustellen. Er will nicht wie Brotier Geschichte zum Zweck der moralischen Belehrung schreiben - Heyne hebt in seiner Rezension gerade diese Tatsache gebührend hervor2 — ; vielmehr ist ihm die Rekonstruktion eines Autors Selbstzweck genug. Der Vorwurf, der gegen Brotier erhoben wurde, „er biete dem Leser nur etwas, was schon vorhanden sei" (vgl. Young: „Nachahmer geben uns nur eine Art von Dupletten von dem, was wir schon vorher und vielleicht weit besser besaßen" ; Ferlet: „on ne lui (sc. au public savant) donne que ce qu'il possédoit déjà")3, trifft auf de Brosses nicht zu: Seine Rekonstruktion will nicht das Original nachahmen, sondern es - vermittels der kritischen Methode der Philologie - zurückgewinnen.
J. E. D. Bernardi : Cicéron, de la République Es ist wiederum ein Mitglied der Akademie der Inschriften, der Jurist und Politiker Joseph-Elzéar-Dominique Bernardi (1751-1824)4, der nach de Brosses den nächsten Rekonstruktionsversuch unternimmt. Wenn an dieser Stelle noch einige Gedanken über seine Wiederherstellung von Ciceros „de re publica" folgen, überschreitet das zwar den Rahmen, den sich diese Untersuchung gesetzt hat; Bernardis Arbeit trägt aber so deutlich noch einige Züge der Ergänzungsversuche aus der Zeit vor de Brosses, daß deshalb nicht darauf verzichtet werden soll, einen Überblick über sie zu geben. Zudem liegt mit „de re publica" der m.W. einmalige Fall vor, daß der Ergänzungsversuch am Original überprüft werden kann: Teile von Ciceros „de re publica" sind von Angelo Mai in einem Palimpsest entdeckt und 1822 ediert worden. 1 De Brosses konnte schon auf mehrere - allerdings unvollständige - Sammlungen von Sallustfragmenten zurückgreifen. Als erster hat er alle in den lateinischen Grammatikern verstreuten Sallustfragmente gesammelt. Vgl. Mamet, a.a.O., S. 136. 2 Vgl. S. 93 f. 3 Vgl. S. 89 u. 91. 4 Vgl. Nouvelle Biographie Generale, Paris 1855, 5. Bd., 1855, S. 602f., s.v. Bernardi.
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Dritter Teil
Bernardi beruft sich ausdrücklich auf de Brosses. Dessen Sallustrekonstruktion betrachtet er als sein Vorbild. Wie dieser verzichtet er auf eine formale Nachahmung. Allein aus den Fragmenten und den Inhaltsangaben späterer Autoren (Lactanz, Augustin) stellt er einen Plan des Werkes auf. Aber nicht in allen Punkten fühlt er sich an de Brosses' Arbeitsweise gebunden. Bei Bernardi steht die Philologie im Dienste einer anderen Idee, der Politik. So zeigt sich die enge Verknüpfung mit dem Zeitgeschehen in der Vorrede des 1798 - im Jahre 6 der neuen Zeitrechnung - erschienenen Werks: „Je veux parler du rétablissement ou pour mieux dire de la résurrection de la république romaine au moment où il est achevé"1. Die römische Verfassung sieht Bernardi in einem verklärten Licht: „Le génie de la liberté animé par l'amour de la patrie et soutenu par le respect pour les lois de l'humanité, sans lesquels d'ailleurs la liberté n'est qu'un vain nom, enfanta des prodiges étonnans"2. Dies leuchtende Vorbild will Bernardi seinen Mitbürgern in einer klaren und gut lesbaren Abhandlung zeigen. Nicht für die Fachgelehrten, sondern für die große Öffentlichkeit ist sein Werk bestimmt. Er verspricht: „Le Traité de la République ainsi restauré contiendra un tableau historique des institutions romaines, des discussions sur les questions les plus importantes de la morale et de la politique ; telles que l'origine de la société, l'essence de la loi et du devoir, la différence éternelle du bien et du mal, les fondemens du bonheur public et particulier. On y trouvera les fameux argumens de Carnéades contre la justice et le droit naturel"3. Entsprechend der Natur dieser Ankündigung legt Bernardi mehr Wert auf eine Darlegung der antiken Rechts- und Staatsauffassungen als auf eine Rekonstruktion in streng philologischer Arbeitsweise. So läßt er kleinere Fragmente von „de re publica" völlig unberücksichtigt. Dagegen übernimmt er aus anderen Werken Ciceros (z.B. aus den Tusculanen, „de officiis", „de legibus") häufig kürzere Abschnitte. Er begründet diese Handlungsweise mit dem Hinweis darauf, daß Cicero sich ja oft selbst zitiere. So entsteht ein geschlossenes Werk, das in allen seinen Teilen antiken Ursprungs ist und nur Gedanken wiedergibt, die auch bei Cicero zu finden sind. Bernardi hat diese verschiedenen kleinen Abschnitte geschickt zu verbinden gewußt, wobei er auf eigene Zusätze ebenso wie de Brosses - verzichtete. Da er die Dialogform, in der „de re publica" verfaßt war, nicht wiederherstellen kann, greift er auf einen von Cicero nicht verwirklich1 De la République ou du meilleur Gouvernement, ouvrage traduit de Cicerón et rétabli d'après les fragmens et ses autres écrits, avec des notes historiques et critiques, Paris An Sixieme (1798), Vorrede, S. 7. 2 Bernardi, a.a.O., Vorrede, S. 6. 3 Bernardi, a.a.O., Vorrede, S. 30.
J.E.D. Bernardi: Cicéron, de la République
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ten Plan zurück. Cicero spielte nämlich für kurze Zeit mit dem Gedanken, in eigener Person seine Erörterungen über den Staat vorzutragen (vgl. ep. ad Q. fratr. III, 5). Bernardi führt diese Absicht durch. Da Cicero selbst die redende Person ist, kann Bernardi, über die Zeit Scipios und Laelius' hinaus die weitere Geschichte Roms bis zu Cicero behandeln; ohne die Abfassungszeit des Werkes (54-51 v. Chr.) zu berücksichtigen, berichtet er im 5. Buch von Caesars Tod. Wie die wenigen Andeutungen zeigen, kann dies Werk auf die Bezeichnung „Rekonstruktion" keinen Anspruch erheben. Außerhalb Frankreichs wurde es nicht beachtet. In Frankreich selbst erlebte es noch zwei Auflagen: 1807 wurde erstmals der lateinische Text unter dem Titel „M. Tullii Ciceronis, de República seu de optimo genere status libri sex, quos fragmentorum ope et aliorum auctoris scriptorum restituendum curavit J. E. D. Bernardi" herausgegeben. Im gleichen Jahr erscheint auch eine zweisprachige Ausgabe. Der Vergleich mit dem aufgefundenen Original ist nicht sehr aufschlußreich, da Bernardi nicht das verlorene Werk rekonstruiert, sondern unter Benutzung von Ciceros Schriften ein Buch über die römische Republik zusammengestellt hat. Der Aufbau beider Schriften stimmt nur in wenigen Punkten überein1. 1 Cicero hat z.B. im 1. Buch vom Kreislauf der Verfassungen, im 2. Buch von der römischen Verfassung gehandelt. Bei Bernardi ist die Reihenfolge umgekehrt.
SCHLUSSBETRACHTUNG Supplemente bzw. Ergänzungen gab es nicht nur auf dem Gebiet der Literatur. In der bildenden Kunst entsprechen ihnen die Ergänzungen zu antiken Plastiken: Ein großer Teil der in den AntikenMuseen befindlichen Plastiken trägt deutlich erkennbare Spuren von modernen Ergänzungsarbeiten. Bald ist anstelle der abgebrochenen Nase eine neue angeflickt, bald sind Hand oder Unterarm ergänzt worden; und zuweilen kommt es vor, daß eine aus der römischen Kaiserzeit stammende Statue ein Haupt trägt, das zur Zeit der Medici gearbeitet worden ist. Wiesen die antiken Bildwerke Beschädigungen noch größeren Ausmaßes auf derart, daß etwa einzig der Rumpf einer Statue aufgefunden wurde, so scheuten die Künstler der Neuzeit auch davor nicht zurück, einen solchen Torso zu vervollständigen. Die Archäologen und Kunsthistoriker haben diesem Phänomen bisher wenig Beachtung geschenkt. Eine Einführung in den Problemkreis bietet H. Ladendorf, „Antikenstudium und Antikenkopie"1. Auf Grund des von Ladendorf gesammelten Materials ist es möglich, eine Übersicht über die Grenzen des Zeitraumes zu geben, innerhalb dessen Ergänzungen an antiken Plastiken vorgenommen sind. Die erste Ergänzung stammt aus der ausgehenden Frührenaissance ; es sind die Knaben Romulus und Remus, die - von einem unbekannten Künstler - der Römischen Wölfin beigegeben wurden. Seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts werden in Rom systematisch die verschiedenen Statuensammlungen ergänzt. So übernimmt z.B. Montorsoli die Statuen des Belvedere. Der wichtigste Antikenergänzer der späteren Zeit ist Giacomo della Porta, der viele farnesische Antiken ergänzte. Weiter sind die Werkstätten von Cellini, Caccini und Bernini zu nennen. Im 17. Jahrhundert war Algardi einer der produktivsten Ergänzer. Der Bildhauer Ercole Ferrata restaurierte für die Königin Christine von Schweden viele Statuen ; am Hofe Ludwig des XIV. arbeitete Girardon. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wirken mehrere Ergänzer, die sich bei ihren Arbeiten in viel stärkerem Maße, als dies vorher geschehen war, von der archäologischen bzw. antiquarischen Wissenschaft leiten lassen. Zu ihnen gehören Cavaceppi, Sibilla und Albaccini. 1
H. Ladendorf, Antikenstudium und Antikenkopie, Abhandlung der Sachs. Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.hist. Klasse, Bd. 46, H. 2, Berlin 1953 (2. Aufl. 1958). In einem Exkurs mit dem Titel „Ergänzen" (S. 55-61) geht Ladendorf auf dies Thema ein. Er zitiert dort auch Winckelmanns Forderung nach einem „Werkchen von der Restauration der Antiken".
Schlußbetrachtung
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Mit Winckelmann und dem Frühklassizismus beginnt man, an den Ergänzungen Anstoß zu nehmen. Man stellt die grundsätzliche Frage, ob man Antiken ergänzen solle oder nicht. Noch sind diese Einwände nicht stark genug, und die Ergänzungsarbeiten werden bis ins 19. Jahrhundert hinein fortgesetzt. Die Aegineten, die Thorvaldsen in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts ergänzte, kennzeichnen den Endpunkt der Entwicklung. Mit ihnen bricht die für ungefähr vierhundert Jahre fast ununterbrochene Folge von Ergänzungsarbeiten beinahe unvermittelt ab. Die zur gleichen Zeit nach Westeuropa gebrachten Parthenonskulpturen wagte schon niemand mehr zu ergänzen. Vergleicht man die Ergänzungen zur antiken Literatur und Plastik allein unter dem Gesichtspunkt des Historikers, so ergibt sich die Parallele, daß hier wie dort von der Renaissance bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ergänzt wurde. Beide Erscheinungen werden aus der gleichen Quelle gespeist. Ihr geistiges Prinzip ist die „imitatio veterum", Nachahmung der zum Vorbild genommenen Alten. In der bildenden Kunst verzichtete man auf die Ergänzungen, da die Zunahme an historischer Erkenntnis gelehrt hatte, daß eine Ergänzung stets eine Verfälschung des Kunstwerkes bedeutet. In der Philologie, die sich der „Erkenntnis des Erkannten" verschrieb, siegte ebenfalls die historische Betrachtungsweise. Die Supplemente werden durch umfangreiche Fragmentsammlungen abgelöst. Einige verloren geglaubte Werke konnten so zu großen Teilen wiedergewonnen werden (Ennius, Vahlen, 1854; Sueton, Reifferscheid, 1860; Fragmente der Vorsokratiker, Diels, 1903). Rekonstruktionsversuche werden unternommen, die dank der kritischen Methode zu gesicherten Ergebnissen führen. Die von de Brosses aufgestellte Forderung nach inhaltlicher Rekonstruktion steht auch heute noch im Mittelpunkt der philologisch-historischen Altertumsforschung, „deren erste wie dringendste Aufgabe es ist, das antike Buch, das verlorene wie das erhaltene, herzustellen"1. 1 Gercke-Norden, Einleitung in die Altertumswissenschaft, Bd. 1, Berlin 1910, S. 26 (Gercke: „Methodik").
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1. Curtius R u f u s Die Supplemente zu dem fehlenden Schluß des 5. Buches der Alexandergeschichte. Der erhaltene Text bricht mitten im Satz ab: ,,Ac dum galea haustam aquam sorbet, tela iumentorum deficientium corporibus infixa conspexit, miratusque confossa potius quam abacta esse, semivivi hominis . . . " P e t r a r c a 1 notiert dazu: „deest multum". Er führt den Satz nicht zu Ende. Mit den überleitenden Sätzen: „Interim dum talia fierent ab Alexandro, bellum ortum est inter Macedones et Lacedemonios. Antipater Macedonie prefectus in hoc bello contra regem Lacedemoniorum" und dem Hinweis auf den Schluß des 11. Buches von Justin überbrückt er den Verlust zwischen 5. und 6. Buch2. Bruno 3 ist demgegenüber wesentlich ausführlicher: „(miratusque confossa potius quam abacta esse, semivivi hominis) corpus, cum propius accessisset, in sordido vehículo pellibus contecto, situm repperit: atque Darium, multis quidem vulneribus confossum, adhuc tarnen spirantem, esse cognovit. Qui applicito captivo, cum civem ex voce cognovisset, id saltern praesentis fortunae solatium se habere dixit, quod apud intellecturum locuturus esset, nec incassum postremas voces emissurus: Haecque Alexandro perferri iubet: Se nullis in eum meritorum officiis, maximorum autem illi debitorem mori. Agere tamen ei maximas gratias pro beneficiis, in matrem, coniugem liberosque suos impensis. iis enim vitam, et pristini status reverentiam dignitatemque concessam : sibi autem a cognatis atque amicis, quibus et regna et vitam dederit, illa omnia erepta esse. Precari se, ut illi victori, terrarum omnium imperium contingat. Ultionem sceleris erga se perpetrati, non solum sua, sed exempli, omniumque regum causa, non negligere, 1 Vgl. Pierre de Nolhac, Petrarque et l'humanisme, Paris 1907, Bd. II, S. 97. a Die anderen Ergänzer lassen das 5. Buch mit dem Tode des Darius enden. Am Anfang des 6. Buches schildern sie die Auseinandersetzimg zwischen Spartanern und Makedonen. Auf den Abdruck der teilweise sehr umfangreichen Supplemente zum 6. Buch muß aus Raummangel verzichtet werden. 3 Curtius Rufus . . . cum Supplemento, Basel 1545, apud Frobenium. Da die Autorschaft Brunos umstritten ist, zitiert Hedicke dies Supplement als „Frobenianum".
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illi cum decorum, tum utile futurum. Iamque deficiens aquam poposcit, quam allatam postquam bibit, Polystrato, qui earn tulerat : Quisquís es mortalium omnium, inquit, hoc mihi extremum universae calamitatis genus accidit, ut pro tanto in me beneficio, dignas tibi grates referre nequeam. at referat Alexander: Alexandra vero dii, pro eius summa in meos humanitate ac dementia. Cui hoc, fidei regiae, unicum dextrae pignus, pro me dabis. Haec dicentem, accepta Polystrati manu, vita destituit. Quibus Alexandra nunciatis, ad corpus demortui perveniens, tam indignam ilio fastigio mortem, lachrymis prosecutus est. Demptaque sibi chlamyde corpus illius contexit, atque regio ornatum cultu, ad matrem Sysigambim, patrio regioque more sepeliendum, atque regiis maiorum suorum tumulis inferendum, misit." F r e i n s h e i m s 1 Ergänzung lautet: „(miratusque confossa potius quam abacta esse, semivivi ho)minis gemitum percipit. Itaque more ingenii humani cupidus visendi quid rei vehículo isto conderetur, dimotis pellibus quibus obtectum erat, Darium multis vulneribus confossum repperit. Regius enim cultus et aureae catenae, quis a parricidis vinctus fuerat, dubitationem eximebant. Non erat expers Graeci sermonis Darius; gratiasque agebat diis, qui post tanta mala, tamque gravia, hoc tarnen induisissent solacii, ne omnino in solitudine extremum spiritum effunderet. Itaque te, inquit, quisquís es mortalium, per communem hominum sortem, a qua nec máximos quidem reges exemptos esse praesenti spectaculo moneris, rogo quaesoque, ut haec ad Alexandrum mandata mea perferas: nihil eorum, quae longe tristissima perpessus sum, ne hunc quidem incomparabilis calamitatis exitum ita gravem mihi accidisse, ut hoc unum, quod post tanta in me meosque merita adversus clementissimum victorem inimico vivendum fuit, et nunc ingrato moriendum est. Sed si qua postremis miserorum votis apud deos vis est, et cum ipso spiritu profusas preces mitius aliquod numen exaudit; ille quidem sospes et incolumis, longeque supra contagium meae sortis et invidiam fortuna© positus, in solio Cyri gloriosam aetatem exigat : suaeque virtutis memor eum matri liberisque meis locum apud se esse patiatur, quem illi fide et obsequio meruerint. At parricidas promptum exitium consequatur, quod Alexander inrogabit, si non misericordia infelicis hostis, saltem odio facinorum, et ne impunita in aliorum etiam regum suumque ipsius exitium erumpant. Post haec, cum siti angeretur, adlata per Polystratum aqua recreatus : Ergo, ait, hanc etiam tantis calamitatibus extremam accedere oportuit, ut bene merito gratiam referre non possimi at referet Alexander, Alexandra vero dii. Dextram deinde protendit, eamque Alexandre fidei 1 Curtius Rufus . . . cum supplementi Freinshemii, Argent. 1640. Hedicke hat beim Abdruck dieser Supplemente häufig stilistische Änderungen vorgenommen.
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regiae pignus ferri iubens, adprehensa Polystrati manu animam efflavit. Alexander an spiranti adhuc supervenerit, incertum est : illud constat miserabili regis opulentissimi exitu comperto, copiosas lacrimas profudisse, statimque chlamyde sibi detracta corpus operuisse et magno cum honore ad suos deferri iussisse, ut regio Persarum more curatum monumentis maiorum inferretur. Ingratitudinem hominum, a quibus pro summis beneficile crudele exitium Darius pertulit, quamquam suopte ingenio horrendum et exsecrabilem, insigniore ad posteritatem infamia damnavit canis cuiusdam mira fides, qui ab omnibus familiaribus derelicto solus adfuit, et quam in vivum pre se tulit benivolentiam, morienti quoque constanter praestitit. Hunc vitae finem sortitus est ille, quem modo contumelia adfici putabant, nisi regem regum et deorum consanguineum salutarent. magnoque iterum experimento adprobatum est, NEMINEM magis patere fortunae, quam qui plurimis eiusdem blandiciis inretitus, iugum illius tota cervice receperit." C e l l a r i u s 1 bietet folgenden Text: „(miratusque confossa potius quam abacta esse, semivivi) . . . Darius Polystrati accedentis audita voce, praesentis fortunae id esse solatium dixit, quod ultima verba apud intellecturum sit redditurus. Perferri autem Alexandra jubet, se nullis in eum meritorum officiis; maximorum illi debitorem mori, quae matri, uxori, liberie praestitisset. Gratiam se solam, quam moriens possit, precando referre, ut illi terrarum omnium contingat imperium. Curam sepulturae, et parricidii ultionem non multis verbis rogare, quod hanc humanitatis officio; illam exempli caussa et communis regum securitatis non sit neglecturus Alexander. Tandem hausta frigida, quam postulaverat, Polystrato quoque gratias egit, de ultima infelicitate sua conquestus, quod referre non possit: velie autem, ut Alexander illi; Alexandra dii référant; in eamque rem se dexteram, fidei regiae pignus, Alexandra ferendam dare. Haec dicentem, accepta Polystrati manu, vox atque vita destituit. Quae ubi Alexandra nunciata sunt, viso corpore defuncti, tam indignam isto fastigio mortem lacrimis prosecutus est, et chlamyde sua contectum, regioque ornatum cultu, ad matrem Sisygambim patrio more sepeliendum, tumulisque majorum inferendum misit." Cellarius hat also darauf verzichtet, den unvollständigen Satz zu Ende zu führen. In einer Anmerkung nimmt er zu den beiden vorhergegangenen Supplementen Stellung: „semivivi: Heic scripti, etiam olim excusi libri deficiunt. Itaque difficilis connexio supplementi est conjecturis in incerto errantibus. Vocem hominis vel scriptam fuisse proxime, vel subauditam, extra dubium est: corpus, quod repertum fuerit, an gemitus, qui auditus, an aliud exceperit, quis divinabit ? alterum vulgaris supplementi (damit ist Brunos Supple1
Curtius Rufus, ed. Chr. Cellarius, Lipsiae 1688.
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ment gemeint) est, alteram Freinshemiani. Nihil autem deesse videtur, quam quae mortem Darii et sepulturae curam describant, quae quantum fieri potest, Justinum et Plutarchum sequuti (Diodorus enim et Arrianus vix attingunt hanc caussam) sic breviter designamus." Dann erörtert er in den Anmerkungen die Frage, ob Darius direkt mit Polystratos oder durch die Vermittlung eines Dolmetschers gesprochen habe, wobei er sich die Ansicht Freinsheims zu eigen macht : „apud intellecturum : Justinus (XI, 15,6), qui tarnen interprete captivo Persa cum Polystrato locutum esse addit: „adplicito, inquit, captivo, quum civem ex voce cognovisset." Quod autem Darius sermonis Graeci non ignaras fuerat, teste Curtió V, 11,5 („jussusque propius accedere, sine interprete: nam haud radis Graecae linguae Darius erat; Rex, inquit . . ."). Freinshemius Graece Macedoni Polystrato locutum esse autumat." Der leichteren Überschaubarkeit halber sollen an dieser Stelle auch die Quellen abgedruckt werden, die von den Ergänzern benutzt worden sind. Bruno hat sich weitgehend auf Justin gestützt, den er wie so oft wörtlich ausschreibt. Der entsprechende Abschnitt bei Justin XI, 15, 5-15 lautet: „unus e militum . . . in vehículo Darium multis quidem vulneribus confossum, sed spirantem adhuc invenit; qui applicito captivo cum civem ex voce cognovisset, id saltern praesentis fortunae habere se solacium dixit, quod apud intellecturum locuturus esset nec incassum postremas voces emissurus. Perferri haec Alexandre iubet : se nullis in eum meritorum officiis maximorum illi debitorem mori, quod in matre liberisque suis regium eius, non hostilem animum expertus felicius hostem quam cognatos propinquosque sortitus sit; quippe matri et liberie suis ab eodem hoste vitam datam, sibi a cognatis ereptam, quibus et vitam et regna dederit. Quamobrem gratiam illis eam futuram, quam ipse victor volet. Alexandra referre se, quam solam moriens potest, gratiam, precari superum inferumque numina et regales deos, ut illi terraram omnium victori contingat imperium. Pro se iustam magis quam gravem sepulturae veniam orare. Quod ad ultionem pertineat, iam non suam, sed exempli communemque omnium regum esse causam, quam negligere illi et indecorum et periculosum esse; quippe cum in altero iustitiae eius, in altero etiam utilitatis causa versetur. In quam rem unicum pignus fidei regiae, dextram se ferendam Alexandre dare. Post haec porrexit manum expiravit . Quae ubi Alexandre nuntiata sunt, viso corpore defuncti tam indignam ilio fastigio mortem lacrimis prosecutus est corpusque regio more sepeliri et reliquiae eius maiorum tumulis inferri iussit." An zweiter Stelle hat er Plutarch, Alexander 43, hinzugezogen. Aus ihm hat er die kleine Randepisode, wie Polystratos den Sterbenden mit einem
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Trunk frischen Wassers erquickt, übernommen, „μόλις δέ ευρίσκεται πολλών άκοντισμάτων κατάπλεως τό σώμα κείμενος έν άρμαμάξη, μικρόν άπολείπων του τελευταν. δμως δε και πιεΐν ητησε, και πιών ΰδωρ ψυχρόν, είπε πρός τον δόντα Πολύστρατον. ,,ώ άνθρωπε, τοϋτό μοι πέρας γέγονε δυστυχίας άπάσης, εδ παθεϊν άμείψασθαι μή δυνάμενον. άλλ' 'Αλέξανδρος άποδώσει σοι τήν χάριν, Άλεξάνδρω δ' οι θεοί της εις μητέρα καί γυναίκα και παΐδας τούς έμούς έπιεικείας, φ ταύτην δίδωμι τήν δεξιάν διά σου." ταϋτ' ειπών καί λαβόμενος της του Πολυστράτου χειρός, έξέλιπεν. 'Αλέξανδρος δ' ώς έπηλθεν, άλγών τε τω πάθει φανερός ήν, καί τήν έαυτοϋ χλαμύδα λύσας επέβαλε τω σώματι καί περιέστειλε. . . . τότε δέ του Δαρείου το μέν σώμα κεκοσμημένον βασιλικώς πρός τήν μητέρ' απέστειλε, τόν δ'άδελφόν Έξάθρην εις τούς έταίρους άνέλαβεν. Freinsheim hat außerdem Diodor und Arrian benutzt, die nur wenig zu berichten wissen. Arrian, Anabasis I I I , 21,10 u. 22,1: „Δαρείος δέ άποθνήσκει ολίγον ύστερον έκ τών τραυμάτων πριν οφθήναι Άλεξάνδρω. 'Αλέξανδρος δέ τό μέν σώμα του Δαρείου ές Πέρσας άπέπεμψε, θάψαι κελεύσας έν ταΐς βασιλικαϊς θήκαις." Diodor 17,73,3f. : „'Αλέξανδρος . . . καί τον Δαρεϊον τετελευτηκότα καταλαβών της βασιλικής ταφής ήξίωσεν. ώς δ' έ'νιοι γεγράφασιν, έ'μπνουν ετι καταλαβών τοις μέν άτυχήμασιν αύτοϋ συνήλγησε, παρακληθείς δέ υπό του Δαρείου μετελθεΐν τόν φόνον καί καθομολογήσας έδιωξε τον Βήσσον." Darüberhinaus spielt er mit dem Ausdruck „consanguineus deorum" auf die Rede eines persischen Gesandten an, der den Griechen die Abstammung der Perser von Perseus einzureden sucht; woraus sich gleichzeitig der Anspruch der persischen Könige auf göttliche Herkunft ergibt (Herodot 7, 150). Die rührende Geschichte von der Treue des Hundes - bei so viel Untreue der Menschen! — hält man zunächst für so passend erfunden, daß man dann überrascht ist, sie doch bei Aelian, Hist. Anim. VI, 25, zu finden. Es heißt dort: ,,Δαρείω δέ τω τελευταία) βασιλεΐ τών Περσών έν τή πρός 'Αλέξανδρον μάχη βληθέντι ύπο Βήσσου καί κειμένω, πάντων τόν νεκρον άπολιπόντων, ό κύων ό ύπ' αυτί!) τραφείς μόνος παρέμεινε πιστός, τον ούκέτι τροφέα μή προδούς ώς ετι ζώντα." Aber es werden nicht allein entlegene Quellen von Freinsheim verarbeitet. Er fügt von sich aus einzelnes hinzu, wie etwa die Parenthese ,,si qua extremis miserorum votis apud deos vis est, et cum ipso spiritu profusas preces mitius aliquod numen exaudit" oder die Sentenz über den unglücklichen Tod des vormals glücklichen Königs „hunc vitae finem sortitus est ille, quem modo contumelia adfici putabant, nisi regem regum et deorum consanguineum salutarent. magnoque iterum experimento adprobatum est NEMINEM magis patere fortuna«, quam qui plurimis eiusdem blandiciis inretitus iugum illius tota cervice receperit"; ein charakteristisches Merkmal der schrift-
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stellerischen Tätigkeit Freinsheims . Denn er will kein Flickschuster sein. Er hat literarische Ambitionen, und es ist ihm als einzigem gelungen, ein Supplement zu verfassen, das man ob seines rhetorischen Glanzes mit Vergnügen liest; von wörtlicher Übernahme der antiken Berichte ist er weit entfernt. Mit ganz anderen Vorstellungen von einem Supplement macht sich Cellarius ans Werk. Er verkörpert den sachlich prüfenden pragmatischen Historiker, der nur die Tatsachen mitteilt, die jeder Prüfung standhalten. Es ist kein Zufall, daß er den unvollständig überlieferten Satz nicht fortsetzt. 1
2. L i v i u s Freinsheim, Supplementa Liviana, Lib. X I X , Cap. X L - XLVII. X L : Interea duo tribuni plebis C. Fundanius et Ti. Sempronius Claudiae, Ap. Caeci filiae, diem ad populum dixerunt, quod a ludis rediens, quum turba premeretur, in conferta multitudine aegre procedente carpento, vocem miserat impii voti: Utinam frater meus revivisceret, iterumque classem duceret! Nulla fere nobilis Romae domus erat, quin Claudiana gentem propinqua cognatione aut adfinitate contingeret. Itaque non deerant, qui ream tuerentur, claritatem familiae, patria Appii merita, fragilitatem sexus obtendentes. inauditum esse, feminas ad judicium populi vocari ñeque satis gravem caussam, cur a Claudia mos novus inciperet, quae, nullo aut Consilio aut facto majestate populi Romani deminuta, tantum intra verba peccavisset. Adversum quae duo tribuni plebis ita disseruere : Quam impiam, quamque detestabilem vocem Claudia jecerit, non ignoratis, Quirites. neque enim testimoniis opus est, confitente rea: ñeque etiam illa negare, si vellet, posset; quod palam in publico, non Jovem, quum sub dio haec diceret, non multitudinem ipsam civium, quam incusabat, reverita, effudit. Quorsum igitur, quum de crimine constet, de poena dubitabimus ? Parumne diligenter legibus cautum est ? An nos, verba legum numerantes, mentem earum circumveniri patimur ? Feminam hoc judicio peti, novum esse contendunt. Esto : novum enim etiam est, feminam hoc pacto delinquere: necdum enim ullam tanta improbitate mulierem urbs nostra tulerat. X L I : Atque utinam ne nunc quidem novum exemplum statui opus esset! Mallemus profecto nullis delictis quietam ac veluti conditam legum aciem pati, quam adversus nocentes, utili quidem, sed tarnen acerbo rigore, distringere. Ceterum civitati stare volenti necessaria 1 Über Freinsheims Vorliebe für Sentenzen vgl. S. 18 u. 22. An unserer Stelle könnte man noch auf den Anfang hinweisen: „more ingenii humani cupidus visendi" und auf die ersten Worte des Darius: „per communem hominum sortem, a qua nec máximos reges exemptes esse praesenti spectaculo moneris".
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legum est custodia: quas utique minime deberent subvertere, qui reipublicae nostrae principes et columina haberi volunt. Quos profecto juris omnis peritissimos latere non potest, quum pluribus in legibus nulla sit expressa mulierum mentio, verbo Siquis, et similibus, non minus ilium sexum, quam masculinum, contineri. Quid igitur mirum, si leges, quae de majestate latae sunt, ad utrumvis sexum pertinere credimus, quum exemplo sit isthaec Claudia, ab utrovis in eas pecari posse ? Sed elevant illi rem, parvumque videri delictum volunt, quod ultra verba non processisset. Hoc enim restabat, ut conatum, Studium, facta conjugeret, cum Poenis Consilia sociaret, centuriaret homines, armaret servitia, occuparet Capitolium, et pestem, quam civibus verbo voverat, opere quoque ipso et manu inferret ? X L I I : Atqui legibus profecto non facta magis, quam consilium et animus patrantis, puniuntur. neque enim, si quid furiosus aut infans nocuit, jure adversus eum prodita est actio, animi vero cujusque multis in caussis non minus certa ex verbis, quam ex operibus, indicia petuntur. Quae sic optât, quid faceret, si facere, quod optet, in ejus manu esset ? Quod si aliorum quoque hominum judicia non contemnimus, (cur autem contemnamus ?) etiam alibi pro scelere habitum vindicatumque est impium votum. Athenis, quae Graeciae civitas prae ceteris sapientiae laudibus clara habetur, damnatus est, qui magnum lucrum optaverat, quum necessaria funeribus curandis venderet: quod consequi posse non videbatur, nisi multi mortales interissent. E t tarnen illis in verbis locum habere poterat mitior interpretatio. haec non ambigue, neque perplexe, exitum civibus, cladem exercitui, calamitatem reipublicae optavit. Utinam frater meus revivisceret ! votum improbum, etiam si fratris caussa sic optavisset. X L I I I : Cur enim illi reddenda vita esset, cujus opera tot civium millibus erepta est ? Qui rempublicam non minus per superbiam despexit, quam per temeritatem adflixerat ? Qui praedamnatus omnium hominum sententiis, non infamiam ejus judicii, sed poenam casu effugit? Hunc tu, si saperes, optares reviviscere! Cujus si memoriam eodem tumulo potuisses obruere, quo ciñeres ejus teguntur, nihil antiquius habere debuisses. Quemadmodum enim fratrum egregiorum fama aliae matronae non inepte gloriantur, ita tibi hic pudoris esset, si quidquam apud te pudoris remaneret. Sed ignoscamus feminae nobili, si fratrem stulte fortassis, sed tarnen pie, desideravit. immo absolvite earn, si tam insolens ineptumque votum, quam caussa optandi abominabilis fuit. Cur enim voluisti fratrem reviviscere ? Ut adspectus propinqui hominis te recrearet ? Ut opera ejus utilitati, auctoritas praesidio, honores ornamento essent ? Nihil horum ! Quid igitur ? Ut iterum classem duceret. Hoc enim erat, o scelestissimum caput, cur, quantum in te fuit, suscitare mortuos, naturam in ordinem cogéré, inferorum refringere claustra cupivisti, ut reperires, per quem periremus?
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X L I V : Haec est, Quirites, cujus misereri vos jubent, qui, dum bonos se propinquos probant, vix satis cavent, ne mali cives habeantur. Et tarnen intercedit nemo, quin ipsorum arbitratu misereamini, si cujusquam vestrum illa miserta est. Sin vero aliis interitum, aliis luctum et orbitatem, omnibus calamitatem, cladem, pestem imprecata est: tarn inepta mansuetudine quisquam erit, ut animum tarn hostilem, tarn infensum, tarn inhumanum ulla misericordia dignum existimet ? Nuper, quum lustro confecto civium numerum censores edidissent, qui gemitus hominum, quanta moestitia fuit ? Quamquam multa prospere per annos istos evenerant, vix tamen bonis viris satis salva videbatur respublica, quae minus nunc civium numeraret, quam superiore lustro habuisset. At haec illorum jactura, qui periere, nihil movetur: hoc dolet, quod aliqui superfuerunt. nimiam Romae turbam esse queritur: reviviscere optat eum ipsum, cujus maxime culpa superioris census rationes decrevere. X L V : Sed ipsa quidem mulier indigna est misericordia vestra: ceterum, si quid peccavit, majoribus ejus et patri condonabitis. Hoc igitur jus in civitate nostra statuemus, ut, si quis patriae quoquo modo profuisse dicatur, ejus posteri possint eamdem illam patriam impune laedere ? Minime profecto sic sensere majores nostri, qui M. Manlium de saxo dejecerunt, quum Capitolium, ultimam tum spem Romani generis, non pater ipsius, aut avus, aut progenitorum aliquis, sed ipse servavisset. Non debebat quidem adjutae reipublicae praemium uberius quaeri, quam facti conscientia. Sed tamen, si qua bonam ei operam Ap. Claudius praestitit, mercedem abunde recepit, locuplet a t a operibus, satiatus honoribus, quibus ad ultimam usque senectutem perviguit. XLVI : Quamquam fortasse satius fuisset Appii et superiorum Claudiorum mentionem praetermittere, quam admonere vos injuriarum, quas domus illa, ab extrema origine minime popularis, atroces vobis saepe et acerbas intulit. Quem enim Appium vos meminisse volunt ? Aliumne quam ilium, qui semper commodis vestris inimico animo adversatus est; qui potius cum exercitu perire voluit, quam a plebejo consule, collega suo, servari; qui censuram ultra legitimum tempus gerere invitis ordinibus omnibus perseveravit ? Si jam placet, ulterius merita Claudiae gentis populo Romano exprobrent, et ad decemviralia usque tempora procédant, vel ad ultimam usque generis istius originem. Reperiant profecto potius, quomodo superbia et contumacia mulierem istam majoribus suis similem esse ostendant, quam ut illorum in gratiam hic parcendum esse demonstrent. X LVII : Quid igitur caussae, cur haec mulier impune peccare debeat, vel isti adtulerunt, vel adferre quisquam potest ? Nisi forte metuitur, ne tam salutane exempli feminam ex civitate nostra amittamus. Quod si vos etiam veremini, Quirites, retínete, retínete hanc Claudiana, ut,
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quum matronae nostrae dubiis reipublicae temporibus ad pulvinaria Deorum supplicatum ibunt, illarum pia vota contrariis votis haec moretur : ut, quum illae salutem militibus vestris, haec exitium optet ; illae incólumes videre, haec audire oppressos, concisos, trucidatos voveat ; illae sollicitent Deos, ne multi in bello pereant, haec incuset, si multi revertantur. Retínete mulierem, quae, sicut aliae matronae clarorum virorum aemulatione liberos propinquosque soient ad virtutem, ad amorem patriae, ad caritatem civium incendere, suos exemplo P. Claudii pugnare temere, fugere turpiter, cives sceleste perdere, rempublicam contumeliose despicere doceat; haec ab infantia meditanda proponat nobilibus pueris; haec imitanda adolescentibus : sie imbuantur, quibus classes vestras, quibus exercitus commissuri estis. Talia quum ultro citroque j aetata essent, missus in suffragium populus damnavit ream, muletaque ei dicta est aeris gravis quinqué et viginti millia. Ex hac aliaque muletatia pecunia Ti. Sempronius aedilis aedem Libertatis in Aventino fecit dedicavitque. Der Vorfall, den Freinsheim hier in diesen acht Kapiteln behandelt, ist bei mehreren antiken Autoren überliefert. Livius hat das Geschehen im 19. Buch dargestellt. In der Epitome des 19. Buches heißt es: „lustrum a censoribus conditum est. censa sunt civium capita ducenta quinquaginta unum millia, ducenta viginti duo. Claudia, soror P. Claudii, qui, contemptis auspieiis, male pugnaverat, a ludis revertens, quum turba premeretur, dixit : Utinam frater meus viveret, iterumque classem duceret! ob eam caussam multa ei dicta est." Eine umfangreichere Darstellung bietet Aulus Gellius, Ν. Α., X,6 (nach Ateius Capito): „Non in facta modo, sed in voces etiam petulantiores publice vindicatum est ; ita enim debere esse visa est Romanae diseiplinae dignitas inviolabilis. Appi namque illius Caeci filia a ludis, quos spectaverat, exiens turba undique confluentis fluetuantisque populi iactata est. Atque inde egressa, cum se male habitam diceret: ,quid me nunc factum esset' inquit ,quantoque artius pressiusque conflictata essem, si P. Claudius, frater meus, navali proelio classem navium cum ingenti civium numero non perdidisset ? certe quidem maiore nunc copia populi oppressa intercidissem. Sed utinam, inquit, reviviscat frater aliamque classem in Siciliam ducat atque istam multitudinem perditum eat, quae me nunc male miseram convexavit!' Ob haec mulieris verba tarn improba ac tarn ineivilia, C. Fundanius et Tiberius Sempronius, aediles plebei, multam dixerunt ei aeris gravis viginti quinqué milia. Id factum esse dicit Capito Ateius in commentario de iudieiis publicis bello Poenico primo Fabio Licino Octacilio Crasso consulibus." Sueton, Tiberius, Kap. 2, erwähnt mehrere Vergehen von Mitgliedern der Gens Claudia gegen den Staat. Über den uns allein inter-
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essierenden Fall der Claudia berichtet er nur kurz. Ala einziger erwähnt er ausdrücklich, daß die betreffende Äußerung in der Öffentlichkeit gefallen sei: „Extant et feminarum exempla . . . et quae novo more iudicium maiestatis apud populum mulier subiit, quod in conferta multitudine aegre procedente carpento palam optaverat, ut frater suus Pulcher revivisceret atque iterum classem amitteret, quo minor turba Romae foret." Nur der Vollständigkeit halber sei auch der entsprechende Abschnitt aus Valerius Maximus 8,1 damn. 4 zitiert: „Adiciatur his Claudia, quam insontem crimine, quo accusabatur, votum impium subvertit, quia, cum a ludis domum rediens turba elideretur, optaverat ut frater suus, maritimarum virium nostrarum praecipua iactura, revivisceret saepiusque consul factus infelici ductu nimis magnam urbis frequentiam minueret." Weitere Quellen standen Freinsheim nicht zur Verfügung. Selbständig hat er jene großangelegte Anklagerede entworfen, die er der Darstellung des Sachverhaltes folgen läßt. Er verwendet nicht allein alle ihm überlieferten Argumente, sondern bereichert die Argumentation, indem er z.B. auch den Gedanken einer Prüfung unterzieht, ob der Wunsch der Claudia nicht seine Wurzeln in der Familienpietät haben könne (Kap. 43). Er führt ferner ein Exemplum an, wie in Athen der Wunsch eines Beerdigungsunternehmers nach größerem Gewinn verurteilt worden sei (Kap. 42 - Seneca, de benef. 6,38: „In quibusdam civitatibus inpium votum sceleris vicem tenuit. Demades certe Athenis eum, qui necessaria funeribus venditabat, damnavit, cum probasset magnum lucrum optasse, quod contingere illi sine multorum morte non poterat. Quaeri tarnen solet, an merito damnatus sit"). Die Angaben über den Census, die in der Epitome als reines Faktum enthalten sind, ohne in einer Verbindung zu dem Prozeß der Claudia zu stehen, erhalten bei Freinsheim die Funktion eines wirkungsvollen Zeugnisses gegen Claudia. So ist diese Partie aus Freinsheims Supplementen mit allen ihren Erweiterungen ein gutes Beispiel dafür, daß hier nicht eine römische Geschichte in modernem Sinn und auch keine streng philologischhistorische Rekonstruktion der verlorenen Dekaden vorhegt, sondern ein Werk, das sich an dem Schriftsteller Livius zu orientieren sucht.
LITERATURVERZEICHNIS I. Biographien, Bibliographien und
Konversationslexika
Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), 1875ff. Biographie Universelle, Paris 181 Iff. Brüggemann, L. W.: A View of the English Editions, Translations and Illustrations of the Ancient Greek and Latin Authors, Stettin 1797. Degen, J . F.: Versuch einer vollständigen Litteratur der deutschen Übersetzungen der Römer, Altenburg 1794. Diderot et d'Alembert, Encyclopédie, ou Dictionnaire Raisonné des Ars et des Métiers . . . Paris 175Iff. Ebert, F . Α.: Allgemeines bibliographisches Lexikon, Leipzig 1821. Ersch-Gruber: Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, 1818ff. Jocher, Chr. G.: Allgemeines Gelehrtenlexikon, 1750/1. Dictionary of National Biography, London 1885ff. Schweiger, F. L. A. : Handbuch der classischen Bibliographie, Lateinische Schriftsteller, Leipzig 1832/34. Zedier, J . H.: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde., Halle-Leipzig 1732-54. II. Geschichte der Philologie Bursian, C. : Geschichte der classischen Philologie in Deutschland, München 1883. Eckstein, F . A: Nomenciator Philologorum, Leipzig 1871. Eckstein, F . Α.: Lateinisch-griechischer Unterricht, Leipzig 1887. Egger, E.: L'hellenisme en France, Paris 1869. Gudemann, Α.: Grundriß der Geschichte der Klassischen Philologie, Leipzig, 2. Aufl. 1909. Kroll, W.: Geschichte der klassischen Philologie, Leipzig 1907. Nolhac, P. de: Pétrarque et l'humanisme, Paris 1907. Norden, E.: Die Antike Kunstprosa, Darmstadt, 5. Aufl. 1958. Paulsen, F.: Geschichte des Gelehrten Unterrichts, Leipzig, 3. Aufl. 1919. Pökel, W. : Philologisches Schriftsteller-Lexikon, Leipzig 1882. Sandys, J . E.: A History of Classical Scholarship, Cambridge 1908. Voigt, G.: Die Wiederbelebung des klassischen Altertums, oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Berlin, 3. Aufl. 1893. Wegner, M.: Altertumskunde, Freiburg 1951. Wilamowitz-Moellendorff, U.V.: Geschichte der Philologie, Leipzig 1959 (Nachdruck der Erstausgabe von 1921). I I I . Weitere
Hilfsmittel
Draeger, Α.: Über Syntax und Stil des Tacitus, Leipzig, 3. Aufl. 1882. Gerber-Greef : Lexicon Taciteum, Lips. 1903. Kern, H.: Supplemente zur Aeneis aus dem 15. und 17. Jahrhundert, Schulprogramm, Nürnberg 1896. Kühner-Stegmann: Ausführliche Grammatik der Lateinischen Sprache, Hannover, 3. Aufl. 1955. Pauly-Wissowa: Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE), 1893ff. Thesaurus Linguae Latinae (Thes. LL), 1883 ff.
NAMENVERZEICHNIS B a r b a r a s 50 Bayle 12 Beccatelli 9, 50 Bernardi 95-97 B o e d e r 36, 57 Brinck 9, 45-47, 51, 95 de Brosses 10, 92-95, 99 Brotier 9, 10, 45, 52-91 Bruni 26 Ν 4, 50 Bruno 9, 14-17, 46 Catrou 35 Cellarius 9, 20-23, 46, 47, 51, 58, 60, 92 Christina von Schweden 26-29, 98 Clericus 32, 35 Codrus 9, 50 Crevier 32, 45 van Dale 12 Decembrio 9, 13 Ν 5, 48, 50 Descartes 26, 44 D o u j a t 27, 32 Drakenborch 32, 33 Eichhorn 33, 34 Ernesti 34 Ν 3, 55, 58 Fabricius 34 Fénelon 24 Ferlet 88, 90 Fontenelle 12 Foreest 48 Freinsheim 9, 17-37, 40, 46-49, 51, 59, 60, 84, 92, 94 Fréron 87, 89 Gesner 35 Grimm, Baron ν . 90 Grotius 51 Grotnitz 40, 41, 46, 47 Gruter 37, 38 Hearne 13, 32 Heinse 48 H e y n e 13, 56, 90, 93
J a h n 13 Le Maistre 39-41, 46, 47 Le Tellier 19 Lipsius 37-39, 46, 48, 51, 59, 60 Ludwig X I V . 27, 98 Lycosthenes 9, 11, 14, 46, 47, 51, 95 Mai 95 Manutius 11 Masson 16 May 9, 48, 51 Moller 19, 49 Morisot 9, 48 Niebuhr 36 Nodot 49 Oudendorp 13 Petrarca 16, 50 Pius 9, 51 Rollin 35 Rouillé 35 Ryckius 9, 42-47 Savile 9, 37, 38, 46, 51 Scaliger 16, 51 Schulz von Ascherade 90 Stoa 15 Turchi 26 Ν 4, 47 Vegio 9, 48 Vossius 26 Wolf 33, 90 Wood 56 Xylander 80, 81 Young 91
S T U D I E N H E F T E ZUR ALTERTUMSWISSENSCHAFT Herausgegeben von Bruno Snell u n d H a r t m u t Erbse Heft 1
BRUNO SNELL
Griechische Metrik 3., erweiterte Neuauflage 1962. 65 Seiten, brosch. 5,20 DM Heft 2
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Die tragische Dichtung der Hellenen Erweiterte Neuauflage in Vorbereitung Heft 3
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Das mathematische Denken der Antike 1957. 128 Seiten, brosch. 9,50 DM Heft 4
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Lateinische Metrik Übersetzt von H e r b e r t Ahrens. 1963. 62 Seiten, brosch. 5,20 DM Heft 9
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H E L M U T VAN T H I E L - R E I N H O L D M E R K E L B A C H
Griechisches Lesebuch zur Einführung in Paläographie und Textkritik (in Vorbereitving)
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN UND ZÜRICH