Sufismus und Theologie: Grenze und Grenzüberschreitung in der islamischen Glaubensdeutung 9783495813614, 9783495488775


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Inhalt
Einleitung
Definition der begrifflichen Grundlagen
Mystik und taṣawwuf
1. Der Begriff Mystik
2. Der Begriff taṣawwuf
3. Der Begriff ʿirfān
Gibt es eine islamische Mystik oder ist sie fremdbestimmt?
Die drei Formen des islamischen Sufismus
Der sufische Pfad: Stationen und Zustände
Mystik und Askese
Mystik und Liebe
Liebe und Schönheit
Mystik und Musik
Mystik und Vollkommenheit
Mystik und die Idee der Einheit
Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis
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Sufismus und Theologie: Grenze und Grenzüberschreitung in der islamischen Glaubensdeutung
 9783495813614, 9783495488775

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Welten der Philosophie 17 Reza Hajatpour

Sufismus und Theologie Grenze und Grenzüberschreitung in der islamischen Glaubensdeutung

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495813614

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B

WELTEN DER PHILOSOPHIE

A

https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

Welten der Philosophie 17 Wissenschaftlicher Beirat: Claudia Bickmann †, Rolf Elberfeld, Geert Hendrich, Heinz Kimmerle †, Kai Kresse, Ram Adhar Mall, Hans-Georg Moeller, Ryôsuke Ohashi, Heiner Roetz, Ulrich Rudolph, Hans Rainer Sepp, Georg Stenger, Franz Martin Wimmer, Günter Wohlfart und Ichirô Yamaguchi.

https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

Reza Hajatpour

Sufismus und Theologie Grenze und Grenzüberschreitung in der islamischen Glaubensdeutung

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

Reza Hajatpour Sufism and Theology Boundaries and the Transgression of Boundaries in the Construction of Islamic faith Islamic mysticism accentuates the spiritual power of faith for a peaceful and mutual relationship with fellow human beings and the environment. It does not depart from the Koran and prophetic doctrine of faith, but does redefine, however, its connection to revelation, prophecy and religious law. According to mystic conceptions, salvation and happiness are less dependent on dogmas and religious law; it is the quest for truth and the contemplation of infinity and inwardness or immediacy which play a decisive role. The aim of the book is to address important aspects of mystic theology. This analysis primarily examines the approaches of teaching and interpreting Sufi rendition of theological content. It also sheds light onto the controversies concerning the apologetically and dogmatically rendered theological content and the transgression of boundaries in a mystic-islamic theology. Its aim is furthermore to draft a mystic theology that enables an extension of meaning in view of the theological approach to theological content.

The author: Reza Hajatpour is a philosopher, theologian and writer, born in Iran in 1958. Since October 2012 he has been holding the chair of Islamic Religious Studies with the systematical approach with emphasis on theology/philosophy/mysticism at the Friedrich-Alexander University Erlangen-Nürnberg. Latest publication with Alber: »From conceptualising God to conceptualising Self. The idea of perfectibility in Islamic existential philosophy« (2013) (original title: »Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie«).

https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

Reza Hajatpour Sufismus und Theologie Grenze und Grenzüberschreitung in der islamischen Glaubensdeutung Die islamische Mystik hebt die spirituelle Kraft des Glaubens für eine friedliche und solidarische Beziehung zum Mitmenschen und der Umwelt hervor. Sie entfernt sich zwar nicht vom Koran und den prophetischen Lehren vom Glauben, definiert jedoch ihre Verbindung mit Offenbarung, Prophetie und Religionsgesetz neu. Heil und Glückseligkeit hängen nach mystischer Auffassung weniger von Dogmen und Religionsgesetzen ab, vielmehr spielen die Suche nach der Wahrheit und die Einkehr in die Unendlichkeit und Innerlichkeit bzw. Unmittelbarkeit eine entscheidende Rolle. Das Ziel des Buches ist die Thematisierung wichtiger Gesichtspunkte mystischer Theologie. Die Untersuchung soll vor allem auf die Lehr- und Verständnisansätze der sufischen Darlegung der Glaubensinhalte eingehen. Auch beleuchtet sie die Kontroversen zwischen der apologetischen und dogmatischen Auslegung der Glaubensinhalte und den Grenzüberschreitungen einer islamisch-mystischen Theologie. Darüber hinaus soll eine mystische Theologie entworfen werden, die eine Sinnerweiterung der theologischen Herangehensweise an Glaubensinhalte ermöglicht.

Der Autor: Reza Hajatpour ist Philosoph, Theologe und Literat, 1958 im Iran geboren. Seit Oktober 2012 Lehrstuhlinhaber für Islamisch-Religiöse Studien mit systematischem Schwerpunkt Theologie/Philosophie/ Mystik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zuletzt bei Alber erschienen: »Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie« (2013).

https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2017 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48877-5 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81361-4

https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definition der begrifflichen Grundlagen

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Gibt es eine islamische Mystik oder ist sie fremdbestimmt? . . .

36

Die drei Formen des islamischen Sufismus . . . . . . . . . . .

51

Der sufische Pfad: Stationen und Zustände . . . . . . . . . . .

58

Mystik und Askese

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Liebe und Schönheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Mystik und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Mystik und Vollkommenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

116

Mystik und taṣawwuf . . . . 1. Der Begriff Mystik . 2. Der Begriff taṣawwuf 3. Der Begriff ʿ irfān . .

Mystik und Liebe

. . . .

Mystik und die Idee der Einheit Schlussbemerkungen

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7 https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

Einleitung

Grundsätzlich hängt die Entstehung jeder geistigen und religiösen Strömung von Faktoren ab, die sie begünstigen. Wie mit allen Religionen, die in einem bestimmten geistigen Umfeld und unter den erforderlichen Voraussetzungen entstanden sind, verhält es sich auch mit den Strömungen, Schulen und Lehrmeinungen innerhalb ein und derselben Religion. Das entspricht der Natur der Religionen. Religion verkörpert zum einen eine öffentliche Erscheinung, die sich in Institutionen entwickelt, und spiegelt zum anderen eine innere und geistige Reflexion wider, die sich durch einen langwierigen Prozess und eine Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsgehalt der überlieferten Anschauung und den persönlichen Erfahrungen und Bedürfnissen der Gläubigen manifestiert. Es ist die Suche nach der Wahrheit, nach Identität, dem Sinn und rechten Weg. Dazu gehören auch die verschiedenen Ausdrucksformen und Phänomene einer Religion als logische, politische, gesellschaftliche, individuelle und mythologische Möglichkeit der Interpretation sowie als Konsequenz der Entfaltung der Glaubensinhalte und Erwartungen von religiösen Überzeugungen. Mystik ist ein religiöses Phänomen, das man mehr oder weniger in allen Kulturen und Religionen vorfindet. Sie stellt sowohl ein öffentliches Phänomen dar als auch den Ausdruck der eigenen inneren Verankerung bzw.Verfestigung mit dem spirituellen Selbst. Daher wäre es vermessen, die asketischen, spirituellen Vorstellungen im Islam oder in jeder anderen Religion und die Schulen nur auf die inhaltliche Lehre der jeweiligen Philosophien zurückzuführen oder auf die Praxis und äußerliche Haltung ihrer Eliten. Es sollten dabei auch die Umstände und Verhältnisse zwischen von der Gesellschaft unterschiedlich eingestuften sozialen Gruppierungen und psychologischen Reflexionen berücksichtigt werden. Die Legenden und Überlieferungen über das einfache Leben von Uthmān ibn Affān (gest. 656), dem dritten Kalifen im Islam, und anderen Gefährten sowie den Nachfol9 https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

Einleitung

gern bzw. Anhängern des Propheten, haben u. a. damit zu tun, dass diese bei den normalen Menschen einen guten Eindruck machten. Ein bescheidenes und zurückgezogenes Leben wird sogar heute noch gewürdigt. Man bringt es mit einem gewissen Sinngehalt der Religion in Verbindung. Religion soll die Menschen an ein Leben jenseits des Materiellen erinnern, an die Vergänglichkeit der diesseitigen Welt, an einen Schöpfer, der die Welt nicht aus Zeitvertreib erschaffen hat, sondern einen Sinn und Zweck verfolgt. Die Entsagung von der Welt und der materiellen Abhängigkeit sind Ausdrucksformen einer bestimmten Haltung, die sich religiös erklären lässt, und beide weisen darauf hin, dass der Mensch zu erkennen in der Lage ist, dass die Ursache von Gewalt, Habgier, Heuchelei und Doppelmoral in der schwachen und abhängigen Haltung, die allein in der menschlichen Natur liegt, zu suchen ist. Wir können hier im Sinne von René Girard sagen, dass der Grund dafür im menschlichen Begehren zu finden ist. 1 Auch ein Mystiker begehrt, aber nicht die materielle Welt, er imitiert, aber nicht das Begehren anderer, sondern er begehrt Gott und imitiert ihn, um zum einen seine Liebe zu erlangen und zum anderen ein gottgefälliges Leben zu führen. Das hat auch eine soziale Dimension und Wirkung. Der Mensch erkennt in der asketischen Haltung eine Zurückhaltung und somit eine Möglichkeit für das friedliche Zusammenleben. Und dies ist auch der Grund, weshalb der Mensch durch die Verbesserung und Vervollkommnung seines Selbst den Versuch unternimmt und die Erwartung hegt, Gott ähnlich zu werden bzw. über seinen natürlichen Mängeln zu stehen. Denn eine Begegnung mit Gott im Jenseits, dem Absoluten und dem Perfekten, setzt Reinheit und Perfektion voraus. So entsteht die Idee des perfekten Menschen und – dem entgegengesetzt – des mangelhaften Menschen. Die Überwindung der eigenen Mängel und die Unterordnung der materiellen Übermacht und des eigenen Selbst unter den Herrn der materiellen und geistigen Existenz stellen das Streben nach einer besseren Welt, der Welt des Absoluten, dem himmlischen Reich Gottes dar. Die Entsagung von der Welt heißt nichts anderes als die Erlangung der Macht über die Welt, also eine Art Weltherrschaft. Macht über die Welt bedeutet hier, sich nicht von der materiellen Vgl. Palaver, Wolfgang (2004): René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen. Münster, S. 55 ff.

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Einleitung

Welt beherrschen zu lassen, nichts von ihr zu begehren, sondern sie unter Kontrolle zu bekommen. Wenn nun die Frage aufgeworfen wird, welchen praktischen Nutzen bzw. welche nützliche Wirkung die Entsagung von der Welt, das Streben nach Perfektion, hier speziell die Mystik auf das menschliche Leben hat, so soll diese Frage nicht spezifisch bzw. rein philosophisch sein, sondern sie ist die Frage nach dem Nutzen der Ergebnisse des menschlichen Handelns und Denkens überhaupt. Hierbei fragt man generell nach der Bedeutung der religiösen Rituale, Weltanschauungen und Überzeugungen für das menschliche Leben. Mit solchen Fragen geht auch die Entfaltung der Glaubensinhalte einher und die Aufgabe der Theologie scheint darin zu liegen, Antworten auf solche Fragen zu finden, die unterschiedlichen Phänomene der Religiosität zu erklären und sich methodisch und inhaltlich von diversen Denk- und Betrachtungsweisen inspirieren zu lassen. Doch das konnte und kann die herkömmliche traditionelle Theologie (kalām) alleine nicht bewältigen. Traditionell waren in der islamischen Welt die Theologie, die Philosophie und die Mystik für einander sowohl methodisch als auch inhaltlich komplementär und / oder eine Sinnerweiterung. Daher sind die sufische Weltanschauung und die damit verbundenen religiösen Verhaltensweisen ein Teil des theologischen Fortschreitens und der Weiterentwicklung der Glaubensinhalte. Allerdings wurde diese Herangehensweise bisher nicht in dieser Form umgesetzt. Denn allein die Kalamwissenschaft hatte bis jetzt das Privileg, Glaubensinhalte auszulegen. Die theologische Herangehensweise an die Glaubensinhalte und deren Begründung durch eine apologetische und rational-spekulative Methode unterliegen ihren eigenen spezifischen Voraussetzungen, um die Glaubensbekenntnisse zu erklären und zu autorisieren. Allerdings stehen dieser spezifischen Art der Argumentation und Legitimierung andere Formen der Interpretation in einer komplementären Beziehung sowie in Form einer kritischen Reflexion entgegen. Hierbei handelt es sich um eine Art Dialog, nämlich einen kritischen und reflexiven Dialog um die Entfaltung der Glaubensinhalte. Sufische und philosophische Auslegungen stellen daher einen Verstehensversuch dar und fungiert als Teil einer Dialogtheologie, um dem Glaubensverstehen und der Glaubensentfaltung neue Horizonte zu verleihen und den unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen gerecht zu werden. Es handelt sich also um eine systema11 https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

Einleitung

tische Analyse binnenreligiöser Auseinandersetzungen und eine dialogische Horizonterweiterung im Hinblick auf die unterschiedlichen Betrachtungsweisen bezüglich der Glaubensdogmen. Zugleich soll die Autorität der Deutung von einer einzigen Instanz und Disziplin auf einen pluralistischen Denkansatz übertragen werden. Im Sinne von Michel Foucault spreche ich von einer offenen Theologie, bei der es nicht mehr darum geht, mit Methoden von Lehre und Forschung das zu legitimieren, was man schon weiß, sondern die Evidenzen und Postulate zu hinterfragen, die Gewohnheiten abzuschütteln, sich auf das Risiko, anders zu denken, einzulassen, 2 um die Frage nach der Wahrheit und Kenntnisse in einem gemeinsamen pluralen Versuch, die Glaubensinhalte in einen Prozess des Redigierens einzubetten. 3 Welchen Nutzen hat die Mystik? Um diese Frage zu beantworten, muss man natürlich zunächst das Wort Nutzen definieren, und zwar die Bedeutung des Nutzens im Sinne der Erwartung und des Erklärungshorizonts in jeder Epoche und nach den Umständen und dem Kontext der gesellschaftlichen Wertebestimmungen. Die Frage kann auch so gestellt werden: Welche Art der Mystik oder welche mystische Schule bzw. welche mystische Haltung hat einen Nutzen für den Menschen und die Gesellschaft gebracht? Zugleich kann man fragen, welchen Schaden dieselbe Schule oder Haltung zu einer anderen Zeit den Menschen zufügte. Man kann auch allgemein eruieren, in welcher Form die Mystik für das Verstehen und Erleben des Glaubens sowie für die Religiosität des Menschen von Bedeutung sein kann. Historisch gesehen waren mit der Mystik unterschiedliche Erwartungen verknüpft, die sich an einem individuellen Zweck oder an gesellschaftlich-sozialen und politischen oder religiösen, geistigen und theologischen-philosophischen Aspekten orientierten, wie die folgende Auswahl darstellen soll: 1) 2) 3)

Die Bekämpfung der Orthodoxie. Distanzierung von der Weltzugewandtheit. Die Entpolitisierung der Religion bzw. die Spiritualisierung der Glaubensinhalte.

Vgl. Triki, Fathi (2011): Demokratische Ethik und Politik im Islam. Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens. Weilerswist, S. 98. 3 Siehe dazu Mohagheghi, Hamideh/von Stosch, Klaus (Hrsg. 2010): Moderne Zugänge zum Islam. Plädoyer für eine dialogische Theologie. Paderborn. 2

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Einleitung

4) 5)

Ein radikales Verständnis vom Einheitsglauben. Die Suche nach individuellem Heil und nach Verinnerlichung statt Veräußerlichung. 6) Die Lehre über die Selbstenthaltung. 7) Die Verbreitung der Liebe. 8) Die Erkenntnis über das eigene Bewusstsein und seelische Befreiung. 9) Die Erkenntnis über die menschlichen Mängel und die Schwäche. 10) Die Selbstverherrlichung, Selbstdarstellung oder Selbstschöpfung. 11) Macht und gesellschaftliches Charisma. 12) Ein Forum für den eigenen rituellen Volksglauben bzw. über die Volkswahrheit. All diese Aspekte und auch andere können einen Grund darstellen für die Art und Weise der Deutungen und Verstehensversuche des Sinngehalts des Glaubens. Daher kann Sufismus also unterschiedlich gesehen und untersucht werden. Sufismus im Islam kann als die Lehre der Gottessuche, und zwar des Strebens des Menschen nach der Vereinigung mit Gott, verstanden werden. Demnach ist Mystik im Islam ein Streben nach der Vervollkommnung des Menschen oder – mit anderen Worten – nach besserem Menschsein bzw. -werden. Dem liegt eine weltanschauliche Darlegung der Glaubensüberzeugung und der Glaubenspraxis zugrunde, wie beispielsweise die sufischen Denkansätze über den tauḥīd, die Prophetie und das Jenseits sowie das asketische Verhalten, wie die Bekämpfung aller animalischen Begierden. Hier schließt sich auch eine bestimmte Haltung an. Ein Mystiker darf sich überall aufhalten, denn nicht die äußere Stellung, sondern die innerliche Haltung ist der Maßstab. Ebenso kann man Mystik als eine ethische und humanistische Kritik am Glaubensdogma und als die Hervorhebung der spirituellen Kraft des Glaubens für eine friedliche und solidarische Beziehung zum Mitmenschen und der Umwelt ansehen. In diesem Sinne ist dann die Mystik eine ethische, hat aber keine dynamische Gestaltbarkeit des Menschenentwurfs vor Augen. 4 MysSiehe Ibn Sīnā, Abū ʿAlī al-Ḥusain Ibn ʿAbdallāh: al-Išārāt wa-t-tanbīhāt. Mit den Kommentaren v. Naṣīr ad-Dīn aṭ-Ṭūsī u. Quṭb ad-Dīn ar-Rāzī. Bd. III. Hrsg. v. Našr al-balāġa (1375/1996). Ghom, S. 353 ff.

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Einleitung

tik kann auch als ein Weg der Selbstveredelung angesehen werden. Durch die Askese und das tugendhafte Verhalten fungiert sie als ein Musterbeispiel für eine ästhetische und autonome Spiritualität. Wir können auch die sufische Mystik als eine eigenständige Identitätsbestrebung (taṣawwuf) verstehen, die sich zwar nicht vom Koran und den prophetischen Lehren vom Glauben entfernt, aber ihre Verbindung mit Offenbarung, Prophetie und Religionsgesetz neu definiert. Es spielen weniger die Dogmen und Religionsgesetze als Heilsbringer und Glückseligkeit als vielmehr die Suche nach der Wahrheit und die Einkehr in die Unendlichkeit und Innerlichkeit bzw. Unmittelbarkeit eine Rolle. In diesem Sinne wird auch der koranische Ausdruck für die Knechtschaft der Menschen gegenüber Gott (Sure 19:93) nicht als reine Befolgung der Gebote und Verbote angesehen und als verbales Bekenntnis zur Einheit Gottes, sondern als ein Zustand jenseits der sinnlichen Erfahrung und des Buches. Der Mensch steht im Mittelpunkt als Mikrokosmos und das Ziel ist die Einheit mit dem Makrokosmos. In diesem Sinne ist die Mystik eine spirituelle Theologie in Abgrenzung zu der traditionellen, Scharia-orientierten Theologie. Fritz Meier vertritt den Ansatz, dass die Sufik den Anfang des esoterischen Wissens bildet und die Theologie den Gegensatz dazu. Hierzu zitiert er folgende Antithese aus der Sicht von ʿAzīz ad-Dīn Nasafī (gest. 1287). »Während der Theologe, der ›in der Gasse der Religionslehre Schreitende‹, alle Tage etwas lerne, was er noch nicht gewusst habe, vergesse der Mystiker, der ›in der Gasse des Ordenspfades Schreitende‹, alle Tage etwas, was er wisse. Während es bei den Theologen darauf ankomme, alle Tage weißes Papier schwarz zu machen, gehe es bei den Mystikern darum, alle Tage etwas von ihrem schwarzen Herzen weiß zu machen.« 5

Die Betonung des Gegensatzes zwischen Theologie und Mystik lässt sich in den Werken vieler Mystiker nicht übersehen. Doch bislang wurde kaum erforscht, worin dieser Gegensatz bestehe und welche Charakterzüge und Diskrepanz die mystische Theologie abzeichnen würden. In der vorliegenden Arbeit sollen die wichtigsten Gesichtspunkte mystischer Theologie thematisiert werden. Die Untersuchung soll Meier, Fritz: Das Problem der Natur im esoterischen Monismus des Islams, in: Eranos-Jahrbuch XIV, 1946. Hrsg. v. Olga Fröbe-Kapteyn (1947), S. 155.

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Einleitung

vor allem auf die Lehr- und Verstehensansätze der sufischen Darlegung von den Glaubensinhalten eingehen und die damit einhergehende Kontroverse, die gegenüber der apologetischen und dogmatischen Auslegung der Glaubensinhalte auch die Grenze und Grenzüberschreitung einer islamisch-mystischen Theologie kennzeichnet. Ziel der vorliegenden Arbeit ist daher auch der Entwurf einer mystischen Theologie. Sie soll aus den Innenperspektiven das Wesen der islamischen Mystik im Kontext ihrer Verstehensart der Glaubensinhalte bestimmen. Zu diesem Zweck soll der Begriff taṣawwuf, der für die islamische Mystik steht, definiert und ihr Unterschied zur Mystik, wie sie im christlichen Abendland bekannt ist, gezeigt werden. Darüber hinaus soll auf die Entstehung der islamischen Mystik sowie ihre Ursprünge und anschließend auf die zentralen Lehren der islamischen Mystik eingegangen werden. Anhand dieser thematischen Eingliederung werden wir zum einen den Unterschied und die kontroverse Grenze zur Scharia-orientierten Theologie aufzeigen und zum anderen die Kohärenz als kognitiven Prozess des Verstehens und der Auslegung der Glaubensinhalte herauskristallisieren. Damit kommen die Vielfalt, und perspektivisch gesehen, die Formen und die Inhalte der religiösen Thesen zum Ausdruck und verleihen somit der Theologie einen pluralistisch-interdisziplinären Begründungshorizont bzw. einen dialogischen Perspektivwechsel versus eine universale Theologie. Diese waren bisher der herkömmlichen Kalamwissenschaft vorbehalten und haben den Anspruch erhoben, für die Entfaltung der Glaubensinhalte die geeignete wissenschaftliche Disziplin zu sein.

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Definition der begrifflichen Grundlagen

Im Westen wird häufig der muslimische Begriff taṣawwuf mit Mystik gleichgesetzt. Taṣawwuf wird übersetzt mit »islamische Mystik«. Auch der Begriff Sufitum bzw. die Sufik gelten mittlerweile als anerkannte Bezeichnungen für die islamische Mystik. 1 Auch wenn beide Begriffe, taṣawwuf und Mystik, inhaltlich gesehen, gewisse Gemeinsamkeiten zum Ausdruck bringen, gibt es dennoch keine semantische Äquivalenz zwischen beiden Bezeichnungen. Zunächst soll hier auf den Begriff taṣawwuf eingegangen werden, bevor er mit der Mystik im westlichen Verständnis verglichen werden kann. 2 Wir finden weder den Begriff taṣawwuf noch das Wort ṣūfiyya im Koran. Auch sprachlich gesehen gibt es keine adäquate begriffliche Verwendung. Abū al-Qāsim Muḥammad Qušairī (gest. 1074) kommt sogar zu der Feststellung: »Von der arabischen Sprache her gesehen, kann weder eine Analogie noch eine Etymologie für diesen Namen einen Beleg liefern.« 3 Was aber im Koran vorkommt, sind die Suche nach dem Antlitz Gottes (Sure 2:115; 2:272; 6:52; 28:88; 55:27) und Begriffe, die die Frömmigkeit zum Ausdruck bringen wie tazkiyya (Sure 62:2), zuhd (Sure 12:20), ʿ ibāda, taqwā und waraʿ (Sure 2:224; 2:237; 5:93). Woher die Begriffe taṣawwuf oder Sufi kommen, hierüber gehen die Meinungen der Gelehrten auseinander, und einige versuchen im Koran einen Bezug zu finden. Manche nehmen an, dass der Begriff taṣawwuf bzw. ṣūfiyya auf den koranischen Begriff ṣaff (Reihe) zu-

Schimmel, Annemarie (1992): Mystische Dimension des Islam. Die Geschichte des Sufismus. München, S. 16. 2 Šams, Muḥammad Ǧawād: Taṣawwuf, in: Dā irat al-ma ārif buzurg-i islāmī. ʾ ʿ Hrsg. v. Kaẓim Mūsawī Buǧnūrdī (2010). Bd. XV, Teheran, S. 403–407. 3 Qušairī, Abū al-Qāsim Muḥammad: Tarǧuma Risāla Qušairī. Übertragen von Abū ʿAlī bin Aḥamd Uṯmānī. Hrsg. u. eingel. v. Badīʿ az-Zamān Furūzānfar (41374/1995). Teheran, S. 468. 1

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Definition der begrifflichen Grundlagen

rückgeht (Sure 61:4), 4 wofür allerdings kein eindeutiger Beweis vorliegt. Nun meinen einige Gelehrte, einen Beleg im Koran gefunden zu haben: Es gibt im Koran den Begriff ṣaff in Form aṣ-ṣāfāt ṣaffan (Sure 37:1): wörtlich »auf die erste Reihe der Gottesfürchtigen«. Es heißt: »Sie stünden also gleichsam mit ihrem Herzen in der ersten Reihe«, also bei Gott gegenwärtig, wie Qušairī definiert. Dennoch meint er, dass die Ableitung von diesem Begriff nicht der Herkunftsbezeichnung entspricht. Diesbezüglich wurde ebenso vermutet, dass der Begriff taṣawwuf auf ṣuffa, eine Moschee in Medina, zurückgeht. In dieser Moschee versammelten sich die Gefährten des Propheten und betrieben Askese und Frömmigkeit. So werden die Sufis mit der »Schattenlaube« (ṣuffa) in der Moschee des Gesandten Gottes in Verbindung gebracht. Manche sehen Ähnlichkeiten zwischen dem Begriff Sufi und dem Wort ṣafā, das Reinheit und Lauterkeit bedeutet. Sie begründen es damit, dass der Sufi nichts anderes ist als derjenige, der nach seelischer Reinheit und Lauterkeit strebt. Qušairī meint: »Die Reinheit wird von jeder Zunge gelobt, Ihr Gegenteil ist die Getrübtheit, und diese wird getadelt.« 5 Aber sprachlich sieht er keinen Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen. Abū Raiḥān al-Bīrūnī (gest. 1048), der persische Universalgelehrte, geht noch weiter und stellt aufgrund der reinen Klangähnlichkeit zwischen den beiden Begriffen eine etwas vage bzw. fernliegende Verbindung zwischen Philosophie und Mystik her. Er glaubt, dass der Begriff ṣuf (mit dem Buchstaben ṣād) auf die Wurzel ṣauf (mit dem Buchstaben sīn) zurückgeht, der die Wurzel für den Begriff falsafa, also Philosophie sei. So dann sei aus ṣauf später ṣuf geworden. Eine sprachliche Verbindung sieht außer ihm allerdings kaum ein Gelehrter zwischen den beiden Begriffen, zumal der Begriff falsafa ein Fremdwort ist, das sich vom griechischen Begriff der Philosophie ableitet und in arabischer Sprache als falsafa eingeführt wurde. Es gibt noch andere Vermutungen, die hier nicht von Belang sind. 6 Siehe weiter dazu Knysh, Alexander (2000): Islamic Mysticism. A short History. Leiden u. a., S. 5; Stoddart, William (1979): Das Sufitum. Geistige Lehre und mystischer Weg. Freiburg, S. 16 f. 5 Qušairī, Tarǧuma Risāla, S. 467. 6 Siehe dazu Furrūẖ, ʿ Umar (1981): at-Taṣawwuf fī al-Islām. Beirut, S. 22 ff.; Badawī, ʿAbd ar-Raḥmān, (21978): Tāriẖ at-taṣawuuf al-Islāmī. Min al-bidāya hattā nihāya alqarn aṯ-ṯani. Beirut, S. 5 ff. 4

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Definition der begrifflichen Grundlagen

Die bekannteste Erklärung des Wortes taṣawwuf bzw. Sufi lautet, dass dieser Begriff auf die Wurzel ṣuf zurückgeht, was so viel bedeutet wie weißes Wollkleid bzw. grobes Wollgewand. Wenn man aber im arabischen taṣawwafa sagt, ist damit gemeint, dass jemand sich dem Sufitum widmet oder sich in Wolle kleidet oder die Gewohnheit hat, das wollene Gewand anzuziehen. So erklärt Šahāb adDīn Suhrawardī (gest. 1191) in seinem Buch »ʿAwārif al-maʿ ārif«, dass die Bezeichnung Wollkleid dem Wesen des Sufismus entspricht, da die Anhänger dieses Weges in Armut und Demut leben und sich vom Luxus und materiellen Reichtum distanzieren. In diesem Sinne folgen sie dem Beispiel des Propheten, der Freunde Gottes und ihren Gefährten, den sogenannten »Leuten der Veranda« (aṣhāb ṣuffa). 7 Abū Naṣr as-Sarrāǧ aṭ-Ṭūsi (gest. 988), 8 einer der bedeutenden Mystiker, dessen Werk »Kitāb al-Lumʿ a fī at-taṣawwuf« (»Das Buch der Schlaglichter über das Sufitum«) eines der frühesten Werke zur Mystik ist, sucht darin nach einer logischen Erklärung für diese Bezeichnung. Er fragt: Wenn jedes Attribut einem Zustand (ḥāl) oder einer Wissenschaft (ʿ ilm) zugeschrieben wird, wie die Bezeichnung des Rechtsgelehrten (faqīh) wegen seiner Gelehrsamkeit in Jurisprudenz oder die Bezeichnung der Frommen (zuhhād) wegen der Askese und Frömmigkeit, warum sollte dann die Bezeichnung der ṣūfiyya nach ihrer äußeren Haltung und ihrem Kleid falsch sein, da doch das Wolletragen die Eigenschaft des Propheten, der Wahrhaftigen, der Frommen und der Mönche war? 9 Auch der islamische Soziologe und Gesichtsphilosoph Ibn Khaldun (gest. 1406) tendiert dazu, die Bezeichnung Sufi der äußeren Wortwahl nach auf die Kleidung eben jener zurückzuführen. Dies wird als naheliegende Bezeichnung für diese Gruppe verstanden. 10 Auch hier sieht Qušairī keinen logischen Zusammenhang, denn das Wolletragen sei nicht ausschließlich den Sufis vorbehalten. Er meint,

Suhrawardī, Šahāb ad-Dīn:ʿAwārif al-maʿ ārif. Übertragen ins Persische v. Abū Manṣūr ʿAbd al-Muʾ min Iṣfahānī. Hrsg. v. Qāsim Anṣārī (1364/1985). Teheran, S. 24. 8 Siehe dazu Knysh, Islamic Mysticism, S. 118 ff. 9 Furrūẖ, at-Taṣawwuf, S. 23. Siehe auch Kiānī-Niǧād, Zain ad-Dīn (1987): Sair-i ʿ irfān dar Islām. Teheran, S. 76 f.; as-Sarrāǧ, Abū Naṣr: The Kitāb al-Lumʿ a fī at-taṣawwuf of Abū Naṣr ʿAbdallāh bin ʿAlī as-Sarrāj al-Tūsī. Hrsg. v. Reynold Alleyne Nicholson (1963). London, S. 22. 10 Ibn H ̱ aldun, ʿAbd ar-Rahmān: Muqaddima. Hrsg. v. ʿAlī ʿAbd al-Waḥīd Wāfī (o. J.). Bd. III. Kairo, S. 1097 f. 7

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Definition der begrifflichen Grundlagen

am besten träfe es zu, wenn man den Begriff als Beiname für diese Gruppe verwende. Ähnlich, aber mit einer kritischen Intention geht der Autor des polemischen Buches »Talbīs iblīs« (»Die Verführung bzw. Fälschung des Teufels«), der hanbalitische Gelehrter Abū al-Faraǧ ibn al-Ǧauzī (gest. 1201), ein großer Gegner des Sufismus, weiter zurück in die Vergangenheit und bringt diesen Begriff mit der Zeit vor dem Islam in Zusammenhang. Sufi (ṣufa) soll der Beiname für Ġauṯ bin Murr bin Udd vom Stamm der Muddar gewesen sein, da er sich fern vom Menschen in der Nähe der Kaʿ aba (Gott, inqaṭʿ ū ilā al-Lāh) aufgehalten habe. Angeblich habe seine Mutter den Schwur abgelegt, wenn Ġauṯ am Leben bleibe, würde sie ihn in den Dienst der Kaʿ aba stellen. 11 Für diese Geschichte legt der Autor jedoch keinen beweisbaren historischen Beleg vor. Ebenso scheint die Bezeichnung Sufi für eine bestimmte Gruppe aufgrund des Tragens eines Wollkleides keine Plausibilität aufzuweisen, denn nicht alle Sufis trugen ein Wollkleid. Dennoch ist es durchaus möglich, dass der Name Sufi, der früher auf einzelne Personen übertragen wurde, sei es wegen ihres Kleides oder ihrer zurückgezogenen und asketischen Haltung oder als Beiname, später als Sammelbegriff verwendet wurde. Generell scheint es so zu sein, dass der Begriff Sufi, wie er in heutiger Form für eine bestimmte Gruppe verwendet wird, in der Zeit des Propheten unbekannt war. Auch aus den muslimischen Quellen geht hervor, dass der Begriff Sufi bis zum 9. und sogar bis zum 10. Jahrhundert nicht geläufig war und die Sufis nicht als selbständige Gruppe betrachtet wurden. Man nannte sie Asketiker (zāhid) bzw. Gottesdiener (ʿ ābid). 12 Dennoch wird berichtet, dass man schon vor dem Propheten in Mekka einen Sufi gesehen hätte, der die Kaaba, das Gotteshaus, besuchte. Ein solcher Bericht geht jedoch auf eine nachträgliche Erzählung zurück und wird auf keine vorislamische Quelle zurückgeführt. Beispielsweise werden von Ḥasan al-Baṣrī (642–728) ähnliche Berichte tradiert, aus denen hervorgeht, dass er Sufis gesehen hätte. 13 Ibn al-Ǧuazi, Ǧamāl ad-Dīn Abū al-Faraǧ: Talbīs iblīs. Hrsg. v. Ādam Abū Sunaina (1980). Amman, S. 188. Siehe ebenso Furrūẖ, at-Taṣawwuf. 12 Vgl. Al-Baġdādī, Abd al-Qāhir: Al-farq bain al-firaq. Hrsg. v. Muḥammad Muḥy ʿ ad-Dīn ʿAbd al-Ḥamīd (o. J.). Kairo, S. 317. 13 Mustamlī Buẖārī, Ibrāhīm Ismā il bin Muḥammad: Šarḥ at-Ta rruf li-maḏhab atʾ ʿ taṣawwuf. Hrsg. v. Muḥammad Rūšan (1984). Bd. I. Teheran, S. 142 f. 11

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Definition der begrifflichen Grundlagen

Ob die Sufis schon von Beginn ihrer Erscheinung an ein Wollgewand trugen, ist bis jetzt noch ungewiss. Gewiss ist jedoch, dass sie sich dadurch im Laufe der Zeit von anderen muslimischen Gemeinschaften abhoben und den Beinamen Sufi erhielten. Auch der Begriff Derwisch, welcher in der europäischen Sprache für die umherziehenden Mystiker oder für die bettelnden Asketen verwendet wird, steht in der Tradition der Sufis. Daher wurden im Volksmund allmählich Sufi und Derwisch analog nebeneinander verwendet. Trotz einiger Ähnlichkeiten zwischen den beiden Gruppen unterscheiden sie sich in ihrer Lebensart und Denkart voneinander. Somit ist der Begriff Derwisch ein Beiname für eine bestimmte Gruppe und stellt für manche sogar die »Religion der Straße« dar. 14 Ein Derwisch ist eher ein frommer Wanderer, der durch die Städte zieht und von Tür zu Tür geht, um Gaben zu sammeln, während Sufi ein allgemeiner Begriff für all diejenigen ist, die sich dem asketischen Leben hingeben.

Siehe Frembgen, Jürgen Wasim (2000): Reise zu Gott. Sufis und Derwische im Islam. München, S. 16 f.

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Mystik und taṣawwuf

1.

Der Begriff Mystik

An dieser Stelle soll anhand eines Vergleiches zwischen dem hier im Westen gängigen Begriff Mystik und der im Islam gebrauchten Bezeichnung taṣawwuf demonstriert werden, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden Phänomenen bestehen. Zu diesem Zweck wird zunächst der Begriff Mystik definiert und seine Bedeutung in religiösen und philosophischen Kontexten bzw. sein Stellenwert als spirituelles Phänomen im modernen westlichen Diskurs erklärt. Mystik leitet sich von dem griechischen Wort myein, d. h. die Augen bzw. Lippen schließen, oder von dem Wort myeín, d. h. in einem Mysterium verbunden sein (lat. musticus), ab. Insgesamt kann sie als ein Geheimwissen verstanden werden. In diesem Sinne bedeute sie auch ein dunkles Geheimnis, bei dem die Lippen sich dem Schweigegebot verpflichten. 1 Das Mysterium bedeutet, dass der Mensch nach dem Tode im Jenseits in einem gottesähnlichen Zustand wieder erwacht. So werden Christusereignisse oder auch die Kirche, die Menschwerdung des Logos, schlicht alles, was von Gott kommt, als Mysterium verstanden. Bei Martin Luther ist Gott ein tiefes Geheimnis: nicht durch die Vernunft erkennbar, sondern durch ein geheimnisvolles inneres Hören. Der antike Philosoph Proklus (410–485) versteht das Mystische als einen Zustand des Geheimnisvollen: Je mehr man sich höheren und göttlichen Dingen zuwendet, umso mehr werde die Ausdruckweise mystisch und geheimnisvoll. 2 Die mystische Art, die Dinge zu erkennen, bedeutet somit, den Siehe zum Begriff Mystik, in: Auffarth, Christoph/Kippenberg, Hans G./Michaels, Axel (Hrsg. 2006): Wörterbuch der Religionen. Stuttgart, S. 359 ff. 2 Siehe zum Begriff Mystik, in: Ritter, Joachim u. Gründer, Karlfried (Hrsg. 1971): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. VI. Stuttgart, S. 268 f. 1

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inneren Sinn oder den verborgenen Sinn zu erkennen: Es reichen weder die Worte noch die Vernunft (also keine Logik des Verstandes), sondern es bedarf des Schweigens als Öffnung des inneren Hörens oder Sehens. In diesem Sinne spricht Origenes (gest. 254) von Geheimnissen, die die göttliche Schrift enthält. Je höher man steigt und die Geheimnisse durchdringt, desto weniger werden die Worte: Im Dunkeln findet man Schweigen. Mystik wurde in der Antike als »Einung« von Erkenntnis und Sein, später bei den Neuplatonikern als Einung von Seele und Gott (unio mystica) bezeichnet. Die bedeutende christliche Universalgelehrte Hildegard von Bingen (gest. 1179) sieht beispielsweise ihr ganzes Werk (Scivias) unter dem Auftrag, die verschlossenen Geheimnisse kundzutun, die die Menschen furchtsam im verborgenen Acker fruchtlos vergraben. Mystik ist in diesem Sinne generell die Erkenntnis des Göttlichen: das Schmecken der Lieblichkeit Gottes und das an seinem Willen Wohlgefallenfinden. Anders als in der Antike und im Mittelalter herrschen in moderner Zeit aber zwiespältige Ansichten zur Mystik vor. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (gest. 1804) spricht von Mystik als einem Übergang von Begriffen zum Undenkbaren, einer Erwartung von Geheimnissen, sie ist Schwärmerei, vernunfttötend, schweife ins Überschwängliche ab. Kant qualifiziert die Mystik als eine Gefühlsreligion ab, als einen krankhaften Auswuchs des menschlichen Wesens, als eine Seelenstörung. Viele Denker der modernen Zeit betrachten die Mystik als reine Spekulation über das Wesen der Natur oder des Menschen bzw. als ein Bewusstsein, das, wie der deutsche Gesellschaftskritiker Karl Marx (gest. 1883) formuliert, nebulös, unklar und verschwommen ist. Ähnlich wie Kant und Marx sieht Friedrich Nietzsche (gest. 1900) in der Mystik etwas verworrenes, antirationales, krankhaftes und umschreibt sie folgendermaßen: »Wenn Skepsis und Sehnsucht einander begatten, entsteht Mystik« 3. Auch der weltbekannte deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe (gest. 1832) und der evangelische Theologe Friedrich Schleiermacher (gest. 1834) sind in ihrer Formulierung scharfe Kritiker der Mystik. Sie ist vor ihren Augen eine unreife Poesie, eine unreife Philosophie, sie geht ins Absurde, Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe. Bd. VII 1. Hrsg. v. Giorgio Colli/ Mazzino Montinari (1967 ff.). Berlin/New York, S. 86.

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in den Abgrund des Subjekts oder wie Schleiermacher meint, sei sie eine unreife Grübelei. Arthur Schopenhauer (1788–1860) bewertet die Mystik dagegen etwas neutraler. Sie sei jede Anleitung zum unmittelbaren Innewerden dessen, wohin weder Anschauung noch Begriff, also überhaupt keine Erkenntnis reicht. 4 Anders sieht es auch bei den Romantikern aus. Der deutsche Schriftsteller und Dichterphilosoph Novalis (gest. 1801) erkennt in der Mystik eine Art des Ausdrucks des inneren Gefühlslebens, das er mit der Liebe zwischen zwei Individuen verbindet. Liebe ist mystisch und universal. Auch der christliche Theologe Johann Joseph Görres (gest. 1848) betont den universellen Charakter der Mystik. Ihm zufolge ist Mystik ein Schauen und Erkennen unter Vermittlung eines höheren Lichtes und ein Wirken und Tun unter Vermittlung einer höheren Freiheit. In der neuesten Zeit wurde der Mystik nicht selten Beachtung geschenkt. Selbst bei den Kritikern der Religion scheint die Mystik einen besonderen Platz zu haben. Der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell (gest. 1970) definiert die Mystik als Gefühlsintensität, Gefühlstiefe in einem Menschen, eine Auffassung vom Kosmos. 5 Sie ist demnach eine Einstellung dem Leben gegenüber, keine exakte Wissenschaft, sondern ein Bekenntnis zum Leben durch eine Haltung, die man einnimmt, um sich den Prinzipien des Lebens zu verpflichten. Dennoch soll darauf hingewiesen werden, dass die Mystik im Westen erst im 17. Jh. ein eigenständiger Begriff wurde, der zum ersten Mal in Frankreich als eine selbstständige Lehre Verwendung fand, da sie sich von der Theologie löste. 6 Mystik ist auch eine Art Tätigkeit, eine geistige (»Seelenfünklein« nach Bernhard v. Clairvaux u. M. Eckhart) 7 wie auch praktische Übung zur Selbstüberwindung und zur Wandlung in einen perfekten Menschen. So können wir hier von einer Wandlung des Bewusstseins und einem seelischen Befinden sprechen. Einer Erfahrung, die

Ebd., S. 270 f. Ebd., S. 278. 6 Augner, Christiane (2011): Gedichte der Ekstase in der Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts. Tübingen, S. 119. 7 Im Islam spricht man von Geheimnis (sirr). 4 5

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nicht nach Maßstäben der empirischen Wissenschaft bzw. logischrationalen Methoden überprüfbar ist, denn sie ist subjektivistisch, hat aber dennoch den Anspruch, rational-logische Erkenntnisse zu gewinnen. In diesem Sinne betrachtet der evangelische Theologe Geradus van der Leeuw (gest. 1950) die Mystik nicht als spezifische Art der Religion, sondern als eine bestimmte Richtung der Religiosität und daher auch international und interkonfessionell: »Die Mystik ist eine bestimmte Richtung der Religion, die es in jeder Religion geben kann und gegeben hat. Sie ist eine Form des Gerichtetseins auf sich selbst, des Autismus; nicht die magische Form, in welcher der Mensch die Welt in sich verlegt, sondern noch radikaler, in welcher der Mensch durch das Nichts hindurch sich zum All macht.« 8

Die Mystik hat sich allerdings der Philosophie und Theologie bedient. Ebenso gibt es einen mystischen Einfluss auf die Philosophie und Theologie (speziell in der Ethik). In den Schriften des Origines (3. Jh. n. Chr.) wurde »die mystische Schau« erwähnt. Ebenso sprach Pseudo-Dionysos Areopagita (5. Jh. n. Chr.) von einer mystischen Theologie. Später erschienen die philosophisch-mystischen Werke von Hugo und Richard v. St. Viktor, von Frauen wie Hildegard v. Bingen und Mechtild v. Magdeburg (12.–13. Jh. n. Chr.). Deutsche Mystiker waren u. a. Meister Eckhart und Johannes Tauler. 9 In diesem Sinne könnte man die allegorischen Zeilen aus dem dritten Buch Zahme Xenien von Goethe verstehen: »Wäre nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken; läge nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?« 10 Demvan der Leeuw, Geradus (21956): Phänomenologie der Religion. Tübingen, S. 578. Vgl. Ritter, Joachim u. Gründer, Karlfried, Historisches Wörterbuch, S. 268 f.; Beierwaltes, Werner/von Balthasar, Hans Urs/Haas, Alois Maria (1974): Grundfragen der Mystik. Einsiedeln, S. 326. Siehe ebenso Mauthner, Fritz (1924): Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Zweiter Band. Leipzig, S. 362– 387. 10 Goethe, J. W.: Vorwort zur Farbenlehre, in: Goethes Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe Bd. 40, Schriften zur Naturwissenschaft, Zweiter Teil, Eduard von der Hellen (Hrsg. 1902 ff.). Stuttgart., S. 71. Darüber hinaus siehe allgemein Beierwaltes, Werner (1985): Denken des Einen. Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte. Frankfurt; Beierwaltes, Grundfragen der Mystik; Koslowski, Peter (Hg. 1988): Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. München. 8 9

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entsprechend kann man die Mystik als ein Phänomen ansehen, das den Menschen und sein Leben transzendiert. 11

2.

Der Begriff taṣawwuf

Was den im islamischen Raum gängigen Begriff für Mystik, taṣawwuf, angeht, ist es alles andere als leicht, eine genaue Definition bzw. eine treffende Beschreibung vorzulegen. In der islamischen Welt kann man unter Mystik das unmittelbare Schauen verstehen, eine Erkenntnis intuitiver Art, ein Präsenzwissen, eine Erkenntnis durch Vereinigung und Harmonie mit dem höchsten Intellekt. Sie ist keine Wissenschaft, aber eine Lehre der inneren Erfahrung und Umwandlung. Somit ist sie eine Art Erkenntnis, eine Selbsterkenntnis und Selbstvervollkommnung, aber auch eine innere Demut, Dynamik, Lebensfreude, ein Lebenssinn und eine ethische Normalität. Im weitesten Sinne bedeutet sie, das Leben zu respektieren, als einzige Wahrheit zu sehen mit all seinen Aspekten, als ästhetisches Erleben und rationales Begreifen, als harmonisches Gebilde, als eine Chance für eine Weiterentwicklung unserer Fähigkeiten. Um nun die muslimische Selbstauslegung zu beschreiben, sollen hier die Sufi-Gelehrten selbst zur Sprache kommen. Von den islamischen Sufi-Gelehrten liegen jedoch unterschiedliche Beschreibungsformen vor, die die Mystik je nach Einstellung bzw. Haltung und unterschiedlichen Aspekten auch auf verschiedene Art und Weise zum Ausdruck bringen. Maʿ rūf al-Karẖī (gest. 815), ein früher Mystiker, sagt: »Sufitum ist das Ergreifen der Wirklichkeiten und das Verzweifeln an dem, was die Menschen in der Hand haben«. 12 Der berühmte Philosophenmystiker Šahāb ad-Dīn Suhrawardī widmet sich in seinem Buch »ʿAwārif al-maʿ ārif« im fünften Kapitel dem Wesen der taṣawwuf, während er zunächst einige Erläuterungen von früheren Gelehrten zitiert. In Anlehnung an Abū Muḥammad Ǧurairī (gest. 924), 13 den er zitiert, ist taṣawwuf nichts anderes als der Eintritt in die erhabenen Eigenschaften und das Hinaustreten aus den niedrigen Eigenschaften. 14 Beierwaltes, Grundfragen der Mystik, S. 320. Qušairī, Tarǧuma Risāla, S. 470. 13 Zu al-Ǧurairī siehe Böwering, Gerhard (1982), The Mystical Vision of Existence in Classical Islam. Berlin u. a., S. 82 f. 14 Zitiert nach Suhrawardī, ʿAwārif, S. 23. 11 12

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Dieser Definition nach ist Mystik eine ethische Haltung. Suhrawardī selbst interpretiert taṣawwuf ebenso im ethischen Kontext, beschreibt sie jedoch als eine stetige asketische Haltung eines Mystikers: »Sufi ist der, der immer versucht, seine Triebseele (nafs) zu polieren, das Herz (qalb) zu reinigen, die Geistseele (ruḥ) mit Erhabenheit zu erfüllen (beleuchten zu lassen)«. 15 Für Suhrawardī ist Mystik ein Zustand, und im Sinne van der Leeuws ein autistischer Zustand, von dem man sich keineswegs trennen darf, »wenn man nur eine Stunde den Zustand vernachlässigt, so wird man von vielen Schleiern verhüllt.« 16 Sufismus bezeichnet für Abū Ibrāhīm Ismāʾ il bin Muḥammad Mustamlī Buẖārī (gest. 434/1043) dem Wort nach entweder die Reinheit der Geheimnisse oder an dieser Stelle die Gefährten des Propheten, die in der Moschee als Zeichen der spirituellen Hingabe in der ersten Reihe stehen. Dennoch meint er, dass die Sufis diejenigen seien, die die Wolle tragen, und die Wolle ist nichts anderes als das Kleid des Propheten. Nachdem er dem Sufismus dem Wortsinn nach mehrere Möglichkeiten zuschreibt, schildert er die innere Haltung eines Sufis, die sowohl soziale als auch persönliche Dimensionen in sich trägt: »Das Prinzip der Anhänger des taṣawwuf ist: Abwendung gegenüber der Welt, keine Feindseligkeit gegenüber den Mitmenschen, sich begnügen mit dem, was man besitzt und nicht mehr verlangen, auf Gott vertrauen, seine Zeit nicht selbst wählen, sich gegen Gott nicht auflehnen wegen der Wünsche seiner Triebseele und sich von der Heimat, von Freunden und Angehörigen lösen.« 17

Es ist zu sehen, dass taṣawwuf im Islam mehrdimensional ist und unterschiedliche Aspekte des menschlichen Daseins umfasst. Soziale und humanistische Aspekte werden als Teil des autonomen Verhaltens in der Welt betrachtet. Auch Scheich Abū al-Qāsim Muḥammad Ǧunaid (Abū Ǧunaid, gest. 910) 18 soll Mustamlī Buẖārī zufolge auf die Frage, was Sufismus sei, gesagt haben: »Reinige das Herz von der

Ebd., S. 24. Ebd. 17 Mustamlī Buẖārī, Šarḥ at-Ta rruf, S. 93 f. ʿ 18 Siehe dazu Radtke, Bernd: »The Eight Rules of Junayd: A General Overview of the Genesis and Development of Islamic Dervish Orders«, in: Todd Lawson (ed. 2005): Reason and inspiration in Islam: theology, philosophy and mysticism in Muslim thought; essays in honour of Hermann Landolt. London, S. 490–502. 15 16

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Zustimmung, dem Zuspruch bzw. der angepassten Begleitung des Mitmenschen«. 19 Annemarie Schimmel führt in ihrem Buch »Mystische Dimension des Islam. Die Geschichte des Sufismus« die Definitionen einiger bekannter Sufi-Gelehrten aus, die den Sufismus unterschiedlich beschreiben. Abū Ǧunaid ist ein vielzitierter und sehr beachteter islamischer Mystiker. Seiner Definition nach ist der Sufismus keine äußerliche Haltung: »Sufismus wird nicht (erworben) durch Beten und Fasten, sondern ist die Sicherheit des Herzens und der Großmut der Seele«. 20 Für Abū Ǧunaid zeigt diese Haltung ebenso eine moralische Natur. An dieser Definition des Sufismus hält auch Abū Bakr Muḥammad Kalabāẕī (gest. ca 994), einer der ersten Mystiktheoretiker, fest und bietet in seiner Beschreibung der Sufis eine Differenzierung von äußeren und inneren Merkmalen eines Sufis: »Diejenigen, die sie auf Wolle oder auf die Veranda beziehen, drücken die äußere Seite ihrer Lebensformen aus.« 21 Nūrī 22 erklärt dies mit einem genaueren Beispiel: »Wer dich in guten moralischen Qualitäten übertrifft, übertrifft dich im Sufismus.« 23 Der berühmte asharitische Theologe Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gest. 1111) versteht unter dem Sufismus die Befreiung der Seele von allen Hindernissen, von bösen Eigenschaften, von verwerflicher Gesinnung und ist somit die Befreiung des Herzens von allem außer Gott. Sie soll erfüllt sein von der Anrufung Gottes. Der Weg der Mystik vollzieht sich nicht durch das Studium, sondern durch das Schmecken, seelisches Erleben und die Verwandlung der Eigenschaften, nämlich der schlechten in die guten Eingeschaften. Einige Zeitgenossen Abū Ǧunaids gehen noch einen Schritt weiter und betonen den asketischen Aspekt der Mystik, der auch äußerlich zum Ausdruck kommt. »Sufismus bedeutet, nichts besitzen und von nichts besessen zu werden.« 24 Sei sie Armut oder Enthaltsamkeit, sei sie eine moralische Qualität oder ethische Haltung, sei sie eine asketische oder spirituelle Eigenschaft, Mystik ist und bleibt eher eine Mustamlī Buẖārī, Šarḥ at-Taʿ rruf, S. 171 Nach Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 31. 21 Ebd. 22 Abū al-Ḥasan an-Nūrī (gest. 907), ein Anhänger der mystischen Liebe. Ein Mystiker aus dem Bagdader Kreis. Siehe ebd., S. 96. 23 Ebd., S. 33. 24 Ebd., S. 32. 19 20

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Sache des Inneren als des Äußeren. Von Ǧalāl ad-Dīn Rūmī wird der Sufismus unter anderem in einer poetischen Dimension erklärt: »Was ist Sufismus? Er sprach: Freude finden im Herzen, wenn die Zeit des Kummers kommt.« 25 Unter Sufismus ist auch ein Erkenntniszustand zu verstehen. Erkenntnis kann sowohl als Zustand der Weisheit und der geistigen Erfahrung gesehen werden als auch als ein Erlebenszustand, der sich durch die bloße Erkenntnis auszeichnet. Titus Burckhardt weist in seinem Buch »Vom Sufismus. Einführung in die Mystik des Islam« darauf hin, dass die Mystik im Islam der Erlangung der göttlichen Weisheit gleichkommt. »Da das Sufitum eine Überlieferung im wahren Sinne des Wortes, das heißt, die Weitergabe einer ursprünglichen göttlichen Weisheit ist, so ist es zugleich Bewahrung in der Zeit und ständige Erneuerung in der Wiederbegegnung mit seinem zeitlosen Ursprung.« 26

Diese göttliche Weisheit können wir auch im Sinne von Sayyed Hossein Nasr als ein »sakrales Wissen« verstehen. Jedoch bedeutet dies nicht, wie er behauptet, dass Sufismus weder Philosophie noch Theologie wäre, mit dem Argument, weil es sich um ein sakrales Wissen handele. 27 Er geht davon aus, dass Sufismus eine »Theosophie« im engen und ursprünglichen Sinne ist. Diesen Begriff verwendet Nasr ebenso für die philosophische Strömung der Isfahaner Schule, die sich im 16. Jahrhundert im Iran entwickelte. Obwohl der Begriff »Theosophie« in diesem Sinne für den Sufismus weitaus missverständlicher ist als der westliche Begriff »Mystik«, geht eine solche Weisheit – trotz ihres spezifischen Charakters – von einem religiösem Verständnis von der Offenbarung aus und ist von einem theologisch-philosophischen Lehrgebäude untermauert. Im Sinne von Thomas von Aquin (gest. 1274) oder vielmehr im Sinne von Johannes von Gerson (gest. 1429) können wir von einer »cognitio dei experimentalis«, nämlich einer experimentellen Erkenntnis Gottes sprechen. 28 Diese Erfahrungserkenntnis Gottes ist religiös, da sie

Zitiert nach ebd., S. 34. Burckhardt, Titus (1953): Vom Sufismus. Einführung in die Mystik des Islam. München/Leipzig, S. 11. 27 Nasr, Seyyed Hossein (2008): The Garden of Truth. The Vision and Promise of Sufism, Islam’s Mystical Tradition. New York, S. 210. 28 Siehe Metz, Detlef (2001): Gabriel Biel und Mystik. Stuttgart, S. 22 f. 25 26

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auf eine theologische Betrachtungsweise und Lehre von Gotteserkenntnis zurückgeht und damit zudem, nicht nur exprementiell, sondern auch weltanschaulich, Stellung zu Glaubensinhalten nimmt. Das Ziel dieser spezifischen spirituellen Art der Lehre beinhaltet folglich auch die Erkenntnis der Wahrheit.

3.

Der Begriff ʿ irfān

Für den Sufismus im Sinne von Erkenntnis der Wahrheit verwendet man im Islam den Begriff ʿ irfān. ʿ Irfān wird im Westen oft als Gnosis übersetzt, was dem Sinngehalt und dessen Bedeutung im Islam nicht ganz gerecht wird. Gnosis kommt aus dem Griechischen und bedeutet allgemein »Erkenntnis« bzw. mit Blick auf seinen religiösen Gehalt auch »Licht der Kenntnis«. Damit ist die Gotteserkenntnis gemeint, die ein Geheimwissen ist. Durch Erkenntnis soll die Erlösung des Menschen erlangt werden. Ein Gnostiker ist also ein Mensch, der die Erkenntnis Gottes anstrebt und dadurch Heil erwartet. Gnosis wird im Christentum als die erste Häresie bzw. Irrlehre des Christentums betrachtet. Auch der Manichäismus ist eine gnostische Lehre, die von dem persischen Religionsstifter Mani verbreitet wurde, welcher sich als Vollender der Botschaften der Religionen vor ihm ansah. Er vermischte die Lehren von Christentum, Zoroastrismus, Buddhismus, Mazdakismus miteinander und betrachtete sich ferner als ein Apostel von Jesus Christus. Seine Lehre geht von zwei ontologischen Entitäten der Existenz aus, die sich zwischen Gut und Böse, Licht und Finsternis befindet. Das Gute und Böse bekämpfen sich gegenseitig. Das Licht ist in der Gefangenschaft der Finsternis. Die Erlösung kann erst stattfinden, wenn das Licht von der Finsternis befreit wird. So kann auch der Mensch Erlösung finden, aber das kann er nicht, solange er sich hier auf der Erde befindet. 29 Zwar zeigt sich im Islam eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der Gnosis und ʿ irfān, da beide die Erkenntnissuche verbindet. Zudem ist ein gewisser Einfluss des Christentums auf die muslimischen Gnostiker erkennbar. Dennoch unterscheidet sich der islamische ʿ irfān von der Gnosis durch seine islamische Gesinnung.

Siehe dazu Huijs, Peter F. W.: Gnosis – Ströme des Lichtes in Europa. Birnbach 2005, S. 81 ff.

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ʿ Irfān wird von Abbās-ʿAlī Kaiwān Qazwīnī (gest. 1938) 30 in zwei Aspekte aufgeteilt: ein theoretischer (ʿ ilmī) und ein praktischer (aʿ malī) Aspekt. Er meint, dass ʿ irfān anfangs nur auf eine rein spirituell-praktische Aktivität reduziert wurde, aber mit Ibn ʿArabī auch eine theoretische Gestalt angenommen hat. 31 Abbās-ʿAlī Kaiwān Qazwīnī behauptet sogar, dass ʿ irfān ein rationaler Akt (sulūk ʿ aqlī) sei und das Ziel somit die Askese der Vernunft, sodass sie autonom das Verbotene meidet. 32 Doch ʿ irfān soll nicht als eine »theosophische Erkenntnis«, 33 mit der man eine philosophische Erkenntnisspiritualität verbinden möchte, verstanden werden. Das Ziel des ʿ Ārifs, des islamischen Gnostikers, ist auch nicht Erlösung, denn indem er das Ziel erlangt, sich mit der göttlichen Welt zu vereinen, erreicht er eine Stufe der Erkenntnis, in der ihm eine unmittelbare Schau des wahren Wesens der Dinge und der göttlichen Welt offenbart wird. So unterscheiden sich ein islamischer Philosoph, der ebenso nach der Erkenntnis der Wahrheit strebt, und ein Gnostiker darin, dass der Erstere durch Logik, Wissenschaft, Analyse und Erlernen die Wahrheit erkunden möchte, während der Gnostiker letztlich die Wissenschaft und Logik verlassen muss, um die Dinge unmittelbar zu sehen. In diesem Sinne versteht auch Ibn Sīnā den Begriff ʿ irfān. Ibn Sīnā sieht in ʿ irfān Ibrāhimī Dīnānī (geb. 1934) zufolge einen Verwandlungsprozess, während dessen sich das Wissen bzw. der rationale Akt in eine unmittelbare Schau transformiert, nämlich von der »sicheren / gewisshaften Erkenntnis« (ʿ ilm al-yaqīn) in die »Schau der Gewissheit« (ʿ ain al-yaqīn). 34 Um das zu verdeutlichen, kann eine Anekdote, die im Werk »Asrār at-Tauḥīd« von Abū Saʿ īd Abū al-Ḫair (gest. 1049) berichtet wird, sehr hilfreich sein. Scheinbar gab es eine mehrtägige Begegnung zwischen Ibn Sīnā, dem islamischen Philosophen, und dem Scheich Abū Saʿ īd Abū al-Ḫair. Als die Gespräche zwischen den beiden Gelehrten beendet waren, fragten die Schüler jeden über den anderen aus. Der islamische Philosoph Ibn Sīnā äußerte sich diesbezügZu Leben und Werk Abbās-ʿAlī Kaiwān Qazwīnīs siehe Yāsamī, Rašīd (2009): Kaiwān Nāmah. Bd. I, II. Teheran. 31 Siehe auch Nasr, The Garden of Truth, S. 210. 32 Siehe Ibrāhimī Dīnānī, Ġulām-Ḥusein (2001): Daftar-i aql wa āyat-i išq. Bd. I. ʿ ʿ Teheran, S. 109 f. 33 Siehe Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 387. 34 Siehe Ibrāhimī Dīnānī, Daftar-i ʿ aql, S. 163. 30

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lich: »Alles, was ich weiß, sieht er«, und der Scheich meinte, »Alles was er sieht, weiß Ibn Sīnā.« 35 Bei ʿ irfān ist der Weg ein praktischer Weg und es geht um das seelische Erleben der Wahrheit, das Selbstzeugnis und die Enthüllung der Wahrheit, jedoch nicht durch Vernunft und Wissenschaft. Der ʿ Ārif stellt sich den Menschen wie ein Element vor, das sich von einer Stufe zu einer anderen Stufe entwickelt (Evolution), während der traditionelle Ethiker nach der Aneignung der Eigenschaften strebt, ohne sich völlig zu ändern (Reform). Das Verhältnis von Körper, Seele, Vernunft ist wie das Äußere zum Inneren von einem und demselben Gegenstand. Der wesentliche Unterschied zwischen der Theologie und ʿ irfān besteht darin, dass bei orthodoxen Theologen Gott und die Welt real sind und ihr Verhältnis eine Ursache-Wirkung, Substanz und Akzidens darstellt, während ʿ irfān das Verhältnis von Gott und Welt, von Sein und Schein, von Wahrheit und Erscheinung darstellt. Alles ist Seine Erscheinung. Der reine Monotheismus ist das Endziel der ʿ ārif. Man unterscheidet zwischen taṣawwuf und ʿ irfān dadurch, dass ʿ irfān eine höhere Stufe der Erkenntnis ist, deren Ziel Gott ist. Ein ʿ Ārif erreicht dieses Ziel durch Askese und Erkenntnis, und er erlangt einen Zustand, in dem ihm die Wahrheit enthüllt wird, während taṣawwuf ein Weg ist, den der Sufi moralisch und asketisch beschreiten muss, und erst durch ʿ irfān die Wahrheit und das Ziel erreicht. Folglich ist das Endziel eines Sufi ʿ irfān, nämlich die Wahrheit (ḥaqīqa). Im taṣawwuf muss der Novize den Weg durch die Belehrung und Wegweisung des Meisters gehen, während es in ʿ irfān um die letzte Stufe geht, in der jeder Mystiker alleine gehen muss. Wie Titus Burckhardt richtig erfasst hat, ist taṣawwuf im Gegensatz zu ʿ irfān an eine klare Form und einen Ritus gebunden: »Allein, in der islamischen Welt wird der Name taṣawwuf nur auf die geistigen Pfade angewendet, die eine esoterische Lehre und eine Weitergabe von Meister zu Meister voraussetzen; man kann taṣawwuf nur dann mit Mystik wiedergeben, wenn man ausdrücklich Mystik in eben diesem strengen Sinne, das heißt, in ihrem ursprünglichen Sinne auffasst.« 36

Abū al-Ḫair, Abū Saʿ īd: Asrār at-tauḥīd fī maqāmat aš-Šaiẖ Abī Saʿ īd. Bd. 1. Eingel., hrsg. u. kommentiert v. Muḥammad Riḍā Šafīʿ ī Kadkanī (1366/1987). Teheran, S. 194. 36 Burckhardt, Vom Sufismus, S. 28. 35

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Mystik und taṣawwuf

In manchen mystischen Literaturen können wir nachlesen, dass ʿ irfān eine höhere Bedeutung gegenüber taṣawwuf und Derwischsein beigemessen wird. Im bereits genannten Werk »Asrār at-Tauḥīd« wird berichtet, dass der Sohn von Imam Muẓaffar Nūqānī einem Gespräch zwischen seinem Vater und Scheich Abū Saʿ īd Abū al-Ḫair lauschte, in welchem Imam Muẓaffar Nūqānī dem Scheich sagte: »Wir sollen hier nicht vom Sufismus oder Derwischsein sprechen, sondern von Erkennenden (ʿ arifiyāt) durch Vollkommenheit.« 37 Doch die Erlangung der Erkenntnis und Weisheit Gottes ist zugleich ein Erlebnis. Dementsprechend führt der Weg der Mystik nicht über das Studium, sondern über Schmecken, seelisches Erleben und Verwandlung der Eigenschaften. Über den mystischen Weg scheint al-Ġazālī die wahren Erkenntnisse erlangt zu haben, welche weder durch Nachahmung noch durch Zweifel durchdrungen werden können. Er meint, dass die Ursache der Nachahmung die Erziehung sei. Die Erkenntnisse, die aufgrund der Autorität der Erziehung vermittelt wurden, haben keine Gültigkeit, wenn sie nicht aus der freien und selbständigen Suche heraus erfahren wurden. Die Erziehung entfernt die Menschen von ihren natürlichen Veranlagungen, die ihnen bei ihrer Schöpfung gegeben wurden: »Es sind seine Eltern, die ihn zum Juden, zum Christen oder zum Magier [R. H. gemeint sind die Zoroastrier] machen, es drängte mich in meinem Inneren, die Wahrheit dieser ursprünglichen Natur und die der zufälligen Glaubensgrundsätze, die durch Nachahmung von Eltern und Lehren entstanden sind, zu erfahren und zwischen diesen blinden Nachahmungen zu unterscheiden.« 38

Für Al-Ġazālī bleibt keine Schule oder philosophische Lehre von Fehlern verschont. Sie betreiben auch keine selbständige Suche, sondern sie sind in Wirklichkeit Nachahmer. Er spricht von einem Zustand, den er mystisch nennt, wie folgt: »Dies geschah nicht in einem geordneten Beweis und durch eine systematische Redeweise, sondern durch ein Licht, das der erhabene Gott

Abū al-Ḫair, Asrār at-tauḥīd fī maqāmat aš-Šaiẖ Abī Saʿ īd. Bd. 1, S. 277. al-Ġazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad: Al-munqiḏ min aḍ-ḍalāl. Hrsg. v. Abdulhalīm Maḥmūd (21955). Kairo, S. 5. Siehe al-Ghazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad: Der Erretter aus dem Irrtum. Hrsg. u. übers. v. Abd-Elsamd Abd-Elhamid Elschazli (1988). Hamburg, S. 84. Ich werde mich grundsätzlich an diese Übersetzung halten und überall an der zweiten Stelle die Seitenzahl der Übersetzung angeben.

37 38

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Mystik und taṣawwuf

in meine Brust warf, jenes Licht, welches als Schlüssel der meisten Erkenntnisse gilt.« 39

Al-Ġazālī versucht durch ein Beispiel, diesen Zustand bildhaft zu machen. Der Unterschied zwischen Betrunkensein und der Definition der Betrunkenheit bestehe darin, dass ein Betrunkener es nicht nötig hat, die Definition der Betrunkenheit zu wissen, um betrunken zu sein. Al-Ġazālī zeigt damit einen klaren Unterschied zwischen der Erkenntnis auf, die durch Wissenschaft und Philosophie ermöglicht wird, und der Erkenntnis, die nicht erworben, sondern verinnerlicht bzw. geschmeckt wird. In diesem Sinne verbindet die mystische Theologie das Immanente und die Transzendenz, sodass die Lehre der Mystik eine permanente überreligiöse Haltung gegenüber der Wahrheit ist, die nicht durch den erlernten Glauben und die Nachahmung der Vorschriften, aber auch nicht durch die Vernunft geprägt ist. Vielmehr ist sie eine selbstlose Haltung, die mit einer reinen Absicht und der Liebe zur Wahrheit erfasst wird. Darin sieht man auch den Unterschied zwischen der Religion, die die Wahrheit durch Dogmen bzw. den Unterricht zu vermitteln versucht, und der Mystik, die durch Weiterentwicklung und den mystischen Weg die unmittelbare Erkenntnis der göttlichen Wirklichkeit offenbart. Mit einer solchen Erfahrung stehen zwar religiöse Lern- und Lehrkonzepte nicht unbedingt im Widerspruch, aber sie kann auch außerhalb der institutionellen Religionsvermittlung stattfinden. Denn die mystische Erfahrung ist keine blinde Befolgung der religiösen Gebote und Verbote, sondern ein Bewusstseinszustand. Diese Erfahrung scheint universal zu sein. In Annemarie Schimmels Definition der Mystik kommt diese Bedeutung sehr gut zum Ausdruck. »Im weitesten Sinne kann Mystik als das Bewusstsein der Einen Wirklichkeit definiert werden, ganz gleich, ob man sie nun ›Weisheit‹, ›Licht‹, ›Liebe‹ oder ›Nichts‹ nennt.« 40 In diesem Sinne ist ein Vergleich zwischen der Mystik, wie sie im Westen verstanden wird, und taṣawwuf in seinem islamischen Sinne nur insofern möglich, wenn es um die göttliche Erfahrung bzw.

39 40

Ebd., S. 88, al-Ġazālī, S. 10. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 16.

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Mystik und taṣawwuf

eine Geheimniserfahrung geht, die unabhängig von den jeweiligen religiösen Lehren und Dogmen gedacht wird. Im Sinne von Martin Lings können wir folgendes zum Ausdruck bringen. Er benutzt hier die Metapher des Wassers bzw. der Flutwelle des Meeres und die Aushöhlungen, die die Welle auf ihrer Reise zu ihrem vorbestimmten Ziel mit Wasser füllt, wodurch die spezifische äußere Form der Religion ausgemacht wird: »Für die meisten Gläubigen ist nur das Wasser von Belang, das die Ebbe in diesen Hohlräumen zurücklässt und das die äußerliche Form der Religion darstellt. Den Mystikern hingegen – und Sufismus ist eine Form der Mystik – geht es, wie das Wort bereits sagt, vor allem um ›die Mysterien des Himmelsreiches‹ : man könnte, um bei unserem Bilde zu bleiben, vom Mystiker sagen, er fühle sich in ungleich stärkeren Masse von der zurückströmenden Welle angezogen, als von dem Wasser, das sie zurücklässt.« 41

In Anlehnung an Muḥy ad-Dīn Ibn ʿArabī (gest. 1240) verwendet Martin Lings das Bild der Flutwelle als Sinnbild für das Ziel des Sufismus. Ibn ʿArabī hatte die Angewohnheit, in seinem Gebet folgenden Satz zu sprechen »Tauche mich ein, o Herr, in die Tiefen des Meeres Deiner unendlichen Einheit.« 42 Wenn wir nun bei dieser Metapher bleiben, können wir taṣawwuf als den Weg bezeichnen, der durch einen moralischen und asketischen Akt zum Himmelreich führt. Jedes Meer hat ein Ufer, an welches das Wasser durch die Flutwelle herangeführt wird. Das Ufer ist die Endlichkeit, und um in die Tiefen der Unendlichkeit zu gelangen, muss man von der Flutwelle angezogen werden, die einen in die Tiefen des Meeres führt. Doch die Tiefe kann man ohne Mühe und Arbeit, ohne Verwandlung nicht erreichen. Daher muss die Seele sich von der Welt der Endlichkeit lösen und sich einkleiden mit göttlichen Eigenschaften. »Denn der Sufismus ist die Begabung, die Übung und die Technik, sich in das zurückströmende Wasser einer solchen Welle zu stürzen und sich von ihr zum unabänderlichen und unendlichen Ursprung mitreißen zu lassen.« 43

Lings, Martin (1990): Was ist Sufitum. Freiburg, S. 10 f. Siehe ebnso Lings, Martin (1975): What is Sufism. London u. a., S. 12 42 Ebd., S. 9; Ebd., S. 11. 43 Ebd. 41

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Mystik und taṣawwuf

Demnach ist Mystik eine Verbindung mit der Wahrheit, mit dem Ziel, dass der Ursprung alles Seiende ist. In diesem Sinne sagt der Bagdader Mystiker Abū Bakr Šiblī (gest. 945) 44: »Sufi ist, wer von den Menschen getrennt und mit Gott verbunden ist. So sprach Gott: Ich habe dich für mich selber hergerichtet (Sure 20:41). Damit hat er ihn von allem Nichtgöttlichen getrennt. Dann hat er zu ihm gesagt: Du wirst mich nicht sehen (Sure 7:143).« 45

In diesem Kapitel ging es nun hauptsächlich um die Bedeutung des Sufismus und den Versuch, eine detaillierte Erklärung bezüglich der spirituellen Reise (sulūk) des Sufismus vorzunehmen. Denn das Wesen des Sufismus zeigt sich vor allem in der totalen Hingabe, wodurch sich Gotteserfahrung durch Selbsterfahrung vollzieht. ʿAzīz ad- Dī Nasafī (gest. ca. 1287) scheint durch seinen Erklärungsversuch über das Wort Sufi, auch wenn er selbst keinen eigenen Standpunkt demonstriert, was Sufismus überhaupt ist, das Wesen des Sufismus am besten zu konstatieren. Nach aristotelischer Manier kategorisiert er das Sufitum in vier Stufen mit jeweils eigenen Anforderungen. Die erste ist Sehnsucht bzw. Hingabe (irādat), die zweite das Dienen (ẖidmat), die dritte das spirituelle Reisen (sulūk) und die vierte ist die Gemeinschaft bzw. der Gefährte (ṣuḥbat) nach der Reise. Nasafī beschreibt zwei Kategorien von reisenden Sufis: Die ersten Reisenden sind jene, die den Rest ihres Lebens in Gesellschaft der Gemeinschaft verbringen, und die zweiten sind diejenigen, die in Abgeschiedenheit und Einsamkeit leben. Beide Kategorien werden jeweils mit einem Hadith belegt. 46 Somit liegt das Wesen des Sufismus in der Wanderung der Seele, die im koranischen Sinne als »Isrāʾ « (Nachtreise) bzw. »miʿ rāǧ« (Himmelfahrt) (Sure 17) »als Vorbild für den Flug der Seele in die Gottesgegenwart verstanden« wird. 47

Zu Abū Bakr Šiblīs siehe Knysh, Alexander (2000): Islamic Mysticism. A short History. Leiden u. a., S. 64 ff. 45 Qušairī, Tarǧuma Risāla, S. 388. 46 Der erste Hadith lautet: »The learned scholars of my community are like Prophets of the children of Israel« und der zweite: »The friends of God are beneath domes and nobody knows them expect me.« Siehe dazu Ridgeon, Lloyd V. J. (2002): Persian Metaphysics and Mysticism. Selected Treatises of ’Azīz Nasafī. Richmond, S. 194. 47 Siehe Schimmel, Annemarie (2003): Die Zeichen Gottes. Die religiöse Welt des Islam. München, S. 166. 44

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Gibt es eine islamische Mystik oder ist sie fremdbestimmt?

Um das Wesen des Sufismus zu bestimmen, müssen wir zunächst einen Blick auf die Geschichte seiner Entstehung werfen. Um die Entstehungsgeschichte des Sufismus im Islam zu schildern, wird zunächst auf die Vorgeschichte eingegangen, wobei die asketische Vorstellung des religiösen Denkens und Handelns im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Die Frage ist, unter welchem religiösen und weltanschaulichen Einfluss die islamische Mystik entstanden ist. Hat sie einen eigenen islamischen Ursprung oder ist sie von fremder Weltanschauung beeinflusst? Als Einflussfaktoren werden neben dem eigenen islamischen Ursprung auch der antike, persische, indische, christlich-gnostische und neuplatonische erwähnt. Es ist bekannt, dass die Muslime in den Herrschaftsepochen der Ummayyaden (661–750) und Abbasiden (750–1250) mit den indischen bzw. christlichen Asketen und anderen Völkern in Kontakt kamen. Vor allem traf man sie in Damaskus und im Zweistromland, dem heutigen Irak. Speziell in den Anfängen der Zeit des Abbasiden-Kalifats gab es am Hof des Kalifen regelmäßige Begegnungen zwischen den Angehörigen unterschiedlicher Religionen, darunter auch Buddhisten und Hindus, wo Gelehrtendiskurse, Streitgespräche und religiöse und wissenschaftliche Dialoge stattfanden. Al-Ǧāhiẓ beispielsweise berichtet von der Existenz solcher frommen Asketen. 1 Ob der Sufismus auf dem Boden der islamischen Frömmigkeit gewachsen ist oder ob in ihn doch andere asketische Strömungen einflossen, kann man aus den bisherigen Untersuchungen nicht erschließen. Selbst diejenigen Experten, die sich für die fremden Einflüsse ausgesprochen haben, geben in ihren Untersuchungen keine klare Auskunft darüber, wo genau die Wurzel des Sufismus zu verorten ist. Siehe dazu al-Fāẖūrī, Ḥannā u. al-Ǧarr, Ḫalīl (21358/1979): Tārīẖ al-falsafa alarabīya. Bd. I. Übers. v. ʿAbd al-Ḥamīd Āyatī. Teheran, S. 248 f. ʿ 1

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Gibt es eine islamische Mystik oder ist sie fremdbestimmt?

Der ägyptische Schriftsteller Ṭahā Ḥusain (gest. 1973) z. B. meint, dass die Wurzel der islamischen Mystik im indischen und stoischen Denken der Alexanderschule zu suchen sei. Ähnlich wie Ṭahā Ḥusain vertreten auch einige Orientalisten wie Reynold A. Nicholson und Alfred von Kremer diesen Ansatz. 2 Als Grund für ihre Positionen liefern sie Argumente wie beispielsweise den Vergleich der Idee des Entwerdens (fanā) mit der indischen Vorstellung von Nirwana und der Idee der Vereinigung (ittiḥād). Auch das Gottesgedenken (ḏikr) und die Einkleidung des Novizen (ẖirqa), wenn er sich einer SufiGemeinschaft anschließt, sind nach Meinung einiger Forscher aus Indien übernommen worden. 3 Als weiteres Argument thematisieren sie die ersten bekannten Sufis, denn nach ihrer Meinung kommen die meisten frühen SufiGelehrten 4 wie Šaqīq Balẖi (gest. 809), Dawūd Balẖi, Fuḍail bin ʿ Iyāḍ (gest. 803), auch Bāyazīd Bisṭāmī (gest. 875), Abū Saʿ īd Abū al-Ḫair (gest. 1049), Ibrāhīm Adham (gest. 782) und Abū ʿAlī Sindhī aus den Gebieten Balkh, Bukhara und Khurasan, also aus dem Mittleren Osten, 5 wo die Sufi-Bewegung am stärksten ausgeprägt war und wo buddhistische und hinduistische Tempel vorhanden waren. Vor allem wird auf die Reise von Abū Manṣūr al-Ḥallāǧ (gest. 922) nach Indien und China hingewiesen, der nach seiner Rückkehr mit seinen neuen Gedanken Unruhe stiftete. 6 Dieser Meinung setzten sich die Philosophiehistoriker Ḥannā al-Fāẖūrī und Ḫalīl al-Ǧarr in ihrem Buch entgegen. 7 Sie meinen, dass die Wurzel des Sufismus im Islam selbst liegt, es strömten jedoch im Nachhinein indische und stoische Elemente hinein. Richard Hartmann und Max Horten bringen noch den iranischen Einfluss ins Spiel. 8 Demnach sei der islamische Sufismus eine Nicholson, Reynold A. (1975): The Mystics of Islam. An Introduction to Sufism. New York, S. 1–27; siehe auch Nicholson, Reynold A. (1923): The Idea of Personality in Sufism. Cambridge. 3 al-Fāẖūrī, Tārīẖ, S. 250 f. 4 Siehe dazu Knysh, Alexander (2000): Islamic Mysticism. A short History. Leiden u. a., S. 18–26; Blum, Georg Günter (2009): Die Geschichte der Begegnung christlichorientalischer Mystik mit der Mystik des Islam. Wiesbaden, S. 509 f. 5 Ǧāmī, Abd ar-Rāḥmān: Nafaḥāt al-uns min haḍarāt al-quds. Hrsg. v. Maḥmūd ʿ ʿAbidi (1996). Teheran, S. 26 ff., 54. 6 Siehe Knysh, Islamic Mysticism, S. 74 ff.; Furrūẖ, at-Taṣawwuf, S. 39; Badawī, Tāriẖ at-taṣawuuf, S. 36. 7 al-Fāẖūrī, Tārīẖ a, S. 249 f. 8 Siehe dazu Nicholson, The Mystics of Islam; Schimmel, Mystische Dimensionen; 2

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Reaktion auf den arabischen Islam gewesen. Es wird angenommen, dass die Iraner sich zwar nach der arabischen Eroberung und Islamisierung Irans äußerlich zum Islam bekannten, aber innerlich dem eigenen Kult und der eigenen Weltanschauung treublieben. Es wird behauptet, der Schiismus sei ein speziell iranischer Weg zum Islam, der ähnlich wie beim Sufismus von einer spirituellen Person geführt werde, der das geheime Wissen besitze. Ebenso hatten die Iraner ihr eigenes Asketentum, das durch den Manichäismus beeinflusst war. Die altiranische Vorstellung von Licht und Finsternis, von der Idee des Poles (quṭb) und einigen anderen spirituellen Gedanken sollen später in den Islam eingeflossen sein und machten somit den Sufismus möglich. 9 Die Anhänger dieser Meinung sehen ihre Position durch erste Sufi-Gelehrte bestärkt, die aus dem Gebiet des heutigen Irans kamen. Sufi-Forscher wie Duncan B. MacDonald sind der Meinung, dass die islamische Mystik vielmehr vom Christentum beeinflusst worden sei. Schon im Koran ist von reisenden Mönchen und der christlichen Frömmigkeit die Rede (Sure 9:112, 66:5). Ḥannā al-Fāẖūrī und Ḫalīl al-Ǧarr sind der Meinung, dass das Wollkleid im muslimischen Sufitum von Christen übernommen worden sei. 10 Auch die Idee des ḏikr und das stille Gottesgedenken wie auch die Idee der Liebe (ʿ išq) wurden Nicholson zufolge von den Christen übernommen. Die Weltabgewandtheit und die asketischen Rituale seien ebenfalls über die christlichen Asketen in den Islam importiert worden. Letztlich sind auch die Entstehung des Sufi-Tempels und die Einführung des Asketentums sowie der Frömmigkeit in den Islam nach Einschätzung einiger Orientalisten weder im Iran noch in Indien, sondern nur im Christentum zu suchen. Auch hier spielen die Früh-Sufis eine wichtige Rolle. Der erste Sufi, der mit dem Beinamen Sufi bekannt war, war neben ʿAbdak Abū Hāšim Ṣūfī. Er lebte in Damaskus unter Christen. 11 Ähnliches berichtet man über Ibrāhīm Adham (gest. 776 oder 790) und Ḏū ’n-Nūn Miṣrī (gest. 859), die ihr Leben in Ägypten, Damaskus und im Iran unter Christen verbracht haben und dort auf-

Hartmann, Richard: Zur Frage nach der Herkunft und den Anfängen des Sufitums, in: Der Islam 6/1, 1915/16, S. 31–70. 9 Kiānī-Niǧād, Sair-i ʿ irfān, S. 49 ff. 10 al-Fāẖūrī, Tārīẖ, S. 251 f. 11 Knysh, Islamic Mysticism, S. 15.

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gewachsen sind. Von Abū Ǧunaid wird berichtet, dass seine Eltern Christen waren und dass erste Tempel, die man für die Sufis erbaute, in Damaskus durch einen Christen entstanden sind. 12 Die christlichen Vorstellungen haben später durch ihre philosophisch-neuplatonische Auslegung weiterhin den Sufismus im Islam befruchtet, wie unter anderem die Idee der Einheit der Existenz von Plotin und der neuplatonischen Lehre von der Seele, der Erlösung und Armut, der Erkenntnis der Wahrheit, der Schau Gottes und der Vereinigung mit ihm. Zu Lieferanten dieser neuplatonischen Ideen zählen griechische Gelehrte wie Proclus und Porphyrios. Eine weitere wichtige Figur, die scheinbar auf den Sufismus einen enormen Einfluss ausübte, ist Dionysius. Er ist ein unbekannter christlicher Autor, der unter dem Namen Pseudo-Dionysius bekannt ist. Die Werke, die man ihm zuschreibt, wurden nach Einschätzung Nicholsons von Stephen Bar Sudaili, einem prominenten syrischen Gnostiker und Zeitgenossen von Jacob von Saruj, verfasst. 13 Ẕū ’nNūn Miṣrī (auch Maṣrī) hatte scheinbar von den Gedanken Dionysius’ profitiert und sie in die islamische Welt eingeführt. Demnach scheinen die christliche Lehre von Frömmigkeit und Asketentum und später die gnostische Lehre die Hauptfaktoren zu sein, die das islamische Sufitum möglich gemacht haben. Dennoch ist Edward Braun der Meinung, dass die neuplatonischen Gedanken und die christliche Gnosis ihre Wurzeln im Iran haben, da Plotin und einige andere griechische Philosophen im Iran gewesen waren und die Entstehung ihrer Weltanschauung sehr stark von der alten iranischen Lehre beeinflusst wurde. 14 Nach besagten Meinungen geht man davon aus, wie der schwedische Religionsgelehrte Tor Andrae (gest. 1947) richtig zum Ausdruck bringt, »[…], dass ein so seltsames Gewächs wie die sufische Mystik nicht gut auf dem kargen Boden des Islam hatte wachsen können.« 15 Generell wird von vielen Mystikforschern behauptet, dass der Koran und der Islam gegen Mönchtum und Asketentum seien und nicht gegen das weltliche Leben bzw. nicht gegen den Genuss. 16 Eine solche Einstellung geht vor allem auf den bekannten Sufikritiker und Ǧāmī, Nafaḥāt, S. 27 ff., 37. Siehe ebenso Kiānī-Niǧād, Sair-i ʿ irfān, S. 54 f. Nicholson, The Mystics, S. 12 f. 14 al-Fāẖūrī, Tārīẖ, S. 255. 15 Tor, Andrae (1960): Islamische Mystik. Übers. v. Helmhart Kanus-Credé. Stuttgart, S. 13. 16 Ebd., S. 244. Siehe auch Sure 7:32; 5:87. 12 13

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islamischen Gelehrten Ibn Ǧauzī zurück, dem zufolge kein Zölibat und auch keine Weltentsagung im Islam zu finden seien (lā ruhbāniyya wa lā tabaṭṭula fī al-islām). 17 Er und Ibn Taymiyya (gest. 1328) waren hartnäckige Gegner des Sufismus. 18 Ibn Taymiyya ist der Meinung, dass die Weltanschauung der Sufis von fremden Gedanken wie beispielsweise des Christentums durchgedrungen seien, und daher verurteilt er diese als Ungläubige. 19 Er wirft den Mystikern vor, sie verzichten auf Dinge, die erlaubt sind bzw. extra empfohlen wurden, wie die Heirat oder Sexualität. Der Verzicht auf Heirat ist vergleichbar mit dem Zölibat, das der Scharia widerspricht. Solche und ähnliche Haltungen stehen Ibn Ǧauzī zufolge gegen die islamische Tradition. 20 Ferner gibt es Belege, dass einige muslimische religiös-politische Oppositionsbewegungen des frühen Islam wie Kharigiten, die Zwölferschia und später die Wahhabiten gegen die sufische Mystik waren. All dies sollte darauf hindeuten, dass das sufische Denken von außen in den Islam eingedrungen ist. Die neueren Forschungen, allen voran von Louis Massignon (gest. 1962), zeigen jedoch die Tendenz, die Wurzel der islamischen Mystik im Islam selbst zu erkennen. Der französische Theologe und Orientalist Massignon verdeutlicht in seinen Studien über al-Ḥallāǧ, wie das Sufitum auf dem Boden des Islam gewachsen ist. Tor Andrae stellt in Anlehnung an Massignon fest: »Das mystische Erlebnis ist emporgewachsen und hat seinen Weg unter dem unablässigen Studium des Korans gefunden, und seine technischen Ausdrücke und allgemeinen Fragestellungen sind von daher entnommen. Schritt für Schritt können wir verfolgen, wie diese Anschauung emporgewachsen ist. Eine Generation von Frommen hat der Siehe dazu Yūsuf-pūr, Muḥammad Kāẓim: naqd-i taṣawwuf, in: Dāʾ irat al-maʿ ārif buzurg-i islāmī. Hrsg. v. Kaẓim Mūsawī Buǧnūrdī (2010). Bd. XV. Teheran, S. 530– 538. 18 Koloska schreibt folgendes über Ibn Ǧauzī: »Ibn al-Djauzī kritisierte sowohl die populäre als auch die extreme Form des Sufismus […] und ging immer wieder mit den Volkspredigern ins Gericht. Trotz einer offensiven Politik zur Unterbindung volkstümlicher und auch philosophischer Tendenzen in der Religion war es zu keiner Zeit gelungen, diese vollständig zu verdrängen.« Koloska, Hannelies (Hrsg. 2009), Ibn al-Ǧauzī, Das Buch der Weisungen für Frauen Kitāb al-aḥkām al-nisāʾ . Frankfurt/ Leipzig, S. 230 f. 19 Siehe Ibn Taymiyya: Maǧmūaʿ ar-Rasāʾ il wa al-masāʾ il. Muḥammad Rašīd Riḍā (Hrsg. 1983). Beirut, S. 176 ff., 183 f. 20 Ibn al-Ǧuazi, Talbīs iblīs, S. 161, 173 ff., 332 f. 17

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anderen die Hand gereicht, und man kann sogar – meint Massignon – so weitgehende und vom Standpunkt des Islam kaum noch diskutable Lehren wie die des al-Ḥallāǧ auf rein muslimischen Boden bis zu ihrem Ursprung und ihrer Wurzel verfolgen.« 21

Tor Andrae wirft jedoch Massignon vor, in seiner Forschung die Mystik etwas vernachlässigt zu haben. »Massignon hat die Frage nach der Beziehung zwischen Sufitum und Christentum nicht gelöst.« 22 Auch wenn die sufische Mystik in ihren Wurzeln im Koran und dem Beispiel des Propheten und seiner Gefährten aufzuspüren ist, kann jedoch weiterhin nicht angezweifelt werden, dass die Entstehung des islamischen Askententums sehr eng mit dem Christentum verflochten ist. Zunächst weist Massignon darauf hin, dass sich alle Forscher darin einig sind, dass die »koranische Frömmigkeit gewissermaßen eine Übertragung aus der asketischen Frömmigkeit, der Mönchsreligion, die in den syrischen Kirchen jener Zeit zu Hause war, in arabischer Sprache und arabischer Vorstellungswelt genannt werden kann.« 23 Doch diese Übertragung scheint ihm von der Person Muhammad durchgeführt worden zu sein. Hinzu kommt, dass der Koran seine Lehre auf der Bibel aufgebaut hat. Zudem nennt Tor Andrae zahlreiche Beispiele aus den Anfängen des Islam, die belegen, wie stark das islamische Asketentum im Christentum einen Nährboden gefunden hat. Sehr früh schon gab es seiner Meinung nach enge Kontakte und Gespräche zwischen Mönchen oder Eremiten, also einem rahib und einem Rechtgläubigen. Die Rechtgläubigen bewunderten die christlichen Asketen und in zahlreichen Berichten wird überliefert, dass sich Muslime, wie Mālik Ibn Dīnār, von den christlichen Mönchen belehren ließen. 24 Jesus Christus und die christlichen Mönche wurden von Muslimen nicht nur bewundert, sondern sie galten als das Idealbild des Heiligen. Andrae Tor schreibt, dass man in Ägypten die christlichen Mönche zunächst von der Steuer befreite und der muslimische Kalif Abu Bakr seiner Armee, als sie in Syrien einmarschierte, befohlen hatte, die Mönche in ihren Zellen in Frieden zu lassen. 25 »Der mohammedanische Christus ist«, wie Tor Andrae formuliert, »in erster 21 22 23 24 25

Tor, Islamische Mystik, S. 13. Ebd., S. 14. Ebd. Ebd., S. 17. Ebd., S. 14, 20.

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Linie der große Asket, das Idealbild des Heiligen, der losgelöst von allen irdischen Bedürfnissen und Banden umherwandert und unter freiem Himmel schläft, mit einem Stein als Kopfkissen.« 26 Dennoch sieht Tor Andrae, dass all diese Beispiele, die auf einen großen Einfluss des Christentums auf die Muslime hinweisen, die Entstehung der sufischen Mystik im Islam nicht ausreichend erklären. Er sieht einen gravierenden Unterschied zwischen dem islamischen und christlichen Asketentum, und betont sogar, dass der Sufismus im Islam einen dem der christlichen Asketen entgegengesetzten Weg eingeschlagen habe: »Das Ziel der Mönchaskese war, den Menschen von einem körperlichen, irdischen Wesen in ein pneumatisches, himmlisches zu verwandeln. Wenn der Fromme die Vollkommenheit erlangt, wird sein Wesen ganz geistig durchleuchtet, ewig und göttlich. Die Wirkung der Verwandlung kann gewiss bedeuten, dass der Mystiker eine wirkliche Wesensvereinigung mit Gott und Christus erlangt hat. Aber mit demselben Recht könnte man auch sagen, dass er als Pneumatiker Gott und Christus nicht mehr nötig hat, jedenfalls nicht den Christus, den die Kirche verkündet. Er ist selbst in gewisser Weise ein Christus. Durch seine geistige Selbstvervollkommnung wird der Mensch Gott. Das Sufitum bewegt sich in umgekehrter Richtung. Es ist nicht nur das Streben des Menschen nach Selbstvervollkommnung, das etwas zu bedeuten hat, sondern vielmehr Gottes Handeln, Gottes Eingreifen. Die Liebe besteht nicht darin, dass wir lernen, Gott zu lieben, sondern vielmehr darin, dass er uns geliebt hat.« 27

Nichtsdestotrotz bleiben die Meinungen kontrovers. Fritz Meier betont in seinem sehr umfangreichen und fundierten Aufsatz die vergebliche Spurensuche nach historischen Quellen. »Bemühungen europäischer Gelehrter, die Sufik als Abwehr des indogermanischen Geistes der Perser gegen den Semitismus des arabischen Islam zu deuten, oder ihre Ursprünge einerseits im Neuplatonismus, andererseits in indischen Gedankensystemen zu finden, haben fehlgeschlagen. Gleich wie sie das Lernbare des Neuplatonismus überwand, ebenso ist sie sogar im Koran zu einer tieferen Sinndeutung vorgestoßen.« 28

Annemarie Schimmel vertritt noch deutlicher als Fritz Meier die Meinung, dass die Wurzel der sufischen Mystik auf den Propheten 26 27 28

Ebd., S. 23. Ebd., S. 40 f. Meier, Fritz (1943): Vom Wesen der islamischen Mystik. Basel, S. 7.

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Gibt es eine islamische Mystik oder ist sie fremdbestimmt?

Muhammad, sein spirituelles Verhalten und die Lehren im Koran zurückgeht. Die außerislamischen Weltanschauungen hatten nicht den Sufismus hervorgerufen. Vielmehr hatten sie zur Weiterentwicklung des Sufismus und zur Konzeptualisierung ihrer philosophischen und geistigen Weltanschauung beigetragen. Auch Nicholson stimmt dieser Idee zum großen Teil zu. Zur Begründung dieser Position verweist sie auf die Sufi-Gelehrten, die fast alle die im Koran vorhandene moralische und asketische Orientierung für das sufische Denken verwenden. Josef Hammer-Purgstall (gest. 1856), ein österreichischer Orientalist und Mystikforscher, vertritt ebenso die Meinung, dass sich Mystik im Islam auf die koranische Offenbarung und heilige Tradition des Propheten gründe. 29 Im Koran findet man zahlreiche sufische Termini sowie moralische und weltanschauliche Vorstellungen, die man in den Werken vieler frühislamischer Sufi-Gelehrter wiederfinden kann. 30 Auch der Prophet selbst wird als spirituelle Figur und Vorbild für sufische Askese gesehen. Der Koran als Gotteswort, das auch geheime Botschaften enthält, wird einem Menschen offenbart, der ummī (Sure 7:157 f.), also Analphabet, lat. Illiterat, ist. »Diese Eigenschaft steht im Mittelpunkt der islamischen Frömmigkeit; denn wie im Christentum Maria Jungfrau sein musste, um das ungeschaffene Wort Gottes, das sich durch sie inkarnieren sollte, aufzunehmen und der Welt zu schenken, so musste der Prophet ein Analphabet sein, damit das ungeschaffene Wort, das durch ihn sich als Buch manifestieren (inlibrieren, wie Harri Wolfson sagt) sollte, rein bewahrt werden konnte. Er war ein Gefäß, nicht befleckt von intellektuellem Wissen, so dass er das ihm anvertraute Wort in völliger Reinheit weitergeben konnte.« 31

Der Frömmigkeitskult im Sinne des sufischen Kults beginnt erst mit einigen Personen in der Moschee von Ṣuffa, die man als ahl aṣ-ṣuffa Vgl. Hammer-Purgstall, Josef: Zwei Abhandlungen zur Mystik und Magie des Islams von Josef Hammer-Purgstall: als Festgabe der Akad. zum 200. Geburtstag Hammer-Purgstalls / mit Einl. u. Anm. hrsg. v Annemarie Schimmel (1974). Wien, S. 32 f. 30 Z. B. Begriffe wie ḏikr, zuhd, ibāda, taqwā, sa āda, īmān, taḍarru , amal aṣ-ṣāliḥ, ʿ ʿ ʿ ʿ miʿ rāǧ, nafs, asmāʾ al-ḥusnā, matāʿ ad-dunjā, tazkyiya, ad-dunjā al-fānī, al-āẖira, tawakkul, ṣabr, riḍā, ẖauf, iʿ tikāf, nūr, maḥabba, maʿ rifa, samāʿ usw. (siehe Sure 58:20; 101:99; 2:115; 24:35; 58:2 f.; 69:7; 51:15; 2:15; 2:152; 3:41; 5:54; 3:31; 3:191; 7:205; 41:53; 52:20 ff.; 66:3; 5:11; 2:112, 149, 177; 5:69; 22:40; 39:18; 63:9; 2:265; 18:28; 20:130 ff.; 5:119, 7:205; 9:100; 93:5; 5:48). 31 Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 50. 29

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bezeichnet. Es sind die Gefährten des Propheten wie Abū Ḏar alĠiffārī (gest. 653), Salmān al-Fārsī (gest. 656) und Uwais al-Qaranī (7. Jhd.). Abū Ḏar al-Ġiffārī wird als Vorbild der wahren Armut (faqr) bzw. der Armen (faqīr) gesehen und von manchen als der erste Sozialist im Islam. Salmān Fārsī ist ein Barbier persischer Herkunft. Uwais al-Qaranī lebte im Jemen und hat scheinbar den Propheten Muhammad nie gesehen. Der Prophet hatte von seiner Frömmigkeit gehört und soll den berühmten Satz geäußert haben: »Der Hauch des Erbarmers (nafs ar-raḥmān) kommt aus dem Jemen zu mir«. 32 Uwais alQaranī ist für sein Nachtgebet berühmt, auch der Prophet hatte seine Zeit oft im Gebet verbracht. Somit wird die islamische Frömmigkeit auf die Frühphase der islamischen Religion zurückgeführt. Der Prophet selbst hatte die Grundlage der Askese und Frömmigkeit gelegt, als er zu seiner Gemeinde in Medina sprach. Er gab ihnen die ethische und moralische Grundlage, spirituelle Wegweiser, Glaube, Brüderlichkeit, Gottesfurcht, Gottesvertrauen und die Enthaltsamkeit und predigte ihnen eine Religion der Mitte (ummatan wasaṭan) oder die Idee der Barmherzigkeit (raḥmatan li-l-ʿ alimīn), die weder weltfeindlich noch weltzugewandt ist: der Islam als Religion der Mitte zwischen den semitischen monotheistischen Traditionen, zwischen Judentum und Christentum. Von ihm wird neben zahlreichen Koranversen auch berichtet, dass er den Menschen davon abriet, sich von der Welt abzuwenden und sich im Reichtum und der materiellen Welt zu verlieren. »Laisa ẖairakum min tark ad-dunyā li-l-āẖira wa lā li-lāẖiratu li-d-dunyā (Es ist nicht gut für Euch wegen des Jenseits auf die Welt zu verzichten und wegen der Welt auf das Jenseits)«. 33 Die ersten asketischen Bewegungen beobachtet man vor allem in der Zeit des dritten Khalifen Uthmān ibn Affān (gest. 656) und des vierten Khalifen ʿAlī ibn Abī Ṭālib (gest. 661). Diese Bewegung nahm mit der Zeit zu, vor allem in der Zeit der Ummayyaden wird von einem eindeutigen Anstieg der Zahl der Frommen berichtet. In dieser Zeit stieg die Feindseligkeit zwischen den Muslimen und es entstanden unterschiedliche religiöse Gruppierungen. Hinzu kamen auch die Eroberungen der Länder der Ungläubigen. So beschreibt Schimmel die Situation der anfänglichen Dichotomie zwischen dem wahren Glauben und der weltlichen Politik: 32 33

Ebd., S 53. Kiānī-Niǧād, Sair-i ʿ irfān, S. 33.

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»Die ständige Ausweitung des islamischen Reiches ließ die Frommen über die Diskrepanz nachdenken, die zwischen den eschatologischen Drohungen der früheren koranischen Offenbarungen und der Notwendigkeit, den islamischen Bereich durch immer neue Eroberungen von Ländern der Ungläubigen auszudehnen, bestand.« 34

Über die Umayyaden wurde von frommen Muslimen wegen ihrer Habgier und Weltlichkeit geklagt. In Basra und Umgebung nahm die asketische Haltung zu und unter der kritischen Haltung gegenüber der Umyyadenpolitik propagierte man eine Art Tugend der Enthaltsamkeit und Besinnung auf den Ursprung des Glaubens, der gegen Luxus und Weltliebe gerichtet war. Ḥasan al-Baṣrī (gest. 728) verkörperte diese Haltung, die er an seine Schüler weitergab. 35 Diese ambivalente und zugleich kritische Beziehung zur weltlichen Herrschaft hatte sich auch dann nicht geändert, als die Ummyaden bereits besiegt waren und die Abbasiden an die Macht kamen. Vor allem machten sich die Formierungen verschiedener asketischer Strömungen und mystischer Schulen im 9. Jahrhundert bemerkbar. 36 Dennoch kann man weder die Aussagen und Lehren des Propheten, noch die Haltung seiner Gefährten als Sufik bezeichnen. Den Begriff Ṣūfī gab es al-Fāẖūrī, Ḥannā u. al-Ǧarr, Ḫalīl zufolge, vor alǦaḥiẓ (gest. 869) noch nicht oder er war nicht als solcher verbreitet. 37 Die sufische Frömmigkeit war am Anfang eher eine praktische Lebenshaltung, keine theoretische und weltanschauliche Schule. Die erste Person, die den Beinamen Ṣūfī trug, war Abu Hāšim Kūfī (gest. 778). 38 So gesehen können wir diese ersten Erscheinungen der Frömmigkeit nicht als eine Schule sehen. Diesem Kern von Frommen um Muhammad, meint Schimmel, entstamme eine Definition von dreifacher Haltung, die von Ṣūfīs gerne akzeptiert wurde: islām, imān und iḥsān. Der Islam wäre die äußere Bekenntnis, aber imān die innere. Iḥsān wurde dagegen in der Bedeutung hinzugefügt, »Gott anzubeten, als ob man ihn sähe«. 39 Der islamische Einfluss wäre die Askese und Anbetung Gottes sowie die Vorstellung von einem Treffen mit Gott im Jenseits.

34 35 36 37 38 39

Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 54. Ebd., S. 56 ff. Ebd., S. 54 ff. al-Fāẖūrī, Tārīẖ, S. 248. Siehe dazu Knysh, Islamic Mysticism, S. 15. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 53.

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Erst später wurde dies von anderen Asketen und Mystikern als eine Form der Frömmigkeit und Weltenthaltsamkeit betrachtet, wie von Ḥasan al-Baṣrī, Rābiʿ a al-ʿAdawiyya (gest. 801), Abū Hāšim Ṣufī, Sufyān bin Saʿ id aṯ-Ṯaurī (gest. 778), Ibrāhīm Adham usw., die alle im zweiten Jahrhundert nach der Higra lebten. Die Theoretisierung und Ausdehnung der sufischen Mystik wurde dann später durch Bāyazīd Bisṭāmī, Sahl Tustarī (gest. 896), Manṣūr al-Ḥallāǧ und Abū Saʿ īd Abū al-Ḫair weiter betrieben. So wuchs von der Anfangsphase bis zur Etablierung der Mystik als eine eigenständige Schule zunehmend der Einfluss der Lehre fremder Kulturen auf die islamische Mystik. Qušairī ist der Meinung, die Bezeichnung der sufischen Mystik (taṣawwuf) habe sich von der Zeit des Propheten bis zur Etablierung der Bezeichnung der taṣawwuf unterschiedlich gewandelt. Zunächst nannte man diese Gruppe ṣaḥaba, denn sie waren als Gefährten des Propheten bekannt. In der zweiten Phase nannte man sie tabiʿ īn, also Nachfolger, die den Propheten zwar nicht unmittelbar begleiteten, aber ihm und seinen Gefährten gefolgt sind. Danach kam das Gefolge der Gefolgten (atbāʿ at-tabiʿ īn), aber langsam gingen die Wege auseinander, man hat sie spezifiziert und einige wurden nach ihrem besonderen Charakter und ihrer Haltung benannt, z. B. zuhhād und ʿ ibād. Später traten wieder Neuerungen und verschiedene Gruppierungen in Erscheinung, das Streben nach dem materiellen Leben breitete sich aus und die Menschen wurden zu ihrer eigenen Botschaft und zu ihrem eigenen Weg aufgerufen. Die Frommen und Asketen hatten sich von den anderen getrennt und sich Gott gewidmet. So kam es zu jener Zeit, dass man sie dann als Angehörige der taṣawwuf bezeichnete, um sie von allen anderen zu unterscheiden. 40 Ähnlich schildert auch Ibn Khaldun in seiner »Muqaddima« das Sufitum. Seiner Meinung nach ist die sufische Lehre (ʿ ilm attaṣawwuf) ein Teil der religiösen Wissenschaften (ʿ ulūm aš-šarīʿ a), die in der islamischen Gemeinschaft in Erscheinung traten. Der mystische Weg war bereits unter den Gefährten des Propheten und denjenigen, die danach kamen, verbreitet. Es war ein Weg der Wahrheit (al-ḥaqq) und Rechtleitung (hidāya) und ursprünglich bedeutete es, sich eifrig dem Gottesdienst hinzugeben (al-ukūf alā al-ʿ ibāda) und

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Qušairī, Tarǧuma Risāla, S. 24 f.

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sich auf Gott hin von allem zu trennen (al-inqitā ilā allāh), 41 sich des Schmucks der diesseitigen Welt, ihres Luxus zu enthalten, sich vor weltlichem Genuss, Ruhm und Reichtum, nach denen die Mehrheit der Menschen strebt, zu hüten, sich von der Masse zurückzuziehen und Einsamkeit für den Gottesdienst zu suchen. Ibn Khaldun zufolge war dies die generelle Haltung der Gefährten und deren Nachfolger, bis sich die Menschen im zweiten islamischen Jahrhundert (hiǧra) und danach dem materiellem Leben zuwandten. Ab diesem Zeitpunkt seien diejenigen, die sich dem Gottesdienst widmeten und sich von der diesseitigen Welt abwandten, ṣufiyya bzw. mutaṣawwifa genannt worden. 42 Zusammenfassend können wir festhalten, dass sich nur sehr schwer etwas Konkretes über die historische Quelle des Sufismus sagen lässt. Feststeht jedoch, dass sich im Islam schon von Anfang an eine Form der Frömmigkeit herauskristallisiert hat. Es wurde auch der Einfluss der christlichen Mönche auf das Asketentum sichtbar. Dennoch liefert keine dieser Angaben einen genauen Bestimmungsort der Entstehung des Sufismus. Ebenso steht fest, dass die Systematisierung der Lehrgebäude des Sufismus erst später entstand. Vor allem wird nicht klar, warum sie ṣufiyya genannt werden, denn wie bereits geschildert wurde, gibt es keinen klaren Konses untern den Gelehrten über diese Bezeichnung. Meiner Meinung nach ist es durch die gesamte Schilderung naheliegend, dass bereits bei der Entstehung des Islam eine eigene spirituelle Entwicklung zu erkennen war, die dann im Laufe der Zeit, durch die Begegnung mit anderen spirituellen Strömungen in den eroberten Gebieten, eine neue Gestalt annahm. Diese Entwicklung hat eine eigene geistige und spirituelle Schule hervorgebracht, die es sich zur Aufgabe machte, den Sinn des Glaubens und die Theologie der Glaubensinhalte aus einem spirituellen Blick zu systematisieren. Ein Vergleich zwischen den früheren und späteren Schriften zeigt, dass sich taṣawwuf in der Art und Weise, wie dieser sich als eine religiöse Form und spirituelle Schule verbreitet hat, erst ab dem Ende des zweiten und vor allem im dritten Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung entwickelt hat. Die theologische und philosoas-Sarrāǧ, Abū Naṣr: Kitāb al-Lumʿ a. Hrsg. v. Abulḥalīm Maḥmūd u. Ṭāhā ʿAbdulbāqī Surūr (1960). Kairo u. a., S. 65. 42 Siehe Ibn H ̱ aldun, Muqaddima, S. 1097. 41

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phische Formierung fand erst ab dem 9. Jahrhundert statt. Und ab diesem Zeitpunkt können wir allmählich von einer philosophischen Mystik bzw. theologischen Mystik sprechen. Somit können wir die sufische Mystik im Islam in folgenden Etappen darstellen: 1) In den ersten beiden Jahrhunderten der islamischen Zeitrechnung (7. u. 8. Jh.) gab es eine asketische Bewegung, die sich vor allem in Basra und im östlichen Teil Irans formierte. Sie war weniger theoretisch, vielmehr praktisch angelegt. Sie orientierte sich am Koran und dem asketischem Leben des Propheten. Ḥasan al-Baṣrī ist der Prototyp der Asketen dieser Zeit, der als Theologe, aber auch als sufischer Asket bezeichnet werden kann. Er rief die Menschen zur Frömmigkeit, Gelehrsamkeit, Zurückgezogenheit und Enthaltung gegenüber der diesseitigen Welt auf und forderte die Orientierung am Jenseits. 43 2) Die zweite Etappe (etwa zwischen dem 8. u. 9. Jh.) war vor allem von dem Aufkommen der Abbasidendynastie und damit auch der Begegnung mit fremden Gedankenwelten gekennzeichnet (gemeint sind nicht nur die christlichen Mönche, sondern auch buddhistische, hinduistische, antike und neuplatonische Vorstellungen). In dieser Zeit nahm das Asketentum zu, und damit ging auch eine bestimmte Haltung und Bekleidung einher. Neben Meditation, Gottesgedenken, Enthaltsamkeit und Gottesfurcht flossen Elemente wie Liebe und Loslösung in das islamische Asketentum ein. Eine der auffallenden Figuren dieser Zeit war Rābiʿ a al-ʿAdawiyya (gest. 801), eine Frau aus Basra, die selbstlose Liebe predigte, den formalistischen Glauben an Paradies und Hölle infrage stellte und schließlich die Menschen aufrief, Gott zu lieben und zu verehren, und zwar um der Liebe willen. 44 3) Die dritte Etappe (etwa zwischen dem 9. u. 10. Jh.) ist gekennzeichnet von der Systematisierung des sufischen Denkens und der sufischen Lehre sowie von der Übertragung philosophischer und theologischer Lehrmeinungen in den Sufismus. In dieser Zeit entstanden allmählich die ersten sufischen Lehrbücher und Sammelwerke. Neben der Liebesmystik verbreiteten sich auch die Idee der Vereinigung Vgl. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 15, 55. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 66; Blum, Die Geschichte der Begegnung, S. 247

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mit Gott und die pantheistische Vorstellung in dem Sinne, dass Gott und das Geschöpf eine Einheit bilden. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass die Scharia nur für den normalen Gläubigen und Anfänger gedacht sei, die fortgeschrittenen Mystiker seien dagegen von der Scharia befreit. Auch die ersten sufischen Formierungen im Sinne einer Gruppenbildung und die Entstehung von Konventen treten mit hierarchischen Lehrvermittlungen, also vom Meister an den Novizen, in Erscheinung. Vor allem ist diese Epoche von namhaften Gestalten wie Ḍū an-nūn al-Miṣrī, Bāyazīd Bisṭāmī (gest. 874), Scheich Abū Ǧunaid, al-Ḥallāǧ (gest. 922) geprägt. Mit ihnen wurde der Sufismus radikalisiert sowie philosophisch und theologisch systematisiert. Vor allem wird der Sufismus mit der hellenistischen, gnostischen und altpersischen Gedankenwelt befruchtet. Die Vorstellungen vom Entwerden in Gott (fanā) und dem Verbleiben mit Gott (baqā) sollen dem indischen Nirwana und der Einheit des Seins (waḥdat al–wuǧud) der Neuplatoniker entnommen und in den Sufismus eingeflossen sein. 45 4) Die vierte Etappe (etwa zwischen dem 10. u. 13. Jh.) ist gekennzeichnet von der Entstehung zahlreicher mystischer Orden und Konvente und vor allem von der Verbreitung sufischer Lehre und Schriften. Zudem wurden zahlreiche namhafte Lehrwerke verfasst. Es war eine Zeit, in der zwischen orthodoxen religiösen Theologen und rationalen Schulen, zwischen Theologen und Philosophen und zwischen den religiösen Minderheiten und Mehrheiten wie Schia und Sunna Streit um Autorität und Glaubenslehre herrschte. Als namhafte Autoren der Mystik sind folgenden Namen zu erwähnen: Abū al-Qāsim Muḥammad Qušairī (gest. 1074), ʿAlī bin Uṯmān Hūǧwīrī (gest. 1071), Šahāb ad-Dīn Suhrawardī (gest. 1191), Ibn ʿArabī (gest. 1240) und Ǧalāl ad-Dīn Rūmī (gest. 1273). Zu dieser Etappe gehören auch Personen wie al-Ġazālī (gest. 1111), der die Beziehung des Sufismus zur Theologie und Ethik herstellte. Allerdings war diese Zeit alles andere als einheitlich. Es entstanden unterschiedliche Tendenzen, die von der systematisch-philosophischen, der theologisch-mystischen bis hin zur poetischen und literarischen reichten. Vor allem zeigten die Tendenzen sehr stark eine regionale Bedeutung auf. Am stärksten stellte sich der Iran als ein Ort der sufischen Vielfalt dar. Siehe Nīrūmand Muḥaqqiq, Karīm (1985): Tāriẖ-i paydāyiš-i taṣawwuf wa ʿ irfān wa sayr taḥawwul wa taṭawwur-i un. Teheran, S. 145.

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Bekannte sufische Gruppen wie die Qādiriyya, 46 Kubrawiyya 47 und Suhrawardiyya 48 (nach Abū Naǧīb Suhrawardī) gehören zu dieser Zeit. 49 Ebenso ist für diese Zeit der hohe philosophische Anteil in der Mystik auffällig. Während durch al-Ġazālī, Qušairī, Kalabazi Buhari und seinen Schüler Mustamlī Buẖārī viel zur gegenseitigen Beeinflussung von taṣawwuf und der herrschenden Theologie beigetragen wurde, hatten Figuren wie Ibn ʿArabī und Šahāb ad-Dīn Suhrawardī die philosophischen Lehrgebäude der islamischen Mystik für die spätere Zeit angelegt. Etwa ab dieser Zeit kann man von einer Wissenschaft der Mystik sprechen. Insgesamt können wir bei der Mystik im Islam die vier Etappen in drei Epochen unterteilen, die durch Anerkennung und Ablehnung der religiösen kanonischen Lehre, durch Erstarrung und Kreativität gekennzeichnet sind. Diese Phasen sind in kurzer Beschreibung die Folgenden: – Die ersten drei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten Muhammad (siebtes bis neuntes Jahrhundert). Sie werden als die Zeit des Kampfes um die Existenzberechtigung der mystischen Lehre betrachtet. – Die Blütezeit der islamischen Renaissance: Hier kommt es zur Versöhnung von Mystik und Orthodoxie. Es ist die Triumphphase des Sufismus, die entscheidend von al-Ġazālī geprägt wurde. – Die dritte Epoche ist gekennzeichnet von der Ausbreitung mystischer Lehren und Schriften. Im weiteren Verlauf soll auf die Grundideen und Prinzipien des Sufismus im Islam eingegangen werden. Dabei werden anhand der Beispiele bedeutender Mystiker und ihrer Werke die zentrale Lehre des Sufismus einerseits und die Lehrentwicklungen andererseits grob umrissen. Ein Ṣūfī-Orden, der sich auf den persischen Mystiker ʿAbd al-Qādir al-Ǧīlānī (1088–1166) zurückgeht. Siehe dazu Knysh, Islamic Mysticism, S. 179 ff. 47 Ein Ṣūfī-Orden, der auf den Mystiker Naǧm ad-Dīn al-Kubrā (gest. 1221) zurückgeht. Siehe dazu ebd., S. 234 ff. 48 Ein Ṣūfī-Orden, der auf den Mystiker Abū Naǧīb Suhrawardī zurückgeht. Siehe ebd., S. 192 ff. 49 Ebd., S. 148 f. 46

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Die drei Formen des islamischen Sufismus

Insgesamt heben al-Fāẖūrī, Ḥannā und al-Ǧarr und Ḫalīl in ihrem Buch »Geschichte der Philosophie in der islamischen Welt« drei Formen der Mystik hervor: die traditionelle Mystik, die philosophische Mystik und die Inkarnationsmystik. 1 Diese drei Formen sind weniger als selbständige Schulen zu verstehen, sondern vielmehr als drei Formen der Auslegung der Glaubensinhalte. Wir können sie auch als drei weltanschauliche Orientierungskonzepte interpretieren. Die Bezeichnung des traditionellen Sufismus ist keineswegs primär historisch zu verstehen. Vielmehr geht es um die grundsätzliche Haltung und die Lehrgebäude jener Mystiker, die sich im Großen und Ganzen an der orthodoxen Lehre der Theologie und Scharia im Islam orientieren. Wenn es doch Abweichungen von der herkömmlichen traditionellen Theologie geben sollte, sind sie nur als Meinungsvielfalt im Sinne eines theologischen Diskurses zu verstehen. Wenn wir die ersten Asketen, die Gefährten des Propheten und ihre Nachfolger der ersten Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten dazu zählen würden, sind Abū al-Qāsim Qušairī und Abū Ḥāmid al-Ġazālī zwei bedeutende Gelehrte, die wir als traditionalistische bzw. gemäßigte Mystiker bezeichnen können. Sie waren um die Annäherung von Glaubensinhalten an die sufische Lehre bemüht und um einen asketischen Weg der traditionellen Theologie und Scharia. Anders als die traditionelle Mystik ist die philosophische Mystik als eine Theoretisierung der sufischen Lehre mit einer philosophischen Methode anzusehen. In diesem Sinne kann man die Vertreter einer solchen Mystik als Philosophenmystiker bezeichnen. Die Philosophenmystiker artikulieren sich philosophisch-theologisch und reflektieren die Lehrinhalte wie Gotteseinheit, Kosmologie, Existenz, die göttliche Natur der menschlichen Seele und die Seelenlehre in ihrem spezifischen ontologischen, epistemologischen und ethisch1

al-Fāẖūrī, Tārīẖ, S. 244.

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Die drei Formen des islamischen Sufismus

spirituellen Sinne als eine Weisheitskonzeption bzw. als philosophisch-mystische Erfahrung, die sich von einer reinen rational-analytischen Methode entfernt, und zwar in Anknüpfung an Disziplinen wie Metaphysik, Ethik, Ästhetik und Pädagogik. Dafür bedienen sie sich vielmehr einer esoterisch-intuitiven Methode, um die Erfahrung der göttlichen Einheit und die unmittelbare Erkenntnis des höchsten Gutes zu schildern. Unter anderem zählen Ibn ʿArabī und Šahāb adDīn Suhrawardī zu den wichtigsten Philosophenmystikern im Islam. Die »Inkarnationsmystik« ist ein unklarer Begriff. Er wird für bestimmte Typen von Mystikern verwendet, die in der Geschichte des Islam als abgesondert und radikal bezeichnet werden. Personen, die mit dieser Art der Mystik in Verbindung gebracht werden, wie alḤallāǧ und Bāyazīd Bisṭāmī, vertraten die Lehre von der Einheit der göttlichen und menschlichen Natur und von der Inkarnation Gottes (ḥūlūl, wörtlich: Einwohnen) in menschlicher Person. Annemarie Schimmel verfolgt einen anderen Ansatz, die Formen der sufischen Mystik einzuordnen. Sie unterscheidet die Mystik nach Typen, die nach mystischer Haltung oder Erfahrung einzuordnen sind. 2 Es gibt für Schimmel zwei Haupttypen der mystischen Erfahrung: Unendlichkeitsmystik und Persönlichkeitsmystik. Die erstere definiert sie nach einem monistischen Verständnis von tauḥīd. Gott ist alles und überall und kann im Sinne Ibn ʿArabīs als grenzenloses Meer symbolisiert werden. Demgegenüber ist die Welt eine begrenzte Realität und im Vergleich zum Meer ein Tropfen Wasser. Die materielle Welt leitet ihre Existenz von der absoluten Existenz ab. Demnach geschieht die Erfahrung der Gottheit als das Sein jenseits allen Seins oder manchmal auch als Nicht-Sein. Den zweiten Typ der mystischen Erfahrung bezeichnet Schimmel als Persönlichkeitsmystik. Sie versteht darunter eine Form der Mystik, die zwischen Schöpfer und Geschöpf trennt. Es wird in diesem Zusammenhang das Bild vom Herrn und Diener verwendet. Obwohl diese Form der Mystik der traditionellen Mystik im Sinne von al-Fāẖūrī, Ḥannā und al-Ǧarr, Ḫalīl entspricht, ist dennoch keiner der beiden Typen in seiner reinen Form aufzufinden. Schimmel nennt noch zwei weitere Formen der Mystik, die sie nach Haltung unterteilt: die voluntaristische Mystik und die gnostische Mystik. Bei der ersteren wird eine Haltung gekennzeichnet, insofern als sich der Mystiker mit den Attributen Gottes qualifizieren 2

Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 18 f.

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und seinen Willen mit dem Göttlichen in Übereinstimmung bringen möchte. »Diese Art der Mystik kann als praktischer Lebensprozess angesehen werden.« 3 Die gnostische Mystik ist dagegen ein Erkenntnisprozess. Der Mystiker ist auf der Suche nach der Erkenntnis Gottes, die aus einer tieferen Selbsterkenntnis hervorgehen kann. Der Mystiker bzw. Gnostiker (ʿ ārif) möchte durch die Weisheit des Herzens die Strukturen seines Universums erkennen oder die Rangstufen seiner Offenbarung erforschen. Die gnostische Mystik geht davon aus, dass das Wesen Gottes dem Menschen verborgen bleibt, und es ihm nur durch die Erkenntnis seiner Offenbarung, der Schöpfung, der Strukturen des Universums und der menschlichen Seele gelingen kann, Gotteserkenntnis zu erlangen. 4 Bei all diesen Formen der Mystik stehen Philosophie, Theologie und Mystik in einem Spannungsverhältnis zueinander und zugleich in einer komplementären Beziehung, da sie sich gegenseitig als Teilelemente einer Wissenschaftsdisziplin sehen können, die sich wiederum mit den Fragen der Metaphysik, der Manifestation, der Erkenntnis und Erfahrung des Transzendentalen beschäftigen. Einerseits geht es dabei um die Spannung zwischen Beweisbarkeit und intuitiver Erfahrung, andererseits um die Dogmen der institutionalisierten Glaubensauslegung und die persönliche, praktische bzw. unmittelbare Erfahrung der Wahrheit. Speziell geht es vor allem um die Definition der wahren Wirklichkeit und der göttlichen Offenbarung einerseits und der Beziehung zwischen Mensch und Gott andererseits. Während die theologische Orthodoxie sich am Dogma und dem Religionsgesetz (Scharia / šarīʿ a) orientiert und ihre Beweisführung nichts anderem als der Rechtfertigung bzw. Apologie der Glaubensbekenntnisse dient, orientiert sich die sufische ʿ irfān (Mystik) am mystischen Weg (ṭarīqa), der durch Askese, mystische Zustände (aḥwal) und die Erwerbung der Stationen, d. h. über die ṭarīqa, den mystischen Pfad, die ḥaqīqa (die Wahrheit) erreicht werden sollte. Nun lässt sich hier anmerken, dass das Spannungsverhältnis zwischen Philosophie, Theologie und Mystik ein Spannungsverhältnis zwischen Scharia, dem mystischen Pfad und der Wahrheit (šarīʿ a, ṭarīqa, ḥaqīqa) ist. Es gibt drei Stufen der sufischen Mystik, die drei

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Ebd., S. 19. Ebd., S. 20.

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Wege zu Gott darstellen. Sie gewannen in der Auseinandersetzung mit der Orthodoxie ab dem 3. Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung immer mehr an Bedeutung. Die meisten Sufis dieser Zeit sahen keinen Widerspruch zwischen šarīʿ a und ṭarīqa und waren bestrebt, die islamische Orthodoxie mit der Mystik zu versöhnen. In der sufischen Literatur werden durch eine Überlieferung, die dem Propheten Muhammad zugeschrieben wird, die Begriffe zu einem festen Bestandteil der sufischen Lehrinhalte. Demnach soll der Prophet gesagt haben: »Die šarīʿ a sind meine Worte (aqwālī), ṭarīqa sind meine Handlungen (aʿ malī) und die ḥaqīqa meine inneren Zustände (aḥwālī).« 5 Hiermit werden alle dreiteiligen Wege zu Gott in einer Person zusammengefasst, um ihre Abhängigkeit voneinander zu betonnen. Die šarīʿ a und ṭarīqa seien zwei Stufen der Frömmigkeit, die zur ḥaqīqa führen. Daher distanzierten die Theologen sich von denjenigen Mystikern, die sich von der šarīʿ a abwendeten und keinen Bedarf sahen, die šarīʿ a zu befolgen, während sie bereits die ḥaqīqa erreicht haben. Denn nach der Meinung dieser Mystiker sei ʿ ibādat nur eine Stufe, die durch ṭarīqa abgelöst wird, und diese wird wiederum von der ḥaqīqa abgelöst. Dabei entstehen zwei Probleme bezüglich der Kontroverse zwischen der Scharia-Theologie und der mystischen Theologie. Während erstere die Scharia als vollkommen genug für die menschliche Heilsfindung ansieht, gilt den Sufismustheologen die Stellung der Scharia im mystischen Pfad als wegbereitend für die Heilsfindung. Die unterschiedlichen Funktionen dieser drei Stufen und ihre Beziehungen zueinander werden von vielen Mystikern thematisiert. Ein Beispiel dafür ist das Werk »Kašfa al-maḥǧūb« (Die Enthüllung des Verschleierten) von dem hanafitischen Sufitheologen Abū alḤasan Hūǧwīrī (gest. ca 1071–77), 6 in dem schon von Beginn an der Versuch unternommen wird, die Theologie und die Mystik in Einklang zu bringen. Das Wissen der Diener, meint Hūgwīrī, bewege sich in zwei Bereichen, die ohne einander nicht funktionieren: Das Wissen über uṣūl stellt die Fundamente des Glaubens dar, wie göttliche Glau-

Nasafīī, ʿAzīz ad-Dīn: Kitāb al-Insān al-kāmil. Hrsg. u. eingel. v. Marijan Molé (51379/2000). Mit einer Einleitung v. Henry Corbin. Teheran. S. 73 f.; Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 148. 6 Siehe dazu Knysh, Islamic Mysticism, S. 132 ff. 5

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Die drei Formen des islamischen Sufismus

bensvorstellungen und Gotteserkenntnis, und furu sind somit die Zweige des Glaubens, wie die Gebote und gottesdienstliche Pflichten (farīḍa/faraʾ iḍ). Er benutzt auch zwei Begriffe, die für die Mystik von Bedeutung sind: ẕāhir, die äußere Form der Religion, und batin, die innere Form der Religion. Das Unternehmen des einen ohne das andere ist seiner Meinung nach unmöglich (maḥāl), »das Äußere der Wahrheit ohne das Innere ist Heuchelei (nifāq) und das Innere der Wahrheit ohne das Äußere ist Ketzerei (zandaqa). Nur die reine äußere Scharia ohne das Innere ist unvollständig und das Innere ohne das Äußere ist Begierde.« 7 Šarīʿ a, ṭarīqa und ḥaqīqa stellen für Hūǧwīrī, der sich auf die Aufteilung von Muḥammad bin al-Fuḍail al-Balẖī bezieht, drei Formen des Wissens dar: 1) Das Wissen von Gott (ʿ ilm min l-lāh): Das ist ein Wissen, das von Gott kommt, nämlich die Wissenschaft der Scharia über die Gebote und Pflichten. 2) Das Wissen mit Gott (ʿ ilm maʿ a l-lāh): Das ist die Wissenschaft von den Stationen des mystischen Pfades (maqāmāt aṭ-ṭarīq), die eine Erläuterung der Stufen der Gottesfreunde ist. 3) Das Wissen über / durch Gott (ʿ ilm bi l-lāh): Das ist die Erkenntnis Gottes, die alle Freunde Gottes durch ihn besitzen. Solange keine Vorstellung / Definition und Erkenntnis von Gott vorhanden ist, kann man nichts davon erfahren, dass alle Ursachen der erworbenen Erkenntnisse gänzlich vom erhabenen Gott stoßweise zu uns fließen. So ist das Wissen der Diener keine Ursache der Erkenntnis Gottes, da die Ursache für seine Erkenntnis und die Heiligung auch von seiner Rechtleitung und Unterrichtung kommt. 8 Hūǧwīrī kommt zu dem Ergebnis, dass »die Erkenntnis ohne Scharia, und damit meint er die ganze Religion, nicht richtig ist, und die Werte der Scharia ohne die Bekundung der Stationen nicht gut endet.« 9 Abū Naṣr as-Sarrāǧ kritisiert die Theologen, die das Wissen über Religion nur auf die Scharia beschränken und das Innere der Religion

Hūǧwīrī, Abū al-Ḥasan ʿAlī bin ʿ Uṯmān: Kašf al-maḥǧūb. Ediert v. V. A. Zukovskij u. eingl. v. Qāsim Anṣārī (1979). Teheran, S. 14 f. 8 Ebd., S. 18. 9 Ebd., S. 19. 7

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vollkommen ignorieren, wobei nach seiner Meinung die Scharia zwei Bereiche des Wissens umfasst, den Bereich des Äußeren (ẕāhir) und des Inneren (bāṭin), d. h. die Tradition (ar-riwāya). Die Einsicht (addirāya) und das sufische Wissen befassen sich mit dem Inneren der Handlungen und den Angelegenheiten des Herzens. 10 Die Einführung der drei Begriffe šarīʿ a, ṭarīqa und ḥaqīqa war ein Versuch, den Sufismus einerseits mit der Theologie in Einklang zu bringen und andererseits die Reduzierung des Glaubens auf die äußere und spekulative Begründung durch die traditionelle Theologie infrage zu stellen. Alle drei Wege bedingen einander, sodass einer ohne den anderen nicht vollständig ist, und zugleich werden die Wege in eine Reihe gestellt, deren letzte Stufe die ḥaqīqa ist. Ein Muslim, der die šahāda (das Bekenntnis) ausspricht und die religiösen Riten verrichtet, ist zwar ein Muslim, aber noch lange kein Gläubiger (muʾ min). Erst auf dem mystischen Weg, durch die Erfahrung der Stationen (maqāmat) und Zustände (aḥwāl) kann der Muslim die ḥaqīqa erreichen, sich Gott annähern und den tiefen Glauben verinnerlichen. Denn dadurch schafft er die Selbstreinigung, die notwendig ist für das Treffen mit Gott im Jenseits. Annemarie Schimmel spricht von dem dreifachen Sinn des taṣawwuf, denen sich die Mehrheit der Sufis verpflichtet fühle. In dem Rekurs auf Abū Naṣr as-Sarrāǧ formuliert sie folgendermaßen, was dieser dreifache Sinn für sufische Mystik bedeutet: »Denn es handelt sich um eine Reinigung auf verschiedenen Ebenen: zunächst von den niedrigen Eigenschaften und der Unreinheit der Seele, dann von der Sklaverei der menschlichen Eigenschaften, und schließlich einer Reinigung und Erwählung auf der Ebene der Attribute.« 11

Scharia stellt eine Ebene des mystischen Weges (ṭarīqa) zu Gott dar, bei dem durch Gesetz und Glaubensüberzeugung die menschliche Seele (nafs) von den niedrigen Eigenschaften gereinigt wird. Mit ṭarīqa befreit sich der Mensch von der Sklaverei der menschlichen Eigenschaften, die ihn in Gefangenschaft halten. Mit ḥaqīqa bewegt er sich auf der Ebene der Wahrheit, wo die Erkenntnis des tauḥīd möglich wird. Ḥaqīqa kann daher auch als mʿ arifa betrachtet werden,

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as-Sarrāǧ, The Kitāb al-Lumʿ a, S. 23. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 33.

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nämlich als die Erkenntnis Gottes und die Wahrheit. 12 Damit steht einerseits der Sinn der Scharia – nicht um ihrer selbst willen – in Bezug auf die Glaubenserfahrung im Vordergrund, und andererseits wird der Glaube von der reinen Institutionalisierung durch Scharia und Dogmen entkoppelt, um eine persönliche Erfahrung des Glaubens zu ermöglichen. Zum einen wollte man verhindern, dass sich der Sufismus von der Theologie und der offiziellen Lehrmeinung der Orthodoxie loslöst und verselbständigt, zum anderen, dass sie sich durch die sufische Auslegung der Glaubensinhalte als eine weitere Möglichkeit des Glaubensverstehens und der -wahrnehmung etabliert. Denn der Sufismus zweifelt nicht den Koran und den Propheten und auch nicht die Glaubensüberzeugungen an, sondern fragt nach dem Weg, dem richtigen Weg zu Gott. 13 Die islamische Mystik hatte, wie bereits erwähnt, die Selbstverständlichkeit nicht bestritten, dass sie aus dem koranischen Glaubensverständnis gewachsen ist. Nach Meinung vieler Experten wäre es der sufischen Mystik sogar ohne Rekurs auf den Islam und die darin enthaltene Lehre und Lebenspraxis nie gelungen, zu überleben. Sie schöpft ihre Lehre und ihr Verständnis aus dem Glauben an das geoffenbarte Wort Gottes, wie es der Prophet Muhammad an die Gläubigen heranbrachte. 14

In der Türkei heißt es: Scharia: dein ist dein, mein ist mein, ṭarīqa: dein ist dein, mein ist dein, maʿ rifa: es gibt weder mein noch dein. Ebd., S. 149. 13 Lings, Was ist Sufitum, S. 30. 14 Tor, Andrae (1918): Die Person Muhammeds in Lehre und Glauben seiner Gemeinde. Stockholm, S. 82. 12

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Obwohl das Wissen bei vielen Mystikern einen besonderen Rang hat und selten von einem ernst zu nehmenden Mystiker verachtet wird, ist dennoch die Vorstellung, das Wissen sei ein großer Schleier, weit verbreitet. 1 Speziell von Ǧalāl ad-Dīn Rūmī hören wir oft den Aufruf, sich von dem Wissen zu befreien. Gewiss stößt eine solche grundsätzliche Annahme des Sufismus sowohl bei den Theologen als auch bei den Philosophen auf Widerstand. Auch wenn der Mensch nicht in der Lage ist, das Geheimnis des Wesens Gottes und seiner Schöpfung zu erfassen, geht der muslimische Theologe davon aus, dass der Islam eine Religion der Vernunft und Wissenschaft ist. Ein Mystiker würde diesbezüglich einem Theologen nicht widersprechen. Allerdings geht es ihm weniger um den rationalen Anspruch der Religion, sondern vielmehr um den Glaubensweg, auf dem er Gott erfahren möchte. Wie bereits thematisiert, sind šarīʿ a, ṭarīqa und ḥaqīqa die dreifachen Wege eines Mystikers zu Gott. Beim ersten wird das Wissen angesiedelt, das rein formal ist. Dies sind Gebote und Verbote und sonstige religiöse Pflichten, wozu auch das Erlernen der theologischen Grundsätze gehört. Sie werden durch die Erfüllung der Aufgabe sowie die Gelehrsamkeit und Lehrvermittlung erworben. Aber auf der Ebene der ṭarīqa geht es nicht um das schulische Erlernen und die äußerliche Erfüllung der Pflichten, sondern um die spirituellen Erlebnisse und das Innere der Scharia. Der Unterschied zwischen šarīʿ a und ṭarīqa besteht darin, dass die erste durch Lerntätigkeit und rituelle Verrichtung erreicht wird, die zweite aber durch Handeln und die praktische Erfahrung, um das Innere der Scharia zu erlangen. Das bezeichnet der Mystiker als sulūk. Sulūk bedeutet zum einen Reisen, d. h. auf einem Weg entlangziehen, und denjenigen, der den Weg einschlägt, nennt man Sālik. Zum anderen bedeutet sulūk: 1

Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 204.

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Der sufische Pfad: Stationen und Zustände

sich nach guten Sitten verhalten. Insgesamt bedeutet dieser Begriff im Sinne des Sufismus, sich auf den Pfad der guten und asketischen Lebensweise zu begeben. In ʿAzīz ad-Dīn Nasafīs Erläuterungen zu šarīʿ a, ṭarīqa und ḥaqīqa, den dreifachen Wegen eines Mystikers, kommen sowohl die Unterschiede als auch ihre Beziehung und Abhängigkeit von- und zueinander deutlich zum Ausdruck: »(2) Wisse, Gott möge Dich ehren in beiden Welten, die Scharia ist das Wort der Propheten, der mystische Weg ist die Handlung der Propheten und die Wahrheit ist die Schau der Propheten. Die Scharia sind meine Worte, ṭarīqa sind meine Handlungen und ḥaqīqa sind meine Zustände. Der Novize muss das, was die Wissenschaft der Scharia erfordert, lernen und studieren und auch die spirituelle Lebensweise (das Handeln nach der ṭarīqat), was notwendig ist, zur Erfüllung bringen, damit sich ihm das Licht der Wahrheit (ḥaqīqat) zuwendet, entsprechend seinem Versuch und seinem Bemühen. (3) O Derwisch, wer akzeptiert, was sein Prophet ihm gesagt hat, ist Anhänger der Scharia. Wer danach handelt, was sein Prophet getan hat, ist Anhänger des mystischen Weges (ahl-i ṭarīqat). Wer das sieht, was sein Prophet gesehen hat, ist Anhänger der Wahrheit (ahl-i ḥaqīqat). Wer alle drei hat, hat drei. Wer zwei hat, hat zwei. Wer eines hat, hat eines. Wer nichts hat, hat nichts. (4) Oh Derwisch, jene Gruppe, die alle drei innehat, sind die Vollkommenen und sie sind die Anführer sämtlicher Geschöpfe. Die Gruppe, die keines dieser drei innehat, sind die Unvollkommenen (die Mangelhaften). Sie gehören zu den Tieren.« 2

Die Vervollkommnung der Religion steht hier in Beziehung zur Vollstreckung der drei sufischen Zugangsweisen und für den Grad des Menschseins. Davon macht ʿAzīz ad-Dīn Nasafī auch den Grad des Glaubenswegs abhängig. Hūǧwīrī macht vor allem auf einen wesentlichen Unterschied zwischen šarīʿ a und ḥaqīqa aufmerksam, der eine grundsätzliche Differenzierung der theologischen und mystischen Darlegung kennzeichnet. Er weist darauf hin, dass die Wahrheit nicht abrogierbar sei und von Beginn an bis zum Untergang der Welt gleich bleibe, während šarīʿ a abrogierbar sei und verändert werden könne. Damit will Hūǧwīrī vor allem auf die Beständigkeit der Wahrheit und die Unbeständigkeit der Scharia aufmerksam machen sowie darauf, dass die Theologen keinen Unterschied zwischen menschlichen Handlungen und der Gnade Gottes machen.

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Nasafī, Kitāb al-Insān, S. 73 f.

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Daher gibt es für Hūǧwīrī drei Arten des Wissens, die das Religionsgesetz, den mystischen Weg und die Wahrheit widerspiegeln. Es sind das Wissen von Gott, das Wissen mit Gott und das Wissen in Gott. Das Letztere ist die Erkenntnis Gottes, das Zweite jedoch die Erkenntnis von dem spirituellen Pfad, der in der Sprache der muslimischen Mystiker mit dem Begriff »Stationen« (maqāmāt) bezeichnet wird, 3 und das Erste ist schließlich die Erkenntnis des Religionsgesetzes. Daher steht das Religionsgesetz vor dem mystischen Weg als Vorübung für ein größeres Ziel. 4 Hūǧwīrī meint, dass die Verordnungen und Vorschriften die Taten der Diener seien und die ḥaqīqa dagegen die Verinnerlichung Gottes. Daraus entnimmt er, dass šarīʿ a ohne ḥaqīqa unmöglich wäre, denn er vergleicht sie mit dem Verhältnis von Körper, Seele und Geist. Daher stamme šarīʿ a aus dem Bereich der makāsib, nämlich des Erworbenen, des Profits, während ḥaqīqa aus dem Bereich der mawāhib, der Gnade und Schenkungen, sei. 5 Der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Sufismus und der Theologie und Rechtslehre ist also in der ṭarīqa zu sehen. Während für einen Theologen und Rechtsgelehrten die Erfüllung und die Rettung im Jenseits durch die Verrichtung der Pflichten und Befolgung der Gebote und Verbote abgeschlossen ist, ist der Weg zur Heilung, Erlösung bzw. zur wahren tauḥīd für einen Mystiker noch lange nicht erreicht. In der Mystik soll sich der Gläubige erst auf der Wanderung (sulūk) befinden, auf dem mystischen Pfad (ṭarīqa), und wenn der Wanderer bzw. Adept (sālik) den Weg hinter sich gebracht hat, kann er die Wahrheit und damit auch Rettung und Glückseligkeit erlangen. Dies kann er durch Askese, Übung und die unterschiedlichen Stufen sowie Verhaltensregeln, an denen er sich orientieren muss, erreichen. Die innewohnende Grundeigenschaft der Reise ist allerdings das Suchen. Von der Reise selbst gibt es zwei Arten oder, wie Nasafī sagt, zwei Wege. Der erste Weg ist der des heiligen Gesetzes. Dieser ist gleichzusetzen mit Erziehung und Wiederholung. Der zweite Weg ist der, auf dem man dem Pfad asketischer Disziplin folgt und den ḏikr 6 rezitiert. Der Letz-

Der Begriff bezeichnet Stufen, die durch asketische Anstrengungen erreicht werden. Auf diesen Begriff wird im Folgenden noch ausführlicher eingegangen. 4 Hūǧwīrī, Kašf al-maḥǧūb, S. 18 f. 5 Ebd., S. 499. 6 Gottesgedenken. Es handelt sich dabei um religiöse Formeln, die wie Mantras permanent wiederholt werden. 3

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tere ist der Weg der Sufis. 7 Denn der sehnsüchtige Reisende begibt sich auf die Suche nach der Wahrheit. Nur stellt sich hier die Frage, ob diese Suche jemals ein Ende hat oder nicht. Nasafī unterscheidet an dieser Stelle zwei Arten der Suche. Und zwar die Suche nach Gott (ṭalab ilā Allāh) und die Suche in Gott (ṭalab fī Allāh). Grundmotivation der Suche ist das Erreichen von Reife und Perfektion. Erreicht man diese – so der Glaube der Sufis –, versteht man Gottes Attribute und sogar seine Essenz. Weiter erwähnt er, dass auch die Meinung existiere, dass es so etwas wie Reife oder Perfektion gar nicht gäbe und die Suche somit endlos sei und der Reisende bzw. der Suchende ewig weiter wandert. »Thus, it has been said whatever perfection a man has, he is still relatively imperfect.« 8 Doch Nasafī widerspricht dieser Ansicht. All diese asketischen Prozesse und die spirituellen Übungen kommen durch zwei Aspekte zur Erscheinung: die Bewältigung der Stationen (maqāmāt) und die Erlangung der Zustände (aḥwāl). Maqāmāt sind Stationen, in die sich der Sālik eine Zeitlang begibt und in denen er asketische Anstrengungen unternimmt, bis er die guten Eigenschaften verinnerlicht hat. Anhand der beiden Aspekte stellt die mystische Theologie den Grundpfeiler des monotheistischen Glaubens dar, auf dessen Basis die Glaubensüberzeugung in eine Glaubenspraxis verwandelt wird. Maqāmāt kann durch Erwerben und willentliches Handeln erreicht werden, während aḥwāl Zustände sind, die eine seelische Reflexion eines Sufis darstellen, die man nicht willentlich erwerben, sondern von Gott erhalten kann. Maqāmāt sind nacheinander folgende Stationen, die der Wanderer von einer Station zu der anderen erwerben kann, während aḥwāl vorübergehende Zustände sind, die einem Mystiker durch seine Askese und Bemühungen verliehen werden. Abū Naṣr as-Sarrāǧ betrachtet die maqāmāt als eine Art ethischen »Sport« und spirituelle Übung. 9 Ibn Sīnā, einer der bedeutendsten islamischen Philosophen, beschreibt die spezielle Bedeutung der maqāmāt für einen Mystiker, die

Siehe hierzu Arberry, A. J. (1950): Sufism. An account of the mystics of Islam. New York, S. 74–83. 8 Ridgeon, Persian Metaphysics, S. 198. 9 Nach Kiānī-Niǧād, Sair-i ʿ irfān, S. 125. 7

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er in einem dreiteiligen Leben erwerben kann: Befreiung von der körperlichen Welt, das Erlangen des göttlichen Reiches und die Einheit mit dem Licht. Die maqāmāt findet man nach Ibn Sīnā nicht bei den Menschen, die keine Mystiker sind. Nur die Mystiker erlangen sie, so als wären sie im Gewand ihres Körpers, von dem sie sich dann entfernen, sich also entkleiden, hin zur Welt des Heiligkeit gewandert. 10 Um die beiden Zustände zu illustrieren, zieht Ibn Sīnā zwei Figuren aus seinem Werk Ḥayy bin Yaqẓān, Salāmān und Absāl, heran: »Salāmān und Absāl« verkörpern für Ibn Sīnā die körperliche Welt und die Erkenntniswelt: 11 »Salāmān wäre ein Beispiel für Dich und Absāl, den er den Königsweg zu Ende führen lässt, 12 wäre die Stufe der Mystik für Dich. Mit der Befreiung von der körperlichen Welt, die mit seinem Tod vollzogen wird, und mit seiner sittlichen und erkenntnisreichen Lebensart erreicht Absāl das göttliche Reich, die Welt der Erleuchtung, nämlich die ›Einheit mit dem Osten‹.« 13

Über die Zahl der maqāmāt sind sich die Mystiker nicht einig. Es wurden sieben bis dreizehn Stationen genannt. In der Inhaltsbeschreibung sind sie einander jedoch sehr ähnlich. Die wichtigsten Stationen sind: Reue (tauba), Enthaltsamkeit (waraʿ ), Entsagung (zuhd), Armut (faqr), Geduld (ṣabr), Vertrauen (tawakkul) und Zufriedenheit (riḍā). Auch die Zahl der Zustände variieren von zehn bis vierzehn. Als wichtigste Zustände werden folgende genannt: Kontemplation (murāqaba), Nähe (qurb), Liebe (maḥabba / ʿ išq), Furcht (ẖauf), Hoffnung (raǧāʾ ), Sehnsucht (šauq), Vertrautheit / Freundlichkeit (uns), Seelenfrieden (itmʾ inān), Schau (mušāhada) und Gewissheit (yaqīn). All diese Begriffe befinden sich im Koran und sind daher für viele Mystiker nichts anderes als eine Sinnerweiterung der religiösen Frömmigkeit und des Gottesdienstes im Islam. Um die höchste Stufe der Frömmigkeit zu erlangen und sich vollständig Gott zu widmen bzw. sich ihm zu nähern, muss der Mystiker auf dem spirituellen Pfad die Eigenschaften erwerben, die ihn zum wahrhaften Diener Gottes

Sieh Ibn Sīnā, al-Išārāt w, S. 363. Ebd., S. 364. 12 Zur Erzählung von »Salāmān wa Absāl« siehe Ibn Sīnā, al-Išārāt, Bd. III, S. 364 ff. 13 Danach hat, wie es scheint, Ibn Sīnā seine Philosophie »Die illuministische Weisheit« (al-ḥikmat al-mašraqīya) benannt. 10 11

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machen. Der schafiitische Sufigelehrte Abū al-Naǧīb Suhrawardī (gest. 1168) 14 fasst kurz alle Stationen und Zustände zusammen: Reue ist die erste Station, in der der Mystiker aus der Gottesvergessenheit hinaustritt und sich Gott zuwendet. Er zeigt Reue dadurch, dass er Gott gedenkt (ḏikr). Danach tritt er in die zweite Station (waraʿ ) ein, in der er auf alles verzichtet bzw. sich dessen enthält, was angezweifelt werden und im Dunklen liegen kann. Während er seine Triebseele kontrolliert, stärkt er seinen Willen, die Mühe auszuhalten und auf die Bequemlichkeit zu verzichten, so erlangt er die dritte Station, nämlich die Entsagung (zuhd). In dieser Station verzichtet er sogar auf das Erlaubte in der Welt sowie deren Zuneigung und wendet sich von dem Begehren ab. Dann erreicht er die Station der Armut, in der er seinen Besitz vernichtet und sein Herz frei macht von dem, was in seinen Händen fehlt. Mit Aufrichtigkeit und Standhaftigkeit tritt er in die nächste Station (ṣabr) ein. Das sind das Aushalten der Triebseele von Unannehmlichkeiten und der Verzicht auf die Klagen. So erreicht er die Station des Gottvertrauens (tawakkul), indem er sich auf Ihn verlässt. Die letzte Station ist dann die vollkommene Zufriedenheit (riḍā), indem er Freude findet, auch wenn ihm Unangenehmes zustößt. 15 Was die Zustände betrifft, so sind sie die Reflexionen des Herzens, die man als Eingebung der Seele ansehen kann, die wiederum nicht selbst gewählt, sondern verliehen wird als Ergebnis der Askese. 16 Kontemplation (murāqaba) ist ein Zustand, in welchem dem Asketen eine Versenkung und Betrachtung in die Geheimnisse ermöglicht wird. Die Nähe Gottes (qurb) ist die Abwesenheit alles anderen außer Gott. Der Mystiker erfährt diesen Zustand im koranischen Sinne durch seinen Fleiß, sein Einsatzvermögen (himma) und Gedenken Gottes (Sure 2:186). Der Zustand qurb ist dem Zustand der Liebe ähnlich, denn durch die Liebe offenbart sich die Nähe oder umgekehrt, durch die Nähe die Liebe. Das ist der Grund, warum die Mystiker die Identifikation als wichtigstes Merkmal der Vereinigung auf dem mystischen Pfad ansehen, denn jeder, der eine Gruppe liebt oder sich dieser Gruppe ähnlich verhält, gehört zu dieser Gruppe

Siehe dazu Knysh, Islamic Mysticism, S. 192 ff. Suhrawardī, Abū al-Naǧīb Ḍiyā ad-Dīn: Ādāb al-murīdīn. Übertragen v. ʿ Umar bin Muḥammad bin Aḥmad Šīrkān. Hrsg. v. Naǧīb Māyil Herawī (1984). Teheran, S. 74 f. 16 Siehe Ḥalabī, Alī Aṣġar (21998): Mabāni-yi irfān wa aḥwāl-i ārifān. Teheran, ʿ ʿ ʿ S. 198. 14 15

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(in diesem Sinne zitieren Mystiker folgende Sprüche: »man aḥabba qauman fahūwa minhum« 17 bzw. »man tašabbaha biqaumin fahūwa minhum« 18. 19 Liebe (maḥabba / ʿ išq) ist ein Zustand der ständigen Übereinstimmung mit dem Geliebten. Durch Gedenken Gottes und Übereinstimmung mit dem Geliebten eignet sich der Mystiker die Attribute des Geliebten an und begibt sich damit in seine Gegenwart. Wer Gottes Begegnung liebt, liebt Gott und ebenso die Begegnung mit ihm (man aḥabba liqāʾ allāh taʿ ālā aḥabba allāh liqāʾ ahū). 20 Gottesfurcht (ẖauf) ist das Verlangen des Herzens, vor Gottes Strafe zu erzittern und damit Gottes Warnung zu spüren, also mit den Worten des Korans: Furcht vor dem Gericht Gottes (Sure 32:16.). Hoffnung (raǧāʾ ) ist ein Zustand des Fürwahrhaltens des Gottesverprechens und Gottes Barmherzigkeit (Sure 29:5). Ob Gottesfurcht (ẖauf) und Hoffnung (raǧāʾ ) Stationen sind oder Zustände, darüber sind sich die Mystiker nicht einig. Die Mehrheit zählt sie jedoch zu den Zuständen, wobei Annemarie Schimmel meint, psychologisch gesehen würden sie eher zu den Stationen passen, »denn sie gehören zu den langdauernden Grundformen mystischen Lebens in seinem Anfangsstadium, ja auch noch in späteren Tagen.« 21 An dieser Stelle sprechen einige Mystiker auch vom Zustand der Zusammenpressung der Seele (qabḍ) und Ausdehnung (basṭ). Es sind Gefühlsschwankungen und Gefühlsausbrüche. Während bast eine »Ausweitung des enthusiastischen Gefühls bzw. vollkommene Freude« 22 bedeutet, die eine Ausweitung des Bewusstseins hervorbringt, ist qabḍ dagegen »eine Finsternis, die bedrückende Wüste der Einsamkeit, in der der Mystiker Tage, ja Monate seines Lebens verbringen muss.« 23 Mit Ehrfurcht vor Gott tritt er in einen Zustand ein, der mit Liebe und Hoffnung einhergeht. Der Zustand Sehnsucht (šauq) ist das Entzücktsein des Herzens vom Gedenken Gottes sowie die Unruhe und das Verlangen der Begegnung mit dem Geliebten (allāhum-

»Wer ein Volk liebt, ist einer von ihnen« »Wer sich einem Volk ähnlich verhält, ist einer von ihnen« 19 Siehe al-Aflākī al-Ġārifī, Šams ad-Dīn Aḥmad: Manāqib al- arifīn. Hrsg v. Taḥsīn ʿ Yāziǧī (21983). Bd. II. Teheran, S. 444; Ǧām Nāmqī, Aḥmad: Uns at-tāʾ ibīn. Hrsg. v. ʿAlī Fāḍil (1989). Teheran, S. 274. 20 Zitiert nach Ḥalabī, Mabāni-yi irfān, S. 198. ʿ 21 Ebd., S. 76. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 186. 22 Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 188. 23 Ebd., S. 189. 17 18

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ma asʾ aluka an-naẓar ilā waǧhika al-karīm šauqan ilā liqāʾ ik). 24 Nasafī fügt das Dienen als eine wichtige Station hinzu, die er mit der Sehnsucht verknüpft. 25 Mit Vertrautheit / Freundlichkeit (uns) tritt der Sālik in einen Zustand des Friedens und der Stille hin zu Gott ein und spricht Fürbitten für alle Belange. Der Seelenfriede (itmʾ inān) ist ebenso ein Zustand der Ruhe und Hinnahme gegenüber göttlicher Macht. Die Schau (mušāhada) ist die unmittelbare Betrachtung Gottes und die absolute Gewissheit, ohne Ihn zu sehen. Es ist in der koranischen Sprache eine Vereinigung zwischen der sichtbaren und innerlichen Betrachtung (Sure 75:22 f.). Gewissheit (yaqīn) ist der Zustand des Fürwahrhaltens und die Aufhebung jeglichen Zweifels. Sie ist auch die Enthüllung und Zufriedenheit mit dem, was Gott einem beschert hat. Dieser Zustand ist die Basis und Grundlage aller anderen Zustände. Sämtliche Beschreibungen der Stationen und der Zustände von Abū Naǧīb Suhrawardī, einem schafitischen Rechtsgelehrten und Mystiker, der in seiner Zeit Anerkennung von allen Seiten genoss, stehen in Übereinstimmung mit den traditionellen Vorstellungen von tauḥīd und den Glaubensinhalten im Islam. Es sind Begriffe, die fast alle dem Koran und den Überlieferungen entnommen sind, und sie weisen auf den ersten Blick keinen Widerspruch zur kanonischen Rechtgläubigkeit und den Glaubensüberzeugungen auf. Jedoch gibt es einen zentralen Unterschied zwischen dem mystischen Pfad, auf dem ein gläubiger Mystiker die Stationen und Zustände erreicht, und der Scharia, die ein Gläubiger zu bezeugen und zu erfüllen hat. Während die Scharia den Gehorsam der Gläubigen gegenüber göttlichen Gesetzen erwartet, ist ṭarīqa ein freiwilliger Akt. Theologisch gesehen stehen hier Gehorsam und Autonomie einander gegenüber, jedoch nicht in völligem Gegensatz. Scharia ist eine dogmatische Pflichterklärung der göttlichen Gesetze, während ṭarīqa eine spirituelle Deutung der koranischen Frömmigkeit ist. Beide verlangen Gottesdienste und Gotteszuwendung, wobei die Scharia die Gehorsamspflicht voraussetzt und sich mit der formalen ErfülSiehe Ḥalabī, Mabāni-yi ʿ irfān, S. 198. »Know that service without the desire to perform the service is a body without a soul, and a body without a soul has no merit or worth.« Ridgeon, Persian Metaphysics, S. 195.

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lung zufrieden gibt. Ṭarīqa dagegen ist ein weiterer Schritt, in dem der Gläubige sich nicht nur mit der formalen Erfüllung der Pflicht zufrieden geben kann, sondern sich einer freiwilligen Askese unterwirft, um das Innere und den Sinn der Glaubensinhalte und Verordnungen zu erfahren. Der Mystiker bringt diesbezüglich den Begriff irāda ins Spiel. Dieser Begriff steht für die willentliche Absicht und Intention, wodurch sich der Mystiker auf den Weg zu Gott begibt. Ibn Sīnā betrachtet irāda als die erste Stufe der Stationen der Mystiker. Die irāda ist für ihn eine Überzeugung, die entweder durch Beweise und analytisches Verfahren (bi al-yaqīn al-burhānī) entsteht oder durch innere Überzeugung, die er als Glaubensentschluss (al-ʿ aqd al-īmānī) bezeichnet. 26 Ibn Sīnā zufolge ist dieser Wille eine Fähigkeit des Sehens, ein inneres Erfassen der Wahrheit. Der Mystiker lässt sich auf einen willentlichen Akt mit einem inneren Verlangen und der Leidenschaft (šauq) ein. Es ist sozusagen eine innere Bewegung, die aus dem menschlichen Wunsch entspringt, welcher dem animalischen Willen entgegengesetzt ist. Das Konzept irāda ergibt sich aus seiner Unterscheidung von drei Begriffen der Frömmigkeit, durch die der Gläubige nach Gott verlangt: Diese sind die Entsagung (zuhd), das Beten (ʿ ibāda) und die Erkenntnis (maʿ rifa). Der zāhid, nämlich der Asket, ist derjenige, der auf die Genüsse und Habseligkeiten sowie auf die Vergnügungen des weltlichen Lebens verzichtet, während der ʿ ābid ein Gottesdiener ist, der sich der Erfüllung der Gottesdienste verpflichtet, wie z. B. dem Fasten und Beten. Aber der ʿ ārif, also der Mystiker, ist derjenige, der seine Gedanken nur Gott widmet und dessen Herz vom Licht Gottes erfüllt ist. 27 Der Unterschied, den er zwischen der Askese eines Asketen, eines Gottesanbeters und eines Mystikers sieht, liegt an den Erwartungen, die damit verknüpft sind. Jedoch stellt der ʿ ārif im Gegensatz zu ʿ ābid und zāhid keine jenseitigen Erwartungen an Belohnung oder Erwerbungen. Zuhd und ʿ ibāda sind für Nichtmystiker eine Art des Handelns (muʿ āmala). Der Mystiker will nur Gott, wünscht nur ihn und seine Nähe. Dies ist der Grund dafür, dass das Streben des Mystikers seinem Willen entstammt, ohne einen zusätzlichen Wunsch und Gewinn zu erwarten. Er will Gott, und was Er auch sonst immer will und all dies 26 27

Ibn Sinba, Isarat, Bd. III, S. 378 ff. Ebd., S. 369 f.

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Seinetwegen. All seine Askese dient dazu, seinen Willen zu stärken, in dem er nichts anderes will außer Gott. Das Konzept irāda bringt zwar einen wichtigen Aspekt im Verhältnis von šarīʿ und ṭarīqa zutage, macht aber nicht deutlich, ob es hier um eine Autonomie des menschlichen Aktes geht oder um die Erlangung eines höheren Willens, einer Qualität, die die irdischen Absichten und Vorhaben ersetzt. Zuhd und ʿ ibāda sind für Ibn Sīnā Mittel, Werkzeuge, mit denen der Mensch seinen Willen trainiert. Für Ibn Sīnā scheint es so, dass der Wille eine Bewusstseinsebene darstellt, die von Gott und höchster Vollkommenheit erfüllt ist. Der Mystiker braucht harte Askese (riāḍa), um drei Ziele zu erreichen: 1) Die Elimination aller Dinge außer der Wahrheit, 2) die Unterjochung der Triebseele (an-nafs al-ammāra bi-s-sūʿ , Sure 12:53), wodurch sich die Seele auf den Weg zur Erlangung der Gewissheit und des Frieden begibt (an-naf a-mutmaʾ inna), und 3) die Verfeinerung des Inneren für das Bewusstsein. Ibn Sīnā zufolge sei die wahre Askese das, was zu Gott führt, daher sind die Gottesdienste mit dem Denken (al- ʿ ibāda al-mašfūʿ a bi alfikra) verbunden, also mit Besinnung und Bewusstsein. 28 Die Verbindung von Askese und Willen ist eine Sinnerweiterung der Scharia. Während die Scharia an dem Konzept Vorbild und Nachahmung (iǧtiḥād-taqlīd) festhält, ist die mystische Lehre darum bemüht, durch ṭarīqa den Willen zu stärken bzw. den Gläubigen von der Nachahmung zu lösen. In diesem Sinne sagt Qušairī, dass ein murīd, was auch im mystischen Kontext denjenigen Novizen bezeichnet, der einem Meister folgt, nicht frei ist. Irāda wird jedoch als »frei von Gewohnheit« definiert, nämlich frei von Nachahmung, als ein Zustand, in dem der Asket keine Angst hat und keiner Abhängigkeit unterliegt. 29 Abū ʿAlī Daqqāq (gest. ca. 1015–1021), der Meister und Schwiegervater von Qušairī, spricht von bitten, beten und preisen und kategorisiert drei Typen von Gläubigen: 1) die, die die Welt wünschen, 2) die, die das Jenseits wünschen, 3) die, die den Herrn wünschen. 30

28 29 30

Ebd., S. 380. Qušairī, Tarǧuma Risāla, S. 308–316. Siehe Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 232.

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Der sufische Pfad: Stationen und Zustände

Ein ʿ ārif ist daher derjenige, der die Seele poliert so wie jemand, der einen Spiegel von Staub und Rost reinigt, bis dieser glänzt. Auf diese Weise befreit man die Seele von der Welt und wünscht Gott willentlich, weder wegen der Welt noch wegen des Jenseits, sondern nur seinetwegen. Diesen Prozess nennt Ibn Sīnā Erlangung (wuṣūl). Maqāmāt und aḥwāl sind daher die Vorbereitungen für einen Mystiker, der Gottesanwesenheit erlangen will. Der Mystiker muss sich von den Schleiern (hiǧāb) der materiellen Welt befreien. Deshalb erfährt ein Mystiker während seiner Reise auf dem mystischen Pfad die vier Stadien der Reinigung, die einen Entschleierungsprozess darstellen: 1) das Stadium der taẖliyya (Befreiung von Eigenschaften, nämlich von den niedrigen Trieben) 2) das Stadium der taǧliyya (Erscheinung der Eigenschaften, nämlich das Auftauchen der guten Eigenschaften) 3) das Stadium der taḥliyya (Inkarnation, gemeint ist damit die Ausstattung mit den neuen bzw. göttlichen Eigenschaften) 4) das Stadium der fanā und baqā (Entwerden, d. h. in Gott aufgehen und sich durch ihn verewigen) Kurz zusammengefasst lassen sich einige Begriffe als zentrale Gesichtspunkte der mystischen Inhalte erkennen, die auf eine theologische Relevanz und Kontroverse zwischen islamischer Mystik und Theologie verweisen: Askese (zuhd und riyāḍa), Liebe (maḥabba / ʿ išq), Erkenntnis (maʿ rifa), Vollkommenheit (kamāl), Gewissheit (yaqīn) und Erlangung bzw. Einung (wuṣūl). Damit scheinen die epistemologischen und ritualbezogenen praktischen Anhaltspunkte aus der mystischen Lehre in ihrem theologischen Verständnis nicht selten zu einem Diskurs zu verleiten, der die Konfliktgrenze zwischen der orthodoxen und mystischen Theologie ausmacht. Die Konfliktgrenze bzw. die Grenzüberschreitung in den sufischen Lehren bezüglich der Deutung der Glaubensinhalte kann anhand diverser Themen aufgezeigt werden. Hier können wir nur einige davon aufgreifen, die reich an Kontroversen sind und auch zeigen können, wo und in welcher Form die Konfliktgrenzen vorliegen: Mystik und Askese, Mystik und Liebe (damit verbunden auch weitere ästhetische Dimensionen des Sufismus), Mystik und Vollkommenheit, Mystik, Selbst- und Gotteserkenntnis sowie Mystik und die Idee der Einheit.

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Mystik und Askese

Wie wir bereits nach der Definition Ibn Sīnās erfahren haben, ist zuhd ein Akt der Entsagung bzw. des Verzichtes auf die Genüsse und Habseligkeiten bzw. die Vergnügungen des diesseitigen Lebens, was, wie ʿ ibāda Ibn Sīnā zufolge, für einen Nichtmystiker einem Handeln (muʿ āmala) gleichkommt. Dies bedeutet jedoch, dass die Askese für einen Mystiker kein Handeln ist, sondern ein Akt der Anstrengung (himma), womit sich die imaginativen Kräfte der Seele durch Einsatz und Enthaltsamkeit ein Vermögen aneignen, das dem Mystiker den Aufstieg zu Gott, zur Erkenntnis, aber auch die Sammlung und Gottesnähe ermöglicht. Im Grunde steht zuhd nicht im Widerspruch zu den formalen Gottesdiensten, sondern sie ist eine Steigerung, ein Dauergedenken Gottes, um Gott im Alltag nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Das zeigt den Grad der Erwartung der Mystiker von der Religiosität und dem Glauben. Denn die Scharia ist nichts anderes als vorgegebene Normen, denen sich der Gläubige anpassen muss. Sie wird zu einer Tradition und zur Gewohnheit. Man erfüllt sie, um nicht fragen zu müssen, bzw. passt sich den vorgegebenen religiösen Traditionen an. Der mystische Pfad ist eine erweiterte Auslegung der Religiosität, die nach dem eigentlichen und wahren Sinn verlangt, den jede Religion in ihrer Botschaft beinhaltet, und sich gegen bestehende Normen stellt. Zuhd ist sozusagen die Sinnsteigerung der Gottesdienste. Durch Übung und Sammlung sowie durch Dauerpräsenz des Gottesgedenkens erlebt der Mystiker die Gegenwart Gottes in seinem Leben und versucht in das Glaubensmysterium hineinzugreifen. Der Mystiker unterscheidet daher zwischen dem Glauben (īmān) und Islam (islām). Als Muslim ergibt und unterwirft man sich dem Willen Gottes. Das umfasst, unter den allgemeinen Aspekten gesehen, alle Bereiche der Religiosität, die durch äußere Haltung abgedeckt sind, während der Glauben ein Höchstmaß an Gewissheit, Erkenntnis und Verwirklichung erfordert. Durch Stationen (maqā69 https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

Mystik und Askese

māt) begibt sich der Mystiker auf den Glaubensweg und verbindet damit die formale Unterwerfung mit der inneren und willentlichen Hingabe, um Erkenntnis zu erlangen. Zuhd ist daher eine individuelle Sinnerfahrung der Glaubensinhalte. Sie stellt ein Mittel der inneren Auslegung der koranischen Botschaft dar, die in Symbolen und Beispielen der Frömmigkeit dargelegt sind. Das Äußere (ẓāhir) wird durch das Innere (bāṭin) erweitert und in eine Erkenntniswelt verwandelt. Die äußere Erscheinung der Frömmigkeit kann mit den äußeren Organen wahrgenommen werden, sie haben jedoch keinen Zugang zum Inneren der Dinge. Die Erkenntnis Gottes und seine Geheimnisse können daher durch äußere Organe nicht erreicht werden, auch nicht durch Vernunft und Beweise, denn Gottes Wesen ist unbegrenzt, und das Wahrnehmungsvermögen und die Vernunft können das Unbegrenzte nicht erfassen und erkennen. Daher bleibt nur ein Weg, der jenseits der Vernunft und der Beweise liegt. 1 Mustamlī Buẖārī, der der traditionellen Mystik angehört, bringt eine Reihe von Argumenten gegen die äußerlichen und rationalen Wege und meint, der Weg zu Gott und dessen Erkenntnis geschehe durch Gott selbst. Anhand der koranischen Lehre begründet er, dass die Erkenntnis durch das Herz und die Seele geschehe; dies sei eine Belebung des Herzens durch den Glauben (īmān) und der Seele durch den Geist. 2 Die Gottesdienste im Sinne der Scharia drücken die äußere Bewegung des Körpers aus, während die Askese im Verlauf der Stationen, wie Abū Naṣr as-Sarrāǧ äußert, die inneren Organe, nämlich das Herz, in Bewegung setzt. Der Gottesdienst wird dadurch in die Haltung des Herzens integriert. 3 Zuhd ist in diesem Sinne als ein Bestandteil der Frömmigkeit zu sehen und ist nicht die Erkenntnis selbst. Die Theologen und Rechtsgelehrten werfen jedoch den Mystikern vor, durch Askese etwas Erlaubtes zum Verbot gemacht zu haben. Gott habe die weltlichen Genüsse nicht verboten und ebenso wenig die Welt als solche verdammt. Die Entsagung der Welt würde daher nicht dem koranischen Verständnis von der Beziehung zwischen Menschen und der Welt entsprechen. Diese Auffassung wäre insofern richtig, wenn man zuhd als 1 2 3

Mustamlī Buẖārī, Šarḥ at-Taʿ rruf, S. 703, 706. Ebd., S. 708 f. as-Sarrāǧ, Kitāb al-Lumʿ a, S. 43 f. Vgl. ebd., S. 42 f.

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einen absoluten Verzicht und eine radikale Enthaltung verstehen würde. Eine solche Haltung trat nur bei den wenigsten Mystikern zutage. Abgesehen von einigen mystischen Gruppen, wie dem Sufiorden Qādiriyya, die den Gottesdiensten keine ernsthafte Beachtung schenkten, fühlten sich viele Mystiker den gottesdienstlichen Ritualen verpflichtet. Doch bei der Mehrheit der Mystiker ist kaum von dem Verbot des weltlichen Lebens die Rede, sondern von zuhd als der Reinigung des Herzens von den Dingen, die sich Gott bei der Frömmigkeit beigesellen. Es ist im Grunde das Bekenntnis zur Einheit (tauḥīd), dass der Glaube an einen einzigen Gott nichts anderes ist als die Verhinderung jeder Form des Beigesellens. Einer solchen Auffassung liegt in der Tat eine theologische Vorstellung zugrunde, die sich an einer reinen Einheitsvorstellung festhält. Damit geht vor allem ein »Gott-Menschen-Bild« einher, durch das der Grad der Religiosität bzw. der Frömmigkeit weniger von den äußerlichen Faktoren bestimmt wird, sondern vielmehr von der inneren Haltung. Der Mystiker leugnet nicht die Welt, sieht jedoch in ihr einen Widerspruch zur Welt des Göttlichen. Die Liebe zur Welt und das Verlangen nach den diesseitigen Genüssen sind in der Tat die Anbetung einer anderen Wirklichkeit außer Gott. Die Lehre des tauḥīd ist dagegen der Glaube an eine einzige Wahrheit, außer der es keine andere Wahrheit gibt. Zuhd ist daher an erster Stelle keine Entsagung der Welt, wie oft übersetzt wird, sondern das Sich-freiMachen von der Abhängigkeit der Welt. Ein Mystiker trinkt und isst wie jeder anderer Gläubige. Doch er begnügt sich mit dem Notwendigen und löst sich mental von einer Übertreibung der diesseitigen Genüsse. Somit sind Armut (faqr) und Verzicht (tark) wichtige Bestandteile der Frömmigkeit und werden sogar als Lebensideal in sufischen Orden praktiziert. 4 Zugleich ist zuhd eine Übung zur Stärkung der Seele, damit die Seele die Fähigkeit erlangt, der weltlichen Verführung standzuhalten. Wie bereits erwähnt, war die asketische Haltung einiger Gefährten des Propheten und ihrer Nachfolger eine Reaktion auf die materialistische Haltung der herrschenden Kalifate. Bis zur Einführung der Askese als einer Station, die später in die mystische Lehre einging, war zuhd eine kritische Haltung gegen die Weltliebe und DeSiehe Hajatpour, Reza: Armut aus der Sicht des Sufismus, in: Christian Ströbele / Anja Middelbeck-Varwick / Amir Dziri / Mona Tatari (Hrsg. 2016): Armut und Gerechtigkeit. Christliche und islamische Perspektiven. Regensburg, S. 124–135.

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kandenz vieler Mächtiger. Ebenso richtete sich diese Haltung gegen den reinen Formalismus der orthodoxen Auslegung der Glaubensinhalte. Ḥasan al-Baṣrī ist ein Beispiel für diese Haltung. Er sah in der Askese die Wurzel der Religion, deren Abgrund die Begierde ist, wie Blum es zusammenfasst. 5 Seine Abkehr von der Welt war ein Signal dafür, Gottesvergessenheit durch Gottesanwesenheit zu ersetzen. Er spürte die Gefahren, wie Schimmel betont, die eine Gesellschaft bedrohen. Im koranischen Sinne – »Alles, was auf Erden ist, wird vergehen, außer seinem Angesicht« (Sure 28:88) – ermahnte er seine Hörer, »genau nach den im Koran gegebenen Regeln zu leben, damit sie nicht am Gerichtstag beschämt würden«. 6 Darüber hinaus drückt zuhd eine metaphysische Dimension aus. Hierbei geht es um eine Vertiefung des Glaubens und den Rückzug in die Tiefe seiner Seele, die den Weg zu ihrem göttlichen Ursprung finden würde. Dies gilt als eine Art Abkehr von der vergänglichen Welt zum ewigen Leben. Zuhd ist folglich keine vollständige Auflösung des Ichs und kein Aufgehen in das Absolute, sondern eine willentliche Anstrengung und die Bemühung, die Seele zum Verzicht zu zwingen. Nasafī definiert zuhd als Verzicht. Der Mystiker ist jemand, der bereits weltliches Vermögen hat, aber in der Lage wäre, darauf zu verzichten, denn sonst wäre er einfach arm (faqīr), also »derjenige, der sowieso nichts besitzt«. Auch zuhd hat seiner Meinung nach mehrere Stufen. Es gibt Asketiker, die aus Angst vor der Strafe Gottes im Jenseits Verzicht üben. Ferner gibt es jene, die wegen der Liebe zum Paradies Verzicht üben. Dann gibt es welche, die weder wegen der Hölle noch wegen des Paradieses, sondern nur wegen der Liebe zu Gott Verzicht ausüben. Diese Asketen sind diejenigen, in deren Herzen außer Liebe zu Gott keine andere Neigung vorhanden ist. Dennoch sind alle für Nasafī Asketen (zāhid), die sich nur auf verschiedenen Stufen befinden. 7 Abdullāh Anṣārī (gest. 1089) stellt vor allem die spirituelle Dimension von zuhd in den Vordergrund, in der das Verhältnis und der Grad von zuhd zu religiösen Vorschriften und Verboten zum Ausdruck kommen. Der Verzicht ist für Anṣārī generell die vollständige 5 6 7

Siehe Blum, Die Geschichte der Begegnung, S. 505. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 55. Nasafī, Kitāb al-Insān, S. 330 f.

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Beseitigung des Verlangens nach etwas. Dies stellt sozusagen eine vollkommene Hingabe und vollständige Zufriedenheit mit dem dar, was man hat oder bekommt. Darüber hinaus ist zuhd ein Mittel für gewöhnliche Gläubige, sich Gott zu nähern. Sie ist für einen gewöhnlichen Gläubigen nicht einfach, aber für einen Schülermystiker (den Novizen) eine Notwendigkeit, für die erfahrenen Mystiker, die Elite, wiederum etwas Gemeines. Anṣārī unterscheidet drei Grade von zuhd 8: 1) Verzicht auf das Zweifelhafte nach dem Lassen vom Verbotenen, weil man sich vor dem Tadel hütet, die Fehlerhaftigkeit verabscheut und eine Abneigung gegen den Umgang mit den Frevlern hegt. 2) Verzicht auf das Überflüssige und alles, was über die lebensnotwendige und hinreichende Nahrung hinausgeht, in dem man sich das Freiwerden für die Pflege des Nu (des momentanen Zustands) zu eigen macht, die innere Unruhe ausschaltet und sich mit dem Schmuck des Propheten und Rechtschaffenen schmückt. 3) Verzicht durch Verzicht auf drei Dinge: durch Geringschätzung dessen, worauf man verzichtet; dadurch dass man die Zustände für gleichbedeutend hält; dadurch, dass man keine Selbständigkeit mehr sieht, indem man seinen Blick auf das Tal der Wirklichkeit lenkt. 9 Auch Abū Naṣr as-Sarrāǧ definiert zuhd als Verzicht, welcher die Grundlage für spätere Zustände bildet. 10 Die Liebe zum Diesseits wäre der Anfang aller Sünde, dagegen ist der Verzicht auf das Diesseits für ihn der Anfang alles Guten. Deshalb muss der Mystiker auf Vorhandenes verzichten. Verzicht ist aber für ihn keine Kategorie, die sich nur auf die äußere Erscheinung beschränkt, sondern sie ist eine Haltung. Am Anfang verzichtet der Mystiker auf Besitz, d. h. er soll kein Begehren nach Besitz verspüren. Eine weitere Stufe stellt die Gramlich, Richard (1992): Islamische Mystik, sufische Texte aus zehn Jahrhunderten. Stuttgart, S. 96 9 Gemeint ist hiermit, dass der Sālik sich von dem Akt des Verzichtes frei macht, sodass er, ohne auf etwas verzichten zu müssen, seine Seele und Begierden unter Kontrolle hält und sich im Grunde so in der Welt der Wirklichkeit befindet (nämlich in der göttlichen Welt) bzw. so darin versunken ist, dass er keine Anstrengungen mehr unternehmen muss. Gramlich, Islamische Mystik, S. 96. 10 as-Sarrāǧ, Kitāb al-Lumʿ a, S. 72 f. 8

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Wirklichkeit des Besitzes dar. Das ist der Verzicht auf die Lüste der Seele im Diesseits; denn wer in seinem Herzen auf die Lüste verzichtet, der dringt in die Wirklichkeit des Verzichts ein. Ein weiterer Schritt des Verzichtes ist der Verzicht in Form des Freiwerdens, es ist der Verzicht auf den Verzicht selbst, nämlich eine Umkehr des Verzichts, die für ihn Gleichgültigkeit gegenüber der Weltlichkeit bedeutet. Im Sinn Abū Bakr Šiblīs meint er auch, »das Diesseits ist nichts, und auf ein Nichts Verzicht zu leisten ist Gleichgültigkeit«. 11 Über die Enthaltsamkeit vieler Mystiker wurde oftmals berichtet. Über die Anstrengungen und Askese gibt es interessante Anekdoten, die sowohl bei den Mystikern als auch bei dem normalen Volk auf Sympathie stießen. Eine davon ist die Erzählung über die bekannte Mystikerin Rābiʿ a al-ʿAdawiyya, bekannt als Rābiʿ a von Basra, die eine Zeitgenossin von Ḥasan al-Baṣrī war. Durch sie wird die Bedeutung von zuhd für die religiöse Frömmigkeit und nicht zuletzt für die theologisch-weltanschauliche Vorstellung des Sufismus im Islam illustriert. Der bekannte Mystiker Farīd ad-Dīn Aṭṭār (gest. 1220) erzählt, wie Rābiʿ a al-ʿAdawiyya die Lektion lernte, alle weltlichen Wünsche aufzugeben, damit sie Gott ohne Ablenkung dienen könnte: »Einmal hatte sie sieben Tage und Nächte gefastet und aß gar nichts, und nachts hatte sie überhaupt nicht geschlafen, sondern alle Nächte im Gebet zugebracht. Als sie vor Hunger an die äußerste Grenze gekommen war, kam jemand in ihr Haus und brachte ihr eine Schale mit Essen. Rābiʿ a nahm es an und ging, eine Lampe zu holen. Als sie zurückkam, hatte eine Katze die Schale umgeworfen. Sie sagte: Ich will gehen und einen Krug holen und mein Fasten (mit Wasser) brechen. Als sie den Krug brachte, war die Lampe ausgegangen. Sie wollte das Wasser in der Dunkelheit trinken, aber der Krug fiel ihr aus den Händen und brach in Stücke. Rābiʿ a brach in Wehklagen aus und tat einen so tiefen Seufzer, dass es schien, als ob das Haus Feuer fangen würde. Sie sagte: O mein Herr, was ist es, was Du mit mir unglücklichem Menschen machst? Sie hörte eine Stimme, die sprach: Sieh dich vor! Wenn du es wünschst, werde ich dich mit allen Freuden der Welt ausstatten, aber Ich werde die Anteilnahme an Mir aus deinem Herzen nehmen, denn solche Anteilnahme und Freuden dieser Welt können nicht in einem Herzen zusammen wohnen. O Rābiʿ a, du hast einen Wunsch und Ich habe einen Wunsch; Ich kann Meinen Wunsch und deinen Wunsch nicht in einem Herzen vereinigen. Sie sagte: Als ich

11

Ebd., S. 73; Gramlich, Islamische Mystik, S. 53 f.

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diese Warnung hörte, trennte ich mein Herz von den weltlichen Dingen und so schnitt ich meine weltlichen Hoffnungen ab, so dass ich seit dreißig Jahren jedes Gebet, das ich betete, so gebetet habe, als sei es mein letztes; und ich habe mich abgeschnitten von den Geschöpfen, so dass, wenn der Tag anbrach, ich – aus Angst, irgendjemand könnte mich von ihm ablenken – gesagt habe: O Herr, lass mich mit mir selbst beschäftigt sein, damit sie mich nicht von Dir ablenken.« 12

In diesem Sinn ist zuhd keineswegs gegen die rituellen Gottesdienste gerichtet, die von der Scharia bevorzugt werden. Er ist eine Übung, die eine Enthaltsamkeit gegenüber allem bedeutet, was die Menschen von Gott entfernt, seien es Gedanken, Worte oder sonstige Taten. Durch Enthaltsamkeit poliert der Mystiker die Seele, bis »aller Staub und Rost verschwunden ist, und er das urewige göttliche Licht reflektieren kann.« 13 Denn die Triebseele (nafs), wie im Koran angesprochen wird, ist vor den weltlichen Verführungen nicht gefeit. Sie spiegelt quasi das niedrige Ich, das Ego wider. Nafs, die als der schlimmste Feind des Menschen im Koran beschrieben wird (Sure 12:59), kann daher sündigen und sich verführen lassen, kann tadelswerte Taten begehen. Aber keineswegs wird von einer Vernichtung der Seele gesprochen, sondern von der Stärkung und Ausfeilung der Seele von Betrübnissen. Askese ist eine Haltung, die das weltliche Begehren durch Gottesgedenken bzw. Gottbegehren ersetzt. Ziel ist die Umwandlung der Eigenschaften. Die niedrigen Eigenschaften sollen nicht getötet, sondern trainiert werden. 14 Das menschliche Ich muss demnach eine Entwicklung durchlaufen, seine Seele trainieren und so die höhere Stufe möglich machen. Der Koran erkennt drei Arten der nafs an: 1) An-nafs al-ammāra bi-s-sūʾ (Sure 12:53), die zum Übel befehlende Seele. 2) An-nafs al-lawwāma (Sure 75:2), die tadelnde Seele. 3) An-nafs al-muṭmaʾ inna (Sure 89:27), die Seele, die Frieden erlangt hat. Annemarie Schimmel fasst die drei Formen folgendermaßen zusammen:

Smith, Margaret (1997): Rabi’a von Basra »Oh, mein Herr, Du genügst mir«! Heilige Frauen im Islam. Übers. v. Inge von Wedemeyer. Vorwort von Annemarie Schimmel. Cambridge, S. 41 f. 13 Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 371 f. 14 Ebd., S. 168. 12

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»Der koranische Ausdruck an-nafs al-ammāra bi-s-sūʾ (die Seele, die zum Übel aneifert) (Sure 12,53), ist der Ausgangspunkt für den Weg der Läuterung, wie er von den Sufis entwickelt wurde. Das heilige Buch enthält auch den Ausdruck an-nafs al-lawwāma (die tadelnde Seele) (Sure 75,2), die etwa dem ›Gewissen‹ entspricht, das über die Handlung des Menschen wacht und sie kontrolliert. Schließlich, wenn man vollkommene Läuterung erreicht hat, kann die an-nafs al-muṭmaʾ inna werden (Sure 89,27), ›Frieden erlangen‹ und, wie der Koran sagt, wird sie in diesem Zustand zurückgerufen zu ihrem Herrn.« 15

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass zuhd ein zentraler Aspekt der sufischen Mystik ist, der die Mystik von der formalen religiösen Frömmigkeit unterscheidet und dennoch in keiner Weise im Widerspruch zur Scharia steht. Dennoch gibt es einen theologischen Unterschied zwischen sufischer Frömmigkeit und der Scharia-orientierten formalen Glaubenspraxis. Zuhd ist kein formales und äußeres Bekenntnis, sondern eine Haltung. Zuhd ist im Grunde eine Arbeit an sich selbst, eine intensive Frömmigkeit, eine asketische Selbstkonstituierung, 16 die lediglich eine Vorbereitung für die Erwerbung der weiteren Stationen und Zustände ist und zugleich den Mystiker in allen Phasen auf dem mystischen Pfad begleitet.

Ebd., S. 167. Siehe dazu Hajatpour, Reza (2013): Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie. Freiburg, S. 191.

15 16

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Mystik und Liebe

Liebe ist ebenfalls ein Streitpunkt zwischen den Theologen und Mystikern und zugleich das Herzstück der islamischen Mystik, sodass man von einer islamischen Liebesmystik sprechen kann. Zunächst geht es darum, ob der Begriff der Liebe, der in der sufischen Tradition gebraucht wird, mit dem theologischen Kontext in Einklang steht. Von der Liebe wurde nicht nur in der Mystik als ein Zustand gesprochen, sondern sie wurde gesondert in einem theoretischen und thematischen Rahmen behandelt. Als die bekanntesten einschlägigen Werke sind in diesem Zusammenhang die Arbeiten von Ḍū an-nūn al-Miṣrī, Abū Bakr Šiblīs, Aḥmad Ġazālī (gest. 1126), Farīd ad-Dīn Aṭṭār Nišābūrī, Hafiz Schirazi (gest. 1390), Rābiʿ a al-ʿAdawiyya, Sanāʾ ī Ġaznawī (gest. ca 1141), Abū Naṣr Aḥmad Ǧām (gest. ca. 1141), Naǧm ad-Dīn Rāzī (gest. 1256), Abū Saʿ īd Abū al-Ḫair, Rūzbihān Baqlī Šīrāzī (gest. 1209) und von zahlreichen anderen Mystikern zu nennen. Auch unter den Philosophen und Theologen, wie Ibn Sīnā, Ibn Ḥazm (gest. 1064), Abū Ḥāmid al-Ġazālī, Šahāb ad-Dīn Suhrawardī, Mullā Muḥsin Faiḍ Kāšānī (gest. 1680), gab es solche, die sich mit der Liebe befassten. 1 Die Mystiker verwenden vor allem zwei Begriffe für den Zustand der Liebe: 2

Siehe dazu Ibn Hazm: Das Halsband der Taube. Von der Liebe und den Liebenden. Übers. u. hrsg. v. Max Weisweiler (1990). Leipzig; Siehe Ghazzali, Ahmad: Gedanken über die Liebe. Übers. u. erläutert v. Richard Gramlich (1976). Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaften Kladsse /Akademie der Wissenschaften und Literatur Jg. 1976, Nr. 2. Mainz; Ġazālī, Aḥmad: Baḥr al-ḥaqīqa. Hrsg. v. Naṣrullāh Pūrǧawādī (1397q/1977). Teheran; Baqlī Šīrāzī, Rūzbihān: Kitāb ʿ abhar al-ʿ āšiqīn. Hrsg. u. eingel. v. Henry Corbin u. Muḥammad Muʿ īn (31366/1987). Teheran/Paris; Ġazālī, Aḥmad: Sawāniḥ. Hrsg. v. Helmut Ritter (1367/1988). Neuauflage v. Naṣrullāh Pūrǧawādī. Teheran; Naǧm ad-Dīn Rāzī: Risāla ʿ išq wa ʿ aql (miʿ yār aṣ-ṣidq fī miṣdāq al-ʿ išq). Hrsg. v. Taqī Tafaḍḍulī (1966). Teheran. 2 Abgesehen von den beiden Begriffen werden gelegentlich wudd, mawaddah, šauq, 1

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1)

maḥabba, das ist der koranische Begriff für Zuneigung und Mögen, 2) ʿ išq, das ist ein Begriff, den man zwar nicht im Koran findet, der aber oft in der mystischen Literatur und in den Überlieferungen vorkommt. Dennoch weigern sich viele traditionelle Mystiker, den Begriff ʿ išq zu verwenden. Sie bevorzugen den Begriff maḥabba, was daran liegt, dass der Terminus isq missverstanden werden könnte und eher für die sinnliche Liebe verwendet wird. Unter ʿ išq versteht man eine starke, leidenschaftliche Zuneigung. Auch traditionelle Gelehrte wie Abū Ḥāmid al-Ġazālī, der der Liebe besondere Aufmerksamkeit schenkte und sie vor den orthodoxen Gelehrten verteidigte, mieden den Begriff ʿ išq. ʿ Išq ist für al-Ġazālī eine starke Zuneigung, eine Steigerung der maḥabba, die er als Neigung und Verlangen nach etwas definiert. 3 In seinem Werk »Iḥyā al-ʿ ulūm ad-Dīn« führt er dies noch deutlicher aus. Wenn maḥabba (Zuneigung) in Menschen und Tieren zunimmt und intensiver wird, ist es ʿ išq. 4 Die mittelalterlichen Mediziner betrachteten die Liebe als eine Geisteskrankheit. Ibn Sīnā berichtet aus dieser Perpektive, dass die Liebe (ʿ išq) als eine Krankheit bezeichnet werde und eine Versuchung ähnlich wie Melancholie sei (haḏā maraḍun waswāsīun šabīhun bi-lmālīẖūliyā), die der Mensch auf sich zieht (wörtlich: die der Mensch an seine Seele heranzieht), um durch seinen Geist auf die Schönheit einiger Gesichter und Bilder, die ihm entgegenkommen, aufmerksam zu werden. Danach möge ihm seine Begierde helfen oder nicht. 5 Der ägyptische Philosophieprofessor Abd ar-Raḥām Badawī (gest. 2002) meint, dass die Verwendung des Begriffes maḥabba unter den Mystikern zunächst befremdlich war. Nach Massignon, wie Badawī schildert, war der einzige verbreitete Begriff, den man für Gottesliebe anwendete, so sei es von Abd al-Waḥīd bin Zaid (gest.

ġarām, al-hawā, ẖullat oder waǧd als Ausdruck für einen Leibeszustand bzw. Verbundenheit oder Angezogensein verwendet. 3 al-Ġazālī, Abū Ḥāmid: Kīmiyā-i sa ādat. Hrsg. v. Ḥusain Ḫadīw Ǧam (81378/1999). ʿ Bd. II. Teheran, S. 572. 4 al-Ġazālī, Abū Ḥāmid: Iḥyā al- ulūm. Hrsg. v. Ḥusain Ḫadīw Ǧam (1998) Bd. IV. ʿ Teheran, S. 512. Siehe Ḥalabī, Mabāni-yi ʿ irfān, S. 207. 5 Siehe ebd., S. 207; Ibn Sīnā: Qānūn. Sadīd ad-Dīn Kāzarūnī (Hrsg. 1959). Bd. II. Teheran, S. 37.

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793), 6 dem Nachfolger und Schüler Ḥasan al-Baṣrīs, berichtet, der Begriff ʿ išq. Den Begriff maḥabba hingegen hätte man nicht angewendet, da er von den Juden und Christen übernommen und für einen Gläubigen verwendet worden sei, der die höchste Stufe der Gottesliebe erreicht habe. 7 Andere Mystiker wie Ḍū an-nūn al-Miṣrī hätten den Begriff Sehnsucht (šauq) für eine Art Liebesmystik erfunden und der Terminus maḥabba sei von Ǧafar ibn Muḥammad aṣṢādiq (gest. 765) und Rābiʿ a al-ʿAdawiyya verwendet worden, der durch Maʿ rūf Karẖī und Hāriṯ Ibn Asad Muḥasibī (gest. 857) im Sinne von Sehnsucht und ʿ išq verstanden worden sei. Badawī zufolge meint der französische Orientalist und Mystikforscher Louis Massignon, dass Sehnsucht und Liebe im Sinne von ʿ išq Neigungen, der Begriff maḥabba dagegen eine artspezifische Verbindung seien. Badawī kritisiert die Ansicht Massignons, da dieser keine Quelle für seine Behauptung nennt. Hier argumentiert Badawī, dass die Liebe im Sinne von maḥabba im Koran die Beziehung von Gott zu seinem Diener darstellt, daher sei nicht nachvollziehbar, warum Abd al-Waḥīd bin Zaid vor der Verwendung des Begriffes maḥabba Angst haben und dafür einen Begriff favorisieren sollte, der im Koran gar nicht zu finden sei. Er ist der Meinung, dass der Terminus maḥabba naheliegend wäre, da der Begriff ʿ išq für eine übertriebene Liebe stünde. An dieser Stelle ist es sinnvoll, den Begriff ʿ išq in dem mystischen Diskurs etwas näher zu erläutern. Einer der wenigen Mystiker, der sich auf eine begriffliche Analyse der Liebe eingelassen hat, war Šahāb ad-Dīn Abū Naṣr Aḥmad bin al-Ḥasan bin Aḥmad bin Muḥammad Nāmqī Ǧāmi, der vor allem als Aḥmad Ǧām oder auch andapīl bekannt ist. 8 Er war ein traditioneller Religionsmystiker aus dem 12. Jahrhundert und lebte in der Zeit der Seldschukendynastie. In seinem Werk »Uns at-tāʾ ibīn« (Die Gefährten der Reumütigen) 9 Knysh, Islamic Mysticism, S. 16 ff. Badawī, ʿAbd ar-Raḥmān (1953): Šahīdat al-ʿ išq al-ilāhī: Rābiʿ a al-ʿAdawīya. Kairo, S. 75 f.; Badawī, ʿAbd ar-Raḥmān (2014): Rābiʿ a al-ʿAdawīya, Martyr of Divine Love. Translated and introduced by Milena Rampoldi. Berlin, S. 95 f. 8 Siehe dazu Ivanov, Vladimir: A Biography of Shayhk Ahmad-i Jam, in: Journal of the Royal Asiatic Society (JRAS 1917), S. 291–365; Meyer, Fritz: Zur Biographie Aḥmad Ǧāms und zur Quellenkunde von Ǧāmis Nafaḥātu’l uns, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG 97, 1943), S. 47–67. 9 Der ausführliche Titel dieses Buches heißt: »Uns at-tāʾ ibīn wa ṣirāṭ allāh al-mubīn«. Manche haben es auch als »Anīs at-tāʾ ibīn« betitelt. Siehe Ǧām Nāmqī, Aḥmad: Uns at-tāʾ ibīn. Hrsg. v. ʿAlī Fāḍil (1989). Teheran, S. 36. 6 7

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versucht er den Unterschied zwischen den beiden Begriffen, die von Mystikern für Liebe verwendet werden, zu erklären, wobei er deutlich macht, dass man früher den Begriff ʿ išq gemieden habe, weil es sich um einen unklaren und missverständlichen Wortgebrauch handelte, jedoch diesen Begriff in seiner Zeit häufiger verwendete, und daher hält er es für notwendig, den Terminus ʿ išq zu analysieren. Aḥmad Ǧām zufolge ist die Verwendung des Begriffes ʿ išq nicht verboten, wenn man damit meinen würde, dass er ein Verlangen und ein Wunsch nach einer menschlichen Verschmelzung sei, was sich allerdings über den Begriff maḥabba ebenso sagen lässt. 10 Wenn man dagegen einwendet, so fährt Aḥmad Ǧām fort, dass der Begriff ʿ išq nicht im Koran zu finden ist, würde er darauf antworten, dass es durchaus so sein mag, dass er im Koran nicht zu finden ist, dafür aber in vielen gesunden Überlieferungen (aḥādīṯ ṣaḥīḥa). Dennoch sind einige Ṣūfī-Gelehrte der Meinung, der Begriff maḥabba wäre eher zutreffend, weil der Koran ihn benutzt und weil nicht ʿ išq, sondern maḥabba als ein Attribut des Menschen und Gottes genannt wurde (Sure 5:54). In seiner Analyse bezieht sich Aḥmad Ǧām auf viele große Mystiker, die den Begriff ʿ išq verwendet haben. Auch von Seiten des Propheten soll der Begriff ʿ išq in seinen Äußerungen aufgetaucht sein. Nach Aḥmad Ǧām soll der Prophet gesagt haben, Gott hätte gesagt: »Der Diener Gottes würde nicht aufhören, sich mir anzunähern, bis er mich liebt und ich ihn.« 11 Aḥmad Ǧām zieht auch noch weitere Überlieferungen als Beleg für die Legalität des Begriffes ʿ išq heran. Alle diese Überlieferungen, auch wenn wir hier über ihre Korrektheit nicht diskutieren können, geben den Sinngehalt des im Koran gebrauchten Begriffs der Liebe zu Gott wieder. In der koranischen Sure 4:31 sagt der Prophet, nachdem Gott gegenüber seinem Diener Barmherzigkeit zeigt: »Sprich: wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir, so wird Gott euch lieben.« Ebenso ist im Koran in Sure 5:54 zu lesen: »O ihr, die ihr glaubt, wenn einer von Euch von seiner Religion abfällt, so wird Gott (anstelle der Abgefallenen) Leute bringen, die Er liebt und die ihn lieben, die den Gläubigen gegenüber sich umgänglich zeigen, den Ungläubigen gegenüber aber mit Kraft auftreten, die

10 11

Ǧām Nāmqī, Uns at-tāʾ ibīn, S. 209. Ebd., S. 210.

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sich auf dem Weg Gottes einsetzen und die Tadel des Tadelnden nicht fürchten.«

Schließlich geht Aḥmad Ǧām auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ein. Der Begriff ʿ išq leitet sich von ʿ ašaqa ab, der der Name einer Pflanze ist. 12 ʿAšaqa ist im Westen der Name für ein Windengewächs, eine Pflanze also, die die Eigenschaft hat, sich um etwas zu winden. Aḥmad Ǧām meint, an welchen Gegenstand auch immer diese Pflanze herankommt, würde sie zu deren Eigenschaft werden. 13 Aḥmad Ǧām vergleicht die Liebe mit Reichtum, der groß oder gering sein kann. Eine Steigerung der Liebe könnte auch zu einem Zustand des Verrücktseins (maǧnūn) führen. Die Liebe zu Gott beginnt für ihn erst mit dem Willen bzw. der Sehnsucht (irādat). Darunter versteht er eine Art Respekt und Sympathie. Diese Sympathie kann zur Freundschaft (mehr) 14 und aus der Freundschaft kann dann Liebe werden. Es ist auch möglich, dass die Freundschaft nicht sofort zur Liebe wird, sondern erst zu einer Sehnsucht bzw. Leidenschaft (šauq) und dann zur Liebe. Oder es könnte auch sein, dass die Sehnsucht erst zur wilāyat wird und dann zur Liebe. Mit wilāyat ist hier Freundschaft der Heiligen gemeint. Es ist ebenso möglich, dass sich die Freundschaft zu Heiligen zu einer Busenfreundschaft oder Liebe (ẖullat) entwickelt. Gemeint ist damit die Freundschaft Gottes (ẖalīlullāh). All diese Begriffe interagieren miteinander. Welcher Zustand auch immer eintritt, am Ende steht die Liebe. Merkwürdigerweise verbindet Aḥmad Ǧām den Grad der Liebe mit dem Grad der Vernunft, da er der Meinung ist, der Grad der Liebe hinge mit dem Grad der Vernunft zusammen: Wer wenig Vernunft hat, wird schneller ein Liebender. Diese Vorstellung weist auf die Dichotomie von Liebe und Vernunft hin. Wer liebt, hört auf zu denken und ergibt sich dem Willen des Geliebten. Daher argumentiert Aḥmad Ǧām, wenn sich die Vernunft vollendet habe, wird die Liebe eines Mannes weniger, wie dies bei vielen Theologen und Rechtsgelehrten der Fall sein sollte. Daher meint er, dass Liebe und Vernunft nicht adäquat übereinstimmen können. Wenn die Zuneigung die Vernunft nicht in Besitz nimmt, kann Liebe

12 13 14

Ebd., S. 211 f. Ebd., S. 212. mehr bedeutet auch Liebe und Zuneigung.

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nicht zur Liebe werden. 15 Die Liebe tritt erst ein, wenn jenseits der Wissenschaft und der Vernunft etwas anderes eintritt: »Wenn die Zuneigung (maḥabba) die Vernunft überholt und über die Vernunft ansteigt, dann kann man es Liebe nennen.« 16 In allen Zuständen, in denen die Zuneigung die Oberhand ergreift, entsteht die Liebe. Das bedeutet, solange die Vernunft die Oberhand hat, kann sich die Liebe nicht entfalten. Dennoch kann die Liebe in unterschiedlichem Grad, entsprechend jeder Station, erscheinen. Dementsprechend gibt er Beispiele und erzählt Anekdoten, um den unterschiedlichen Erscheinungsformen der Liebe Ausdruck zu verleihen. Auch bei Propheten wie Abraham, der mit dem Beinamen ẖalīl-ullāh als Freund Gottes oder wie der islamische Prophet ḥabībullāh als Liebling und Freund Gottes bezeichnet wurde, ist von der Liebe die Rede. 17 Liebe ist für ihn die Vollkommenheit der Freundschaft und Zuneigung. Somit wird die Liebe zu einem emotionalen Element der Religiosität erhoben und für Ibn ʿArabī der Weg zur Erkenntnis, denn die Liebe sei eine Erfahrung. Sie erfasst das ganze Wesen des Menschen durch eine beständige Zuwendung und so führt sie ihn zur Erkenntnis Gottes, die der reine Einheitsglaube (tauḥīd) ist. 18 Die Essenz der Liebe ist die Erkenntnis (maʿ rifa) und manche Mystiker meinen sogar, dass die Liebe höher steht als die Erkenntnis. Mit dem Zustand der Liebe übersteigt man die Erkenntnis, die einem Mystiker den Zustand des Entwerdens in Gott und des Bleibens in Gott gewährt. Wie Abū al-Ḥasan Warrāq sagt: »Liebe ist ein Feuer im Herzen, das jede Betrübtheit verbrennt.« 19 Wie bereits erwähnt, ist Rābiʿ a al-ʿAdawiyya – eine Frau aus Basra – eine der ersten Mystikerinnen, die eine Liebesmystik im Islam verkörpert. Sie hat nicht geheiratet und gibt wegen der Liebe zu Gott alles auf. Abd ar-Raḥām Badawī hat sich mit Rābiʿ a alʿAdawiyya und ihren Gedanken in einem eigenständigen Werk »Šahīdat al-ʿ išq al-ilāhī: Rābiʿ a al-ʿAdawiyya« auseinandergesetzt. 20 Rābiʿ a al-ʿAdawiyya verwendet für ihre Liebesmystik ebenso Ebd., S. 213. Ebd. 17 Ebd., S. 214 ff. 18 Ibn Arabī, Muḥy ad-Dīn: al-Futūḥāt al-makkiyya. Hrsg. v. Muḥammad Ḫāwǧawī ʿ (2002). Bd. IV. Teheran 2002, S. 451 f. 19 al-Fāẖūrī, Tārīẖ, S. 268. 20 Badawī, ʿAbd ar-Raḥmān (1953): Šahīdat al-ʿ išq al-ilāhī: Rābiʿ a al-ʿAdawīya. Kairo. 15 16

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wenig den Begriff ʿ išq, sondern den Begriff maḥabba. Badawī meint, Rābiʿ a al-ʿAdawiyya war die erste Person, die von der Gottesliebe gesprochen hat und zwar in ihrem eigentlichen Sinne. Vor ihr soll Badawī zufolge der Begriff ẖullat für die Gottesliebe gebraucht worden sein. Unter ẖullat verstand man das Eindringen von etwas in etwas anderes. Wenn ein Mystiker den Zustand der ẖullat erreicht hat, dann hat er sich mit Gott vereint, alle religiösen Pflichten würden entfallen und alles, was für andere Menschen unerlaubt sei, würde ihm erlaubt sein. Der Grund dafür sei die Tatsache, dass er durch ẖullat ein Freund Gottes würde, und alles, was für Gott gilt, würde auch für seinen Freund gelten. Verbote und Gebote in der Welt seien Gottes Besitz und Gott müsse gegenüber seinem Besitz keine Verpflichtung eingehen, was auch für seinen Freund gilt. Die Art und Weise wie die Mystiker die Liebe definieren und mit dieser einen Zustand assoziieren, der über allem steht, scheint für viele Theologen und darunter auch einige Philosophen in einem vollständigen Gegensatz zu Gehorsamkeit, Vernunft und Wissenschaft zu stehen. Der Streit um den Begriff der Liebe zwischen Theologen und Mystikern war damit durch unklare Definitionen und Inhaltsbestimmungen der Liebe gekennzeichnet: Zum einen suggeriert der Begriff der Liebe eine sinnliche Zuneigung und wird auch in vielen mystischen Gedichten neben Wein und Singen verwendet. Zum anderen hebt die Liebe die Vernunft auf und betrachtet sie für die Erlangung der Erkenntnisse als ungültig bzw. unzureichend. Mit dem Begriff der Liebe hatte man eine ästhetische und epistemologische Kontroverse herbeigeführt. Weder durch theologisches Studium noch durch die rationalen Interpretationen können Erkenntnisse möglich sein. Erkennen ist eine unmittelbare Verbindung mit dem Erkannten. Ohne eine Einheit zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten kann keine Erkenntnis entstehen. Durch Liebe schafft man die Einheit. Auch der Widerspruch zur Scharia schien unvermeidlich zu sein. Denn die Scharia kann nur durch Gehorsam und Befolgung realisiert werden. Liebe würde den Gehorsam aufheben und ihn durch völlige Ergebenheit ersetzen. Das wäre in der Tat die wahre Bedeutung des Islam bzw. der innere Sinn des Muslimseins. Die Theologen, die sich den islamischen Normen verpflichtet haben, werfen den Ṣūfīs vor, mit ihrer Liebesmystik den Gehorsam gegenüber Gott aufgehoben und ihn durch etwas Unerlaubtes ersetzt zu haben. Auf diesen Vorwurf geht Abū Ḥāmid al-Ġazālī, der selbst zu den 83 https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

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bedeutendsten islamischen Theologen gezählt wird, in seinem Werk »Das Elixier der Glückseligkeit« (kīmīā-ye saʿ ādat) argumentativ ein und versucht, den Theologen die Substanz der Liebe und den Sinn des Sufismus zu verdeutlichen, auch wenn er es vermeidet, den umstrittenen Begriff ʿ išq für die Liebe zu verwenden. Um die mystische Liebe zu beschreiben, hat es al-Ġazālī natürlich nicht einfach. Als Theologe muss er sorgfältig mit den Begriffen umgehen. Er wendet sich gegen die Dogmatiker und sagt, sie könnten das Wesen der Liebe nicht verstehen. Die Liebe heißt bei ihnen Gehorsam. »Wer aber dies glaubt, der weiß nichts vom Wesen der Religion«. 21 Es ist interessant zu beobachten, dass al-Ġazālī in diesem Zusammenhang vom Wesen der Religion spricht. Al-Ġazālī beabsichtigt hier indirekt von dem wahren Sinn des Glaubens bzw. der Offenbarung zu sprechen, der sich von einer dogmatischen bzw. rechtsorientierten Theologie unterscheidet. Die Ṣūfīs betrachten den inneren Kern der Offenbarung, der sich erst durch Askese und Erkenntnis von der äußeren Schale des Textes enthüllt. Al-Ġazālī stellt weder den Gehorsam noch die Scharia infrage. Für einen traditionellen Rechtsgelehrten sind beide selbstverständlich. Er argumentiert theologisch und fragt nach dem Zusammenhang von Liebe und Gehorsam. Wer jemandem gehorcht, tut es entweder aus Angst oder für Belohnung oder aus Liebe zu ihm. Daher meint al-Ġazālī: Die Gehorsamkeit setzt Liebe voraus. Um das Herz von den schlechten Eigenschaften zu befreien, soll es gereinigt und vom Gottesgedanken erfüllt werden. Solange das Herz noch mit dem Staub und Schmutz der niedrigen Eigenschaften und weltlichen Schleier verunreinigt ist, würde es ihm nicht gelingen, Gott zu erkennen. Dafür muss der Mensch sich selbst von dieser Verschleierung / den irdischen Ketten befreien. »Wer sich selbst erkannt hat, der hat seinen Herrn erkannt«. 22 Diese Reinigung und Erfüllung des Herzens mit Gottesgedenken geht nur durch das Elixier der Liebe vonstatten, wodurch alles andere außer Gott aufgehoben wird. »Die Liebe Gottes ist die höchste Station«. 23 Was aber kann die Liebe bei al-Ġazālī noch bedeuten, wenn er in seiner Biographie als das letzte Ziel des Ṣūfī das völlige Aufgehen al-Ghasāli, Abu Hamid (51993): Das Elixier der Glückseligkeit. Eingel. u. hrsg. v. Annemarie Schimmel u. übertragen v. Helmut Ritter. München, S. 177. 22 Ebd., S. 35. 23 Ebd., S. 177. 21

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(fanā, wörtl.: Entwerden) in Gott nennt? Gott lieben ist nach alĠazālī nicht das Einswerden mit Gott, wie man zunächst vermutet. »Vielmehr sind diejenigen, denen klar geworden ist, dass das Herabziehen Gottes in die menschliche Gestalt ebenso unmöglich ist wie das Einswerden und Einwohnen der Gottheit im Menschen, und denen das Geheimnis in seiner vollen Wahrheit offenbar geworden ist, die Allerwenigsten.« 24

Der Mensch kann jedoch durch die Liebe höchste Vollkommenheit erreichen. »Je vollkommener aber ein Mensch in diesem seinem inneren Wesen ist, desto größer wird auch die Liebe zu ihm sein«. 25 Es gibt nach al-Ġazālī verschiedene Arten von Liebe, über die er ausführlich in einem Kapitel seines Buches »kīmīā-ye saʿ ādat« (»Das Elixier der Glückseligkeit«) schreibt. Die Liebe sei in der Natur der Menschen veranlagt. Die Liebe bestehe also in der Neigung der Natur zu dem, was Lust bereitet. Die Lust an Vollkommenheit treibt die Menschen zur Selbstliebe. Die Liebe zu Wohltaten ist eine weitere Art, die auf Selbstliebe zurückgeht. Die Liebe zur Schönheit, die alĠazālī als echte große Liebe bezeichnet, ist aber eigentlich die Lust selbst, und die Lust wird ja um ihrer selbst willen geliebt. Die Schönheit sei die Ursache aller Liebe; die äußere und innere Schönheit wird durch äußere und innere Sinne wahrgenommen. »Und es ist ein großer Unterschied zwischen dem, der das gemalte Bild an der Wand wegen der Schönheit seiner äußeren Form liebt, und dem, der einen Propheten liebt wegen der Schönheit seiner inneren Gestalt.« 26

Die letzte Stufe der Liebe liege in der verborgenen inneren Verwandtschaft zwischen dem Liebenden und dem Geliebten. Alle geschilderten Ursachen der Liebe fänden in Gott zusammen, da al-Ġazālī zufolge allein Gott der Liebe würdig sei. Sie sei die Nähe Gottes, »vielleicht die Einheit mit Gott«, worüber al-Ġazālī nicht reden will oder kann. 27 Gott soll selbst die Liebe sein, da alles von ihm und durch ihn sei. Ja, er selbst sei alles. Denn nichts außer ihm habe wirkliches

Ebd., S. 207. Ebd., S. 202. 26 Ebd., S. 192. 27 al-Ġazālī will sich damit von der Idee der absoluten Einheit zwischen Mensch und Gott distanzieren. 24 25

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Sein, sondern das Sein aller Dinge sei nur der Abglanz von dem Licht seines Seins. Die Einung mit Gott (ittiḥād) oder sein Einwohnen (ḥulūl) in das menschliche Herz ist der wahre tauḥīd, wenn die Liebe zu Gott zum Wesen des Menschen wird. Dabei geht es nicht um eine Auslöschung des Willens überhaupt, sondern um die Einung des menschlichen Willens mit dem heiligen Willen Gottes und damit die Erlangung der Kontemplation. So meint ʿAzīz ad-Dīn Nasafī, dass die leidenschaftliche Liebe den Reisenden vom Chaos der Vielheit befreit und das, weil Licht »an existence-bestower and fire […] an existenceburner« 28 ist. Ziel ist es, eins mit Gott zu werden, aber das bedeutet nicht, wie Ridgeon interpretiert, dass man seine eigene Existenz aufgibt oder verbrennt, da es für einen Mystiker wie Nasafī keine eigene Existenz gibt, sondern unterschiedliche Stufen des Seins oder wie Mullā Ṣadrā meint, unterschiedliche Seinsarten (naḥw al-wuǧūd). Wir sehen hier die ontologische wie auch die epistemologische Bedeutung der Liebe für die wahre Erkenntnis und das Bekenntnis zur Einheit Gottes. Nicht mit verbaler Bekenntnis und der Erfüllung von Pflichten ist man ein Monotheist (muwaḥḥid), sondern durch die unmittelbare Erfahrung Gottes, die durch Liebe und Hingezogenheit zu ihm ermöglicht werden kann. Ebenso wie zuhd stellte die Liebe eine Haltung der völligen Hinwendung zu Gott dar, denn jegliche Liebe zur Welt kommt einer Ablenkung von der Gottesliebe gleich. In diesem Sinne stellt die Gottesliebe für Rābiʿ a al-ʿAdawiyya eine bedingungslose Haltung gegenüber Gott dar. Ein Liebender verzichtet auf alles, das zwischen ihm und Gott steht, sei es Belohnung oder Angst oder sogar die Hoffnung. Somit demonstriert Rābiʿ a alʿAdawiyya auch den Unterschied zwischen der irdischen und göttlichen Liebe. Vielleicht war diese bedingungslose Liebe der Grund, dass sie sich entschieden hat, lebenslang unverheiratet zu bleiben. Eine solche bedingungslose Liebe, die zwischen weltlicher Erwartung und göttlicher Hingabe trennt, kommt in einer Legende über Rābiʿ a al-ʿAdawiyya zum Ausdruck: »Eines Tage sahen einige Heilige, dass Rābiʿ a Feuer in die eine Hand und Wasser in die andere genommen hatte und schnell rannte. Sie sagten zu ihr: ›Oh, Herrin der nächsten Welt, wohin eilst du, und was soll das bedeuten?‹ Sie erwiderte: ›Ich gehe, um Feuer ans Paradies zu legen und Wasser in die Hölle zu gießen, so dass beide Schleier (d. h. Hindernisse zur wahren Schau Gottes) für die Pilger völlig ver28

Ridgeon, Persian Metaphysics, S. 222.

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schwinden mögen, und ihr Ziel gewiss sei, so dass die Diener Gottes Ihn schauen möchten ohne irgendeinen Gedanken der Hoffnung oder das Motiv der Furcht. Was wäre, wenn die Hoffnung aufs Paradies und die Angst vor der Hölle nicht existierten? Nicht einer würde seinen Herrn anbeten oder ihm gehorchen.‹« 29

Aus diesen Zeilen wird ersichtlich, dass die Liebe eine enge Beziehung zur Einheit Gottes (tauḥīd) darstellt. Der Gehorsam und die Erfüllung der Scharia seien keine wahre Hingabe, die einem einzigen Gott gehöre. In diesem Sinne ist das Liebesbekenntnis in der mystischen Liebe nichts anderes als ein Gottesbekenntnis, das, wie Smith hervorhebt, die Herzen der Menschen erobert hat. Mit Rābiʿ a al-ʿAdawiyya »begann die Liebe, die unauslöschliche Flamme, schwelend in der Asche der zeremoniellen Religion und auch in den dunkelsten Zeitaltern die Fackeln der Mystik entzündend, die muslimischen Herzen zu erobern.« 30 Was Rābiʿ a al-ʿAdawiyya lehrte, war im Grunde eine Absage an die Rechtgläubigkeit der Formalisten. Sie hielt sich an die Vorschriften der Orthodoxie, predigte Gehorsam gegenüber Gott, doch mit ihrer Lehre von der Liebe und der Bedeutung des Paradieses und der Hölle revolutionierte sie das formale Glaubensverständnis von Jenseitsglaube und dem Sinn der Gottesdienste. Auch das Verhältnis zwischen Gott und Menschen wurde dadurch neu interpretiert. Die Idee der Liebe hebt die Reduzierung des religiösen Glaubens auf zeremonielle Riten und die eschatologische Heilserwartung auf, die auf Angst und Belohnung beruhen. »Ich habe Gott nicht gedient aus Furcht vor der Hölle, sonst wäre ich ein erbärmlicher Mietling, noch aus Liebe zum Paradies, denn ich wäre eine schlechte Magd, wenn ich nur des Verdienstes wegen dienen würde, sondern ich habe ihm gedient nur aus der Liebe zu ihm und aus Sehnsucht nach ihm.« 31

Für Rābiʿ a al-ʿAdawiyyas Liebesmystik steht die Schau Gottes im Vordergrund. Diese Schau geht mit einem weiteren Aspekt der Liebesmystik einher. Aus der Liebesmystik geht die ästhetische Dimension der Gottesliebe hervor. Weder wegen des Genusses des Paradieses noch aus Furcht soll Gott gehorcht werden, nur aus Liebe zu ihm Smith, Rabi’a von Basra, S. 123. Ebd., S. 122. 31 Zitiert nach Ritter, Helmut (1978): Das Meer der Seele: Menschen, Welt und Gott in den Geschichten des Fariduddīn Aṭṭār. Leiden, S. 525. 29 30

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und der Begegnung mit ihm. Dieser Liebesakt scheint eine existentielle Bedeutung der Gottesliebe in Erscheinung zu bringen. Der mystische Liebesakt ist nichts anderes als ein endloses Begehren. Denn der Geliebte ist alles, was schön ist, und Schönheit ist der Ausgangspunkt der Vollkommenheit, wie dies Aḥmad Ġazālī (gest. 520/ 1126), der jüngere Bruder von Abū Ḥāmid al-Ġazālī, hervorhebt. 32

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Vgl. Ġazālī, Baḥr al-ḥaqīqa, S. 65.

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Rūzbihān Baqlī Šīrāzī (522–606/1128/1209), 1 ein bedeutender Mystiker und Zeitgenosse von Šahāb ad-Dīn Suhrawardī und Naǧm adDīn Kubrā (gest. 1221), zeigt in seinem Werk »Kitāb abhar al-ʿ āšiqīn« über die Liebesmystik, wie eng Liebe (ʿ išq) und Schönheit (ǧamāl) miteinander verbunden sind. Baqlī Šīrāzī geht davon aus, dass der Auslöser für die Liebe die Schönheit ist. Unter der Schönheit versteht er die aktuelle bzw. vollkommene Schönheit (ǧamāl-i fiʿ lī). 2 Diese Schönheit bringt den Geist des Liebenden (ruḥ-i ʿ āšiq) zum Leuchten. 3 Liebe und Schönheit gewinnen in der mystischen Lehre Rūzbihān Baqlī Šīrāzīs eine transzendentale Bedeutung. Somit können wir auch von einer transzendentalen Ästhetik sprechen, die durch die Liebe erst sinnenhaft wird. Gemeint ist damit, dass die gesamte Liebe in der Welt eine Erscheinung der reinen und absoluten Liebe ist, die unmittelbar der göttlichen Schönheit entsprang. Baqlī Šīrāzī charakterisiert mit dieser Ansicht die menschliche Liebe (alʿ išq al-insānī) als Wegbereiterin der göttlichen Liebe (ʿ išq-i rabbānī). 4 Beispiele für diese Art der Liebe sind für ihn die Liebe zwischen Jusof und Zulaikhā, Lailī und Maǧnūn, Ramīq und Azrā sowie Hind und Bišr. Dies gilt ebenso für die Liebe zum Propheten, auch wenn sie sich auf dessen Erscheinung, Habitus und Charakter bezieht. Er bezeichnt diese Liebe als eine Stufe der menschlichen Liebe. Baqlī Šīrāzī verwendet diese menschliche Liebe als Metapher für die göttliche Liebe. Dafür bringt er eine Reihe von Beispielen aus traditionellen LiebesSiehe dazu Ernst, Carl W. (1996): Ruzbihan Baqli: Mysticism and the Rhetoric of Sainthood in Persian Sufism. New York. 2 Die aktuelle Schönheit steht einer potentiellen Schönheit gegenüber. Mit der Aktualität der Schönheit ist gemeint, dass das Schöne vollkommen ist und keine Steigerung mehr braucht. 3 Vgl. Baqlī Šīrāzī, Kitāb abhar, S. 23. ʿ 4 Ebd., S. 11. 1

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legenden wie das Verhalten von Maǧnūn gegenüber Lailī oder die Liebe von Jakob gegenüber seinem Sohn Josef. Die Liebe zur Schönheit ist folglich eingebettet in eine transzendentale Dimension und dementsprechend wird die äußere Schönheit eines Josefs als Abbild göttlicher Schönheit dargestellt. 5 In der mystischen Liebesästhetik im Islam kann man tatsächlich von der Einheit der sinnfernen, der sinnhaften und der bildhaften Ästhetik sprechen. Zu dieser Ästhetik gehören Tugendhaftigkeit und Sinnlichkeit gleichermaßen, und diese sind die Substanzen der Liebe. Es handelt sich hierbei um eine spezielle Zuwendung (maḥabbat-i ẖāṣṣ), die die Quelle der Liebe ist. Liebe und die spezielle Zuwendung sind Attribute göttlicher Essenz. 6 Die Schönheit ist ebenso ein Attribut der göttlichen Essenz. Demnach sind die Schönheit und die Liebe die Essenzen des Lebens, denn in allem, was existiert, existiert Gott. Daher verkörpert die Welt, Baqlī Šīrāzī zufolge, nur das Schöne. Das Hässliche ist für ihn ein relativer Aspekt. Das Hässliche ist Folge der Gewalt (qahr) bzw. das Spiegelbild der Gewalt. Es ist der Ort des Unerkennbaren (nikrat). Dagegen ist das Gute das Spiegelbild der Gnade und der Ort der Erkenntnis. Da die Welt überhaupt die Gnade Gottes ist, kann sie nur gut sein. Doch das Hässliche ist verbunden mit der Dualität. Wenn das Ich-Du-Verhältnis aufgelöst wird, sodass »Du aus Deinem Dusein herauskommst, so wird der Schleier der Gewalt aufgehoben, und Du kannst die Ewigkeit sehen.« 7 Die mystische Theologie sieht in der Einheit nicht nur das Glaubenbekenntnis, sondern das Bekenntnis zur Schönheit der Existenz. Einheit ist demnach nichts anderes als die Aufhebung der Dualität, und daraus folgt die Einheit des reinen Ichs bzw. des reinen Du, die gleichzeitig reine Schönheit und Liebe repräsentiert. Die Ästhetik der Einheit, die Baqlī Šīrāzī mit der Ästhetik der Liebe verbindet, ist nicht nur eine rein kontemplative Schau (mušāhada), die die Harmonie des Daseins betrachtet. Die Einheit des Seins lässt keine Dualität bzw. Vielfat zu, während die Einheit der Liebe vom Akt des Liebens abhängig ist. Die Liebe fordert Verlangen, Begehren, Leidenschaft, Anziehungskraft, Selbstlosigkeit, die zum Vollzug der Einheit führen. Die Dualität ist folglich die Bedingung der Sehnsucht nach Ein5 6 7

Ebd., S. 28 f. Ebd., S. 21 f. Ebd., S. 37.

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heit und die Einheit ist wiederum die Bedingung der dualistischen Anschauung. Doch hat die Liebe keine Grenzen, denn die Ästhetik des göttlichen Wesens hat, Baqlī Šīrāzī zufolge, kein Ende. Nicht in der Einheit zeigen sich die Anziehungskraft der Liebe und die Schönheit, sondern im Streben nach der Einheit. Die Liebensmystik eines Baqlī Šīrāzīs setzt Distanz voraus. Herrscht Distanz zwischen dem Liebenden und dem Geliebten, so hört die Liebe nicht auf, und das ist der Sinn der Liebe, was ewiges Verlangen und ewige Anziehung (šauq wa inǧiḏāb) erfordert. Mit der Distanz schafft die ästhetische Einheit tatsächlich eine Grenze für die Liebe. Die Liebe kann dann weiter bestehen, solange es einen Liebenden und einen Geliebten gibt. Hört diese Dualität auf, so verschwindet der Liebesakt. Die Dualität darf daher nur als äußere Form der Anschauung, als Bedingung der Sehnsucht nach Einheit betrachtet werden. In der Liebesmystik Baqlī Šīrāzīs bilden Endlosigkeit und Distanz zwei Aspekte der Existenz. Daher ist der Einheitsvollzug nichts anderes als das Vereintsein mit dem Ganzen und Bedingtwerden durch die Liebe. Es geht um den Vollzug mit der eigenen wahren Wirklichkeit, dem eigenen transzendentalen Ich, aber auch um das Bewusstsein der eigenen Grenze, welche die eingeschränkte Individualität auflöst und die unaufhörliche Einheit exemplifiziert. Hier können wir von einer Romantisierung der Idee der Vervollkommnung sprechen, die mit einem graduellen Liebesvollzug aus der Anschauung des eigenen Lebensvollzuges resultiert. Sie kommt nur in einem unaufhörlichen Liebesakt zur Geltung. Die Liebe ist demnach ein Prozess, mit dem die Einheit angestrebt und vollzogen wird. Das Einheitsbekenntnis ist damit kein Lippenbekenntnis. Das Bekennen zur Einheit ist ein Akt des Liebesvollzuges, der die gesamte Existenz durchdringt: Das Verhälttis von Liebenden und Geliebten kann daher nur durch den Akt der Liebe (ʿ išq), als Essenz der Existenz, definiert werden. Denn Gott alleine ist die Liebe, und Gott bezeugen, bedeutet nichts anderes als Gott zu lieben, denn die göttliche Liebe geht allen anderen Arten der Liebe voraus. Das ist quasi die »wahre Liebe« (alʿ išq al-ḥaqīqī). Jede andere Form der Liebe ist metaphorisch (al-ʿ išq al-mağāzī) und in die Einheit der Liebe, nämlich der wahren Liebe, eingbettet. 8 Die theologische Bedeutung des tauḥīd ist somit ein Liebesbekenntnis, wie es in der poetischen Formulierung des Faẖr ad-Dīn 8

Nasr, The Garden of Truth, S. 62 f.

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ʿ Irāqī zugespitzt wurde: Das Einheitbekenntnis lā ilāha illā al-llāh (es gibt keine Gottheit außer Allah) verwandelt der Dichter in lā ilāha illā al-ʿ išq (es gibt keine Gottheit außer Liebe). 9 Tauḥīd ist demnach eine existentielle Erfahrung, die durch die Liebe stattfindet, und zugleich eine ästhtische Erfahrung des Daseins. Denn nach dieser These ist Liebe der eigentliche Beweggrund, warum Gott die Welt erschaffen hat, und wird zur »Wachstumskraft«, »welche hilft, die in jedem Menschen angelegten Möglichkeiten zur Vervollkommung zu entwickeln.« 10 Vor diesem Hintergrund ist daher nachvollziehbar, warum Baqlī Šīrāzī seine Theorie in Stufen aufteilt. Er unterscheidet drei Liebesstufen, die die Stellung des Menschen im Kosmos der Liebe kennzeichnen: menschliche Liebe (al-ʿ išq al-insānī), geistige (spirituelle) Liebe (al-ʿ išq ar-rūḥānī) und göttliche Liebe (al-ʿ išq ar-rabbāni). 11 Die menschliche Liebe öffnet das Fesnter zur spirituellen Liebe, quasi zu einer Art platonischen Liebe, und diese führt zur göttlichen Liebe. Wie der »Weltprozess« bei Whitehead zeigt, 12 können wir den Prozess der Liebe unter dem Aspekt einer Ausschließung und Abgrenzung betrachten. Die neuplatonischen Intellektstufen wandelt Baqlī Šīrāzī in sog. Liebesstadien um. Der Liebesprozess ist in einen Prozess der universalen Ganzheit und Unmittelbarkeit eingebettet. Einheit und Ewigkeit sind Bedingungen der ästhetischen Anschauungen. Universale Ganzheit und Unmittelbarkeit sind die geistigen Formen dieser Anschauung. »Abgrenzung« und »Ausschließung« sind somit deren sinnliche Formen. Jede neue Stufe der Liebe, die der Mensch erreicht, ersetzt die vorherige Stufe. Die spirituelle Liebe bedeutet hier das Ende der irdischen Liebe und wird durch einen neuen Prozess der Liebe ersetzt, der zur göttlichen Liebe führt, die dann das Ende der spirituellen Liebe darstellt, bis die Vollendung der Einheit erreicht wird. In der göttlichen Liebe vereinigen sich der Liebende, der Geliebte und die Liebe. 13 Die menschliche Liebe ist daher nicht nur die Bedingung, sonSchimmel, Mystische Dimensionen, S. 200. Ebd., S. 201 11 Baqlī Šīrāzī, Kitāb abhar, S. 38–44. ʿ 12 Whitehead, Alfred North (1985): Wie entsteht die Religion? Übers. v. Hans Günter Holl. Frankfurt, S. 85 f. 13 Baqlī Šīrāzī, Kitāb ʿ abhar, S. 23. 9

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dern ein Bestandteil des Prozesses. Die Ästhetik der Einheit nimmt im mystischen Denken die Form eines Liebesprozesses ein. Die Vollkommenheit ist folglich nichts anderes als ein Entwicklungsprozess, der zu einer Entschleierung führt. Dieser Entschleierungsprozess markiert den Spagat zwischen den äußersten Grenzen und der inneren Einheit, wodurch die reine Liebe, die reine Vollkommenheit und die reine Schönheit zusammenfallen: »Als der anfangslose Erbauer den Schleier der menschlichen Liebe vor der göttlichen Liebe enthüllt, wird ihre Liebe zu der besonderen Liebe. Wenn der Anfänger [Novize] von den seelischen Krankheiten bezüglich der menschlichen Liebe gereinigt wird, wird er in der göttlichen Liebe beständig. Wenn auf der seelischen Kleidung etwas vom Schmutz der Begierde bleibt, wird er in der Welt der göttlichen Liebe von dem Reittier der Wahrheit [markab-i ḥaqīqat] absteigen. In jedem Fall, wenn die Liebe erscheint [zustande kommt], sei es auf natürliche oder spirituelle Art, ist die Liebe in ihrem Kern lobenswert, denn die natürliche Liebe ist der Weg zur spirituellen Liebe und die spirituelle Liebe der Weg zur göttlichen Liebe. Die Last der göttlichen Liebe kann außer auf diesem Wege [ohne dieses ›Reittier‹, markab, wörtlich: Pferdesattel] nicht getragen werden. Der Wein [rawiq, wörtl.: rein, klar, ein Filter, mit dem der Wein gereinigt wird] der Reinheit der reinen Schönheit des Ewigen [des Anfanglosen] kann außer mit diesen beglückenden Bechern nicht getrunken werden. Diese drei Substanzen [natürliche, spirituelle und göttliche Liebe] sind auf dem Weg des Ursprungs [mʿ adan, der Quelle] immer in Bewegung.« 14

Da die Liebe bei Baqlī Šīrāzī eine Quelle hat, ist sie auf jeder Stufe der Vervollkommnung eine reine Formwandlung. Die Liebe ist ihrem Ursprung nach göttlich und unwandelbar, ihrer Form nach ist sie aber wandelbar. Sie beginnt zwar menschlich, kann aber beständig bleiben, wenn sie verinnerlicht wird, denn sie kann sich nur auf diesem Weg Schritt für Schritt entwickeln, bis die Vollkommenheit der Liebe erscheint. 15 Die Substanz der Liebe besteht aus vier Elementen: Luft, Erde, Feuer und Wasser. Diese vier Elemente spiegeln quasi Elemente der inneren Liebeswendung des Menschen wider: 16 Luft ist der seelische Durst und die Sehnsucht nach der Liebe, Erde die menschliche

Ebd., S. 42. Ebd., S. 40. 16 Baqlī Šīrāzī beschreibt diese vier Elemente nicht explizit. Aus seinen indirekten Äußerungen kann man die von mir dargestellten Funktionen der vier Elemente der Liebe ableiten. 14 15

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Anlage zur Liebe, Feuer die brennende Leidenschaft und das Wasser das ewige Leben in Liebe. Wenn sich all diese Elemente vereinigen, so vollendet sich die Liebe. So entspricht auch dieser Liebesprozess den vier Säulen der Liebe, die Baqlī Šīrāzī als Beginn der inneren Verwandlung des Liebesvollzuges bezeichnet. Der Akt des Liebesvollzuges setzt die »Abgrenzung« des Körperlichen voraus. Die Natur des Geistes (gān, Seele) entfernt sich von der Natur des Körpers (insānī, des Menschlichen). So entsteht die geistige Naturanlage (rūḥānī, geistlich, spirituell), und damit die erste Säule. Hierdurch erlangt sie das Vermögen, sich mit den geistigen Welten zu verbinden. Ihre Verbindung ist die zweite Säule. Dieser Verbindung entspringt die dritte Säule, in der nämlich die geistige Anlage die Liebesform (rang-i ʿ išq, die Farbe der Liebe) der Geliebten aufnimmt, die in dem Liebenden erscheint. Die vierte Säule geht aus der Erscheinung der göttlichen Schönheit hervor, die in zwei Formen auftritt: in der Form des Liebenden und des Geliebten. »Jene zwei Lichter [das Licht der göttlichen Schönheit und das Licht des Auges des Liebenden], die ihrer Form nach zwei Teile und ihrem Kern [mana, Sinn, Bedeutung] nach das absolute Ganze sind, nehmen die Partikularität an [ǧuzwiyyat pazīrad, partikularisiert].« 17

Die Äquivalenz der Einheit und Vielheit, die hier Baqlī Šīrāzī am Beispiel des Verhältnisses des Liebenden zum Geliebten demonstriert, zeichnet sich durch die Liebe ab. Sowohl der Liebende als auch der Geliebte werden durch die Liebe miteinander verbunden und voneinander abhängig gemacht, denn durch die Vergeistlichung der Liebenden werden die Attribute des Geliebten in den Liebenden transformiert. So sind sie zwar zwei Träger einer bestimmten Art der Liebe, bilden aber zugleich eine Einheit der Attribute. Wie bereits geschildert wurde, beginnt die Liebe mit der menschlichen Liebe. Sie wird in der Liebesmystik Baqlī Šīrāzīs einer Erziehung unterzogen (trabīyat al- ʿ išq): 18 Durch sittliche Maßnahmen und Liebespädagogik vollzieht der Mensch seine innere Wandlung, die ihn zur göttlichen Liebe emporsteigen lässt. Die mystischen Zustände (aḥwāl) und Stationen (maqāmāt) dienen der Vervollkommnung des Liebesprozesses. Baqlī Šīrāzī beschreibt diese Liebesstationen und Liebeszustände, die mehr oder weniger in keiner klas17 18

Ebd., S. 39. Ebd., S. 67–71.

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sischen romantischen Liebeserzählung fehlen, mit höchster poetischer Sprachkraft. In seiner Liebesmystik kommt noch ein Sprachspiel, eine ästhetische Seelenaskese in höchster poetischer Form, hinzu: »Die erste Station dieser Stationen ist das Gelingen [Erreichen] der Veranlagung, eine andere die Bewegung des Attributes [die Aufregung der Eigenschaft], eine andere die trügerische Eingebung. Eine andere ist das Augenlicht, das das Prinzip des Gesichtslichtes ist [das Augenlicht des Ursprungs im Auge des Gesichtes], eine andere die Ungeduld [raʿ ūnat, auch Leichtsinn] der Liebe mit der Ungeduld der Anlage. Eine andere ist die willenlose Hoffnung [tarassud, Erwartung, aufmerksame Beobachtung] und das selbstgewählte Warten, jene aus Naivität [Einfachheit des Herzens] und diese aus Herzensfreude. Eine andere ist Zuwendung, eine andere Anschauen aus den Augenwinkeln [lahaẓāt], eine andere Freude [Entzücken], eine andere das Auge, die andere das Sehen. In diesem Zustand [dam, wörtl.: Moment] ist das Erstaunen des Herzens, die Bewunderung der Vernunft, das Sprudeln der Geheimnisse, das Entzücken des Geistes, die Belebung der geistigen Natur, die Zuneigung der körperlichen Natur. Eine andere ist die Schwärmerei der Phantasie [taẖayyul-i ẖīyālast, die Vorstellung der Phantasie], eine andere die Bewahrung der geistigen Phantasie. Die Formen und die göttlichen Buchstaben der Erscheinungswelt [wörtl.: der Welt der Gestalt] sind in diesem Zustandsmoment Unruhe. Die Welt der Ideen ist [aber] in dieser Betrachtung Verbrennung. Eine andere ist Negation. In der Negation ist Verlangen. Im Verlangen ist Aufregung. Eine andere ist die Geschichte [Ereignis] der zwanghaften Erinnerung, eine andere ist das Erstaunen der Heimstätte des Herzens, die Furcht vor der Welt der Scharia, denn sie ist in der Liebe weder einsichtig [sehend], solange man darin stationiert ist, gibt es keinen Mut, denn man weiß nicht aus Naivität, dass sie die Welt des Gewohnheitsbrauchtums, der Pflicht und des Zwanges ist. […] Danach kommt das Streben nach Zuständen [aḥwāl], die Suche nach dem Geliebten, die Furcht vor der Vernichtung, die Suche nach Selbstlosigkeit, das Gespräch in Ruhelosigkeit [gemeint ist das Zwiegespräch, wenn das Herz nicht mehr ruhig ist]. […] Dann tritt die [innere] Reise in den Zuständen ein: Der Beginn dieser Reise ist Vorsorge, Anwesenheit in der Anwesenheit [huḍūr dar huḍūr, Angesicht zu Angesicht], Entflammen im Einvernehmen, Schlaflosigkeit in der Schlaflosigkeit, Rebellion in der Rebellion [āšūb dar āšūb, Tumult im Tumult oder Unruhe in der Unruhe]. […] In Zuständen ist die Nähe der Seele, der Vernunft, der Schmerz des Herzens […]. Nach all diesen Geheimnissen tritt der Trank der Zuneigung, der Schmerz der Sehnsucht, die Leidenschaft der Liebe ein. Der Beginn ist die Schau. Daraus entstehen diese Formen: das Angesprochensein, das Loslösen der Seele […]. Da-

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nach ist die Wirkung der Erlangung. In der Erlangung ist Scheu, Furcht mit Vertrauen, Furcht ohne Vertrauen, Vertrauen ohne Furcht, ursprüngliche Einengung in der ursprünglichen Expansion, das Erlangen der ganzheitlichen Schau [kollektive Schau]. Darin ist die Erkenntnis der Taten, die Erkenntnis der Attribute, die Erkenntnis der Essenz und die Erkenntnis der Charaktere. Darin ist die Vertraulichkeit des Ganzen, die Erweiterung des Ganzen, Sicherheit, Weisheit, Begleitung, […] Einheit. In der Gewalt [Überwältigung] ist das Entwerden, und in der Gnade ist das Bleiben.« 19

Wie wir diesem Zitat entnehmen können, beschreibt Baqlī Šīrāzī den seelischen Gefühlsrausch und das geistige Entzücken, die der Mensch bereits im Zustand der menschlichen Liebe erlebt. Es ist der Moment der Ekstase sowie die innere Wandlung und Selbststeigerung. Baqlī Šīrāzī meint, dass diese Formen noch Tausende von Variationen haben, die alle die Liebe zum Ausdruck bringen. Überhaupt kann sich der Mensch über die Liebespädagogik durch die Leiter der menschlichen Liebe zur göttlichen Liebe hin bewegen. Wie Schimmel zu Recht formuliert, ist die weltliche Liebe im Sinne der Mystik als »pädagogische Erfahrung« anzusehen, denn die Seele wird durch menschliche Liebe erzogen. 20 Somit versteht Baqlī Šīrāzī die »Liebe« als einen Entwurf und Prozess des Lebens, in dem der Mensch die entgegenkommende innere Schau als ästhetische Manifestation des Ganzen betrachten soll. Liebe heißt demnach ein ständiges Sich-Fortbewegen, Sich-Wandeln, Sich-Erneuern, Sich-Vereinigen und SichVervollkommnen. Baqlī Šīrāzī versteht die Manifestation der absoluten Liebe als einen existentiellen Prozess: Um zu leben, muss man lieben können, und um lieben zu können, muss man entzückt sein von der Schönheit des Ganzen. Alles muss zusammenwirken, damit die Existenz als ästhetischer Moment begriffen wird. Die Welt, wie sie uns erscheint, ist der Ort der ästhetischen Wahrnehmung der Manifestation Gottes. Die Schöpfung ist damit ein Zeichen Gottes in ihrer ästhetischen Erscheinung. 21 Um diese ästhetische Ergriffenheit des Daseins wahrzunehmen, ist die menschliche Liebe ein Spiegelbild der ewigen Liebe und Schönheit. Man darf sich allerdings keineswegs bei der weltlichen Liebe aufhalten, ebenso wenig darf sie vernachlässigt werden. 22 19 20 21 22

Ebd., S. 84–87. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 413 f. Siehe dazu Hajatpour, Vom Gottesentwurf, S. 345 ff. Baqlī Šīrāzī, Kitāb ʿ abhar, S. 99 f.

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Der Vollkommene ist der, der die absolute Schönheit (ǧamāl-i muṭlaq) sowohl sinnlich als auch geistig wahrnehmen kann. 23 Der Mystiker ist verliebt in die Schönheit Gottes und sieht in allen Dingen seine Schönheit. Wir können hier behaupten, dass in einer solchen Liebesmystik das Sinnferne und Sinnliche keineswegs zwei unterschiedliche Betrachtungen sind. Die reine Betrachtung und die Betrachtung mit dem menschlichen Zutun gehören zu ein und demselben Prozess. Ohne Sinnliches kann keine sinnferne Kontemplation stattfinden. Am Ende bleiben die reine Schau und Ästhetik, die in die Liebeseinheit münden. Nach dem Prinzip der Einheit der Erkenntnis und des Intellektes verhält sich ebenso die Einheit der Liebe. Gut und Böse, Leben und Tod sowie Glaube und Unglaube haben vor der Liebe keinen Bestand. Weder sind sie der Grund noch der Maßstab der Liebe. Liebe bedeutet das vollkommene und reine Dasein. Liebe ist die Enthüllung. Sie ist die Entschleierung. Sie ist die reine Einheit. Mit der Liebe verliert die Sterblichkeit ihre Bedeutung. Liebe heißt Leben in Unsterblichkeit, wie dies Sanāʾ ī Ġaznawī in unterschiedlicher Form in seinem sehr beeindruckenden Gedichtwerk »Ḥadīqat al-ḥaqīqa wa šarīʿ at aṭ-ṭarīqa« (Walled-Garden – ein eingezäunter Garten / Garten der Wahrheit und die Scharia des mystischen Pfades) zum Ausdruck bringt. 24 Wenn sich die Liebe durch die Seelenpädagogik sichtbar macht und wenn sich der Mensch auf dem Weg zur göttlichen Liebe befindet, so bewegt er sich in die Unendlichkeit. Vor dem Beginn des Weges zur Unendlichkeit gibt es für Baqlī Šīrāzī zwölf Stationen: göttliche Knechtschaft (ʿ ubūdiyya), Gottesfreundschaft (wilāyat), Seelenanalyse (murāqabat), Furcht (ẖauf), Vertrauen (raǧā, Hoffnung), Leidenschaft (waǧd, Gemütserregung, Liebesekstase), Gewissheit (yaqīn), Nähe (qurbat), Enthüllung (mukāšafa), Schau (mušāhada), Zuneigung (muḥabbat) und leidenschaftliches Verlangen (šauq, Sehnsucht). 25 Baqlī Šīrāzī geht ausführlich auf alle diese Stationen ein und meint, dass die höchste Stufe der Liebe die universelle Liebe ist, welche das Ziel des Geistes ist. Wie man aus seiner Schilderung der Stationen herauskristallisieren kann, ist die Vollkommenheit der Liebe nicht das Aufgehen im Vgl. Ǧāmī, Nafaḥāt al-uns, S. 588. Vgl. Sanāʾ ī Ġaznawī, ʿAbulmaǧd Maǧdūd bin Ādam: Ḥadīqat al-ḥaqīqa wa šarīʿ at aṭ-ṭarīqa. Hrsg. v. Mudarris Raḍawī (1368/1989). Teheran, S. 108 ff., 330. 25 Baqlī Šīrāzī, Kitāb ʿ abhar, S. 100. 23 24

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Absoluten bzw. in der Identitätslosigkeit, was manche mit der Bedeutung des Monotheismus gleichsetzen. 26 Es geht um ewiges Begehren. Die ewige Selbstliebe, die dem Ursprung entspringt, fließt in allen Wesen. Die Liebe wird auch bei Aḥmad Ġazālī in ihrer hohen spirituellen und ästhetischen Individualität und in einer überwältigenden Seinshöhe erfahren. Der sprachliche Ausdruck über die Liebe sind Andeutungen, deren Sinngehalt, wie Aḥmad Ġazālī sagt, nicht von den Worten und der Sprache erfasst werden kann. 27 Die Liebe bleibt also in der Sphäre des individuellen Erlebnisses, nicht jedoch in einem real zu vermittelnden Liebesgefühl. Sie ist rein ästhetisch und frei von jeglicher Richtung und Akzidentialität. Aḥmad Ġazālī geht es um das Wesen der Liebe, welche allem Seienden zugrunde liegt und vor der kein Entrinnen möglich ist. Nur in einer bestimmten Stufe ist der menschliche Wille am Werk. In einer höheren Stufe der Liebe wird man nur von der Liebe angezogen. 28 Die Liebe ist eine ästhetische Innenwendung, die bei Aḥmad Ġazālī in einer völligen Losgelöstheit bis hin zu einer »selbstverschuldeten« Selbstvergessenheit erscheint. Losgelöstsein ist eine vollkommene Freiheit, und Selbstvergessenheit ist die völlige Hinwendung der Liebe. Der Geist ist das Reittier der Liebe, auf dem sie ihr Wesen eingraviert hat. Der Geist ist durch die Liebe überwältigt und ob derer Erhabenheit ist der Weg zu seinem Selbst versperrt, obgleich für den Geist der einzige Weg zu sich selbst die Liebe ist. 29 Zwischen dem Geist und der Liebe herrscht eine Art ästhetischer Korrespondenz, die in den Gedanken über Liebe bei Aḥmad Ġazālī immer wieder auftaucht. Die Selbstvergessenheit, von der Aḥmad Ġazālī spricht, ist keineswegs eine Selbst- bzw. Weltverachtung. Sie ist ein Seinszustand der Ergriffenheit und dieser entsteht durch die Übermacht der Liebe. Denn alles Wahrnehmen hängt von der Sonne ab, und wenn die Liebe nicht mehr Eigenschaft des Geistes ist, sondern dessen Wesen, so ist letztlich alles vor der Sonne der Liebe ein Nichtsein: ohne Liebe also kein Leben. In ihr gehen sowohl der Liebende als auch der Geliebte

Vgl. Schimmel, Mystische Dimensionnen, S. 417 f. Siehe Ġazālī, Sawāniḥ, S. 2. Vgl. auch Ghazzali, Gedanken über, S. 7. Im Folgenden verweise ich in dieser Reihenfolge auf die beiden Werke. 28 Ebd., S. 103; ebd., S. 78. 29 Ebd., S. 6; ebd., S. 11 26 27

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auf. Aḥmad Ġazālī nennt diesen Zustand, in dem die Liebe das Wesen des Geistes wird, die zweite Seinsverleihung (iṯbāt), denn in diesem Zustand lebt der Mensch bzw. der Geist nur durch die Liebe. 30 Liebe bedeutet daher, voll und ganz ergriffen zu sein, sich mit sich selbst im vollkommenen Entzücktsein zu befinden. Denn sich von dem Äußeren abwenden, bedeutet für Aḥmad Ġazālī nicht Abschied nehmen von sich selbst, sondern sich im Inneren des Hauses heimisch niederlassen, sich quasi dem Innen zuwenden. Daran erkennt man die vollkommene Liebe, und das ist für ihn die »Vollkommenheit der Vollkommenheit«. 31 Diese Wendung nach Innen ist bei Aḥmad Ġazālī ein ästhetischer Akt. Denn der Ausgangspunkt der Liebe ist die Schönheit. »Dies ist der Anfang der Liebe: Man sät den Samen der Schönheit durch die Hand des Erblickens auf das Erdreich der Klause des Herzens. Wachstum erhält sie durch den warmen Schein des Blickes.« 32

Diese ästhetische Innenwendung verleiht der Liebe ein Ziel. Aḥmad Ġazālī entkräftet folglich seine vorherige Aussage, in der er meinte, dass die Liebe, um Liebe zu sein, gegenüber jeglicher Richtung erhaben ist. Der Zielpunkt der Liebe ist die Schönheit, die dem göttlichen Wesen entspringt. »Im ersten Abschnitt habe ich dargelegt, dass die Liebe, um Liebe zu sein, keinen bestimmten Zielpunkt zu haben braucht. Jetzt aber wisse: ›Gott ist schön und liebt die Schönheit.‹ Nur diese Schönheit kann man lieben oder das, was er liebt. Das ist ein großes Geheimnis. Die Menschen sehen, erkennen und begehren den Gegenstand seines Blickes, die Spur seiner Schönheit und den Gegenstand seiner Liebe. Sonst tun sie nichts.« 33

Diese Schönheit kann jedoch nur im Spiegel der Liebe sichtbar werden, der Liebende ist dabei durch seine Liebe zur Schönheit am Werk. Aḥmad Ġazālī meint, dass dies ein gewaltiges Geheimnis ist und der Schlüssel zu vielen Geheimnissen. 34 Diese Erkenntnis der eigenen Schönheit, wie sich Gramlich in seinem Kommentar dazu äußert, setzt die Erkenntnis des Geliebtseins voraus. 35 Die Liebe wird daher 30 31 32 33 34 35

Ebd., S. 8; ebd., S. 12. Ebd., S. 5 f.; ebd., S. 20. Ebd., S. 39; ebd., S. 34. Ebd., S. 78; ebd., S. 61. Ebd., S. 29; ebd., S. 26. Ebd., S. 26.

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der Schlüssel zu einer ästhetischen Selbstheit und zugleich der Grund der Selbstungebundenheit. »Der Liebende ist demnach der Schönheit des Geliebten näher als der Geliebte, denn der Geliebte nähert sich (erst) durch dessen Vermittlung an seine eigene Schönheit und Anmut. Der Liebende ist demzufolge dem Geliebten mehr Selbst als dessen eigene Selbstheit. Deshalb beneidet er (der Liebende) ihn (den Geliebten) auch um sein Auge […]. Hier, wo der Liebende dem Geliebten mehr ist als dieser selbst, entsteht seltsame Verbundenheit, vorausgesetzt, dass der Liebende keine Bindung an sich selbst hat. Das kann soweit führen, dass der Liebende im festen Glauben ist, der Geliebte sei er selbst.« 36

Die Liebesmystik Aḥmad Ġazālīs, die nichts anderes als eine Liebesästhetik ist, versetzt den Menschen in einen Rausch einer ästhetischen Selbstwendung. Auch wenn er dabei eine selbstlose Seinszugehörigkeit voraussetzt, impliziert diese Selbstwendung ein ästhetisches Selbstbild, dem zufolge der Mensch ein überzeitliches Bild von sich entwirft, das sich über die Grenze seiner Mangelhaftigkeit und Vergänglichkeit hinaus bewegt. Der Mensch will nicht ein begrenztes Selbst sein, sondern eine endlose Selbstheit durch eine unbegrenzte und beständige Erheit erwerben; nämlich das begrenzte Ich durch das endlose Er ersetzen. »Nachdem diese Wirklichkeit klar geworden ist, sind die Heimsuchung und Quälerei (durch den Geliebten) die Eroberung der Festung der Verschlossenheit deines Selbst durch seine Wurfmaschine, damit du er seist.« 37

Daher darf die Idee des Entwerdens (fanā) bei Aḥmad Ġazālī, wie auch bei vielen anderen Mystikern, nicht mit einer Selbstverleugnung gleichgesetzt werden. Aḥmad Ġazālī macht den Lesern seines Werkes klar, dass man nur in der Selbstvergessenheit zum vollen Entzücken der Liebe gelangen kann. Dem körperlichen Dasein kommt daher nur bedingt eine Bedeutung zu, die gegenüber einem höheren geistigen Seinszustand verschwindet. Daher schließt in dem ästhetischen Liebesprozess jede höhere Stufe die vorherige aus. Die vollkommene Liebe ist das Vereintsein des Liebenden mit dem Geliebten. In der Liebe selbst gibt es aber keine Gegensätze oder Unterschiede. Daher verlangt die Liebe bei Aḥmad Ġazālī eine völlige Ent36 37

Ebd., S. 29 f.; ebd., S. 26 f. Ebd., S. 38; ebd., S. 33.

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äußerung des Ichs. Zweiheit ist für ihn eine Eigenschaft des Liebenden und des Geliebten. Daher gehören dazu Trennung und Feindschaft. In einer völligen Entäußerung verlieren das Ich und das Du bzw. Er ihre Gültigkeit, ebenso die Trennung und das Vereintsein. Daher kommt es nicht so sehr darauf an, die Dualität aufzuheben, auch wenn der große Wunsch eines Mystikers darin besteht, eine solche Einheit zu vollziehen. Die unentbehrliche Bedeutung einer solchen Liebesmystik ist die Fortdauer der Liebe in einem andauernden ästhetischen Selbsterleben. Denn wie bereits gesagt, kann sich der Geliebte nur im Spiegel der Liebe des Liebenden seiner Schönheit bewusst werden. »Die Liebe ist ein wundersamer Spiegel sowohl für den Liebenden als auch für den Geliebten, sowohl zur Betrachtung seines Selbst als auch zur Betrachtung des Geliebten als auch zur Betrachtung anderer. Wenn die Eifersucht der Liebe dazu verhilft, auf nichts anderes zu blicken, wird man die vollkommene Schönheit des Geliebten in vollkommener Weise nur im Spiegel der Liebe sehen können, und in gleicher Weise die vollkommene Bedürftigkeit des Liebenden sowie alle Eigenschaften der Unzulänglichkeit und der Vollkommenheit auf beiden Seiten.« 38

In der Liebe selbst kann aber nicht von Streben, Sehnsucht, Verlangen, Begehren, Selbstwerdung, Trennung oder Vereintsein die Rede sein. Dort heben sich alle Gegensätze auf. Daher kann auch kein ästhetisches Erleben stattfinden. »Wenn jemand von sich selbst her in sich zu seinem Selbst findet, dann geht sein Weg zu seinem Selbst von ihm aus und führt über ihn. Wenn der Weg zu seinem Selbst vom Geliebten ausgeht und über diesen führt, kommen diese Entscheide nicht über ihn. Was sollten denn hier die Entscheide von Trennung und Vereintsein? Wie sollten ihn denn Annahme und Abweisung am Rockschoss fassen? Wie sollten denn Beklommenheit und Beglückung, Traurigkeit und Fröhlichkeit um das Gezelt seiner Herrlichkeit kreisen?« 39

Aḥmad Ġazālīs Liebesmystik erweckt ein Gefühl der ästhetischen Freiheit, die sich in einer ständigen Liebesangezogenheit entfaltet. Was aber bei Baqlī Šīrāzīs Liebesästhetik vor allem von Bedeutung erscheint, ist die Idee der Freiheit, die in dieser Form bei keinem anderen islamischen Mystiker zum Ausdruck gebracht wurde. Schon 38 39

Ebd., S. 102; ebd., S. 77 f. Ebd., S. 36; vgl. ebd., S. 32.

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oben haben wir den Verlust des paradiesischen Zustandes mit einem Verlust an Souveränität gleichgesetzt. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass der Mensch durch die sittliche Handlung und eine eigene ethische und pädagogische Initiative diesen verlorenen Zustand wiederzugewinnen versucht. Der mystischen Anschauung steht dieser Gedanke nahe. Die Erlangung der göttlichen Schau ist der Zustand, in dem der Mensch sich von der Sklaverei befreit und die reine Autonomie erlangt. Mystik bedeutet überhaupt einen Befreiungsprozess der Seele, jedoch nicht nur von der materiellen Sklaverei bzw. irdischen Leidenschaft. Vielmehr geht es darum, durch die Weisheit und Liebe eine vollständige Personalität und existentielle Vollendung und so eine existentielle Autonomie zu gewinnen. Die Leidenschaft für eine Souveränität, d. h. die Erlangung voller Personalität ist der Ausgangspunkt der Existenzfülle. Eine Vollperson zu sein ist der Zustand der Perfektion, was ich als ästhetischen Selbstvollzug verstehe. Es geht um das Volldasein. In der Einheit überwindet man nicht die Verschiedenheit, aber auch nicht die Personalität. Die Aufhebung des kleinen Ichs (des begrenzten materiellen Personseins) ist der Beginn des großen bzw. vollen Ichs (des unbegrenzten aktuellen Personseins). Liebende und Geliebte werden Eins. Durch die Liebe, die vom Geliebten ausgelöst und durch den Liebenden angezogen und vollzogen wird, realisieren sie zugleich ihre personelle Freiheit. Dieser Souveränitätszustand ist das mystische Erleben, das Baqlī Šīrāzī schon zu Beginn seines Buches zu seiner mystischen Erfahrung gezählt hat: »Nach der göttlichen Sklaverei erreichte ich die Welt der göttlichen Majestät und ich sah mit dem himmlischen Auge die Schönheit und Herrlichkeit […]. Gott hat mich in seinen Schutz gebracht und zog mir die Kleidung der Sklaverei aus und verlieh mir die Kleidung der Freiheit [hurriyat, Souveränität] und sagte: ›Du wurdest ein Liebender, ein zärtlich Liebender, ein Freund [muhiban, Liebhaber, Liebender], ein leidenschaftlich Begehrender, ein Freier, ein theopathisch Äußernder [šaṭṭāḥan, ungewöhnliche Äußerungen in einem Zustand der geistigen Ekstase], ein Gnostiker, eine begehrte Gestalt, ein Monotheist, ein Aufrichtiger; also erschaffe mit meiner Kunstfertigkeit, schaue mit meiner Schau, höre mit meinen Ohren, spreche mit meiner Sprache […].‹« 40

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Baqlī Šīrāzī, Kitāb ʿ abhar, S. 4.

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Mystik und Musik

Mit der Liebe verbindet sich auch die Musik, begleitet von Tanz, der von einigen mystischen Orden praktiziert wird, und viele Mystiker bemühen sich um deren religiöse Legitimierung. Die Musik ist in erster Linie – wie der Begriff Liebe – ein Streitpunkt zwischen den Mystikern und orthodoxen Gelehrten. Der Theologe Abū Ḥāmid al-Ġazālī (gest. 1111) berichtet in seinem berühmten Standardwerk »Die Wiederbelebung der Religionswissenschaften« (Iḥyā al-ʿ ulūm), dass der Prophet Muhammad keine Abneigung gegenüber Musik empfand und bei manchen Gelegenheiten selbst Musik zu hören pflegte. Das geht vor allem auf einige Berichte zurück, aus denen deutlich wird, dass der Prophet Muhammad beim Empfang in Medina, als seine Frau Aischa Musik aufspielen ließ, sich keineswegs geweigert hatte, sie zu hören. 1 Dennoch wird uns in den Überlieferungen auch eine andere Haltung des Propheten mitgeteilt, insofern als Muhammad sich beim Hören eines Flötenliedes die Finger in die Ohren gesteckt haben soll, um keinen Ton des Satans vernehmen zu müssen. Beide Verhaltensweisen des Propheten stehen somit für zwei Gesichtspunkte, die die Einstellungen der Mystiker und vieler Gelehrter im Laufe der Jahrhunderte in der islamischen Geschichte prägten. Musik kann verboten (ḥarām) sein, wenn sie üble Ausbrüche weckt oder etwas Unartiges intendiert; sie kann erlaubt (ḥalāl) sein, wenn sie zur Veredelung des Seelengefühls führt und wenn sie im sufischen Sinne das Gemüt zur Ekstase verleitet, um alles Äußerliche abzulegen und das Göttliche aufzuspüren. Generell ist die Einstellung der traditionellen Muslime und des islamischen Dogmas zur Musik negativ. Auch in der vorislamischen Zeit am Ort der Offenbarung schien die Musik keine edle Beschäftial-Ġazālī, Abū Ḥāmid: Iḥyā al-ʿ ulūm. Hrsg. v. Ḥusain Ḫadīw Ǧam (1987). Bd. II. Teheran, S. 584 ff., S. 599.

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Mystik und Musik

gung zu sein, während die Poesie und Dichtung in vorislamischer Zeit eher Anerkennung genossen. Dennoch scheint die negative Haltung der Musik gegenüber keine vernichtenden Auswirkungen auf die Praxis gehabt zu haben. Sie war ein Teil der kulturellen Selbstverständlichkeit, auch wenn sie neu legitimiert werden musste. Vor allem als sich der Islam vom Kernland in die Peripherie ausdehnte, wurde er mit den jeweiligen kulturellen Praktiken der Musik und des Tanzens konfrontiert. Im Koran gibt es zwar keinen direkten Hinweis auf das Verbot der Musik, es wird aber nach Versen gesucht, die die Musik für verwerflich erklären. Herangezogen werden u. a. die beiden Verse: »Und unter den Menschen gibt es solche, die leeres Gerede vorziehen, um (Menschen) von Allahs Weg hinweg in die Irre zu führen« (Sure 31:6) und »Wundert ihr euch über diese Verkündigung? Und ihr lacht; aber weinen tut ihr nicht? Und ihr wollt euch amüsieren?« (Sure 53:59–61). Die islamischen Religionsgelehrten weisen auf Praktiken hin, die mit der Musikpraxis gleichgesetzt werden. Begriffe wie »ġinā«, »ṭarab« und »lahw wa laʿ ib« deuten auf spielerische und sinnliche, lustbringende Praktiken hin. Dementsprechend wurde in der Scharia im Großen und Ganzen jegliche musikalische Praxis verboten oder sie wurde als unerwünscht erklärt. Das melodische Rezitieren und akustische Vortragen des Korans wurde jedoch ausgenommen. Auch wenn man im Koran kein Wort über Musik findet, liefert dennoch der Koran selbst, nicht als Text, sondern als Rezitationsform, die theologische Grundlage für eine Kontroverse über die Zulässigkeit der Musik. Gleichsam schlugen sich die orientalischen Erzählungen über Dichtung und Musik in einem Erinnerungskult nieder. 2 Das Hören des Korans im Wohlklang entfaltete sich in einem Rezitationsritual und setzte die mythischen Erzählungen über das Hören der Musik in einem lebendigen Lauschen fort. Bezüglich des sufischen Musikverständnisses ist jedoch der theologische Streitgegenstand nicht die Musik im engen Sinne, wie man sie heute als professionelle Musik kennt. Fast alle sufischen Autoritäten wie die traditionellen Religionsgelehrten distanzieren sich von der Ausübung der Musik. Gegenstand der Kontroverse ist der

Vgl. During, Jean (1988): Musique et extase. L’audition mystique dans la tradition soufie. Paris, S. 12 ff.

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Begriff »samāʿ «, der für die mystische Musik steht. 3 Weder Tanz noch Musik haben eine Begründung im Religionsgesetz oder im mystischen Pfad. Daher sahen sich vor allem die traditionellen Mystiker genötigt, die Vorstellung über Musik und Tanz in der Mystik in das richtige Licht zu rücken. Wörtlich bedeutet samāʿ Hören bzw. Lauschen. Selten gibt es ein mystisches Lehrwerk, in dem das Thema samāʿ nicht behandelt wird. Doch für die Legitimierung bzw. Rechtfertigung der sama mussten sich die Ṣūfī-Gelehrten um plausible Argumente bemühen, um samāʿ -Praktiken aus religiöser Sicht nicht nur gegenüber Religionsgelehrten, sondern auch für ihre eigenen Novizen nachvollziehbar zu machen: zum einen, um sich vor den Angriffen der orthodoxen Theologen zu behaupten, und zum anderen, um Missverständnissen in den eigenen Reihen vorzubeugen, um samāʿ nicht mit profaner Musik zu verwechseln. Dabei musste zunächst der Begriff samāʿ und dessen Inhalt spezifiziert sowie der Versuch unternommen werden, einen Anknüpfungspunkt an die Offenbarung und die prophetische Tradition zu finden. 4 Doch im Koran konnte man weder den Begriff samāʿ noch einen eindeutigen Hinweis auf die spezielle Ausübung des Musikhörens finden. Doch das Nichtvorhandensein des Begriffes ist kein Grund für ein Verbot der samāʿ . Abgesehen davon findet man viele Begriffe im Koran, die von derselben Wurzel wie der Begriff samāʿ abgeleitet sind. Diese Termini drücken allerdings nichts anderes aus als das Hören bzw. Lauschen. Der Koran spricht von Rezitationen, während in Überlieferungen von einem ästhetischen Hören des Korans, und zwar in wohlklingender, akustischer Stimme (istimāʿ alqurʾ ān, samāʿ al-qurʾ ān), die Rede ist, die eine Musikalität nicht ausschließt. Bei samāʿ geht es um das Hören der Rezitationen, der Klänge, Rhythmen und Melodien. Zusammengefasst ist samāʿ das Hören der akustischen Vertonung der Lieder, der Poesie und des Gesangs. Beim Hören der Lieder und Gesänge geht es vor allem auch um die rhythmische Bewegung. Die samāʿ -Praktiken bedeuten für einen Mystiker, wie Fritz Meier treffend formuliert, »das ›Wasser der BeruhiEine religiöse individuelle Audition, allgemein eine Veranstaltung auf der meditativ gesungen und getanzt wird. 4 Vgl. as-Sarrāǧ, Kitāb al-Lum a, S. 338 ff. Siehe ebenso as-Sarrāǧ, The Kitāb al-Luʿ mʿ a, S. 267–300. 3

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gung‹ auf das ›Feuer des Nachdenkens‹, der Schritt der ›Aufweitung‹ nach dem Schritt der ›Zuschnürung‹.« 5 Das ist ein göttliches Zeichen in der sinnlichen Welt, das man mit allen irdischen Sinnen wahrnehmen kann. Mit Liebe und Musik erhebt sich die islamische Mystik zu einer Art »Sphärentheologie«. Gemeint ist damit, dass die Mystik keineswegs daran interessiert war, die traditionelle Theologie aufzuheben, sondern eher auf die verschiedenen Ebenen aufmerksam machen wollte, auf denen sich die Theologie und der Sufismus bewegen. Mit Elementen wie Liebe und samāʿ , Askese und Gottesgedenken, fanā und baqā zeigen islamische Mystiker, dass die Mystik keine Theologie auf der Ebene des Bekenntnisses ist, sondern eine Theologie der spirituellen Erfahrung, der praktischen Umsetzung des Bekenntnisses in Form individueller und freiwilliger Gottessuche. Doch trotz der Bemühungen der Mystiker um die Beseitigung des Missverständnisses über das Musikhören, konnte die Skepsis gegenüber der Musik nicht behoben werden. Abgesehen davon, dass nicht alle Rechtsschulen die Musik für unerlaubt hielten, wie Ibn Ǧauzī berichtet, 6 konnten viele Rechtsgelehrte in ihrer äußerlichen Beurteilung des samāʿ keinen Unterschied zwischen einem profanen (ġinā) und einem spirituellen mystischen Hören von Musik (samāʿ ) erkennen. Die Effekte und Auswirkungen bleiben für sie gleich, wenn dabei gesungen, geklatscht und getanzt wird. Auch wenn es theologisch für viele Gelehrte nicht vertretbar war und bis heute noch umstritten ist, war samāʿ schon längst ein fester Bestandteil der mystischen Lehre und wurde für einige sufische Bruderschaften zur Abendunterhaltung, in der sie unter Begleitung von Instrumenten Gedichtrezitationen vortrugen. 7 Speziell war dies bei den muslimischen Völkern außerhalb der arabischen Länder, wie im Iran, in der Türkei und in Südasien, beliebt. Vor allem zeigt sich aber, dass samāʿ und das Gedenken Gottes (ḏikr) als ein kollektives Erlebnis zum Verhaltenskodex wurde, dessen Regeln nicht zu vernachlässigen sind. 8 Fritz Meier zählt samāʿ und das, was mit sama verbunden wird, Meier, Vom Wesen, S. 18. Ibn al-Ǧauzī, Talbīs iblīs, S. 283 ff., 293 ff. 7 Vgl. Boyk, David: Qawwali and Social Change. http://www.davidboyk.com, aufgerufen am 09. 03. 2013. 8 Geoffroy, Eric (2003): Le soufisme, voie intérieure de l’islam. Paris, S. 222. 5 6

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wie Ekstase (waǧd) und Derwischtanz, zum Freizeiterlebnis. 9 Auch wenn Musik wie Gottesgedenken durch ḏikr für Mystiker als Hilfsmittel gesehen wird, um einen Zustand der Ekstase zu erfahren, steht jedoch fest, dass man mit der samāʿ nicht nur ein spezifisches, rein spirituelles Musikhören verstand, denn sie umfasst auch andere Arten des musikalischen Hörens. Daher bemühten sich viele Mystiker um Aufklärung. Aḥmad Ǧām unterscheidet zwischen verschiedenen samāʿ s, die innere und äußere Dimensionen aufweisen. Für ihn gibt es u. a. samāʿ , die rein von Lust gesteuert ist (samāʿ šahawānī), sie ist aber auch geistlich (samāʿ rūḥānī) oder sie ist samāʿ der Liebenden und Sehnsüchtigen (ʿ āšiqān wa muštāqān). 10 Samāʿ ist für ihn das Hören als solches, mit den Ohren, aber auch durch Sehen, Geist und Liebe, nämlich mit dem ganzen Sein. Das ist die geistliche samāʿ , die eine völlige Hingabe eines Liebenden bedeutet. Schon vor Aḥmad Ǧām hatte sich Abū Naṣr as-Sarrāǧ um die Legitimität und Verteidigung der samāʿ bei den Gelehrten bemüht und versucht, mit den Überlieferungen und Koranauslegungen zu belegen, dass der Prophet keineswegs etwas gegen die schöne Stimme (ṣaut al-ḥasan) hatte, sondern sie sogar empfohlen hat. 11 Er versuchte auch klarzumachen, dass man zwischen erlaubter und unerlaubter samāʿ unterscheiden müsse. Nicht die äußere Form von samāʿ solle beurteilt werden, sondern es hänge von der Absicht ab. Wenn es darum geht, die Gottesaufmerksamkeit, die Erscheinung und die Enthüllung der Wahrheit, die Reinigung des Geistes, die spirituelle Freude des Herzens, die Schau der Schönheit und der Pracht Gottes zu erlangen, ist samāʿ lobenswert. Wenn aber die samāʿ für sinnliches Vergnügen und Befriedigung des Körpers und der Begierde gedacht wird, ist sie seiner Meinung nach unerlaubt. 12 Um die beiden Sphären des Musikhörens nicht zu verwechseln, hatten traditionelle Ṣūfī-Gelehrte wie Abū al-Ḥasan Hūǧwīrī empfohlen, die Novizen davon fernzuhalten, während Mystiker wie Aḥmad Ġazālī sie als notwendiges Hilfsmittel für die Erziehung der Novizen ansahen. 13

Meier, Vom Wesen, S. 18–22. Ǧām Nāmqī, Uns at-tāʾ ibīn, S. 221 ff. 11 as-Sarrāǧ, Kitāb al-Lumʿ a, S. 338 ff. 12 Ebd., S. 342 ff.; Siehe as-Sarrāǧ, The Kitāb al-Lum a, S. 268 f., 272 f. ʿ 13 Meier, Vom Wesen, S. 20. 9

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Mit samāʿ geht, wie bereits erwähnt, auch eine Körperbewegung im Tanzrhythmus einher. Somit umfasst samāʿ Lauschen und Tanzreigen, die von Gesang und Musikinstrumenten begleitet werden. Samāʿ (Lauschen) ist eine Verkörperung des Schönen in Form der Vereinigung von Laut- und Wortmelodie. Samāʿ als Ekstase ist ein Entzücktsein von dem Werden der Harmonie und der Vereinigung. Mit samāʿ will der Mystiker einen Zustand der Ekstase (waǧd) erreichen. Waǧd ist demnach ein emotional-geistiger Effekt, der durch bestimmte Formen der Körperbewegung und durch musikalische Rhythmen die sinnliche Stimmung in eine transzendentale Stimmung überträgt / verwandelt. Somit wird waǧd zu einem Moment der Ekstase, die die sinnliche Vergänglichkeit in einen ekstatischen Zustand (ḥāl) verwandelt und dem Mystiker auf dem mystischen Pfad zum Zustand des Entwerdens in Gott und Vergegenwärtigen mit Gott (fanā und baqā) verhilft. 14 Auch wenn von der Seite der Orthodoxen den Mystikern unterstellt wird, dass »das Geheimnis so erlebter Erregung nicht in vorgetragenen Worten, sondern in der Musik liege«, 15 gelang es ihnen nicht, beweiskräftige Gründe vorzulegen, die die spirituelle Dimension der samāʿ widerlegen. Es handelt sich nur um Spekulationen. Denn wie Meier zu Recht anmerkt, geht aus den zahlreichen Berichten, »in denen die Verse zitiert werden, die die Ekstase verursachten« hervor, dass »dem Mystiker die Musik alleine nicht genügte, sondern die Poesie die richtigen Vorstellungen, die Lesart, mitzugeben hatte.« 16 Damit ist samāʿ nicht nur Klang. Sie ist die Sprache des Herzens. 17 Aus diesem speziellen Gesichtspunkt ist samāʿ eine Sprache des Gefühlsausdruckes und der Verbundenheit, wie sie sich auch in der Rezitation des Korans zeigt. Sie ist eine Erweiterung des Gottesgedenkens in einer anderen Sprache, und sie ist mehr als eine Sprache, nämlich eine Lesart des Fühlens, der Schönheit, der Liebe, sprich ein Gefühl der Unendlichkeit. Abū Ḥāmid al-Ġazālī sieht in der Musik einen Beweis für die Existenz des Herzens, denn Musik erweckt in uns Sehnsüchte nach

Vgl. During, Musique et extase, S. 102 f., 113. Meier, Vom Wesen, S. 18. 16 Ebd. 17 Öztürk, Yaşar Nuri (2002): Rūmī und die islamische Mystik. Düsseldorf, S. 135– 143. 14 15

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einer unbekannten, geheimnisvollen Welt und ermöglicht die Erfahrung jenseits der irdischen Sphären, die den Asketen zu einer höheren bzw. göttlichen Welt führt. Mit waǧd sucht der Mystiker die unmittelbare Wahrnehmung von göttlicher Sphäre, und es kann sein, dass er seine erlebte Erfahrung vergegenwärtigt und neu belebt hat und er Gefühlszustände wie Trauer, Freude, Liebe, Furcht, Tränen, Wutausbrüche und sogar Ohnmachtsanfälle verspürt. 18 So meint Meier, dass das Instrumentieren von samāʿ sich vom normalen, zur Belustigung gepflegten Musikmachen unterscheidet. Die samāʿ -Musik ist ein religiöses Erlebnis, das er als einen Affekt der Geistberührung versteht. 19 Für einen Mystiker ist die Musik ein Ausdruck der Sehnsucht nach göttlicher Nähe und die Überwindung der Trennung, denn sie bedeutet die Harmonie mit dem Göttlichen. Mit den samāʿ -Praktiken versucht der Mystiker, die sinnlichen Sphären mit den metaphysischen zu verbinden. Rezitationspraktiken, Gottesgedenken – laut oder still –, Liebe, Poesie, Musik und die Drehung des Körpers dem Kreislauf des Kosmos entsprechend haben in ihrer künstlerischen Form einen inszenatorisch-sinnlichen Ausdruck. Ihre metaphysische Sphäre soll der Zustand sein, der die sinnliche Erfahrung in seelische und spirituelle Erlebnisse verwandelt und die körperlich-sinnliche Anwesenheit transzendiert. 20 Die transzendentale Wirkung einer solchen Inszenierung erwartet der Mystiker durch das anhaltende Gedenken Gottes (ḏikr), das eine musikalische Form hat und sowohl in Reimen als auch vertont vorgetragen wird. Um samāʿ nicht auf einen Musikbereich zu reduzieren oder zu vermeiden, 21 dass sie nur als Musikkunst verstanden wird, wird es fast immer mit Koranrezitationen und Gedenken Gottes begleitet. Während samāʿ vorwiegend eine kollektive Unternehmung ist, ist ḏikr nicht nur ein kollektives, sondern auch ein individuelles Gedenken. Mit der Form von samāʿ wird ḏikr zur kollektiven Aufgabe und als Unterweisung für Novizen durch die Ṣūfī-Führung oder durch den Scheich ist ḏikr auch individuell. Bei Ǧalāl ad-Dīn Rūmī ist die Musik die Sprache der Liebe wie Meier, Vom Wesen, S. 19. Ebd. 20 al-Faruqi, Lois Ibsen: Dances of the Muslim People. In: Dance scope II (1976/77) I, S. 43–51. 21 During, Jean (1988): Musique et extase. L’audition mystique dans la tradition soufie. Paris, S. 164 ff. 18 19

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die Poesie oder sogar noch mehr. Denn »Gedichte sind Gekritzel bei der Musik, die wir sind«. 22 Eine Sprache der Liebe sucht also Nähe und Harmonie. Sie ist universell, daher kann sie nicht übersetzt werden. Sie ist die Sprache der Liebenden. In Anatolien, wo Rūmī den großen Teil seines Lebens verbrachte, war das Klagen der phrygischen Flöte bekannt. 23 Zahlreiche Verse in Rūmīs Gedichten belegen, dass er in Musik und Tanz spirituelle Elemente sieht, die einem Mystiker bei seiner Suche nach der Erlangung des Geliebten dabei helfen, sich mit ihm zu vereinen. Dies zeigen zum Beispiel die folgenden Verse: »Ganz gleich wo ich bin, immerzu spiele ich die neue Rebab 24. Auf dass die Seele ihr lausche, immerzu schlage ich die Saiten, lasse immer neue Melodien erklingen für eure Herzen. Die Erzählung, die keiner Sprache bedarf, diese Nachricht, von der die Zunge nichts weiß, diese Klänge sind alles für Euch.« 25 »Die Sprache ist eine Rinne für die Bedeutungen, wie aber soll man das Meer durch eine Rinne schleusen. Lass das Meer seine Geschichte erzählen, lass es erzählen und du wirst erfahren, was wirkliches Erzählen bedeutet.« 26 »Rebab ist die Quelle der Liebe, sie ist die Gefährtin der Gottesfreunde. So wie die Wolke die Rosengärten bewässert, so ist auch die Rebab der Mundschenk durstiger Herzen.« 27

Oder in der Erzählung, die uns der deutsche Orientalist und Dichter Friedrich Rückert (gest. 1866) über Rūmīs Haltung zur Musik berichtet: Siehe dazu Rūmī: Die Musik, die wir sind. Ausgewählt u. übers. v. Christoph Engen (2014). Freiamt, S. 14. 23 Phrygien ist die antike Bezeichnung einer Region im westlichen Teil Zentral-Kleinasiens, Konja grenzt an Phrygien Die bedeutendste Stadt Phrygiens war Cordion, die im heutigen Sakarya, dem antiken Sangarios, liegt. In der Spätantike fand die Hauptstadt Kolosian, an dessen christliche Gemeinde der Apostel Paulus einen Brief schrieb, Erwähnung. Siehe dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Phrygien. 24 Rebab (arabisch , DMG rabāb) bezeichnet ein persisches Streichinstrument mit bootsförmigem Schallkörper und meist zwei Saiten. Über Spanien und Sizilien gelangte der Rebab nach Mitteleuropa und regte hier im 13 Jahrhundert die Rebec an, eines der wichtigsten Streichinstrumente des Mittelalters. In arabischen Ländern ist der Rebab noch heute hauptsächlich als Begleitinstrument des Volkssängers gebräuchlich. Siehe dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Rebab. 25 Zitiert nach Öztürk, Rūmī, S. 137. 26 Zitiert nach ebd., S. 139. 27 Zitiert nach ebd., S. 141. 22

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»Rumi: ›Die Musik ist das Knarren der Pforten des Paradieses!‹ Darauf sprach einer von den dumm-dreisten Narren: ›Nicht gefällt mir von Pforten das Knarren!‹ Sprach unser Herr Rūmī darauf: ›Ich höre die Pforten, sie tun sich auf; aber wie die Türen sich tun zu, das hörst Du!‹« 28

Bekannt wurden der mystische Tanz und die Musik im Westen vor allem durch die mystischen Ordensbrüder der Mevleviyya. 29 Sie sind für ihre Drehtänze bekannt. Durch dieses Ritual drücken die Mystiker ihre Hingabe aus und kreisen mit der Bewegung und dem Kreislauf der Existenz mit, um sich mit Gott in einer ekstatischen Vereinigung und Harmonie zu erleben. Die Essenz dieser Drehung ist die Liebe, die einen Mystiker zu Gott zieht. Das ist sozusagen die Urliebe bzw. die Urbeziehung zu Gott, nach der der Mensch sich auf der Erde sehnt. Tanz und Musik sind daher ein Ausdruck der Sehnsucht nach Wiederkehr zu Gott und Verbindung mit Gott. Ganz am Anfang seines Gedichtbands »Mathnawi« beginnt Rūmī mit der Flöte und bringt somit Klang und Seele in eine ontologische Beziehung zueinander. Die Liebe der Rohrflöte ist die Sehnsucht der Seele nach dem Ursprung. Sie wurde von ihrem Röhricht, dem himmlischen Ursprung getrennt. Die Laute der Rohrflöte sind eine Klage von der Trennung, daher bringt sie alle Welt zum Weinen. Denn ihr Klang erinnert das Geschöpf an die urewige Einheit, Harmonie und Vereinigung mit Gott, die Einheit mit dem Ursprung. Das Feuer, das aus der Flöte hervorgeht, ist die Sehnsucht nach der Liebe und Vereinigung. Der Mensch ist die Flöte, weil sie der Menschen Seele ist und sie sehnt sich nach der Wurzel. Sie klagt und sie dreht sich um einen Kreis, nämlich um den Kreis des Seins. Musik entsteht daher aus dem Hauch Gottes, das Atmen, das einen Rhythmus hat. Musik ist der Ausdruck des Vollzuges einer Vereinigung mit der schöpferischen Essenz. Rūmī bringt den Zustand der menschlichen Strukturen mit einem Gleichnis zur Musik in folgendem Vers zum Ausdruck:

Zitiert nach Schimmel, Annemarie (81995): Rūmī. Ich bin Wind und du bist Feuer. Leben und Werk des großen Mystikers. München, S. 203. 29 Siehe dazu Öztürk, Yaşar Nuri (1988): The Eye of the Heart. An Introduction to Sufism and the major Tariqats of Anatolia and the Balkans. Istanbul. 28

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»Gleich der Harfe lehne ich an der Brust ihm, und mein Klagen kommt von dem Finger des Freundes.« 30

Denn, wie Schimmel die Verse interpretiert, sind seine Adern gleich Saiten auf den gebrechlichen Körper gespannt, und manchmal wird der Schlag zu stark für das schwache Instrument: 31 »Du, in dessen Gnadenschoße ich wie eine Harfe klinge – Schlage das Plektrum etwas leichter, dass die Saite nicht zerspringe.« 32

Musik und Tanz werden mit der Bewegung der Welt gleichgesetzt, jede Bewegung gilt als Reigentanz, denn alle Geschöpfe bewegen sich in der Form des Tanzens und nach einer Melodie. Durch Tanz entsteht etwas Besonderes und im Grunde tanzen alle Geschöpfe. Die Biene tanzt, um Honig herzustellen, das Herz tanzt wegen der Liebe. Tanzen und Melodie sind Ausdruck eines Angezogenseins von der Schönheit, die durch Liebe verursacht wird. Liebe ist ein seelisches Faktum: als Anziehungstrieb bzw. Anziehungskraft und als die Kraft der Bewegung zur höchsten Seinsstufe. Jedes Atom hat diese Kraft. 33 Liebe ist aber nicht beschreibbar: weil das, was etwas bezeichnen sollte, subtiler sein soll. Was ist subtiler als die Liebe? Nichts. »Die Feder eilt im Schreiben, kaum zu halten – Kommt sie zur Liebe, muss sie gleich zerspalten. Wie ich die Liebe auch erklären will – Komme ich zur Liebe, schweig’ ich schamvoll still. Erklärung mag erleuchten noch so sehr, Doch Liebe ohne Zungen leuchtet mehr.« 34

Der Grund, warum die Liebe nicht beschreibbar ist, liegt in ihren vielen Schwingungen. »Um der Liebenden willen dreht sich der Himmel, Um der Liebenden willen kreist jene Kuppel, Nicht um des Bäckers oder des Schmiedes willen, Um Apotheker nicht oder den Zimmermann […].« 35

Die Liebe ist Ursache und Ziel der Schöpfung. Durch die Liebe verwandelt sich das Wesen des Menschen. Muḥammad Taqī Ǧaʿ farī 30 31 32 33 34 35

Zitiert nach Schimmel, Rūmī, S. 206. Zitiert nach ebd. Zitiert nach ebd., S. 207. Zitiert nach ebd., S. 172. Zitiert nach ebd., S. 173. Zitiert nach ebd., S. 174.

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(gest. 1998), ein iranischer Philosoph, schrieb, dass die Musik je nach kultureller Gegebenheit unterschiedlich zu sein scheint. Er meint aber, es sei nicht die Musik selbst, die unterschiedlich ist, sondern ihre Ausdrucksweise. Auch die psychischen oder seelischen Aspekte können unterschiedlich wahrgenommen werden. Aber das Wesen der Musik hat keine reale Form, sondern eine innere Übereinstimmung mit dem Wesen des Menschen. Der Mensch drückt durch die Musik eine innere Harmonie aus, was bei Rūmī ein Vermögen ist, das von den imaginativen Kräften der Seele wahrgenommen werden kann. 36 Die kreisförmigen Drehungen des Tanzes bedeuten den Kreislauf des Werdens. Die Musik wird als Sprache des Werdens verstanden, d. h. als Vereinigung von Bewegung und Musik. »Musik ist nicht nur des Lebens höchstes Ziel, sie ist das Leben selbst,« schrieb Inayat Khan (gest. 1927), ein indischer Ṣūfī-Mystiker. Darauf baut er seine kosmologische Vorstellung und die Schöpfungsgeschichte auf. Inayat Khan ist der Meinung, dass am Anfang nur Klang war. In seiner Interpretation der persischen Poesie bringt er zum Ausdruck, dass aus dem Urklang die Welt und die Leib-Seele entstanden sei. Hafiz, der persische Ṣūfī-Dichter, hält fest: »Viele sagen, dass das Leben in den menschlichen Körper einzog mit Hilfe von Musik, aber die Wahrheit ist, dass das Leben selbst Musik ist.« Dieser Gedanke beruht auf der Schöpfungsvorstellung, und er sagt weiter: »Gott formte eine Figur aus Ton nach seinem Ebenbild, und daraufhin bat er die Seele dort einzuziehen. Aber die Seele weigerte sich, eingesperrt zu werden […]. Dann bat Gott die Engel, zu musizieren. Als sie spielten, wurde die Seele in Ekstase versetzt, welche dazu führte, in diesen Körper einzuziehen, um die Musik selbst klarer werden zu lassen.«

Daraufhin sagt Hafiz: »Die Leute sagen, dass die Seele in den Körper einzog, als sie dieses Lied hörte, aber in Wirklichkeit war die Seele selbst Lied!« 37 Hingezogensein zur Musik bedeutet damit, dass unser ganzes Sein Musik ist. Alles in uns und um uns ist Musik, was uns hilft, die Natur in ihrer Vielfältigkeit wahrzunehmen bzw. sich der Harmonie Ǧafarī, Muḥammad Taqī (22003): Mūsīqī az dīdgāh-i falsafī wa rawānī. Teheran, S. 53 f. 37 Khan, Hazrat Inayat: Musik – Aus mystischer Sicht. Übers. v. Katharina Hess u. Aeoliah-Christa Muckenheim (1996). Geneva/Weidenstadt, S. 12. 36

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Mystik und Musik

und Vollkommenheit hinzuwenden. Das ist ein wichtiges kosmisches Reflektieren, denn dieses kehrt den Geist nach innen und das Reflektieren, das ʿAzīz ad-Dīn Nasafī erwähnt, wird ausgelegt als »Status«, »Aufsteigen« oder »I have a moment with God«. 38 Dies ist eine wichtige sprirituelle Erfahrung, der die sogenannten »Reisenden im samāʿ « wiederbegegnen. Das Leben ist Bewegung und drückt sich im Menschen in rhythmischen Atemzügen und Herzschlägen aus. Wenn die Bewegungen sich in Worte und Formen verwandeln, können wir sie Poesie und Ästhetik nennen. Das Leben besteht daher aus Klang, Rhythmus und immerwährender Fortbewegung. Der Tanz der Derwische, die Poesie des Dichters und der Klang der Worte sind damit in einer ständigen Fortbewegung begriffen, im Fluss des Lebens. Dabei stellt sich die Frage, ob die Offenbarung, die sie am Anfang aus dem Munde des Propheten gehört hatten, für die Gläubigen eine ästhetische musikalische Wirkung im Sinne der Poesie hatte. Es sei durchaus möglich, dass man dabei einen sinnlichen und übersinnlichen Klang wahrgenommen hätte, sagen manche Denker. In diesem Sinne können wir die Musik nicht von uns trennen. Sie lebt in uns und zeigt sich durch unser rhythmisches Denken und Fühlen. Daher sehen manche in der Musik einen ästhetischen Rhythmus, der über das Sinnliche emporsteigt. Allein wegen des sinnlichen Vergnügens und des Zeitvertreibs würde die Musik bei vielen Gläubigen auf Ablehnung stoßen. In der mystischen Vorstellung eines islamischen Ṣūfīs jedoch ist die sinnliche Wahrnehmung der Musik eine Stufe der Verwandlung. Es geht dabei darum, eine Beziehung zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt zu schaffen. In der Seele des Mystikers verwandelt sich die Musik in einen übersinnlichen Rhythmus. Man erreicht die wahre Musik des Lebens und vereint sich mit dem Rhythmus des ewigen Lebens. Deshalb sucht der tanzende Mystiker mit seinem Kreisen und seiner Bewegung die Einheit mit seinem Ursprung bzw. die Harmonie mit dem Urklang, der das Leben hervorgerufen hat. In der islamischen Mystik wird die Musik – im Gegensatz zur theologischen und juristischen Auffassung der Religion – zur Verwandlung der Seele mit dem Ziel der Vervollkommnung aufgenommen. Dieser Prozess kann daher als ein Aufstieg in die Welt der reinen Musik, frei von den rationalen und körperlichen Mauern angesehen werden. Man sucht den Ein-

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Ridgeon, Persian Metaphysics, S. 217.

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Mystik und Musik

klang mit dem Weltklang, will die tiefste Ebene seines Wesens erreichen, den vollkommenen Frieden und die Versöhnung mit der Schönheit des Daseins.

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Mystik und Vollkommenheit

Einer der zentralen Begriffe der islamischen Mystik ist Vollkommenheit (kamāl). Zur Zeit der ersten Mystiker, die hauptsächlich auf die Askese und Zurückgezogenheit Wert legten und eher spirituell-praktisch orientiert waren, war von der Idee der Perfektion kaum die Rede. Ab dem dritten Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung jedoch traten allmählich die metaphysischen und weltanschaulichen Aspekte der islamischen Mystik immer stärker in den Vordergrund. Neben der Liebesmystik entwickelte sich die Idee der Perfektibilität und des perfekten Menschen (insān kāmil) in der islamischen Mystik. Obwohl einige Mystiker und Sufismusforscher behaupten, die Idee des perfekten Menschen sei auf islamischem Boden gewachsen und nicht von fremden Gedanken beeinflusst, lässt sich nicht leugnen, dass die Beweise für diese Sicht nicht stichhaltig sind. Die bisherigen Untersuchungen zeigen, dass die Idee des vollkommenen Menschen noch älter ist als der Islam und daher im Kontext einer historischen Kontinuität analysiert werden muss, die den Übergang vom griechischen und altiranischen religiösen Erbe zum Islam bedeutet. Die Idee der Vollkommenheit ist wie die Idee der Liebe und samāʿ mit Gewissheit ein Produkt der Begegnung mit anderen spirituellen Strömungen, wie den Lehren der gnostischen und hinduistischen Asketen sowie der christlichen Mönche. Während die Idee der Liebe von den christlichen Mönchen, jedoch die Idee der samāʿ von hinduistischen Asketen inspiriert wurde, scheint die Idee der Vollkommenheit eher auf den Einfluss von Weltbildern der vorislamischen altiranischen und indischen Religionen, der Gnosis und der griechischen Philosophie zurückzugehen. 1 Diesbezüglich können wir die Tatsache auch keineswegs leugnen, dass die mythischen, kultiEine Studie in diesem Zusammenhang liefert Schaeder, Hans Heinrich: Die islamische Lehre vom vollkommenen Menschen, ihre Herkunft und dichterische Gestal-

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Mystik und Vollkommenheit

schen und die früheren religiösen Vorstellungen im Islam sowie in anderen monotheistischen Religionen lebendig sind. Schon in der zoroastrischen Lehre ist von dem Mythos des Urmenschen die Rede, der einem perfekten Menschen gleichkommt. Cayomart ist der Sohn Gottes. Er hat eine kosmische Aufgabe, und von ihm werden alle Menschen erfasst. Im Urmenschen ist alles vollkommen. Er ist eine Idee, die sich nach dem Ideal Gottes verhält. Der sinnliche Mensch ist ein Abbild dieses Urmenschen. 2 Später, in der gnostischen Spekulation, wurde er als Erlöser betrachtet und hatte damit auch eine soteriologische Aufgabe, so wie Mani, der sich als Siegel der Propheten sah. Der Urmensch wird quasi vom Urbild aller Menschen zur Gesamtheit aller Seelen. Der sinnliche Mensch ist quasi der Mikrokosmos zum kosmischen Menschen. Auch das Alte Testament spricht von der Vollkommenheit der Propheten. In der Bibel wird Jesus Christus als göttliches Wesen beschrieben und für das Christentum ist er schlechthin der vollkommene Mensch. Als Sohn Gottes verkörpert er die göttliche Vollkommenheit in seiner Person auf der Erde. In der Verehrung des Propheten Muhammad im Islam, der Verehrung der Imame in der Schia, die als vollkommene Menschen angesehen werden, sehen einige Islamforscher Spuren christlich-orientalischer Vorstellungen. 3 Davon abgesehen ist im Christentum von der Ebenbildlichkeit des Menschen in Bezug auf Gott die Rede. Auch über die griechische Philosophie Platons und über den Neuplatonismus scheint die Idee der Vollkommenheit bzw. der Vergöttlichung, oder genauer gesagt, der Gott-Ähnlichwerdung des Menschen ihren Niederschlag gefunden zu haben. Durch Weisheit und Tugenden, die zur Läuterung der Seele führen, gelingt dem Philosophen die Vollendung seines Geistes und der Seele, denn so wird der Philosoph gottähnlich. 4 Schaeder ist allerdings der Auffassung, dass die Übernahme der Idee der Vollkommenheit nicht direkt von tung, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG 4/79, 1925), S. 192–268. 2 Auch darüber liefert Schaeders Aufsatz (ebd.) einen guten Überblick. Dem Thema widmet Wesendonk eine eigene Monographie: Von Wesendonk, O. G. (1924): Urmensch und Seele in der iranischen Überlieferung. Ein Beitrag zur Religionsgeschichte des Hellenismus. Hannover. 3 Vgl. Bürgel, Johann Christoph (1991): Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam. München, S. 320 f. 4 Ebd., S. 320.

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der altiranischen Religion und der Gnosis übernommen, sondern zuvor gräzisiert wurde, d. h. die altiranische Vorstellung und die Gnosis sind über die griechische Philosophie in den Islam eingedrungen. 5 Der Begriff Vollkommenheit (kamāl) oder der des perfekten Menschen (insān-i kāmil) kommt im Koran nicht vor. Auch in keiner nennenswerten überlieferten Aussage des islamischen Propheten oder seiner Gefährten ist von dem perfekten Menschen die Rede. Doch es kommen einige Begriffe im Koran vor, die auf dieselbe Wurzel zurückgehen, auf die auch das Wort Vollkommenheit zurückgeht. Nur an einer Stelle im Koran wird die islamische Religion zu einer vollständigen Religion erklärt. Somit vollendet Gott an den Gläubigen seine Gnade. 6 Aber alle diese Begriffe sind nicht ausschlaggebend für die Adaption der Idee der Perfektibilität, sondern die Stellung des Menschen im Koran, die die Idee des vollkommenen Menschen im Islam begünstige. In einem ontologischen und anthropologischen Verständnis wird die Schöpfung des Menschen im Koran bezüglich des diesseitigen Lebens für beendet erklärt. Gewiss ist, dass es keine physische Steigerung mehr gibt. Gott habe den Menschen in bester Form (aḥsan at-taqwīm) erschaffen. 7 Ob die beste Form die Allerbeste oder die Vollkommenste ist, kann nur dann von Bedeutung sein, wenn wir annehmen würden, dass der Mensch in seiner Form und existentiellen Beschaffenheit der bestmögliche Entwurf Gottes sei. Der Mensch ist also nicht einzigartig, sondern die Eigenart des Menschseins ist ein von Gott gewollter schöpferischer Entwurf. Gott lobt im Koran seine schöpferische Leistung, als er die Schöpfung des neuen Menschen vollendete (fa-tabārak allāh aḥsan al-ẖāliqīn). 8 Im Koran wird die Schöpfung des Menschen als baptisma Gottes (sibġat allah) bezeichnet. 9 Demnach wird der Mensch zu einem allen anderen Lebewesen gegenüber ausgezeichneten (unterschiedenen) Wesen erhoben, wie dies aus der Bedeutung des Wortes (sibġa) bei

Schaeder, Die islamische Lehre vom vollkommenen Menschen, S. 204. Siehe Koran 5:3. 7 Ebd., 95:4. 8 Ebd., 23:14. 9 Rudi Paret übersetzt das Wort sibġa mit dem Begriff baptisma, welchen er mit einem Fragezeichen versetzt (ebd., 2:138). Für die wörtliche Bedeutung des Wortes sibġa werden auch Farbe, Farbstoff, Färbung, Art, Taufe und Religion angegeben. Siehe: Der Koran. Die Übersetzung von Rudi Paret. 5 6

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ar-Rāġib al-Iṣfahānī hervorgeht. 10 Die Auszeichnung des Menschen wird in mehreren Versen betont. 11 Auch im Koran wird die Stellung des Menschen besonders hervorgehoben. Gott habe den Menschen geformt und ihm seinen Geist eingehaucht. Daraufhin mussten sich ihm die Engel und der Satan beugen. 12 Der Mensch wird als Stellvertreter Gottes (ẖalīfa) auf der Erde bezeichnet und als Träger des Wissens, welches Gott ihn lehrte. 13 Was man allerdings nicht daraus ableiten kann, ist die Vollkommenheit des Menschen. Auch geht aus den Versen des Korans nicht hervor, dass der Mensch für die Perfektion bestimmt ist. Sittlichkeit und Glaube werden im Koran als die wichtigsten Attribute für die Auszeichnung des Menschen zum besten Geschöpf genannt. 14 Der Mensch kann moralisch und durch seinen Glauben höher steigen oder in den Abgrund fallen bzw. zum Tierwesen herabgestuft werden. Was wir aber formal aus der Schilderung des menschlichen Wesens und seiner Handlungen dem Koran entnehmen können, ist, dass der Mensch, in welcher Form er auch immer gelobt oder verdammt wird, keineswegs ein vollkommenes Wesen ist oder sein kann. Im Gegenteil, er wird in seiner natürlichen Beschaffenheit als schwach, als nicht nennenswert und vergänglich gekennzeichnet. Der Mensch und alle anderen Geschöpfe werden in der Offenbarung so dargestellt, dass sie immer unvollkommen bleiben. Aus dem islamischen Dogma geht eindeutig hervor, dass angesichts Gottes alles unvollkommen ist. Daher wäre der mystische Vollkommenheitsgedanke zunächst ein Widerspruch zur herkömmlichen Theologie, denn die Vollkommenheit des Menschen lässt die Dualität der Gott-Menschen-Perfektion zu. Wir müssen allerdings darauf hinweisen, dass im Koran auch Gott nicht mit dem Begriff vollkommen versehen wird. Gott wird zwar als einzigartig dargestellt, seine Eigenart bleibt allerdings allen verborgen. ar-Rāġib al-Iṣfahānī fügt hinzu, dass Vernunft bzw. Naturanlage (fiṭra) die Merkmale des Menschen sind, die den Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnen. Vgl. ar-Rāġib al-Iṣfahānī: Muʿ ğam mufradāt li-alfāẓ al-Qurān. Hrsg. v. Nadīm Marʿ ašlī (1392q/1972). Beirut, S. 282. 11 Siehe Koran 17:70. In manchen Versen wird die Auszeichnung moralisiert, personalisiert oder nationalisiert, wie die Auszeichnung der Kämpfer, des Propheten oder des Volk Israels. 12 Ebd., 38:72 ff. 13 Ebd., 2:30. 14 Ebd., 98:7. 10

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Doch alle Attribute und Wesensbeschreibungen, die im Koran und in den Überlieferungen Gott zugeordnet werden, schließen jede Art der Unvollkommenheit Gottes aus. Wenn Gott vollkommen ist, kann nur der Schluss gezogen werden, dass das Geschöpf unvollkommen ist – und damit der Mensch als Geschöpf Gottes ebenso unvollkommen ist. Falls es, wie ich bereits dargestellt habe, eindeutig ist, dass im islamischen Glauben keine Vollkommenheit außer der des Göttlichen in Betracht gezogen werden kann, so stellt sich trotzdem die Frage, wie die Schriften einiger beachtenswerter islamischer Gelehrter, Philosophen und Mystiker zu rechtfertigen sind, in denen der Idee der Perfektion bezüglich des Menschen, sowohl in seinem schöpferischen als auch in seinem geistigen und moralischen Prozess, ein beträchtliches Gewicht beigemessen wird. Wenn alles außer Gott unvollkommen ist, wie kann der Mensch jemals Vollkommenheit erwerben? Es gibt Gelehrte, die diesen Widerspruch erkannt haben und dementsprechend die Vollkommenheit des Menschen ausschließen. Es genügt diesen Gelehrten, dass der Mensch gegenüber Gott gehorsam ist und so der paradiesischen Glückseligkeit und Gnade Gottes würdig wird. Diese Gelehrten beziehen sich oft auf jene Verse im Koran, in denen es ohne die Gnade Gottes keine Rettung und Erlösung geben wird. Auch einige Orientalisten sahen die Problematik der Idee des vollkommenen Menschen wie die des Menschen als Sklaven für die islamische Anthropologie. 15 Obwohl der Mensch im Koran als töricht, frevelhaft, schwach und unbeholfen dargestellt wird, ist er das Wesen, weswegen Gott den Satan verdammt hat und die Engel zur Verneigung genötigt wurden. Von seiner physischen und geistigen Anlage her ist er das bestmögliche Wesen und in bester Form erschaffen. Gott hat ihn unmittelbar mit seinen eigenen Händen erschaffen, mit »Seinem Geist« versehen und ihm »Gehör, Gesicht und Verstand« gegeben. 16 Er verfügt über das geheime Wissen, das Gott ihm unmittelbar beibrachte, und woran die Engel keinen Anteil hatten. Er vertritt Gott auf der Erde und ist Herr über die Erde und andere irdische Lebewesen. Er ist der Grund der Offenbarung und der Auferstehung. Der Mensch ist das Wesen, das Gott am nächsten ist, denn

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Vgl. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 268. Koran 32:9.

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Gott hat die Propheten und Heiligen in der Gestalt des Menschen erschaffen. Viele Muslime sind sogar besonders stolz darauf, dass das Wesen, das in der Überlieferung der Grund der Schöpfung genannt wird, Muhammad ist. 17 Alle anderen Heiligen und Gottesgefährten sind als Menschen personifiziert. Jeder gilt quasi als einer unter vielen. Der Mensch ist das einzige Wesen, den Gott zu seinem Vertragspartner machte und dem Gott etwas Besonderes anvertraute (amāna). Und der Mensch war der Einzige, der das Anvertraute annahm. Er ist nicht wie ein Tier. Er kann zwar moralisch in einen tierischen Zustand oder noch niedriger fallen, aber im Gegensatz zum Tier verfügt er über sich selbst, über den Geist Gottes (rūḥ). Der Mensch ist frei und wurde mit Kräften und Mitteln ausgestattet, mit denen er allen anderen Lebewesen überlegen ist. Nur gegenüber der göttlichen Macht ist er ohnmächtig. Er kann sich jedoch jederzeit an ihn wenden. Alle hier genannten menschlichen Vorzüge gegenüber anderen Wesen sind gekoppelt an den Glauben, der ihn als ein besonderes Wesen auszeichnet. Durch seinen Glauben und das Gedenken Gottes (die Anrufung Gottes) erwirbt der Mensch eine hohe Stellung und nicht zuletzt einen Schutz. Er kann seine Hoffnung auf ihm aufbauen, und Vertrauen, Sicherheit, Identität und Personalität erwerben. Ein zweites Problem mit der Idee der Vollkommenheit ist die Idee des Entwerdens (fanā), die von den Mystikern gelehrt wird. Demnach geht der Mensch, wie bereits erwähnt, in Gott auf und verewigt sich mit ihm. Hier wird die Dualität von Mensch und Gott aufgehoben und wenn der Mensch die Vollkommenheit erlangt, dann nicht als Person, sondern durch die Vereinigung mit Gott. Doch die Idee des perfekten Menschen, wie sie von islamischen Mystikern thematisiert wird, enthält eine ontologische und epistemologische Dimension. Nach einer Überlieferung, die oft zitiert wird, soll Gott den Menschen nach seinem Bild erschaffen haben: Er schuf Adam nach seinem Bilde (inna Allāhu ẖalaqa al-Ādam ʿ alā ṣūratihi). 18 Somit ist der Mensch als Ebenbild Gottes in vollkommener Form erschaffen worden. Laulāk, laulāk mā ẖalaqtu al-aflāk. Siehe Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 305. 18 Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 269; Maulawī Rūmī, Ǧalāl ad-Dīn: Aḥādīṯ-i maṯnawī. Hrsg. v. Badīʿ az-Zamān Furūzānfar (1334/1955). Teheran, S. 114, 213. 17

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Die Einwände der Rechtsgelehrten und Theologen, die Idee der Vollkommenheit des Menschen würde die Einmaligkeit der Vollkommenheit Gottes aufheben und damit den Gehorsam gegenüber Gott infrage stellen, sind unbegründet. Die Vollkommenheit des Menschen steht nicht in Widerspruch zum Gehorsamskonzept, da nach Auffassung der Mehrheit der Mystiker die Erlangung der Perfektion die Erfüllung der göttlichen Gebote und religiösen Pflichten nicht ausschließt. Ebenso stellt sie keinen Widerspruch zur Vollkommenheit Gottes dar. Zwar bestreitet kein Mystiker die Vollkommenheit Gottes. Es geht aber aus ihrer Lehre der Vollkommenheit hervor, dass die Idee der Vollkommenheit des Menschen eine notwendige Folge von tauḥīd ist. Wenn Gott vollkommen ist, dann sind auch seine Taten und seine Schöpfung vollkommen, denn sonst würde es bedeuten, dass Gott etwas Unvollkommenes hervorbringt, was seinem Wesen nicht entspricht. Die Vollkommenheit des Menschen ist ein Teil des Gotteswerkes und sie leitet sich von der Vollkommenheit Gottes ab. Demnach steht weniger die mystische Lehre der Vollkommenheit in der Kritik, sondern die theologische Betrachtung des unvollkommenen Menschen, die den Menschen zum Sklaven und zur Unvollkommenheit herabstuft. Als Prototyp des vollkommenen Menschen wird der Prophet Muhammad genannt, der im Koran als »schönes Beispiel« (Sure 33:21) dargestellt wird und als Grund für die Schöpfung. In einigen Überlieferungen wird er als Licht oder Intellekt bezeichnet, welches Gott noch vor der Welt erschaffen hat. In diesem Sinne leitet sich die »Wirklichkeit des Propheten« (ḥaqīqa Muḥammadiyya) vom göttlichen Reich der Schöpfung (ʿ ālam al-amr) ab. Er sei Licht von Gottes Licht. 19 Die Gehorsamkeit und Treue gegenüber Muhammads Botschaften wird deshalb nach Ansicht vieler Mystiker im Koran allen Gläubigen empfohlen (Sure 81:21). Derjenige folgt Gott, der dem Gesandten folgt (Sure 4:82), oder nach einer Überlieferung, »wer mich gesehen hat, hat Gott gesehen«. 20 So folgt der Gläubige dem Licht Gottes auf der Erde. Muhammad wird wie Jesus als Geist Gottes angesehen, ohne ihn aber zum Sohn Gottes zu erklären. Nach Nicholson ist das Reich des Schöpfungsbefehls Gottes die 19 20

Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 316. Ebd., S. 315.

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Wirklichkeit Muhammads, nicht als irdisches und konkretes Wesen, sondern als kosmisches Wesen: »Gott bleibt in der Tat der Schöpfer der Welt; aber Er ist nicht mehr auf irgendwelchem direkten Wege ihr Herrscher. Er ist der absolute Transzendent, und da die Bewegung der himmlischen Sphären unvereinbar mit Seiner Einheit sein würde, wird diese Funktion jemandem zugeschrieben, durch dessen Befehl die Sphären sich bewegen, d. h. dem muta. Der muta ist nicht identisch mit Gott; er muss daher etwas Geschaffenenes sein […]. [Er] stellt den archetypischen Geist Muhammads dar, den Himmlischen Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist und als eine kosmische Macht angesehen wird, von dem die Ordnung und Bewahrung des Universums abhängt.« 21

So gesehen ist die Wirklichkeit Muhammads bzw. der kosmische Mensch als vollkommener Mensch quasi eine Art Vorlage, nach der alle anderen Wesen entworfen sind, und der vollkommene Mensch wird dadurch zum Dreh- und Angelpunkt bzw. Bindeglied zwischen Schöpfer und Geschöpf. 22 In diesem Sinne hat der Begriff muṭāʿ wenig mit juristischer Gehorsamkeit zutun. Hiermit ist vielmehr ein kosmischer Einklang gemeint, der als Vorlage bzw. Musterbeispiel, dem andere Beispiele folgen, gilt, wie Bürgel zusammenfasst: »Der Mensch im Besonderen ist das Auge, durch das Gott seine Schöpfung betrachtet, er ist der Spiegel, durch welche der Schatz der Schöpfung versiegelt ist. Die Welt besteht nur durch den Menschen, genauer, den vollkommenen Menschen.« 23

Der vollkommene Mensch verhält sich bei den Iẖwān aṣ-ṣafāʿ 24 nach Einschätzung M. F. Ḥiǧābs musterhaft bezüglich beider Welten, nämlich der des Mikro- und Makrokosmos. 25 Denn der vollkommene Mensch ist das Wort (al-kalima), dem die beiden Welten ihre Existenz verdanken. Er interpretiert den vollkommenen Menschen bei Muḥy ad-Dīn al-ʿArabī (Ibn al-ʿArabī) ebenso als Verkörperung des Wortes und des Handelns Gottes, welche sich in den einzelnen Propheten aktuell manifestiert haben, die ebenso solch vollkommene Zitiert nach ebd., S. 316. Schaeder, Die islamische Lehre vom vollkommenen Menschen, S. 212, 223, 239. 23 Bürgel, Johann Christoph (1991): Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam. München, S. 323. 24 Eine philosophisch orientierte geheime Gemeinschaft von Gelehrten, die in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts in Basra auftrat. 25 Hiǧāb, Muḥammad Farīd (1982): al-Falsafat as-siyāsiyya ind Iẖwān aṣ-ṣafā. Einʿ gel. v. ʿ Izz ad-Dīn Fauda. Kairo, S. 232. 21 22

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Menschen sind. Mit ihnen erscheinen sämtliche göttliche Attribute und sämtliche Attribute der universellen Seele. 26 Die Idee des perfekten Menschen gewinnt damit auch eine zentrale, anthropologische Bedeutung, die das Verhältnis von Gott und Menschen betrifft. Wie bereits erwähnt, beschäftigen sich vor allem seit Ibn ʿArabī viele Mystiker in ihren Werken mit der Idee des perfekten Menschen. Neben Ibn ʿArabī verdienen vor allem zwei Sufitheoretiker und ihre Werke für die Idee des perfekten Menschen besondere Beachtung. Von ʿAzīz ad-Dīn Nasafī im 13. Jahrhundert liegt ein Werk mit dem Titel »Das Buch über den perfekten Menschen« (Kitāb alinsān al-kāmil) vor 27 und von Abd al-Karīm al-Ǧīlī im 14. Jahrhundert kennen wir das Hauptwerk, das ebenso den Titel »Der perfekte Mensch« (al-insān al-kāmil) trägt. 28 Während die Vollkommenheit als kosmisches Wesen vorgegeben und zu einer existentiellen Vorlage erhoben ist, ist sie im irdischen Dasein kein Privileg einer bestimmen Person. Sie muss erst erworben werden. Jeder Mensch kann sie mittelbar oder unmittelbar erwerben. Während für einen Philosophen die Weisheit und Erkenntnis der Dinge, wie sie sind, zur Vollkommenheit führen, stellt für einen Mystiker der mystische Pfad den Schlüssel zur Vollkommenheit dar. Mit der Idee der Vollkommenheit kommt daher ein wichtiger Aspekt der islamischen Anthropologie zum Ausdruck. Im Mittelpunkt steht der Mensch. Allerdings sind damit zwei anthropologische Fragestellungen verbunden. Es wird dabei gefragt, ob die Vollkommenheit eine Naturanlage ist, also ein existentieller Bestandteil der menschlichen Natur, oder ein Werk des Menschen. Hier scheint es so, dass die Ṣūfī-Gelehrten die Vollkommenheit unterschiedlich auffassen. Ibn ʿArabī betrachtet sie als Naturanlage, wie eine Potentialität, die durch Askese und die Bekämpfung der Triebseele zur Entfaltung kommt. Für ihn sind allerdings nur die Propheten wirklich vollkommen, genauer gesagt, nur der Prophet Muhammad, da seine WirkEbd., S. 242 f. Nasafī, Kitāb al-Insān. 28 al-Ǧīlī, Abd al-Karīm: al-Insān al-kāmil fī ma rifat al-awāẖir wa-l-awā il. Bd. I–II. ʿ ʿ ʾ Eingel. u. hrsg. v. Raǧab ʿAbd al-Munṣif ʿAbd al-Fattāḥ al-Mutanāwī (1419q/1999). Kairo. Zu Ideen von Ibn ʿArabī und al-Ǧīlī siehe auch Bürgel, Allmacht und Mächtigkeit, S. 322 ff. 26 27

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lichkeit das erste Wesen ist, aus dem alles andere erschaffen wurde. 29 Alle anderen Propheten, Freunde und Gefährten des Propheten und Ṣūfī-Scheichs seien demnach nur sein Erbe, die ihre Vollkommenheit durch den einzigen perfekten Menschen erhalten hätten. Alle sonstigen Menschen sind für ihn entweder unvollkommen oder Tiermenschen. Im Gegensatz zu Ibn ʿArabī geht aus der Vollkommenheitslehre von Abd al-Karīm al-Ǧīlī (gest. 1424) und ʿAzīz ad-Dīn Nasafī nicht hervor, dass die Vollkommenheit eine Naturanlage wäre. Vielmehr sehen Nasafī und al-Ǧīlī sie als das Produkt der menschlichen Arbeit und Askese an seiner Person. Zwar sind für ihn und Nasafī alle Propheten perfekte Menschen und er hält sogar in seinem Kommentar zu Ibn al-ʿArabīs Werk »Futūḥāt al-makkiyya« (»Die mekkanischen Erleuchtung«) die Person Ibn al-ʿArabī für vollkommen (kāna al-šaiẖ al-insān al-kāmil) 30, aber die Vollkommenheit kann auch jeder andere erwerben. ʿAbd al-Karīm al-Ǧīlī ist der Meinung, dass der Mensch erst dann ein vollkommener Mensch wird, wenn er am Ende seines geistigen (seelischen) Aufstieges (miʿ rāǧ rūhī) angekommen ist und sich mit der Essenz des Göttlichen vereint hat. 31 Er beschreibt sämtliche Qualitäten, die eine solche Person hat, denn diese verkörpert nicht nur die göttlichen Eigenschaften, sondern in ihr kommen das Sichtbare und Unsichtbare zur vollen Geltung, d. h. die Eigenschaften des Schöpfers und des Geschöpfes. 32 Zwar werden die göttlichen Funktionen und die Umsetzbarkeit bzw. die Verwandlung der göttlichen Eigenschaften allein vom vollkommenen Menschen abhängig gemacht, die Vollkommenheit wird jedoch nicht nur auf ihn begrenzt. Sie ist als göttliche Ausdrucksform in allen Menschen vorhanden, auch wenn sie in unterschiedlicher Weise in jedem Einzelnen zum Ausdruck kommt (taẖtalifu ṣurat alulūhiya bi-ḥasab-i taʿ ayyuniha fī kull-i fardin). 33 Siehe dazu Ḫwārazmī, Tāǧ ad-Dīn Ḥusain Ibn Ḥasan: Šarḥ Fuṣūṣ al-ḥikam Šaiẖ Muḥyi ad-Dīn Ibn ʿArabī. Hrsg. v. Naǧīb Māyil Hirawī (21368/1989). Bd. II. Teheran, S. 774. 30 Siehe dazu Al-Massri, Angelika (1998): Göttliche Vollkommenheit und die Stellung des Menschen. Die Sichtweise Abd al-Karim al-Gillis auf der Grundlage des »Šarḥ al-muškilāt al-futūḥāt al-makkiyya«. Stuttgart, S. 50. 31 al-Ǧīlī, al-Insān al-kāmil, Bd. I, S. 51. 32 Al-Massri, Göttliche Vollkommenheit, S. 51. 33 Ebd., S. 54. 29

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Der Begriff Mensch (al-insān) kommt daher in solchen Lektüren oft verallgemeinert vor. Denn es handelt sich nicht nur um bestimmte Menschen, sondern vor allem um eine Idee der Vollkommenheit bzw. des Vollkommenen. Mit dieser Idee verbindet sich, wie bereits erwähnt wurde, ein Ideal. Der Mensch wird somit zu einer Idee erhoben, die das Göttliche wiedergibt. Die Realisierung dieser Idee erfolgt erst, wenn der Mensch durch eigene Kraft und spirituelle Übung den Weg zur Vollkommenheit findet. Der gelehrte Mystiker versucht zwar einen solchen Entwicklungszustand durch bestimmte Formen und Riten herbeizuführen, er bleibt aber keineswegs solchen Formalitäten verhaftet. Als Orientierung helfen v. a. die Offenbarungsschrift und Musterbeispiele, durch die jedoch die Freiheit der eigenen und natürlichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen nicht beeinträchtigt werden darf. 34 Denn von dessen persönlicher Erfahrungsmöglichkeit und seelischer bzw. geistiger Entwicklung ist der Prozess der Vollkommenheit abhängig. Wenn es ihm gelingt, die Schlüssel zum absoluten Verborgenen zu erhalten, hat er die Urbilder der Namen und Eigenschaften verwirklicht: »Der Mensch wird also durch die Urbilder charakterisiert, die die ›primären Schlüssel‹ genannt werden.« 35 Wie wir sehen, lässt sich die Idee der Vollkommenheit des Menschen ohne ein idealisiertes Selbstbild nicht erklären. Sie kann ebenso wenig von einer vorgesehenen festen Form abgeleitet werden. Diese Idee lässt sich zwar personifizieren, keineswegs aber als Idee auflösen. Denn die Mustervergleiche, die der Mensch für die Möglichkeit und Machbarkeit des Idealen heranzieht, lassen sich mit den real existierenden Formen kaum messen. Für ʿAzīz ad-Dīn Nasafī hat die Vollkommenheit Stufen und jeder ist in der Lage, sich zu vervollkommnen. Doch für einen Mystiker ist entscheidend, dass er sich in allen drei Eckpfeilern des Sufismus, der šarīʿ a, ṭarīqa und ḥaqīqa, vervollkommnet, wenn nicht, dann ist er nur in dem Bereich vollkommen, in dem er sich vervollkommnet hat. Mit der Perfektion verspricht man sich das Heil und die Glückseligkeit, und die Beseitigung des Unwissens, des Scheinlebens und der inneren Finsternis. Nasafī hebt oft die Lichtmetapher hervor und stellt die Menschen zwischen zwei Pole, zwischen Ost und West. 34 35

Ebd., S. 165. Ebd., S. 166.

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Ost ist der Ort des Lichtes, wo Weisheit, Macht, Stärke und das ewige Leben erwartet werden. West ist der Ort der Kälte und der Finsternis, wo Unwissenheit und Schwäche bzw. das Nichtsein herrschen. 36 Daher begibt sich die Seele in einen Kreislauf der Perfektion. Die Einheit mit der Seele des höchsten Himmelkörpers ermöglicht den ewigen Genuss und die absolute Sorglosigkeit sowie das Freisein von Schmerzen (alam) und Leid (ranǧ). 37 Die Vollkommenheit wird daher zu einer Heimat der Erlösung, und Nasafī nennt sie die sichere Heimat (al-balad al-amīn). Diese Heimat ist die Essenz aller Lebewesen, der Inhaber sämtlicher Wissenschaften, Lichter und Tugenden. Wenn man sich in dieser Heimat befindet, ist man sicher, denn man hat keine Angst, unvollkommen zu werden. 38 Nasafī verbindet mit dieser Essenz bzw. diesem sicheren Zustand die Idee des perfekten Menschen, der für ihn das Herz der Welt ist. Wenn man die Welt als eine Person sieht, so kann die Welt nur ein Herz haben, mit einer Qualität, die sich zu Personen analog verhält, wie folgendes Zitat verdeutlicht: »(8) Nun, da Du über den perfekten Menschen Erkenntnis gewonnen hast, solltest Du wissen, dass für den perfekten Menschen viele Namen vorhanden sind, und man gab ihm unterschiedliche Bezeichnungen mit Adjektiven [Hinzufügungen] und Stellungen. All dies ist berechtigt. Oh, Derwisch! Man nennt den perfekten Menschen Scheich, Führer, Rechtleiter, rechtgeleitet, weise, reif [mündig], vollkommen und den Vollender [vollendet / vollständig], Imam, Kalif, Pol, Herr der Zeit, Weltspiegel, Allspiegel, das große Antigift (Gegengift), das höchste Elixier. Man nennt ihn Jesus, der die Toten belebt, Khidr, der das Wasser des Lebens getrunken hat, Sulaiman, der die Sprache der Vögel kennt.« 39

In dem Werk »Fuṣūṣ al-ḥikam« bzw. »Ringstein der Weisheit« von Muḥy ad-Dīn al-ʿArabī, wie es Tāǧ ad-Dīn Ḫwārazmī interpretiert, kommt diese Schlüsselrolle des Menschen unmissverständlich zum Ausdruck. Der Mensch verkörpert darin den primären und höchsten Zweck der Schöpfung sämtlicher Welten, denn

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Nasafī, Kitāb al-Insān, S. 120. Ebd., S. 120. Ebd., S. 222. Nasafī, Kitāb al-Insān, S. 75.

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»durch ihn erscheinen die göttlichen Geheimnisse und die wahren Erkenntnisse, die der wahre Sinn [maqṣūd, Intension] des Geschöpfes [ūalq, der Schöpfung] sind. Durch ihn verbindet sich Anfang und Ende und vervollkommnen sich die inneren und äußeren Weltstufen.« 40

Bei dieser Selbstidealisierung handelt es sich um einen Begriff des Menschseins, durch den sich der Mensch als Sinn und Mittel des Vollkommenen begreift; seinetwegen schafft Gott die Welt (lau lāk la-mā ẖalaqtu al-aflāk) 41 und er wird als ein Medium für die Selbsterscheinung göttlicher Namen und Attribute betrachtet. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass der vollkommene Mensch als Verkörperung sämtlicher Namen und Attribute Gottes definiert wird. Er ist, wie es im Kommentar zu »Fuṣūṣ al-ḥikam« von Muḥy ad-Dīn alʿArabī zusammengefasst wird, »die Vereinigung sämtlicher Stufen des Göttlichen (ilāhiyya) und des Weltganzen (kauniyya): vom Intellekt, von den Universal- und Partikulärseelen, von den Naturstufen und den letzten niedrigen Stufen der Existenz.« 42

Mit dem vollkommenen Menschen als solchem wird ermöglicht, dass einerseits Gott, wie Nasafī es formuliert, seine Schönheit betrachten kann, andererseits aber das Geschöpf durch den vollkommenen Menschen die Gnade Gottes empfängt. Gott sieht sich selbst und erblickt das Geschöpf durch den perfekten Menschen, der die Idee Gottes verkörpert. 43 Aufgrund seiner besonderen Seinsbezogenheit zu Gott kann der Mensch den Weg zur Vollkommenheit vom eigenen Wesen her bestimmen. Dadurch definiert er seine Stellung im Kosmos und auf der Erde. Als Stellvertreter Gottes beansprucht er die Herrschaft über sich und andere Wesen. Al-Ǧīlī, Rūmī und manche anderen Mystiker stellen den vollkommenen Menschen über den Engel. 44 Die Vollkommenheit des Menschen lässt sich daher als Idee verstehen, die das Ziel der Menschheit darstellt. Der vollkommene Mensch vertritt diese Idee, die einmal als Adam – oder als Urmensch in vorislamischer Mythologie – und ein anderes Mal als Jesus, als

Ḫwārazmī, Šarḥ Fuṣūṣ al-ḥikam, Bd. I., S. 67. Diese Überlieferung wird dem islamischen Propheten Muhammad zugeschrieben. Er verkörpert in der mystischen Lehre die Urgestalt des Urmenschen. 42 Ḫwārazmī, Šarḥ Fuṣūṣ al-ḥikam, Bd. I, S. 20. 43 Ebd., S. 67 f. 44 Al-Massri, Göttliche Vollkommenheit, S. 221. 40 41

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Muhammad oder als Ibn al-ʿArabī erscheint. Diese werden jedoch nicht als Person, sondern als Idee, die eine Vorstellung vom Idealen ist, den Endzweck bestimmen. Nicht diese Vorstellung ist das Ziel, sondern die Idee, die das Gesicht des Abgebildeten ist. Dieses Gesicht ist das Antlitz Gottes, wie im Koran betont wird. Es ist das Licht 45 und das Erste, was aus Gott hervorgeht, dem die Idee der Vollkommenheit und Selbstbetrachtung anhaftet. Mit dem Menschen durchdringt das Göttliche als Inhalt und Form das ganze Dasein und erzeugt ein Selbstbild des Menschen, der sich inmitten des Kosmos sieht. Als Vertreter bzw. Abbild oder Idee Gottes macht sich der Mensch selbst zum Ziel nach dem göttlichen Ideal. Wie ein König, der durch sein Siegel seinen Besitz bewahrt, so bewahrt Gott durch den Menschen die Welt, für die er als Stein des Ringsteines wirkt. 46 Der vollkommene Mensch wird somit zunächst als Idee Gottes und als das personifizierte Gotteslicht dargestellt. Dann tritt diese Person, da sie die Zweckursache sämtlicher Existenzen ist, in ihrer realen weltlichen Gestalt am Ende der kosmischen Schöpfungen auf. »Da der erste Zweck und die eigentliche Intention im Sinne der Zweckursache der Erschaffenen die Person Mensch [wuǧūd-i insān, die Existenz des Menschen] war, erforderte seine reale Existenz [wuǧūd-i ẖāriǧī, die zur Außenwelt hervorgegangene Existenz] die Realisierung der Wirklichkeiten. Daher mussten notwendigerweise die Bestandteile der Welt zunächst in die Existenz gerufen werden und dann [musste] am Schluss der Mensch zustande kommen.« 47

Wir sehen hier zwar, dass der perfekte Mensch einen bestimmten Namen trägt, er hat jedoch in der mystischen Vorstellung keine vorbestimmte Position, wie man zunächst vermuten könnte. Bezüglich der Schia kann man zu Recht fragen, ob angesichts des zwölften Imams, der nach der Überzeugung der Zwölferschia in der Verborgenheit lebt, der Begriff des vollkommenen Menschen für eine andere Person angewendet werden darf. Denn demnach müssten gegenüber dem heiligen Imam alle anderen Menschengeschlechter unvollkommen sein. Wir können hier zum einen auf die Frage hinweisen, die wir bereits oben bezüglich der menschlichen Vollkommenheit gegenüber der göttlichen gestellt haben. Zum anderen kön-

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Ebd., S. 258. Ebd. Siehe ebenso Ḫwārazmī, Šarḥ Fuṣūṣ al-ḥikam, Bd. I, S. 70. Ebd., S. 68.

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nen wir ebenso die Frage aufwerfen, wie man die Vollkommenheit des Imams angesichts der Vollkommenheit des Propheten und diese gegenüber der Vollkommenheit Gottes erklärt. Wir finden gerade in der Schia eine starke und etablierte Tendenz, die mehr oder weniger die Idee der Vollkommenheit in einer mystischen Sprache ausdrückt. Seit der philosophischen Isfahaner Bewegung im 16. Jahrhundert kann Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs Tendenz – und seiner Anhänger – zur mystischen Sprache gar nicht übersehen werden. 48 Sie rückt sogar in der Neuzeit in den Vordergrund eines theologischen Diskurses. Die Idee der Vollkommenheit wurde unter anderem von Murtaḍā Muṭahharī (gest. 1979), Ǧafar Subḥānī (geb. 1929) und ihren Lehrern sowie von Muḥammad Ḥusein Ṭabāṭabāʾ ī (gest. 1981) thematisiert. 49 Aus schiitischer Sicht sind der Rang und die Position eines Imams und des Propheten keineswegs gleichzusetzen. Was allerdings damit nicht verbunden ist, ist die Unmöglichkeit der Qualitäten des Imams für den anderen Menschen. Ṭabāṭabaʾ i meint in seinem Traktat »Risāla al-wilāya«, dass die Entwicklung, Vervollkommnung und die Betrachtung des Wahren ebenso für jeden beliebigen Menschen möglich ist. Diese Tugenden werden sozusagen nicht durch die Position erlangt, sondern durch die Bemühung, die jeder Mensch leisten könne. 50 Auch Muṭahharī zeigt, dass die Vollkommenheit des Menschen ein Ideal ist, das geistige, spirituelle und religiöse Wertvorstellungen umfasst: Ritus, Menschenwohlfahrt, Freiheit und Liebe gehören zu diesen Werten. Wenn ein Mensch diese in hohem Grad in sich entwickelt und wenn diese sich im Menschen in Harmonie miteinander befinden, so ist dieser Mensch Mutahhari zufolge ein vollkommener Mensch. 51 Der Grund für eine solche Vorstellung kann nicht allein mit Beispielen abgedeckt werden. Mit der Personalisierung der Vollkommenheit durch die Propheten versucht man, neben dem GlaubensZu der Schia und ihrer Beziehung zur Mystik und der Idee des vollkommenen Menschen siehe die wertvollen Arbeiten von Al-Shaibi, Mustafa Kamil (1991): Sufism and Shi’ism. Surrey; aš-Šībī, Kāmil Muṣṭafā (1998): al-Fikr aš-šiʿ a wa an-nazʿ at assūfiyya. Kairo; ders. (1998): aṣ-Ṣila bain at-taṣawwuf wa at-tašayyuʿ . Bd. I–II. Kairo. 49 Siehe dazu Muṭahharī, Murtaḍā (61371/1992): Insān-i kāmil. Teheran; Subḥānī, Ǧafar (1361/1982): Sīmā-yi insān-i kāmil dar Qurʾ ān. Qom; Ṭabāṭabāʾ ī, Muḥammad Ḥusein (1987): Risālat al-wilāya. Teheran. 50 Ṭabāṭabā ī, Risālat al-wilāya, S. 48. ʾ 51 Muṭahharī, Insān-i kāmil, S. 52. 48

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zweck die Möglichkeit eines solchen Ideals zu personifizieren. Die Vorstellung, die daraus gewonnen werden sollte, muss jedoch aus dem Menschen selbst kommen. Denn die Machbarkeit einer solchen Besonderheit folgt aus der Selbstidealisierung des Menschen, die Muṭahharī zufolge der Grundlage seines Verständnisses über das Wesen des Menschen entspringt: »Der Mensch war immer selbst das Tor der Spiritualität für sein eigenes Selbst. Gemeint ist damit, dass wir sagen, dass der Mensch immer selbst für sich das Tor der Spiritualität war und aus dem Tor seiner Existenz die geistige Welt gesehen hat und sie enthüllte. Das ist der Grund, dass in der [Seele] des Menschen Dinge vorhanden sind, deren Maßstab mit dem Maßstab der materiellen Welt nicht in Einklang steht. Nicht nur die altertümlichen Gelehrten der ›Seelenerkenntnis‹ [maʿ rifat an-nafs], sondern auch viele moderne Wissenschaftler der ›Seelenerkenntnis‹ haben zugegeben, dass im Menschen Dinge zu finden sind, die mit den materiellen Maßstäben dieser Welt nicht zu erklären sind. Das signalisiert, dass es sich hier um einen anderen Maßstab handelt.« 52

Insgesamt kann von der Idee der Vervollkommnung des Menschen gesagt werden, dass der perfekte Mensch einen Menschen darstellt, der sich mit den göttlichen Eigenschaften einkleidet, er ist die Zweckursache der Schöpfung, verkörpert die göttlichen Namen und Attribute, das Band zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf, er ist der Stellvertreter Gottes auf der Erde, der sämtliche Erkenntnisse der šarīʿ , ṭarīqa und ḥaqīqa innehat. Der perfekte Mensch ist das Musterbeispiel der göttlichen Vollkommenheit und deren Essenz und Einheit. 53 Die Vollkommenheit des Einen und Wahren dient daher als Leitbild für die menschliche Kontemplation und erweckt seine Faszination des Unerreichbaren, wie Ibn Ṭufail am Beispiel Ḥayy bin Yaqẓāns darstellt: »Er [Hayy] sah, daß die Essenz dieser Sphäre, eine gesonderte Essenz, über eine Vollkommenheit, einen Glanz, eine Schönheit verfügt, die zu groß sind, als daß Sprache sie ausdrücken, zu fein, als daß [die Form] von Buchstaben und Lauten sie zu fassen vermocht hätten. Er

Ebd., S. 90 f. Vgl. Māyil Hirawī, Naǧīb: Insān-i kāmil, in: Dāʾ irat al-maʿ ārif buzurg-i islāmī. Hrsg. v. Kaẓim Mūsawī Buǧnūrdī (2001). Bd. X. Teheran, S. 373–381.

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sah diese Essenz durch die Schau der Essenz des Wahren, groß sei seine Pracht, im höchsten Grad von Glückseligkeit, Freude, Zufriedenheit und Jubel.« 54

Der Vollkommenheitsgedanke des Menschen in der mystischen Lehre besteht nicht, wie die Juristen den Sinn der Offenbarung und des Glaubens an Gott sehen, in der Erfüllung der kanonischen Ge- und Verbote. Denn diesen Gedanken zufolge erfüllt der Mensch den Zweck seines Daseins, wenn er sich gehorsam verhält und sich widerstandslos den vorgeschriebenen Glaubensgesetzen und -normen fügt. Die Vollkommenheit, die ein Mensch durch die Pflichterfüllung erlangt, ist primär eine praktische Zweckerfüllung und keineswegs eine kosmologische Sinnerfüllung. Denn der Mensch beabsichtigt damit, die Zufriedenheit Gottes zu erreichen, indem er sich demütig und in der rituellen Praxis äußert und durch seinen Gehorsam ein Zeichen des Glaubens setzt. Er genießt das Paradies und dessen Wohlstand und vermeidet die Strafe. Dadurch räumt er sich das Recht ein, der »Einzige« zu sein, der für Gott lebt. Dieser Gedanke wird von manchen mit einer sittlichen und spirituellen Aufgabe verbunden. Es geht hier also um eine praktische Zweckerfüllung. Der Mensch muss, abgesehen von der Pflichterfüllung, zusätzliche Qualifikationen erlangen. Sie dienen der Verbesserung des Glaubens und der Personalität. In diesem Sinne trägt die Vollkommenheit zwar ästhetische Züge, wird jedoch vom Glauben und von der religiösen Sittlichkeit dominiert. Sie kann daher auch als Glaubens- und Moralvollkommenheit bezeichnet werden. ʿAbd al-Ḥusein Dastġaib, ein iranischer Theologe, warnte den Menschen vor der Einbildung, dass er allein durch die Erfüllung der rituellen Gottesdienste und anderer religiösen Pflichten Mensch sein könne. Menschsein ist durch die Kontrolle animalischer Bedürfnisse und Unsittlichkeiten möglich. 55 Ihm und vielen anderen Theologen zufolge darf der Mensch sich keineswegs von der materiellen Welt beherrschen lassen. Denn Gott habe ihm Macht, Herrschaft und Gewalt über die Natur verliehen. Der Rang des Menschen sei über der Materie, dem Materiellen und der Natur, denn, wie er im Sinne einer Überlieferung hervorhebt, »alles ist für den Menschen

Ibn Ṭufail: Ḥayy bin yaqẓān. Hrsg., kommentiert u. eingel. v. Fārūq Saʿ d (1394/ 1974). Beirut, S. 211. 55 Vgl. Dastġaib Šīrāzī, Abd al-Ḥusein: Aẖlāq-i islāmī. Hrsg. v. Muḥammad Hāšim ʿ Dastġaib (1361/1982). Schiraz, S. 99. 54

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[erschaffen], während der Mensch gänzlich für Gott [seinen Zweck erschaffen] ist« (ẖalaqtu al-ašyā li-aǧlik wa ẖlaqtuka li-aǧlī). 56 Ein philosophisches Vollkommenheitsdenken erfüllt auch einen praktischen Zweck. Dieser ist jedoch als Ordnung der Dinge zu sehen. Man könnte sagen, dass es sich um eine, kosmologische Vollkommenheit handelt. Denn alles Entstehen und schöpferische Geschehen wird von dem Einen, dem vollkommenen, ewigen Seinsursprung her interpretiert und alles bewegt sich hin zu diesem Ursprung. Die mystischilluministisch orientierte Vorstellung wie sie von Šahāb ad-Dīn Suhrawardī vertreten wird, unterscheidet sich im Grunde nicht von der philosophischen Sichtweise. Bei ihr gehen die Lichtstrahlungen, die sämtliche Existierenden darstellen, zum ursprünglichen Licht aller Lichter zurück. Denn alles Seiende ist die Manifestation des ersten und vollkommenen Lichtes. Mit anderen Worten, das Seiende ist gar nicht von ihm zu trennen. Während bei den peripathetisch orientierten Philosophen die Vollkommenheit intellektuell geschieht und der Mensch als Vernunftseele nichts anderes widerspiegelt als die Welt des Intelligiblen, speist sich der Vollkommenheitsgedanke bei den Illuministen aus der Anziehung und der Wirkungskraft des Lichtes aller Lichter, wobei Vollkommenheit essentiell unmittelbar geschieht. Der illuministische Mensch (insān-i nūrānī) 57 ist daher das Produkt dieser Vorstellung, deren Ursprung in der Mythologie der altiranischen Lichtmetaphysik nicht zu übersehen ist. In der Theologie der islamischen Mystik sehen wir jedoch, dass sich dieser Gedanke weiterentwickelt hat. Zusammen mit den philosophischen und gnostischen Vorstellungen stellt sich eine Liebesvollkommenheit in den Vordergrund. Es handelt sich bei dieser Vollkommenheit also um eine stärkere Verbindung einer kosmologischen Ästhetik mit einer Liebesästhetik. Denn die Gottesliebe wird zum Ausgangspunkt der Menschenliebe, und die Macht der Liebe trägt daher im Kontext des kosmischen Geschehens auch zur Vervollkommnung der Menschengestalt bei. Bei allen diesen hier dargelegten Vollkommenheitsvorstellungen, nämlich Gehorsamsvollkommenheit bzw. Glaubens- und Moralvollkommenheit, kosmologische Vollkommenheit und Liebesvollkommenheit, ist der Mensch tätig und fungiert als Subjekt und Wörtlich bedeutet es: »Ich habe alles deinetwegen [für Dich] erschaffen und Dich meinetwegen [für mich].« Ebd., S. 51. 57 Siehe Corbin, Henry (1971): L’homme de lumière dans le soufisme iranien. Sisteron. 56

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Objekt des Vervollkommnungsprozesses. Der Mensch sieht sich daher in seiner Vorstellung genötigt, sich an den Gottesidealen, von denen er affiziert ist, zu orientieren. Er soll sich sozusagen in einer praktischen Art und Weise in Einklang mit Gottesgesetz, Gottesordnung oder Gottesleidenschaft befinden. Es ist nicht erstaunlich, wenn der Mensch im Spiegel seiner religiösen Vorstellung nach einer Verhältnisbestimmung sucht, indem er seine Beziehung zu und seine Stellung in der Welt sowie den Sinn seines Daseins definiert. Ein Gedanke, der das Gefühl der ewigen Unvollkommenheit und Ohnmacht erzeugt, kann nicht das wiedergeben, wofür die Religion stehen soll. Denn gerade die Religion und der Glaube, wie diese im Islam und anderen Religionen vermittelt werden, erheben den Anspruch, für die menschliche Rechtleitung, Erlösung und Glückseligkeit die einzige Lösung zu sein. Gott hat zwar mit der Offenbarung die Rechtleitung (hidāya) des Menschen beabsichtigt. Doch muss eine solche Absicht zugleich auch die Frage beantworten, wozu Gott den Gehorsam benötigt und was dann alle diese formellen und rituellen Gottesdienste und Sittlichkeiten für die Menschen bedeuten sollen. Damit assoziiert der Mensch einen tieferen Sinn des Glaubens und postuliert eine tiefere Bedeutung des Menschseins. Gerade weil der Mensch sich in eine besondere Beziehung zu Gott stellt, kann er die Bedeutung seiner Person und der ihm zugeordneten Aufgabe interpretieren. Er ist gemäß seines religiösen Denkens für einen Zweck bestimmt, der für ihn bedeutsam ist und der ihn daher vor anderen auszeichnet und ihm eine besondere Orientierung gibt. Das Muster bzw. das Beispiel, mit dem er sich vergleicht oder – besser gesagt – das er sich als Spiegel gegenüberstellt, ist Gott, mit dem er sich in Wirklichkeit nicht vergleichen bzw. identifizieren darf. Er solle sich nicht einmal mit den Propheten, Imamen oder Heiligen identifizieren. Gott oder alles, was als göttlich angesehen wird, ist jedoch der Sinn und Zweck seiner Handlung und seines Daseins. Ebenso dienen die heiligen Personen als Richtmaß und Beispiel für die ethische und existentielle Lebensart bzw. für die Lebensideale. Die Eigenschaften, die Gott oder gottähnlichen Wesen zugeordnet werden, sollen zwar für die Menschen als Richtmaß dienen, es kann jedoch keineswegs der Mensch mit Gott gleichgesetzt werden. Sie haben besondere Formen, die dem Gottesreich entnommen werden. Trotzdem sehen wir, dass der Mensch diese Eigenschaften für den Alltag, aber auch für eine ideale Lebensform in Anspruch nimmt. Die Vergöttlichung des Menschen bzw. die Vermensch134 https://doi.org/10.5771/9783495813614 .

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lichung Gottes ist eine Art korresponsives idealisiertes Selbstbild, mit dem der Mensch den Grad, den Anspruch und die Art seiner Vollkommenheit festlegt.

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Ebenso wenig wie zu der Idee der Liebe und samāʿ bzw. der Vervollkommnung des Menschen herrscht unter den islamischen Mystikern Einigkeit über die Idee der Einheit der Existenz (waḥdat al-wuǧūd). Noch unversöhnlicher ist die Kontroverse zwischen den Theologen und Ṣūfī-Gelehrten, die zwar beiderseits eine starke Ambition für die Idee der Einheit / den Monotheismus aufbringen, jedoch jeweils etwas anderes darunter verstehen möchten. Es geht nicht nur um die Einheit der Existenz, sondern darüber hinaus auch um die Idee der Vereinigung mit Gott. Die Frage ist, ob die Idee der Einheit der Existenz dem islamischen Monotheismus (tauḥīd) entspricht oder widerspricht. In der Theologie spricht man von der Transzendenz Gottes und der Einzigkeit Gottes. Nichts kann neben ihn, seine Einheit und seine Existenz gestellt werden, und es existiert auch keine Vereinigung zwischen ihm und anderen Existierenden, da er alles, was existiert, erschaffen hat, und da alles außer Gott vergänglich ist. Daher ist alles, was mit seinem Wesen in Verbindung gebracht wird, eine Art Polytheismus (širk). Für Anhänger der Idee der Einheit der Existenz führt die theologische Vorstellung von der Einheit Gottes zu einer Dualität der Existenz und wird der Einzigkeit des Seins nicht gerecht. Denn neben einer ewigen Existenz würde es dann eine andere Art Existenz geben, die in keinem Zusammenhang mit der einen ewigen Existenz steht. Damit existieren zwei voneinander unabhängige Seinsformen, die keinerlei Beziehung zueinander haben, was zu einer Trennung von Gott und der Welt führt. Die Idee der Einheit der Existenz führt man auf Ibn ʿArabī zurück, obwohl er, wie Husein Nasr sagt, den Begriff waḥdat al-wuǧūd nicht geprägt hat. Seiner Meinung nach wurde der Begriff waḥdat al-wuǧūd erst später von seinen Anhängern und Schülern einge-

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führt. 1 Einer der großen Mystiker, der explizit von der Idee der Einheit der Existenz spricht, ist ʿAzīz ad-Dīn Nasafī. Nasafī, wie Ibn ʿArabī, kann man als Vertreter des Monismus bezeichnen, denn er folgt in seiner Vorstellung von der Einheit seinem Lehrer Sʿ ad adDīn Ḥammūya (gest. 1252), der Ibn ʿArabī kannte und mit seiner Lehre der Einheit vertraut war. Darunter versteht er ein Grundprinzip, auf das alles Bestehende zurückgeführt wird. 2 Nasafī teilt die Monisten in zwei Gruppen. Eine Gruppe nennt er die »Leute des Feuers«, eine weitere »Leute des Lichts«. Das Sein ist bei beiden Gruppen die einzig wahre Realität. Doch Nasafī betrachtet die Leute des Feuers als Pseudomonisten, da sie im Sinne von Platons Ideenlehre einen fundamentalen Unterschied zwischen der wirklich existierenden Realität und der materiellen Welt machten, die für sie nicht wirklich existierte. Doch der Gedanke über eine Einheit der Existenz war bereits in unterschiedlichen Formen unter den Mystikern und manchen Philosophen verbreitet. Ein ebenbürtiger Vertreter der Einheit der Existenz ist der Philosoph der Isfahaner Schule Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzī (bekannt als Mullā Ṣadrā, gest. 1640), der Begründer einer islamischen transzendentalen Existenzphilosophie. 3 Unter der Einheit der Existenz (waḥdat al-wuǧūd) versteht man eine einzige Wahrheit, ein einziges Sein, das der Grund alles Existierenden ist und aus dem alles hervorgeht. Diese eine Existenz fließt in allen Existierenden, denn alles außer dieser einen einzigen Existenz besitzt keine wirkliche Existenz bzw. ein in sich eigentümliches Dasein. Diese Vorstellung geht auf eine Formel zurück, aus der die Lehre der Einheit im Sinne des tauḥīd hervorgeht: »Es gibt nichts in der Existenz außer Gott« (laisa fī al-wuǧūd illā Allāh). 4 Darunter versteht man die Einzigkeit Gottes, nur und einzig ER ist das Sein und außer ihm gibt es kein Sein. Diese Formel ist eine Interpretation des Naṣr, Ḥusein: Taṣawwuf, in: Dāʾ irat al-maʿ ārif buzurg-i islāmī. Hrsg. v. Kaẓim Mūsawī Buǧnūrdī (2010). Bd. XV. Teheran, S. 398. 2 Landolt, Hermann: Le paradoxe de la »Face de Dieu«: Azīz-e Nasafī (VIIe/XIIIe ʿ Siècle) et la »Monisme Ésoterique« de l’Islam, in: Studia Iranica, 25, 1996, S. 163– 192; Landolt, Hermann: Aziz-i and the Essence-Existence Debate, in: Consciousness and Reality: Studies Memory of Toshihiko Izutsu. Hrsg. v. Sayyid Jalal al-Din Ashtiyani, Akrio, Matsumoto et al. (1998). Tokio, S. 387–395. 3 Zu Ṣadr ad-Dīn aš-Šīrāzīs Idee der Einheit der Existenz und der Vollkommenheit siehe Hajatpour, Vom Gottesentwurf. 4 Clam, Jean: Das »Paradoxon des Monotheismus und die Metaphysik des Ibn Araʿ bī«, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 142 (1992), S. 277. 1

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Einheitbekenntnisses der Rechtgläubigkeit: »Es gibt keinen Gott außer Allah« (lā ilāha illā Allāh), welche besagt »dass die kosmische Manifestation trughaft und allein der metakosmische Ursatz wirklich ist.« 5 In diesem Sinn versteht man auch den koranischen Vers, in dem von der Allgegenwärtigkeit Gottes die Rede ist. Dem Koran zufolge ist, wohin auch immer man sich hinwendet, das Antlitz Gottes (waǧhu l-llāh). 6 Damit stelle jegliche Form der Erscheinung einen Zustand des einen Seins dar. Des Weiteren ergibt sich im Sinne Ibn ʿArabīs aus dem vollen Sein die Vorstellung, dass es kein MöglichSeiendes gibt, das nicht in eine göttliche Erscheinung (taǧallī) in der Welt und im Sein eingeht bzw. dazu bestimmt ist. 7 Zusammengefasst kann man also sagen, dass es nur ein Sein gibt, und das ist das Sein Gottes. Nun würden die Theologen an sich kein Problem an dieser Darstellung sehen, wenn man die Darstellung der Einheit so belassen würde, wie sie von den Theologen verstanden wird. Dennoch hat sich schon früh eine Kontroverse zur Einheitsbestimmung unter den islamischen Theologen verbreitet, die darauf zurückgeht, wie Gottes Wesen zu seinen Attributen, Taten und generell zu der ganzen Schöpfung steht. Gleichgültig ob sie als Monotheismus- oder Monismusdebatte verstanden wird, haben alle theologischen Schulen, allen voran die Mutaziliten und die Aschariten, die Lehre der Einzigkeit Gottes vertreten. 8 Fraglich war vor allem, ob diese Einheit als eine ganzheitliche essentielle oder nur als eine existentielle Einzigkeit Gottes verstanden werden sollte. Der Streit scheint auf den ersten Blick aus unterschiedlichen Lesarten zu entstehen, denn die Verse im Koran sprechen für beide Vorstellungen. 9 Jedoch geht es bei dem theologischen Einwand gegen die sufische Einheitsvorstellung nicht allein um die Definition und die Begründung der Einheit, sondern vor allem um das Verhältnis zwischen dieser einzigen Existenz zu anderen Existierenden. Während die AnhänSchuon, Frithjof (1988): Den Islam verstehen. Eine Einführung in die innere Lehre und die mystische Erfahrung einer Weltreligion. Bern u. a., S. 175. 6 Koran 2:115. 7 Clam, Das Paradoxon des Monotheismus, S. 279. 8 Siehe dazu Hajatpour, Reza: Die Einheit Gottes – Die Transzendenz Gottes, in: Gottesvorstellungen im Islam: Zur Dialektik von Transzendenz und Immanenz, hrsg. v. Amir Dziri (2013). Freiburg, S. 81–93. 9 Koran 57:3. 5

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ger der Idee von der Einheit der Existenz das Verhältnis zwischen dieser einzigen Existenz zu anderen Existierenden wie das Verhältnis der Sonne zu ihren Ausstrahlungen darstellen, versteht der Theologe unter der sufischen Darstellung eine Identifizierung vom göttlichen Wesen mit seinem Geschöpf, die miteinander aber nicht identisch sein können. Für sie ist Gott transzendent, anfangslos, ewig, einzig und notwendig, während dagegen das Geschöpf bzw. darunter der Mensch erschaffen, zeitlich,vergänglich und immanent ist. 10 Sie werfen den Anhängern der Idee der Einheit der Existenz Pantheismus vor, während sich diese als Monisten verstehen. Aus dieser kurzen Darstellung wurde bereits deutlich, dass der Konflikt zwischen den Mystikern und Theologen zum einen die Definition der Existenz zum Inhalt hat und zum anderen die Verhältnisbestimmung zwischen Gott und der Welt und damit auch den Stellenwert der ganzen Schöpfung. Die theologische Definition von der Existenz Gottes ist theozentrisch, und schließt damit jeglichen anthropozentrischen Bezug zwischen Gott und Menschen aus. Ebenso enthält die Idee der Einheit der Existenz einen epistemologischen Aspekt. Die Einheit der Existenz ist die Grundlage der Erkenntnis. Wenn zwischen göttlicher und menschlicher Existenz keinerlei Verbindung existieren würde, dann wäre die Erkenntnis unmöglich. Damit stehen zwei Aspekte im Mittelpunkt der ontologisch-anthropologischen Fragestellung. Beispielsweise kann nur von einer Existenz die Rede sein, die absolut ist und alles Seiende umfasst, und in diesem Sinne hat keine andere Existenz ein wirkliches Dasein und existiert losgelöst von der absoluten Existenz. Ob wir von Sein oder Existenz sprechen und welcher Begriff auf göttliche Existenz bzw. welcher auf die Schöpfung zutrifft und ob es unmissverständlich ist, wenn wir von göttlicher und menschlicher Existenz sprechen, hängt von der Art der Verwendung des Begriffes für das jeweilige Wesen ab. Problematisch ist hierbei vor allem, dass im arabischen Vokabular nur ein Begriff für Sein und Existenz verwendet wird. Wuǧūd kann Sein bzw. Existenz bedeuten und sowohl für das Göttliche als auch für das Geschöpf verwendet werden. Der Begriff mauǧūd, die partizipiale Ableitung des Begriffes, den man für die Existierenden bzw. das Geschöpf verwendet (d. h. alles, was existiert at-Taftāzānī, Saʿ d ad-Dīn: Šarḥ al-maqāṣid. Mit Kommentar u. Anmerkung v. ʿAbd ar-Raḥmān ʿ Umaira, eingel. v. Ṣāliḥ Musā Šaraf (1409q/1989). Bd. IV. Ghom, S. 32 f.

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oder dem Existenz verliehen wurde), leitet sich auch aus derselben Wurzel ab. Waǧada, also das Verbum, bedeutet wörtlich, dass etwas existiert, und der Infinitiv wuǧūd bedeutet, dass etwas da ist. Dementsprechend sind sowohl wuǧūd als auch mauǧūd Bezeichnungen für alles, was existiert, sei es per se oder durch Erschaffung. Mit der Einheit des Seins bzw. der Existenz kann in diesem Sinne die Einheit der Existentialisierung und eine Perzeption dieses Aktes verstanden werden. 11 Damit steht alles, was existiert, in einer Verbindung. Wie die Verbindung aussieht, ist eine weitere Frage. Der Begriff wuǧūd bzw. mauǧūd heißt auch finden und gefunden werden. Demnach kann folgendes interpretiert werden: Alles erhält seine Existenz dadurch, dass es von Gott gefunden bzw. erkannt wird, d. h. nur jene Seite, die sich Gott zuwendet, ist real. 12 Diese linguistische Interpretation des Begriffes der Existenz bzw. des Seins (wuǧūd) ist dahingehend unzureichend, dass sie die ontologischen und epistemologischen Aspekte der Einheit der Existenz nicht wiedergibt. Die Einheit der Existenz ist nicht nur eine logische Konsequenz der Idee des Monotheismus im Islam, sie ist ebenso wichtig für das Verhältnis von Gott und Mensch. Der Mensch erhält durch das Einhauchen des göttlichen Geistes in seine Seele eine direkte Beziehung zu Gott. Außerdem geht die mystische Lehre vom Menschen von dessen Erschaffung nach dem Bilde Gottes aus. Damit wird zwar keineswegs behauptet, dass Gott und der Mensch auf der Ebene der Essenz miteinander verbunden sind, denn die Essenz Gottes bleibt allen verborgen, aber aus seiner Existenz kommt eine Strömung, die alles Existierende erfasst. Die Betrachtung, dass die Muslime Gott und die Welt nicht gleichsetzen wie das Ganze mit dem Teil, wäre daher keineswegs falsch. Doch die Idee, das Eine gehe nur aus dem Einen hervor und aus dem Einen emaniere im neuplatonischen Sinne stufenweise eine Reihe und Vielfalt der Existierenden, ist keineswegs das Verhältnis vom Ganzen zu den Teilen, sondern von dem Einem zum Vielen und von dem Allumfassenden zur partikularen und aspektuellen Erscheinung. 13 Ibn ʿArabī zufolge ist die Wurzel des Vielen das Eine, auch wenn die Vielheiten nicht aus dem Einen hervorgehen müssen, sondern aus 11 12 13

Vgl. Schimmel, Mystische Dimensionen, S. 379. Ebd., S. 380. Siehe Hajatpour, Vom Gottesentwurf, S. 362.

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den Relationen. Diese Idee geht auf das relationale Verhältnis der Aufnahmefähigkeiten der Dinge hervor. 14 Daher unterscheidet Ibn ʿArabī zwei Arten der Einheit: die numerische und die metaphysische Einheit. Während Gott und Mensch eine numerische Einheit darstellen, erfasst die metaphysische Einheit jede andere Einheit, die die Identität des Seins darstellt. Nach Nasafī ist der Monismus, der vor allem von den Leuten des Lichts vertreten wird, keine Trennung zwischen Gott und Welt oder Realität und Erscheinung oder auch zwischen Existenz und Nichtexistenz. So versucht Nasafī klarzumachen, dass die Frage nach der Essenz nur bei den Philosophen, die er als Leute der Weisheit (ahl alḥikma) bezeichnet, Vorrang gegenüber der Existenz hat und zwar als Bindeglied zwischen Existenz und Nichtexistenz, während die Monisten keinen Gegensatz gegenüber der Existenz anerkennen. Wir müssen jedoch darauf achten, dass die Idee der Manifestation Gottes eine Idee der Einheit des Daseins impliziert wie die Idee der Emanation die Einheit des Intellektes oder der Erkenntnisse impliziert. Denn diese Idee ist notwendig, um die Beziehung von dem Einen und Vielen herzustellen, und keineswegs die Wesenseinheit dieser beiden. Die Einheit der Existenz, die nichts anderes als die Einheit der Ideen darstellt, erhalten wir durch die Vermittlung vieler Metaphern. Wenn Moses und der Pharao bei Rūmī zu ein und derselben Person erklärt werden, und zwar dann, wenn die Welt der Vielheit überwunden wird, 15 so will man damit nichts anderes ausdrücken, als dass das Gute und Böse, wie auch die Personalität, angesichts der Einheit der Existenz relativ sind. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass jeder eine unmittelbare Verbindung zum Ursprung hat, nämlich zu dem vollkommenen Wesen. Diese Uridee ist daher in allen Wesen und überall präsent. Sie ist das unmittelbar göttliche Wissen und die personifizierte Idee. Sie ist der Anfang und das Ziel. In diesem Sinne interpretiert Ibn ʿArabī die Einheit Gottes als die Einheit der Existierenden. 16 Der Mensch ist Siehe dazu Profitlich, Manfred (1973): Die Terminologie Ibn ’Arabīs im »Kitāb wasā’il as-sā’il« des Ibn Saudakīn. Freiburg, S. 140 f. 15 »Als Farblosigkeit in die Gefangenschaft der Farbe geriet, so befand sich ein Moses mit einem [anderen] Moses im Krieg. Wenn man die Welt der Farblosigkeit, wie sie an sich ist, erreicht, werden Moses und Pharao Frieden schließen.« Siehe Ḫwāǧa Ayyūb: Asrār al-ġuyūb. Šarḥ maṯnawī maʿ nawī. Hrsg. v. Muḥammad ǧawād Šarīʿ at (1377/ 1999). Bd. I. Teheran, S. 198 f. 16 Siehe dazu Profitlich, Die Terminologie Ibn ’Arabīs, S. 130–133. 14

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demnach in seiner Manifestation göttliches Sein, das in allem fließt und alles durchströmt. Daher existiert ein ununterbrochenes Kontinuum des Seins wie eine Kette, und das Universum ist der Schauplatz der Theophanie göttlicher Existenz. 17 Alles, was existiert, ist ein Zeichen von Gottes Existenz. Der Mensch und der Kosmos befinden sich in einem Makro-Mikro-Verhältnis. Gott und Mensch stehen in einer Existenzkorrespondenz des Perfektionsvollzuges. Die absolute Existenz wird in einer Form dargestellt, in der der Mensch in seiner Vervollkommnung nicht von ihr getrennt betrachtet werden kann. Auch das Absolute kann ohne den Menschen die Vollkommenheit nicht vollenden. Gott und die Welt – und hier vor allem der Mensch – sind ein und dasselbe und in al-Ǧīlīs Lehre zugleich zwei Aspekte der göttlichen Existenz – oder anders gesagt, zwei Entwürfe einer einzigen Existenz. Die Welt ist bei Ṣūfī-Gelehrten wie Abd al-Karīm al-Ǧīlī die Erscheinung von einer verborgenen Essenz (aḏ-ḏāt), in der »Er« der Ursprung alles Existierenden ist. 18 Diese Essenz ist selbst das absolute Sein, besitzt jedoch Attribute und Namen, und die Welt ist die Erscheinungsform ihrer Attribute und Namen. Die Welt der Erschaffenen ist also nichts anderes als die Manifestation Gottes, die zwei Arten des Seins zum Ausdruck bringt: das Verborgene und Sichtbare, das Unbedingte und Bedingte, das Indifferente und Bestimmte, das Unbewusste und Bewusste sowie das Unthematische und Thematische. 19 Auch für Nasafī ist die höchste Ebene die Essenz. Alles was existiert, hat drei Ebenen und zwei Formen, wie Nasafī die Existenzebenen darstellt: die Ebene der Essenz, die Ebene des Aspekts bzw. der Erscheinung und die Ebene der Seele. Die Formen enthalten sowohl die allgemeine bzw. unausdifferenzierte und die ausdifferenzierte Ebene. Nasafī führt den Samen als Beispiel der Formen an. Auf der Ebene der Essenz hat er die Möglichkeit, die Form einer Pflanze anzunehmen, auf der Ebene der Erscheinung wird der Samen als Pflanze verstanden und hat eine ausdifferenzierte Form, da die Pflanze in die Ebene des Daseins getreten ist. Die Verbindung zwischen der Essenz

Siehe dazu Rahmati, Fatemeh (2007): Der Mensch als Spiegelbild Gottes in der Mystik Ibn ʿArabīs. Wiesbaden. 18 Vgl. al-Ǧīlī, Abd al-Karīm: al-Insān al-kāmil, Bd. I. S. 90. ʿ 19 Hajatpour, Vom Gottesentwurf, S. 107. 17

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und der Erscheinung geschieht durch die Seele, die als das Einhauchen Gottes gemeint ist. 20 Die Essenz befindet sich in einem tief verborgenen Zustand, den al-Ǧīlī als »dunklen Nebel« (al-ʿ amāʿ `, wörtl.: Wolken, Nebel, Trübsein) bezeichnet. 21 Das können wir als »Urfinsternis« 22 oder im Sinne von Pico della Mirandola (1463–1494) 23 als die »einsame Dunkelheit« bezeichnen. Al-Ǧīlī beschreibt den Zustand dieser Seinsart als »absolute Finsternis« (aẓ-ẓulma al-maḥḍa) 24 und bezeichnet diesen Urzustand als die »Realität aller Realitäten« (ḥaqīqat al-ḥaqāiʾ q, wörtl.: das Wesen aller Wesenheiten). 25 Philosophen sprechen von demselben als die Welt des Unthematischen (iǧmāl). Dieser Urzustand ist unbestimmt und frei von Stufen, Relationen, Gegensätzen, Eigenschaften, Namen, Wahrheiten und Geschöpfe. Dieser Urzustand ist die Urrealität all dessen, was sich jenseits der Erscheinungen des Geschaffenen, des Bestimmten und des Bewussten befindet. Das ist die »Innere Essenz der Essenz« (buṭūn aḏ-ḏāt fī aḏ-ḏāt). Sie ist absolut, und zwar nicht nur in ihrer existentiellen Geltung, sondern vor allem in der Formlosigkeit und Thematisierung. Denn sie ist, oder besser gesagt, sie ist nicht. Sie ist das, was sie nicht ist, wie al-Ǧīlī sie umschreibt:

Dem traditionellen Ausspruch »Das Herz des Gläubigen ist der größte Thron Gottes« folgend bringt Nasafī die Seele in Verbindung mit Gott und kritisiert die Definitionen der Philosophen, Theologen oder Linguisten und meint, dass die Seele oder der Herr die Entfaltung der Existenz zwischen den Ebenen ist. Und der Thron ist die vollständige Erscheinungsform der Ebenen. 21 Dieser Begriff wurde auch mit Blindheit übersetzt. Siehe Iqbal, Muhammad (1908): Development of Metaphysics in Persia. London, S. 165. Seine Ausführung zeigt allerdings, dass er diese Bedeutung weit überzieht. Für ihn ist »al-ama« eine »Urfinsternis«, die Nicholsons Übersetzung näherkommt. Nicholson übersetzt ihn »darkness mist«. Vgl. Nicholson, Reynold (1921): Studies in Islamic Mysticism. London u. a., S. 83 f., 94 f. 22 Es muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff »Finsternis« in der illuministischen und altiranischen Philosophie negativ besetzt ist. Mit der »Urfinsternis« ist hier keineswegs ein ethischer Wert verbunden, sondern nur ein Zustand höchster Unbestimmtheit. 23 Siehe Hajatpour, Reza (2002): Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus. Zum Diskurs über Herrschafts- und Staatsdenken im 20. Jahrhundert. Wiesbaden, S. 324. 24 al-Ǧīlī, Abd al-Karīm: al-Insān al-kāmil, Bd. I, S. 97 ʿ 25 Ebd., S. 125. 20

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»weder Essenz noch Name, weder Schatten noch Kontur [Beschreibung, Umriß], weder Geist noch Körper, weder Bezeichnung [Bestimmung] und Eigenschaft noch Zeichen.« 26

Dieser Urrealität sind alle Möglichkeiten offen, das Notwendige und das Mögliche, das Sein (al-wuǧūd) und das Nichtsein (al-ʿ adam), das Verborgene (mustatīr) und das Sichtbare, das Werden (al-huduṯ, wörtl.: die zeitliche Entstehung) und die Zeitlosigkeit (al-qidam). Sie besteht sozusagen in einer Art des Nichtseinszustandes (maʿ dūm) als Essenz und Existenz in sich selbst (mauǧud fī an-nafs, wörtl.: existiert im reinen Subjekt). Mit Verhülltsein bzw. Nichtsein ist das unsichtbare Abwesendsein gemeint. Al-Ǧīlī will damit das Summarische (iǧmāl) als Grund alles Seienden zum Ausdruck bringen. Das ist eine unsichtbare Seinsart und der Grund und die Möglichkeit all dessen, was einmal sein und vergehen wird, seien sie bedingt oder notwendig und ewig. Das ist, was man als anfangslosen Anfang und endloses Ende bezeichnen kann. Das ist eine Seinsart, die der Grund des Selbstseins und der Selbstübersteigerung ist. Diese Essenz steht vor der Einsheit (aḥadiya), denn sie ist selbst absolut, rein und einfach. Die Einsheit ist die göttliche Erscheinung hinsichtlich ihrer essentiellen Urfinsternis und diese Urfinsternis ist die »Essenz per se [al-ʿ amāʾ huwa nafs aḏ-ḏāt, wörtl.: Der dunkle Nebel ist die Essenz selbst] und die Essenz hinsichtlich des Absolutseins im Verborgenen und in der Tarnung [bi-iʿ tibār al-iṭlāq fi albuṭūn wa al-istitār]«. 27 Die Erscheinungen sind der Beginn der Enttarnung der absoluten Essenz, die sich in der absoluten Urfinsternis befindet, und die erste Erscheinung aus der Einsheit ist die sogenannte Erheit (hūwiyya, wörtl.: Identität). 28 Das Verhältnis von »Erheit« zur »Einsheit« ist wie das Verhältnis vom Äußeren zum Inneren. Aus der Erheit geht dann die Erscheinung der »Ichheit« hervor, was wiederum im Vergleich zur Erheit das Sichtbare darstellt. Al-Ǧīlīs Manifestationslehre sieht drei existentiellen Stadien vor, die sich vom Verborgenen hin zum Sichtbaren bewegen. Wenn wir jedoch aus der Sicht der absoluten Essenz betrachten, dann könen wir zwei Erscheinungsformen hinsichtlich der Urfisternis beobachEbd., S. 91 Ebd., S. 127. 28 Mit dem Begriff hūwiyya verbindet man das Personalpronomen »Er« (huwa), das die göttliche Person bezeichnen soll. 26 27

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ten: die Erheit (hūwiyya) und die Ichheit (inniya). Die Ichheit verkörpert die Welt des Sichtbaren und die Erheit das Verborgene. Es sind also zwei Verhältnisbestimmungen, zwei Seinsarten oder zwei Bezeichnungen bzw. zwei Prinzipien, die al-Ǧīlī zufolge die zwei Dimensionen des Seins darstellen: Gott und Geschöpf, zeitloses und zeitliches Werden, Herrscher und Diener, Diesseits und Jenseits, Notwendigkeit und Möglichkeit, abwesend für sich selbst und existierend für das, was anders ist als es selbst, und abwesend für das, was anders ist als es selbst, und existierend für sich selbst. 29 Nach demselben Prinzip funktioniert auch das duale Wesen des Menschen. In ihm ist beides vorhanden, das Sichtbare und das Verborgene. 30 Diese triadische Seinsdarstellung stellt den Entstehungsprozess dar, der die drei Kategorien der Einheit präsentiert. Einsheit (aḥadiya), Erheit (hūwiyya) und Ichheit (inniya) 31 sind drei Manifestationsschritte, die sich von der unbestimmten und absoluten Essenz her zur Konkretisierung der Einheit vollziehen. Aḥadiya ist daher ein Aspekt der Einheit. Sie steht sich selbst gegenüber als eine Art Konkretisierung und ein Aspekt des unbestimmten Absoluten. Diesem Prozess zufolge, wie der argentinische Philosoph Ismael Quiles formuliert, bricht die Essenz aus ihrer »untätigen, in sich ruhenden und verhüllten Insistenz« 32 aus, und somit wird ihr Absolutsein als Essenz enthüllt. Jede vorherige Seinsstufe stellt die Essenz der nächsten Manifestationstufe dar. Aus der unbestimmten Essenz manifestiert sich die Einheit in Erheit und Selbstsein, und aus der reinen Selbstbetrachtung entspringt die Selbsdistanzierung. Die mystische Einheitsvorstellung ist daher nicht statisch, sondern ein dynamischer Prozess, der einer Bewusstwerdung der absoluten Einheit unterliegt. Erheit ist die Beendigung des In-Sich-Seins

Ebd., S. 93. Ebd. 31 Aḥadiyya könnte man auch als anfangslosen Anfang wie den Begriff azal verstehen, denn aḥadiyya ist die erste Erscheinung, die aus der absoluten Essenz hervorgeht, und zugleich deutet dieser Begriff auf die Einheit, Einzigkeit und Absolutheit Gottes hin. Die Übersetzung aḥadiyya als Einsheit geht stark auf die Einheit Gottes zurück. Ich übernehme hier Iqbals Übersetzung von diesen drei Abstiegsprozessen. Siehe Iqbal, Development of Metaphysics in Persia, S. 153. Siehe ebenso Nicholson, Reynold (1921): Studies in islamic Mysticism. London u. a., S. 95 ff. 32 Der Begriff Insistenz kommt aus der Lehre des argentinischen Philosophen Ismael Quiles. Siehe Schadel, Erwin (1996): In-sistenzphilosophie. Eine systematische Einführung in den Denkansatz des Ismael Quiles. Cuxhaven-Darford. 29 30

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der Essenz und die Ichheit ist die Konkretisierung sowie die Beendigung der »Erheit«. »Wisse, dass die Essenz rein und einfach ist. Wenn sie sich von ihrer Einfachheit und Reinheit entfernt, so werden drei Erscheinungen möglich [eigen], die von der Reinheit und Einfachheit abhängen. Die erste Erscheinung: die Einsheit [al-aḥadiya], in der nichts an subjektiven Betrachtungen, Relationen, Namen, Attributen und Sonstigen [irgendetwas anderem] manifestiert ist. Sie ist die reine Essenz. Da ihr die Einsheit zugeschrieben wird, so stuft ihre Bedeutung [wörtl.: Beurteilung] von der Einfachheit herab. Die zweite Erscheinung: die Erheit [al-hūwiya], in der keine der sämtlich Genannten manifestiert ist außer der Einsheit. Sie partizipiert [zwar] an der Einfachheit, aber weniger als die der Einsheit, da die Verborgenheit darin durch den Hinweis auf die abwesende [dritte] Person durch die Erheit geistig erfasst wird. Also bemühe dich zu verstehen [fa-fham]. Die dritte Erscheinung: Die Ichheit. In ihr ist eben nichts anderes außer der Erheit manifestiert. Sie hat ebenso an der Einfachheit teil, aber weniger als die Erheit, denn darin wird das [personhafte] Anwesende [al-mutaḥadiṯ, wörtl.: Sprecher] und die Gegenwart geistig erfasst. Der Anwesende und der Sprecher sind den Stand betreffend uns näher als der Abwesende, der geistig erfasst wird und verborgen ist. Also bemühe dich, zu verstehen und überlege [fa-f-ham wa tʾ ammul].« 33

Die »Ichheit« ist somit eine Selbstkonkretisierung, die durch göttlichen »Abstieg« hervorgerufen wird. Gott betrachtet sich selbst und die Welt (das Andere) aus der Distanz. Die Konkretisierung der Einheit und die Vervollkommnung des manifestierten Ichs sind nicht nur der Gegenstand der mystischen Weltanschauung. In der islamischen Existenzphilosophie ist die Einheit das zentrale Element des philosophischen Systems der Muslime, und wo die Einheit die Philosophie bestimmt, ist die Vielfalt eine notwendige Folge dieser Einheit. Vor allem kann man diese Tendenz im Iran seit Ṣadrā ad-Dīn aš-Širāzī (Mullā Ṣadrā) beobachten. Die Vielfalt ist allerdings kein essentieller Bestandteil der Existenz. Sie ist Akzidenz. Die Vervollkommnung ist eine Folge dieser Beziehung von Einheit und Vielfalt. Die Einheit ist vollkommen und die Vielfalt ist die Erscheinung des Einen, welche sich in Stufen und Zweckmäßigkeit befinden. Um sich zu vervollkommnen, sucht die Vielfalt ihre Einheit. Gemeint ist hier die Zusammenführung der Einheit und Vielfalt. Dies war allerdings nicht nur ein rein spekulativer Prozess. 33

al-Ǧīlī, ʿAbd al-Karīm: al-Insān al-kāmil, Bd. I, S. 152.

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Das Anliegen der philosophischen Mystik umfasste insbesondere die praktische Erfüllung dieses Prozesses. Al-Ǧīlī sieht auch das Ziel der Weisheit in der Vervollkommnung des Möglichen. Alles in der Welt des Möglichen ist unvollkommen und veränderbar. Genauer gesagt, es ist unbeständig und ohne Dauer. Nur das Unveränderbare ist vollkommen und beständig. Ziel der Perfektion ist also die Einheit. Die Einheit ist eine Aufgabe, die sich der Mensch stellt. Die Einheit ist aber darüber hinaus vor allem ein Lebensideal. ʿAzīz ad-Dīn Nasafī meint, dass das Viele (kiṯrat) Eins werden kann. Der Einheitsvollzug wird jedoch auf zwei Wegen geschehen: über das Wissen (ʿ ilm) und über die Praxis (ʿ amal). Das Ziel der Einheit ist für Nasafī die Freiheit und der Frieden. Es geht letztlich um die Aufhebung der Divergenz, der Kollision, des Konfliktes, des Widerspruches, der Abhängigkeit und des Krieges. Es geht um die Aufhebung der Dualität. Denn am Ende des Vereintseins steht die reine Einheit (waḥdat). Nasafī wiederholt diese Ansicht an mehreren Stellen seiner Werke. Wie wir bereits mehrfach anhand Nasafīs Ontologie der Vervollkommnung geschildert haben, ist seine Einheitsvorstellung von einer Ontologie der Liebeseinheit geleitet. »[…] wisse, daß die sichtbare Welt die Welt der Gegensätze ist, die himmlische Welt die Welt der Stufen [Ränge], die Welt der göttlichen Allmacht ist die der Einheit mit einer Vielfalt und Welt ohne Namen und Kennzeichen. Die Essenz Gottes ist die reine Einheit. […] In der Welt der göttlichen Allmacht existieren sämtliche Existierenden [Geschöpfe] potentiell, in einer allgemeinen Art. Sie haben aber keine Namen und Zeichen, keine Form und Gestalt. Also hat die Welt der göttlichen Allmacht alles und nichts. Da sie sämtliche Tauglichkeit [ṣalāḥiyyat] hat, hat sie alles inne. Da darin nichts aktuell ist, hat sie nichts inne. Als jene potentiellen Existierenden die Welt des Himmlischen erreichten, entsprangen die Stufen und erschienen Namen und Zeichen und als sie die Welt des Sichtbaren erreichten, entsprangen Form und Gestalt und es wurden Gegensätze sichtbar.« 34

Menschsein ist die Einheit, in der Liebe, Frieden und Freiheit vereint sind. Diese Einheit kann jedoch nicht ohne Arbeit und Aktivität vollendet werden. Denn diese Einheit ist nicht die rein theoretische Einheit, von der die Philosophen reden: Für Nasafī bildet diese Einheit 34

Nasafī, Kitāb al-Insān, S. 361.

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die Grundlage einer Lebensweisheit, die der praktischen Kraft der Selbstbeherrschung bzw. Selbstüberwindung unterworfen ist. »Oh, Derwisch! Es gibt eine Einheit vor der Vielfalt und eine Einheit nach der Vielfalt. Diese letzte Einheit verlangt viel Arbeit. Wenn der Wegbeschreitende [Mystiker, Asket] diese letzte Einheit erreicht hat, wird er der Bekenner der Einheit Gottes sein und frei vom Polytheismus. Die Philosophen wissen über die erste Einheit, aber sie sind unbemittelt und arm.« 35

Die Romantisierung dieser spirituellen Liebesmystik hat einen realen lebensbezogenen Grund. In seiner Mystiklehre geht es Nasafī darum, die Gegensätze zu erklären und den Schlüssel für die Aufhebung dieser Gegensätze in die Hand des Menschen zu geben. Indem der Mensch seine Person ethisch, geistig, asketisch entwirft, kann er sowohl den inneren Frieden als auch den Lebensfrieden in der Welt der Gegensätze erlangen. Denn in der Einheit hat Krieg und Unfriede keinen Bestand. Die Liebe ist der Code dieses Einheitsprozesses. In der Welt der göttlichen Allmacht herrscht Frieden. Frieden (sulḥ) gehört zu den Techniken und den seelischen Übungen, denen sich der Asket unterziehen soll. »Frieden mit den Geschöpfen gänzlich. Niemanden darf er mit der Zunge und der Hand verletzen.« 36 Und die Einheit ist die Selbstbetrachtung, die das wahre Wesen alles Seienden ist. Die wahre Selbstbetrachtung ist letztlich Gottesbetrachtung. Der Mensch als Manifestation Gottes hat also die Aufgabe, die Einheit zu erfüllen. Er setzt den Prozess, der durch die Enttarnung der Essenz stattfand, durch einen Erkenntnis-, Liebes- und Vollkommenheitsprozess fort. Die Selbsterkenntnis soll ihn zur Gotteserkenntnis führen. Durch die Erkenntnis der eigenen Einheit erkennt er auch die Einheit des Ganzen. Das Andere wird ein Teil seiner Selbsterkenntnis, und so ist die Nächstenliebe das unerlässliche Element der Einheit. Aus dem bereits Geschilderten ergibt sich, dass die Idee der Einheit bei al-Ǧīlī das Herz seiner Lehre darstellt. Gott steht am Anfang und am Ende des Prozesses. Was aber diese beiden Pole miteinander verbindet, ist der Mensch. Der Mensch ist quasi das von sich distanzierte Ich Gottes. Der vollkommene Mensch ist genau in diesem Sinne die Manifestation Gottes. Der vollkommene Mensch ist »in

35 36

Ebd., S. 214. Ebd., S. 144.

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sich ein entsprechendes Gegenstück zu sämtlichen Seinswirklichkeiten.« 37 Wie Ibn ʿArabī und ʿAzīz ad-Dīn Nasafī betrachtet auch al-Ǧīlī den Menschen im Sinne der Überlieferung »Gott erschuf Adam nach seinem Bilde« (ẖalaqa allāh Ādam ʿ alā ṣūratihi) 38 als »Exemplar Gottes« (nusẖa), der ihm als Spiegel dient, in dem Gott seinen Namen und seine Attribute anschauen kann. »Gott ist lebend, wissend, mächtig, wollend, hörend, sehend, sprechend und so ist auch der Mensch lebend, wissend usw. Sodann entspricht er der Erheit mit der Erheit, der Ichheit mit der Ichheit, der Essenz mit der Essenz, dem Ganzen mit dem Ganzen, der universalen Ganzheit mit der universalen Ganzheit und der Partikularität mit der Partikularität.« 39

In al-Ǧīlīs Manifestationslehre ist der Mensch ein besonderes Exemplar Gottes. Der Mensch »entspricht Gott mit seinen Wesenswirklichkeiten« (yuqābil al-ḥaq bi-ḥaqāʾ iqihi aḏ-ḏātiyya). 40 Wie Gott, der durch den Prozess der Selbstenthüllung die Essenz zur konkreten Wirklichkeit macht, so setzt der Mensch nach demselben Prinzip die Vollendung der Wirklichkeit fort. Die Konkretisierung der Einheit und die Vervollkommnung des Ichs sind die beiden Seiten des Einen, die die Transzendenz Gottes und des Menschen miteinander verbinden. Der Mensch beherrscht in der islamischen Kosmologie die Form und den Inhalt der Schöpfung. Seine Schöpfung dient folglich einem Ziel, nämlich der Erlangung der Erkenntnis. Erkenntnis ist eine Selbsterkenntnis, nämlich die Einheit mit sich selbst. Vernunft als Mittel und Inhalt der Menschwerdung ist ein Entwurf des Vereintseins mit dem Ganzen. Hier fällt die Einheit der Erkenntnis mit der Einheit des Intellektes zusammen. Erkennt man etwas, so stimmt man mit dem Gedachten überein. Die Welt wird somit zum Prozess: Alles Sein ist Werden und alles Werden ist Denken und alles Denken ist ein Prozess. Die Intellektualisierung der Menschwerdung ist damit ein Entwurf des Selbstbildes.

37 38 39 40

al-Ǧīlī, ʿAbd al-Karīm: al-Insān al-kāmil, Bd. II, S. 95. Ebd., S. 96 f. Ebd. Ebd., S. 97.

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Schlussbemerkungen

Ziel dieser Zusammenstellung ist, den Ansatz zu einer mystischen Theologie im Islam bezüglich der Kontroverse zur traditionellen Theologie herzustellen, jedoch wurden die Einzelheiten keineswegs erschöpfend behandelt. Vielmehr geht es hier um den Entwurf der Charakteristika einer mystischen Theologie, die sich von einer Dogmen- bzw. scharia- orientierten Theologie unterscheidet und die Grenze des religiösen Glaubens setzt. Der Sufismus prägt nicht nur eine tolerante und menschenfreundliche Haltung. Die Ṣūfī-Bruderschaften legen auch Wert auf die religiösen Erlebnisse, die weniger von Dogmen gesteuert werden, sondern eher von der spirituellen Gesinnung. Sie sind der festen Überzeugung, nicht alleine durch die Praxis der Normen und Erfüllung der Pflichten Gottgefälligkeit zu erreichen, sondern durch Hingabe und spirituelle Selbstoptimierung. Dieser asketische Prozess ist der Weg zum Einheitsglaube und zur Erlangung der reinen Wahrheit. Demnach begibt sich der Mensch in einen praktischen Selbstvollzug. Die Askese hat jedoch verschiedene Formen und erreicht unterschiedliche Stufen. Der Glaube ist die primäre Voraussetzung dafür sowie die Überwindung der äußeren Glaubensüberzeugung. Das Grundprinzip ist das Wissen über die Einheit und deren Verinnerlichung. Dieses monotheistische Wissen bzw. diese monotheistische Verinnerlichung wird von einem gemäßigten Mystiker wie Abū al-Qāsim Qušairī folgendermaßen formuliert. »Damit ist gemeint, dass jeder, der seinen Glaube auf der (die) Nachahmung beruht (baut), der nicht die Wahrheit sucht und der nicht nach den Argumentationen der Einheit fragt, in den Irrweg fällt (fällt aus dem Weg der Erlösung).« 1

1

Qušairī, Tarǧuma Risāla, S. 13.

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Schlussbemerkungen

Das Religionsgesetz bildet jedoch bei Qušairī eine Einheit mit dem mystischen Pfad. Ohne Religionsgesetz kann die Wahrheit nicht erlangt werden, auch nicht mit dem Religionsgesetz allein. 2 Ähnliche Worte hören wir von Muḥammad Mustamlī Buẖārī in seinem Werk »Šarḥ at-taʿ aruf li-maḏhab at-taṣawwuf«. 3 Wie wir bereits mehrfach angemerkt haben, bilden die Religionsgesetze bei den meisten Mystikern die erste Stufe des spirituellen Lebensentwurfes. Man soll sich jedoch nicht auf dieser Stufe aufhalten, denn der Mensch muss den inneren Kern des Glaubens erreichen, der die Betrachtung Gottes beinhaltet. In dieser Betrachtung sieht der Mensch die Vollkommenheit Gottes in einer reinen Freiheit, Losgelöstheit und Unabhängigkeit. »Manche sagen, dass der Glaube an Gott die Betrachtung Gottes ist. […] Bei dieser Gruppe ist die Betrachtung die Innenschau (das Sehen des Inneren), nicht des Äußeren. […] Manche dieser Sätze wollen wir kommentieren. Das heißt, wenn man die Vollkommenheit der Bedürfnislosigkeit [Reichtum] Gottes sieht (Zeuge wird), fällt von ihm all seine Gier. Wenn man die Vollkommenheit der Allmacht Gottes sieht (Zeuge wird), fallen von ihm alle seine Ängste. Wenn man Zeuge der Vollkommenheit der Gnade Gottes wird, wird er so mit Gott verbunden, dass die Verbundenheit mit allen außer Gott fallen wird und ihm außerhalb Gott Furcht erregen (bereiten) wird. Wenn er Zeuge der Vollkommenheit des Wissens [der Vorzüglichkeit] Gottes wird und [so] wird ihm die Betrachtung der Handlungen und Zuständen entfallen, [so] dann versinkt er in die Betrachtung der Dankbarkeit [Gnade] Gottes. Wenn er Zeuge der Vollkommenheit der Gerechtigkeit Gottes wird, entbindet er sich mit allem aus den beiden Welten. Wenn er Zeuge der Vollkommenheit der Güte Gottes wird, wird er sich mit Gott in einer solchen Freude [inbisaṭ, Ausdehnung, Expansion, Ausgedehntheit] befinden, so dass die ganze Welt von ihm abhängig werden wird.« 4

Diese spirituelle Deutung des Glaubens setzt voraus, dass die äußeren Formen der religiösen Lebensführung keinen Zweck des Lebensentwurfes darstellen. Aus den Werken mancher islamischer Mystiker, wie beispielsweise bei Sayyid Muḥammad Buẖārī (gest. 1328), können wir entnehmen, dass die äußere religiöse Lebensführung zwar die notwendige, aber keineswegs die hinreichende Bedingung des

2 3 4

Ebd., S. 127. Vgl. Mustamlī Buẖārī, Šarḥ at-Taʿ rruf, S. 222. Ebd., Bd. III, S. 1063 f.

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Schlussbemerkungen

mystischen Weges ist. 5 Der äußeren Frömmigkeit folgt dann die innere Frömmigkeit. 6 Denn in der Verbundenheit (ittiṣāl, Vereintsein, Erlangung, Kontakt) löst man sich von allen übrigen Abhängigkeiten. Dies kann man den Anekdoten, die Mustamlī Buẖārī erzählt, sehr gut entnehmen. »Aber die Aussage von Abdallah bin Umar, Gott möge an ihm Wohlgefallen haben, der meinte, dass er im Rundgang um die Kaba Gott getroffen hat, bedeutet, dass seine Person [gemeint ist seine Gestalt] mit dem Religionsgesetz beschäftigt war, aber sein Kopf mit Gott. In der Beschäftigung mit Gott wurde die Beschäftigung mit dem Religionsgesetz vergessen. Weder sah er das Haus, noch bemerkte er die Begrüßenden [wörtl.: Weder wusste er vom Haus noch von Begrüßenden]. Die Beschäftigung mit Gott hat ihn so gefesselt, dass er den Gruß des Menschen nicht gehört hat. Er beugte sich dem Gotteshaus so, dass er sich an sein Haus nicht erinnern konnte.« 7

Der mystische Weg ist damit eine »spirituelle Innenwendung«. Auf diesem Weg orientiert man sich an den Anweisungen des Scheichs, der kein Gesetz verordnet, sondern den Weg zeigt, den er selbst erfahren hat. Die mystischen Scheichs sind Muḥammad Būhārī zufolge sowohl in den Wissenschaften des Äußeren (ẓāhir) wie auch des Inneren (bāṭin) vollkommen. Derjenige, der sich seinen Anweisungen unterwirft, trennt sich von den Religionsgelehrten. Trotz der Rechtleitungsfunktion des Scheichs ist der Mensch auf sich selbst gestellt. Denn er soll sich frei machen von Einflüssen der Außenwelt. 8 Man kann den Novizen keine Frömmigkeit beibringen. Denn die Wissenschaften des Inneren sind den Wissenschaften des Äußeren nicht gleich. Sie müssen durch den praktischen Selbstvollzug erlebt werden. Der Mystiker muss sie bei sich erleben. Für Muḥammad Buẖārī sind daher nur jene Wissenschaften am nützlichsten, die Gotteserkenntnis vermitteln. Und die würdigsten Gelehrten sind die Gnostiker, die die Innenwelt durch Sittlichkeit und Frömmigkeit reinigen. 9 Die Wissenschaften des Herzens, die die Wissenschaften des Inneren sind, sind die Wissenschaft der Intention (niyya), des Glau-

Vgl. Buẖārī, Muḥammad: Minhāǧ aṭ-ṭālibīn wa masālik aṣ-ṣādiqīn. Hrsg. v. Naǧīb Māyil Hirawī (1364/1985). Teheran, S. 122. 6 Vgl. ebd., S. 81–91. 7 Mustamlī Buẖārī, Šarḥ at-Taʿ rruf, Bd. III, S. 1379. 8 Buẖārī, Minhāǧ, S. 66. 9 Ebd., S. 309–314. 5

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Schlussbemerkungen

bens (īmān), der Wohltat (iḥsān), der Gewissheit (īqān) und der unmittelbaren Betrachtung (ʿ ayan). 10 »Also, es wurde gewiss und klar, dass jene Wissenschaft, die lobenswert ist und das Mittel zur Praxis ist, nicht jene ist, worauf die Rechtsgelehrten stolz sind und worauf sie vertrauten, sondern jene Wissenschaft des Propheten […], und seines Gefährten bezüglich der Erkenntnis Gottes, der Enthaltsamkeit [waraʿ , gottesfürchtig] und der Frömmigkeit [taqwā], die Mittel für sie sind, ist.« 11

Was hier als Wissenschaft bezeichnet wird, sind im Grunde Zustände und Stufen einer spirituellen Seinsweise. Das innere Heilverfahren basiert auf innerer Askese, die eine Liturgie des Seelenkonzeptes bedeuten kann. Der Glaube darf daher nicht auf eine rein äußerliche Liturgie reduziert werden. Er ist vor allem eine geistige und seelische Liturgie, die durch ein asketisches Heilverfahren eingeleitet wird. Um vollkommen zu sein, muss der Mensch seinen Geist nicht nur mit theoretischen Erkenntnissen füllen. Er soll darüber hinaus das Wissen als eine Lebensform seiner seelischen Zustände zu sehen. Die Seele soll daher ihre Vervollkommnung selbst einleiten, bei der Vernunft und Tugenden Mittel und Ziel des inneren Lebensentwurfes zugleich sind. Al-Ǧīlī nennt sieben Stufen, nach denen die Muslime ihr Leben konzipieren können: Islam (al-islām), Glaube (al-īmān), Frömmigkeit (aṣ-ṣalāḥ), Wohltat (al-iḥsān), Zeugnis (aš-šahāda), Wahrheitsliebe (aṣ-ṣidīqiyya) und Nähe (al-qurba). Nach diesen sieben Stufen kommt die höchste Stufe, die Stufe der Prophetie (annubuwwa). Diese Stufen beinhalten weitere Tugenden, Zustände und Positionen, die al-Ǧīlī mit den ihnen zugeordneten Bedingungen und Säulen (Grundpfeiler) ausführlich schildert. 12 Mehr oder weniger erfahren wir von allen islamischen Mystikern, dass der Mensch erst dann vollkommen werden kann, wenn er seine Seele von missbilligten Eigenschaften und weltlichen Abhängigkeiten reinigt, mit ethischen und tugendhaften Eigenschaften erfüllt und ihr so die spirituellen Stufen und Zustände im asketischen Selbstvollzug ermöglicht. Ibn Sīnā verweist in seinem Buch »al-Išārāt wa-t-tanbīhāt« im Kapitel über Gnostik und Mystik auf die Askese (ar-riyāḍa), ohne die das spirituelle Leben des Gnostikers nicht vollendet werden kann. Mit der Askese bezweckt der Mensch nach Ibn 10 11 12

Ebd., S. 310. Ebd., S. 317. Siehe al-Ǧīlī, ʿAbd al-Karīm: al-Insān al-kāmil, Bd. II, S. 164–186.

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Schlussbemerkungen

Sīnā die Befreiung der Seele von allem, was außerhalb Gottes ist, bezweckt er des Weiteren die Unterwerfung der zum Bösen geneigten Seele sowie die Erlangung einer in sich selbst ruhenden Seele und die Verfeinerung der Innenwelt für das Bewusstsein. 13 Über diese Ziele ist das menschliche Selbst an einen asketischen Prozess gebunden. Für Ibn Sīnā führt dieser Prozess zu einem Zustand des »höchsten Entzückens«. 14 In diesem Zustand stehen Selbstbetrachtung und Betrachtung Gottes nebeneinander, und man ist mit sich und mit dem wahren Sein eins. Hier entsteht die wahre Selbstwahrnehmung. Man befindet sich in einer reinen Liebe und in einem permanenten Entzücktsein. Man ist so in seinem Ich versunken, dass man es nicht mehr wahrnimmt. Selbstvergessenheit ermöglicht die reine Gottesbetrachtung. In dieser Gottesbetrachtung ist aber die Selbstbetrachtung nicht zu vermeiden. Wenn der Mensch sich selbst betrachtet, dann nur deswegen, weil »die Seele eine Betrachterin« ist. 15 Denn diese totale Zuwendung ist die totale Befreiung. 16 Die geistige und asketische Innenwendung ist der Ausgangspunkt einer gottesbezogenen Selbstwendung. Um zum wahren Ich zu gelangen, steht man mit dem Ursprung, der die Idee Gottes ist, in einem aktuellen Selbstsein. Denn wie Ibn Sīnā betont, verlässt man das Scheinleben und begibt sich in das wahre Leben, in dem man verweilen kann. Die Selbstbezogenheit durch Askese, die letztlich zu einer Gotteserfahrung führt, spiegelt einen selbstbewussten Akt der Selbsterfahrung wider, die die Grundlage der mystischen Theologie ist. Sich selbst erleben bzw. erkennen kann man in einem asketischen Prozess, in dem die Selbst- und Gotteserfahrung möglich wird. Beide Welten wirken, damit dieser Selbstprozess vollendet wird. In der Selbstaskese kommt der Mensch in einen Dialog mit sich. Man wird sich seiner Mängel und seiner Stärken bewusst. Man entdeckt sich in einem neuen Bewusstsein. Als Gottes Idee begreift man sich als vollwertiges Wesen, das mit seiner eigenen bewussten Selbstbegründung und selbst erworbenen Vollkommenheit korrespondiert. Der Mensch realisiert sich als volles Sein im höchsten ethischen, geistigen und spirituellen Daseinsentwurf.

13 14 15 16

Ibn Sīnā: al-Išārāt, Bd. III, S. 380. Ebd., S. 386. Ebd., S. 386 f. Ebd., S. 388.

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Schlussbemerkungen

»(14) Wisse, der Aufruf der Propheten und die Erziehung der Gottesfreunde diente dazu, dass die Menschen den guten Worten, dem guten Handeln und dem guten Charakter folgen und daß ihr Äußeres aufrichtig wird. Denn wenn das Äußere nicht aufrichtig wird, kann das Innere nicht aufrichtig werden. Denn das Äußere ist wie eine Form und das Innere ist wie etwas, was man in eine Form hineingießt. Wenn also die Form gerade ist, so wird das, was man hineingießt, auch gerade. Wenn die Form schief ist, wird das, was man hineingießt, auch schief. (15) Oh Derwisch! Es besteht kein Zweifel, dass das Äußere auf das Innere und das Innere auf das Äußere wirkt. Wenn das Äußere durch Askese und lange Anstrengungen in Begleitung des Weisen aufrichtig wird, wird das Innere auch aufrichtig. Wenn das Äußere und das Innere aufrichtig werden, dann wird das Innere in beiden Welten rein. Auf einer Seite ist die Welt des Sichtbaren und auf der anderen Seite ist die Welt des Verborgenen. D. h. auf einer Seite ist der Körper, der die Welt des Sichtbaren und Sensitiven ist, und auf der anderen Seite ist die Welt der Engel und der reinen Geister, die die Welt des Verborgenen und der Intelligiblen [maqulat] sind. Die Seite, auf der sich die Welt des Verborgenen befindet, ist immer rein und deutlich. Auf der Seite des Inneren gibt es nie Qual, Finsternis und Trübnis. Auf der Seite des Körpers ist Trübung und Finsternis, solange dieser von Genüssen und Begierden abhängig und Sklave der Gier und des Zorns ist, und so fällt das Innere in Trübnis und Finsternis […].« 17

Der mystische Weg ist daher, wenn wir uns an ʿAzīz ad-Dīn Nasafī Formulierung halten, ein Manifestationsprozess. Es erscheinen Ethik und Attribute in perfekten Formen, bis sich der Mikrokosmos vollendet. Hier überwindet der Mensch das Vergängliche und erlangt die volle Selbstkontrolle sowie die Macht über die ganze Welt. Er vollendet die Stellvertreterschaft Gottes und wird somit der Herrscher des Makrokosmos. 18 Verstehen wir die islamischen Ṣūfī-Gelehrten richtig, so stellen wir fest, dass die religiöse Lebensführung und die Askese Form und Inhalt des menschlichen Lebensentwurfes bilden, welche je nach dem Grad des Entwurfes des Selbstbildes unterschiedlich ausgeprägt ist. Durch eine asketische Haltung versucht der Ṣūfī, die Essenz des Glaubens von ihrer intentionellen und dogmatischen Schale zu befreien. Denn die Seele des Menschen macht den Grad seines Menschseins aus, wobei es sich um eine geistige Substanz handelt. Nach dem Koran besitzt der Mensch eine Disposition (fiṭra), nach der Gott den 17 18

Nasafī, Kitāb al-Insān, S. 140. Vgl. ebd., S. 138.

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Schlussbemerkungen

Menschen erschaffen hat. Da der Mensch nicht nur Fleisch und Blut ist, sondern eine Seele besitzt und gemäß der fiṭra über eine Art intuitives Wissen bzw. instinkthaftes Vermögen verfügt, was sogar im Koran direkt mit der islamischen Religion in Zusammenhang gebracht wird, kann der Mensch die Wahrheit nur durch spirituelle Erfahrung erlangen. 19 Die islamische Religion wird damit zu einer natürlichen oder schöpfungsgemäßen Religion erhoben, die man mit dem Rahner’schen Begriff des »übernatürlichen Existentials« bzw. der »anima naturaliter islamica« Tertullians vergleichen kann. 20 Die Darstellung Ḥayy bin Yaqẓāns in Ibn Ṭufails philosophischem Roman thematisiert ebenso die Idee der Natürlichkeit der islamischen Religion und der menschlichen fiṭra, die darauf angelegt ist, den wahrhaftigen Weg zu erkennen, ohne dass der Mensch jemals einem religiösen Lehrer begegnen muss. Das Seelenleben des Menschen ist ein Produkt der fiṭra. Das menschliche Wesen ist so beschaffen, dass es potentiell die Anlage besitzt, Gott zu erkennen und damit die wahre Religion sowie ein seelisches Bewusstsein zu erlangen bzw. zu einem wahren Menschen zu werden. Durch diese freie Gestaltbarkeit ist die Seele des Menschen offen für Erkenntnisse und ist damit auch im Gegensatz zur christlichen Perspektive frei von der Erbsünde. 21 Folglich werden materielle und politische bzw. normative Aspekte von den Ṣūfīs nicht als wesentliche Bestandteile des menschlichen Lebens betrachtet. In diesem Sinne legen viele Mystiker Wert auf die seelische Vervollkommnung und die individuelle Gotteserfahrung, die über den formalen und normativen Pflichten stehen. Ebenso sind die gesellschaftlichen Normen für Ṣūfīs nicht von Belang, sondern vielmehr die Freiheit der Seele hin zu ihrer geistigen Vollkommenheit. Nasafīs Plädoyer für die Freiheit zeigt genau dieses Ziel, mit dem Siehe Koran 30:30. Siehe Renz, Andreas (2002): Der Mensch unter dem An-Spruch Gottes. Offenbarungsverständnis und Menschenbild des Islam im Urteil gegenwärtiger christlicher Theologie. Hrsg. v. Marianne Heimbach-Steins u. Rotraud Wielandt. Würzburg, S. 456. 21 Cragg kritisiert den Islam und bemängelt das Prinzip der Ursünde: Er sagt, die Ursünde sei keine Schuld, aber Feindseligkeit, Ängste, Selbstkritik usw. Sie ist ein Kollektivbewusstsein, das durch das individualistische Sündenbewusstsein im Islam unterbelichtet wird. Siehe Cragg, Kenneth. (1985). Jesus and the Muslim. An Exploration. London, S. 16. 19 20

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Schlussbemerkungen

er die hierarchischen Grenzen auflöst, welche die natürliche Gesellschaftsordnung vorgibt. Das Ziel des Sufismus ist Glückseligkeit, und die größte Glückseligkeit für Ṣūfīs ist es, Gott zu erleben. Für Nasafī gibt es daher keine Abstufung zwischen arm und reich oder gesund und krank. Sieht man beides als gleich an, so erreicht man einen Zustand der inneren Zufriedenheit. Das wird damit begründet, dass der Mensch mit seinem Wissen nicht in der Lage sei zu erkennen, ob in einer vermeintlich schlechten Sache etwas Gutes für ihn steckt oder anders herum. Nur unmittelbare Erlebnisse führen zu wahrhaftigen Erkenntnissen. Somit ist alles andere als relativ anzusehen. Die mystische Theologie beruht letzten Endes auf zwei wichtigen Säulen: auf dem spirituellen Pfad und auf der Erkenntnis. Beide führen zu Stabilität und wahrem Monotheismus. Alle Hauptelemente des Ṣūfī-Glaubens werden daher von islamischen Mystikern auf eine Art und Weise demonstriert, die in einer Systematisierung der Ṣūfī-Ontologie und Epistemologie sichtbar wird. Nasafī und auch viele andere Mystiker erläutern den Sufismus in der Terminologie des kalām und der Philosophen, um mit ihrer Logik das Islamisch-Sein des Sufismus zu demonstrieren. Damit werden auch der Leitfaden sowie die theologischen und epistemologischen Ansätze einer sufischen Theologie sichtbar. Beweis dafür sind die spirituellen Stationen und die vier Stadien des mystischen Wissens, vom ḏikr zu fikr und dann zu ilhām und endlich zur Kontemplation (iʿ yān), die das Stadium der Stabilität (tamkīn) darstellt. 22 Insgesamt können wir die mystische Theologie als eine erweiterte Form der Glaubenslehre bezeichnen, deren Grenze sich zwischen sittlicher, spiritueller und ästhetischer Auslegung bzw. Entfaltung der Glaubensprinzipien und Offenbarung bewegt. In ihrer Lehre treten weniger die Vorschriften in den Vordergrund, sondern eine Erlebensform, die darauf orientiert ist, die Geheimnisse der Schöpfung zu erfahren und danach zu leben. Die Einheit, an die der Mystiker glaubt, ist kein Dogma, sondern ein ästhtisches Erleben, und die Vervollkommung eine Entschleierung und Vereinigung mit der Wahrheit. Wie bereits erwähnt, gewinnt der Mensch durch die eigenen spirituellen, sittlichen und intellektuellen Bemühungen und Anstrengungen den paradiesischen Zustand, den er verloren hat. Im mystischen Lebenskonzept übersteigt der Mensch die geistige und 22

Ridgeon, Lloyd V. J. (1998): Aziz Nasafi. Richmond, S. 206 ff.

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Schlussbemerkungen

tugendhafte Daseinsweise und begibt sich in eine unmittelbare existentielle Vollwertigkeit. Der Mensch überwindet seine irdische und rationale Daseinsweise. Er wird selbst zu den Tugenden: Weisheit, Harmonie, Wunder, Einheit, Liebe und Ewigkeit. Gott erscheint daher in allen mystischen Anschauungen als Ideal, mit dem der Mensch sich und seine Wege erklären kann. Die Wiedervereinigung und die göttliche Schau sind die Befreiung der Menschen von der Sklaverei und die Erlangung der verlorenen Autonomie. Es geht darum, die Existenzfülle zu erreichen und zu einer Vollperson zu werden. Diese Autonomie und existentielle Fülle erreicht man durch die spirituelle Weisheit und mystische Liebe sowie durch die Überwindung der irdischen und äußeren Grenze. Der Mensch erlangt durch Selbstüberwindung die absolute Unabhängigkeit und Unvergänglichkeit. Er wird demnach selbst das Mittel zum Selbstzweck, indem er in seinem praktischen Selbstvollzug die Authentizität seines Daseins in vollkommener Form entfaltet.

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