Rationalität in der Islamischen Theologie: Band II: Die Moderne 9783110588590, 9783110496741

Even if classifying modern developments in Islamic theology can seem difficult, models of rational thought in the modern

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German Pages 494 [496] Year 2022

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Table of contents :
Vorwort
Inhalt
Einführungen
Allgemeine Einführung
Stellung der Vernunft im Islam
Toward a Second Rise of Islamic Madanīyya “Civilization”
I Theologisches Denken (Neu Kalam)
Neue Kalām-Wissenschaft „ʿIlm al-Kalām al-Ğadīd“
Amīn al-Ḫūlīs hermeneutische Vernunft – ein Bildungsprojekt zum sozialen Ausgleich
Studie zum Projekt „Kulturerbe und Erneuerung bei Ḥasan Ḥanafī“
Ein moderner Zugang zu den Koranwissenschaften
Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā’s “Second Message of Islam”
Al-Ḥākimīya nach Muḥammad Abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad
II Philosophisches Denken
Diesseits und Jenseits von Mythos und Logos
Rationalität im ethisch-juristischen Denken von Abdurrahman Taha
Rationalism, Metaphysics and Science: Ṭabāṭabāʾī and al-Ṣadr Facing Western Challenges
Religiosität und Rationalität im Islam
Demanding Tolerance in a Middle Eastern Context: The Example of Mājid al-Gharbāwī
III Menschenrechtliche Themen
Die Frage der Apostasie im Islam – Rationale Behandlung von Adlabī und El-ʿAwwā
Die Ethik der Gewaltlosigkeit anhand des Beispiels des syrischen Gelehrten Ǧaudat Saʿīd
„Zinā“, Prostitution und wahrscheinliche Kindstötung
Nationalgemeinschaft vs. Religionsgemeinschaft
Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952– 2011
Name Index
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Rationalität in der Islamischen Theologie: Band II: Die Moderne
 9783110588590, 9783110496741

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Rationalität in der Islamischen Theologie Band II: Die Moderne

Rationalität in der Islamischen Theologie

Band II: Die Moderne Herausgegeben von Maha El Kaisy-Friemuth, Reza Hajatpour und Mohammed Abdel Rahem

ISBN 978-3-11-049674-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-058859-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-058662-6 Library of Congress Control Number: 2021952061 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Mawardibahar / iStock / Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Ratio und heilige Texte stehen seit den Anfängen der islamischen Tradition und trotz ihrer gemeinsamen göttlichen Quelle in einem Spannungsverhältnis. An der Frage, ob beide als Instrumente der Wahrheitserkennung sich widersprechen können, und wie man diese Problematik zu lösen vermag, scheiden sich die Geister. Die theologischen Schulen boten im Laufe der Geschichte ausgehend von verschiedenen methodologischen Ansätzen unterschiedliche Antworten an. Nicht nur die Diskussion zwischen den Muʿtazilīten und den Ašʿarīten in der KalāmLehre wies relevante Aspekte dieses Spannungsverhältnisses auf. Vielmehr ist die Spannung zwischen der rationalen und der text-vertrauten Argumentation in den islamischen Wissenschaften nach wie vor präsent. Die genaue Lektüre der Entwicklungsgeschichte der islamischen Lehren zeigt, dass Text und Ratio bzw. die textgebundenen und die rationalen Methodologien sich einander in vielerlei Hinsicht ergänzen. D. h. die menschliche Vernunft galt und gilt für viele Theologen und Wissenschaftler als maßgeblicher hermeneutischer Schlüssel des Textverständnisses. Die Erforschung der rationalen Ansätze in den islamischen Wissenschaften wird gemeinsam vom DIRS (Department für Islamisch-Religiöse Studien) in Erlangen sowie der SISD (Sektion für islamische Studien in Deutsch an der Al-AzharUniversität) in Kairo verfolgt, die seit 2015 eine wissenschaftliche Zusammenarbeit pflegen. Als Ergebnis der gemeinsamen Tagung „Rationalität im Islam“ erschien 2019 der erste Band über die klassischen Periode der islamischen rationalen Theologie. Als Ergänzung befasst sich der vorliegende zweite Band mit den gegenwärtigen Positionen der rationalistischen Richtungen in den islamischen Wissenschaften. Die Beiträge setzen sich im ersten Teil mit der neuen Kalām-Lehre, im zweiten mit dem Philosophischen Denken, und im dritten mit den Menschenrechten im Islam auseinander. Wie auch im ersten Band basieren diese Beiträge auf jenen Vorträgen, die im Rahmen der zweiten, vom DIRS und der SISD über die Frage der Rationalität organisierten Tagung gehalten wurden. Die Tagung, die 2017 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg stattfand, spiegelt einen erfolgreichen Ideen- sowie Studierenden- und Dozentenaustausch zwischen den beiden Abteilungen wider. Mohammed Abdel Rahem (SISD)

https://doi.org/10.1515/9783110588590-001

Inhalt Einführungen Reza Hajatpour Allgemeine Einführung

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Ismail Abdallah Stellung der Vernunft im Islam Ausgewählte Beispiele aus der Moderne

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Zahiye Kundos Toward a Second Rise of Islamic Madanīyya “Civilization” Al-Afghānī and ʿAbduh on al-ʿUrwa al-Wuthqā La Infișām Lahā

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I Theologisches Denken (Neu Kalam) Mahmoud Abushuair Neue Kalām-Wissenschaft „ʿIlm al-Kalām al-Ğadīd“

53

Christiane Paulus Amīn al-Ḫūlīs hermeneutische Vernunft – ein Bildungsprojekt zum sozialen 69 Ausgleich Ahmed Abd El Aal Studie zum Projekt „Kulturerbe und Erneuerung bei Ḥasan Ḥanafī“ Tarek Anwar Abdelgayed Elkot Ein moderner Zugang zu den Koranwissenschaften Die Aufhebung im Koran bei Ṭāhā Ǧābir al-ʿAlwānī (1935 – 2016) 117 Philipp Winkler Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā’s “Second Message of Islam”

137

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VIII

Inhalt

Ahmed Ishaq Amer Al-Ḥākimīya nach Muḥammad Abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad Die Souveränität Gottes oder die Autorität der Menschen

169

II Philosophisches Denken Rüdiger Braun Diesseits und Jenseits von Mythos und Logos Vernunftglaube und Glaubensvernunft in der Hermeneutik von Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī und Ṭāhā ʿAbd ar-Raḥmān 199 Eva Kepplinger Rationalität im ethisch-juristischen Denken von Abdurrahman Taha

253

Ahmed Ighbariah Rationalism, Metaphysics and Science: Ṭabāṭabāʾī and al-Ṣadr Facing Western Challenges 273 Reza Hajatpour Religiosität und Rationalität im Islam Religionsphilosophische Debatte in der modernen Zeit

297

Stephan Kokew Demanding Tolerance in a Middle Eastern Context: The Example of Mājid al-Gharbāwī 313

III Menschenrechtliche Themen Mohammed Abdel Rahem Die Frage der Apostasie im Islam – Rationale Behandlung von Adlabī und El-ʿAwwā 335 Ayman Arafa Die Ethik der Gewaltlosigkeit anhand des Beispiels des syrischen Gelehrten Ǧaudat Saʿīd 349

Inhalt

IX

Christiane Paulus „Zinā“, Prostitution und wahrscheinliche Kindstötung Lebensweltliche Genderrekonstruktionen im Anschluss an Amīn al-Ḫūlī (Q 24: 2 – 29) 377 Muhammed Ragab Nationalgemeinschaft vs. Religionsgemeinschaft Das Verhältnis von Staat und christlich-religiösen Institutionen im 401 zeitgenössischen islamischen Denken Ahmed Ishaq Amer Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011) 435 Name Index

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Einführungen

Reza Hajatpour

Allgemeine Einführung Die sog. neue Kalām-Wissenschaft, die für die Rationalität einer modernen islamischen Theologie steht, hat tatsächlich eine lange Historie. Eine moderne Theologie soll sich methodisch und inhaltlich der Rationalität verpflichten. Diesen Anspruch teilten mehrheitlich alle theologischen Schulen im Islam. Sowohl die muʾtazalitische Schule als auch ihr Gegner, die aschʾaritische Schule, sowie die maturidische Theologie, die eine Synthese zwischen den beiden theologischen Strömungen bildet, bedienen sich in ihrer Glaubensdeutung der rationalen Betrachtungsweise. Auch die schiitische Theologie betrachtet sich als eine rationale Theologie. Rationalität und Theologie können sich jedoch widersprechen. Denn es gibt für die Ratio eine Grenze des Wissens, die sie nicht zu überwinden vermag. Eine rational-diskursive Betrachtungsweise kann nur begrenzt die religiösen Inhalte erfassen, die zu einem beachtlichen Teil jenseits der empirischen oder analytischen Grenze liegen. Daher kann die Rationalität nicht das wesentliche Merkmal der neuen Theologie sein. Folgende Fragen stellen sich nun: Was wird die neue Kalām-Wissenschaft leisten? Kann sie diese Grenze überschreiten? Worin liegt der Fokus der neuen Kalām-Wissenschaft? Woraus besteht die Identität der neuen Theologie, die sich von der traditionellen Denkweise abheben soll? Der indo-pakistanische Dichterphilosoph Muḥammad Iqbāl (gest. 1938) erkannte bereits das Problem der traditionellen religiösen Wissenschaften und unternahm mit seinem Werk „Erneuerung des religiösen Denkens im Islam“ den Versuch, eine neue Perspektive in der islamischen Denkweise zu ermöglichen. Die Notwendigkeit einer solchen Erneuerung der religiösen Betrachtung war bereits der Gegenstand vieler muslimischer Debatten im 19. Jahrhundert. Sayyid Jamāl al-Dīn Asadʾābādī (bekannt als al-Afghānī, gest. 1897), Šeyḫ Hādī Nağmʾābādī (1902) und Muḥammad ʿAbduh (gest. 1905) gelten als weitere Beispiele unter den zahlreichen religiösen Denkern. Um die neue Theologie zu definieren, muss man drei Aspekte berücksichtigen: Ein Aspekt ist der Gegenstand der neuen Theologie. Ein weiterer Aspekt ist das Ziel der neuen Theologie und der dritte Aspekt ist ihre Methode. Etliche islamische Denker versuchen diese drei Aspekte in der neuen Theologie zu verorten. Šiblī an-Nuʿmānī (gest.1914) meint, dass die neue Kalām-Wissenschaft sich durch die besagten Aspekte auszeichnen sollte, anders als die klassische KalāmWissenschaft. Daher sollte sie ihren Horizont erweitern und sich über die Erforhttps://doi.org/10.1515/9783110588590-002

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Reza Hajatpour

schung reiner Glaubensinhalte und Dogmen hinausbewegen und folglich den Fokus auf die ethischen und gesetzlichen Inhalte der Religion und Menschenrechte richten (siehe hierzu den Beitrag von Mahmoud Abushuair). Andere Denker wie Ḥasan Ḥanafī glauben, es müsse die Sprache der alten Theologie geändert und mehr Wert auf die aktuellen Themen bezüglich der zentralen sozialen Fragen der Muslime gelegt werden. Wissenschaftler wie ʿAbdulğabbār ar-Rifāʿī sind der Meinung, dass die Kalām-Wissenschaft in ihrer Betrachtungsweise mit anderen islamischen Disziplinen wie Philosophie oder Ethik korrespondieren und deren Erkenntnisse ihren Ansätzen hinzufügen sollte. Vor allem soll der Fokus von Gott auf den Menschen gelenkt werden, indem sowohl der anthropozentrische Aspekt des Glaubens als auch die theozentrischen Themen gleichermaßen in Betracht gezogen werden. Diese und andere Ansätze fordern die Theologen gemäß den Herausforderungen der Neuzeit für eine neue Positionierung. Angesichts der zahlreichen Themen bezüglich der aktuellen Islamdebatte wie Frieden, Gewalt, Gender, Menschenrechte, die Autonomie des Denkens und Handelns und zwischenmenschliche Beziehungen sowie kulturelle und religiöse Vielfalt soll an dieser Stelle eine theologische Debatte im Kontext der Vielfalt und der pluralen Gesellschaft von enormer Bedeutung sein. Die Bezeichnung „Kalām-Wissenschaft“ ist für eine solche Erneuerung durchaus geeignet. Denn ursprünglich war die Kalām-Wissenschaft eine methodische Bezeichnung für die dialektische Auseinandersetzung mit den Glaubensinhalten. Sie wurde jedoch vorwiegend im Streitgespräch oder in den theologischen Schriften für die Rechtfertigung des eigenen Glaubens verwendet und diente dem Beharren auf der eigenen Wahrheit. Die dialogische Beziehung zwischen Fragen und Antworten, die oft als Grundlage der Disputation dienten, wurden an erster Stelle nicht für die Entfaltung der Glaubensinhalte eingesetzt, sondern oft für den eigenen apologetischen Zweck verwendet, unabhängig davon, ob man sich gegenüber anderen Glaubensformen oder innerhalb der Anhänger der eigenen Religion positionierte. Nun soll die neue Kalām-Wissenschaft diesen Trend der klassischen Denkweise ändern und sich der Vielfalt der modernen Wahrheitssuche widmen. In diesem Sinne kann ein bekennender Theologe sowohl ein religiöser Humanist als auch ein säkularer Humanist sein. Er trennt zwischen dem, was er persönlich glaubt und dem, was er kritisch und selbstkritisch überprüft. Somit handelt es sich um eine ständige Überprüfung und das Redigieren eigener und überlieferter Überzeugungen, um der Wahrheit näher zu kommen. Theologie ist in diesem Sinne eine kontinuierliche Überprüfung und kritische Entfaltung der Glaubensinhalte. De facto ist Theologie eine Wissenschaft im Kontext einer pluralen Gesellschaft, offen gegenüber der Vielfalt und ergo ent-

Allgemeine Einführung

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wicklungsfähig. Wie jede andere Wissenschaft ist sie zugleich eingebettet in die jeweiligen politischen und kulturellen Umbrüche und Strukturen. Die Zukunft der islamischen Theologie liegt also in ihrem dialogischen Potential. Mit anderen Worten muss sich die neue Kalām-Wissenschaft aus der Knechtschaft der Eindimensionalität des Wahrheitsglaubens befreien und sich der Herausforderung der Mehrdimensionalität stellen. Dies bedeutet, wie Nağmʾābādī schon bereits im 19. Jahrhundert die Theologen seiner Zeit aufgefordert hat, dass man die aufgesetzten und selbstverständlichen Prämissen des Denkens infrage stellt (siehe dazu den Beitrag von Reza Hajatpour). Mit den Worten von Foucault, kann man sinngemäß sagen, dass eine neue Kalām-Wissenschaft nicht das legitimieren soll, was man schon weiß, „stattdessen sind Evidenzen und Postulate zu hinterfragen, Gewohnheiten abzuschütteln“ und „das Risiko anders zu denken, auf sich zu nehmen“.¹ Die neue Theologie muss sich von einer Erwartung des Glauben-Schenkens, wie sie in der alten Theologie verankert ist, verabschieden, und stattdessen die Argumente auf der Grundlage einer unabhängigen Ratio sprechen lassen, auch wenn man dadurch auf die Ansprüche der eigenen absoluten Wahrheit verzichten müsste. Sie soll sich einem Diskurs der Wahrheitsfindung verpflichten und frei von der Autorität des Textes und den Prämissen der vorausgesetzten Annahmen neu organisieren. Der Fokus auf Gott soll immer im Hinblick auf Mensch, Natur und das ganze Leben gelegt werden. Gott wird somit in den Prozess des schöpferischen Entstehens und in den Kontext der Vielschichtigkeit des Daseins eingebettet. Menschenrechte, Toleranz gegenüber Andersgläubigen, Glaubensfreiheit, Dialogfähigkeit, Dogmenkritik usw. sollen im Lichte einer Neuorientierung bezüglich des sozialen und ethischen Lebenswandels im Mittelpunkt der theologischen Debatten stehen. Mit anderen Worten soll die neue Theologie ihre Aufmerksamkeit auf den Lebenswandel und die Lebensethik richten, in dem sich Gott, Mensch und die Natur verbinden. Diese Theologie soll sich einer humanistischen Auslegung der Offenbarung und Dogmenkritik widmen. In diesem Sinne kann sie unter dem Aspekt der Ethik und im Dienst einer „humanen Selbstbehauptung“ fungieren.² Eine moderne Theologie ist ohne eine ethisch-humane Reflexion der Glaubensinhalte nicht ergiebig. Neben der Philosophie, Ethik und Mystik gilt die neue

 Fathi Triki: Demokratische Ethik und Politik im Islam. In Arabische Studien zur transkulturellen Philosophie des Zusammenlebens, übers. v. Hans Jörg Sandkühler. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2011, 97– 98.  Vgl. Darius Asghar-Zadeh: Menschsein im Angesicht des Absoluten. Theologische Anthropologie in der Perspektive christlich-muslimischer Komparativer Theologie. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2017.

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Reza Hajatpour

Kalām-Wissenschaft folglich als methodischer Zugang zu den Glaubensinhalten, die somit auch keinen alleinigen Wahrheitsanspruch hat. Sie nimmt ausschließlich im Kontext der Vielfalt der Anschauungen einen diskursiven Platz innerhalb der religiösen und humanistischen Lehrmeinungen ein. Im Rahmen eines dialogtheologischen Diskurses um die Wahrheitsfindung wird infolgedessen ein Perspektivwechsel ermöglicht, um Glaubensinhalte aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus und zukunftsorientiert zu erforschen. In diesem Sinne hat sich das Erlangener „Department Islamisch-Religiöse Studien“ (DIRS) eben dieses Ziel als festes Projekt zur Aufgabe gemacht. Ende 2014 beleuchtete das DIRS in der Kooperation mit der „Sektion für Islamische Studien in Deutsch an der Al-Azhar Universität“ (SISD) im Rahmen einer Tagung zur „Rationalität in der islamischen Theologie“ zunächst die klassische Perspektive. Das Ergebnis der Tagung wurde bereits im Jahr 2019 als erster Band von de Gruyter herausgegeben. Der vorliegende Band stellt nun die Fortsetzung dieser Kooperation dar, die im Rahmen der Tagung zur „Rationalität in der Islamischen Theologie“ aus der modernen Perspektive analysiert wurde und Ende 2017 in Erlangen stattfand. Die Autorinnen und Autoren der folgenden Beiträge haben sich den Herausforderungen dieses modernen Diskurses gestellt und mit ihrer Lektüre die Vielfalt der Theologie und die kritische Auseinandersetzung mit der Tradition veranschaulicht. Dies resultierte in beachtlichen Ergebnissen und überraschenden Entwürfen, die zugleich der Komplexität des Sachverhaltes für eine moderne Theologie gerecht werden. Ismail Abdallah beleuchtet in seinem Beitrag die Stellung der Vernunft im Islam und ihre methodische und inhaltliche Bedeutung für Fragestellungen in der islamischen Theologie. Am Beispiel einiger ausgewählter moderner Reformerdenker wie Rifāʿa Rāfiʿ aṭ-Ṭahṭāwī, Sayyid Jamāl al-Dīn al-Afghānī, Muḥammad ʿAbduh, Ṭāhā Ḥusain und Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī versucht der Autor die unterschiedlichen Auffassungen zum Verhältnis zwischen der Religion und Vernunft darzulegen. Zahiye Kundos vertieft sich im Rahmen ihres Beitrags in die reformerischen Aktivitäten Jamāl al-Dīn al-Afghānīs und Muḥammad ʿAbduhs, zwei bedeutende Vorreiter in der islamischen Moderne, die durch eine tiefe Freundschaft verbunden waren. In den 1880er betrachteten sie im Pariser Exil den Islam als zusammenhängende Einheit von Religion, Politik und Kultur. Diese Ideen veröffentlichten sie in der Zeitschrift al-ʾUrwa al-Wuthqā La Infișām Lahā. Die Autorin beleuchtet in ihrem Beitrag den durch die Zeitschrift eröffneten Weg zur Moderne. Ibn Khaldūn

Allgemeine Einführung

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ebnete mit Hilfe der Überarbeitung seines Buches Werkes al-Muqaddimah diesen Weg. Die Autorin legt nahe, dass in der Erforschung der Begegnung zwischen diesen beiden wichtigen Figuren der islamischen Geschichte der zeitgenössische Leser Möglichkeiten für die Modernisierung der Theologie entdecken könne. Mahmoud Abushuairs Beitrag geht auf die Erneuerungsansätze bezüglich der Kalām-Wissenschaft ein und stellt zwei interessante Modelle zur neuen KalāmWissenschaft im arabischsprachigen Raum vor. Durch seinen Beitrag liefert der Autor eine erhellende Darstellung über die Reformansätze in der islamischen Theologie. Christiane Paulus legt die Ansichten des ägyptischen Hermeneutikers Amīn alḤūlī zum Vernunftbegriff und zur hermeneutischen Methode der Koranauslegung in den Fokus ihrer Darstellungen. Die Autorin versucht die unterschiedlichen Dimensionen der rationalen Methoden in der Koranauslegung und des Text-Verständnisses kritisch zu beleuchten und die sozial-ethischen und ästhetischen Aspekte der Offenbarung bei al-Ḥūlī hervorzuheben. Dabei geht es auch um die Vernunftdifferenzierung und Vernunftkritik bezüglich der religiösen Textinterpretation. Ferner wird das schwierige Verhältnis von Koran, Vernunft und Wirklichkeit thematisiert. Ahmed Abd El Aal konzentriert sich in seinem Beitrag auf den ägyptischen Philosophen Ḥasan Ḥanafī. Er greift sein Konzept über „at-Turāṯ wa-t-taǧdīd“ (Kulturerbe und Erneuerung) auf und beleuchtet seine Vorstellung von der Vereinheitlichung von den Wissenschaften, vom Verhältnis zwischen Vernunft und Religion und von der Sprache der neuen Theologie. Die neue Theologie soll sich nämlich von der Sprache der alten Theologie lösen und der Islam soll sich nicht davon treiben lassen, sondern den Fokus auf die Botschaft des individuellen und gesellschaftlichen Handelns richten. Tarek Anwar Abdelgayed Elkot beschäftigt sich mit den Ideen des irakischen Denkers Ṭāhā Ǧābir al-ʿAlwānī und versucht anhand seiner methodischen Zugänge zur Koranexegese dessen Haltung gegenüber dem traditionellen Denken zu skizzieren. Im Zentrum steht das Konzept der Abrogation (An-nasḫ bzw. das Aufhebende und das Aufgehobene An-nāsiḫ wa-l-mansūḫ). Der Autor richtet seine Aufmerksamkeit vorrangig auf die Untersuchung von al-ʿAlwānīs letztem Werk „Naḥwa mawqif qurʾānī min an-nasḫ“. Philipp Winkler versucht anhand der Koranexegese des sudanesischen Gelehrten Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā die Reformideen seines Protagonisten zu veran-

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Reza Hajatpour

schaulichen. Die Entwicklungsfähigkeit der Offenbarung und die zeitgemäße Exegese des Korans stehen im Mittelpunkt dieses Reformdenkens. Dabei wird die Aufmerksamkeit auf sozial-ethische Themen, Menschenrechte, menschliche Beziehungen und Ideen in Übereinstimmung mit Ṭāhās gesellschaftlichen Umfeld gerichtet. Laut Ṭāhā beinhalte der Koran zwei Botschaften. Der Autor zeigt auf, wie stark das Konzept der Offenbarung mit den historischen Umständen verwoben ist. Ṭāhā wurde direkt vom Marxismus beeinflusst, welcher für die Konstruktion seiner Ideen verantwortlich war. Abschließend wird ein kurzer Blick auf die Entwicklung von Ṭāhā’s Theorien aus dem Blickwinkel von Abdullahi AnNaʿim geworfen. Ahmed Ishaq Amer greift das Thema „al-ḥākimīya“ (die Souveränität Gottes oder die Autorität der Menschen) in seinem Beitrag auf und zeigt anhand der Interpretation von Muḥammad abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad das Mensch-Gott-Verhältnis in der Vergangenheit und der Gegenwart auf. Dabei geht es vor allem um die Verantwortung, Freiheit und die Souveränität des Menschen im Angesicht der Souveränität Gottes. Rüdiger Braun liefert mit seinem Beitrag einen Einblick in die wesentlichen Grundlinien der zeitgenössischen islamischen Rationalitäts-Debatte. Dabei spielen vor allem die Vernunftkonzeptionen der marokkanischen Gelehrten Muḥammad ʿĀbid Al-Ǧābirī (1935 – 2010) und ʿAbd ar-Raḥmān Ṭāhā (1944*) eine zentrale Rolle. Der Autor versucht die Komplexität dieses Themas aufzuzeigen und gibt mit den Ideen weiterer Denker wie Mohammed Arkoun (1928 – 2010) einen kritischen Ausblick auf die Potentiale und transformativen Dynamiken des islamischen Vernunftdiskurses. Die Ideen von ʿAbd ar-Raḥmān Ṭāhā werden in dem Beitrag von Eva Kepplinger vertieft. Dabei liegt der Fokus auf dessen Rationalitätsidee im ethisch-juristischen Denken. Im Zentrum des Beitrages steht sein ethisch-philosophisches „Paradigma der Treuhandschaft“ (iʾtimāniyya) und darüber hinaus die Verbindung von Theorie und Praxis im Rechtsdenken. Hierbei untersucht die Autorin die „Ziele der Scharia“ (maqāṣid aš-šarīʿa) und geht auf seine Interpretation von Strafen (ḥudūd) im Koran oder in der prophetischen Tradition ein. Ahmed Ighbariahs Beitrag thematisiert die Idee der substantiellen Bewegung von Ṣadr ad-Dīn Shīrāzī (1572– 1640), bekannt als Mullā Ṣadrā aus der schiitischen Hochburg der Isfahaner Schule. Dabei zeigt der Autor wie sich Mullā Ṣadrā mit seinen philosophischen Ideen gegenüber herkömmlichen Theologen positioniert und aber auch von seinen geistigen Vordenkern Aristoteles und Ibn Sīnā

Allgemeine Einführung

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abkoppelt. Dabei positioniert sich die Entdeckung der Rationalität in Vereinigung mit der spirituellen Glaubenserfahrung gegen dogmatische Vorstellung neu. Der Autor zeigt die enorme Einflussreichweite Mullā Ṣadrās, dessen Ideen nachhaltig das iranisch-schiitische Gelehrtentum bis in die Gegenwart begleitet haben. Hierbei liefert der Autor die Positionen zweier prominenter schiitischer Philosophen, Ṭabāṭabāʾī und al-Ṣadr, die im Geiste von Mullā Ṣadrās Philosophie fungierten, um sich den Herausforderungen der Moderne zu stellen und zugleich die Grenzen des Glaubens zu schützen. Reza Hajatpours Beitrag beleuchtet das Thema Rationalität und Religiosität aus einer religionsphilosophischen Sichtweise. Dabei geht es um eine modere schiitische Debatte über den Glauben und die Vernunft sowie über Religion und Wissenschaft bezüglich ihrer Beziehung und Grenze. Der Autor zeigt wie die iranischen Reformdenker um eine Balance zwischen Tradition und Moderne ringen und versuchen die Freiheit des Menschen einerseits und die Religiosität angesichts der neuen Zeit andererseits zusammenzuführen. Stephan Kokew thematisiert das Konzept der „Toleranz“ bei dem irakischen Denker Mājid al-Gharbāwī, der diesbezüglich im Jahr 2006 seine Monographie „Tolerance and the Sources of Intolerance“ veröffentlichte. Dabei geht es um die Definition der Toleranz und die politischen Voraussetzungen dafür als Agenda gegen politisch-religiöse Unvernunft. Der Autor zeigt al-Gharbāwīs theologisches Konzept von Toleranz auf, das in der Tradition vieler anderer Reformdenker wie ʿAbdolkarīm Sorūsh and ʿAbdullāhi Aḥmad an-Naʿīm steht. Mohammed Abdel Rahem stellt die Themen Apostasie und die Strafe für den Abfall vom Glauben sowie die Glaubensfreiheit in den Mittelpunkt seines Beitrages. Der Autor thematisiert die Hinrichtung des sudanesischen Gelehrten Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā und das Urteil über Naṣr Ḥāmid Abū Zaid zum angeblichen Abfall vom Glaubens und versucht durch kritische Stellungnahmen des ägyptischen Denkers Salīm al-ʿAuwā und des syrischen Gelehrten Muḥammad Munīr Adlabī die Problematik einer solchen Haltung zu veranschaulichen, um so einen kritischen Diskurs zur Apostasie und Glaubensfreiheit zu liefern. Ayman Arafa konzentriert sich auf eine Friedenstheologie. Anhand des syrischen Gelehrten Ǧaudat Saʿīd analysiert der Autor die theologischen Ansätze gegen Gewalt. Er setzt sich mit den zwei Hauptwerken Ǧaudat Saʿīds, nämlich „Das Problem der Gewalt in der islamischen Welt“ und „Sei wie der Sohn Adams“ auseinander, um dessen Ansatz zur Gewaltlosigkeit darzulegen.

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Reza Hajatpour

In einem weiteren Beitrag beleuchtet Christiane Paulus das normativ-ethische Sexualverhalten von Frauen anhand des Themas „Zinā“ im Islam. Dabei zieht sie lebensweltliche Genderrekonstruktionen im Sinne von Amīn al-Ḫūlī heran. Die Autorin zeigt anhand des sozial-ethischen Zugangs zur Offenbarungsauslegung, wie der Reformdenker die Geschlechterfrage – eingebettet in soziale Lebenswelten – auszulegen versucht. Muhammed Ragab erörtert das zeitgenössische islamische Denken bezüglich des Verhältnisses von Nationalstaat zu christlich-religiösen Institutionen in den islamischen Ländern am Beispiel Ägyptens. So zieht der Autor in seinem Beitrag die im Oktober 2010 erschiene Reihe al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamaʿa al-waṭaniyya heran, deren Autor der ägyptische Historiker, Jurist und islamische Denker Ṭāriq al-Bišrī (geb. 1933) ist. Es geht also um den Umgang mit den religiösen Minderheiten und daraus resultierend um die Vorstellung von dem Verhältnis zwischen Staat und Kirche in Ägypten. Abschließend befasst sich Ahmed Ishaq Amer in seinem Beitrag mit der rechtlichen Stellung der Christen im modernen Ägypten und gibt einen Überblick über die politischen Formierungen innerhalb der Gesellschaft bis zur Revolution. Dabei geht der Autor auf die Polarisierungen bezüglich des rechtlichen Verständnisses gegenüber den Minderheiten ein, da die politische Lage in Ägypten in eine islamische und säkulare Politik aufgespalten wurde. Liberale Menschenrechte und islamische Zivilrechte bilden den Gegenstand des politischen und religiösen Geschehens.

Ismail Abdallah

Stellung der Vernunft im Islam Ausgewählte Beispiele aus der Moderne

Einleitung Der Islam betrachtete das Vermögen der Vernunft seit mehr als 1400 Jahren als kennzeichnendes Merkmal des Menschen und als Gabe Gottes. Aus islamischer Sicht ist die Vernunft der Grund für die Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott und gleichzeitig sein Führer in allen Lebenssituationen. Gemäß dem Koran hat Allah dem Menschen viele Wohltaten gegeben: „Und wenn ihr die Wohltaten Allahs (im einzelnen) errechnen wollt, könnt ihr sie (überhaupt) nicht zählen.“(16 – 18)¹ Zu einer dieser wichtigsten Wohltaten wird die Vernunft gerechnet, wodurch sich der Mensch von anderen Geschöpfen unterscheidet, denn durch diese Gunst Allahs sei der Mensch imstande, seine Taten und Handlungen zu rationalisieren und die Wahrheit zu erkennen. Darüber hinaus ist die Vernunft im Islam zu einer der Elemente, neben Schutz der Seele, Schutz des Glaubens, Schutz des Eigentums und Schutz der Nachkommenschaft, die der Muslim schützen will. Die Vernunft schützt den Muslim vor allen Formen von Rauschmitteln (Alkohol, Drogen, etc.), die den Geist betäuben, ihn ganz abschalten und vor allem langfristige Schäden verursachen. Vernunft gilt im Islam als Motor aller Kenntnisse, die Unwissenheit zu überwinden. Sie schützt die Menschen, vom richtigen Weg abzuweichen, vorausgesetzt natürlich, dass er diese Gabe auch richtig nutzt. Unser Verstand wird uns zu dem führen, was richtig und nützlich ist: Wem Verstand gegeben ist, fürwahr, der ist errettet.² Denjenigen, die mit dem Verstand ausgestattet sind, sind Pflicht und Verantwortung auferlegt. Dies geht so weit, dass dem Menschen der Verstand zu eigen ist, bevor er als religiös verantwortlich erklärt (mukallaf) und von ihm die Einhaltung der Gebote und Verbote verlangt wird. Zudem bestätigte der Prophet Muhammed dies selbst.³ Eine Vernunft ohne Glauben bleibt daher  Alle Koranzitate aus Paret, Rudi: Der Koran. Stuttgart: W. Kohlhammer, 2006.  Al-Bayhāqī, Aḥmad ʾibn al-Ḥussein: Šuʿabul- ʾimān, 4/159.  Vgl. Der Hadith: „Menschen ohne geistige Reife, ohne intellektuelle Gaben wären nicht im religiösen Sinne verantwortlich.“ Überliefert von An-Nasāʾīy: 2/ 104 – al-Albānī: Silsilat al-Aḥadīṯ al ḍaʿhfah, 1/ 53. https://doi.org/10.1515/9783110588590-003

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Ismail Abdallah

unvollständig. Konsequenterweise legt dieser Glaube Wert auf Wissen, Denken und Forschen. Eine Vernunft, die nicht danach strebt, ist nicht produktiv und kann sich nicht weiterentwickeln. Die Erziehung des reifen Menschen kann durch den Einsatz der Vernunft ermöglicht werden. Die Stärkung der Vernunft und des Willens stellen die wichtigsten Bedingungen auf dem Weg zur Vervollkommnung des Menschen dar. Es muss dabei beachtet werden, dass beide gleichermaßen ausgeprägt sein müssen, da sie sich sonst negativ oder unfruchtbar auswirken können. Dieses Ziel kann man dann erreichen, wenn die Fähigkeiten der Vernunft in ihrem Bereich und die Fähigkeiten des Willens in seinem Bereich aktiviert werden. Ziel ist es, durch seine Vernunft eine im islamischen Sinne gute Entscheidung zu treffen und kraft seines Willens diesen Entschluss beizubehalten.⁴ Die Vernunft sei das Ziel, das wahre menschliche Glück in diesem und dem jenseitigen Leben zu erreichen. Sie macht das Streben nach Wissen zur Pflicht eines jeden Muslims und erhebt sogar wissenschaftliches Arbeiten zu einem Gottesdienst. Der Qurʾān lädt den Menschen ein, die Natur zu erforschen, um die Existenz Gottes und seine Attribute zu erkennen. Im Qurʾān finden Muslime Grundlagen und Richtlinien für die wissenschaftliche Forschung. Muslime können sich heute weiter entwickeln, wenn sie diese Gabe Allahs -ihren Verstandnutzen und gleichzeitig Bildung und Forschung vorantreiben. Es besteht der Anspruch, den Verstand innovativ einzusetzen. Wer nur imitiere, so der Qurʾān, ohne darüber nachzudenken und zu hinterfragen, was die Alten hinterlassen haben, könne auch keinen Fortschritt erwarten.

1 Vernunft im Qurʾān und in der Sunna Der Qurʾān interessiert sich für die Vernunft und misst ihr eine große Bedeutung bei. Es gibt mehr als 250 Verse zu Vernunft und ihren Synonymen. Für Muslime ist der Qurʾān ein Buch zur Rechtleitung, Anweisung und zur gleichen Zeit ein Buch zum Nachdenken: Allah appelliert im Qurʾān ständig an die Gläubigen nachzudenken, zu reflektieren, den Verstand zu gebrauchen.⁵

 Rad, M. Razavi: Die Erziehung eines vollkommenen Menschen im Islam. Hamburg: Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V, 2003, 25.  Hofmann, Murad Wilfried: Der Islam als Alternative. München: Hugendubel, 1995, 55.

Stellung der Vernunft im Islam

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Der Begriff (Vernunft) kommt im Qurʾān einerseits im eigentlichen Sinne, andererseits im metaphorischen oder hermeneutischen Sinne vor. Was die eigentliche Bedeutung betrifft, findet man am Ende ungezählter Verse im Qurʾān die Aufforderung „wollt Ihr denn nicht nachdenken?“, oder „dies ist für Leute, die nachdenken“, wie z. B.: (Oder) wollt ihr den (anderen) Leuten gebieten, fromm zu sein, und (dabei) euch selber vergessen, wo ihr doch die Schrift leset? Habt ihr denn keinen Verstand? (2:44) Wir haben sie als einen arabischen Koran hinabgesandt. Vielleicht würdet ihr verständig sein. (12:2) Darin liegen Zeichen für Leute, die Verstand haben. (30:24)

Hinsichtlich der metaphorischen oder hermeneutischen Bedeutung gibt es im Qurʾān einige Konzepte, die sich auf die Vernunft beziehen und als Synonyme zu betrachten sind: ʾuliy al-Albāb „In der Erschaffung von Himmel und Erde und im Aufeinanderfolgen von Tag und Nacht liegen Zeichen für diejenigen, die Verstand haben,“ (3:190) al-Fūʾād „Und Allah hat euch aus dem Leib eurer Mutter hervorkommen lassen, ohne daß ihr (schon irgend) etwas wußtet, und euch Gehör, Gesicht und Verstand gegeben. Vielleicht würdet ihr dankbar sein.“ (16:78) al-Qalb „Darin liegt eine Mahnung für jemanden, der Verstand hat, oder der (aufmerksam) zuhört und bei der Sache ist.“ (50:37). ʾŪliy Nuha „Eßt und weidet euer Vieh. Darin sind wahrlich Zeichen für Leute von Verstand.“ (20:54) al-ʿilm „Er besteht aus klaren Zeichen (die) im Innern derer, denen das Wissen gegeben worden ist (ihren festen Platz haben). Nur die Frevler leugnen unsere Zeichen.“ (29:49) at-Taḏakur „Allah aber ruft zum Paradies und zur Vergebung durch seine Gnade. Und er macht den Menschen seine Verse klar. Vielleicht würden sie sich mahnen lassen.“ (2:221) al-Fikr „Ist (etwa) der Blinde dem Sehenden gleich(zusetzen)? Denkt ihr denn nicht nach?“ (6:50) al-Fiqh „Und die einen von euch die Gewalt der anderen fühlen zu lassen. Schau, wie wir die Zeichen abwandeln! Vielleicht würden sie Verstand annehmen.“ (6:65)

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aš-Šuʿūr „Und sagt nicht von denen, die um der Sache Allahs willen getötet werden, (sie seien) tot. (Sie sind) vielmehr lebendig (im Jenseits). Aber ihr merkt es nicht.“ (2:154) al-ʾibṣār „Wenn über diejenigen, die gottesfürchtig sind, eine Erscheinung vonseiten des Satans kommt, lassen sie sich mahnen, und gleich sehen sie (wieder klar).“ (7:201) ad-Dirāyah „Während (unter den Menschen) niemand weiß, was er am nächsten Tag erwerben wird, und niemand weiß, in welchem Land er sterben wird. Allah weiß Bescheid und ist (über alles) wohl unterrichtet.“ (31:34) at-Tadabur „Machen sie sich denn keine Gedanken über den Koran? Oder sind (gewisse) Herzen versiegelt (und gegen jede Einsicht versperrt)?“ (47:24) al-Baṣīrah „Sag: Das ist mein Weg. Ich rufe (euch) zu Allah aufgrund eines sichtbaren Hinweises (ʿala basieratin), (12:108)

Es gibt eine dritte Art von Qurʾānversen, die über die Vernunft sprechen, ohne das Wort selbst oder eines der Synonyme zu nennen, wie die folgenden Verse zeigen: Wenn es im Himmel und auf Erden außer Allah (noch andere) Götter geben würde, wären beide dem Unheil verfallen. Allah, der Herr des Thrones, sei gepriesen! (Er ist erhaben) über das, was sie aussagen. (21:22) Hat denn nicht der, der Himmel und Erde geschaffen hat, (auch) die Macht, ihresgleichen zu schaffen? Aber gewiß! Er ist es, der (alles) erschafft, und der (über alles) Bescheid weiß. (36:81)

1.2 Vernunft in der Sunna Nach Angaben der Sunna gilt die Vernunft als das wichtigste Geschenk für den Menschen, denn ohne dieses besondere Geschenk gäbe es keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Die Person, die ihren Verstand nicht benutze, falle in einen niedrigeren Rang als ein Tier. Aber wer seinen Verstand auf dem Weg des Islam einsetze, habe einen höheren Rang als ein Engel. Oh ihr Menschen, kennt und wisst euren Schöpfer! Lehrt euch gegenseitig den Verstand. Denn mit dem Verstand werdet ihr wissen, was euch für verboten und was euch für erlaubt befohlen wurden ist. Wisset, dass eure Rettung der Verstand ist. Ein Unwissender ist jener, der sich gegen Allah stellt. Die Affen und die Schweine, haben mehr Verstand als jener, der

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sich gegen Allah stellt. Haltet euch fern vor weltlichen Bedürfnissen, denn sie gehören zu den Verlierern.⁶

Trotz der Schwäche dieses Hadith, wie Imam Abū Ḥāmid al-Ghazālī (1058 – 1111) in seinem Buch „ʾiḥyāʾ ʿulūmu ad-Dīn Buch sagte,⁷ gibt es aber auch andere authentische Hadithe, die diese Aussage bestätigen. Es ist bekannt, dass für die religiöse Beauftragung Vernunft als elementar gesehen wird. „Es wurde für meine Umma den Fehler, die Vergessenheit und das, was sie dazu gezwungen wurden, gehoben.“⁸ Gemäß der Sunna braucht das Bemühen (ʾiǧtihād) im Islam das Vermögen eines vernünftigen Denkens. Als der Prophet Muhammed Muʿāḏ ʾibn Ǧabal nach Jemen schickte, fragte er ihn: „O Muʿāḏ! Wenn man dir eine Sache gibt, wie wirst du darüber richten?“ Muʿāḏ sagte: „Ich werde mit Allahs Buch richten.“ Der Gesandte Allahs fragte dann: „Und wenn du diese Sache im Buch Allahs nicht findest?“ Darauf antwortete Muʿāḏ: „Dann werde ich mit der Sunna des gesandten Allahs richten.“ Dann sagte der Prophet: „Und wenn du diese Sache auch in der Sunna nicht findest?“ Darauf antwortete Muʿāḏ: „O Gesandter Allahs! Dann werde ich das Bemühen (ʾiǧtihād) aus meinem Verstand machen.“ Der Prophet freute sich sehr auf diese Antwort von Muʿāḏ und sagte zu ihm, indem er (sanft) auf seiner Brust schlug: „Gepriesen sei Allah, Der den Gesandten des Gesandten Allahs viel Erfolg gewährt hat und somit ist der Gesandte Allahs zufrieden.“⁹ Die Sunna motiviert die Muslime zu Anstrengungen (ʾiǧtihād), der Prophet Muḥammad habe seine Umma immer zu diesem Prinzip inspiriert, auch zur Belohnung. In einem authentischen Hadith sagte der Prophet folgendes: „Wenn der Ḥākim (Richter) etwas beurteilte und sich mit dem ʾiǧtihād beschäftigte und dabei zutreffend ist, dann gibt es für ihn zweimal die Vergütung. Wenn er aber irreführt, dann bekommt er nur eine Vergütung.“¹⁰ „Allah, der Allmächtige, erschuf den Verstand und sprach zu ihm: „Wende dich zu Mir!“ Der Verstand wandte sich zu Allah. Danach befahl Er ihm: „Wende dich zur Schöpfung“ Der Verstand wandte sich zur Schöpfung. Allah, der Erhabene sagte: „Ich schwöre auf meiner Macht, dass ich nichts Wertvolleres erschaffen habe als wie dich. Ich würde dich nur jenen zuschreiben, die Ich liebe. Ich kann dir befehlen und dich ablehnen. Ich

 Ibn Ḥaǧar al-ʿasqalāni: al-maṭālib al-ʿaliyah, 3/208.  Al-Çazalī, Abū Ḥāmed: ʾiḥyāʾ ʿulūmi ad-Dīn, 1/255.  Ibn Ḥaǧar al-ʿasqalāni: Fatḥ al-Barī, 5/191.  At- Termiḏī: 7/273, Musnad Aḥmad: 5:230, 236, 242.  Al-Buḫarī, Hadith Nr. 7352. Muslim. Hadith Nr. 1716.

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kann mit dir gehen und mit dir Belohnung erlangen lassen und Ich kann mit dir bestrafen.“¹¹ Interessant ist die Überlieferung von ʾAnas ʾibn Mālik: Ein Volk sei zu dem Propheten gekommen und habe in einer übertriebenen Weise begonnen, eine Person zu loben. So habe der Gesandte gefragt: „Wie ist der Verstand dieses Menschen?“ Die Leute sagten: „O Gesandter Allahs, wir erzählten dir seine Gottesdienste und all die verschiedenen guten Dinge, die er machte, und du fragst uns, wie sein Verstand ist:“ Der Prophet antwortete: „Die Sünde von einem, der seinen Versand ignoriert und so aus Dummheit begeht, ist eine höhere Sünde, als die Unzucht. Jeder Diener Gottes, dessen Rang bei Allah hoch ist, wird anhand seines Verstandes eingestuft.“¹² Angesichts der Bedeutung der Vernunft in der Sunna und ihrer großen Rolle im Islam im Allgemeinen erkennt man, dass die Vernunft eng mit dem Glauben verbunden ist.Wer seinen Verstand nicht vollständig nutzt, dessen Glaube (ʾImān) ist nicht vollständig. Der Prophet hat diese Wahrheit durch seine Worte erklärt: Die höchste Qualität des Menschen ist der Verstand. Er führt ihn zur Rechtleitung und hält ihn vom Schlechten fern.“¹³

2 Die Rolle der Vernunft in der Moderne Die europäische und die islamische Kultur sind historisch miteinander verflochten. Die Verflechtung zwischen ihnen und die gegenseitigen Auswirkungen sind schon seit Jahrhunderten in den verschiedenen Bereichen vorhanden. Beide sind durch eine lange gemeinsame Entwicklung verbunden. Die christlich geprägten europäischen und die islamischen Länder teilen eine über dreizehn Jahrhunderte gemeinsame Geschichte. Während der Blütezeit des Islam unter den Abbasiden (750 – 1258) erlebte Europa im Mittelalter einen Einfluss durch die islamischen Kultur in verschiedenen Bereichen. Die islamische Kultur wurde damals als die fortschrittlichere und wohlhabendere angesehen. Die Muslime brachten Lehren der Naturwissenschaften wie der Physik, Astronomie, Geographie, Mathematik und Medizin, die sie aus dem antiken Erbe nach Europa weiterentwickelt hatten. Darüber hinaus

 ʾibn Tayymiyah: Mağmūʿ al-Fatawah, 18/336.  ʾibn Ḥaǧar: al-Maṭālib al-ʿālīah, 3/212.  ebd., 3/213.

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Poesie und Musiktheorie, nicht zuletzt Vorstellungen von einem verfeinerten Leben, wie es die Europäer bis dahin nicht kannten.¹⁴ In vielen Bereichen des täglichen Lebens ist das islamische Erbe präsent, die Begriffe Zucker, Kaffee, Orange, Algebra, Koffer oder Sofa stammen ursprünglich aus dem Arabischen und verweisen darauf, dass sie durch islamische Kontakte eingeführt wurden. Auch die moderne Mathematik ist ohne arabische Wissenschaftler nicht denkbar, da sie in Europa die Null und das Rechnen mit Unbekannten einführten.¹⁵ Nach dem Zerfall des islamischen Kalifats in Andalusien im Jahre 1492 und dem kulturellen Rückzug der islamischen Länder stellte sich in Europa mit der Renaissance und Aufklärung eine moderne Entwicklung ein, von der alsdann die islamische Zivilisation beeinflusst wurde: „Der Westen wiederum wirkt auf vielerlei Weise in die islamische Welt hinein, nicht allein politisch und militärisch, sondern über die materielle Kultur, die Technologie, moderne Kommunikations- und Organisationsformen, denen sich niemand entziehen kann, der sich nicht vollkommen von seiner Umwelt isoliert.¹⁶ Nach der Begegnung der islamischen mit der europäischen Kultur im 19. Jahrhundert entstand im arabischen Raum eine neue Geistesbewegung, die unter der sogenannten islamischen Aufklärung bekannt ist. Diese Richtung hat ihren Namen von der europäischen Aufklärung abgeleitet. In der Zeit der europäischen Aufklärung wurde die menschliche Vernunft zum Maßstab eines jeden Handelns erklärt. Die Vernunft wurde als das einzige Instrument angesehen, um Wahrheit zu erreichen. Genauso meinten die Befürworter der islamischen Aufklärung, dass Vernunft im islamischen Denken schon an sich eine deutliche Relevanz gehabt habe, da der Islam grundsätzlich eine Religion der Vernunft sei.¹⁷ So konnte die Gruppe von Wissenschaftlern und religiösen Gelehrten das Denken der Aufklärung aufnehmen, sowie für theologische Fragen und religiöse Rechtsgutachten ausbauen. Gedankengut und Werke einiger dieser Denker in der islamischen Welt werden somit als aufklärerisch bezeichnet. Der entscheidende Maßstab bei den europäischen Aufklärern schien die autonome menschliche Vernunft allein gewesen zu sein, die überaus kritische Haltung gegenüber der „Religion“ war dafür ausschlaggebend. Obwohl sie allgemein von Religion sprachen, lässt sich doch das abendländische Christentum als Hintergrund dieser Kritik erkennen.

 Watt, William Montgomery: Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter, übers. v. Holger Fließbach. Berlin: Wagenbach 2001, 4.  Rashid, Ahmad: Europas islamisches Erbe. Bonn: Tagung der Evangelischen Akademie im Rheinland, Beitrag am 03.07. 2006, 2.  Krämer Gudrun: Geschichte des Islam. Berlin: C. H. Beck, 2005, 43.  ʿImārah, Muḥammad: Silsilah fī at-Tanwīr al-ʾislāmīy. Kairo, 2008, 23.

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Einige aufgeklärte islamische Denker gingen so weit und meinten, dass die Freiheit des Denkens unantastbar und der Gebrauch der Vernunft unvermeidlich sei. Dies betreffe religiöse Fragen, Rechtsgutachten, Auslegungen, Hadithe usw., die im islamischen Denken von den festgelegten Dogmen unterschieden wurden. Hierin konnte und sollte es durch den Gebrauch der Vernunft Entwicklung und Fortschritt für die Menschen geben.

3 Ausgewählte Beispiele aus der Moderne In der zweiten Hälfte des neunzehnten und am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts begannen einige islamische Denker der modernen Zeit Modelle zu entwickeln, um eine gesellschaftliche Modernisierung in der islamischen Welt durchzusetzen. Sie waren mit festgefahrenen religiösen Ansichten konfrontiert, die gesellschaftliche Veränderung als grundsätzlich nicht wünschenswert ansahen und mit ihrer konservativen Weltsicht jede Modernisierung ablehnten. Mit vernünftigen, rationalen Argumenten distanzierten sie sich von den traditionellen Ideen, versuchten, die religiösen Auffassungen für den Fortschritt in allen Bereichen in Einklang zu bringen und auf diese Art der Welt und der Religion zu dienen. Es gebe im Islam keinen Widerspruch zwischen Religion und Wissen, Religionswissenschaften und modernen Wissenschaften, Vernunft und Offenbarung. Die Muslime müssen zwischen dem Islam als einer Religion und dem islamischen Denken klar unterscheiden.¹⁸ Die unterschiedlichen Meinungen in den religiösen Fragen, Rechtsgutachten, Auslegungen, Hadithen usw. sollten im Fall von Uneinigkeit mit Zeit und Ort in Einklang gebracht werden. Auf diese Art und Weise könne die Vernunft der Welt und der Religion dienen. Nachfolgend sind die wichtigsten muslimischen Denker und Gelehrten aufgeführt, die sich für den Wert der Vernunft in der modernen Zeit interessieren.

3.1 Rifāʿa aṭ-Ṭahṭāwī Aṭ-Ṭahṭāwī (1801– 1873) entstammte einer alten Adelsfamilie aus Ṭahṭa in Oberägypten und genoss in seiner frühen Kindheit die Privilegien der Aristokratie. Mit der Machtübernahme von Muḥammad ʿAlī (1769 – 1839) wurden diese Privilegien

 Šāmah, Muḥammad: Die Aufklärung im islamischen Denken. Kairo: Wahbah Bibliothek, 2011, 21.

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abgeschafft und aṭ-Ṭahṭāwīs Familie zog zunächst nach Ğirǧa, später nach Qinā. Nachdem er den Koran auswendig gelernt hatte, studierte er an der al-AzharUniversität. Aṭ-Ṭahṭāwī war einer der ersten ägyptischen Gelehrten, die in engen Kontakt mit der westlichen Zivilisation kamen und sie zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen machte. Er studierte in Frankreich und konnte von der europäischen Kultur profitieren. Später wurde er ein ägyptischer Autor, Lehrer, Übersetzer, Ägyptologe und einer der wichtigsten Vertreter der ägyptischen Aufklärung in der Neuzeit. Von 1826 bis 1831 hielt er sich in Paris auf und beobachtete sämtliche Aspekte westlichen Lebens. In dieser Zeit bedeutete eine Reise nach Europa in der Regel eine Reise nach Paris, das damals aus arabischer ebenso wie aus europäischer Sicht als „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ galt. Aṭ-Ṭahṭāwī wollte mit dem Wissen aus Europa eine moderne Staatsorganisation aufbauen. Nach fünf Jahren kehrte er nach Ägypten zurück und übergab als Fazit seines Aufenthalts in Paris seinem Gönner und Auftraggeber Muḥammad ʿAlī einen buchstäblich bunten Reisebericht mit dem Titel: „Taḫlīṣ al-ʾibrīz fī talḫisi bārīz“ (Die Läuterung des Goldes in einer zusammenfassenden Darstellung von Paris), der ihm große Bewunderung und viele Ehrungen verschaffte. Aṭ-Ṭahṭāwī wird als Initiator der geistigen Öffnung Ägyptens Europa gegenüber, als Vater der Nahda (Wiedererwachen, Renaissance) und des Modernismus angesehen.¹⁹ Sein Bericht über seinen Pariser Aufenthalt erschien im Jahre 1849, in arabischer Sprache und in Versform unter dem Titel „Ein Muslim entdeckt Europa. Die Reise eines Ägypters im 19. Jahrhundert nach Paris“. Dieser Bericht ist auch heute noch von Interesse als eines der wenigen Dokumente des 19. Jahrhunderts, aus denen der islamische Blick auf den Westen in jener Zeit nachvollziehbar wird.²⁰ Aṭ-Ṭahṭāwī meinte, dass alles im Islam gut geregelt sei. Aus aṭ-Ṭahṭāwīs positivem, aber nicht unkritischem Blick auf die europäische Gesellschaft spricht muslimisches Selbstbewusstsein und Offenheit gegenüber westlicher Kultur. Besonders die „Franken“ oder Franzosen galten Aṭ-Ṭahṭāwī als wissenschaftlich besonders fortschrittlich. Er sah europäische Werte durchaus als Vorbild für die Modernisierung seines eigenen Landes an, die arabische Aufklärung (Verwendung der Vernunft) reformierte im späten 19. Jahrhundert das kulturelle und intellektuelle Leben Ägyptens bis zu einem gewissen Grad. Letztlich blieb es aber bei einer eingeschränkten Übernahme europäischer Vorbilder, der sogenannten

 Nabli, Mahmoud: Renaissance, Säkularisierungstendenzen und Tradition im arabischen Orient des 19. und 20. Jahrhundert. Dissertation. Heidelberg, 1987.  Grindel, Susanne: Die Überlegenheit der Franken, München 2006, 20.

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„halben Moderne“. Während wissenschaftlich – technische Errungenschaften begrüßt wurden, scheiterte die Übernahme säkularer Ideen wie die der Aufklärung am Widerstand etablierter konservativer Rechtsgelehrter und Theologen.²¹ Nach seiner Rückkehr aus Paris konzentrierte sich aṭ-Ṭahṭāwī auf vernünftige Reformen für die Gesellschaft. Er hatte sich von der Tradition und Nachahmung entfernt und begann praktische Dinge anzuwenden. Aufgrund seines Genies wurde er gleich nach seiner Rückkehr als erster Ägypter zum Übersetzungslehrer an der Ägyptischen Medizinischen Schule ernannt und machte sich in der Folge einen Namen als Übersetzer und Begründer des ägyptischen Journalismus. Als Direktor der Al-Alsun-Schule gründete er die erste ägyptische Zeitung in arabischer Sprache (al-Waqāʾiʿ al-Miṣrīyya). Viele Wissenschaftler, die sich mit der arabischen und islamischen Kultur beschäftigten, galten aṭ-Ṭahṭāwī als Wegbereiter der islamischen Moderne im Nahen Osten bzw. in Ägypten. In der arabisch- und nicht- arabischsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts gibt es kaum einen Aufsatz oder eine Studie, die aṭṬahṭāwī nicht in einer übertriebenen Apologetik vorgestellt hätten. Liberale, Sozialisten, Marxisten, Apologeten des Islam etc. schienen und scheinen bis heute dieser Überzeugung zu sein.²²

3.2 Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī Al-Afġānī wurde 1838 in Asadabad in Afghanistan geboren und starb 1897 in Istanbul in der Türkei. Seine religiöse und politische Unterweisung erhielt er zuerst in seiner Heimat, später in Qazvin (1848), sowie Teheran (ab 1850) und anschließend im Jahre 1852 in den Zentren der schiitischen Lehre im Irak. AlAfġānī war einer der bedeutendsten muslimischen Philosophen und einer der Gründer der Moderne.²³ Im Jahre 1883 diskutierte al-Afġānī in seiner berühmte Korrespondenz mit dem französischen Philosophen Ernest Renan (1823 – 1892) über den Zustand des Islam und der islamischen Zivilisation. Als Reaktion auf Renans Behauptung, der Islam stehe im Konflikt mit Entwicklung und Moderne, kritisierte al-Afġānī den Diskurs von Renan. Al-Afġānī selbst kritisierte den gegenwärtigen Zustand des Islam, den er durch Uneinigkeit, Aberglaube und mangelnde Bildung als ver ebd., 22.  Nabli, Mahmoud: Renaissance, Säkularisierungstendenzen und Tradition im arabischen Orient des 19. und 20. Jahrhundert. Dissertation. Heidelberg, 1987, 46.  Imad, Mustafa: Der politische Islam. Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah. Wien: Promedia, 2013, 23.

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fälscht ansah, lehnte aber jede Verallgemeinerung ab und beteuerte die vollkommene Kompatibilität des wahren Islam der Vorfahren mit der Moderne. Renan war beeindruckt von den Bemerkungen al-Afġānīs und bezeichnete ihn als einen gelehrten Freidenker.²⁴ Im Laufe seines Lebens beschäftigte sich al-Afġānī mit zwei zentralen Themen, nämlich der Islamischen Einheit und der Forderung nach einem rationalen und modernisierten Islam, der Technologie und Wissenschaft umfassen sollte. Darüber hinaus verteidigte er den Islam gegen die politische und wirtschaftliche Abhängigkeit des Westens. Al-Afġānī agitierte gegen die Briten, die Ägypten und Indien kolonialisierten und Muslime unterdrückten. Al-Afġānī sah den Grund für die Schwäche der Muslime in ihrer fehlenden Einigkeit, sowie in der orthodoxen Form des Islam, wie er von den Rechtsgelehrten und Philosophen des 19. Jahrhunderts gepredigt wurde. Nach der Ansicht der Orthodoxie waren Islam und Moderne, das heißt, Wissenschaft und technischer Fortschritt, unvereinbar. AlAfġānī widersetzte sich dieser Ansicht. Er sagte, Islam sei mit modernen Technologie und Wissen kompatibel. Es müsste mit alten Ideen gebrochen und der Islam durch den Einsatz der Vernunft modernisiert werden.²⁵ Während aṭ-Ṭahṭāwī als Ägypter vor allem die Aufklärung in seinem Heimatland realisieren wollte, war Al-Afġānī ein weitgereister Wissenschaftler, der in vielen muslimischen Ländern wirkte. Beide mussten jedoch ähnliche Argumente benutzen, um ihre Vorschläge auch für religiöse Konservative akzeptabel zu machen. Al-Afġānī meinte, dass die islamische Welt nicht aufgrund des Islams unterlegen sei, sondern weil die muslimischen Gelehrten aus dem Islam eine dem Denken feindlich gegenüberstehende Religion gemacht hätten. Er verwehrte sich gegen jeden Anspruch westlicher kultureller Überlegenheit. Der Westen habe in der Moderne zu sehr den rationalen Aspekt des menschlichen Seins hervorgehoben und dabei den spirituellen Aspekt des Menschen vernachlässigt. Doch in Wirklichkeit müssten beide in Einklang sein, wie es im Islam angelegt sei. Durch eine Hinwendung zu den Wurzeln würde eine spezifische islamische Moderne entstehen, die den Muslimen einen Weg zu Fortschritt und Wohlstand zeige. Diese Grundgedanken sind seitdem das Fundament für die Formel der „Re-Islamisierung“. Die Erkenntnis al-Afġānīs hatte eine internationale Wirkungsgeschichte.²⁶

 Nikki, Keddie: An Islamic Response to Imperialism: Political and Religious Writings of Sayyid Jamal al-Din al-Afghani. Berkeley, CA: University of California Press, 1968.  ebd., 121.  Schmidt, Alexander: Reform zwischen Koran und Moderne, Muhammad Abduh’s Vernunftbegriff. Bachelorarbeit. München: Grin, 2013, 2.

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Al-Afġānī hatte nicht nur weitreichende Kenntnisse in Religion, Philosophie, Geistes- und Naturwissenschaften und Medizin, sondern er war auch Politiker mit ganz bestimmten Ansichten über die Renaissance (nahḍa) des Islam. Diese verbreitete er unter seinen Schülern und seinen Bekannten, und beeinflusste besonders seinen Schüler Muḥammad ʿAbduh.

3.3 Muḥammad ʿAbduh Muḥammad ʿAbduh (1849 – 1905) war als Journalist, Religions- und Rechtsgelehrter sowie Großmufti von Ägypten tätig. Viele Forscher und Autoren haben ihn als vernünftigen Denker, Reformer, Nationalisten und Religionsgelehrten bezeichnet: „Sein wichtigster Beitrag zur islamischen Aufklärung stellte die Vermittlung der Sicht auf den Islam als eine rationale Religion dar, die zu modernen Entwicklungen wie Wissenschaften und Technik keinesfalls im Widerspruch stehen müsse.“ ²⁷ Im Jahre 1870 lernte ʿAbduh Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī kennen, der ihm einen neuen Blick auf die traditionellen Lehrinhalte eröffnete. Von ihm übernahm ʿAbduh den Blickwinkel, dass sich Muslime zur gegenwärtigen Zeit vom wahren Islam entfernt hätten und sich daher wachsende Niederlagen gegenüber dem Westen eingestehen müssten: „Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī klärte Muḥammad ʿAbduh sowohl in der Religion als auch in der Philosophie auf.“²⁸ So begann ʿAbduh die traditionellen Ideen in den Texten und Fußnoten der religiösen Lehrwerke zu kritisieren. Er tadelte die Gelehrten wegen ihres Glauben an den wörtlichen Text, ihres Verlustes an kritischer Kompetenz und des daraus entstehenden Aberglaubens. Die enge Verbindung mit al-Afġānī und die Begeisterung für seinen Geist und seine Ansichten hatten in ʿAbduh den Geist des Widerstandes und den Wunsch geweckt, die bestehenden Fesseln des Denkens zu sprengen, unter denen damals alle Teile des Volkes litten. Angeregt durch seinen Lehrer und die Lektüre westlicher Literatur veränderte sich Abduhs Blick für die damals aktuellen politischen und gesellschaftlichen Probleme Ägyptens. Ägypten sollte durch höhere Bildung und richtig gelebte Religiosität in die Moderne geführt werden.²⁹ Seine vernünf-

 Kügelgen, Anke von:ʿAbduh, Muḥammad. In Encyclopaedia of Islam, 32008, 25 – 32.  Al-Bahīy, Muḥammad: Muḥammad ʿAbduh. Eine Untersuchung seiner Erziehungsmethode zum Nationalbewusstsein und zur nationalen Erhebung in Ägypten. Hamburg: Hansische Universität, 1936, 17.  Elite, Kedourie: Afġānī and ʿAbduh. An Essay on Religious Unbelief and Political Activism in Modern Islam. London: Frank Cass, 1997, 33.

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tige Reife und seine aufklärerischen Gedanken lassen sich aus zwei Faktoren herleiten, einmal durch den Kontakt zu seinem Lehrer al-Afġānī zum anderen durch den Abduhs Aufenthalt in Paris. Er blieb zwar nur drei Jahre dort, aber diese Zeit beeinflusste sein Leben stark, insbesondere seine Erkenntnis, welches Vermögen die Vernunft für den damaligen islamischen Diskurs haben könnte und sollte. Nach seiner Rückkehr aus Frankreich im Jahre 1887 bemühte ʿAbduh sich darum, seine im Westen gewonnenen positiven Erfahrungen mit den islamischen Lehren in Einklang zu bringen. Das organisierte und respektvolle Leben in Paris hatte ʿAbduh sehr beeindruckt, er ließ sich dadurch motivieren, seiner islamischen Gemeinschaft diesen Fortschritt und Wohlstand zu ermöglichen. Zeit seines Lebens versuchte er den Islam mit westlichem Denken zu verbinden. Er war davon überzeugt, dass der Westen die islamischen Werte, Moral und Sozialethik praktizieren würde, obwohl dieser nicht muslimisch war. Nach seiner Rückkehr machte er die berühmte Aussage: „Ich fand in Frankreich Islam ohne Muslime und ich fand in meinem Land Muslime ohne Islam.“³⁰ ʿAbduh entwickelte eine Vision der Stärkung des Islam, indem er feststellte, dass es möglich war, grundlegende muslimische Werte zu aktualisieren. Das Leben in Frankreich hatte ihm gezeigt, dass es möglich war. Der bestehende Diskurs seiner Zeit in Ägypten litt besonders unter der Tatsache, dass die religiösen Grundwerte der Religion nicht verstanden wurden. Im Zusammenhang mit der europäischen Aufklärung bekam der Begriff der Vernunft die höchste Relevanz in ʿAbduhs Ansatz. Die Vernunft war das Mittel, das die Idee der Einheit umsetzen sollte, das Universelle des Menschen und der Geschichte, sowie die Versöhnung des Einzelnen und des Ganzen, des Einzelnen und der Gesellschaft. ʿAbduh betrachtete dies als ein muslimisches Erbe. Zur Zeit von ʿAbduh wurde at-Tafsīr bil-raʾiy, die Auslegungsmethode, die eine eigene sprachliche und sachliche Reflexion des Interpreten integrierte, in Ägypten von nur wenigen Gelehrten praktiziert. An al-Azhar wurde at-Tafsīr bil-maʾṯūr gelehrt. Dort arbeitete man nicht unmittelbar am Text des Qurʾān, vielmehr war man bestrebt, das Prestige alter exegetischer Werke, vor allem von aṭ-Ṭabarī und Ibn Kaṯīr zu wahren, die traditionellen Tafāsīr als heilige Texte zu konstatieren und deren Glaubwürdigkeit und Legitimität weder zu analysieren noch zu diskutieren.³¹

 http://www.alarabiya.net/views/2005/07/26/15275.html; Zugriff am 28.11. 2019.  Seeger, Antje: Die methodischen Hintergründe der Schule Muhammad Abduhs in der Koranexegese. München 2007, 31.

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Als ʿAbduh mit seiner Qurʾān- Exegese begann, hielt er an al-Azhar fortlaufende Vorträge. Er verließ sich auf seine Sicht auf den Koran, um seine Gedanken zu entwickeln. Diese Vorträge wurden zuerst gesammelt und danach durch Rašīd Ridā „nach ʿAbduhs Zustimmung“ in der Monatsschrift „al-Manār“ veröffentlicht. Muḥammad ʿAbduh repräsentierte eine neue Richtung in der Qurʾān- Exegese. Sie richtete sich gegen die Direktive der Azhar bezüglich der Lesung und Interpretation des Qurʾān und ging in erster Linie vom Grundsatz aus, dass der Islam eine Weltreligion sei, geeignet für alle Völker, alle Zeiten und alle kulturellen Verhältnisse. So erklärte ʿAbduh einmal: Unsere Religion fasst nichts in sich, was der modernen Zivilisation, über deren Nutzen alle fortgeschrittenen Völker einig sind, widerstrebe; es seien denn einige Fragen des Zinsengesetzes. Ich, sagt ʿAbduh, bin bereit die Übereinstimmung des wahren Islam mit allen, von den Franken schon früher erprobten, sowie den übrigen Erfordernissen nachzuweisen, deren die Osmanen für den Fortschritt ihres Reiches bedürfen. Jedoch nur unter der Bedingung, dass ich dabei nicht an einen bestimmten Ritus, sondern lediglich an den Koran und die authentische Sunna gebunden sei. Muḥammad Rašīd Ridā (1865 – 1935), beschreibt im Einleitungswort zu seinem Kommentar in „al-Manār“ ʿAbduhs Methode, dass sie die einzige eigenartige umfassende Koranauslegung ist, die sich auf die authentische Überlieferung und die rationale Denkweise stütze. Sie ziele vor allem darauf die göttlichen Normen in den Geschöpfen zu erklären und den Koran als Rechtleitung für alle Menschen in jedem Zeitalter und Ort darzulegen. Sie stelle einen Vergleich zwischen den koranischen Lehren und ihrer Praxis im heutigen Leben der Muslime an, die sich leider von den authentischen Überlieferungen und der Lehre der daran festhaltenden Generation der ersten Muslime abgewandt hätten. In der Auslegungsmethode ʿAbduhs seien die Einfachheit und die sprachliche Klarheit berücksichtigt worden. Der Verfasser sei bestrebt gewesen, komplizierte Fachausdrücke bei wissenschaftlichen Reflexionen zu vermeiden. Auf diese Weise könne die Auslegung dem einfachen Leser sehr hilfreich sein, doch auch der gebildete Leser solle nicht darauf verzichten.³² Die islamische Gemeinschaft zur Zeit ʿAbduhs berief sich in allen Bereichen des religiösen Lebens auf die alten Quellen des Islam. Der damalige Muslim war nur Imitator (muqallid), musste einer der anerkannten vier Rechtsschulen angehören und den in ihren Schriften festgesetzten Normen folgen.³³ Muḥammad

 ebd.  Goldziher, Iganz: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung. Leiden/Boston: Brill, 1920, 329.

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ʿAbduh jedoch versichert mehrmals, dass die Freiheit des Gelehrten im Islam garantiert sei. So heißt es in al-Manār: Die Türen der Bemühung (ʾiǧtihād) seien nicht verschlossen, vielmehr weit geöffnet für die durch neu eintretende Lebensverhältnisse hervorgerufenen Fragen, zu deren Beantwortung nicht dem veralteten Buchstaben, sondern der Rücksicht auf das wohlverstandene Gemeinwohl der islamischen Welt das erste und entscheidende Wort zukommt.³⁴ Goldziher (1850 – 1921) behandelte in seinem Buch „Die Richtungen der islamischen Koranauslegung“ Muḥammad ʿAbduhs Methode zur Koraninterpretation historisch und als wissenschaftlich-systematische Abhandlung zu betrachten. Goldziher beschäftigte sich darin hauptsächlich mit ʿAbduhs Ansicht über die Koranauslegung, geht aber auch auf dessen reformatorische und religiöse Ideen ein und bezeichnet ihn als Schöpfer des islamischen Modernismus: „Dieser Schüler Ǧamal ad-Dīns ist als der eigentliche Schöpfer des von Ägypten ausgehenden islamischen Modernismus zu betrachten.³⁵

3.4 Ṭāhā Ḥusain Ṭāhā Ḥusain (1889 – 1973) gilt als einer der wichtigsten und einflussreichsten arabischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, er wurde 1949 und 1950 für den Nobelpreis nominiert, wie viele Jahre später bekannt wurde. Nach der Promotion beantragte er einen Aufenthalt in Frankreich, der wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs verschoben werden musste. Schließlich studierte er fünf Jahre lang zunächst in Montpellier, dann an der Sorbonne in Paris, wo er 1919 über Ibn Ḫaldūns soziologische Sicht der islamischen Gesellschaft promovierte. Nach seiner Rückkehr nach Ägypten im Jahr 1919 war er Dozent an der Universität Kairo für Alte Geschichte und später für arabische Literatur. In seinen Publikationen versuchte er, die in Frankreich erworbenen Kenntnisse moderner wissenschaftlicher Methoden und Theorien umzusetzen. Nach Ansicht vieler Literaturwissenschaftler und Literaturkritiker schrieb Ṭāhā Ḥusain die erste moderne arabischsprachige Autobiographie der arabischen Literatur. Seine Studien zur Geschichte und Soziologie an der Sorbonne, seine vertiefte Kenntnis europäischer Kulturen sowie seine Tätigkeit als Lehrender für griechische und römische Geschichte an der neugegründeten Kairoer Universität machten dem arabischen Raum ein neues Menschenbild vertraut, ein Menschenbild, dessen Grundzüge in seinen autobiographischen Werken wie al-

 Riḍā, Muḥammad Rašīd: Tafsīr al-Manār, Bd.6, 41–Bd.7, 508.  Goldziher, Iganz: Die Richtungen der islamischen Koranauslegung, 323.

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Ayyām „Die Tage“³⁶ und Gadat al-fikr „Les Guides de la pensée“, sowie in seinen biographischen Schriften über Abū l-ʿAlāʾ al-Maʿarrīy (973 – 1058) sichtbar werden.³⁷ Ṭāhā Ḥusain kämpfte alsdann für eine Reform des ägyptischen Bildungssystems, für freie Ausbildung und die Finanzierung von Auslandsstudien. Von 1950 bis 1952 war er Kultusminister. Als Übersetzer und Literaturkritiker sei er von der westlichen Kultur fasziniert gewesen: „Diese Faszination und seine unterschiedlichen Unternehmungen, westliche Kultur dem arabischen Lesepublikum zu vermitteln, durch Übersetzungen oder komparatistische Schriften in Anlehnung an im Westen gebräuchliche Gattungen, wurde in der zeitgenössischen Rezeption meist kritisch als „Verwestlichung“ bezeichnet und herabgesetzt. Die möglichst vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit seinen Vorhaben sowie mit seinem Begriff von Kultur und Interkulturalität macht jedoch inzwischen den Wert, den seine Bemühungen für die arabisch-islamische Kultur hatten, deutlich.“³⁸ Ṭaha Ḥussein kannte sehr wohl den starken Einfluss, den die Autorität der traditionellen Texte auf traditionelle Gelehrte und damit auf den wissenschaftlichen Diskurs und die Gesellschaft ausübte. Diese Gelehrten lehnten die Bedeutung der Persönlichkeit des Studenten oder Forschers vollständig ab. Für Taha Hussein war dies eine unerträgliche Last, ein unüberwindbares Hindernis für den freien, offenen Geist der Wissenschaft. Im zweiten Band seiner Autobiographie beschreibt Taha Hussein in literarischer Form die Last der Tradition im Porträt eines Scheichs: „Als der Junge herangewachsen war und anfing, Rhetorik zu studieren, ging er zur Lehrveranstaltung dieses Scheichs und hörte, wie der den berühmten Satz der entsprechenden „Zusammenfassung“: „Jedes Wort hat zum anderen Wort einen Bezug“ erläuterte. Über diesen Satz steht sehr viel in Al-Muchtassar (den Kommentaren), al-Mutawwal (den Randbemerkungen) und al-Atwal (den Aufsätzen); dabei ist der Satz eindeutig und absolut nicht unklar. Wie die anderen Scheichs von Al-Azhar gab sich auch dieser viel Mühe, den Satz zu erklären. Und die vielen Erläuterungen anzuführen, die darum kreisten. Er erschöpfte sich dabei, wurde heiser, schwitzte und ermattete. Die Verantwortung für die Wissenschaft ist bekanntlich eine schwere Bürde. Nur die Starken können sie tragen, und derer sind Wenige!„³⁹

 Hussein, Taha: al-Ayyām. Kairo 1926 – 1955.  Bousseta, Abdellatif: Taha Hussein. Vier Wege zur Modernisierung. In Philosophia Scientiæ 20.02. 2016, 9.  ebd., 12.  Ḥusain, Ṭāhā: al-Ayām (Kindheitstage), Kairo, 1929,123.

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3.5 Muḥamed ʿĀbid al-Ǧābrī Der marokkanische Philosoph und Literaturwissenschaftler Muḥamed ʿĀbid alǦābrī (1935 – 2010) hatte nach der Koranschule eine Schneiderlehre absolviert und wurde Grundschullehrer. In den 1950er Jahren gehörte er der sozialistischen Organisation USFP an und studierte Philosophie in Damaskus. Seine Doktorarbeit beschäftigt sich mit dem arabischen Denker ʾIbn Ḫaldūn (1332– 1406). Bis 2002 lehrte er Epistemologie und Philosophie an der Universität Rabat. Al-Ǧābrīs Hauptinteresse galt dem aufgeklärten Philosophen Averroes (1126 – 1198) und einer Wiederbelebung eines islamischen Averroismus. Sein Hauptwerk ist das vierbändige Naqd al-ʿAql al-ʿArabī (Kritik der arabischen Vernunft), das zwischen 1984 und 2001 veröffentlicht wurde. Im Dezember 2008 erhielt er den Preis für Freies Denken der Ibn-Rushd-Stiftung in Karlsruhe.⁴⁰ Al-Ǧābrī versuchte in seiner Reihe (Kritik der arabischen Vernunft) den arabischen Geist zu analysieren. Die konstituierenden Elemente, kulturelle und linguistische Strukturen seit der Blogging-Ära, ließen ihn zu dem Schluss kommen, dass die arabische Vernunft heute neu erfunden werden müsse. Dekonstruktivistische Methoden, die auf postmodernen Ansätzen wie der Kritik von Foucault oder Derrida basieren, führten ihn zur Erkenntnis einer rückständigen, begrabenen arabischen Identität. Laut al-Ǧābrī gibt es im Islam eine Tradition des rationalistischen Denkens, nur dass sie derzeit von anderen Ansätzen überlagert wird. Für ihn ist das Rationale das wesentliche Element des islamischen Erbes (Turāṯ), dem man sich zuwenden sollte. Al-Ǧābrī argumentiert, dass sich die östlichen (mašriq) und die westlichen Gebiete (maġrib) der islamischen Welt gedanklich auseinander bewegt hätten. In der östlichen Welt habe sich in der Weiterentwicklung Avicennas eine irrationale Philosophie entwickelt, die mystische, esoterische und spirituelle Elemente enthalte, wie beispielsweise die illuminationistische Philosophie Suhravardīs oder Mullā Ṣadrās. In den westlichen Gebieten beschreibt al-Ǧābrī eine Tradition des kritischen Rationalismus, die sich anhand der Philosophie des Ibn Rušd (latinisiert Averroes) entwickelt habe.⁴¹ Laut al-Ǧābrī herrschten im islamischen Raum irrationale philosophische Richtungen vor, die einen Aufschwung der Wissenschaft verhindert hätten. Ibn

 Stefan, Weidner: Aufbruch in die Vernunft – Islamdebatten und islamische Welt zwischen 9/11 und den arabischen Revolutionen. Bonn: Verlag I. H. W. Dietz, 2011, 126 – 128.  Hendrich, Geert: Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004, 283.

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Ruschds rationale Philosophie hingegen habe sich in ganz Europa verbreitet und dort eine rationale Denkweise gefördert.⁴² Al-Ǧābrī sieht Ibn Ruschds Philosophie als eine Verbindung zwischen Rationalität und Islam, die für ihn wegweisend für die Moderne ist. Für al-Ǧābrī ergibt sich daraus ein spezifisch islamischer Zugang zur Moderne, der nicht von westlichen Rationalitätskonzepten überlagert wird. Al-Ǧābrīs Philosophie ist in der arabischen Welt recht populär.⁴³

Fazit Angesichts der heutigen Lebensverhältnisse der Muslime ist die Verwendung der Vernunft in unserer Gesellschaft eine dringende Notwendigkeit. Denn das traditionelle, konservative Denken verfügt über keine Möglichkeiten zur Lösung unserer heutigen Probleme. Seit dem Erscheinen der sogenannten islamischen Aufklärung versuchten die Befürworter dieser Richtung, den Islam als rationale Religion zu betrachten und Aberglauben und Ignoranz zu überwinden. Zudem gibt es heutzutage in den meisten islamischen Ländern einen religiösen Extremismus. Die Ursache liegt in der Entstehung der radikalen und fundamentalistischen Gruppen. Diese radikalen Gruppen sprechen im Namen des Islam und stützen sich nur auf ein Teilbild der Realität. Durch den Gebrauch der Vernunft kann der Muslim die Art und Weise des Islamverständnisses dieser Gruppen kritisieren. Sie vernachlässigen den Geist des Islam und die Rolle der Vernunft zum Textverständnis. Die islamische Offenbarung impliziert die Aufforderung, die Möglichkeiten der Vernunft obligatorisch zu realisieren. Der Koran kombiniert zwischen Denken und Wissen, Vernunft und Verstand, um die Wahrheit zu erkennen. Den Muslimen wird zum Teil eben auch zu Recht Rückständigkeit vorgeworfen. Diesem Vorwurf kann von islamischer Seite nur mit Vernunft und Reform begegnet werden, indem der Kontext im religiösen Diskurs logisch mit bedacht wird. Im Westen gab es in moderner Zeit viel Kreativität und, ermöglicht durch Verstand und kritisches Denken Entdeckungen, Erfindungen sowie wissenschaftliche und kulturelle Errungenschaften, die die Menschheit zu Fortschritt und Wohlstand geführt haben. So kann man sagen, dass durch den Verstand und das Denken dieser Fortschritt ermöglicht wurde. Die islamischen Gesellschaften brauchen unbedingt diese Konzepte, um den Radi Rudolf, Ulrich: Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck 2004, 109.  Hendrich, Geert: Arabisch-Islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart. Frankfurt: Campus, 2005, 162.

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kalen zu begegnen und die Herausforderungen unserer Zeit zu überwinden. Die Muslime sollen, wie der Koran sie angespornt hat, ihre Lebenswelt vernünftig gestalten. Die Vernunft hat im Islam eine große Relevanz und eine besondere Bedeutung. Es gibt im Islam keinen Widerspruch zwischen Religion und Wissen, Religionswissenschaften und modernen Wissenschaften, Vernunft und Offenbarung. Die Muslime müssen zwischen dem Islam als einer Religion und dem islamischen Denken klar unterscheiden.

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Rad, M. Razavi: Die Erziehung eines vollkommenen Menschen im Islam. Hamburg: Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V, 2003. Rashid, Ahmad: Europas islamisches Erbe. Bonn: Tagung der Evangelischen Akademie im Rheinland, Beitrag am 03.07. 2006. Riḍā, Muḥammad Rašīd: Tafsīr al-Manār, al-Haiʾah al-ʿammah li lkitāb. Bd. 12. Kairo, 1990. Paret, Rudi: Der Koran. Stuttgart: W. Kohlhammer, 102006. Rudolf, Ulrich: Islamische Philosophie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck 2004. Šāmah, Muḥammad: Die Aufklärung im islamischen Denken. Kairo: Wahbah Bibliothek, 2011. Seeger, Antje: Die methodischen Hintergründe der Schule Muḥammad Abduhs in der Koranexegese, München 2007. Weidner, Stefan: Aufbruch in die Vernunft – Islamdebatten und islamische Welt zwischen 9/11 und den arabischen Revolutionen. Bonn: Verlag I. H. W. Dietz, 2011. Watt, William Montgomery: Der Einfluß des Islam auf das europäische Mittelalter, übers. v. Holger Fließbach. Berlin: Wagenbach 2001.

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Toward a Second Rise of Islamic Madanīyya “Civilization” Al-Afghānī and ʿAbduh on al-ʿUrwa al-Wuthqā La Infișām Lahā

Introduction Jamāl al-Dīn al-Afghānī (d. 1897) and Muhammad ʿAbduh (d. 1905) are considered the forefathers of Islamic modernism or reformism, a significant intellectual stream during the age of al-Nahḍa – the renaissance or awakening of modern Arabic thought. Western scholarship since the early 20th century has generally been impressed by European influences on the two thinkers, which has led, on the one hand, to empathy with their project and crowning it with the title of “modernism.” On the other hand, despite the label of “Islamic,” much of Western historiography has perceived their thought as apologetic, unauthentic, and preoccupied with the desire to justify itself and adapt to European modern modalities through a superficial response to the challenges such a modernity poses.¹ Said differently, the mainstream of the early historiography regarding al-Afghānī and ʿAbduh, which still reverberates powerfully even after the latest research wave has exposed the Nahḍa to contemporary theories, has been largely based on a Western conceptual approach to the analysis of modalities and directions in the development of their thought.² Furthermore, existing scholarly lit-

 See for example, Charles C, Adams, Islam and Modernism: A Study of the Modern Reform Movement Inaugurated by Muhammad ʾAbduh. New York: Russell & Russell, 1933; Hamilton A. R. Gibb, Modern Trends in Islam. Chicago: University of Chicago Press, 1947; Wilfred Cantwell, Smith. Islam in Modern History. Princeton: Princeton University Press, 1957; Elie, Kedourie. Afghani and ʿAbduh: An Essay on Religious Unbelief and Political Activism in Modern Islam. London: Frank Cass, 1966; Nikki R. Keddie. Sayyid Jamal Ad-Din “Al-Aafghani” A Political Biography, Berkeley: University of California Press, 1972.  The recent decade has seen renewed interest in the study of the Naḥda, the intellectual history of modern Arabic thought during the nineteenth and the first half of the twentieth century. New studies seek to identify the dynamics that generated this modern shift, by going beyond the simplistic dichotomy of modernism versus tradition, and beyond the model of one-sided influence of Western ideas on Arabic-Muslim thought. For a new survey on the latest works of the Naḥda, see Jens Hanssen and Max Weiss, Arabic Thought Beyond the Liberal Age: Towards an Intellectual History of the Nahda. Cambridge: Cambridge University Press, 2016. https://doi.org/10.1515/9783110588590-004

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erature has generally discussed al-Afghānī and ʿAbduh’s writings sequentially, in a linear fashion, and has attempted to delineate between political and theological approaches to reform.³ Such views, so we argue, limit its findings to the confines of this Western-modernized approach. Thinking about al-Afghānī and ʿAbduh’s reform through the prism of an adaptation to modernity, or a reconciliation between Islam and modernity, obscures the two scholars’ deep critique of the discourse and practices of European modernity. The forced distinction between the religious and the political strands of their thought exposes what has long been a misunderstanding of the Islamic perspective of what history is and how civilizations are formed. Reading the exilic Parisian Arabic magazine al-ʾUrwa al-Wuthqā La nfișām Lahā (“The most trustworthy hand-hold that never breaks”) shows how the missing apprehension to al-Afghānī and ʿAbduh’s thought and project do not exclude Arabic and Islamic scholarship.⁴ Looking into the original format of the magazine demonstrates that its significance and potential have been paradoxically suppressed by those who showed admiration and gratitude to both, by those who were eager to protect their work and build upon it.⁵ This is clear, for exam-

See also Shaden M, Tageldin. Disarming words, Empire and the Seductions of Translations in Egypt. Chicago: University of California Press, 2011; James L. Gelvin, “‘Modernity’ ‘Tradition’ and the Battleground of Gender in Early 20th Century Damascus,” Die Welt des Islams (2012): 52.  Gibb identified the connection between the political and the cultural in al-Afghānī’s thought. However, he argued that the dominance of the political aspect mitigated serious reflection on religious problems (Gibb, Modern Trends in Islam, 33). Moreover, Gibb claimed that in order to begin to revise Islamic doctrine, it is vital to detach the religious element in the modern reformist movements from the emotional influence of their nationalist or revolutionary program; even if these continue to be connected, they will no longer be mutually dependent. Gibb argued that each aspect must develop freely along its own course (ibid., 29).  All translations from the Qurʾān by Yusuf Ali. https://quranyusufali.com, unless mentioned otherwise.  The magazine was published between March 13 and October 16, 1884. Close to the mid-point of its seven-month publication, the magazine circulation was banned in Egypt. It managed to produce nine more issues, albeit with some repetition of content. In the ninth issue (22 May, 1884), al-ʿUrwah published an official injunction issued by the Egyptian government requiring the management of the postal services in the country to prevent the journal entering its territory and to monitor its circulation and fine persons holding copies (in the sum of 5 – 25 Egyptian pounds). The injunction did not halt the publication of the weekly, which continued for a further nine issues, but these appeared more erratically. From May 22 it was generally published every two weeks, with the exception of the eighteenth and final issue, which appeared three weeks after its predecessor. Moreover, following the injunction, from the tenth issue onward a change can be seen in the proportion of texts discussing cultural and educational aspects as opposed to news and opinion items. Through the ninth last issues, some of these articles were relatively short, and for the most part repeated themes examined in the first nine issues.

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ple, through how the magazine was archived after its initial publication. The early archivists, due to fear of political censorship, re-compiled the magazine’s articles into a series of volumes, in which they created an artificial separation between what such readings regarded as “reformist” versus “political” articles.⁶ This separation de facto betrays the original flow of the magazine when it was characterized as jarīda siyāsiyya adabiyya (“a political-humanist magazine”).⁷ Moreover, while the first archival attempts maintained the magazine’s chronological order, later collections followed the dichotomist reordering but dismissed its chronology.⁸ Consequently, despite increasing interest in these formative think-

 After ʿAbduh’s death, his associates Saʿd Zaghlūl (d. 1927) and Rashīd Riḍā (d. 1935) strove to preserve his publications. Regarding the weekly magazine in particular, they were concerned (in all probability Zaghlūl more so than Riḍā) that the political messages appearing in the magazine, which had inflamed the Arab and Muslim world and inspired protest and a concerted struggle against the British mandate also in India, were liable to thwart Egypt’s demand for independence. Riḍā’s original comment is “while regarding that which relates to politics and to the question of Egypt and Sudan, and to the inflaming of the Muslim world and India against the British state, I agree with him [Zaghlul] that we should set this aside and not publish anything of it, since liberty in Egypt did not permit its publication.” Accordingly, the only works from the magazine Riḍā included in the second volume of ʿAbduh’s writings were ʿAbduh’s essays on the subject of “reform” that left out the “political.” After the death of Zaghlūl the first volume was published and political articles from the magazine were included. See Rashīd Riḍā, Tārīkh al-ustādh al-Imām al-Shīkh Muḥammad ʿAbduh. Dār al-manār, 1925, V 2, 2– 3. Also see V 1, 1931.  See the facsimile of the cover page at the end of this article. In general, we have interpreted all the terms that appear in the text in the spirit of the period, in accordance with the dictionary Muḥīṭ al-Muḥīṭ composed in 1870 by Buṭrus al-Bustānī (1819 – 1883). Since al-Afghānī position is translated into French on the front page as directeur politique, we decided to translate Siyāsa as “politics.” As for adab, al-Bustānī states that the term refers to a broad field of al-ʿulūm wa-almaʿārif, when al-ʿilm is generally used to refer to expansive knowledge and al-maʿārif refers to partial knowledge. Accordingly, we have adopted the general term “humanties” for adab which corresponds with the magazines’ contents. This study has examined a Microfilm from Bibliothèque nationale de France, département de la Reproduction, Paris, 1884.  The exception to this rule is a book composed by the Egyptian historian ʿAbd al-Raḥmān alRāfiʿī. It is worth noting that this present study is indebted to al-Rāfiʿī, since the discovery that the existing collections in the libraries are not identical to the original was possible thanks to the reprinting of the original cover page included in his book on al-Afghānī. Unlike many collections, in Jamāl al-Dīn al-Afghānī bāʿith nahḍat al-sharq, composed in 1961, al-Rāfiʿī included a section of samples of articles and news from the magazine as they originally appeared. In some cases, al-Rāfiʿī adopted the titles that appear in Riḍā’s Tārīkh, while in others he provided his own titles. Like Riḍā, al-Rāfiʿī also preserved the original titles alongside those he selected, but unlike Riḍā he stated overtly that he was acting in this manner. In addition, al-Rāfiʿī noted all the changes he had made to the original text. See ʿAbd al-Raḥmān al-Rāfiʿī, Jamāl al-Dīn alAfghānī bāʿith nahḍat al-sharq, 1897 – 1938. Cairo: al-Dār al-Maṣriyya lil-Ta’ālīf wa-al-Tarjama, 1961.

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ers, few studies have actually considered the original text of the magazine.⁹ Thus, it became impossible to reconstruct al-Afghānī and ʿAbduh’s original reflections of Islam as a religious-cultural-political entity. We therefore wish to respect the intended cohesion of the project’s dimensions. Approaching the magazine in this way centers not only on external challenges and threats to Islam from modernity, but also on an internal and reflective effort that sought to reposition the history of the Muslim world in the modern era.

1 1884: Between Islamic Utopia and Muslims’ Reality When we start chronologically from the first issue of the magazine, we clearly see the magazine’s outlook. On just its second page, we find a very tightly organized column called al-Jarīdā wa-manhajuhā (“The Magazine’s Agenda”),¹⁰ addressed to “Easterners in general and Muslims in particular.”¹¹ This column serves the reconstruction of the magazine as a lighthouse: it reveals the sum of the authors’ arguments and counter arguments; it crystalizes the tools and strategies offered to break through the colonial situation that faced the Arab provinces of the Ottoman Empire; and, most importantly, it encapsulates the existential-epistemological discourse that stands behind the authors’ body of knowledge, theory and critique. In carefully reading the first-mentioned clause in the magazine’s agenda, we find that it is divided into two continuous tasks. One task was to carefully identify which wajibāt (“duties”) their addressees had stopped fulfilling, as well as which asbāb (“reasons”) had brought them to suqūt (“fall”) and to duʿf (“weakness”).¹² The second task was a search for the ṭuruq (“the ways”) in which Easterners and Muslims must walk through to recuperate from what

 Most of the studies that relate to ideas that appear in the magazine are not based on a study of the original version, with the exception of Albert Hourani, who based a chapter of his book on the issues of the magazine when discussing al-Afghānī. See: Albert, Hourani. Arabic Thought in the Liberal Age, 1798 – 1939. Cambridge: Cambridge University Press, 1983.  Al-ʿUrwah, “al-Jarīdā wa-manhajuhā.” iss. 1, (13 March, 1884), 2.  ibid. It’s important to note that “the East” was a necessary category to address Christian Arabs as well as Muslims whose mother language was not Arabic, for instance readers from India and Iran. For discussion of the usages of the “The East” during the Nahḍa see Fruma, Zachs. “Under Eastern Eyes: East and West in the Arabic Press of the Nahda Period,” Studia Islamica, Vol. 106. No. 1, 2011.  Al-ʿUrwah, “al-Jarīdā wa-manhajuhā.” iss. 1.

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had happened, and to be on guard for that which awaits in the near future.¹³ Every humanist article in each of the magazine’s 18 issues was dedicated to such close investigation, accompanied with short news and long essays that provided political contextualization. The sum of the humanist articles were thought to logically orient readers and to give reason as to why Muslims in the last third of the 19th century had rapidly started losing dominance over their lands, sciences, and religion, as well as to better understand their options to cope with, and overcome, such loss. This painful, rational investigation into Easterners and Muslims’ loss obliged the authors themselves to move in between shifting mental states, such as despair and hope, as this fable named ʿUsṭura (“myth”) clearly shows:¹⁴ They say there was once a huge temple out of town, where people who were seeking refuge after dark were found dead the next day. Nobody could explain what happened, and so people who had heard of the story avoided entering the temple. One day, a man aiming to end his life decided to enter the temple with this intention. As he was entering, he was startled by horrific voices calling at him: “we are here to murder you.” The man, who wanted just that, replied: “Come and do so, I am sick of life.” Before he was able to finish pleading for his death, the temple’s walls began cracking and money and treasures came tumbling at his feet. Thrilled and exhausted by what he had just seen, the man immediately fell asleep and did not wake up until dawn. People striving to understand the reason his life had been spared, realized that his predecessors had died because of their dread of false visions.

This fable reveals al-Afghānī and ʿAbduh’s own tensions as two men who experienced the hardship of living in the center of a new colonial encounter while simultaneously trying to be above and beyond it. As we see, on the one hand, Easterners and Muslims in the 1880s were diagnosed as suffering from yaʾs (“despair”), a melancholic collective state that was regarded as coming out of common socio-psychological sorrows and fears, misconceptions and inability to distinguish between what is real and what is not.¹⁵ On the other hand, as this fable shows, despair was considered to be a political stance, an impetus for new ways of thinking and acting, a condition that holds the potential for breaking new ground for alternative means of resistance and existence. In this respect, we can understand the fable as an assertion that aims to nurture Muslims’ hopes, giving them confidence that they can initiate change by facing reality as it is.

 ibid.  Al-ʿUrwah, “Usṭura,” iss. 4. (3 April, 1884), 4.  “Despair” also appeared as the title of the cultural article in issue 11 (19 June, 1884), quoting Yusuf: 78. “[…] truly no one despairs of God’s soothing mercy, except those who have no faith.”

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Moreover, in order to apprehend the tensions that the authors were attempting to deal with, we must start by recognizing the essence of temporality through which they worked. In other words, we ought to understand from what historical structures their Islamic perspectives arose. In principle, so we claim, the relations between past, present, and future show a movement in a symbiotic domain delineated by two parallel times: sunnat allāh (“the course of God”) and zamān (“mundane time”) or dahr (“human time”).¹⁶ The course of God is featured throughout the magazine’s rhetoric and is prominent in the titles of many humanist articles. The quintessential verse that illustrates this approach is verse 62 in the Ahzāb chapter: “(Such was) the practice (approved) of God among those who lived aforetime: no change wilt thou find in the practice (approved) of God.”¹⁷ Likewise, the repeatedly emphasized idea of human intervention in the course of time is illustrated by verse 11 of the Raʾd chapter: “For each (such person) there are (angels) in succession before and behind him: they guard him by command of God. Verily never will God change the condition of a people until they change it themselves (with their own souls). But when (once) God willeth a people’s punishment there can be no turning it back nor will they find besides Him any to protect.”¹⁸ In other words, in building upon these sacred verses the authors promoted two parallel ideas which they regarded as crucial to any transformation in Muslims’ situation, requiring a new hermeneutic register to answer their timely needs: (1) God’s way is stable and static. (2) There is something about humans that changes, and God awaits for it and expects it. In other words, history, from the authors’ Islamic perspective, is the exchange between the will and action of God and humans. This perspective reveals itself, too, in the title of the magazine. Tellingly, preserved collections of the magazine confuse the source of the titular quotation. The title actually quotes Baqara 256,¹⁹ which makes inherent connections between free choice, reason/ consciousness, and belief; whereas the collections mostly refer to Luqmān

 The flow between the course of God and that of human runs like a thread in the magazine, such as “what the habits of time [zammān] brings to the people, or better say the course of God with his creatures [sunnat al-llāh fī khalqihi].” Or in another example: “as long as the Qurʿān is recited among them and they understand his verses time [al-dahr] will not disgrace them.” See iss. 1, 1– 2.  Al-ʿUrwah, iss. 3 (27, March, 1884).  Al-ʿUrwah, iss. 17 (25 September, 1884).  Baqara 256: “Let there be no compulsion in religion. Truth stands out clear from error; whoever rejects evil and believes in God hath grasped the most trustworthy hand-hold that never breaks. And God heareth and knoweth all things.”

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22,²⁰ which instead emphasizes the relations between doing good and belief, thus leaving out, as we shall demonstrate shortly, the open space of human free will that the magazine emphatically addresses. This flexible ground of Islamic thought that marks a fluid encounter between God and humans is crucial to better understanding the position where al-Afghānī and ʿAbduh stood, from which they argued that exterior aggression against Muslims was not the cause for their inḥiṭāṭ (“depression”) and taʾkhur (“backwardness” or “being left behind”). The reason was claimed to be a prior malfunction of what was supposed to be a harmonious flow between God and humans.

2 Ibn Khaldūn and the Renewal of History from Islamic Perspective In order to distinguish one Islamic reform from the wide range of modern Islamic movements, we must understand the body of knowledge upon which each movement has relied, which its thinkers believed could help them establish such reform of their own. Therefore, and after reconstructing the original format of the magazine, we can see that al-Afghānī and ʿAbduh reclaimed two specific epochs of Islamic history. The first epoch emphasized in the magazine was the age of alābāʾ al-awwalūn (“the first fathers of Islam”), meaning the first generation. The magazine’s rich and diverse genres – analytical political essays, humanist thematic articles, fables, parodies and news reports – show that al-Afghānī and ʿAbduh sought to heighten the importance of this revolutionary beginning of Islam, focusing on the Prophet, the holy Qurʾān, and the first four caliphs. This constitutes the anchor and “the most trustworthy hand-hold that never breaks,” as the title of the magazine goes, which, they believed, must once again be firmly adhered to. But this was not the sole anchor. The authors firmly adhered to a second epoch, which deserves careful attention in order to convey the process of returning to the first age and to truly apprehend the return’s spirit, directions, and epistemology. Some scholars have recognized al-Afghānī and ʿAbduh’s reaching back to the golden Islamic age.²¹ Indeed, this epoch was viewed as a lost paradise: a time when the Islamic sciences under the Islamic dominance exerted global influence, when Islam was not merely a name of a religion but also a multi-ethnic,

 Luqmān 22 “Whoever submits his whole self to God, and is a doer of good, has grasped indeed the most trustworthy hand-hold: and with God rests the end and decision of (all) affairs.”  See for example Hourani’s chapter on ʿAbduh, 1983.

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cultural, and geopolitical entity. Repositioning this Islamic world history, specifically to a spiritual-scientific approach to knowledge, is confirmed in the language of the magazine. The use of terms during the building of the various thematic investigations makes this clear, such as madad (“divine reinforcement”),ʿināyah ilāhiyyah (“divine protection”), qiyās (“analogy”), burhān (“evidence”) and ḥukm al-ʿaql al-ṣarīḥ (“the trial of commonsense”).²² In this spirit, the magazine encourages many thinkers to be pillars of Islamic thought. For example, we find mentioned al-Fārābī (d. 950), Ibn Sīnā (d.1037), Al-Ghazālī (d. 1111), Ibn Bājja (d. 1138), Ibn Ṭufayl (d. 1185) and Ibn Rushd (d. 1198).²³ Throughout the whole magazine, Al-Afghānī and ʿAbduh expressed a nostalgic longing for such busy movement of intellectual activity, whether in the field of the shariʿa sciences or ʿulūm ʿaqliyya (“the mind sciences”). Yet, close textual exploration reveals that the authors’ stance inside the scope of Islamic thought was not as general as it may first appear. The 14th century scholar who most helped al-Afghānī and ʿAbduh in their rational, yet engaged, painful inquiry – mainly identifying the reasons for hubūṭ (“fall”) and the conditions for ṣʿūd (“rise”) – was none other than Abd ar-Raḥmān ibn Muḥammad ibn Khaldūn al-Ḥaḍramī (d. 1406). The magazine, without mentioning this clearly, actually works as a paraphrase or synopsis to history as established in al-Muqaddīmah. ²⁴ Many of the themes dealt with in this foundational text of Islamic cultural production spring to life in the pages of the magazine. Reading the two texts alongside each other shows much more than simple reuse of detached notions aimed, as hinted in scholarship, to suggest a similarity between Islamic thought and modern European thought. Tārīkh/twārīkh (“history”/“histories”) in the magazine is as in al-Muqaddīmah. By the seventh issue, history is referred to both as ʿilm (“science”) and as fann ²⁵ (“art”): one that proceeds riwāya, kind of uninvestigated “narratives.” The article suggests that among all nations, history is the most “sublime of humanist arts”; “a science that explores what happens to nations in its processes of rise and fall”; it tracks the great events in nations’ lives, and explores the effects that such events may have on transformations in ʿādāt (“habits”), akhlāqq (“ethics”), and afkār

 Al-ʿUrwah, Introduction (without a title), iss. 1, 1.  Al-ʿUrwah, “And obey God and His apostle; and fall into no disputes lest ye lose heart and your power depart,” iss. 9, (22 May, 1884), 2– 3.  This research looks into the Arabic version of al-Muqaddimah, fifth edition. Beirūt:dār alkitāb al-ʿArabī. In addition, it looks into the English translation done by Franz, Rosenthal. The Muqaddimah, An Introduction to History, The Classic Islamic History of the World. Princeton, NJ: Princeton University Press, 1958.  Al-ʿUrwah, “al-Qadāʾ wa-al-Qadar,” iss. 7, (1 May, 1884) 2; See al-Muqaddimah, 3 – 9.

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(“ideas”). In addition, as the article goes, history traces al-iḥsas al-baṭen (“the inner emotions”) of the people to whom such events have happened, as it follows nashaʾt al-ummam (“how nations begin” or “how nations are being born”).²⁶ Such views regarding the craft and ends of history clearly and directly paraphrase the introduction of al-Muqaddimah. The following passage leads us to read again from the fourth issue, where the “myth” passage also appeared. The essay’s title comes from Qāf: 37: “Verily in this is a Message for any that has a heart and understanding or who gives ear and earnestly witnesses (the truth).”²⁷ Later in the discussion, we will address the magazine’s emphasis on the body, as drawn directly from the Qurʾān. Here we wish to reflect on how the opening of the essay more explicitly demonstrates the language and central arguments from the beginning of al-Muqaddimah: God created man as a learner and creator; He paved his soul and prepared him to work for himself, guiding him in creativity and invention; […] He determined that man’s livelihood would come from the labor of his hands, and indeed turned this source into the essence of his existence and the crutch of his survival. […] Man in all his conditions – poverty and prosperity, difficulty and comfort, from the life of the Bedouin to life in culture – is the creation of his labor. […] If a man throws up his hands for one hour of his working time, begging nature to grant him a breath of life, life will deny him this and indeed drive him to oblivion. […] In his creations and his inventions, man has need of a teacher to grant him education and culture, and of a guide to steer him in the way of honesty. […] Just as man works to ensure the needs of his livelihood, so he works in order to know how he works and in order to be able to work. […] In his mental states, too – perception, discretion, virtues, qualities, skills, spiritual excitement – man can be seen to be a learner and a creator. […] People imagine that innovation spring from an act of nature and not from the effects of acquisition, but the truth is that everything is dependent on acquisition.

The basic painful fact that we hear in this passage is that Muslims ceased to enjoy being engaged in ṭabīʿa (“nature”); they do not think, and they actually removed their hands from action. As reflected above, the authors observed a strong dialectical relationship between ʿilm (“knowledge”) and ṣināʿa (“creation”) in which creation is the effect of knowledge.²⁸ These rephrased and reinterpreted ideas of Ibn Khaldūn aimed to remind the magazine’s readers that such detachment from nature is a sign of deviation from God’s expectations. God and nature don’t appear in the magazine as ontological opposites, nor as different names for one thing. God created nature for humans; it is a given, but one

 Al-ʿUrwah, iss. 7. See also al-Muqaddimah, 137.  Al-ʿUrwah, iss. 4, 1– 2.  See al-Muqaddimah, 414.

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that needs to be cultivated. Now, to some scholars, the language demonstrated here might reflect an engagement with the contemporaneous scientific discoveries in Europe. The frequent use of such words as baqāʾ (“remaining”) and nashʾa (“being born”) indeed seem to reflect acknowledgment of Darwinian developments,²⁹ especially if we decide to translate the notions according to their modern usages (“survival” and “evolution”). In this regard, we should also consider the material form of the magazine as a modernist form of communication: including the late adoption of the European print revolution in the Ottoman Empire, the use of telegraphs to receive and send information, and of the imperial post services to move and circulate the magazines copies. Nevertheless, the use of such Arabic notions are not merely an exercise of translation aimed to prove false similarity to modern scientific discoveries. The Qurʾān already makes extensive use of words such as nashʾa,³⁰ and the term appears in serious investigation in Islamic scholarly works,³¹ with which we can assume the authors were well familiar. Moreover, the language of the magazine evidences the author’s use of what Ibn Khaldūn considers as a ḍarura (“a necessity”) to al-ʾjtimaʿ al-Insānī (“the human social encounter”) or to ʿumrān (“human social organization”).³² Ibn Khaldūn defines ʿumrān as a given power from God for hifẓ al-nawʿ alʾinsānī wa-baqāʾuhu (“the human species safeguarding and remaining”).³³ Accordingly, human social encounter, like other animals which maintain living in groups, are given tools to protect themselves from others’ ʿudwān (“aggressiveness”):³⁴ namely, fikr (“thought”) and yad (“hand”).³⁵ Such dynamics of thought and hand correspond with the definition in the above passage where it is said  See Marwa Elshakry, Reading Darwin in Arabic, 1860 – 1950. Chicago: The University of Chicago Press, 2013. Specially the Fifth chapter on ʿAbduh.  See, for example, in the Qurʿān: ʿAnkabūt: 20; Najm: 47; Wāqi’a: 62.  Ibn Khaldūn refers to earlier works, such as al-Farābī and Ibn Sīnā controversies, in the course of exploring the possibility of human rebirth after being vanished. See al-Muqaddimah, chapter 28, 412– 415.  In al-Muqaddimah appear many references to the idea of the meaning of ʿumrān in this course of human safeguarding, see, for example, 192. Franz Rosenthal translates ʿumrān as “the necessary character of human social organization or civilization,” 87. In this article we refer to it only as “human social organization.” We argue that Rosenthal confuses the notion with tamaddun when the latter is a specific level of social organization that goes along with the notion of “civilization.” In addition, we translate al-ʾIjtimaʾ al-Insānī as “the human social encounter.” The translation of ḍarūra as a “necessity” corresponds with Rosenthal’s translation.  Al-Muqaddimah, 28, 192. Rosenthal’s translation states: “Consequently, social organization [meaning civilization] is necessary to the human species. Without it, the existence of human beings would be incomplete.” P. 87.  Al-Muqaddimah, 42; Rosenthal, 87.  ibid.

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that humans naturally, or instinctively, seek knowledge and are involved in nature. In this regard, it is important to mention that al-Muqaddimah refers to three levels of ʿumrān, which may explain the confusion around its translation into English. ḍarūrī (“necessary”) is the first basic level which results from human taʿāwun (“collaboration”), the second level is ḥājī (“needed”), and the third level is kamālī (“perfection”).³⁶ Kamālī is not an abstract idea of achievement. It is, rather, reached along with the spatiotemporal establishment of the madīnah, or the polis. This highest human level of collaborative work is said in al-Muqaddimah to hold specific characteristics, such as ʿasabīyah (the degree of social bond or sense of social belonging),³⁷ the progress of culture and of sciences, economical wealth, and just political order.³⁸ Ibn Khaldūn recalls that Bedouin tribes usually stop at the level of achieving what is necessary for their social organization,³⁹ while others do not stop until the highest level of ʿumrān has been completed. “Civilization,” then, we suggest, should not be a generic translation of all levels of ʿumrān, because it is a specific one that has specific name, what Ibn Khaldūn calls ḥiḍārah, ⁴⁰ the space where people can go through the process of tamaddun. ⁴¹ In the magazine, we find reference more often to madanīyya. ⁴² As can be observed in the passage above, al-Afghānī and ʿAbduh seemed to think that Muslims were totally off track and failing to fulfill even the most basic necessities. Therefore, a total restart – Muslimhood from the very beginning – was perceived as urgent for the sake of being able to remain.

 ibid, 120.  Rosenthal translated ʿaṣabīyah to “group spirit,” and “group feeling,” 205. This study prefers to translate the notion to “social bond” or “sense of social belonging.” The notion of ʿasabīyah was discussed at length in an article titled after Aʾrāf: 3: “Follow (O men!) the revelation given unto you from your Lord and follow not as friends or protectors other than Him.” This was accompanied with a second title, “al-tʿaṣub.”  Farther readings on al-Muqaddimah, Aziz Al-Azmeh, Ibn Khaldūn in Modern Scholarship: A Study in Orientalism. London: Third World Centre for Research and Publication, 1981; Muḥammad Talbi, Ibn Khaldūn: Sa Vie – Son Oeuvre. Tunis: Maison Tunisienne de IʾEdition, 1973; A.J. Toynbee, A Study of History, The Growth of Civilizations, 2d edition, London, Oxford University Press, 1935.  ibid, 121.  ibid, 122.  For a Genealogy of tamaddun during the 19th century see Wael, Abu-ʿUksa. “Imagining Modernity: The Language and Genealogy of Modernity in Nineteenth-century Arabic”. Middle Eastern Studies (2019).  See, for example, al-ʿUrwah, iss. 1, 2; iss. 3, 3; iss. 4, 2. We assume that Rosenthal confuses ʿumrān with tamaddun because they appear next to each other, as if they are synonymous, in the beginning of al-Muqaddimah. See the context where Ibn Khaldūn declares that his book wishes to subscribe to the processes of “al-ʿumrān wa-al-tamaddun,” al-Muqaddimah, 6.

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As we continue reading through the essay, following the general theory of the human condition inspired by al-Muqaddimah’s introduction, the discussion then further elaborates on why Christians, or those who led al-madanīyya almuʿāṣira ⁴³ (“the present civilization”), have been ahead of Muslims. The authors wrote that the foundations of Christianity, that is to say, Jesus’ teachings, facilitate an abandonment of the superficial life, leaving fortunes to leaders, and putting aside ethnic and religious controversies. It gives hope that the ruler’s authority over the body is only temporal, while God’s power over the soul is immortal.⁴⁴ But modern Christians, said to be the most advanced modern artisans in machinery war, were not following their original religion; rather, they paid homage to their Roman heritage.⁴⁵ This is how “a flash of their grandfather’s germs again came to life.”⁴⁶ It is worth noting that the authors’ use of jarāthīm (“germs”) was not meant negatively when also used in the magazine to refer to Muslims.⁴⁷ The use of the term “germs,” so we claim, is more in the direction of the past capsulated and transmitted through the body, a sort of DNA of history carried through generations. It is also important to note that despite the critique of modern Christians’ deeds, especially regarding British Protestant unjust and invasive violations of the lands of “the East,” in some respects individual Christians were in fact seen as fulfilling what Muslims were supposed to be doing – they were in ḥirāk (“active” or “in movement”).⁴⁸ The authors lamented that Muslims, instead of being competent and invested in creativity, as their holy book obliged them to be, were rather in subāt (“still” or “in coma”),⁴⁹ waiting for somebody or something to wake them from their slumber.

3 Body, Soul and Religious Pathology In the last third of the 19th century, al-Afghānī and ʿAbduh were trying to cope not only with colonial political assault, but also with epistemological-colonial

 Al-ʿUrwah, “Verily in this is a Message for any that has a heart and understanding or who gives ear and earnestly witnesses (the truth),” iss. 4, 2.  ibid.  ibid.  ibid.  See jarāthīm (“germs”) referred to Muslims positively in al-ʿUrwah, “no change wilt thou find in the practice (approved) of God,” iss. 3, 3.  Al-ʿUrwah, “And hold fast all together by the rope which God (stretches out for you) and be not divided among yourselves,” iss. 5, 3 (10 April, 1884).  ibid.

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discourse. Here is another clause from “the magazine’s agenda” that reveals this complicated mission and where we see further use of madanīyya: The journal’s way is to counter false accusations directed at Easterners in general and at Muslims in particular, made by those who do not know their condition and who have no understanding of their matters, and to refute the claim that Muslims will not reach the state of madanīyya [civilization] as long as they maintain the roots they inherited from their ancestors.⁵⁰

Thus the text posits that Islam, and everything connected to its history, was claimed by orientalist discourse, expressed in the authors’ time as a barrier between Muslims and taqaddum (“progress”). In other words, leaving this history behind, leaving Islam behind, was argued to be the condition for Muslims’ walking through the new world. It is interesting to see that one of the author’s responses to such colonial discourse was to look into uṣūl al-dīn (“the foundations of religion”). The effect of this self-examination triggered by external colonialepistemological critique could be understood as an inferior feeling on behalf of al-Afghānī and ʿAbduh facing unbalanced power relations. It can also be seen as a sign of confidence in Islam’s foundations and al-Afghānī and ʿAbduh’s responsibility for its truth and relevance for modern times. This self-examination, in the shadow of complex colonial encounters, was carried out in the seventh issue in an article titled “al-Qaḍāʾ wal-Qadar,” where we earlier related to it following the definition which was given to the study of history.⁵¹ Muslims’ faith in metaphysical intervention in humans’ lives is encapsulated in this pillar of Islamic belief which historically bears multiple and diverse interpretations by intellectuals and commoners. The authors reported that al-Qaḍāʾ wa-al-Qadar was considered by Westerners as the backwater of Muslims’ global societies: the main reason for all Muslims’ calamitous local realities, for their poverty, ignorance, and paralysis, thus resulting in political apathy.⁵² On one hand, alAfghānī and ʿAbduh found some comfort when they related to European modernity by means of their earlier civilization, but, on the other hand, to counter such ideas was not as easy as the assertive tone of the above excerpt might seem to indicate. While the main argument in the article “al-Qaḍaʾ wa-al-Qadar” is to build a hermeneutical wall that defends Islam’s foundations and protects Muslims’ scientific infrastructure, when the authors turned their gaze inward toward the Mus-

 Al-ʿUrwah, “al-Jarīdā wa-manhajuhā,” iss. 1, 2.  Al-ʿUrwah, “al-Qaḍāʾ wal-Qadar,” iss. 7, 2.  ibid.

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lim East, they nonetheless directed the anger and resentment against British epistemological colonialism towards al-ʿāmmah (“the masses”). It was claimed that the masses’ beliefs were not grounded in facts or logical proof, but instead relied on awhām (“illusions”) transmitted from one generation to the next.⁵³ In this sense, the masses were those who died of false illusions in the fable mentioned earlier. The authors were convinced that the masses’ irrational approach toward the foundations of belief was one of the factors that had stripped Islam of its political and scientific strength, along with its civilized character. But the anger of the authors, as observed in the magazine, was not only toward those who were said to heavily rely on the divine will and to be passive toward their situation. Among other groups, the muqallidīn (“imitators”), or the muntaḥilīn (“embracers”), fell under severe scrutiny. The reference was to educated Muslims who were said to have superficially adopted Western knowledge and ways of life, but who aimed to educate the masses with the knowledge that they acquired: thus causing them yet more paralysis.⁵⁴ These educated individuals were said to have blindly followed the European embrace of tabīʿa (“nature”), to have distanced themselves from Islam and its body of knowledge, and to have assimilated and internalized aggressive discourse against themselves and against Muslims more generally.⁵⁵ In other words, according to the magazine, the young and educated resembled a kind of self-deprecating Muslim. Disappointed by the two polar social groups – the irrational masses and the westernized-educated – al-Afghānī and ʿAbduh were in profound sorrow when they wrote that amrāḍ qātila (“fatal diseases”) were assaulting the Muslim’s jasad (“body”), leaving it lying in its deathbed,⁵⁶ liable to lead it to halāk (“extinction”), and its rūḥ (“spirit”) to soon fanāʾ (“decay”).⁵⁷ The magazine’s reference to disease offers an important retrospective to consider rational thought from an Islamic point of view. When speaking of a disease, the author’s intention was neither to speak metaphorically nor to refer to a literal type of disease that is the object of diagnosis and effective therapy by modern medicine. Their intention, rather, was to point toward what we might understand as a religious pathology, when one of the leitmotivs that runs like a thread throughout the entire Qurʾānic text suggests that for most humans, “in their

 ibid.  See severe criticism in al-ʿUrwah, iss. 3, 2– 3.  Al-ʿUrwah, “Follow (O men!) the revelation given unto you from your Lord and follow not as friends or protectors other than him,” iss. 6 (23 April, 1884), 2– 3.  Al-ʿUrwah, “no change wilt thou find in the practice (approved) of God,” Iss. 3, 2.  ibid.

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hearts is a disease.”⁵⁸ We argue that the disease in the heart is referred to in the Qurʾān as the product of a conscious human decision to refuse to accept the proof of God’s existence which is available through rational observation and spiritual experience of the natural world. The ramifications of the repression of the bodily channels of consciousness (the heart, eyes, and ears), as well as the constant refusal to tadhakkur (“remember”) God, maintain an oppressive and damaging impact on the function of the human organs. This bodily repression is ẓulm (“unjust”) to humans when it creates ẓulma (“darkness”) in their bodies. The darkness blocks the eye’s capacity to discern the divine light. We claim that the state of coma that Muslims were subscribed to, blindness with open eyes, is in fact a religious pathology, a kind of collective form of physical, psychological, and spiritual disorder. Nevertheless, and despite the fact that the majority of Muslims were seen as ill because they did not understand the meaning of Islam, in the eyes of the authors, Muslims as such were not heretics. The diseases, we suggest, were instead understood as a state of memory loss. Here we go back to read in another passage from the fourth article: God is the one who has offered religion; […] Human beings are the ones who teach it and are summoned to it; […] The prophets deliver religion to people, who acquire it by learning and memorizing; […] Among all the nations, religion is the first thing that merges, is rooted, and fixed in the hearts when the souls endorse religion’s essentials; […] Religion rules the soul and instructs it how to operate the body. […] The human being, upon his birth is like a blank slate, and the first line to be drawn upon it is religion. […] The souls rarely experience anything independently of religion, and even he who has strayed from it cannot undo the impressions religion has left in him; […] its mark is left like a scar on the skin.⁵⁹

One possible way to understand the verse chosen for the fourth article, messages that continue to echo in the above passage, is that it exposes the macroscopic thrust of the magazine’s theology. The authors were attempting to remind the Muslim body, through organs such as the heart and ears, of things it had once known but has since repressed. Such organs might still hold a certain memory that al-ʿaql (“the mind”) had forgotten, a memory that functions as “a scar on the skin.” In other words, religion is conceived of not only in nature, in that which lies outside the human, but also as internal to their body. Religion in this vein was understood as something physical, where even those who try to take their gaze away from it fail. Said differently, the human body is conceived

 See, for example, Baqara: 10; Anfāl: 125; Hajj: 53.  Al-ʿUrwah, “Verily in this is a Message for any that has a heart and understanding or who gives ear and earnestly witnesses (the truth),” iss. 4, 2.

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of as a register of religious-historical memory. In other occasions, the authors referred to jurthūmāt al-dīn (“the germs of religion”), which are granted in souls by inheritance and passed on from older generations.⁶⁰ The above passage can also help us to follow the theological and political definition given of the individual, in which the authors found it necessary to redefine the hermeneutical circle of religion. The process of handing down religion is apparent here: from God, to his messengers, to the people. One way to interpret this approach is that while the Qurʾān is conceived of as eternal in accordance with Muslim orthodoxy, the holy words are available only by way of human activity such as learning and interpretation. In other words, this concept of religion construes Muslim orthodoxy as the product of God’s first action: delivering the written text. Such a transfer grounds the faith in the believer’s active reading of the sacred text. In fact, this is one of the central causes found for Muslims’ tragedies: that is, a reading error. In other words, we can deduce from the authors’ discourse that, in modern times, Muslims have ceased to observe the divine command: “Read” (ʿAlaq: 1). As a result, they have been unable to receive the divine grace that teaches “man that which he knew not” (ʿAlaq: 5). What we interpret as Muslims’ loss of memory was fostered in another discussion that took place in the eighth issue, titled after Zāriyāt: 55, “remind them, for memory benefits the believers.”⁶¹ The theme of this article discussed the status of al-faḍāʾl ⁶² (“virtues”) among Muslims. As with the other articles, this one also begins with theoretical background. Virtues were said to prevent discord, since each individual controls their needs, recognizes their boundaries and does not cross them. The more these virtues find stability within individuals, they emphasized, a sense of increased unity will develop among them.⁶³ It was asserted that the individual’s attitude toward society is identical to the force of gravity in the universe; just as gravity maintains order among the stars and the distance between each star, so virtues maintain human existence.⁶⁴ Nevertheless, and far away from this idealist outlook of virtues, it was claimed that Muslims’ deeds had deteriorated into corruption: radhāʾil (“vices”) had be-

 Al-ʿUrwah, “no change wilt thou find in the practice (approved) of God,” iss. 3, 3.  Al-ʿUrwah, iss. 8 (15 May 1884). Yusuf ʿAli’s translation of this verse goes: “But teach (thy Message): for teaching benefits the believers.” We argue that replacing “memory” with “teaching” obscures the meanings of “memory,” particularly relevant for the author’s intentions.  The examples they gave of virtues included sakhā’ (“generosity”), ʿiffa (“purity”), ḥayā’ (“shyness”/“modesty”). See al-ʿUrwah, iss. 8.  ibid.  ibid.

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come prevalent among Muslims.⁶⁵ Given this reality, even if individuals (like alAfghānī and ʿAbduh) emerged from within the nation which sought to relieve their pain, the majority would not believe them, for people mock preachers and do everything possible to thwart the efforts of those who seek to change the condition of the community.⁶⁶ Maybe a sole diagnosis can encapsulate all such identified deadlocks, when it was said that Muslims resemble jasadun mubtalah biljunūn (“a body afflicted by insanity”).⁶⁷

Conclusion As far as the magazine shows, modern Western thought, as well as some European people themselves, were indeed a source of vivid inspiration to the authors of al-ʾUrwa al-Wuthqā La Infișām Lahā. This article has nevertheless tried to provide some evidence that points clearly toward the fact that al-Afghānī and ʿAbduh’s ideas all fed from their strong bond to their Islamic scientific-spirtual history. While carrying European discourse on their shoulders, urging them to admit what was at stake and to let go of their empty cries for Islamic reform, they struggled to point to the urgency for Muslims to rehabilitate their civilizational history and for a renewal of ethical behavior and spiritual practices. Rethinking Ibn Khaldūn’s ideas in modern Arabic helped al-Afghānī and ʿAbduh to resist colonialism and its hostile discourses, so as to demonstrate their claim: Muslim civilization preceded in time and in quality that of Europeans, and could therefore potentially do it again. Yet centralizing Ibn Khaldūn’s ideas was not always enough to win the argument. Reality pulled at al-Afghānī and ʿAbduh every time they shouted their existence. Al-Afghānī and ʿAbduh offered serious investigations into the reasons of Muslims’ fall in the late 19th century, reminding Muslims of their glorious past. Yet when it came to providing answers they were somewhat quieter. Each article in the magazine invoked civilizational memory, and thus operated out of a hope that remembering would prove enough for social, political, and religious transformation. But al-Afghānī and ʿAbduh were not so naïve. They were the first to demand yaqaẓa (“an awakening”), while their own awakenings led them to painfully recognize that the hardest task they faced was not the removal of the col Acts classified under vice included qillat al-ḥayā’ (“immodesty”), al-sufh (“insolence” or “foolishness”), al-ṭayysh (“rashness”), al-tahawwur (“indiscretion”), al-jubn (“cowardice”). See al-ʿUrwah, iss. 8.  ibid.  ibid.

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Zahiye Kundos

onial power from the lands of “the East,” nor the need to persuade a Muslim leader to call for pan-Islamic unity – two goals they did indeed aim for. But the most difficult challenge they faced was, rather, how to draw the attention of the global Muslim community to the particular type of religious disease that they had, and to the ways in which it might be treated and healed. In other words, their real challenge was to figure out how to reestablish a global Muslim community that remembers God and enjoys a healthy heart, all while living under ongoing political deterioration. As a condition for a complete Muslim transformation, the magazine called for a new rational-spiritual hermeneutics of Islam, which was understood as the only way to set Muslims on the right path for the desired second rise.

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Toward a Second Rise of Islamic Madanīyya “Civilization”

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I Theologisches Denken (Neu Kalam)

Mahmoud Abushuair

Neue Kalām-Wissenschaft „ʿIlm al-Kalām al-Ğadīd“ Einleitung Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wird für die Erneuerung des islamischen Denkens mit seinen unterschiedlichen Disziplinen plädiert. Der Aufruf zur Wiederbelebung der Rationalität erfolgte vor allem im Bereich der Kalām-Wissenschaft unter unterschiedlichen Bezeichnungen und Begriffen. Diskussionen über die Methode und die Inhalte des Kalām haben die Notwendigkeit einer Erneuerung des Kalām deutlich gemacht. Einige aus westlichen Sprachen übersetzte Werke enthalten Aussagen, die dem Islam (scheinbar) widersprechen. Infolgedessen muss das Islamverständnis neu formuliert werden. Zu diesem Zweck ist es unumgänglich, eine neue Sprache und neue Methoden zu verwenden, als auch die Möglichkeiten der Philosophie auf diesem Gebiet zu nutzen. Des Weiteren besteht großer Bedarf an epistemologischer Darstellung theologischer Fragen für die Anhänger des islamischen Glaubens. Aus diesen Gründen entstand die Neue Kalām-Wissenschaft. Viele Themen wie die Beziehungen zwischen Religion und Staat, Säkularismus, Menschenrechte, Frauenfragen, Rassismus, Entfremdung, internationale Sicherheitskrise, Kolonialismus, Hunger, Glaube und Gedankenfreiheit, die in der heutigen Welt diskutiert werden, sind in den Geltungsbereich der Kalām-Wissenschaft eingeflossen. Die Tatsache, dass Kalām eine Wissenschaft ist, die auf menschlicher Interpretation beruht, beweist, dass sie für jeden offen ist, der dafür qualifiziert ist. In diesem Artikel werden die unterschiedlichen Ansätze der neuen Kalām-Wissenschaft „ʿIlm al-kalām al-ğadīd“ historisch dargestellt. Außerdem wird ein Fokus auf zwei Ansätze im arabischsprachigen Raum gelegt.

1 Zur Entstehung eines neuen Begriffs: Neue Kalām-Wissenschaft „ʿIlm al-kalām al-ğadīd“ Die Wiederbelebung des Rationalismus im modernen islamischen Denken begann im 19. Jh. durch die Erneuerungsversuche einiger Denker wie u. a. Sayyid

https://doi.org/10.1515/9783110588590-005

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Ahmad Khan (gest. 1267/1988) und Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī (gest. 1275/1897).¹ Seitdem versuchte man, sich damit zu befassen, wie die klassischen Wissensbereiche des Islam in einem neuen Gewand zu präsentieren sind. Zu diesen islamischen Wissensbereichen, die man erneuern wollte, ist die Kalām-Wissenschaft zu zählen. Es ist schwierig zu bestimmen, wann eine methodisch neue Kalām-Wissenschaft begann, da die Forscher noch nicht über bestimmte Vorstellungen der neuen Kalām-Wissenschaft einig sind. Man sagt, dass Risālat at-tauḥīd ² von Muḥammad ʿAbduh (gest. 1323/1905) sich an den Anfang der neuen Kalām-Wissenschaft stellte. ʿAbduh hat in seinem Werk die rationale Betrachtungsweise ins Leben gerufen, blieb jedoch bei derselben Thematik der klassischen Kalām-Wissenschaft. ʿAbduh wird in diesem Zusammenhang als Erster angesehen, der die Rationalität in den Kalām-Büchern hervorhob. Er schrieb sein Werk „Risālat attauḥīd“ in verständlicher Sprache, nachdem man sich lange Zeit daran gewöhnt hatte, dass die Kalām-Bücher nur Kalām-Kennern zugänglich sein sollten. Das hat er selber in der Einleitung des Buches erklärt und begründete dies mit dem Ziel, den Studierenden und Wissenssuchenden die Inhalte des Buches ohne jegliche Hindernisse zu vermitteln.³ Er vermied die Themen, die die Kalām-Wissenschaft einen polemischen Charakter gab, wie die Frage der Imāma, des großen Sünders, oder al-Masīḥ al-Dağğāl u. a., blieb jedoch in seiner Kategorisierung und Beweisführung den klassischen Mutakallimūn treu. ʿAbduh übernahm in dieser wichtigen Schrift den ersten Versuch, Pluralität in den Kalām-Werken aufzuzeigen, nachdem man sich lange Zeit daran gewöhnt hatte, Andersdenkende auszuschließen, insbesondere wenn es um Muʿtazila oder Schīʿa ging. Er ließ ebenso das muʿtazilitische Denken an der Al-Azhar unterrichten.⁴ Der Ausdruck ʿIlm al-kalām al-ğadīd „Neue-Kalām-Wissenschaft“ erschien zum ersten Mal als Überschrift des Buches eines osmanischen Gelehrten namens Ismail Hakki Izmirli (gest. 1364/1946).⁵ Das Buch wurde aber in den wissenschaftlichen Kreisen nicht sehr bekannt, vor allem, weil es nicht vom TürkischOsmanischen in eine andere Sprache übersetzt wurde. Ezmirli erwähnt in seinem

 Demichelis, Marco. „New-Muʿtazilite Theology in the Contemporary Age. The Relationship between Reason, History and Tradition“. Oriente Moderno, 90, 2 (2010): 411– 426.  Abduh, Muhammad: Risālat at-tauḥīd, hg.v. Muhammad Imara. Kairo: Dār al-Shurūq, 1994.  ebd., 13.  Aṣ-Ṣaġīr, ʿAbdulmağīd: Fiqh wa šarʿiyyat al-ʾiḫtilāf fī al-ʾIslām, Murāğaʿāt naqdiyya fī al-mafāhīm wa al-muṣṭalāḥāt al-kalāmiyya. Kairo: Al-hayʾa al-miṣriyya al-ʿamma lil-kitāb, 2018, 13.  Özervarh, M.Sait. „Alternative Approaches to Modernization in The Late Ottoman Period: İzmi̇ rli̇ İsmai̇ l Hakki’s Religious Thought against Materialist Scientism.“ International Journal of Middle East Studies 39,1 (2007): 78.

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Buch, dass es einen großen Bedarf nach der Erneuerung der Kalām-Wissenschaft gibt, die entsprechend der Einwände der Orientalisten und erforderlichen Umstände der Zeit entwickelt werden sollte. Im Gegensatz zu diesem teilweise unbekannten Buch von Izmirli trägt ein anderes Buch eines indischen Theologen namens Šiblī an-Nuʿmānī (gest. 1332/ 1914) die selbe Überschrift: „Neue Kalām-Wissenschaft“. Nuʿmanis Buch wurde ins Persische und Arabische übersetzt und erlangte dadurch mehr wissenschaftliche Anerkennung und Bedeutung. Nuʿmānī rief dazu auf, in der neuen Kalām-Wissenschaft sowohl neue Methoden, als auch neue Themen durchzusetzen. Er teilte daher die Kalām-Wissenschaft in zwei Teile, deren Zielsetzungen seiner Meinung nach sehr unterschiedlich sind. Der erste Teil sollte die sich über lange Zeit erstreckenden Konflikte und Debatten zwischen den unterschiedlichen muslimischen Theologischen Schulen behandeln, auch die bewaffneten Konflikte, während der zweite Teil sich mit den Einwänden und Vorwürfen der Islamgegner und deren Widerlegungen beschäftigen sollte.⁶ In seinem bahnbrechenden Werk erklärt er, wie die neue Kalām-Wissenschaft seines Erachtens aussehen sollte: In der klassischen Kalām-Wissenschaft wurden nur die islamischen Glaubensinhalte erforscht, da die Einwände der Gegner lediglich auf die Dogmen beschränkt waren. Heutzutage fokussiert man in Bezug auf die Einwände gegen den Islam jedoch nicht nur auf die Dogmen, sondern auf die ethischen und gesetzlichen Inhalte der Religion. Denn die europäischen Forscher betrachten die Fragen der Polygamie, Ehescheidung, Dschihad u. a. als ausschlaggebende Argumente für die Ungültigkeit dieser Religion. Themen solcher Art sollen in der neuen Kalām-Wissenschaft betrachtet werden.⁷

Deshalb behandelt Nuʿmānī neben den klassisch theologischen Themen wie die Existenz Gottes, die Prophetie, die Auferstehung noch neue Themen wie Menschenrechte, Rechte der Frau, Erbrecht und die allgemeinen Rechte der Völker. Er betrachtete diese Themen als Kernpunkt der neuen Kalām-Wissenschaft.⁸ Ein weiterer früher Versuch, zu einer Erneuerung der Kalām-Wissenschaft, wurde von Muḥammad Iqbāl unternommen. Iqbāl legt in seinem Werk „Erneuerung des religiösen Denkens im Islam“ seine Vorstellung einer Erneuerung der

 Al-Hindī, Šiblī an-Nuʿmānī: ʿIlm al-kalām al-ğadīd, übers. v. Ğalāl al-Saʿīd Al-Ḥifnāwī. Kairo: Almarkaz al-qaumī lil-tarğama, 2012.  ebd., 181– 182.  ebd., 290 – 305.

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verschiedenen Wissensbereiche des Islam und u. a. auch seine Version der Neuen Kalām-Wissenschaft dar.⁹ Iqbal nimmt eine Gegenüberstellung zwischen den Konstanten der islamischen Religion und den modernen Theorien der östlichen und der westlichen Philosophien vor. Er ruft dazu auf, die Entwicklungen und die Evolution des humanistischen Denkens zu berücksichtigen. Er geht davon aus, dass sich das islamische Denken und die islamischen Wissensbereiche in ständiger Fortbewegung befinden.¹⁰ Dafür vertritt er den Standpunkt, dass die muslimischen Gesellschaften eine Umformung des islamischen Denkens benötigen, die die folgenden drei Grundlagen umschließen sollte: – Eine neue Kalām-Wissenschaft, die sich den Alltagsbedingungen anpasst, sich mit Vernunft und Logik beschäftigt. – Die Kodifikation, Ordnung und Neuformulierung des al-Fiqh (Recht). – Eine neue Ordnung der Wirtschaft und Politik in den muslimischen Gesellschaften.¹¹ Iqbāl hält es für notwendig, dass die Kalām-Wissenschaft sowohl andere Methoden benutzen als auch andere Themen wählen sollte. Er geht davon aus, dass z. B. die klassischen Gottesbeweise in der Kalām-Wissenschaft heutzutage nicht ausreichend überzeugend sind. Für Muḥammad Iqbal sind die alten Methoden wie ḥudūṯ, ġāya und wuğūd, die im klassischen Kalām als Gottesbeweise angewendet wurden, nicht ausreichend, um die Menschen zu überzeugen. Daher sollte man auf effektivere Beweise Acht geben.¹² Iqbāls Konzept der Neuen Kalām-Wissenschaft zeichnet sich durch die Kompatibilität des islamischen Kalām mit der modernen westlichen Philosophie aus. Er vertritt den Standpunkt, der neue Kalām könne modernen philosophischen Einsichten entsprechen.¹³ Im Jahr 1964 rief Waḥīd ad-Dīn Khān in seinem Werk „Al-Islām yataḥaddā“ (Der Islam fordert heraus) zur Befreiung von der alten Kalām-Wissenschaft auf. Er begründete dies damit, dass der Stil und die Methoden des klassischen Kalām heute nicht mehr verwendbar und den Leuten unzugänglich und unverständlich

 Iqbāl, Muḥammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam. Berlin: Hans Schiler Verlag, 22004.  ebd., 176.  ebd., 174– 200.  Usta, Ibrahim.„Modernism oder Erneuerung? Ein Vergleich zwischen den klassischen und modernistischen Salafiten“. KADER: Journal of Kalam Studies 9 (2011): 195 – 218, hier 203.  ebd.

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seien.¹⁴ Dies hat er nochmal in seinem Buch „Tağdīd ad-dīn“ (Erneuerung der Religion) betont.¹⁵ Allerdings ging es bei Khāns Versuch nur darum zwischen Religion und Naturwissenschaften zu vermitteln. Eine Alternative zur alten Kalām-Wissenschaft bietet er nicht. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begann man auch im arabischsprachigen Raum sich mit der Erneuerung der islamischen Wissensbereiche zu beschäftigen. Amīn al-Ḫūlī (1895 – 1966) war einer von den ersten, der ausdrücklich zur Erneuerung im Bereich der Glaubenslehren aufrief. Er war der Auffassung, dass Evolution und Entwicklung sich nicht nur auf den Bereich der Gottesdienstleistungen „ʿibādāt“ einschränken lassen sollte, sondern auch im Bereich der Glaubensgrundlagen und den Grundsätzen der Religion zum Zuge kommen sollte.¹⁶ Al-Ḫūlī begründete seine Vorstellung, warum es heutzutage notwendig ist, die Dogmenlehre zu entwickeln, damit, dass es heute einen großen Bedarf gibt, die Dogmenlehre zu erneuern und zu entwickeln. Dies soll entsprechend dem Bedarf der Menschen und den aktuellen Fragen sein. Ein mögliches Ziel dieser Erneuerung wäre der Schutz der Menschen vor Atheismus und religiösem Extremismus.¹⁷ Im Jahr 1976 erwähnt Fahmī Ğadʿān zum ersten Mal in der arabischen Welt den Begriff „ʿIlm al-kalām al-ğadīd“ und rief in seinem Buch „ʾUsus at-taqaddum ʿind mufakkirī al-islām fī al-ʿālam al-ʿarabī al-ḥadīṯ“ (Entwicklungsgrundlagen bei den Islamdenkern in der modernen arabischen Welt) zur Theologie der Befreiung auf, wo „tauḥīd“ neue Funktionen übernehmen sollte, die den Menschen von Rückständigkeit und Unterdrückung befreien. Ğadʿān betont die Wichtigkeit einer neuen Tauḥīd-Wissenschaft in der es nicht wie bei den alten Mutakallimīn um das theoretische Wissen über Gott geht, sondern um die Kommunikation mit ihm und die Erneuerung der Beziehung des Menschen zu Gott.¹⁸ Schiʿitische Forscher widmeten der neuen Kalām-Wissenschaft großes Interesse. Āyatullāh Murtaḍa Muṭahharī (1919 – 1979), der zwischen 1956 und 1978 an

 Khān, Waḥīd ad-Dīn: Al-islām yataḥadda, madḫal ʿilmī ilā al-ʾImān, hg.v. ʿAbdulṣabūr Šāhīn, übers. v. Ẓafr al-Islām Khān. Kuwait: Dār al-buḥūṯ al-ʿilmiyya, 61981, 24.  Khān,Waḥīd ad-Dīn:Tağdīd ad-dīn, übers. v. Ẓafr al-Islām Khān. New Delhy: Goodword Books, 2015, 42– 46.  Ar-Rifāʿī, ʿAbd al-Jabbār (Hrsg.): ʿIlm al-kalām al-jadīd: madḫal li-dirāsat al-lāhūt al-jadīd wajadal al-ʿilm wa-al-dīn. Mawsūʿat falsafat al-dīn. Beirut: Dār at-tanwīr lil-ṭibāʿah wa-al-našr, 2016, 50.  ebd.  Ğadʿān, Fahmī: ʾUsus at-taqaddum ʿind mufakkirī al-islām fī al-ʿālam al-ʿarabī al-ḥadīṯ. Kairo: Dār aš-šurūq, 1988, 195.

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der Universität Teheran lehrte, verteidigte die Aufrufe zur Wiederbelebung und Erneuerung des Kalāms. Laut Muṭahharī ist man mit neuen Einwänden konfrontiert, denen man vorher nicht begegnet war. Ebenso sind neue Argumentationsweisen entstanden, die der Erneuerung in den Grundlagen der Kalām-Wissenschaft bedürfen.¹⁹ Muṭahharī führte während seiner Amtszeit ein Studienfach mit dem Titel „Neue Kalām-Wissenschaft ein. Der iranische Philosoph Mostafa Malekian (geb. 1956) hält die Vorstellung einer erneuerten Kalām-Wissenschaft für relativ. Nach 200 Jahren wird eine „neue“ Kalām-Wissenschaft alt, genauso wie die klassische Kalām-Wissenschaft jetzt alt ist. In diesem Sinne unterscheidet er zwischen der alten und der neuen Kalām-Wissenschaft²⁰ und fasst den Unterschied wie folgt zusammen: In der alten Kalām-Wissenschaft ist Gott der zentrale Punkt aller Themen und alles geht von ihm aus, dreht sich um Ihn und geht zu Ihm zurück. Deshalb begann man bei der Forschung der Kalām-Fragen bei der Existenz Gottes und ging dann weiter zu Seinen Eigenschaften und Seinen Taten. Dann wird aufgrund dessen erklärt, wie die Menschen rechtgeleitet oder in die Irre geführt werden. Dies führt zum Instrument der Rechtleitung, nämlich der Offenbarung und von daher wird dann über Prophetie geredet. Im Gegensatz dazu stellt sich der Mensch in das Zentrum der neuen Kalām-Wissenschaft. Ausgehend davon beginnt man mit der Gestaltung der Erkenntnis des Menschen. Dies führt zur Diskussion über nötige Kenntnisse sowie grundlegende Rechte des Menschen, die ausschließlich von der Religion behandelt werden können.²¹

Mohammed Mojtahed Shabestari (geb. 1936) gilt in diesem Zusammenhang als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten, die zur Erneuerung der Kalām-Wissenschaft aufgerufen haben. Für Shabestari ist der Glaube eine Verbindung zwischen zwei Subjekten: „Gott und Mensch – der eine ist absolut, unbedingt, vollkommen, der andere begrenzt und endlich. Beide Subjekte sind miteinander im Dialog“. ²² Shabestari unterscheidet zwischen Überzeugung „ʿAqīda“ und Glaube „Iman“; Daran zu glauben, dass es einen Gott gibt, ist ʿAqīda, wobei Glaube ist, Gott zu erkennen, ihn zu lieben, sich in Vertrauen ihm hinzugeben und in jeder Lebenssituation die Hoffnung nicht zu verlieren. Diesen Glauben kann nur ein

 Wielandt, Rotraud. „Main Trends of Islamic Theological Thought from the Late Nineteenth Century to Present Times“. In: Handbook of Islamic Theology, hg.v. Sabine Schmidtke. Oxford: Oxford University Press, 2015, 747.  Malekian, Mostafa: „Al-kalām al-ğadīd fī Irān“, übers. v. Vf. 178 – 236, hier 189.  ebd., 188.  Shabestari, Mohammed Mojtahed: Hermutiqā al-Kitāb wa as-Sunna, übers. v. Aḥmad alQabbanğī. Beirut: Dār al-intišār al-ʿarabī, 2013, 225 ff.

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Mensch erfahren, der äußerlich und innerlich frei in seinem Denken, Fühlen und Handeln ist. Die innere Freiheit erlangt der Mensch, wenn er die Unterscheidung der Vernunft, die auch ethische Verpflichtungen festlegen kann, bejahen und ohne Einschränkung danach handeln kann.²³ Da der Islam eine rationale Religion ist, dessen heiliges Buch immer den Verstand anspricht, soll es nach Shabestari keine Erkenntnis, keine Geschichte und keine Tradition geben, die heilig ist. Er meint, das Problem der Muslime ist erst entstanden, als die Rationalität der religiösen Tradition verneint wurde, damit die Machthaber in einer irrationalen Atmosphäre herrschen können. Shabestari ist der Auffassung, die Muslime in der heutigen Zeit sollen ihre Gemeinschaftsstrukturen auf Menschenrechte stützen, nicht weil sie im Offenbarungsbuch und in der Tradition zu finden sind, sondern weil in der Moderne die Realisierung der Menschenrechte die einzige Garantie für die Gerechtigkeit ist, die als Prinzip für eine islamische Gemeinschaft gilt.²⁴ Die Akzeptanz der Modelle der Demokratie und der Menschenrechte bedeutet nicht, dass der Mensch sich gegen Gott stellt; vielmehr ermöglichen diese Modelle, dass der Mensch frei seine dialogische Beziehung zu Gott aufbaut und entfaltet. Seit den neunziger Jahren fanden wissenschaftliche Konferenzen und Foren statt, die sich mit der Thematik der Erneuerung der Kalām-Wissenschaft auseinandersetzten. Des Weiteren gab es auch außerhalb des arabischsprachigen bzw. des islamischen Raumes moderne Ansätze, die sich auf die Erneuerung der Kalām-Wissenschaft beziehen bzw. ein rationales, aktuelles und/oder revolutionäres Verständnis des Islam darlegen. Der südafrikanische Theologe Farid Esack leistete durch seine Arbeit und sein Engagement entscheidende Beiträge zur Entwicklung der islamischen Befreiungstheologie und ihrer Umrisse. Das Merkmal seines theologischen Entwurfs ist, dass er sich wie andere Modelle der Befreiungstheologie um die Überwindung sozialer, politischer, wirtschaftlicher und religiöser Ungerechtigkeiten und Unterdrückung bemüht.²⁵ Esack vertritt die Auffassung, die zentralen Aspekte der Befreiung wie das unentwegte Verlangen nach Gerechtigkeit, der Ruf nach Freiheit und die Befreiung von jeglichen Formen der Unterdrückung waren in vielen Momenten der islamischen Geschichte offenkundig. Nach seiner Auffassung kann die Entstehung des Islam selbst als ein Aufstand gegen verschiedene Formen der Unterdrückung  ebd.  ebd.  Tatari, Muna. Gott und Mensch im Spannungsverhältnis von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, Versuch einer islamisch begründeten Positionsbestimmung, Bd. 4, Schriftenreihe Graduiertenkolleg Islamische Theologie. Münster New York, Waxmann, 2016, 196.

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und der Ungerechtigkeit gesehen werden. Die Befreiungstheologie ist für Esack keinesfalls etwas, das von einer rein theologischen Basis aus entwickelt und systematisiert werden kann, vielmehr besteht sein befreiungstheologisches Konzept aus der Unterscheidung zwischen einem rein theologischen und rein weltlichem Diskurs. Folgende Punkte sind für sein Konzept der Befreiungstheologie charakteristisch: 1. Die Befreiungstheologie ist nicht in der Welt der Wissenschaft, sondern aus der solidarischen Praxis für die Armen und Unterdrückten entstanden. 2. Die Befreiungstheologie ist kontinuierlich daran interessiert, die dominanten Herrschafts- und Machtstrukturen in all ihren Facetten herauszufordern, nicht nur jene der religiösen Orthodoxie. 3. Die Befreiungstheologie setzt sich grundsätzlich mit kommunitaristischen Werten und Klassenkämpfen auseinander, anstatt sich mit liberalen Freiheiten zu beschäftigen, die in keinerlei Hinsicht Kritik für ein ungerechtes und sündiges Wirtschaftssystem wie den Kapitalismus darstellen.²⁶ Im islamisch-theologischen Kontext im deutschsprachigen Raum versucht der Münsteraner Islam-Theologe Mouhanad Khorchide (geb. 1971) eine Theologie der Barmherzigkeit zu etablieren. Er bietet eine neue Lesart der klassischen theologischen Themen. Sein Entwurf einer islamischen Theologie der Barmherzigkeit soll Anstöße zu einem kompletten Gottesverständnis geben. Er geht von der These aus, dass die Barmherzigkeit eine Wesenseigenschaft ist. Somit meint er, Gott ist immer und für alle Menschen barmherzig. Khorchide vertritt die Auffassung, dass das restriktive Bild Gottes, das dem koranischen Bild eines barmherzigen Gottes widerspricht, nicht durch Zufall entstanden ist. Dies ist seiner Meinung nach eine Projektion von Stammesgesellschaften, in denen Gehorsam eine zentrale Tugend ist sowie als Instrument zur Zähmung von Menschen zu betrachten.²⁷ Khorchide will in diesem Neuansatz der islamischen Theologie den Begriff der Barmherzigkeit nicht gegen die Gerechtigkeit ausspielen, sondern versteht Gerechtigkeit als Folge der Barmherzigkeit. Das Konzept der Belohnung und Bestrafung im Koran ist nur als pädagogisches Konzept zu verstehen.

 Esack, Farid: „Unterwegs zu einer islamischen Befreiungstheologie.“ In: Klaus von Stosch, Muna Tatari (Hrsg.). Gott und Befreiung, Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum. Beiträge zur Komparativen Theologie, Bd.5. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2012, 30.  Khorchide, Mouhanad: Islam ist Barmherzigkeit – Grundzüge einer modernen Religion. Freiburg: Herder, 22016, 45.

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2 Zu einigen Ansätzen der neuen Kalām-Wissenschaft im arabischsprachigen Raum 2.1 Ḥasan Hanafī (gest. 2021) und sein Projekt „Tradition und Innovation“, die Erneuerung der Kalām-Wissenschaft in seinem Werk „Von den Dogmen bis zur Revolution“ Min al-ʿAqīda ilā aṯ-ṯaura. Ḥasan Ḥanafī ist ein bekannter ägyptischer Philosoph und islamischer Denker. In seinem Projekt „Tradition und Innovation“ unternimmt er es, Entwürfe für die Erneuerung der verschiedenen Wissensbereiche des Islam anzubieten. Sein Lebenswerk und langjähriges Projekt trägt den Titel „At-Turāṯ wa at-Tağdīd“ (Tradition und Innovation). Es handelt sich dabei um die Erneuerung des islamischen Denkens mit all seinen unterschiedlichen Wissensbereichen und Wissenschaftsdisziplinen. In der Reihe Min al-naql ilā al-ʿaql (Von der Tradition zum Verstand) untersucht er die Erneuerung der Koranwissenschaften, Hadithwissenschaften, Sīra, Koranexegese „Tafsīr“ und das islamische Recht „Fiqh“, während in der Reihe Min al-naql ilā al-ibdāʿ (Von der Tradition zur Innovation) sein neues Anliegen einer islamischen Philosophie dargelegt wird. Min al-fanā ilā al-baqā (Von der Vergänglichkeit zur Beständigkeit) gilt als Erneuerungsversuch der islamischen Mystik und Min al-naṣṣ ilā al-wāqiʿ (Vom Text zur Realität) ist als seine Betrachtung einer neuen islamischen Rechtshermeneutik anzusehen. Außerdem übernimmt Ḥanafī in seinem fünfbändigen Werk „Min al-ʿAqīda ilā al-ṯaura“ (Von der Doktrin zur Revolution) den Versuch, die Kalām-Wissenschaft zu erneuern. Bereits in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff des revolutionären bzw. den progressiven Islam von Ḥanafī im arabischsprachigen Raum populär gemacht.²⁸ Ḥanafī sieht die Erneuerung der Kalām-Wissenschaft aus der Sicht der Thematik. In der alten Kalām-Wissenschaft handelt es sich um Gott, die Beweise über seine Existenz usw. In der neuen Kalām-Wissenschaft stehen der Mensch, seine Rechte und seine gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Probleme im Zentrum.

 Esack, Farid: „Unterwegs zu einer islamischen Befreiungstheologie.“ In: Klaus von Stosch, Muna Tatari (Hrsg.). Gott und Befreiung, Befreiungstheologische Konzepte in Islam und Christentum. Beiträge zur Komparativen Theologie, Bd.5. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2012, 27.

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In seinen Betrachtungen zur Kalām-Wissenschaft definiert er wie man die neue Kalam-Lehre verstehen soll: Die Wissenschaft der Grundprinzipien der Religion²⁹ ist jene Wissenschaft, die im Lichte der Glaubenslehre den aktuellen Tatbestand der Muslime und ihre tatsächlichen Probleme der Eroberung, Rückständigkeit, Armut, Spaltung und der Rücksichtslosigkeit betrachtet. […] ebenso sollte sie die Faktoren des Fortschritts und die Voraussetzungen der Renaissance darlegen.³⁰

In einem Interview, das in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Zeitgenössische Islamische Fragen“ veröffentlicht wurde erklärt Ḥanafī seine eigene Version der neuen Kalām-Wissenschaft, wie folgt: Es stimmt ja, was Al-Ašʿarī früher in seiner Behandlung der Glaubensgrundlagen etablierte, als er dies nach den im Koran und der Sunna erwähnten sechs Glaubensgrundsätzen – Glaube an Allah, seine Gesandten, Seine Engel und Seine heiligen Bücher sowie der Glaube an das Jenseits und an die göttliche Vorherbestimmung eingliederte. Er meint jedoch, dass er in einer anderen Zeitepoche lebt, als die von al-ʾAšʿarī. Ašʿarīs Zeit war von einem starken, siegenden und stolzen Islamischen Staat geprägt, im Gegenteil zur Zeitepoche Hanafis, wo die Muslime an Unwissenheit, Armut, Dekadenz und dem bitteren Niederschlag leiden³¹.

Dies ist nach Ḥanafī, ein Faktor, neue Dogmen und andere Glaubensrundsätze herauszufinden. Als Beispiel von neuen sechs Grundsätzen des Glaubens erwähnt er: „Aufstand gegen den Imperialismus, Bekämpfung der Rückständigkeit, Bekämpfung der Spaltung und der Zersplitterung, Bekämpfung der Tyrannei und der Unterdrückung und Bekämpfung der Armut“³². Ḥanafī stützt sich dabei auf seine Interpretation von der Sure Quraisch: „So sollen sie dem Herrn dieses Hauses dienen, Der ihnen Speise nach ihrem Hunger gegeben und ihnen Sicherheit nach ihrer Furcht gewährt hat.“ Er geht davon aus, dass Al-Ašʿarī nie auf die Idee gekommen wäre, den Vers mit den Glaubens-

 ʿIlm ʾUṣūl ad-Dīn, ʿIlm al-Kalām, al-ʿAqīda oder ʿIlm at-Tauḥīd sind unterschiedliche Bezeichnungen desselben Wissensbereiches. Diese unterschiedlichen Bezeichnungen kamen aus den verschiedenartigen Betrachtungsweisen der theologischen Fragen.  Ḥanafī, Ḥasan. Min al-ʿaqīda ilā aṯ-ṯaura. Bd. 1, Al-muqaddimāt an-naẓariyya. Beirut: Dār attanwīr liṭ-ṭibāʿa wa an-našr, 1988, 72. Die Stelle lautet in arabischer Sprache: ‫ ﻭﺗﻌﺮﻳﺐ ﻭ ﺗﺠﺰﺋﺔ ﻭﻻ ﻣﺒﺎﻻﺓ‬،‫] “ﻋﻠﻢ ﺍﺻﻮﻝ ﺍﻟﺪﻳﻦ ﺇﺫﻥ ﻫﻮ ﺍﻟﻌﻠﻢ ﺍﻟﺬﻱ ﻳﻘﺮﺃ ﻓﻲ ﺍﻟﻌﻘﻴﺪﺓ ﻭﺍﻗﻊ ﺍﻟﻤﺴﻠﻤﻴﻦ ﻣﻦ ﺍﺣﺘﻼﻝ ﻭ ﺗﺨﻠﻒ ﻭ ﻗﻬﺮ ﻭﻓﻘﺮ‬ ….[ ‫„ﻭﻋﻨﺎﺻﺮ ﺍﻟﺘﻘﺪﻡ ﻭﺷﺮﻭﻁ ﺍﻟﻨﻬﻀﺔ‬  Ar-Rifāʿī, ʿAdulğabbār: Al-ʾittiğāhāt al-ğadīda fī ʿilm al-kalām, ein Interview mit Ḥasan Ḥanafī. In Al-iğtihād al-kalāmī, manāhiğ wa ruʾā mutanawwiʿa fī ʿilm al-kalām al-ğadīd, hg.v. ʿAdulğabbār ar-Rifāʿī. Beirut: Dār al-hādī liṭ-ṭibāʿa wa an-našr wa at-tauzīʿ, o. J., 29.  ebd.

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grundsätzen zu verbinden, weil für ihn Hunger und Unsicherheit keine Gefahr darstellten.³³ Ḥanafī beharrt nicht auf seinen vorgeschlagenen neuen Grundprinzipien, sondern er hält sich auch für temporär. Sie sollen ja nur so lange gelten wie ihre Problematiken noch bestehen. Danach kann man die alten Themen betrachten oder je nach vorhandenen Umständen die Zielsetzungen, Methoden und Themen der Kalām-Wissenschaft ändern.³⁴ Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und die politischen Probleme sollen ja die neue Theologie gestalten. Ḥanafī schlägt vor, dass man analog zu christlichen Theologien auch im Islam über politische Theologie, Soziotheologie und wirtschaftliche Theologie sprechen darf.³⁵ Zu erwähnen ist auch, dass Ḥanafī den Begriff einer neuen Kalām-Wissenschaft nur unter Vorbehalt verwendet, weil er den Kalām immer neu erfindet. Die Entstehung des Kalām war neu im damaligen historischen Kontext, durch die Debatte um Herrschaft „Imāma“. Danach, als die griechische Philosophie ins Arabische übertragen wurde, haben die Mutakallimūn ihre Methoden entwickelt. Alt geworden ist der Kalām nur, als die Mutakallimūn beim Taqlīd geblieben sind und sich ausschließlich an ihre eigenen theologischen Schulen gebunden haben.³⁶

2.2 ʿAbdulğabbār Ar-Rifāʿīs Vorstellung der neuen Kalām-Wissenschaft Der irakische Denker und Philosoph, ʿAbdulğabbār ar-Rifāʿī, wurde 1954 in der Provinz Ḏī Qār geboren. 1978 begann er mit seinem theologischen Studium in der neben Qom im Iran wichtigsten schiitischen traditionellen Lehrstätte Hawza von Nağaf. Im Moment lehrt er an der Hawza von Qom. 1997 veröffentlichte er die Fachzeitschrift Qaḍāyā islāmīyyaa muʿāṣira, „Zeitgenössische Islamische Fragen“, die bis heute publiziert wird. Die neuste Ausgabe wurde im Winter 2020 herausgegeben. Als das wichtigste Ziel der Zeitschrift wird der Aufbau einer neuen Religionsphilosophie und einer neuen KalāmWissenschaft verfolgt. Im Jahr 2004, nachdem er aus dem iranischen Exil in seine Heimat zurückgekehrt war, gründete er das „Zentrum für Studien der Religionsphilosophie“ in    

ebd., 30. Hanafi, Hasan: Min al-ʿaqīda ilā al-ṯaura, 65. ebd., 73 ff. Ar-Rifāʿī, Interview mit Hasan Hanafi, 21 ff.

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Bagdad. Bis heute hat das Zentrum mehr als 250 Bücher in mehreren Reihen veröffentlicht. Zu diesen Reihen gehören: „Religionsphilosophie und neue KalāmWissenschaft“, „Erneuerung des religiösen Denkens“, „Kultur der Toleranz“, „Philosophie und Mystik“ und „Zeitgenössische Islamische Fragen“. Gleichzeitig ist ar-Rifāʿī der Herausgeber der „Enzyklopädie der Religionsphilosophie“ (Mawsūʿat falsafat ad-dīn). In der Enzyklopädie der Religionsphilosophie stellt ar-Rifāʿī neben seinen eigenen Schriften die verschiedenartigen Ansätze moderner Denker aus dem Iran und den arabischen Ländern vor. Ar-Rifāʿī geht in seinen Überlegungen grundsätzlich davon aus, dass die Erneuerung des religiösen Denkens auf der Etablierung der neuen Kalām-Wissenschaft basiert.³⁷ Ar-Rifāʿī vermisst in der klassischen Kalām-Wissenschaft u. a. die folgenden Punkte: 1. Im Zentrum der Interessen der Mutakallimun stand nicht der Mensch.³⁸ 2. Die verschiedenen theologischen Schulen haben sich kaum weiterentwickelt und wurden von der Praxis des Taqlīds (unkritische und unreflektierter Nachahmung älterer Generation) heimgesucht.³⁹ 3. Die klassische Kalām-Wissenschaft lässt einen ethischen Gehalt vermissen.⁴⁰ 4. Ihr fehlt es an epistemologischer Zielsetzung. Bei der Erneuerung der Kalām-Wissenschaft sollen, so ar-Rifāʿī, verschiedene Aspekte berücksichtigt werden: – Erneuerung der Themen: Die Kalām-Wissenschaft muss sich stets mit neuen Fragen beschäftigen und nicht bloß die Themen wiederholt besprechen, welche die klassischen Gelehrten schon mehrfach behandelten. – Erneuerung der Ziele: In der neuen Kalām-Wissenschaft soll es nicht darum gehen, die Glaubensartikel zu verteidigen, sondern die Wahrheit des Glaubens zu interpretieren und analysieren. – Erneuerung der Methoden: Die Kalām-Wissenschaft muss sich von der klassischen und einseitigen Perspektive in der Forschung befreien und stattdes-

 „Al-ʾittiğāhāt al-ğadīda fī ʿilm al-kalām“. In Qaḍāyā islāmiyya muʿāṣira, hg.v. Ar-Rifāʿī, ʿAdulğabbār, 16 und 17. Beirut: al-Falāḥ lin-našr wa at-tauzīʿ, 2001 und ʿIlm al-kalām al-ğadīd, madḫal li-dirāsat al-Lāhūt al-Ğadīd wa ğadal al-ʿIlm wa ad-dīn (Neue Kalām-Wissenschaft, eine Einführung in das Studium der neuen Theologie und die Debatte um Wissenschaft und Religion), hg.v. Ar-Rifāʿī, ʿAdulğabbār, im Rahmen der Reihe „Mausūʿat falsafat ad-dīn“, Band 3. Beirut: dār at-Tanwīr liṭ-Ṭibāʿa wa an-Našr, 2016.  Ar-Rifāʿī, 2016, 29.  ebd., 28.  ebd., 38.

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sen sich interdisziplinären Forschungsmethoden bedienen. Moderne hermeneutische und semiotische Theorien sollen beim Verständnis der Texte verwendet werden, sowie Erkenntnisse und Einsichten moderner westlicher Philosophie. Erneuerung der theologischen Sprache: die Sprache der Theologie muss einfach und allen Menschen verständlich sein. Man muss sich von den vagen, unverständlichen und rätselhaften Formulierungen verabschieden.⁴¹

Ar-Rifāʿīs Idee der neuen Kalām-Wissenschaft kennt keine Grenzen zwischen Kalām und Philosophie. Sie versteht sich vielmehr als eine innerperspektivische Religionsphilosophie. Daher ist auch für die neue Kalām-Wissenschaft charakteristisch, die modernen christlichen Theologien in Betracht zu ziehen.⁴² Ein weiteres Merkmal der neuen Kalām-Wissenschaft besteht in ihrem Sinn für die Ästhetik. Dadurch sollen, so ar-Rifāʿī weiter, religiöse Texte von faschistischen Interpretationen befreit werden, die nicht nur den ästhetischen, barmherzigen und friedvollen Charakter der Religion trüben, sondern sogar dem Atheismus den Weg ebnen.⁴³ Zur Begründung seiner Aufforderung zu einer humanistischen Theologie kritisiert ar-Rifāʿī in der traditionellen Kalām-Wissenschaft die Tatsache, dass sie fast kaum den Menschen, dessen Bild sowie dessen Stellung in der Schöpfung behandelt. Man habe sich dafür vielmehr mit Gott, seiner Einheit und seinen Attributen befasst. Der Mensch wurde nur als Gottes Schöpfung und in diesem Sinne als ein Instrument im Dienst Gottes angesehen, ohne auf sein Wesen, seine Bedeutung im Leben und auf der Erde und seine Rolle in der Beziehung zu Gott einzugehen. In diesem Zusammenhang kritisiert er explizit die ašʿaritische Theologie, die den Menschen als einen Sklaven Gottes definiert, der einem machtvollen dominanten und strafenden Gott unterworfen ist. Eine derartige theologische Haltung, die eindeutig eine Theologie der Barmherzigkeit diametral widersprach, ebnete gemäß ar-Rifāʿī den Weg für politische Tyrannei und Unterdrückung der Völker.⁴⁴ Die neue Kalām-Wissenschaft soll, so ar-Rifāʿīs Vorstellung, andere Erkenntnisziele verfolgen. Sie soll den Unterschied zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen, zwischen dem Heiligen und dem Nicht-Heiligen, zwischen göttlichem Wort und menschlichen Kenntnissen, zwischen Dogmen und mensch-

   

ebd., 26. ebd., 44. ebd., 55. ebd., 29 ff.

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licher Wahrnehmung dieser Dogmen, zwischen Religion und Religiosität und zwischen den Grenzen der göttlichen Offenbarung und Grenzen des menschlichen Verstandes aufzeigen.⁴⁵ In seinem Buch Ad-dīn wa-l-ẓamaʾ al-unṭūlūğī (Religion und der ontologische Durst) will ar-Rifāʿī einen deutlichen Zusammenhang zwischen der ansteigenden Welle des Atheismus unter der Jugend auf der einen Seite und der traditionellen Theologie auf der anderen Seite erkannt haben. Dabei erklärt er, dass sich die heutigen jungen Menschen nicht so sehr für die theologischen Beweise für die Existenz Gottes interessieren. Viel wichtiger ist ihnen die Verkörperung des Glaubens. Bei seiner Argumentation bezieht er sich auf eine Aussage über den Propheten Mohammed, die folgendes besagt: „Sein moralisches Verhalten war der Koran“. Ar-Rifāʿī interpretiert die Aussage in dem Sinne, dass man an die Botschaft des Propheten nicht aufgrund des Buches geglaubt hat, sondern aufgrund seiner praktischen und vorbildlichen Handlungen. Er ruft daher dazu auf, Gott in dem Menschen zu entdecken. Gemäß ihm können die Menschen Allah nur innerhalb ihrer menschlichen Beziehungen bzw. Umstände wahrnehmen. Der Arme sehe Gott in seinem Brot, der Kranke sehe ihn in dem ihm verschriebenen Medikament usw.⁴⁶ Auf diese Weise sieht ar-Rifāʿī einen unabdinglichen Zusammenhang zwischen der Bedeutung des Individuums und dem ontologischen Prozess. Das menschliche Wesen ist geprägt durch die eigenen Erfahrungen in allen Phasen und Umständen des Lebens, wie Glaube, Atheismus,Verfremdung usw. Er versteht unter dem menschlichen Wesen das eigene Selbst bzw. die persönliche Identität. Das wahre menschliche Leben wird nur durch die Realisierung des persönlichen Selbst verwirklicht. Dieses persönliche Selbst erfolgt nur durch das Handeln.⁴⁷ Die menschliche Person trägt in sich Widersprüche und Diversitäten. Es gibt keine fixe, einheitliche und stabile menschliche Persönlichkeit. Die Widersprüche, die diversen Gefühle und die unterschiedlichen Gedanken, die der Mensch in sich trägt, sind die Hauptgründe dafür, dass der Mensch ein bewegliches Leben führt und nicht starr bleibt. Je aktiver, vitaler und lebendiger ein Selbst ist, umso mehr verfügt dieses Selbst über Widersprüche und Gegensätzlichkeit. Der Mensch kann so aus der Gegensätzlichkeit in den Traditionen, Religionen und Ideologien sein eigenes Selbst finden und nachvollziehen. Ohne Hass gäbe es keine Liebe, ohne Schwäche gäbe es keine Stärke usw. Deshalb setzt die Entdeckung der Welt die Entdeckung des menschlichen Selbst voraus; die

 ebd.  Rifāʿī: Ad-dīn wa-l-ẓamaʾ al-unṭūlūğī. Beirut: Dār at-tanwīr lil-ṭibāʿah wa-al-našr, 2016, 88.  ebd., 90.

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Erkenntnis der Welt beginnt mit der Erkenntnis des Selbst und die Reflexion über die Welt geht durch die Selbstreflexion. Die Liebe zu Gott erfolgt erst durch die Selbstliebe und die Gotteserkenntnis entsteht durch die Selbsterkenntnis. Deswegen betont ar-Rifāʿī, dass der Glaube etwas Individuelles ist, genauso wie Atheismus. Beide sind persönliche Entscheidungen.

Literatur Ar-Rifāʿī, ʿAbd al-Jabbār (Hrsg.): ʿIlm al-kalām al-jadīd: madḫal li-dirāsat al-lāhūt al-jadīd wa-jadal al-ʿilm wa-al-dīn. Mawsūʿat falsafat al-dīn. Beirut: Dār at-tanwīr lil-ṭibāʿah wa-al-našr, 2016. Ar-Rifāʿī, ʿAbd al-Jabbār (Hrsg.): Ad-dīn wa-l-ẓamaʾ al-unṭūlūğī. Beirut: Dār at-tanwīr lil-ṭibāʿah wa-al-našr, 2016. Ar-Rifāʿī, ʿAbd al-Jabbār (Hrsg.): „Al-ʾittiğāhāt al-ğadīda fī ʿilm al-kalām“. In Qaḍāyā islāmiyya muʿāṣira, hg. v. Ar-Rifāʿī, ʿAdulğabbār, 16 und 17. Beirut: al-Falāḥ lin-našr wa at-tauzīʿ, 2001. Ar-Rifāʿī, ʿAbd al-Jabbār (Hrsg.): Al-ʾittiğāhāt al-ğadīda fī ʿilm al-kalām, ein Interview mit Ḥasan Ḥanafī. In Al-iğtihād al-kalāmī, manāhiğ wa ruʾā mutanawwiʿa fī ʿilm al-kalām al-ğadīd, hg. v. ʿAdulğabbār ar-Rifāʿī. Beirut: Dār al-hādī liṭ-ṭibāʿa wa an-našr wa at-tauzīʿ, o. J. Abduh, Muḥammad : Risālat at-tauḥīd, hg. v. Muḥammad ʿImara. Kairo: Dār aš-šurūq, 1994. Al-Hindī, Šiblī an-Nuʿmānī: ʿIlm al-kalām al-ğadīd, übers. v. Ğalāl al-Saʿīd Al-Ḥifnāwī. Kairo: Al-markaz al-qaumī lil-tarğama, 2012. Aṣ-Ṣaġīr, ʿAbdulmağīd: Fiqh wa šarʿiyyat al-ʾiḫtilāf fī al-ʾIslām, Murāğaʿāt naqdiyya fī al-mafāhīm wa al-muṣṭalāḥāt al-kalāmiyya. Kairo: Al-hayʾa al-miṣriyya al-ʿamma lil-kitāb, 2018. Demichelis, Marco. „New-Muʿtazilite Theology in the Contemporary Age. The Relationship between Reason, History and Tradition“. Oriente Moderno, 90, 2 (2010): 411 – 426. Ğadʿān, Fahmī: ʾUsus at-taqaddum ʿind mufakkirī al-islām fī al-ʿālam al-ʿarabī al-ḥadīṯ. Kairo: Dār aš-šurūq, 1988. Ḥanafī, Ḥasan. Min al-ʿaqīda ilā aṯ-ṯaura. Bd. 1, Al-muqaddimāt an-naẓariyya. Beirut: Dār at-tanwīr liṭ-ṭibāʿa wa an-našr, 1988. Iqbāl, Muḥammad: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens im Islam. Berlin: Hans Schiler Verlag, 22004. Khān, Waḥīd ad-Dīn: Al-islām yataḥadda, madḫal ʿilmī ilā al-ʾImān, hg. v. ʿAbdulṣabūr Šāhīn, übers. v. Ẓafr al-Islām Khān. Kuwait: Dār al-buḥūṯ al-ʿilmiyya, 61981. Khān, Waḥīd ad-Dīn: Tağdīd ad-dīn, übers. v. Ẓafr al-Islām Khān. New Delhy: Goodword Books, 2015. Khorchide, Mouhanad: Islam ist Barmherzigkeit – Grundzüge einer modernen Religion. Freiburg: Herder, 22016. Özervarh, M.Sait. „Alternative Approaches to Modernization in The Late Ottoman Period: İzmi̇ rli̇ İsmai̇ l Hakki’s Religious Thought against Materialist Scientism.“ International Journal of Middle East Studies 39,1 (2007): 77 – 102. Shabestari, Mohammed Mojtahed: Hermutiqā al-Kitāb wa as-Sunna, übers. v. Aḥmad al-Qabbanğī. Beirut: Dār al-intišār al-ʿarabī, 2013.

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Christiane Paulus

Amīn al-Ḫūlīs hermeneutische Vernunft – ein Bildungsprojekt zum sozialen Ausgleich Einleitung Wie kommt Amīn al-Ḫūlī, der Ende des 19. Jahrhunderts aus einem kleinen Dorf im Nildelta stammt, zu einem solch relevanten und bis heute ausbaufähigen Ansatz der Koraninterpretation? Seine Biografie verweist auf eine breite Bildung mit theologischer Tiefe sowie auf sein Gespür für sozialpolitische Probleme. Schon das familiäre Milieu war azharitisch gebildet. Er selbst besuchte die Kuttāb des Dorfes, wo der Koran gelehrt wurde, um schon mit sieben Jahren zum Studium nach Kairo umzuziehen. Sein Großvater dort war als Azharit Imam und Prediger an der Sultan-Hassan-Moschee. Neben dem Auswendiglernen des Korans musste sich Amīn al-Ḫūlī die entsprechenden Aussprache- bzw. Rezitationstechniken, den Tağwīd, aneignen. Rechtswissenschaft, Grammatik sowie Dogmatik und Tawhīd (Einheit Gottes) gehörten zu seinem Curriculum, darüber hinaus die Grundlagen der allgemeinen Wissenschaften als auch Mathematik. Nach drei Jahren Bildung in Kairo, also mit zehn Jahren, hatte er den gesamten Koran auswendig als auch einige wissenschaftliche Inhalte gelernt. All dies sollte eigentlich der Ausbildung zu einem Lehrer in den Kuttāb dienen. Die Isolation von dem gesellschaftlichen Leben aufgrund des hohen Lernvolumens machte ihm zu schaffen. Dese Erfahrung lässt sich auch aus seinem späteren theoretischen Zugang rekonstruieren, der von dem Bemühen der Verbindung beider Bereiche geprägt ist. Wie alle Kinder ging er, wenn auch heimlich, aus dem Haus, um mit den anderen zu spielen. Amīn al-Ḫūlī wollte kein azharitischer Lehrer oder Scheich werden, sondern ein weltlicher Efendi. Der Großvater war indes streng bezüglich der azharitischen Ausbildung. So schaffte der Enkel die nächste Ausbildungsstufe in drei statt fünf Jahren. Mit 19 begann er die Ausbildung zum Faqīh, i. e. zum Rechtsgelehrten, religiöse und weltliche Fächer wie Algebra, theoretische Ingenieurswissenschaft, Physik, Medizin, Chemie, Gestaltung, Geschichte und Geografie umfassend. Auch reüssierte er in den theologischen Disziplinen der Usūl ad-Dīn, der Rechtsfundamente, inklusive der Gutachten der šarīʿatischen Gerichtshöfe und der Organisation von Plädoyers, als auch in Interpretationswissenschaft, Ḥadīṯ, Dogmatik, Ethik und Linguistik. So umfassend begabt und ausgebildet konnte er unmittelbar lehren sowie als Beisitzer der Fachzeitschrift al-Qaḍāʾ aš-Šarʿī fungieren. https://doi.org/10.1515/9783110588590-006

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Von 1923 – 1928 war er als Imam und Rechtsberater der ägyptischen Botschaft in Rom und Berlin tätig. Amīn al-Ḫūlī eignete sich Italienisch und etwas Deutsch an. Seine Beobachtungen der gesellschaftlichen Wirklichkeiten der westlichen Gesellschaften, das religiöse und kulturelle Leben in Europa nötigte ihn zum Vergleich mit der religiösen Lage in Ägypten, die ihm alsdann sehr traditionell erschien. Für die akademischen theoretischen Debatten interessierte er sich sehr, vor allem für die Evolutionstheorie, auch für die Forschung der Orientalisten. Mit welchem theoretischen, analytischen Instrumentarium, welchem Vernunftbegriff konnte er diese Phänomene begreifen? Sein Blick lässt sich als relativ unvoreingenommen bezeichnen. Sicher gab es für die Lage, für Ordnung und Organisation des gesellschaftlichen Lebens in Europa ein Stück weit Bewunderung von Menschen, die von außerhalb, vor allem aus ärmeren Ländern kamen. Al-Ḫūlī nahm an der Kommunikation der damaligen europäischen Muslime teil, Rašīd Riḍā und Šakīb Arsalān diskutierten seriös über Anschlussfähigkeiten des Islams mit Europa. In den Fußstapfen Moḥammed ʿAbduhs und dessen Reformansätzen bewirkte der Aufenthalt in bzw. der Kontakt mit Europa bei Amīn al-Ḫūlī eine Kritik der ägyptischen Lebensweise. Das Niveau der Bildung, der Organisation und auch des religiösen Diskurses habe viele Mängel. Ihres Erachtens war die Alltagsreligiösität zu sehr auf Normen und Riten fixiert, auf zu viel Heiligkeit und zu wenig Ethik. Die religiöse Bildung habe keine weltliche Bindung, die indes notwendig und islamisch selbstverständlich sei. So lehrte er im Fachbereich Uṣūl ad-Dīn Philosophie. Vorschläge zur Reform der azharitischen Ausbildung, die bis heute viele ausländische Studierende zu Imamen und Theologen ausbildet, folgten.¹ In der Regel macht sich die Methode eines Reformansatzes an einem Rückbezug fest: zurück zu den Quellen, das hatte auch ʿAbduh schon erkannt. Auch er bezieht sich auf die eigentliche Quelle, den Koran, ihn gelte es zu verstehen, und zwar so, wie die ersten Hörer ihn verstanden hatten.² In al-Ḫūlīs Schriften dokumentiert sich nicht nur ein exzellenter Korankenner, sondern ebenso seine Überzeugung, dass es nichts Weiterreichenderes als den Koran gebe. Seines Erachtens war und ist alles im Koran vorhanden und wartet nur noch auf seine Interpretation. Dieses Wissen scheint seine Beobachtungen der europäischen Diskurse und Denkweisen strukturiert zu haben, er adaptiert deren Methoden nicht, er lässt sich davon inspirieren. Insofern bleibt sein hermeneutischer Zugang kritisch in Bezug auf die wissenschaftliche Ratio-

 Al-Ḫūlī, Amīn : Risālat al-Azhar fī al-Qarn al-ʿišrīn, 2005, 89.  ʿAbduh, Muḥammad: Risalat at-Tauḥīd, 1966, 82.

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nalität Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das trifft sich mit der Haltung der Frankfurter Schule, die diese Rationalität als hinter die Aufklärung wieder zurückfallend entlarvt hatte. Sie leide unter einem Identitätszwang, da sie alle Phänomene der Wirklichkeit unter die bestehenden Begrifflichkeiten subsumiere: aufklärerische Zweckrationalität, die letztendlich zum totalen Faschismus geführt habe.³ Al-Ḫūlīs Form der Rationalität scheint nahe an dieser Kritik, obschon er sie vor der eigentlichen Zeit des Nationalsozialismus in Europa formulierte. Sie bleibt notgedrungen vage, scheint aber indirekt von den Debatten in der Soziologie, von der Entstehung der hermeneutischen Wissenssoziologie beeinflusst zu sein, die die alltägliche, lebensweltlich bedingte, dadurch komplexe Struktur des Erkennens erforschte.⁴ Wie konnte man den schwierigen Umständen seiner Zeit und denen der ersten Hörer in ihrer Zeit und ihren Lebenswelten gerecht werden? Seine Vernunft scheint eine hermeneutische gewesen zu sein. Wie lässt sich die Genese dieser beschreiben nach seiner tiefgreifenden, nachhaltigen theologischen Grundbildung und seinen Erfahrungen und Beobachtungen in Europa?

1 Methodologie und Tafsīr Al-Ḫūlī kam Ende der 20er Jahre zurück nach Ägypten. Auf eine Anfrage von dem neu entstandenen Rundfunk, den Koran über das Radio zu erklären, reagierte er zunächst ablehnend. Seine primäre Ablehnung der Unterhaltungskultur erklärte er später in seiner Dokumentation ganz deutlich. Aufgrund der Einsicht in die allgemeine Bildungsmöglichkeit dieses Mediums habe er sich aber letztlich damit einverstanden erklärt. Das Land brauche Bildung und Entwicklung, so versuche er Koraninterpretationen als eine Sendung für gebildete Hörerinnen und Hörer zu machen, die z. B. führende Positionen bekleideten oder an sich an Bildung interessiert waren. Sein Sprachniveau des Arabischen war entsprechend hoch, akademisch. Kurze Radiosendungen waren geplant, unmöglich, den gesamten Koran durch zu interpretieren wie die klassischen Interpreten, denn diese mediale Form passte dazu nicht. Jetzt hatte er die Möglichkeit, seine Art des Tafsīrs durch diese Form zu entwickeln, ähnlich einer gehobenen Predigt. An diesem Punkt ist die Genese der sogenannten adabī-Methode zu erkennen. Die Vorlage des begrenzten Zeitrahmens und die Erwartungen der Zuhörer veranlassen ihn, die jeweiligen Gedanken in einer themengebundenen Folge zu erklären, mit jeweiligen Sinn-

 Horkheimer, Max; Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, 1969, 7– 41.  Mannheim, Karl: Wissenssoziologie, 1931, 227– 267.

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abschnitten. So führte die Form zur Auswahl und Systematisierung des semantischen Materials, das wiederum an den Reformgedanken Muḥammad ʿAbduhs anknüpfte, zu dessen und al-Ḫūlīs eigenen akademischen Diskursen in Europa. Entsprechend lassen sich seine Themen als ethisch-politisch-soziale Themen mit Bildungsfunktion charakterisieren. Diese Relevanzsetzungen drücken sich aus in den thematischen Konkretionen wie Besitz, Leitung und Gesandte, Islam und Frieden, der Koran und das Leben, Tyrannei des Wissens, Regierung des Koran, die Kunst und seine Bedeutung im Koran usw. Seine Kritik am klassischen Tafsīr bezog sich nicht nur auf die Form, auch inhaltlich meinte er, habe dieser Tafsīr keinen praktischen Nutzen für die Gesellschaft. So destruiert er ihn als „vergebliche Mühen aller dieser Generationen“, obschon er in seinen eigenen thematischen Ausführungen punktuell darauf zugreift.⁵ Methodologisch sieht al-Ḫūlī das Wunder des Koran, Iʿǧāz al- Qurʾān der literarisch/sprachlich-künstlerischen Suggestion, die das Wunder durch seine balāġah gestaltet habe: „Ich fühle sie als Königsrede des Arabischen, die, die einen beruhigt […] und die sogar von den Gegnern beschrieben wird …“⁶. Die Poesie hatte damals eine große Auswirkung auf die Menschen, so beabsichtigt er mit seiner Methode, die psychosoziale Praxis, wie sie sich im Koran dokumentiert, für das menschliche Leben aufzuzeigen, um die Ziele der islamischen Botschaft zu verwirklichen. Dabei bindet er den historischen Rückbezug und die Möglichkeit der Aktualisierung durch den Gedanken der Evolution zusammen, den er selbst wieder koranisch dokumentiert: „Was nun den Schaum angeht, so vergeht er nutzlos. Was aber den Menschen nützt, das bleibt in der Erde.“⁷ Seine methodologischen Prämisse lässt sich demnach beschreiben als punktuelle, historisch gebundene Offenbarung, die indes in sich selbst Variationsmöglichkeiten für die weitere Entwicklung birgt, an die der Mensch durch seine Vernunft im Sinne eines kognitiven, ethischen und ästhetischen Vermögens anknüpfen kann. Die kantische Trias der Vernunftdifferenzierung in reine Vernunft, praktische Vernunft und Urteilskraft lässt sich bei al-Ḫūlī heraushören. In konkretere methodische Schritte übersetzt war sein Ausgangspunkt die Empathie mit den Menschen, mit den ersten Hörenden. Empathie war der Grundgedanke, eben sich einzudenken in das Damals. So macht er zu Beginn seiner Interpretation zum Thema Besitz deutlich: „qarḍ – Wir wollen uns erinnern, was das ko-

 Al-Ḫūlī, Amīn: al- Qada wa al-Rusul, 2002, 16.  ebd.  Koran 13/17, übersetzt von F. Bubenheim und Nadeem Elias, König-Fahd-Komplex, al-Madina, Saudi-Arabien 22003.

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ranische Empfinden zu diesem Thema erkennen lässt.“⁸ In diesem koranischen Empfinden versucht er dasjenige der damaligen Hörenden zu erkennen. Der maǧāz, das Poetisch- Sinnliche, gehörte zur damaligen Kultur und Kunst der Araber, die Kunst des Erzählens und des Erklärens. So konnten und sollten nach al-Ḫūlī die Worte aktuell so verstanden werden, wie sie die Araber zur Zeit des Herabkommens verstanden haben. „Wenn ich diese Worte meine, heißt das, dass ich mich beziehe auf arabische Ausdrücke, die Araber fühlen (bis heute) ihre Identität in dieser Sprache, […] sie genießen es, sich rhetorisch auszudrücken.“⁹ Das bleibende Gewicht der Semantik betont er alsdann und grenzt es vom aktuellen Verständnis seiner Zeit ab. Die Kunst habe keinen Selbstzweck, keine reine Ästhetik, kein alleiniges Gefühl der Spiritualität oder Respekt vor der Heiligkeit, sondern sie diene der großen sozialen Reform hin zur Menschlichkeit, der insāniyah. Den damaligen Menschen sei diese „schöne Erfahrung der Solidarität durch die balāġah, poetisch-rhetorische Suggestion“ ermöglicht worden. Die literarische Emotionalität, die vom Koran komme, sei eine natürliche Entwicklung für das Verstehen der koranischen Ausdrücke, großartig organisiert.¹⁰ Es lässt sich demnach eine Ästhetisierung der Ethik erkennen bzw. umgekehrt, die religiösspirituelle Erfahrung wird mit dem Thema der Sozialethik zusammengebunden. Insofern konzentriert sich die Adabī–Methode auf die Sprachdimension, balāġah, inklusive ihres kognitiven Parts. Diese und die ethische Seite gehören zur Ästhetik, keine Wertung, keine unterschiedliche Relevanzsetzung lässt sich hier erkennen. Die Menschlichkeit, die durch die Evolution ermöglicht werde, fasst al-Ḫūlī als anthropologische Faktoren, die beim Menschen durch seinen Lernprozess die Fähigkeit zu moralischem Handeln hervorbringen können. Der Koran sei hier das Lehr- und Trainingsbuch, er motiviere so die Hörer zur eigenen Entwicklung des moralischen Handelns in Richtung eines sozialen Ausgleichs. Die gesellschaftspolitische Dimension umfasst seines Erachtens ebenso die psychischen, seelischen Aspekte, die sich auf dem damaligen lebensweltlichen Kontext bezögen.¹¹ Evolutionsgeschichtlich lasse sich beobachten, dass der Islam die damaligen Wunder und den Wunderglauben reduziert habe durch die Ersetzung einer rational begründeten Kosmologie und der entsprechenden Naturmuster. Daher seien die Riten des Alltags verringert worden, um das sozialethi-

 Al-Ḫūlī, Amīn: Fī amwālihim, 1987, 23 – 24. Hier zum Thema, dass Kreditgeben in koranischarabischem Kontext immer eine Hilfe bedeutete, qarḍ ḥasan eben keinen materiellen Profit intendierte.  Al-Ḫūlī, Amīn: al-Qaḍāʾ wa ar-Rusul, 16.  ebd.  Al-Ḫūlī: Fī amwālihim, 42.

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sche Engagement, die ṣaliḥāt, zu stärken.¹² Die darin implizierte Kritik an der Relevanz der bestehenden Riten in Ägypten zu seiner Zeit brachte das religiöse Establishment auf Distanz, al-Ḫūlī wurde marginalisiert.

2 Ägyptische Debatten der jüngeren Vergangenheit zur Frage von Vernunft und Überlieferung Mit welchem Begriff der Vernunft al-Ḫūlī arbeitete, lässt sich an der Art seiner Unterscheidungssetzungen erkennen. Seine Perspektive lebt von Abgrenzungen bezüglich vieler in seiner Zeit gängigen Anschauungen – heute würden wir sagen Diskurse – und auf der anderen Seite von Inkludierungen, aber neuer Art. Er war auf der Suche und versuchte, sich der Komplexität der Problematik zu stellen.Wie konnte im 20. Jahrhundert angesichts der politischen und ökonomischen Lage der Koran angemessen interpretiert werden und zwar zum Ausbau kognitiver, moralischer und ästhetischer Fähigkeiten? Zunächst ist zu beobachten, dass er seinerzeit in den 40er Jahren, während der Planungen der Radiosendungen zum Thema Besitz, die Anfragen der Sozialisten ablehnt, den Koran sozialistisch zu interpretieren. Der Koran genüge diesem Anspruch an sich schon, sei viel weitreichender als jegliche sozialistische Theorie und zwar ohne Ablehnung des privaten Besitzes.¹³ Es scheint, als sei ihm diese Theorie viel zu flach vorgekommen, alsdann brachte ihm diese Kritik neben bestehenden Problemen mit dem religiösen auch noch Probleme mit dem politischen System der 50er Jahre ein. Unter den Intellektuellen seiner Zeit war, auch als Auswirkung europäischer Diskurse, eine Debatte darüber entbrannt, ob der Koran durch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse interpretiert werden könne. Viele der nach Europa Gereisten hatten sich von den europäischen Entwicklungen sehr beeindrucken lassen, gerade angesichts der daraus entstehenden Haltung, dass Ägypten und die islamische Welt zurückgeblieben sei. Die europäische Entwicklung wurde aufgrund der Aufklärung nicht nur bewundert, sondern auch als Norm gesehen, wenn auch nicht unbedingt absolut. Muḥammad ʿAbduh und andere sahen in der Aufklärung islamische Prinzipien aufscheinen, allein die Säkularisierung blieb ein Moment der Herausforderung: ob diese beim Islam durch den Einzug ratio-

 Al-Ḫūlī: al-Muǧaddidūn fī l-islām, 42– 45.  ebd. 57– 58.

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naler Vernunftkonzepte durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse den gleichen Schaden an der Religion anrichten würde? Einige Intellektuelle schienen schon Abstand genommen zu haben, zweifelten hauptsächlich an den Wundern im Koran. So hielt es Muḥammad ʿAbduh für wichtig, diese Art der Aufklärung in die Religion hinein zu tragen und die koranische Botschaft mit den modernen Verhältnissen zu verbinden. In seiner Koraninterpretation interpretierte er beispielsweise bei der Sure „al-Fīl“ die abābīl mit Pocken und Masern, aber nicht direkt übertragend. Trotz der Ressentiments gegenüber den Hadithen bezüglich der Authentizitätsfrage zitiert er in seinem Kommentar die Überlieferer ʿIkrimah und Yaʿqūb. Sie hätten mitteilt, dass in dem Jahr der Elefanten die Gegend bei Mekka von Masern und Windpocken heimgesucht worden war.¹⁴ Die Auswahl dieser Überlieferungen und die Konzentration auf diesen Aspekt wurden ʿAbduh wohl durch die Fortschritte der Naturwissenschaften nahegelegt, diese Erklärung bietet sich an. Die Rationalisierung der Wunder und Mythen im Koran sei wichtig, den Koran nur als Sachinformation und balāġah zu verstehen, könne diese Intellektuellen nicht überzeugen.¹⁵ Dieser Zugang zu den Texten fand bei vielen großen Anklang, sicher auch bei frommen Naturwissenschaftlern. Man war zufrieden von dem möglichen Nutzen nach der Entdeckung einiger Geheimnisse im Koran. Die damals noch unbekannten wissenschaftlichen Geheimnisse seien im Text verborgen gewesen und würden heute in der modernen Zeit zutage treten. Aber im Grunde seien alle Erkenntnisse schon angelegt und man könne heute davon wissenschaftlich profitieren.¹⁶ Bis heute ist diese Art des Diskurses, dem Koran viele aktuelle und sogar zukünftige wissenschaftliche Erkenntnisse potentiell zuzuschreiben, verbreitet und beliebt. Diese Zuschreibung impliziert etwas großartig Wunderhaftes, das diesen Intellektuellen merkwürdigerweise genügt. Der ägyptische Philosoph Aḥmad Muḥammad Sālim beschreibt diese damaligen Debatten unter der Überschrift „Vernunft und Überlieferung“. Dabei scheint sein Blick darauf gerichtet, wer von beiden die Überhand hat. Seine Terminologie liest sich entsprechend als ein Kampfgeschehen, wer über wen triumphiert. Aber es gilt nach der Art der Kritik al-Ḫūlīs zu fragen, danach, wie die Kritik am naturwissenschaftlich-rationalem Zugang zum koranischen Text differenziert begründet wird, als konkurrentes Verhältnis oder jenseits davon. Al-Ḫūlī, auf der einen Seite sich bindend an ʿAbduh, Koran zu verstehen wie die ersten Hörenden, insofern zu kontextualisieren, lehnt indes seine Art der di-

 ʿAbduh, Muḥammad: Tafsīr al-Qur’ān al-Karīm, ğuzʾ ʿamma, 157.  Sālim, Aḥmad Muḥammad: al-Islām al-ʿaqlānī. Tagdīd al-fikr ad-dīnī ʿinda Amīn al-Ḫūlī, 96.  ebd 97.

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rekten Übertragung auf heute ab. Beim Reformansatz geht es al-Ḫūlī nicht um die Identifizierung der koranischen Inhalte mit den Zuständen und dem Denken der sogenannten aufgeklärten Moderne, im Gegenteil. Seine Ausrichtung bezieht sich auf das soziale Leben, auf Ethik, nicht primär auf Kognition.Von daher scheint es für ihn schwierig, die koranische Botschaft mit den bestehenden Verhältnissen oder Erkenntnissen zu identifizieren. Für ihn bleibt der Koran eine ständige Herausforderung, eine Irritation auf allen Ebenen. Seine sachliche Kritik am wissenschaftlichen Zugang bringe dies ähnlich zur Sprache, so Ahmad Salim. Als guter Kenner auch der islamischen Theologiegeschichte habe er gewusst, dass es wissenschaftliche Auslegung schon früher gegeben hat, z. B. bei al-Ġazālī, um die Welt zur Religion zurückzuführen. Die Kritik an diesem Tafsīr, so habe al-Ḫūlī entdeckt, geht auf aš-Šāṭibī zurück, an den auch heute in weiteren Reformbemühungen häufig angeknüpft wird. Dieser hatte den wissenschaftlichen Tafsīr schon abgelehnt, für al-Ḫūlī eine Konsequenz aus dessen Fiqh al-Wāqiʿ über Maqāṣid aš-Šarīʿah. Aš-Šāṭibī sei sich aufgrund der Maqāṣid eben der Vielfalt der Wirklichkeiten bewusst gewesen, es gebe viele Dinge darin, die keinen Textbezug hätten. Im Anschluss daran verweist al-Ḫūlī, darauf, dass alle Wissenschaften, wie Medizin, Ingenieurwissenschaften und Astronomie veränderlich und unbeständig seien, d. h. was damals entdeckt wurde, könne sich heute entwickeln und seine wissenschaftliche Gültigkeit verlieren oder sich verändern.¹⁷ Die erste Hälfte des 20 Jahrhunderts war von Aufbruch geprägt, die Hitzigkeit der Debatten thematisierte nur die Richtung. ʿAbbās al-ʿAqād hatte ebenso eine Kritik an den rationalen modernen (Natur)Wissenschaften, sie würden als ewige Wahrheiten angesehen, die auf den Koran übertragen würden, ihre Absolutheitssetzung, ihre überzeitliche Rationalität im Sinne einer Logik sei das Problem. Seines Erachtens hatten diese Wissenschaften ihren kontingenten Entscheidungscharakter ausgeblendet, denn wissenschaftliche Theorien basierten immer auf dem Konsens zwischen Generationen.Von hier aus sei es nicht notwendig, das Dogma als einen Bereich des Wissens zu identifizieren, jeder Bereich sei abhängig von den jeweiligen kontextuellen Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Der Islam habe den Muslimen damals die Tür geöffnet und sie zum Wissen angetrieben, von daher habe die Religion die Wissenschaft als Ansporn zum Denken und nicht als Garantie von Urteilen zu beschreiben. Diese Art der Inanspruchnahme von Wissenschaft verkrüppele die Bewegung der Vernunft, die sich im Denken vollziehe.¹⁸

 Al-Ḫūlī: Tafsir, 2017, 219 – 221.  Sālim, 99 – 100.

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Die Frage, wie sich Koran, Vernunft und Wirklichkeit zueinander verhalten, trieb und treibt bis heute die Debatte an. Jede der drei Faktoren hat sich in Bezug auf die beiden anderen zu positionieren, um das ganze Konzept variabel zu halten. In jedem Fall scheint die Aufbruchstimmung der neuen Zeit inklusive ihrer politischen Forderungen die Identifizierung der Faktoren miteinander und die entsprechende vereinheitlichende Normierung forciert zu haben. Ähnlich kommt es heute in den verschieden Strömungen der Salafiyah zum Ausdruck, obwoh sie inhaltlich völlig konträr zum Anliegen Muḥammad ʿAbduhs scheinen. Al-Ḫūlī war kein antiwissenschaftlicher Mensch, im Gegenteil. Er sieht den Koran über der menschlichen Vernunft und Wirklichkeit, nicht jedoch als unerreichbare Heiligkeit, sondern eher als Korrekturmodus des Bestehenden. Seines Erachtens möchte der Koran das weltliche Leben voranbringen, da die evolutionsbedingten Veränderungen die Schöpfungsgrundlage bildeten. Er stütze Wissenschaft, Denken und Anwendung, gebe der Vernunft und der Wissenschaft die Freiheit fortzuschreiten, Welt und All zu entdecken. Religion und Wissenschaft hätten beide ihren eigenen Bereich, nicht einer über dem andern. Der Koran lege der Wissenschaft keine Fesseln an, dieses Argument der wissenschaftlichen säkularen Elite sei ein teuflisches Spiel, sachlich unangemessen. Man bezöge alles wie in Europa gegeneinander, ignoriere dabei die Unterschiede beider Religionen, ahme den Europäern nach, die den Begriff der Religion generalisiert hätten. Der Unterschied zwischen dem Charakter des Christentums und dem des Islam stelle sich indes folgendermaßen dar: Islam sei eine Religion der Forschung und der Vernunft, die weder die Dogmatik noch die Ideen einsperre. Jeder, der interessiert sei, habe das Recht zu wissen.¹⁹ Al-Ḫūlī erklärt, wie es scheint, das Problem mit der Ausdifferenzierung der Bereiche. Die Beziehung zwischen Koran und Natur- bzw. technischer Wissenschaft beschreibt er somit als locker, als frei. Er definiert den Bezug zwischen beiden nicht, er benutzt an sich keine rational-logische Argumentationen auf der rein kognitiven Ebene. Innerhalb dieses Diskurses galt es ihm nur zu verdeutlichen, dass es erstmal um eine unabhängige Beziehung gehe, indes wiederum nicht vollständig, schon gar nicht dichotom. Im Laufe der weiteren Darstellung soll nun versucht werden, diese Beziehung durch sein Konzept der Koranhermeneutik näher zu bestimmen. Ahmed Salim bezeichnet al-Ḫūlīs Zugang als vernünftig, er sei aber nicht im Sinne der abstrakten Logik und der Imitation der europäischen Rationalität zu verstehen. Er formuliert treffend, al-Ḫūlī habe sich von der Diskussion der säkularisierten Elite freigemacht, den wissenschaftlichen Tafsīr ebenso verwerfend

 ebd.

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wie die traditionellen Zugänge, das Projekt stattdessen auf die wissenschaftliche Sprachanalyse bezogen. Der Tafsīr al-Adabī konzentrierte sich auf die Sprache und zwar als ein kultureller Ausdruck des damaligen Kontextes.²⁰ Bekannterweise hatten schon Sibāwaih und im Anschluss viele andere Grammatikwissenschaftler der frühen Zeit, insbesondere Ibn Ǧinnī, diesen Zusammenhang erkannt. Letzter konstatierte sogar Laute der Worte der arabischen Sprache aus den Um- und Lebenswelten der damaligen Araber.²¹ Das Wissen um diesen Zusammenhang hatte Amīn al-Ḫūlī durch seine Bildung und Begabung für die arabische Sprache erworben, aber auch darüber hinaus durch sein Gespür für die wichtigen Fragen seiner Zeit, die seine Reformhaltung bestimmten. Er habe es für wichtig gehalten, Koranhermeneutik voranzustellen, alsdann Reformbestrebungen in der moralischen Erziehung und der Gesetzgebung, tašrīʿ͑, noch vor der eigentlich säkularen Gesetzgebung in Ägypten anzuschließen. Die adabī-Methode impliziert wie jede Sprachwissenschaft drei Dimensionen: Grammatik, Rhetorik und Semantik. Während in den entsprechenden klassischen Kommentaren wie bei az-Zamaḫšarī und ar-Rāzī die ersten beiden Punkte ausführlich diskutiert wurden, belässt al-Ḫūlī diese Momente bei der Ausführung der Interpretationen auf abstrakter Ebene der Wirkung der balāġa damals und konzentriert sich auf die Semantik durch koranische Parallelstellen. Insofern wird auch die adabi- Methode als thematisch bezeichnet. Die Themen werden im Koran in Variation mehrmals wiederholt, das rhetorische Moment ist seines Erachtens darin entsprechend wahrzunehmen. Al-Ḫūlī erkannte, dass bestimmte Themen, die sich in variierter Form durch den Koran ziehen, relevanter sind als andere; nach diesen sozialpsychologisch-politischen Themen strukturiert er seine Arbeit. Sie haben eine ausgeprägte sozialethische Dimension. Er wählt u. a. das Thema Vermögen/Besitz, im Grunde das Herzstück jeglicher modernen kritischen Betrachtungsweise einer Gesellschaft, kapitalistisch modern oder vormodern. Koranisch gesehen, wie Amīn al-Ḫūlī vorstellt, gehört der Besitz Gott, er ist ein Kredit von ihm an den Menschen, existiert, um ausgegeben zu werden. Der Besitz kann ja auch nicht in den Tod mitgenommen werden. Der Koran nennt „Söhne und Besitz“ in einem Atemzug. Der kulturelle Rahmen der Stammesgesellschaft wird darin deutlich, eine große, reiche starke Familie zu präsentieren, eine Mischung aus Stolz-, Prestige- und Sicherheitsgründen. Amīn al-Ḫūlī zeigt auf, dass beide laut Koran bzw. laut koranischer Ethik keinen Selbst- bzw. Prestigezweck  Al-Ḫūlī spricht nicht explizit vom kulturellen Kontext, m. E. intendiert der Zugang aber gerade dies, wie im Folgenden noch ausgeführt wird.  Dieses Moment unterscheidet sich sehr von den ersten europäischen Fassungen der Linguistik wie z. B. Ferdinand de Saussure, der die Lautbildung selbst als zufällig beschrieb.

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haben (sollten), sondern eine Funktion, und zwar die des sozialen Ausgleichs durch Spenden. Um das Thema zu entfalten, unterscheidet er materielle Faktoren und Faktoren der Bedeutung beziehungsweise des Diskurses. In dieser Unterscheidung lässt sich auch die heutige aktuelle Inbezugsetzung der Umweltfaktoren erkennen. Die materiellen Umweltbedingungen strukturieren die kulturellen und diese wiederum sind laut al-Ḫūlī notwendig zu verstehen als das Umfeld des Koran. Dies ließe sich auch als der kulturelle Rahmen beschreiben. Der soziale Zusammenhalt oder die sogenannte Gruppensolidarität, wie sie Ibn Ḫaldūn beobachtet hatte²², scheint immer wieder durch, indes lassen sich die ersten Hörenden des Koran nicht mehr als wandernde Beduinen bezeichnen, das war auch Amīn al-Ḫūlī als Kenner Ibn Ḫaldūns klar. Was sich allgemein gesellschaftspolitisch zu dieser historischen Zeit ereignete, darauf geht er nicht konkret ein, ihm geht es um die Relevanzsetzung der Sozialethik im Koran, die in seinen und den Augen der anderen Reformer völlig vernachlässigt war, zu Recht, sogar bis heute. Er erkennt rekonstruierend, wie das Lesen, Auswendiglernen und Rezitieren der Damaligen den Geist des Koran widerspiegelten, er sei Arabisch, die Stimmung des Stils, seine aus verschieden Elementen zusammengesetzte Gestalt. Alles sei Arabisch, daran sei nichts zu drehen. Es gehe darum, diesen arabischen Geist, den wir heute als kulturellen Rahmen bezeichnen würden, herauszuarbeiten durch die Frage, wie alles dargestellt und transparent gemacht werden könne. Dies sei über die ferne Vergangenheit, die Geschichte der Wissensgebiete, die Organisation der Familien und Stämme zu beschreiben. Alle Informationen bezüglich der Araber seien elementare Mittel, um den arabischen Koran zu verstehen. Die Gestaltung der Gesellschaft im Koran gelte es zu verstehen, die Hinweise darin auszuwerten, die realen Atmosphären, die Milieus. Es gelte, die koranischen Hörer in ihrem historischen Kontext zu verstehen. Koranlektüre beginne mit der Inkontextsetzung der arabischen Fachausdrücke, der so genannten „mufradāt“.²³ Der Gebildete müsse es beherrschen können, die Begriffe den Generationen zuzuordnen, den individuellen und sozialen Phänomenen, den allgemeinen zivilisatorischen Elementen der Nation, dem religiösen Aufbruch, der Politik, Kultur und allem, was dieses große Erbe der Zivilisation geschaffen habe. Worte würden bis dato ohne Berücksichtigung übertragen, direkt übertragen, dies sei nun nicht mehr möglich.²⁴

 Ibn Khaldūn: Die Muqaddima, 2011, 111– 178.  Al-Ḫūlī: Manāhiǧ at-Taǧdīd, 2017, 255 – 259.  Sālim: al-Islām al-ʿaqlānī, 2009, 106.

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Koran verstehen bleibt seines Erachtens daher immer bedingt, zamānī, bezogen auf die damaligen zeitlichen und örtlichen Umstände.Verstehen kann nicht absolut sein. Religiöses könne nur in seiner weltlichen Prägung erkannt werden, die Überlieferung selbst ist nach al-Ḫūlī durch Vernunft geprägt. Neben der Beschreibung der umweltlichen und sozialen Faktoren denkt er die individuelle Dimension als konstitutiv dazugehörend. Die koranische Gefühlssprache habe die Herzen, das Selbst, das Innere angesprochen, so habe die Interpretation beide, nämlich diese innere individuelle und die soziale Dimension für das menschliche Leben heraus zu arbeiten. Es sei ja die Kunst der Sprache, die die Unnachahmlichkeit des Koran ausmache, und diese verweise auf die Psychologie des Inneren des Menschen. Es reiche dafür nicht, und al-Ḫūlī zitiert ʿAbduh kritisch, die wechselnden Zustände des Menschen zu erforschen, sondern diese Zustände müssten auf die sich verändernden Umweltbedingungen bezogen werden. Die jeweiligen Möglichkeiten der Stärken und Schwächen der Zustände resultierten daraus.²⁵ Amīn al-Ḫūlī zitiert den mittelalterlichen Muʿtazilit ʿAbd al-Ğabbār in Bezug auf die Unnachahmlichkeit des Koran. Ob az-Zamaḫšarī bei ihm wahrzunehmen ist, bleibt offen sowie das gesamte Ausmaß der muʿtazilitischen Idee in seinem Werk. Sicher geht es ihm nicht um reine Gotteslehre an sich, sondern um die Details der pädagogischen Dimension der koranischen Offenbarung, eben um Gottes Intention der Rechtleitung. Dass Kunst, also die balāġa, in diesem Zusammenhang auch keinen Selbstzweck darstelle, betont al-Ḫūlī immer wieder. Die Kunst, d. h. die psychologisch-emotionale bzw. ästhetische Dimension, ist bei ihm immer sozialpsychologisch gefasst, gebunden an gesellschaftliche Themen. Kunst impliziert seines Erachtens genau wie die Unnachahmlichkeit des Koran immer den Reformimpuls.²⁶ Barmherzigkeit und Rechtleitung zu verwirklichen, sei die eigentliche Intention des Koran, darin dokumentiert sich die kognitive, ästhetische und ethische Dimension menschlichen Denkens, Erfahrens und Handelns. Die Barmherzigkeit impliziert die ersten beiden Dimensionen, sie ist von der menschlichen Vernunft zu begreifen und zu fühlen, die Rechtleitung impliziert die ethische Seite. Die Verbindung von beiden beziehungsweise von den dreien, so ist beim Koranlesen zu erkennen, wird immer wieder explizit als Verweis auf die menschliche Erfahrung der Barmherzigkeit artikuliert. Alsdann folgt die Aufforderung zur rechtgeleiteten Praxis, der helfenden Praxis an anderen Menschen, die bedürftig sind.

 Al-Ḫūlī: Manāhiǧ at-Taǧdīd, 240.  Sālim: al-Islām al-ʿaqlānī, 109 – 110.

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Neben den Fragen und Methoden der klassischen Korankommentatoren zeigt sich in Amīn al-Ḫūlīs Gedanken die europäische Debatte über die Hermeneutik und über die Evolutionstheorie. Beide verbindet er auf virtuose Art miteinander und arbeitet sie kontextuell auf. Jeder Blick färbe den Text, jeder Ausleger arbeite mit seiner Vernunft, Verstehen bestimme die Deutung. Die hermeneutische Diskussion, die die zeitliche Distanz anhand des Autors zum Thema machte, ging von Schleiermacher aus. Dieser hatte im 19. Jahrhundert den Verstehensprozess als von den geschichtlichen Prägungen des Autors abhängig gefasst. Eigentlich spiegelt sich diese Erkenntnis aber auch schon in einigen klassischen Korankommentaren. So formuliert al-Ḫūlī die neue Voraussetzung für Interpreten und zwar sprachliches Talent und Interesse für die Natur des Menschen in den verschiedenen Kontexten. Das sprachliche Wissen allein reiche nicht aus, denn die Sprachwissenschaft habe auch ihre Grenzen. Al-Ḫūlī erwähnt den westlichen Bezug nicht explizit in seinen Publikationen. Sein Aufenthalt in Europa, sein Spracherwerb und sein Zugang zur europäischen Philosophie und den Orientwissenschaften scheint aber seinen Blick geändert zu haben. Dieses Umdenken dokumentiert sich in der Evolutionstheorie und in der Relevanzsetzung des Begriffs der Menschlichkeit. In anderen Werken findet man europäische Quellen zitiert, viele davon in verschiedenen Sprachen, englisch, französisch, italienisch und auch deutsch, indes handelt es sich immer um thematische Beiträge. Es gibt von ihm keine Referenzen zum europäischen methodologisch-hermeneutischen Diskurs. Seine Schüler, wie z. B. Ḫalafallah, haben seinen Ansatz fortgeführt durch Konzentration auf die erzählende Kunst des Koran, anknüpfend an psychologische und soziale Elemente.²⁷

3 Vernunft und Überlieferung – eine weiche Beziehung Das Thema ʿaql wa naql, Vernunft und Überlieferung, wird im Westen seit der Theologie des Mittelalters unter den Begriffen Vernunft und Offenbarung diskutiert, explizit in der europäischen Moderne des 20. Jahrhunderts. Von philosophischer Seite wurden mit Hilfe der Arbeiten von Schleiermacher bis Gadamer und darüber hinaus Perspektiven an die religiösen Texte herangetragen, die die moderne Bibelexegese begleiteten.

 Aḥmad Sālim diskutiert die weitere Entwicklung der hermeneutischen Diskussion in Ägypten um den Schüler Amīn al-Ḫūlīs, Ḫalafallah. Seiner Meinung nach gehört auch Nasr Hamid Abu Zeid zu dieser Richtung. Vgl. al-Islām al-ʿaqlānī, 114.

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Das Thema bestimmte schon lange vor der modernen Ära die islamische Theologie. Zu erwähnen ist vor allem die Diskussion al-Ġazālī und Ibn Rušd, die Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen eines philosophischen Zugangs zur Religion und ihren Quellen thematisierte. Diese Tradition und gar den eingesickerte Einfluss dieser Debatte auf europäische Kontexte hat al-Ḫūlī an anderer Stelle expliziert.²⁸ Es ist leicht zu beobachten, dass die verschiedenen Methoden und Relevanzen der mittelalterlichen Koraninterpreten an sich schon einen hohen Grad an Unterschiedlichkeit aufweisen, im Grunde genommen verwirklichten sie die taʿāḍud al-ʾārāʾ, die multiplen Perspektiven.²⁹ Explizit ausformuliert wurde dieser Sachverhalt der Multiperspektivität in Europa erst in den 1960er Jahren durch Paul Ricœur, dabei indes verstanden als Konflikt, worin sich die klassische Moderne mit ihrer Suche nach der einen, einzig richtigen Wahrheit dokumentiert.³⁰ Al-Ḫūlī ging es nicht um die eine Wahrheit, entsprechend nicht um eine Hierarchie von Vernunft und Überlieferung mit der Frage, welcher der beiden Begriffe bzw. Zugänge den anderen bestimme. Bis dato vermochten, wie oben angedeutet, eine Anzahl muslimischer Denker, die von der europäischen Moderne beeinflusst waren, dieses Verhältnis nur als eine hierarchische Ordnung zu denken, als habe sich die Vernunft gegen den Text durchzusetzen. Dabei wurde teilweise unterschwellig – die Vernunft mit dem progressiven Lager, der Text mit dem der Traditionalisten identifiziert, eine Schieflage der Sache, wie noch zu zeigen ist. Denn die Beziehung von Text und Methode stellt sich als komplexer heraus. Es ist von hieraus verständlich, dass die europäischen hermeneutischen Sichtweisen des frühen 20. Jahrhundert nicht die al-Ḫūlīs sein konnten. Er sieht meines Erachtens keinen Konflikt auf kognitiver Ebene wie Ricœur, er lehnt aber auch die vielfältigen Perspektiven an sich ab. Eine grundsätzliche Offenheit der koranischen Interpretation, wie sie sich bei den klassischen Korankommentatoren findet, macht ihm keinen Sinn. Darin zeigt sich deutlich, dass al-Ḫūlī deren kognitives Ziel nicht akzeptierte, und zwar allein die Bedeutungen des Koran aufzuweiten, um die Unnachahmlichkeit, die Größe des Koran zu dokumentieren. Eine rein kognitive Perspektive als Methode und Ziel an den Koran anzulegen, scheint al-Ḫūlī verfehlt. Denn der Reformimpuls galt ihm als primär, dieser ist ihm nicht notwendig an den Vernunftbegriff im Sinne einer rein kognitiven Rationalität gebunden.

 Al-Ḫūlī: Die Verbindung des Islam mit der christlichen Reformation, 2011, 78 – 79.  Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, 2011, 26 – 142.  Ricœur, Paul: Le conflict des Interprétations. Essais d’hermeneutique, 1969, 64– 79.

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Aufgrund der Komplexität der beiden hermeneutischen Traditionen, der muslimischen und der christlich-abendländischen, scheint es hier weiterführend, den Vernunftbegriff al-Ḫūlīs selbst im Sinne der kantschen Unterteilung zu verstehen. Die praktische Vernunft, auf die der Reformimpuls unmittelbar verweist, scheint die höchste Relevanz, ja gar eine strukturierende Funktion zu haben. Als Erziehungs- und Trainingsbuch wolle der Koran zum Handeln anleiten, aus der Erfahrung der Barmherzigkeit im kognitiven und ästhetischen Sinne ergibt sich die Motivation zum sozialethischen, i. e. rechtgeleiteten Handeln. Die Rhetorik, die wie o. a. poetische Suggestion, entspricht der ästhetischen Vernunft, bei Kant der Urteilskraft, eine Kompetenz, das Schöne dieser Worte zu empfinden, das hier bei der Offenbarung als religiös-spirituell gefasst werden kann. Al-Ḫūlīs thematische Strukturierung der Interpretation versucht mit der adabī-Methode, die die sozialethische Bildung für die Hörenden herausarbeiten möchte, an der damaligen Irritation der Araber anzuknüpfen. Der Inhalt der Offenbarung in ihrer poetischen Form konnte insofern nur in seinem arabischen Kontext, innerhalb der arabischen Kultur, deutlich werden. Al-Ḫūlī betont immer wieder, der Koran sei durch und durch arabisch, insofern haben wir es mit der Anbindung des koranischen Textes an die arabische Kultur zu tun, die den Menschen damals vertraut war. Auf der anderen Seite kommt die inhaltliche Irritation hinein in diese Vertrautheit. Al-Ḫūlī eruiert daraus den Lernprozess für die damaligen Muslime, ein Lernprozess, der für ihn, am Anfang des 20. Jahrhunderts, in das große Ziel der Menschlichkeit einmünden sollte. In diesem Ziel ist der europäische Fortschrittgedanke der Aufklärung und der frühen Moderne deutlich zu erkennen, der heute bereits wieder verabschiedet wurde, da sich die Vision der Aufklärung an ihrem eigens gesetzten Ideal orientiert hatte. Dieses war auf einen Vernunftbegriff gebaut, der sich so verstand, als könnte man mit organisierender Rationalität Menschlichkeit wirklich erreichen. Dieses Konzept, das bis heute in der Regel die politischen und ökonomischen Machtdiskurse prägt, war von Anfang an nicht unumstritten aufgrund der sich reproduzierenden Faktoren der Gewalt, des Rassismus, der Ausbeutung, die in den Faschismus mündeten. Dennoch war die Hoffnung auf eine umfassende Versöhnung der Welt auch bei radikal aufklärungskritischen Denkern wie Adorno noch präsent.³¹ Erst Lyotard, beeinflusst durch Husserls Phänomenologie, erlangte mit seiner radikalen, dekonstruktiven Kritik an diesen „Metaerzählungen“ einen Durchbruch zur Ver „Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint, alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Messianischen Lichte daliegen wird.“ Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, 1983, 33 – 34.

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abschiedung der rationalen, aufklärerischen Ideale, und erklärte das moderne Fortschrittprojekt für gescheitert. Es gebe keine übergeordnete, das Wissen integrierende Vernunft, weder dialektisch noch systematisch. Die Vernunft müsse pluralisiert gedacht werden, als Diskursarten, es könne im Entwurf nur noch kleine Erzählungen geben.³² Amīn al-Ḫūlīs Deutung des koranischen Projektes als Hin zur Menschlichkeit muss sicher als eine große Metaerzählung begriffen werden. Die Frage stellt sich, ob al-Ḫūlī diese Menschlichkeit als wirklich, analog der Aufklärung als rational planbar herstellbar gedacht hat, basierend auf einem integrierenden Vernunftbegriff des Menschen? Von den ausgeführten exegetischen Arbeiten aus gesehen, die immer wieder den Menschen als Lernenden ansprechen, scheint sich die Menschlichkeit eher als ein von Gott gegebenes moralisches Korrektiv in Form des Gewissens, der selbstkritischen Religiosität zu erweisen, in jedem Fall nicht autonom und auch nicht rein diesseitig. Daran schließen sich die verschiedenen Themen seiner Koraninterpretationen an, die jeweils unterschiedliche Wissensbereiche, Systeme oder Diskursarten spiegeln. Insofern könnte geschlossen werden, dass die Komplexität der hermeneutischen Vernunft al-Ḫūlīs notwendig eine interne Differenzierung nach sich zieht. Diese Differenzierung gilt nicht nur der Aufteilung der Vernunft im Sinne der kantischen Trias, die kognitives, poetisches und ethisches Wissen umfasst, sondern impliziert ferner auch die drei sprachwissenschaftlichen Perspektiven, verbunden mit der historisierenden und dann aktualisierenden Perspektive. Al-Ḫūlīs methodologischer Ausgangspunkt der Evolutionstheorie steigert die Komplexität des Zugangs noch einmal. Auf der anderen Seite verweist er damit die Anlage und Kompetenz für das Gute in die Schöpfung und eben nicht idealisierend in die menschliche Vernunft, wie es die Aufklärung getan hatte. Diese Vernunft zeigte sich in den Folgen der sogenannten Zweckrationalität. Die hermeneutische Vernunft Amīn al-Ḫūlīs scheint sich ihrer Komplexität bewusst gewesen zu sein, sie liegt jenseits der Logik und des rationalen naturwissenschaftlichen Zugangs. Sie versucht die Relevanzen klar zu machen, aber die Detaildeutungen im Ungefähren zu lassen. An diesem Punkt kann ein Moment des postmodernen Mutes zur Ungenauigkeit, zur Unschärferelation, zur Vagheit erkannt werden.³³ Diese Vagheit kann sich nur im Bereich des Sensitiven abspielen, in diesem Sinne wird die Vernunft postmodern als überlegenes Vermögen gefasst. Entsprechend lassen sich al-Ḫūlīs Interpretationen als Poesie lesen, indes nicht als l’art pour l’art, als reine, sondern als gebündelte Ambiguität durch die

 Lyotard, Jean-Franҫois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, 1986, 175.  Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, 1993, 583.

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Animation zum jeweiligen sozialethischen Handeln. Denn die Entscheidung für die dem Kontext entsprechende passende Praxis basiert immer auf der Auswahl nur einiger Möglichkeiten, ein Grundsatz der Evolution.

Literatur ʿAbduh, Muḥammad: Risalat at-Tauḥīd. Kairo: Kitāb al-ʿArabī, 1966. ʿAbduh, Muḥammad: Tafsīr al-Qurʾān al-Karīm, ğuzʾ ʿamma. Kairo: maṭbʿa miṣr, 1922. Adorno, Theodor W: Minima Moralia. Frankfurt: Suhrkamp 1983. al-Ḫūlī, Amīn: al-Qada wa al-Rusul. Kairo: al-Hayʾaal-miṣrīya al-ʿāmmali-l-kitāb, 2002. al-Ḫūlī, Amīn: al-Muǧaddidūn fī l-islām. Kairo: al-Hayʾaal-miṣrīya al-ʿāmmali-l-kitāb, o. J.. al-Ḫūlī, Amīn: Fī amwālihim. Kairo: al-Hayʾaal-miṣrīya al-ʿāmmali-l-kitāb, 1987. al-Ḫūlī, Amīn: Kitāb al-Ḫair. Kairo: Dār al-kutub al-miṣrīyah, 1996. al-Ḫūlī, Amīn: Manāhiǧ at-Taǧdīd. Kairo: al-Hayʾah al-miṣrīyah al-ʿāmmah li-l-kitāb, 2017. al-Ḫūlī, Amīn: „Risālat al-Azhar fī al-Qarn al-ʿišrīn“. In Sālim, Aḥmad Muḥammad. al-Islām al-ʿaqlānī. Tagdīd al-fikr ad-dīnī ʿinda Amīn al-Ḫūlī. Kairo: ruʾia l-lnašr waltausīʿ, 2009, 181 – 205. al-Ḫūlī, Amīn. Die Verbindung des Islam mit der christlichen Reformation, Übersetzung und Kommentar. hg. v. von Christiane Paulus. Frankfurt: Peter Lang 2011. Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag der Weltreligionen 2011. Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt: Fischer 1969. Ibn Khaldūn: Die Muqaddima, übers. v. Alma Giese. München: C.H. Beck, 2011. Lyotard, Jean Franҫois: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz und Wien: Böhlau 1986. Mannheim, Karl. „Wissenssoziologie“. In Handwörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1931, wieder abgedruckt in Mannheim, Karl. Ideologie und Utopie. 227 – 267. Frankfurt: Schulte-Bulmke 1952. Ricœur, Paul: Le conflict des Interprétations. Essais d’hermeneutique. Paris: Éditions du Seuil, 1969. Sālim, Aḥmad Muḥammad: al-Islām al-ʿaqlānī. Tagdīd al-fikr ad-dīnī ʿinda Amīn al-Ḫūlī. Kairo: al-Hayʾah al-miṣrīyah al-ʿāmmah li-l-kitāb, 2009. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Berlin: Akademie Verlag 1993.

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Studie zum Projekt „Kulturerbe und Erneuerung bei Ḥasan Ḥanafī“ Einleitung Einige Denker wie der Algerier Muḥammad ʾArkūn (1928 – 2010), der Ägypter Ḥasan Ḥanafī, der Marokkaner Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī (1935 – 2010) und der Ägypter Naṣr Ḥāmid Abū-Zaid (1943 – 2010) haben sich mit dem Thema „Kulturerbe und der Erneuerung“ bereits auseinander gesetzt. Sie versuchten den Menschen in den Mittelpunkt des Interesses der Forscher, Denker und Theologen zu rücken. Dieser Beitrag befasst sich mit Ḥasan Ḥanafī, der sich sein ganzes Leben intensiv dem Projekt „at-Turāṯ wa-t-taǧdīd“ ¹, Kulturerbe und Erneuerung widmete. Ḥanafī ist einer der wenigen Philosophen, der sich mit der Etablierung der arabisch-islamischen Vernunft und der Verbindung zwischen dem Kulturerbe und der Erneuerung befasste, um die islamische Welt vor der geistigen Stagnation zu retten. Er stellte hier einen dringlichen Forschungsbedarf fest.² Der Islam brauche eine „Reformation“. Eine Forderung die von Muslimen und von Nichtmuslimen aufgestellt wurde. Überdies wird in der islamischen Welt häufig über die Erneuerung des religiösen Diskurses gesprochen. Diese Problematik durch differenzierende Fragestellungen verschärft: Inwiefern ist das islamische Kulturerbe ein Teil von der Lösung der Identitätskrise? Oder ist es eher das Kernstück des Problems? Die Frage, die für die islamische Welt eine zentrale Rolle spielt lautet: Inwieweit ist die muslimische Gelehrsamkeit davon überzeugt, dass sie die augenblickliche Stagnation überwinden kann und die Erneuerung nicht mehr verschieben darf ? Die unentschiedenen Fragen sind: Wer kann beziehungsweise darf den Islam reformieren? Sollte der Reformierungsprozess von innen oder von außen, d. h. von den Muslimen selbst oder von Nichtmuslimen geführt werden? Und schließlich, was ist der Ausgangspunkt für eine Reformierung des Islams? In den letzten Jahrzehnten versuchten einige Denker (al-mufakkirūn), die als die „neuen“ Denker des Islams gesehen werden können,³ eine Antwort auf die  Im Folgenden „TwT“ Projekt genannt.  Ḥanafī hat das Wort „naḥnu / Wir“ anstatt der islamischen Welt oder der Dritten Welt häufig angewandt, deshalb wird auch in der vorliegenden Arbeit „Wir“, solange es nötig ist, weiter Anwendung finden.  Benzine, R.: Islam und Moderne: Die neuen Denker. Berlin, 2012, 14. https://doi.org/10.1515/9783110588590-007

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obengenannten Fragen zu finden und das rationale islamische Erbe wiederzubeleben. Vorallem aber war es Ḥasan Ḥanafī (geb. 1935), der in seinem herausragenden Werk at-Turāṯ wa-t-taǧdīd die Relation zwischen dem islamischen Erbe und dem Erneuerungsprozess zu enthüllen versuchte: „Wir haben im wissenschaftlichen Verständnis jeden Tag mit al-Kindī (801– 873) zu tun, atmen jeden Augenblick alFārābī (872– 950) und sehen Ibn Sīnā (980 – 1037) fast überall auf unseren Wegen. Diese Arbeit setzt sich mit Ḥanafīs-Leben, Werdegang und seinen Theorien auseinander. Insbesondere erfolgt eine vertiefende Betrachtung seines heftig diskutierten und strittigen Projekts „Kulturerbe und Erneuerung“.

1 Leben und Werdegang Ḥasan Ḥanafī wurde 1935 in Kairo geboren. Er studierte Philosophie an der Universität Kairo und erlangte 1956 den Bachelor of Arts. Er wurde von den Schriften der deutschen Idealisten Fichte (1762– 1814), Kant (1724– 1804), Hegel (1770 – 1831) und Schelling (1775 – 1854) beeinflusst.⁴ Die Jahre zwischen 1956 und 1966 verbrachte er in Frankreich, wo er an der Sorbonne bei Robert Brunschvig (1901– 1990) und Paul Ricœur (1913 – 2005) das Studium der Philosophie fortsetzte und mit Arbeiten zur Rechtsquellenlehre und der Phänomenologie abschloss. In den beiden Arbeiten legt Ḥanafī die Grundlage für das, was er als seine Lebensaufgabe beschrieb: Die Veränderung der Theologie in eine Anthropologie, die dem Menschen von heute gerecht wird.⁵ Der Islam soll nicht als eine Konzentration von festen Glaubensdogmen verstanden werden, sondern als Botschaft zum individuellen und gesellschaftlichen Handeln. Seit 1980 ist er ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Kairo. Darüber hinaus hat er kontinuierlich zahlreiche Positionen im Bereich der Wissenschaft inne. Seit 1976 ist er Generalsekretär der Ägyptischen Gesellschaft für Philologie. Außerdem ist er Vizepräsident der arabisch-philosophischen Gesellschaft. Seit 1988 Vorsitzender der philosophischen Fakultät an der Universität Kairo. Weiterhin war er Gastprofessor an der Universität Tokio (1984 – 1985), an der

 Schwanitz, Wolfgang G.: Occidentalistics: Hasan Hanafi, founding father of „occidentalistics“ or Occidentalism? http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/2008_12_24/Hasan Hanafi Muqaddima. pdf (aufgerufen am 9.10. 2021).  Kügelgen, A. v.: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam. Islamic philosophy, theology and science 19. Leiden/Boston: Brill, 1994, 206.

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Universität von Kalifornien, Los Angeles (1995) und an der Universität Bremen (1998). Darüber hinaus begann er während seiner Zeit in Frankreich mit dem Grundstein für ein philosophisches Projekt. Er beschloss, sich den Rest seines Lebens als professioneller akademischer Philosoph dem Projekt zu widmen. Auf der Kairoer Internationalen Buchmesse, 2010 berichtet Ḥanafī, dass er für die islamische Bewegung ein „verkappter Marxist“ und für die Marxisten ein verkappter Islamist sei.“⁶ Ḥanafī fügte hinzu, dass er während der Studienzeit eine sehr starke Neigung zu den Muslimbrüdern gehabt hätte. Er bekräftigte, dass er aus einer Generation der Niederlagen und der Zusammenbrüche stamme, weil er während des Zweiten Weltkrieges 1935 geboren sei. Weiterhin erlebt er den Schock der Niederlage des 1967er Krieges. „Besonders seit der Niederlage von 1967 ist ein Leitmotiv vieler Schriften Ḥanafīs die seines Erachtens in jeder Hinsicht desolate Situation der islamischen Welt, als deren Ursache er überkommene Denkschemata ansieht.“⁷ Außerdem hat er eine wichtige Frage gestellt: Ob er sich selbst als Philosoph, Wissenschaftler, Forscher oder als einer der islamischen Intellektuellen und Reformdenker betrachten würde?⁸ „Für Nazīh ʾAyyubī (1944 – 1995) ist Ḥanafī ein „neo-islamitischer Schriftsteller“⁹. Während Bassām Ṭībī ¹⁰ ihn einen „dem Rationalismus verpflichteten Denker“ nennt.¹¹ „Die Leiterin des Instituts für Islamwissenschaft der FU Berlin, Gudrun Krämer, bezeichnet Ḥanafī als muslimischen Luther“¹². Ḥanafī ist einer

 Hildebrandt, Thomas. Emanzipation oder Isolation vom westlichen Lehrer? Die Debatte um Hasan Hanafis „Einführung in die Wissenschaft der Okzidentalistik. Islamkundliche Untersuchungen 212. Berlin: Schwarz, 1998, 26 – 27.  Kügelgen, A. v.: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam. Islamic philosophy, theology and science 19. Leiden/Boston: Brill, 1994, 209.  ebd.  Israeli-Palestinian Conflict Home Page > Source Biographies > Nazih Ayubi, (zuletzt aufgerufen am 3. Oktober 2021), Professor für Politikwissenschaft an der Kalifornischen Universität, Los Angeles. Seine wichtigsten Werke sind: „Der Staat und staatliche Maßnahmen in Ägypten seit Sadat“; Politische Studien des Nahen Ostens Series, 1991; Der politische Islam: Religion und Politik in der arabischen Welt, 1993; Politik und Gesellschaft im Nahen Osten 1996.  Er ist ein deutscher Politikwissenschaftler, syrischer Herkunft und seit 1976 deutscher Staatsbürger.  Hendrich, Geert: Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004, 266.  Martin Riexinger. „Nasserism revitalized. A critical reading of Hasan Hanafi’s projects ‘The Islamic Left’ and ‘Occidentalism’ (and their uncritical reading)“. In Die Welt des Islams 47. Jg., Nr. 1, 63 – 118; 64.

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der wenigen Denker, die ihre Funktion nicht auf die von Akademikern beschränkt sehen wollen, sondern sich als aktive Intellektuelle für die öffentlichen Angelegenheiten interessieren. Er ist einer der sogenannten „Initiatoren von Projekten“¹³ in der arabischen Welt und steht mit Denkern wie ʾArkūn, al- Ǧābirī, Abū-Zaid und dem syrischen Philosophen Ṭaiyib Tīzīnī im Vordergrund. Er wurde zweimal, sowohl im Jahre 2009 als auch 2015 mit dem ägyptischen höchsten Preis für Sozialwissenschaften ausgezeichnet. Ḥanafī sieht sich nicht nur als Nachfolger einer rationalistischen Bewegung in der islamischen Geschichte voran die Muʾtaziliten und Ibn Rušd (1126 – 1198), sondern auch als Vertreter der revolutionären Strömung von alAfġānī (1838 – 1897) und ʿAbduh (1849 – 1905). Ḥanafī sagte in einem Interview mit dem Internet-Portal qantara.de im Jahr 2003: Der Islam ging von der Idee des Glaubens an den Einen Gott aus, das heißt, dass die ganze Welt vor einem einzigen Gott gleich ist und einem einzigen Prinzip und den gleichen humanistischen Werten verpflichtet ist, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Rasse oder einer Nation.¹⁴

2 Islamische Linke Besonders bei Ḥanafī ist, dass er seine eigene Strömung vertritt. Er hat diese Strömung die „islamische Linke“¹⁵ genannt. Ḥanafī sagte, dass er zu den Nationalisten, Marxisten, Islamisten und Rationalisten gehören würde. Ḥanafī stellte heraus, dass die islamische Linke anstrebe, das Thema als einen Diskurs zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“ zu formulieren. Während mit dem „Ich“ das Kulturerbe gemeint wird, betrachtet er das westliche Kulturerbe als das „Andere“.¹⁶ Ḥanafī stellt die Frage: Wie könne man die Menschen für das nationale Projekt der islamischen Linken gewinnen? Darauf antwortete er, dass die islamische Linke die Gefühle der Menschen für ihre Mission in der Geschichte und für die Sicherheit ausdrückte.

 Aṣḥāb mašārīʿ.  Ḥanafī, Ḥ.: (12.02. 2011). https://de.qantara.de/inhalt/hassan-hanafi-globalisierung-als-neue-form-westli cher-hegemonie (080919).  Al-Yasār al-ʾislāmī.  ebd.,8.

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Er ergänzt, dass die islamische Linke das Denken nicht vereinigen kann, weil sie mit der Pluralität übereinstimme. Die offensichtliche Zielsetzung von ḤanafīsProjekts war vor allem, sich gegen alten und neuen Kolonialismus sowie gegen jede Gestalt von Nutzbarmachung und Repression zu wenden und setzt sich für gesellschaftliche Weiterentwicklung, soziale Gerechtigkeit, Rationalität und Aufklärung ein. Ḥanafī gelangt zu der Auffassung, dass der einzige Lösungsweg auf einer Veränderung des Bewusstseins der Massen wie auch der Elite beruhen soll, denn ohne Bewusstseinsänderung sei jede Revolution zum Scheitern verurteilt.¹⁷ Hinzufügend bezeichnet er das Schaffen einer theoretischen Basis für gesellschaftsverändernde Tätigkeit als eine kontinuierliche Revolution. Die Führung der Revolution sollte in den Händen der Intellektuellen sein und danach sollten die Massen folgen. Er fordert auch, dass sich die Philosophie zum nationalen Projekt wandelt.

3 Ḥanafīs Hauptziele Sein Hauptziel ist die Zusammensetzung einer völkischen Massenbewegung und einer revolutionären Partei, welche die nationale Kultur erzeugen soll, die das Verhalten der Massen steuert.¹⁸ Zur Unterstützung dieser Position bezieht sich Ḥanafī auf das Ḥadīṯ des Propheten „die Gelehrten sind die Erben der Propheten“¹⁹ Also interpretiert er den Begriff Ḥikma im Koran als Philosophie. Er meint, dass Philosophie und Religion Milchschwestern seien und sich durch ihr Wesen und ihre Natur in Liebe zugetan seien.²⁰ Seiner Ansicht nach wird die Auferstehung (al-Baʿṯ) zur Auferstehung der Partei, der Umma, des Geistes, zur Kontinuität des Lebens nach dem Tod in Form von Ideen und idealen Leistungen führen. Dazu sollte auch die Theologie offenkundig zur Befreiungstheologie werden. Als Vorbild hebt er Lateinamerika hervor. In den beiden Arbeiten legt Ḥanafī die Grundlage für das, was er als seine Lebensaufgabe beschrieb: Die Veränderung der Theologie in eine Anthropologie,

 Er meint mit dem Wort „Revolution“ alle Formen des radikalen Wandels.  Kügelgen, A. v.: Averroes und die arabische Moderne, 214.  Ḥanafī, Ḥ.: Min al-ʿaqı ̄da ila ʾṯ-ṯaura /; At-Turāṯ wa-ʾt-taǧdı ̄d. Kairo: Mauqifunā min at-Turāṯ alqadı̄m, Maktabat madbūlı̄, 1988, 454.  Ḥanafī, Ḥ.: Ad- Dīn wa-ʾṯ-ṯaura fi miṣr. 1952 – 1981, Ṭabʿa 1. Kairo: Maktabat madbūlı̄, 1989, 173.

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die dem Menschen von heute gerecht wird.²¹ Die Scharia ist diesseits bezogen, eine Trennung von weltlichem und geistlichem Lebensbereich schließt Ḥanafī aus.²² Ḥanafī sieht sich nicht nur als Nachfolger einer rationalistischen Bewegung in der islamischen Geschichte voran die Muʾtaziliten und Ibn Rušd (1126 – 1198), sondern auch als Vertreter der revolutionären Strömung von al-Afġānī (1838 – 1897) und ʿAbduh (1849 – 1905). Ḥanafī stellte sich auch der Tradition Ḥasan al-Bannās und vor allem Sayyid Quṭbs. Zu Ḥanafīs durchaus kritischer Einstellung zu Quṭb in ad-Dīn wa-ṯ-ṯaura, Bd. 5, Kap. 4 (Aṯar al-Imām aš-šahīd Sayyid Quṭb ʿalā-al-ḥarakāt ad-dīniyya almuʿāṣara). ²³ Ḥanafī versucht die islamische Identität und das Kulturerbe wiederzuerwecken. Er wollte dies nicht wie al- Ǧābirī über postmoderne Methoden erreichen, sondern über eine Verbindung zwischen dem Kulturerbe und den Errungenschaften der Moderne auf der einen Seite und eine Kritik an der europäischen Kultur auf der anderen Seite. Das Projekt, das die Erkenntnisse und Ideen Ḥanafīs aufzeigt, wirkt ebenso motivierend wie aufwühlend. Es schärft den Verstand und narkotisiert den Willen. Es bereichert den Geist und die Emotion.²⁴

4 Das „TwT“ Projekt und die philosophische Frage 4.1 Struktur und Planung des „TwT“ Projekts At-Turāṯ wa-ʾt-taǧdīd c) Mauqifunā min al-wāqiʿ: b) Mauqifunā min at-turāṯ alNaẓarīyat at-tafsīr ġarbī

a) Mauqifunā min at-turāṯ al-qadīm

. Al-Minhāǧ

. Maṣādir al-waʿy al-ʾurubbī

. Min al-ʿaqīda ila aṯ-ṯūra

. Al-ʿAhd al-ǧadīd

. Bidāyat al-waʿy al-ʾurubbī

. Min an-naql ila ʾl-ibdāʿ

 Kügelgen, A. v.: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam. Islamic philosophy, theology and science 19. Leiden/Boston: Brill, 1994, 206.  ebd., 205.  Ḥanafī, Ḥ., in: Kügelgen, A. v.: Averroes und die arabische Moderne, 208.  Scholz, Heinrich: Zum „Untergang“ des Abendlandes: eine Auseinandersetzung mit Oswald Spengler. Berlin: Reuther & Reichard, 1920, 3.

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. Al-ʿAhd al-qadīm

. Nihāyat al-waʿy al-ʾurubbī

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. Min al-fanāʾ ila ʾl-baqāʿ . Min an-nass ila ʾl-wāqiʿ . Min an-naql ila ʾl-ʿaql . Al-ʿAql wa-ʾṭ-ṭabīʿa . Al-Insān wa-ʾt-tārīḫ

Die oben genannte Tabelle ist identisch mit der in Ḥanafīs Werk „Muqaddima fī ʿilm al-istiġrāb“²⁵. Im Jahr 1980 begann Ḥanafī das „TwT“ Projekt zu verfassen. Es umfasst drei Teile: erstens „Die Stellung gegenüber dem alten Kulturerbe“ auf fünf Bände über Dogma und die Revolution „Min al-ʿaqīda ila aṯ-ṯūra“ (1988) und acht Bände über Religion und die Revolution (in Ägypten). Zugleich nennt er den zweiten Teil „Die Stellung gegenüber dem westlichen Kulturerbe“, dies wurde unter dem Namen „Muqaddima fī ʿilm al-istiġrāb“ Einführung in die Wissenschaft der Okzidentalistik publiziert. Der dritte Teil ist „Die Stellung gegenüber der Realität“ die Theorie der Auslegung.²⁶ Ḥanafī schilderte sein Projekt: Dieser Teil des „TwT“ ist ursprünglich als die erste Einleitung des ersten Teiles „ʿIlm al-ʾinsān“ Anthropologie. Es wurde in einer separaten Ausgabe veröffentlicht, weil es eine theoretische Einführung des ganzen Projekts enthält. Und es glich einer Einführung für Ibn Ḫaldūns Buch „eine Geschichte der Araber und Berber“. Seiner Meinung nach sind nicht nur die traditionsbewussten konservativen Gelehrten in diesem Diskurs erfolglos, sondern auch die westlichen Intellektuellen der arabisch-islamischen Welt. Laut Ḥanafī soll das islamische Kulturerbe in Verbindung mit den Bedürfnissen der Zeit neu interpretiert werden. Der erste Teil Ḥanafīs Projekts wird auf sieben Bücher qualifiziert: wie folgt: a. Min al-ʿaqīda ila ʾṯ-ṯaura: Muḥāwala li-iʿādat bināʾ ʿilm uṣūl ad-dīn (vom Dogma zur Revolution: Ein Versuch der Restrukturierung der Wissenschaft von den Grundlagen der Religion).²⁷ b. Min an-naql ila ʾl-ibdāʿ: Muḥāwala li-iʿādat bināʾ ʿulūm al-ḥikma (von der Nachahmung zur Innovation: Ein Versuch der Restrukturierung der philosophischen Wissenschaften).

 Ḥanafī, Ḥ.: Muqaddima fī ʿilm al-ʾistiġrāb. Beirut: Al-Muʾassasa al-Ǧāmiʿīya, 1992, 11.  1.: Mauqifunā min at-Turāṯ al-qadīm; 2.: Mauqifunā min at-Turāṯ al-ġarbī; 3.: Mauqifunā min alwāqiʿ: Naẓarīyat at-tafsīr.  Hildebrandt, T.: Emanzipation oder Isolation vom westlichen Lehrer, 13 – 14.

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c.

Min al-fanāʾ ila ʾl-baqāʿ: Muḥāwala li-iʿādat bināʾ ʿulūm at-taṣauwuf (von der Vergänglichkeit zur Existenz: Ein Versuch der Rekonstruktion der mystischen Wissenschaften). d. Min an-naṣṣ ila ʾl-wāqiʿ: Muḥāwala li-iʿādat bināʾ ʿilm uṣūl al-fiqh (von der Mitschrift zur Realität: Ein Versuch der Restrukturierung der Wissenschaft von der Rechtsquellenlehre). e. Min an-naql ila ʾl-ʿaql: Muḥāwala li-iʿādat bināʾ al-ʿulūm an-naqlīya (vom Traditionsprozess zur Vernunft: Ein Versuch der Restrukturierung der Traditionswissenschaft [die Naqlīya-Wissenschaften sind Koran, Ḥadīṯ, Tafsīr, Sīra und Fiqh]). f. Al-ʿAql wa-ʾṭ-ṭabīʿa: Muḥāwala li-iʿādat bināʾ al-ʿulūm al-ʿaqlīya (Vernunft und Naturwissenschaft: Ein Versuch der Restrukturierung der rationalen Wissenschaften). g. Al-Insān wa-ʾt-tārīḫ: Muḥāwala li-iʿādat bināʾ al-ʿulūm al-insānīya (Mensch und Geschichte: Ein Versuch der Restrukturierung der Geisteswissenschaften).²⁸ Das daraus entstehende Produkt ist eine Ideologie, aus der sich im Folgenden eine politische Bewegung gebildet hat. Dies begründet er dadurch, dass das Festhalten an den Traditionen und an den Problemen der Gesellschaft nicht genügte und dass letztere den Großteil der Bevölkerung nicht erreichte, weil es für sie eine fremde Sprache mit sich brächte.²⁹

4.2 Die philosophische Frage Die philosophische Frage, warum das Kulturerbe für die islamische Welt jetzt so wichtig ist, kann und muss auf verschiedenen Ebenen beantwortet werden. Weithin beinhaltet das Kulturerbe die Erfahrungen der Vorfahren, die vielleicht den Muslimen dabei behilflich sein können, die Stagnation der islamischen Welt zu überwinden. Des Weiteren könnte auch die Geschichte der Vorfahren abgerufen werden, da sie in den wissenschaftlichen, kulturellen, philosophischen und sogar organisatorischen Bereichen einen Fortschritt verwirklicht hatte.

 Ḥanafī, Ḥ.: Muqaddima fī ʿilm al-ʾistiġrāb, 9 – 10.  Prenner, Karl. „Islamische Moderne als Alternativmodell zur Moderne?“ In Religionen nach der Säkularisierung. Festschrift für Johann Figl zum 65. Geburtstag, hg.v. Hans Gerald Hödl, Veronica Futterknecht, 124– 137. Wien: LIT-Verlag, 2011, 124.

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Vergleicht man die Beschreibung mittelalterlicher Städte Europas mit denen des Orients, fallen diese nicht nur durch ihre schiere Größe, sondern zudem durch hohe zivilisatorische Standards auf: Kanalisation, gepflasterte Straßen und Straßenbeleuchtung werden in Europa erst im 19. Jahrhundert zur Norm, während sie, zumindest in den Metropolen wie Damaskus, Bagdad oder den persischen und spanischen Städten seit dem 9. Jahrhundert bezeugt sind. Diese kulturelle Blüte begründet sich neben den ökonomischen Voraussetzungen außerdem in der Sprache und in der Assimilation der eroberten Völker.³⁰

Das „TwT“ Projekt versucht die sozialen Änderungsprozesse auf die historische Perspektive zu konstituieren. Dies beginnt zuerst mit dem Fundament und der Bedingung vor dem Gründer und konditional.³¹,³² Das „TwT“ reflektiert die natürliche Situation, weil die Vergangenheit und die Gegenwart in unserer Wahrnehmung nebeneinander bestehen. Außerdem ist die Analyse des Kulturerbes gleichzeitig eine Analyse unserer zeitgenössischen Mentalität und damit werden die Gründe ihrer Hindernisse festgestellt. Die Analyse unserer Mentalität ist gleichzeitig eine Analyse des Kulturerbes. Infolgedessen können wir die Gegenwart in der Vergangenheit sehen und umgekehrt. Das heißt, dass das „TwT“ eine neue Wissenschaft etabliert, die die Gegenwart als eine dynamische Vergangenheit und die Vergangenheit als eine existierende Gegenwart beschreibt.³³ Darüber hinaus ist der Prozess des „TwT“ die Homogenität in der Zeit und die Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart sowie die Einheit der Historie zu finden. Ḥanafī bekräftigt, dass der Prozess des „TwT“ darin bestehe, dass sich eine bestimmte Bevölkerung mit ihrer Kultur vereinige. Das „TwT“ bedeutet jedoch nicht, dass die Umstellung eines Volkes von einer Phase zur anderen als kulturelle Trennung angesehen wird, sondern eine Fortsetzung der Zivilisation auf eine neue Basis für die Bedürfnisse der Zeit bedeutet. Ferner berücksichtigt der Prozess des „TwT“ eine Darlegung der historischen Dimension in unserer zeitgenössischen Wahrnehmung, was dazu führt, dass wir unsere Wurzeln in dem alten Erbe entdecken. Das wirft die dringliche Frage auf: In welcher Phase der Historie leben wir? Von hier aus kehren wir zur natürlich-kulturellen Entwicklung zurück, um das Problem des passiven Denkens zu stoppen und die Frage der Nachahmung sowie der Abhängigkeit der Anderen zu lösen.³⁴ Zudem ist das „TwT“ ein kultureller

 Hendrich, G.: Arabisch-islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 2005, 24.  „Fa-hūwa yabdaʾ bi-t-taʾsīs wa-š-šarṭ qabl al-mūʾsis wa-l mašrūṭ“  Ḥanafī, Ḥ.: Al-Turāṯ wa-ʾt-taǧdīd, 14.  ebd, 19.  ebd. 20.

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Prozess, mit dem die Geschichte entdeckt werden kann. Durch Grübeln in der Gegenwart kann auf die aktuelle Frage „die Suche nach Identität, wer sind wir?“ geantwortet werden. Diese Relation sollte erst dann realisiert werden, wenn das „TwT“ das „Ich“ entdecken könne und es von anderen eroberten Kulturen, und vom geistigen Kolonialismus befreit werden könne.

5 Methoden der Erneuerung Nach Ḥanafīs Überlegung sollte die Erneuerung nur durch drei Ansätze zustande gebracht werden: Erstens: Durch die Logik der sprachlichen Erneuerung.³⁵ Die tradierten Wissenschaften verwenden die gleiche Sprache und Begriffe, die schon bei ihrer Entstehung angewandt wurden. Außerdem werden die alten Begriffe wie Gott, Prophet, Paradies, Hölle, Belohnung, und Strafe, bis heute in der Theologie angewandt. In der Rechtsquellenlehre werden auch die alten Termini wie erlaubt, verboten, Pflicht, empfehlenswert verwandt. Auch die Sprache der Mystik bedient sich bis heute der gleichen Termini, die schon seit ihrer Entstehung benutzt wurden, wie Zufriedenheit, sich Gott anvertrauen, Frömmigkeit, Geduld, Gottesfurcht und Traurigkeit. ³⁶ Diese alte Sprache entspricht aber nicht unbedingt den Erfordernissen der Zeit, auch wenn für diese alten Konzeptionen neue Bedeutungen gegeben werden. Aus diesem Grund ist die Sprache nicht mehr in der Lage ihre Aufgabe als Ausdruck und als Kommunikationsmittel zu erfüllen. Ḥanafī hat die Schwierigkeiten beim Verwenden der alten Sprache in den folgenden Aspekten zusammengefasst: Zweitens: Ḥanafī hob hier die Wiederentdeckung neuer Analyseebenen hervor, um Gefühle der Massen besser zu analysieren und zu beschreiben. Nach seiner Hypothese könnte die Gefühlskrise der Menschen und der Gesellschaft erst überwunden werden, wenn die Gefühlssprache nicht als eine bekannte Sprache in dem psychischen Fundus der Massen sowie bei den zeitgenössischen Intellektuellen existiert.³⁷

 Manṭiq at-Taǧdīd al-laġawī.  ebd., 109 – 114.  Der arabische Begriff (Maḫzūn nafsī) wurde von Ḥanafī zum ersten Mal in Dirāsāt Islāmiyya, 1982, 16, in: Hildebrandt, Thomas. ¨Neo-Muʾtazilismus? Intention und Kontext im modernen arabischen Umgang mit dem rationalistischen Erbe des Islams“, 298 angewandt und erläutert: „Das Erbe ist für Ḥanafī ein psychischer Fundus, weil es in den Köpfen der Menschen vorhanden sei und ihre Gefühle, Ideen, Vorstellungen und Verhaltensweisen bestimmen“. Die deutsche

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Die rechtliche Norm (al-Ḥukm al-fiqhī) ist eine Art der Lösung dieser Krise, da die Relation zwischen dem Rechtsgutachter „Muftī“ und dem Befragten „alMustaftī“ in Bezug auf eine bestimmte Rechtsfrage eine Art der Beziehung zwischen dem Gefühl und anderem Gefühl ist. Wenn wir die fünf Glaubensgrundlagen „al-Uṣūl al-ḫamsa“ der Muʿtazila analysieren, stellen wir fest, dass die meisten Fragen der Wissenschaft durch das Gefühl in jeder Basis „Aṣl“ analysiert und bestimmt worden sind. Drittens: Die Änderung des kulturellen Umfelds: Ḥanafī schlägt mehrmals vor, dass Normen des sozialen Handelns (Muʿāmalāt) Vorrang vor den Normen der rituellen Handlung (ʿIbādāt) haben. Zurzeit sind die Normen der rituellen Handlung nicht nur gebieterisch, sondern nehmen eine dominierende Stellung ein. Im Gegenteil sind die Normen des sozialen Handels völlig verloren und vernachlässigt. Infolgedessen herrschen in der islamischen Welt fehlende soziale Gerechtigkeit, Betrug, schlechte Verteilung des Reichtums, Lügen sowie der Vertrauensverlust in die alltägliche menschliche Beziehung. Darüber hinaus waren/sind die Freiheit des Menschen und die Verantwortung für seine Handlungen mit Gott in den ersten acht Jahrhunderten der Geschichte des Islams sehr umstritten. Deshalb wurde immer infrage gestellt, bei wem die Priorität liegt? Beim Menschen oder bei Gott. Aufgrund der Erstarkung des Glaubens wurde/wird Gott der Vorrang vor dem Menschen gegeben. Nach der Verfestigung des Glaubens sollte endlich der Mensch im Zentrum des Interesses der religiösen Gelehrten, Denker, sowie Philosophen stehen.³⁸

6 Zielsetzung des Projekts „TwT“ und die Lösungsvorschläge Ḥanafī gelangt zu der Auffassung, dass der einzige Lösungsweg auf einer Veränderung des Bewusstseins der Massen wie auch der Elite beruhen soll, denn ohne Bewusstseinsänderung sei jede Revolution zum Scheitern verurteilt.³⁹ Hinzufügend bezeichnet er das Schaffen einer theoretischen Basis für gesellschaftsverändernde Tätigkeit als eine kontinuierliche Revolution. Die Führung der Re-

Übersetzung des Terminus wurde von Thomas Hildebrandt in Emanzipation oder Isolation vom westlichen Lehrer, 14– 20 vorgenommen.  Ḥanafī, Ḥ.: Al-Turāṯ wa-ʾt-taǧdīd…, 137– 145.  Er meint mit dem Wort „Revolution“, alle Formen des radikalen Wandels.

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volution sollte in den Händen der Intellektuellen sein und danach sollten die Massen folgen. Er fordert auch, dass sich die Philosophie zum nationalen Projekt wandelt. Zur Unterstützung dieser Position bezieht sich Ḥanafī auf das Ḥadīṯ des Propheten „die Gelehrten sind die Erben der Propheten“⁴⁰ Also interpretiert er den Falāsifa folgend den Begriff Ḥikma im Koran als Philosophie. Das Projekt Ḥanafīs ist langfristig angelegt. Zunächst konzentriert es sich auf den Prozess der Vereinheitlichung der Wissenschaften, indem die vier tradierten Wissenschaften (er meint damit die Theologie, die Philosophie, die Mystik, und die Rechtsquellenlehre) in den modernen Wissenschaften vereinigen werden.⁴¹ Dazu ist ein wichtiges Ziel des ersten Teiles des Projekts die Rekonstruktion der vier zentralen islamischen Wissenschaften als zeitgenössische Geisteswissenschaften, die sich an der Verwirklichung der Bedürfnisse der Zeit beteiligen sollen. Nach Ḥanafī sollten die vier rationalen islamischen Wissenschaften „die vier Säulen der islamischen Kultur“ in Geisteswissenschaften umgewandelt werden. Theologie und Philosophie in eine Anthropologie, die nicht nur als kulturelle Elemente, sondern als eine Wissenschaft, die das Wesen und die Geisteshaltung des Menschen an sich erforscht. Die Bereiche von Kalām und Falsafa sollen anderen Wissenschaften angegliedert werden. Zum Beispiel die Imamatslehre, an die Politikwissenschaft, die Überlieferung und Vernunft an die Erkenntnis- und Methodenlehre und die Lehre von der Einheit Gottes „Tauḥīd“ an die Sozialpsychologie (ʿIlm an-nafs aliǧtimāʿī). Die Logik sollte gemäß Ḥanafī an die Methodenlehre geknüpft werden, die alten an die modernen Naturwissenschaften und die Metaphysik an die Wissenspsychologie (ʿIlm al-iǧtimāʿ al-maʿrifa). Die Rechtsquellenlehre soll sich in Methodenlehre sowie in die Rechtswissenschaft in Wirtschafts-, Gesetzgebungs- und Politikwissenschaft integrieren. Die Mystik (at-Taṣauwuf) in Psychologie und Ethik.⁴² Er beabsichtigt damit, eine Art Kombination verschiedener Disziplinen auf einer gemeinsamen Grundlage zu schaffen. Weiterhin bekräftigt er, dass die europäische Pluralität der Ideologien zu den Resultaten der europäischen Philosophiegeschichte gehört, die für die islamische Welt nicht existiert.⁴³Ein weiteres wichtiges Ziel des Projekts ist die Versöhnung zwischen Authentizität und Mo-

 Ḥanafī, Ḥ.: Min al-ʿaqı ̄da ila ʾṯ-ṯaura /; At-Turāṯ wa-ʾt-taǧdı ̄d. Kairo: Mauqifunā min at-Turāṯ alqadı̄m, Maktabat madbūlı̄, 1988, 454.  Ḥanafī, Ḥ.: Al-Turāṯ wa-ʾt-taǧdīd, 172– 176: „al-ʿUlūm an-naqlīya“.  Ḥanafī, Ḥ.: Al-Turāṯ wa-ʾt-taǧdīd, 148.  Ḥanafī, Ḥ.: Qaḍāyā muʿāṣira, aṭ-Ṭabʿa 1. Beirut: Dār at-tanwīr, 1981, 22.

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dernität⁴⁴. Ḥanafī fasst das Verhältnis von Authentizität und Modernität als ein dialektisches:⁴⁵ Aṣāla das Denken auf dem Niveau der Geschichte, das in die Praxis umgesetzt werden soll, und muʿāṣara ist die Realität auf dem Niveau des fortschrittsgerichteten Handels (sulūk), das es als Theorie zu formulieren gilt. In dem Maße, wie die Geschichte Teil der Wirklichkeit ist, steht ihre Neuauslegung und –Begründung in den Diensten der Realität, sie wird somit zum Synonym von muʿāṣara. Die Theorie für fortschrittsgerichtete Handeln muss angesichts der Tatsache, dass die arabische Gesellschaft zu ¾ aus Bauern und Arbeiten besteht, auf dem alten, dem Volk bekannten Erbe aufbauen.⁴⁶

7 Charakterisierung der Krise Laut Ḥanafīs Spekulation verblich das islamische Geistesleben seit dem 8. Jahrhundert der Hiǧra. Seither besteht die einzige Beschäftigung fast ausschließlich in der Repetition und Interpretation des Wissensstoffes, der in den ersten Jahrhunderten in den verschiedenen Fachrichtungen erarbeitet wurde.⁴⁷ Ḥanafī lehnt „arabische Kultur“ als alternative von islamischer Kultur bzw. islamischer Wissenschaft ab, für ihn bildet der Islam den Grundbestandteil dieser Kultur und nicht die Rasse⁴⁸ Die vier Säulen des islamischen Kulturerbes, deren Ḥanafīs Wiederbelebung in seinem „TwT“ Projekt erzielt, sind die vier tradierten islamischen Wissenschaften: Erstmals nachdem die Theologie der ehemals rationalistischen Schule der Muʿtazila und ihrem abstrakten Gottesbild ihren Höhepunkt erreicht hatte, sei diese in den Status anthropomorphistischer Interpretation zurückgefallen. ⁴⁹ Zweitens sei die islamische Philosophie in der heutigen Zeit nicht mehr realitätsbezogen. Damit sei auch ihre Beteiligung zum zivilisatorischen Fortschritt, und zwar die Umformung der Theologie in eine Ontologie, aus dem Bewusstsein der Menschen geschwunden. Er sagt, dass durch den Verlust der islamischen Philosophie das Universale in Worte zu fassen und dadurch die Kommunikation mit den anderen Kulturen möglich zu machen,⁵⁰ nicht nur die Einigkeit der Um-

 Al-ʾAṣāla wa-l-muʿāṣara.  ʿIlāqa ǧadaliyya bain al-ʾaṣāla wa-l-muʿāṣara.  Ḥanafī, Ḥ.: Qaḍāyā muʿāṣira. In: Kügelgen, A. v.: Averroes und die arabische Moderne, 214– 215.  ebd., 209.  Ḥanafī, Ḥ.: Al-Falsafa wa-t-Turāṯ, 380.  Kügelgen, A. v.: Averroes und die arabische Moderne, 210.  ebd.

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ma, sondern auch die Beziehungen zum „Anderen“ heute kompliziert sei. Mit der Philosophie sollte auch der Streit zwischen den islamischen Glaubensbekenntnissen und theologischen Schulen beendet werden.⁵¹ Drittens werde in der Wissenschaft von der Rechtsquellenlehre der religiöse Text heutzutage in Beeinträchtigung von der gesellschaftlichen Wirklichkeit betrachtet. Damals habe für die islamischen Gelehrten noch der Mensch im Zentrum des Interesses gestanden, im Gegenteil dazu stehe dort heute Gott.⁵² Viertens habe die islamische Mystik einen Wandel ihrer Funktion erlebt. Während sie als Reaktion auf die überwiegenden rationalistisch-islamischen Strömungen entstanden sei und die Kultur dadurch bereichert habe, sei sie heute, nachdem die rationalistischen Richtungen in den Hintergrund geschoben worden seien, in ihrer Entwicklung zurückgeblieben. ⁵³

8 Okzidentalistik und Identitätskrise 8.1 Zweiter Teil des Projekts „Die Haltung gegenüber dem westlichen Erbe“ Aufbauend auf der bisherigen Darstellung und um diese wissenschaftliche Konstruktion vollständig abzuschließen, muss der zweite umstrittene Teil Ḥanafīs wissenschaftlichen Projekts „die Stellung gegenüber dem westlichen Kulturerbe (Mauqifunā min at-Turāṯ al-ġarbī), die Einführung in die Wissenschaft der Okzidentalistik“ behandelt werden. Dieser Teil erschien im Jahre 1991 in Kairo. Darin versucht er seinen Standpunkt gegenüber dem „Anderen“ dem Außen darzulegen also die westliche Kultur aus der Perspektive des Orients zu untersuchen⁵⁴ Ḥanafī hat den zweiten Teil des umfangreichen Projekts „die Einführung in die Wissenschaft der Okzidentalistik“ in drei Bestandteile geteilt: a) Die Quellen des europäischen Bewusstseins. b) Der Anfang des europäischen Bewusstseins. c) Das Ende des europäischen Bewusstseins. Er bezeichnete die Entwicklung der Geschichtlichkeit des europäischen Bewusstseins als eine Bewegung des Aufstiegs und Zusammenbruchs. Ḥanafī vervollständigte diese Bewegung in seinem Werk von dem Ursprung (Kap. 2) über den Anfang (Kap. 3), den Höhepunkt (Kap. 4), den Anfang vom Ende (Kap. 5) bis hin zum Ende vom Anfang (Kap. 6).⁵⁵     

Ḥanafī, Ḥ.: Al-Turāṯ wa-ʾt-taǧdīd, 133 – 141. ebd.,18 – 21. Hildebrandt, T.: Emanzipation oder Isolation vom westlichen Lehrer,15. Ḥanafī, Ḥ.: Muqaddima fī ʿilm al-istiġrāb, 15. Hildebrandt, T.: Emanzipation oder Isolation vom westlichen Lehrer, 26.

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a) Der Verlauf des Ich⁵⁶ Er teilt die islamische Geschichte des „Ich“ in drei Etappen auf, von denen jede rund 700 Jahre umfasst. Er unterstreicht, dass wir zwei Etappen schon durchlaufen haben und wir uns jetzt in der dritten Etappe befinden. Seine Aufteilung der Zeiträume stützte sich hier auf den islamischen Kalender. Mit der ersten Etappe meint er die Entstehung und die Etablierung des Islams. Mit der zweiten Epoche symbolisiert er die Blütezeit des Islams (goldenes Zeitalter des Islams 749 – 1258). Er behauptet bzw. prognostiziert, dass die dritte Epoche, schon seit 10 Jahren bzw. seit 35. Jahren angefangen hätte.⁵⁷ Er meint damit, dass die Länder der Dritten-Welt nicht mehr abhängig und in der „Peripherie“ gegenüber dem Zentrum „Europa“ stehen müssten.⁵⁸ Einige Merkmale zu Ḥanafīs Periodisierung sollten veranschaulicht werden: ⁵⁹ Einerseits kritisierte er die europäische Periodisierung, indem er sagte, dass sie die alten Zivilisationen im Osten wie Indien, China, Persien, Kanaan, Babel, Assyrien, Ägypten negiere. Anderseits hat er nichts anderes getan, indem er mit der islamischen Kultur als Basis der orientalischen Historie begann und so die alten orientalisch-nationalen (z. B. persischen und ägyptischen) Zivilisationen ignorierte. Überdies bestätigt er mit seiner Theorie, dass die neue Blütezeit und die Renaissance des Islams und der Länder der Dritten-Welt seit 10 bzw. 35 Jahren angefangen hat. Diese Hypothese widerspricht der aktuellen dekadenten Realität, der prekären Lage in allen Bereichen und der Geisteshaltungslage in der islamischen Welt.

 Masār al-ʾanā.  da er das Buch im Jahr 1991 verfasste.  Ḥanafī, Ḥ.: Muqaddima fī ʿilm al-istiġrāb, 697– 698.  Zeeden, Ernst Walter. In . (aufgerufen am 28. Juli 2015). „Geschichtliche Begriffe und Periodisierungen spiegeln das Bemühen der Forschung wider, den Gesamtablauf der Geschichte nach Maßgabe der jeweils erreichten Sachkunde und nach Maßgabe der jeweils für angemessen gehaltenen – von Generation zu Generation sich wandelnden – Perspektiven ordnend zu gliedern und die Zeiträume, die bei einer solchen Gliederung herausspringen, möglichst treffend zu benennen. Es versteht sich daher von selbst, dass geschichtliche Begriffe und Einteilungen in Zeiträume nur Hilfsvorstellungen sind, zu denen man aber notgedrungen greifen muss, weil man ohne sie nicht auskommt.“

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b) Der Verlauf des „Anderen“⁶⁰ Ḥanafī gliedert die europäische Geschichte in drei Etappen. Laut seiner Prophezeiung wird sich das Ende des europäischen Bewusstseins und der Untergang der europäischen Zivilisation im 21. Jh. bis zum 29. Jh. vollziehen.⁶¹ An dieser Stelle ruft Ḥanafī dazu auf, die verschiedenen Etappen der beiden Zivilisationen einer näheren Untersuchung zu unterziehen, um den genauen Charakter des Augenblicks, in dem sie heute aufeinandertreffen, zu erkennen. Dabei geht es ihm in erster Linie darum zu zeigen, dass jede der beiden Zivilisationen in einer ihr eigenen historischen Epoche lebt. Es sei zwar richtig, dass beide objektiv zur gleichen Zeit nebeneinander bestehen, sie befänden sich dabei aber an unterschiedlichen Punkten ihrer jeweiligen subjektiven Entwicklung. Ḥanafī betont, dass unter historischer Gleichzeitigkeit keineswegs zivilisatorische Kongruenz zu verstehen sei. Bei der einen handele es sich um objektive, bei der anderen jedoch um zivilisatorische Geschichte. Die eine spiele sich außerhalb, die andere jedoch innerhalb des Bewusstseins ab. Die eine sei Historie, die andere Historizität.⁶²

8.2 Problem der Identitätskonstruktion in der arabisch-islamischen Welt Die Gründe der Identitätskrise können in den generellen und speziellen Ursachen klassifiziert werden. Als erstes jedoch sollten die generellen Faktoren der Krise artikuliert werden. Die Basis für die kollektive Identität, die sich aus der Zuneigung zur islamischen Glaubensgemeinschaft speisen, entstammt aus der Frühzeit des Islams. Der Terminus Umma (Gemeinschaft) ist ein mustergültiges Beispiel, das mehrfach im Koran sowie in den Überlieferungen vorkommt. Dementsprechend ist jeder Muslim abgesehen von Herkunft, Hautfarbe, oder sozialer Stellung Mitglied der Gemeinschaft.⁶³ Die gegenwärtige Phase der Identitätskrise der islamischen Welt rückte erst seit dem 17. Jh. spätestens seit der Besatzung Ägyptens (1798 – 1801) durch Na-

 Masār al-ʾāḫar, in Ḥanafī, Ḥ.: Muqaddima fī ʿilm al-istiġrāb, 700.  Ḥanafī, Ḥ.: Muqaddima fī ʿilm al-istiġrāb.., 700 – 702.  Hildebrandt, T.: Emanzipation oder Isolation vom westlichen Lehrer, sowie Ḥanafī, Ḥ.: Muqaddima fī ʿilm al-istiġrāb, 697– 705.  Robert, Rüdiger: Kollektive Identitäten im Nahen und Mittleren Osten. Studien zum Verhältnis von Staat und Religion. Münster: Waxmann, 2010, 33.

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poleon (1769 – 1821) in den Fokus der Aufmerksamkeit, da die islamische Welt mit den europäischen Mächten zum ersten Mal konfrontieren wurde. Daher stürzte der Vormarsch des Kolonialismus die islamische Welt in eine intensive Identitätskrise, die Politik, Religion und Gesellschaft in selbem Maße erfasste. Zugleich spielte der Zerfall des osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg und das Ende des Kalifats eine entscheidende Rolle der Verwandlungen. Das Ergebnis waren die Regionalstaaten ohne ausreichende Stabilität und Anerkennung durch ihre Bevölkerungen und ethnisch-religiöse Gruppen wurden nach der politischen Berücksichtigung zu Staaten zusammengeschlossen und auf verschiedene Staaten verteilt.⁶⁴ Angesichts der Kolonisierung der islamischen Länder entstand im 19. Jh. eine Reihe von islamischen Strömungen, die einen islamischen Staat verkörpern sollten, gemäß der Einheit von Politik und Religion. ⁶⁵ „Der Ruf nach Einheit der Umma ist so seit der Kolonialzeit zu einem sichtbaren Ausdruck des Protestes gegen Fremdbestimmung und Dominanz von außen geworden. Der Begriff der Umma steht dabei für Rückbesinnung auf eigene Wertvorstellungen und Leistungen, für Originalität und Anspruch auf Erneuerung der islamischen Welt.“⁶⁶ Eine unvermeidliche Folge der Identitätskrise sind die Konfliktlinien, die dabei zum einen zwischen Ländern wie Iran und Saudi-Arabien, zum anderen zwischen Staaten und den radikal-islamischen Strömungen verlaufen. Diese Konflikte nahmen nicht nur Einfluss auf die Länder und die islamischen Bewegungen, sondern auch die inner-gesellschaftlichen Bewegungen. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass sich in Ägypten wegen seiner langen wechselhaften Geschichte diese kollektive Identität nicht offenkundig präsentierte. Dies wurde aber ständig zur Diskussion gebracht und bereits während der Zeit der Unabhängigkeitsströmung als wichtiges Thema offensichtlich debattiert.⁶⁷ „In Zahlreichen versuchen zur politischen und gesellschaftlichen Erneuerung des islamisch-orientalischen Kulturraums spiegelt sich ein gespanntes Verhältnis zwischen dem Streben nach kultureller […] Geschlossenheit auf der einen Seite und Akzeptanz westlicher Werte und Normen auf der anderen Seite wider.“⁶⁸

 ebd. 42.  Steinbach 1988, 135. In Kollektive Identitäten im Nahen und Mittleren Osten, Studien zum Verhältnis von Staat und Religion, hg.v. Rüdiger Robert, 42.  ebd., 47.  ebd., 360.  ebd., 16.

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Im Folgenden sollten zwei von den speziellen Gründen der Identitätskrise in der arabisch-islamischen Welt dargestellt werden. Zunächst wird die „Schließung des Tores des Iǧtihād“, als wesentlicher Faktor der Identitätskrise gesehen. Sie steht in dem heutigen islamischen Diskurs, aber auch in der westlichen Debatte, ganz allgemein für den rationalen Diskurs als unverzichtbare Vernunft Normen zu entwickeln und zu kritisieren, wird als wesentlicher Faktor der Identitätskrise angesehen. Laut Ḥanafī ist die Transformation der Identität in innerer Entfremdung der wichtigste Grund des Problems der Identität.

a) Schließung des Tores des Iǧtihād Die vielzitierte „Schließung des Tores zum Idjtihad“ bedeutet dabei die Annahme, dass sich eine orthodoxe islamische Theologie mit ihrem umfassenden Anspruch auf die Grundlagen und die Gestaltung der islamischen Gesellschaften zwischen dem 9. und 12. Jh. christlicher Zeitrechnung gegenüber der Tradition aristotelischer Philosophie in der islamischen Welt durchgesetzt hat. […]. Die islamische Theologie ist innerhalb ihrer Prämissen durchaus rational konstruiert und keineswegs, wie gelegentlich in den Medien dargestellt – gerade im Zusammenhang mit islamischem Recht und Pflichtenlehre (der Scharia) –, irrational und widersinnig. Aber die rationale Konstruktion diente der Verhinderung eines weiteren Diskurses, indem er alle folgenden Versuche in diese Richtung als „unerwünschte Neuerung“ (bidʿa) diffamiert, die sich nicht mehr auf die geoffenbarten Grundlagen des Islam berufen dürfen oder gar offen dazu Widerspruch stünden.⁶⁹

Geert Hendrich hat dazu ergänzt: dass durch die Beendigung des Iǧtihād und die Unterdrückung der Rationalität aus dem islamischen Kulturerbe eine dynamische Anpassung an einen veränderlichen wirtschaftlichen und sozialen Bereich blockiert worden sei.⁷⁰ Obwohl nach islamischer Auffassung keine Vermittlung zwischen Gott und den Menschen vorhanden sein darf, hat sich in der Realität eine Gruppe von Gelehrten herausgetan, die die Auslegung der heiligen Texte und des islamischen Rechts erläutern/verstehen. Deshalb werde Ulama für die Schließung des Tores des Iǧtihād verantwortlich. Außerdem war die Ulama seit der Zeit der Umayyaden (661– 750) sehr eng mit den Machthabern verbunden, weil sie oftmals vom Staat zum Teil seines Machtapparates gemacht wurde.⁷¹ Als Folgerung der obengenannten Dialektik werden alle folgenden Versuche in der Richtung der Rationalität als bidʿa verleumdet, dadurch sollten sich die Muslime entweder der Fundamentalisten-Strömung oder

 Hendrich, G.: Islam und Aufklärung, 43.  ebd., 43 – 44.  ebd., 45.

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der westlichen Modernität zuwenden. Dies war ein unmittelbarer Grund für die geistige Dispersion und die Entstehung der Identitätskrise in der arabisch-islamischen Gesellschaft. Als Resultat dieser Krise kann das philosophische und politische Denken in der arabisch-islamischen Welt seit dem 19. Jahrhundert nur als Revitalisierung des Islams aufgefasst werden. Die Kultur gilt; einmal als Beweis für ihre grundsätzliche Entwicklungsunfähigkeit, und einmal als Beweis für das wahrhaft Humane, das in einer religiös dominierten Gesellschaft zum Ausdruck kommt.⁷²

b) Wandel der Identität in der inneren Entfremdung Im Folgenden erörtert Ḥanafī, wie sich die Krise der Identität in der Entfremdung umwandelt: Es wäre möglich, dass die Identität sich in die Geistesstörung umwandelt, dadurch könne auf die innere Freiheit verzichtet werden, um sich an die äußeren Umstände anzupassen. Die Identität basiert auf der Freiheit und sie reflektiert das Selbstgefühl. Außerdem beruht die Freiheit auf der Identität und die Freiheit drückt die Identität aus. Aufgrund der Willensschwäche, der Enttäuschung und der verlorenen Freiheit fühlt man sich grundlos traurig und dies führt unbedingt zur Verzweiflung und Elend.⁷³

In der (at-Taǧdīd al-ʿarabī) Online-Zeitung schrieb Ḥanafī einen wichtigen Artikel unter dem Titel (Taḥawilāt al-hawīya wa-l-ʾiġtirāb) die Transformationen der Identität und Entfremdung, als er die arabisch-islamische Ideologie in drei Strömungen wie folgt aufgeteilt hat: Zunächst steht die reformistische Identität, die von al-Afġānī, ʿAbduh und Rašīd Ridā (1865 – 1935) sowie Ben Badīs (1889 – 1940) vertreten werden. Die drei Denker würden als Gründer des „modernen“ Salafismus angesehen. Dann kommt die Liberalismus-Identität hinzu, die von aṭ-Ṭahṭawī (1801– 1873), Muḥammad Ḥussain Ḥaikal (1888 – 1956), ʿAbbās Maḥmūd al-ʿAqqād (1889 – 1964) und Ṭāhā Ḥussain (1889 – 1973) repräsentiert werden. Die wissenschaftliche säkularistische Identität, die von Šiblī Šumayyil (1850 – 1917), Faraḥ Anṭūn (1874– 1922), Salāma Mūsā (1889 – 1958) und Ismāʿīl Maẕhar (1891– 1962) vertreten werden. Diese drei Identitätsmodelle sind bis heute um-

 Hendrich, G.: Islam und Aufklärung, 39 – 40, 43.  Ḥanafī, Ḥ.: Al-hawīya wa-l-ʾġtirāb. at-Taǧdīd al-ʿarabī, (aufgerufen am 6. Juni 2015). Übersetzung des Verfassers.

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stritten.⁷⁴ Die Salafisten-Identität ist im 18. Jh. entstanden, aber ihre Blütezeit war nach dem Fall des osmanischen Reiches. Während Rašīd Ridā von Kairo aus dem Gedankengut der Salafiya verbreitete, gab Ben Badīs in Algerien von 1924 an die Zeitschrift „aš-Šihāb“ heraus und sorgte dadurch für eine Ausbreitung der salafistischen Ideologie in der maghrebinischen Welt. Ridā und Ben Badī lernten sich im Rahmen eines Aufenthaltes Ben Badīs in Kairo persönlich kennen. Entstanden aus dem Gedankengut Einzelner entwickelte sich die Salafiya von einer Idee zu einer sich ständig weiterentwickelnden Bewegung. Aufgrund der Ausbreitung des Text-Ansatzes und der Vereinigung zwischen der Text-Autorität und der politischen Macht wurde die Priorität den Pflichten, anstatt den Rechte gegeben. Es ist aber gezeigt worden, dass die Repression, die Prävention, der Tadel, und das Verbot sowie die Einschüchterung das Religionsbild reflektiert. Aufgrund dieser Einschränkungen haben die Menschen keine Möglichkeit kreativ zu denken. Diese religiöse Vorstellung hat einen entscheidenden Einfluss auf die Identität, die von den Menschen angenommen werden müssen. Auch wenn sie davon nicht überzeugt sind.⁷⁵ Erwähnenswert hier ist, dass die Islamisten nicht in das Leben des Mittelalters zurückwollten, sondern ganz im Gegenteil von den Verwirklichungen der technologischen Moderne profitieren. Die maßgebenden Grundlagen sollten sich an der idealen Frühzeit des Islams orientieren, an der Zeit des Propheten Muḥammad und seiner Nachfolger und der rechtgeleiteten Kalifen. Implizit sollte diese Gesellschaft sich an Koran und Sunna orientieren, und dies bedeutet auf politischer Ebene die Orientierung der Politik an den Maximen der Scharia bzw. Durchführung der Scharia durch das Mittel der Politik (as-Siyyāsa aš-šarʿiyya).

Fazit Dieses hervorragende Zitat von Imam Muḥammad ʿAbduh hat mich persönlich sehr berührt, inspiriert und motiviert und entspricht der aktuellen prekären Lage der islamischen Welt insbesondere wissenschaftlich und geistlich: „Es ist meine

 Ḥanafī, Ḥ.: Taḥawilāt al-hawīya wal-ʾġitrāb. at-Taǧdīd al-ʿarabī/arabrenewal, (aufgerufen am 6. Juni 2015)  ebd.

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Religion, die ich reformieren wollte. Ich befürchte aber, dass (die Turbane)⁷⁶, die radikalen Azhariten sie beseitigen.“⁷⁷ Das in der vorliegenden Arbeit behandelte Thema um Ḥanafīs Entwurf stellt ein kleines Segment aus dem im intellektuellen Feld der arabisch-islamischen Welt stattfindenden größeren Diskurs dar. So bestand die Frage nach der Relation zwischen Kulturerbe und Moderne einerseits und zwischen dem „Ich“ der arabisch-islamischen Welt und dem „Anderen“ dem Westen andererseits, und es ist anzunehmen, dass sich die Intellektuellen der arabisch-islamischen Welt weiterhin damit beschäftigen werden. Nach der Untersuchung des Projekts bin ich zu zahlreichen Schlussfolgerungen gelangt: Zunächst versucht dieses Projekt die arabisch-islamische Krise, die man heutzutage als Identitätskrise betrachtet, näher zu formulieren. Während im ersten Teil des Projekts „die Haltung gegenüber dem alten Kulturerbe“ darlegt und seine Forschung auf das „Ich“ bzw. das Innen ausgerichtet wurde, konzentrierte sich Ḥanafī im zweiten Teil des Projekts auf „die Haltung gegenüber dem westlichen Kulturerbe“ und auf das „Andere“ bzw. Außen. Dazu kommt, dass Ḥanafī nichts Geringeres als die Modernisierung der rationalen islamischen Wissenschaften anstrebt, um auf dieser Basis eine moderne islamische Kultur zu schaffen, die aufgrund einer einheitlichen Weltanschauung auch eine politische Einheit verspricht. Des Weiteren ist die Religion ein Teil von dem Kulturerbe aber nicht umgekehrt. Infolgedessen wird das Kulturerbe hauptsächlich als ein nationaler Prozess betrachtet, der alle Konfessionen einschließt. Deswegen sollte es nicht auf die Religionen beschränkt werden. Diese Meinung vertritt auch Abū Zaid. Zudem kann hier unterstrichen werden, dass der Mensch in unserem alten Erbe komplett abwesend ist, weil er sich auf die Philosophie (zwischen Naturalismus und Metaphysik) und auf den Monotheismus sowie auf die Mystik beschränkt hätte. Da wir jeden Tag mit al-Kindī zu tun haben und atmen jeden Augenblick alFārābī, sehen Ibn Sīnā fast überall auf unseren Wegen. Deswegen ist unser altes Kulturerbe lebendig und bestimmt den Verlauf unseres alltäglichen Lebens. Es wird immer in dem alten Erbe eine Erklärung für unsere aktuelle Niederlage oder vielleicht eine Bestätigung dafür gefunden werden. Ḥanafī hat eine eigene Vorstellung von der Klassifizierung der Philosophen.

 Al-ʿAmāʾim, mit denen die Azhariten symbolisiert werden. „In hiwa ilā Dīnan aradtu Iṣlāḥi, uḥāḏir (aḫāf) an taqḍī ʿalīhi al-ʿAmāʾim“.  Ḥanafī, Ḥ.: Ḥiwār al-aǧyāl; Dār al-qibaʾ li-ʾṭ-ṭibāʿa wa-ʾn-našr wa-ʾt-tauzīʿ. Kairo, 1998, 17.

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Die rationalistisch-naturalistische Philosophie von Ibn Rušd klassifiziert er als links und die illuminationistischen Philosophie von al-Fārābī, Ibn Sīnā als rechts. Zur Unterstützung dieser Position bezieht sich Ḥanafī auf das Ḥadīṯ des Propheten „die Gelehrten sind die Erben der Propheten“⁷⁸ Somit interpretiert er den falāsifa folgend den Begriff ḥikma im Koran als Philosophie und behauptet, dass Philosophie und Religion durch ihr Wesen und ihre Natur in Liebe zugetane Milchschwestern seien. Zusätzlich trennt Ḥanafī innerhalb des Kalām und Fiqh ebenfalls zwischen links und rechts: Die Muʿtazila und die Mālikiyya klassifiziert er als Linke, die Ašʿariyya und die Ḥanafiyya als Rechte. Weiterhin erklärt Ḥanafī, dass die Offenbarung in der Vernunft gegründet sei, weshalb die Philosophen sagten, die Vernunft sei fähig alles, was dem Propheten als Offenbarung eingegeben wurde, von sich aus herauszufinden. Die Muʿtazila unterstützt die Offenbarung mit der Vernunft und die Rechtsgelehrten sahen die richtige Überlieferung mit dem gesunden Menschenverstand in Einklang. Ḥanafī bestätigt diese Theorie: „Die Offenbarung lehrt nichts, was die Vernunft nicht akzeptiert, und die Vernunft wiederum ist fähig, alles aus eigener Kraft zu erkennen, was in der Offenbarung steht“. Ḥanafī stellt eine ganze Reihe von den Ersatzmöglichkeiten für die Formel „im Namen Gottes“ zur Verfügung: „im Namen der Massen der Umma“, „im Namen des Volkes“, „Im Namen der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit“, „im Namen der Einheit“. Meiner Meinung nach sollten diese Ersatzmöglichkeiten nicht nur auf die Namen Gottes beschränkt werden, sondern auch die Namen des Propheten, die heiligen Engel, die Gefährten des Propheten und ihre Nachfolger, die vier Rechtsschulen und die Machthaber umfassen. Es sollte „im Namen des Präsident“: mit „im Namen des Volkes, der Gerechtigkeit“; und „im Namen des Propheten, der heiligen Engel“ mit „im Namen der Wissenschaftler, Denker, Philosophen“ sowie „im Namen der Muslimbruderschaft, der Salafisten“ mit „im Namen der nationalen Kultur, der Freiheit, der Wissenschaft, der Zukunft“ ersetzt werden. Meines Erachtens liegt die Schlussfolgerung nahe, dass, falls das Projekt sich nur auf den psychischen Fundus der Massen als Mittel der Veränderung stützt, dies die Tür zum Wandel öffnen, die zur Aufklärung jedoch schließen würde. Darüber hinaus könnte es sein, dass, wenn die Theorie sich hauptsächlich auf die Philosophen, Denker und Intellektuellen (zum Denken, Lesen, Lernen) stüt-

 Ḥanafī, Ḥ.: Min al-ʿaqı ̄da ila ʾṯ-ṯaura. At-Turāṯ wa-ʾt-taǧdı ̄d. Kairo: Mauqifunā min at-Turāṯ alqadı̄m, Maktabat madbūlı̄, 1988, 454.

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zen wird, sich die Massen nicht darum bemühen werden, ihr Leben zu verbessern und deshalb die Unwissenheit und der Analphabetismus wachsen. Außerdem wäre es möglich, dass, wenn sich auf diese Theorie gestützt wird, die Aufklärung und der Entwicklungsprozess unsymmetrisch werden. Dadurch wird dann der Entwicklungsprozess eher als Wettlauf bzw. ein Konflikt betrachtet, um die Gefühle der Massen zu gewinnen. Ferner könnte man auch hier sagen, dass wenn wir uns auf diese Theorie stützen, sich die Frage der Aufklärung in den Diskurs, die Rednerbühne und die Medien verwandelt. Diese Nachteile wurden vom Projekt selbst am Anfang verurteilt. Ḥanafī schlägt ständig vor, dass die Normen des sozialen Handelns (Muʿāmalāt) vorrangig vor den Normen der rituellen Handlung (ʿIbādāt) klassifiziert werden sollten. Zurzeit sind die Normen der rituellen Handlung nicht nur gebieterisch, sondern nehmen eine dominierende Stellung ein. Im Gegenteil sind die Normen des sozialen Handelns völlig verloren und vernachlässigt. Meiner Auffassung nach ist das „TwT“ Projekt ein Versuch, um die theoretischen sowie praktischen Anforderungen der Zeit der Entwicklungsländer zu verwirklichen, um die Niederlagen und Tragödien zu überwinden. Diese Anforderungen sind wie folgt: – Die Bevölkerungen müssen ihre Länder von allen Formen des Faschismus und von den Kolonialherren befreien. – Mit der Bewusstseinsförderung kann die materielle und immaterielle Rückständigkeit bekämpft werden. Sie umfasst die Hungersnot, Krankheiten, Armut, Analphabetismus, Ignoranz, sowie Mythen und Aberglauben. – Es muss der Fortschritt gegen die intellektuelle Stagnation und die Renaissance gegen die Zivilisation, die zum Stillstand gekommen ist, realisiert werden. Ich teile Ḥanafīs Standpunkt, dass die Revolution des Denkens, des Wissens und der Wissenschaft vorrangiges Ziel vor dem Gottesdienst sein sollte. Ich kann einige Schwachpunkte Ḥanafīs Periodisierung, die er in der Wissenschaft der Okzidentalistik erwähnt hat, hervorheben: Einerseits hat er die europäische Periodisierung kritisiert. „Der Westen hat die alten Zivilisationen im Osten wie Indien, China, Persien, Kanaan, Babel, Assyrien, Ägypten negiert.“ Anderseits hat Ḥanafī nichts anders getan, da er mit der islamischen Kultur als Basis der orientalischen Historie begann, zugleich ignorierte er die alten orientalisch-nationalen (z. B. persischen und ägyptischen) Zivilisationen. Überdies bestätigt er in seiner Theorie, dass die Blütezeit und die Renaissance des Islams und der Länder der Dritten Welt vor zehn bzw. 35 Jahren angefangen

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habe.⁷⁹ Diese Hypothese widerspricht der aktuellen dekadenten Realität, der prekären Situation und der Geisteshaltung, die in allen Lebensbereichen der islamischen Welt unverwechselbar sind, Meiner Ansicht nach müssen die Länder der Dritten Welt gegen die dominierende Herrschaft der westlichen Welt zusammenarbeiten. Darüber hinaus müssten die Relationen zwischen den Bevölkerungen nicht länger einseitig sein, sondern würden sich zu wechselseitigen Relationen entwickeln. Anstatt einer Haupt- und vieler Nebenzivilisationen würde sich in der Welt die Hauptzivilisation vergrößern. Die Welt würde nicht mehr aus Zentrum und Rändern bestehen, sondern stattdessen würden sich vielfältige Zentren entfalten. Viele Zivilisationen könnten so endlich auf einen gemeinsamen Stand geraten, auf der sie ohne Beeinträchtigung der zivilisatorischen Akkulturation miteinander in Verbindung treten. Das Resultat wäre eine neue Menschlichkeit, eine neue Epoche ohne den verborgenen Schaden von Rassismus, Imperialismus und Abhängigkeit. Weshalb die Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zwischen den Völkern florieren würde und das Gleichgewicht in der Welt wiederhergestellt sei. Abschließend würde ich behaupten, dass die Revolution erst dann gelingen wird, wenn der Mensch im Fokus des Interesses der Theologen, Denker und Philosophen steht. Sie sollten sich auf die Anthropologie anstatt auf die Metaphysik konzentrieren und der Volkssouveränität den Vorrang vor den Machthabern geben. Zudem haben sich anhand der vorliegenden Untersuchungen zu den Bereichen des Kulturerbes und der Erneuerung mehrere Forschungsfragen eröffnet, die als Grundlage für weitere Arbeiten dienen können. Ich bin mir sicher, dass ich in der vorliegenden Untersuchung die meisten gestellten Fragen beantwortet habe. Trotzdem bleiben einige Fragen offen. Abschließend ist festzuhalten, dass die vorliegende Arbeit ihre Zielstellungen erfüllt und sich kritisch mit den gewonnenen Erkenntnissen auseinandergesetzt hat. Damit stellt diese Arbeit eine fundierte Grundlage für weitere Forschungen im Bereich der islamischen Philosophie „Kulturerbe und der Erneuerung“ dar.

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 Die Länder der Dritten Welt, die Ḥanafī nur implizit erwähnt hat.

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Tarek Anwar Abdelgayed Elkot

Ein moderner Zugang zu den Koranwissenschaften Die Aufhebung im Koran bei Ṭāhā Ǧābir al-ʿAlwānī (1935 – 2016)

Einleitung Die Aufhebung An-nasḫ bzw. das Aufhebende und das Aufgehobene An-nāsiḫ wal-mansūḫ stellt ein wichtiges Teilgebiet der Koranwissenschaften dar. Es befasst sich mit der Darlegung der aufhebenden und aufgehobenen Koranverse. Gemäß diesem Teilgebiet sind einige Koranverse durch andere ersetzt worden. Über die Aufhebung im Koran sind viele Werke verfasst worden. Eines der wichtigsten Werke ist An-nāsiḫ wa-l-mansūḫ fī l-Qurʾān von Abū Ǧaʿfar Muḥammad b. Aḥmad An-Naḥḥās (gest. 950). Ṭāhā Ǧābir al-ʿAlwānī¹ ist einer der modernen muslimischen Gelehrten, der sich unter anderem mit der Erforschung des Korans in einer Reihe über „Koranstudien“ beschäftigt. Zu dieser Reihe gehören die folgenden Bücher: ‫ﺃﺯﻣﺔ ﺍﻹﻧﺴﺎﻧﻴﺔ ﻭﺩﻭﺭ ﺍﻟﻘﺮﺁﻥ ﺍﻟﻜﺮﻳﻢ ﻓﻲ ﺍﻟﺨﻼﺹ ﻣﻨﻬﺎ‬ Die Krise der Menschheit und die Rolle des edlen Korans bei ihrer Überwältigung ‫ﺍﻟﺠﻤﻊ ﺑﻴﻦ ﺍﻟﻘﺮﺍﺀﺗﻴﻦ – ﻗﺮﺍﺀﺓ ﺍﻟﻮﺣﻲ ﻭﻗﺮﺍﺀﺓ ﺍﻟﻜﻮﻥ‬ Die Zusammenstellung zwischen den beiden Lesarten, der der Offenbarung und der des Kosmos ‫ﺍﻟﻮﺣﺪﺓ ﺍﻟﺒﻨﺎﺋﻴﺔ ﻟﻠﻘﺮﺁﻥ ﺍﻟﻤﺠﻴﺪ‬ Die strukturelle Einheit des glorreichen Korans

 Ṭāhā Ǧābir al-ʿAlwānī wurde 1935 im Irak geboren. Er besuchte die Schule in seinem Heimatland. Dann besuchte er die Fakultät für Scharia und Recht an der Al-Azhar Universität in Kairo. Dort absolvierte er 1959 sein Studium. An derselben Fakultät erlangte er 1968 den Mastergrad und 1973 den Doktorgrad im Bereich der Methodologie der islamischen Jurisprudenz (uṣūl al-fiqh). Er arbeitete als Professor für fiqh und uṣūl al-fiqh an der Universität Muhammad b. Saud in Riad, war Mitbegründer des Internationalen Instituts für islamisches Denken in den Vereinigten Staaten und beteiligte sich schließlich an der Gründung der Islamischen Weltliga in Mekka. Er verfasste zahlreiche Bücher über fiqh und uṣūl al-fiqh. 2016 ist al-ʿAlwānī gestorben. https://doi.org/10.1515/9783110588590-008

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‫ﻟﺴﺎﻥ ﺍﻟﻘﺮﺁﻥ ﻭﻣﺴﺘﻘﺒﻞ ﺍﻷﻣﺔ ﺍﻟﻘﻄﺐ‬ Die Sprache des Korans und die Zukunft der führenden Gemeinschaft ‫ﻧﺤﻮ ﻣﻮﻗﻒ ﻗﺮﺁﻧﻲ ﻣﻦ ﺍﻟﻨﺴﺦ‬ Zu einer koranischen Haltung gegenüber der Aufhebung (an-nasḫ)

Die vorliegende Studie richtet ihre Aufmerksamkeit vorrangig auf die Untersuchung des letzten Buches Naḥwa mawqif qurʾānī min an-nasḫ, das dem Gegenstand der Aufhebung im Koran gewidmet ist. Durch die Untersuchung und die Analyse von diesem Buch soll gezeigt werden, wie al-ʿAlwānī mit der verbreiteten muslimischen Tradition über die Frage der Aufhebung im Koran umgeht und inwiefern er eine neue Vision gegenüber der Aufhebung im Koran bietet. Darüber hinaus lässt die vorliegende Studie die Gedankenwelt eines modernen muslimischen Gelehrten sichtbar werden.

1 Das Konzept der Aufhebung im Koran Unter diesem Kapitel stellt al-ʿAlwānī vier Koranverse dar, in denen das Wort nasḫ vorkommt. In diesem Zusammenhang konzentriere ich mich vor allem auf den Koranvers 106 der Sure 2², da dieser einen engen Bezug zum Prinzip der Aufhebung hat. Nach al-ʿAlwānī bezieht sich die im Koranvers erwähnte Aufhebung nicht auf die Aufhebung eines Koranverses, sondern auf die Aufhebung der Kinder Israels. Al-ʿAlwānī ist der Meinung, dass die Rede ab dem Koranvers 40 der Sure 2 von der Geschichte der Kinder Israels ist. Diese Koranverse verdeutlichen, dass die Gemeinschaft Kinder Israels durch eine andere Gemeinschaft ersetzt werden müsste, da sie viele Sünden begingen, die Propheten töteten und die Worte Gottes verfälschten. An ihrer Stelle hätte eine andere Gemeinschaft auftreten müssen. Dementsprechend weise die im Koranvers angeführte Aufhebung auf das Ende der jüdischen Gemeinschaft und das Ersetzen der früheren Botschaften durch den Islam hin.³ Die Koranverse, in denen das Wort nasḫ existiere, trügen in sich nicht die Bedeutungen, zu denen die Gelehrten der Methodologie der islamischen Nor-

 Wenn wir einen Vers (aus dem Wortlaut der Offenbarung) tilgen oder in Vergessenheit geraten lassen, bringen wir (dafür) einen besseren oder einen, der ihm gleich ist.Weißt du denn nicht, daß Gott zu allem die Macht hat? Paret, Rudi: Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret. Stuttgart u. a.: W. Kohlhammer, 102007, 21 (Sure 2, Vers 106).  Ṭaha Ǧābir al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ. Silsilat dirāsāt Qurʾānīya, 2006, 8 – 9.

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menlehre, die Koranexegeten und die Sprachwissenschaftler tendierten. Diese vertraten die Ansicht, dass nasḫ die Aufhebung eines Rechtsurteils durch ein anderes, das Außerkraftsetzen eines früheren Rechtsurteils durch ein späteres oder den Ablauf der Gültigkeitsdauer des Rechtsurteils bedeute.⁴ Al-ʿAlwānī diskutiert das Wort nasḫ nicht nur im Koran, sondern auch in der prophetischen Tradition. Wir unterstreichen, so sagt al-ʿAlwānī, dass der Gesandte Gottes Muḥammad das Wort nasḫ und seine sprachliche Wurzel nur in seiner Rezitation des Buchs Gottes ausgesprochen hätte. Zwar läse man das Wort nasḫ in einigen Überlieferungen, aber diese stammten von Prophetengefährten. Der Begriff nasḫ wäre infolgedessen nicht zur Zeit des Propheten aufgetreten.⁵ So zeigt al-ʿAlwānī seine eigene Vorstellung von der Aufhebung sowie die traditionelle Bedeutung der Aufhebung und kommt durch seine Analyse zum Ergebnis, dass die Rede von der Aufhebung im Koran nicht zur Zeit des Propheten Muḥammad entstand. Erst später nach dem Tode des Propheten Muḥammad wurde von der Aufhebung im Koran gesprochen. Bei al-ʿAlwānī hat die im Koran befindliche Aufhebung mit den Koranversen und den Rechtsurteilen nichts zu tun.

1.1 Die Aufhebung zwischen Begriff und These Die Aufhebung ist nach al-ʿAlwānī nicht bloß ein Begriff, sie ist eine vollständige These. Es gäbe einen großen Unterschied zwischen dem Begriff und der These. Die These schließe die Ausdrücke und die Konzeptionen in sich ein, trüge in sich manchmal zahlreiche Erkenntnisse, um einen Wissensrahmen zu entwickeln, der einerseits durch einen Beweis bestätigt werde und der sich andererseits in eine Referenz für kleine oder große Reihe von wissenschaftlichen und fachlichen Problemen verwandele. Ohne diese These wären solche Probleme unklar und sogar unverständlich geblieben. Dementsprechend werde die Aufhebung als eine These betrachtet, nicht bloß als ein Ausdruck bzw. ein Begriff. Die These sei eine Frage, die eines Nachweises bedürfe.⁶ Danach spricht al-ʿAlwānī von den Faktoren, die die Erscheinung der These von Aufhebung verursachten. Seines Erachtens wäre diese These als Reaktion auf die Idee entstanden, der zufolge Widerspruch oder Äquivalenz zwischen Korantexten stünden. Dieser Widerspruch bzw. die Äquivalenz könnten völlig vernichtet werden nur durch die Aussage, dass ein Text den anderen aufhebe, ihn außer

 ebd., 15.  ebd., 17– 18.  ebd., 21.

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Kraft setze oder auf das Ende der Gültigkeitsdauer des anderen Textes verweise. Wichtig sei es, dass einer der beiden Texte, natürlich der spätere, bleibe, wohingegen der andere nicht mehr gültig sei. Die Zeit gelte allein als Mittel zur Unterscheidung zwischen den aufhebenden und aufgehobenen Koranversen. Aus der Sicht des Rechtsgelehrten müsse der alte Text durch den neuen ersetzt werden. Die Kenntnis der Offenbarungszeit stelle sich allein als Mittel zur Aufhebung der Gültigkeit eines Korantextes. Dadurch kenne man den Text, der in der Geschichte der Offenbarung einem anderen vorausginge.⁷ Daraus lässt sich entnehmen, dass muslimische Gelehrte das Prinzip der Aufhebung zur Lösung des Problems der scheinbar kollidierenden Koranverse entwickelten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es leicht ist, die Offenbarungszeiten der abrogierenden und abrogierten Koranverse zu erkennen. Meiner Auffassung nach ist die Sache schwierig und kompliziert, da keine gesicherten Berichte über die Aufhebung einiger Koranverse durch andere zur Verfügung stehen. Vom Propheten Muḥammad selbst wurden die abrogierenden und abrogierten Koranverse nicht bestimmt. Alles, was mit der Aufhebung im Koran zusammenhängt, geht grundlegend auf das mangelnde Verstehen der scheinbar kollidierenden Koranverse zurück. Deshalb bleibt die Frage der Aufhebung umstritten, da eine genaue zeitliche bzw. örtliche Bestimmung der aufhebenden und aufgehobenen Koranverse unmöglich ist.

1.2 Methoden der Kenntnis der aufhebenden und aufgehoben Koranverse Wie unterscheidet man zwischen den abrogierenden und abrogierten Koranversen? Mit dieser Frage beschäftigten sich die Gelehrten, die sich für die Aufhebung im Koran aussprachen. Al-ʿAlwānī stellt im Folgenden die Methoden der Gelehrten zur Kenntnis der abrogierenden und abrogierten Koranverse dar. Nach al-ʿAlwānīs Ansicht ist die Aufhebung ein Mittel und eine These, die die Rechtsgelehrten zur Bewältigung deren schwachen Methoden bezüglich des Verstehens und der Auslegung der Texte erfunden hätten. Diese schwachen Methoden führten dazu, dass der Rechtsgelehrte in einigen Korantexten Kollision sähe, die nur durch die Annullierung eines Korantextes gelöst werde. Damit dem Gelehrten nicht vorgeworfen werde, dass er mit einem göttlichen Text oder einer prophetischen Tradition seiner bloßen Meinung entsprechend umgehe, würden für die Unterscheidung der aufhebenden Koranverse von den aufgehobenen zwei

 ebd., 22.

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Methoden aufgestellt: Die erste Methode, durch die man den aufgehobenen Koranvers vom aufhebenden unterscheide, sei der Text selbst. Gemeint sei damit, dass ein Text darauf hindeute, dass ein Text von einem anderen aufgeboben werde oder dass ein Text einen anderen aufhebe. Kein Gelehrter hätte aber ein Beispiel dafür erwähnt. Bei der zweiten Methode handele es sich darum, dass Gott oder der Gesandte Gottes einen Text zusammen mit einem Rechtsurteil und einen ähnlichen Text zusammen mit einem zum ersten Rechtsurteil im Widerspruch stehenden Rechtsurteil anführe. Wichtig sei aber in diesem Zusammenhang die Kenntnis der Offenbarungszeit. Diese Methode für die Unterscheidung zwischen den aufhebenden und aufgehobenen Texten erweise sich als ein Problem bezüglich des Umgangs des Gelehrten mit den Texten, wenn er sie widersprüchlich sähe. Dieser sich nur im Kopf des Gelehrten befindende Widerspruch werde beseitigt nur durch die Behauptung, dass ein Text einen anderen abrogiere.⁸ Während al-ʿAlwānī keine Kollision innerhalb der Korantexte sieht, verwenden die Befürworter der Aufhebung im Koran die Kollision als ein Mittel zur Kenntnis der aufhebenden und aufgehobenen Koranverse. In seinem Werk Manāhil al-ʿirfān fī ʿulūm al-Qurʾān bestätigt Muḥammad ʿAbd al-ʿAẓīm az-Zurqānī (gest. 1948) das Prinzip der Kollision als ein Mittel zum Wissen von der Aufhebung. Unter dem Punkt „Methoden der Kenntnis der Aufhebung“ stellt er fest, dass die Aufhebung verwirklicht werde, wenn zwei Texte vorlägen, die eigentlich widersprüchlich zu sein scheinen. Neben dem Widerspruch müsse es unmöglich sein, zwischen den beiden Texten zu harmonisieren. Deshalb hielte man einen der beiden Texte für aufhebend und den anderen für aufgehoben. Wie könne man aber zwischen den beiden Texten differenzieren? Dabei spiele die bloße Meinung keine Rolle. Für die Aufhebung müsse ein Beweis vorliegen, der darauf hinweise, dass einer der beiden Texte dem anderen vorausgehe. Der spätere hebe natürlich den früheren auf. Zu diesem Beweis gelange man durch eine der drei folgenden Methoden: 1. Es handele sich bei der ersten Methode darum, dass einer der beiden Texte ein Indiz hätte, das den früheren und den späteren Text identifiziere. 2. Bei der zweiten Methode gehe es um das Übereinkommen der muslimischen Gemeinschaft eines bestimmten Zeitalters über die Festlegung des vorigen und nachfolgenden Textes. 3. Die Überlieferung bildet die dritte Methode. Es müsse für die Aufhebung eine richtige auf einen Prophetengefährten zurückgehende Überlieferung geben, der zufolge die Herabsendungszeiten der beiden Texte erkannt werden könnten. Wenn von einem Prophetengefährten beispielsweise Folgendes

 ebd., 23 – 24.

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überliefert werde: dieser Text sei aufhebend und jener sei aufgehoben, dann gelte dies aber nicht als ein Beweis. Denn es könnte sein, dass die Aussage des Prophetengefährten nichts weiteres als seine eigene Bemühung sei, die möglicherweise falsch sei.⁹ Dann legt az-Zurqānī ein Gesetz für die Kollision fest. Die beiden kollidierenden Texte könnten seiner Meinung nach definitiv qaṭʿī oder spekulativ ẓanī sowie einer von den beiden definitiv und der andere spekulativ sein. Wenn die beiden Texte zwei unterschiedlichen Kategorien angehören würden, so gäbe es keine Aufhebung. Wenn die beiden definitiv oder spekulativ seien, so werde in diesem Fall von der Aufhebung gesprochen, vorausgesetzt, dass man den vorigen Text vom nachfolgenden durch eine der oben genannten Methoden unterscheide. Dazu neigt man, so az-Zurqānī, wenn man den einen mit dem anderen in Übereinstimmung nicht bringen könnte. In der Tat sei die Beibehaltung der beiden Texte besser als die Anwendung des einen und die Annullierung des anderen. Nur beim Vorliegen eines klaren Beweises sei von der Aufhebung zu sprechen.¹⁰ Aus dem Gesagten geht hervor, dass weder der Koran noch die prophetische Tradition von einer Aufhebung im Koran sprechen. Weiterhin findet die z. B. einem Prophetengefährten über die Aufhebung eines Korantextes durch einen anderen zugeschriebene Aussage keine willkommene Aufnahme bei az-Zurqānī. Er begründet seine Ansicht damit, dass die Aussage eines Prophetengefährten seine eigene Meinung zum Ausdruck bringen kann. Was die zweite Methode zur Kenntnis der Aufhebung anbelangt, möchte ich an dieser Stelle sagen, dass eine Übereinstimmung unter den Gelehrten über die Unterscheidung der früheren Texte von den späteren unvorstellbar ist. Es ist undenkbar, dass Gelehrte eines bestimmten Ortes und eines bestimmten Zeitalters zusammensaßen und sich auf die aufhebenden und aufgehobenen Koranverse einigten.

1.3 Grundlagen für die Argumentation mit der Aufhebung Für die Aufhebung argumentieren die Befürworter mit zwei Koranversen, nämlich dem Koranvers 101 der Sure 16¹¹ und dem Koranvers 106 der Sure 2. Al-ʿAlwānī  Muḥammad ʿAbd al-ʿAẓīm az-Zurqānī: Manāhil al-ʿirfān fī ʿulūm al-Qurʾān, hg.v. Fawwāz Aḥmad Zammarlī, Bd. 2, Beirut: Dār al-kitāb al-ʿarabī, 1995, 163 – 164.  ebd., 164– 165.  Und wenn wir einen Vers anstelle eines anderen eintauschen – und Gott weiß (ja) am besten, was er (als Offenbarung) herabsendet -, sagen sie (d. h. die Ungläubigen): Es ist ja eine (reine)

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erwähnt den Koranvers 101 der Sure 16 als die erste Grundlage für die Aufhebung im Koran. Dieser Koranvers wird von den Befürwortern der Aufhebung im Koran als ein wichtiger Beleg dafür angesehen. Al-ʿAlwānī schließt hier nicht aus, dass das Wort Ᾱya auf den koranischen Vers hindeute, da ein Indiz im Koranvers dafür vorliege. Dieses Indiz lautet: „und Gott weiß (ja) am besten, was er (als Offenbarung) herabsendet.“ ¹² Al-ʿAlwānī betont auch, dass dieser Koranvers zu den wichtigsten Belegen gehöre, mit denen die Befürworter ihre Position gegenüber der Aufhebung im Koran untermauerten. Danach schreibt al-ʿAlwānī, dass er die Argumente der sich für die Aufhebung im Koran aussprechenden Gelehrten hinsichtlich dieses Koranverses in einer ausführlichen Weise diskutieren und einen Ausweg für dieses Problem erklären werde.¹³ Es ist aber bemerkenswert, dass er bis zum Ende seiner Studie über die Aufhebung im Koran diesen Koranvers nicht behandelt. Der zweite Beleg für die Aufhebung ist der Koranvers 106 der Sure 2. AlʿAlwānī bringt Faḫr ad-Dīn ar-Rāzīs Interpretation für diesen Koranvers zur Darstellung. Nach Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī sei die Argumentation mit diesem Koranvers für die Aufhebung schwach. Seiner Auffassung nach werde für die Aufhebung im Koran am besten mit dem Koranvers 101 der Sure 16 und dem Koranvers 39 der Sure 13¹⁴ argumentiert.¹⁵ Nach der vorzuziehenden Meinung aller alten und modernen Koranexegeten sei mit dem Wort Ᾱya im Koranvers das Wunder bzw. das Zeichen der Wahrhaftigkeit des Prophetentums gemeint, wie al-ʿAlwānī schreibt. Seiner Meinung nach gelte der Ablauf der Bevorzugung von den Kindern Israels ebenso als Ᾱya (Zeichen).¹⁶ In Bezug auf die Bedeutung des Koranverses 101 der Sure 16 vertritt Muḥammad al-Ġazālī (gest. 1996) die Ansicht, dass die Polytheisten den Koran als ein Beweis für die Unterstützung des Prophetentums von Muḥammad nicht überzeugend gefunden hätten. Sie hätten vom Propheten Muḥammad etwas Außergewöhnliches verlangt, wie die Gesandten und Propheten vor ihm es getan hätten. Der Koran hätte ihnen als Worte gegolten, die ihrer Ansicht nach von Erfindung von dir (w. Du heckst ja nur (etwas) aus). (Das ist nicht wahr.) Aber die meisten von ihnen (d. h. den Menschen) wissen nicht Bescheid. Paret, Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, 194 (Sure 16, Vers 101).  Paret: Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, 194 (Sure 16, Vers 101).  al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 26.  Und Gott löscht (seinerseits), was er will, aus, oder läßt es bestehen. Bei ihm ist die Urschrift (in der alles verzeichnet ist). Paret, Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, 177– 178 (Sure 13, Vers 39).  al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 27; Muḥammad b. ʿUmar Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: At-tafsīr al-kabīr. Bd. 3, Beirut: Dār iḥjāʾ at-turāṯ al-ʿarabī, 31999, 638 – 639.  ebd., 33.

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Muḥammad selbst gestammt hätten oder die Muḥammad von den mit der Tora und dem Evangelium vertrauten Schriftbesitzern gelernt hätte. Nach al-Ġazālī steht solche Erklärung für diesen Koranvers mit den vorherigen und nächsten Koranversen in Harmonie.¹⁷ Die Aufhebung im Koranvers 106 der Sure 2 geht nach al-Ġazālī nicht auf die Aufhebung eines vorigen Rechtsurteils durch ein nachfolgendes zurück. Es gehe hierbei um die Änderung der Wunderzeichen, die die Religion um deren Einpflanzung in den Seelen der Menschen willen begleiteten. In seinem Kommentar zum Koranvers 106 der Sure 2 zitiert al-Ġazālī die Worte Muḥammad ʿAbdu (gest. 1905). Gemäß der Auffassung des letzten sei die richtige Erklärung für den Koranvers 106, die mit dem Kontext in Einklang stehe, dass das Wort Ᾱya auf die Wunderzeichen hindeute, durch die die Echtheit des Prophetentums zu bestätigen sei.¹⁸ Während das Wort Ᾱya im Koranvers 101 der Sure 16 gemäß alʿAlwānī den koranischen Vers impliziert, besitzt es bei al-Ġazālī eine andere Bedeutung. Es bedeutet das Wunder bzw. das Zeichen der Wahrhaftigkeit des Prophetentums. Das Wort Ᾱya im Koranvers 106 der Sure 2 bedeutet bei al-ʿAlwānī und Muḥammad ʿAbdu die Wunderzeichen. Es ist hier zu beachten, dass die Interpretation alter muslimischer Koranexegeten bei Muḥammad ʿAbdu, al-Ġazālī und al-ʿAlwānī keine Anerkennung finden. Sie bieten neue Interpretationen für die Koranverse 106 der Sure 2 und 101 der Sure 16, die von anderen Gelehrten als Belege für die Aufhebung im Koran eingestuft werden.

1.4 Funktion der Aufhebung In diesem Zusammenhang erörtert al-ʿAlwānī die Funktion der Aufhebung. Wenn die Funktion der Aufhebung in der Beseitigung der im Kopf des Gelehrten stehenden Kollision liege, so handele es sich dabei um eine wichtige Frage, die von Mitteln und Methoden des Gelehrten bezüglich des Umgangs mit dem Text abhänge. Wenn die Mittel und die Methoden nicht in der Lage seien, die Bedeutungen des Textes in ihrem Kontext wahrzunehmen, dann müsse der Gelehrte über seine methodischen Mittel immer wieder nachdenken. Das Problem sei in erster Linie nicht auf den Text selbst zurückzugehen, sondern auf den Gelehrten, der die Texte nicht gut begreifen könne.¹⁹ Nach al-ʿAlwānī steht das Prinzip der

 Muḥammad al-Ġazālī: Naẓarāt fī l-Qurʾān. Kairo: Nahḍat maṣr li-ṭ-ṭibāʿa wa-n-našr wa-ttauzīʿ, 62005, 202.  ebd., 204.  al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 37.

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Aufhebung zu den folgenden Charakteristika des Koransischen Diskurses im Widerspruch: a) Die strukturelle Einheit des Textes. Der Koran gelte als ein einziges Wort bzw. ein einziger Satz. Diese strukturelle Einheit des Korans mache die Vorstellung eines Widerspruchs zwischen den Koranversen unmöglich. Diese Einheit ließe die Annahme der These von der Aufhebung im Koran nicht zu. b) Die Zusammenstellung zwischen den beiden Lesarten. Der Koran sei aus zwei Perspektiven zu lesen. Gelesen werde der Koran einerseits als ein Wort des Schöpfers und andererseits als ein Buch des Weltalls und der menschlichen Erfahrungen.²⁰ Mit anderen Worten kann man sagen, dass der Koran zwei Lektüren besitzt. Es handele sich bei der ersten Lektüre um die Betrachtung des Korans als eine auf den Propheten Muḥammad herabgesandte Schrift. Das Weltall und die Erfahrungen der vorigen Gemeinschaften würden in der zweiten Lektüre wahrgenommen.²¹ Wenn wir davon ausgehen, dass der koranische Diskurs für jede Zeit offen sei, fänden wir uns nicht gezwungen, von der Aufhebung oder der Kenntnis der Offenbarungszeit zu reden.²² Die Behauptung der Aufhebung im Koran sei nicht nur darauf zurückzuführen, dass die Gelehrten in den koranischen Texten Widersprüche oder Gegenteile gesehen hätten, sondern auf die Überlieferungen, mit denen sich die Gelehrten lange Zeit beschäftigt hätten und die später zu notwendigen Wahrheiten geworden wären. Neben der Aufnahme der Überlieferungen über die Aufhebung einiger Koranverse gäbe es die folgenden Gründe für die Behauptung der Aufhebung: I. Das Nicht-Beachten der strukturellen Einheit des Korans II. Die Unklarheit der genauen Bedeutung der Aufhebung III. Die alten Gelehrten hätten die Aufhebung für eine Art der Übertragung gehalten. Der Text, der den Übergang von einem Fall zu einem anderen aufweise, werde von den Gelehrten für aufhebend erklärt. Diese Aufhebung hätte sich nichts weiteres als Spezifizierung eines Allgemeinen, Einschränkung eines Absoluten oder Erklärung eines Gesamten verstanden. Die späteren Gelehrten hätten aber andere Bedeutungen für die Aufhebung hinzugefügt, sodass diese dazu geführt hätten, dass die Aufhebung sich in eine These gewandelt hätte.

 ebd., 39.  Ṭaha Ǧābir al-ʿAlwānī: Al- ğamʿ bayna al-qirāʾtayn, qirāʾat al-waḥy wa-qirāʾat al-kawn. Kairo: Maktabat aš-Šurūq ad-dawlīya, 2006, 19.  al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 40.

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IV. Man glaube, dass der Koran mit dem Milieu dessen Entstehung und den Angesprochenen verbunden sei. Die Gelehrten hätten die Zeit des Korans als die der Entsendung beschrieben. Gefordert sei aber die Allgemeinheit des Verstehens, wie es bei der ersten Generation der Fall gewesen sei.²³ Während die Aufhebung von al-ʿAlwānī für eine fehlerhafte Erscheinung gehalten wird und somit ein Problem darstellt, setzt sie sich bei muslimischen Gelehrten wie as-Suyūṭī ein wichtiges Ziel. Nach ihm ist die Kenntnis der abrogierenden und abrogierten Koranverse sehr wichtig für die Auslegung des Korans. Die Aufhebung gelte ebenso als eine Art der Erleichterung.²⁴

1.5 Varianten der Aufhebung im Koran Die muslimischen Gelehrten reden von drei Formen der Aufhebung: a. Aufhebung des Rechtsurteils ohne die Aufhebung des Koranverses b. Aufhebung des Rechtsurteils zusammen mit der Aufhebung des Koranverses c. Aufhebung des Koranverses ohne die Aufhebung des Rechtsurteils. Was die erste Variante der Aufhebung im Koran betrifft, stellt sich die Frage, ob der Koran oder die prophetische Tradition Texte besitzen, die besagen: Dieses Rechtsurteil hebt jenes Rechtsurteil auf. Weder im Koran noch in der ununterbrochenen prophetischen Tradition stehe ein Text, der lautet: Dieses Rechtsurteil abrogiere dieses Rechtsurteil. Die Gelehrten hätten gefunden, dass einige Koranverse entweder mit anderen Koranversen oder mit einigen Ḥadīṯen scheinbar widersprüchlich erscheinen. Sie hätten die beiden scheinbar widersprüchlichen Texte miteinander nicht in Übereinstimmung bringen können oder hätten das auf gar keinen Fall versucht. Sie hätten gesagt: Es seien Beweise, die auf die Aufhebung einiger und das Bleiben anderer hindeuten würden. Richtiger könne man sagen: Es drehe sich hierbei um die Aufhebung des früheren durch die späteren, wenn man eine Ahnung von der Datierung der beiden scheinbar kollidierenden Texte hätte. Im Koranvers selbst, den man als abrogierend bezeichne, gäbe es kein Indiz, dem zufolge dieser Koranvers einen anderen an einer anderen Stelle aufhebe.²⁵

 ebd.,48 – 49.  As-Suyūṭī, Ǧalāl ad-Dīn ʿAbd ar-Raḥmān: Al-itqān fī ʿulūm al-Qurʾān, hg.v. Markaz ad-dirāsāt al-Qurʾānīya. Medina, 2005, 1435 – 1436.  Nada, Muḥammad Maḥmūd: An-nasḫ fī l-Qurʾān bayn al-muʾyīdīn wal-muʿāriḍīīn. Kairo: Maktabat ad-Dār al-ʿarabīya lil-kitāb, 1996, 67.

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As-Suyūṭī liefert von Ibn al-Ḥaṣṣār Folgendes: Bei der Aufhebung ist auf eine deutliche Aussage des Propheten Muḥammad oder eines Prophetengefährten zurückzuführen. Es wird von der Aufhebung berichtet, wenn ein klarer Widerspruch besteht und die zeitliche Bestimmung bekannt ist. Denn durch die Kenntnis der Datierung kann man den vorigen und den nachfolgenden Text identifizieren. Bei der Aufhebung stützt man sich weder auf die Aussagen der Koranexegeten noch auf die bloße Bemühung der Rechtsgelehrten, ohne dass eine zuverlässige Überlieferung und ein klarer Widerspruch vorliegen. Das liegt daran, dass die Aufhebung die Annullierung eines zur Zeit des Propheten bestehenden Rechtsurteils und die Bestätigung bzw. das Inkrafttreten eines anderen Rechtsurteils ausdrückt. Man beruht dabei sowohl auf der Überlieferung als auch auf der Geschichte. Die bloße Meinung eines Gelehrten findet in diesem Zusammenhang keine Aufnahme.²⁶ Nach Muḥammad Maḥmūd Nada genügt nicht die Echtheit der Überlieferung. Man müsse sich darüber im Klaren sein, dass die Überlieferung ganz zuverlässig sei. Das fände sich nur in den ununterbrochenen Überlieferungen.²⁷ Die Worte Nadas scheinen darauf zu deuten, dass die Aufhebung schwer zu erlangen ist, da ununterbrochene Überlieferungen über die Aufhebung einiger Texte durch andere nicht vorliegen. Was die erste Form der Aufhebung, d. h. Aufhebung des Rechtsurteils ohne die Aufhebung des Koranverses, betrifft, stellt al-ʿAlwānī die folgende Frage: Warum seien die Koranverse geblieben, die nach der Auffassung der Befürworter der Aufhebung im Koran aufgehoben seien, solange diese ihre gesetzgeberische Funktion verloren hätten und sie nur als sinnlose Wörter übrigblieben seien.²⁸ Einige Gelehrte sind der Ansicht, dass das Bleiben der aufgehobenen Koranverse neben den aufhebenden Koranversen notwendig sei, da das aufgehobene Rechtsurteil noch mal in die Tat umgesetzt werden könnte.²⁹ Bezüglich der Frage der Aufhebung im Koran stellt al-Ġazālī auch folgende Fragen: Gibt es im Koran Koranverse, deren Rechtsurteile keine Funktion haben? Bleiben solche Koranverse nur für die Erinnerung und die Geschichte? Rezitiert man sie nur für die Belohnung und sieht man sie an, genauso wie man Antiquitäten ansieht? Wahrt man sie im Koran zwecks der Bestätigung der vergangenen Rolle auf? Spielen solche Koranverse keine Rolle sowohl in der Gegenwart als auch in der Zukunft?³⁰

    

As-Suyūṭī: Al-itqān fī ʿulūm al-Qurʾān, Band 4, 1454. Nada: An-nasḫ fī l-Qurʾān bayn al-muʾyīdīn wal-muʿāriḍīīn, 68. al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 54. ebd., 54. al-Ġazālī: Naẓarāt fī l-Qurʾān, 194.

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Die Annullierung eines früheren Textes durch einen späteren sei von der Erfüllung zweier Bedingungen abhängig: 1. Der spätere besage, dass er den früheren abrogiere. 2. Eine Kollision zwischen zwei Texten müsse vorliegen. Darüber hinaus könne man die beiden nicht in Übereinstimmung bringen. Hier wirft alĠazālī die folgende Frage auf: Haben die Korantexte etwas davon?³¹ Als Beispiel für die Aufhebung des Rechtsurteils zusammen mit der Aufhebung des Koranverses zitierten die Gelehrten u. a. eine Überlieferung bei Ṣaḥiḥ Muslim, nach der zehnmaliges Stillen die spätere Ehe verboten mache. Dies sei aufgehoben und durch fünfmaliges Stillen ersetzt worden. Gemäß dieser Überlieferung starb der Gesandte Gottes und war es im Koran.³² Gemäß der Überlieferung sollten Koranverse über das zehnmalige Stillen vorliegen. Dann wären diese mit zehnmaligem Stillen durch andere mit fünfmaligem Stillen aufgehoben worden. In diesem Zusammenhang stellen sich die folgenden Fragen: Wie wurden diese Koranverse nach dem Tode des Propheten Muḥammad aufgehoben? Wer hatte sie aufgehoben? Der Glaube an eine Überlieferung wie solche zieht die Prophetengefährten, die mit der Sammlung und Niederschrift des Korans zur Amtszeit des ersten Kalifen Abū Bakr und dann zur Amtszeit des dritten Kalifen ʿUṯmāns beauftragt wurden, in Zweifel. Nach Abū Bakr al-Bāqillānī (gest. 1013) gehen alle Berichte über die Aufhebung des Textes zusammen mit dem Rechtsurteil auf Aḥād-Überlieferungen zurück, mit denen man für die Aufhebung nicht argumentieren könne. Die Herabsendung oder die Aufhebung eines Teiles aus dem Koran sei nicht durch Aḥād-Überlieferungen nachzuweisen.³³ Für die Bestätigung solcher Art von Abrogation müssten ununterbrochene Überlieferungen vorliegen, die mit voller Sicherheit das Abrogierte für einen koranischen Text erklären sollten. Es müsse auch durch ununterbrochene Überlieferungen einen Beweis geben, der auf die Aufhebung hindeute.³⁴ Zweifelsohne stehe die Überlieferung über das zehnmalige und fünfmalige Stillen im Ṣaḥiḥ Muslim. In der Überlieferung bestehe trotzdem kein Hinweis darauf, dass es sich dabei um einen koranischen Text handele, der zusammen mit dem von ihm entnommenen Rechtsurteil aufgehoben worden sei.³⁵ Ein Beispiel für die dritte Variante der Aufhebung im Koran wird an einer anderen Stelle der Studie ausführlich deutlich gemacht.

 ebd., 209.  Abū l-Ḥassan al-Qušairī an-Naysābūrī, Muslim b. al-Ḥaǧǧāǧ: Ṣaḥiḥ Muslim, hg.v. Fuʾād ʿAbd al-Baqī., Beirut: Dār iḥyāʾ at-turāṯ, 1955, 1075. Nr. 1452.  Abū Bakr Muḥammad b. aṭ-Ṭaiyib al-Bāqillānī:; Al-intiṣār li-l-qurʾān, hg.v. Muḥammad ʿIsām al-Quḍāh. Beirut: Dār Ibn Ḥazm, 2001, 114.  Nada: An-nasḫ fī l-Qurʾān bayn al-muʾyīdīn wal-muʿāriḍīīn, 54.  ebd., 54.

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2 Al-ʿAlwānīs Verstehen für Aš-šāfiʿīs Position gegenüber der Aufhebung im Koran Die dargestellten Varianten der Aufhebung im Koran führen zu den folgenden Problemen: Beim ersten Problem gehe es um die Aufhebung des Korans durch die Sunna. Aš-Šāfiʿī spricht in seiner Abhandlung Ar-risāla über die Aufhebung des Korans durch die Sunna. Seiner Meinung nach wird die Sunna durch die Sunna aufgehoben. Die Sunna werde durch den Koran aufgehoben, wenn es eine andere Sunna gäbe, die aufzeige, dass die erste Sunna die zweite abrogiere. Al-ʿAlwānī vertritt die Ansicht, dass aš-Šāfiʿī durch seine Darstellung die Aufhebung im Koran ganz und gar ablehnt. Alle Koranverse, die nach der Meinung einiger Gelehrte aufgehoben seien, könnten auf eine andere Art und Weise verstanden werden. Jegliche Kollision, die man möglicherweise zwischen einigen Koranversen merke, stehe nie im Koran. Nach al-ʿAlwānī hätte aš-Šāfiʿī sagen wollen, dass die Aufhebung eines Koranverses nur möglich sei, wenn ein ähnlicher Koranvers darauf hinweise, dass er zwecks der Aufhebung des anderen Koranverses offenbart worden sei. Dies fände sich gar nicht im Koran.³⁶ An einer anderen Stelle seiner Studie über die Aufhebung betont al-ʿAlwānī seine Position, die von der Haltung aš-Šāfiʿīs gegenüber der Aufhebung im Koran handelt. Er geht davon aus, dass aš-Šāfiʿī die Aufhebung zurückwies als Reaktion auf diejenigen Gelehrten, die sich für die Aufhebung des Korans durch die Sunna und umgekehrt aussprächen.³⁷ Wenn man aber aš-Šāfiʿī liest, findet man, dass aš-Šāfiʿī darauf bedacht ist, zu sagen, dass die Sunna nur durch die Sunna und der Koran durch den Koran abrogiert wird.³⁸ Die Aufhebung im Koran weist er aber nicht zurück. Dies bestätigt as-Suyūṭī in seiner Rede über die Meinungsverschiedenheiten der Gelehrten über die Aufhebung des Korans durch die Sunna und umgekehrt. Es wurde gesagt: der Koran werde nur durch den Koran aufgehoben, da Gott sagt: „Wenn wir einen Vers (aus dem Wortlaut der Offenbarung) tilgen oder in Vergessenheit geraten lassen, bringen wir (dafür) einen besseren oder einen, der ihm gleich ist.“³⁹ Es wurde auch gesagt: die Sunna könne den Koran abrogieren, da der Koran und die Sunna göttliche Offenbarungen seien. Eine dritte Meinung lautet, die Sunna abrogiere den Koran, wenn sie göttliche Offenbarung sei. Wenn die Sunna    

al-ʿAlwānī: naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 65. ebd., 73. Muḥammad b. Idrīs aš-Šāfiʿī: Ar-risāla, hg.v. Aḥmad Muḥammad Šākir. Kairo: 1940, 110. Paret: Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, 21, (Sure 2, Vers 106).

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rein bloße Meinung des Propheten sei, dann könne sie den Koran nicht aufheben. Anschließend stellt as-Suyūṭī die oben genannte Aussage von aš-Šāfiʿī dar.⁴⁰ Über die Aufhebung des Korans durch die Sunna bestehen nach az-Zarkašī unterschiedliche Meinungen. Ibn ʿAtiya sagte: Die scharfsinnigen Gelehrten aus der Gemeinschaft erlauben sie (die Aufhebung des Korans durch die Sunna), da dies in der folgenden Aussage des Propheten schon enthalten ist: (Kein Vermächtnis für einen Erben). Aš-Šāfiʿī verweigerte dies, d. h. die Aufhebung des Korans durch die Sunna. Man argumentiere gegen ihn, da er die Strafe des Auspeitschens durch die Steinigung für die Verheirateten ersetzt hätte. Dieser Ersatz entstammte dem Handeln des Propheten. Aš-Šāfiʿī hätte sagen wollen: Wenn der Koran und die Sunna widersprüchlich erscheinen würden, dann müsse jedes von den beiden das Ähnliche haben, das es abrogiere. Dies gelte als eine Art der Verherrlichung sowie der Erklärung der Übereinstimmung und Harmonisierung von beiden Aspekten. Jeder, der diese Problematik bei aš-Šāfiʿī behandelt hätte, hätte seine Absicht nicht verstanden.⁴¹ Es handele sich beim zweiten Problem um die Annahme aller mit den aufhebenden und aufgehobenen Koranversen zusammenhängenden Überlieferungen ohne jegliche kritische Überprüfung.⁴² Zur Bewahrung schwacher Überlieferungen würden die Gelehrten die Unversehrtheit des Korans in Frage stellen.Wenn die Gelehrten die Aufhebung verstanden hätten, wie die früheren sie verstanden hatten, so hätte es kein Problem gegeben. Der Aufhebung sei eine hohe Autorität eingeräumt worden, die das Außerkraftsetzen des Textes bezüglich des Textes und des Rechtsurteils, des Textes allein oder des Rechtsurteils allein umfassen sollte.⁴³ Die Gelehrten hätten in der Aufhebung ein Mittel zur Befreiung von den zwischen den Texten vermuteten Kollisionen im Bereich der Sunna gesehen, wo Aufhebung zweifellos zu finden sei. Der Prophet hätte in einer Lebenswirklichkeit gelebt, die ihre eigenen Eigenschaften und ihre Art und Weise hinsichtlich der Reaktion auf den Text und des Umgangs mit ihm besessen hätte. In der prophetischen Tradition befände sich, was als Aufhebung aus sprachlicher Hinsicht bezeichnet werden könnte.⁴⁴ Daraus ergibt sich, dass al-ʿAlwānī die Aufhebung im Koran ablehnt und sie im Bereich der prophetischen Tradition akzeptiert.

 as-Suyūṭī Band 4, 1436 – 1437; Badr ad-Dīn az-Zarkašī: Al-burhān fī ʿulūm al-Qurʾān, hg.v. Muḥammad Abū l-Faḍl Ibrāhīm, Band 2. Kairo: Dār at-turāṯ, 1957, 30 – 31.  az-Zarkašī: Al-burhān fī ʿulūm al-Qurʾān, Band 2, 32.  al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 66.  ebd., 68.  ebd., 72– 73.

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2.1 Al-ʿAlwānīs Verstehen für einige scheinbar abrogierte Koranverse a.Und wenn welche von euch abberufen werden und Gattinnen hinterlassen, (so gelte) als Verordnung (von seiten Gottes) zugunsten ihrer Gattinnen, (diese) mit einer Ausstattung zu versehen, bis ein Jahr um ist, ohne (sie während dieser Zeit aus der Wohnung) auszuweisen. Wenn sie aber (von sich aus vor Ablauf des Jahres) ausziehen, ist es für euch (d. h. die Erben oder den Vormund) keine Sünde, wenn sie ihrerseits (zum Zweck ihrer Wiederverheiratung?) etwas unternehmen, was sich geziemt. Gott ist gewaltig und weise.“ ⁴⁵ Nach der Meinung einiger Gelehrter sei dieser Koranvers durch den folgenden Koranvers aufgehoben: „Und wenn welche von euch abberufen werden und Gattinnen hinterlassen, so sollen diese ihrerseits vier Monate und zehn (Tage) zuwarten. Wenn sie dann ihren Termin (d. h. das Ende der Wartezeit) erreichen, ist es keine Sünde für euch, wenn sie von sich aus in rechtlicher Weise etwas (zum Zweck ihrer Wiederverheiratung?) unternehmen. Gott ist wohl darüber unterrichtet, was ihr tut.⁴⁶

Gemäß der Ansicht derjenigen, die sich für die Aufhebung im Koran aussprechen, thematisiern die beiden Koranverse die Wartefrist der Witwe vor der Wiederverheiratung. Al-ʿAlwānī vertritt aber die Auffassung, dass die beiden Koranverse zwei unterschiedliche Themen diskutieren. Der erste Koranvers 240 der Sure 2 rede von der Frist, die die Frau zwecks der Neuordnung ihres materiellen und immateriellen Lebens nach dem Tode des Ehemannes bräuchte. Der zweite Koranvers 234 der Sure 2 beziehe sich auf die Warteperiode der Witwe nach dem Tode ihres Ehemannes.⁴⁷ Wenn man die in den beiden Koranversen erwähnte Anweisung liest, findet man nach Nada keine Kollision dazwischen. Der erste Koranvers spräche von Wohn- und Unterhaltsrecht für einen Zeitraum von einem Jahr, wenn die Frau nicht ausziehe. Wenn die Frau ausziehen oder heiraten wolle, dann verbiete ihr der zweite Koranvers auszuziehen oder zu heiraten, bevor vier Monate und zehn Tage vergehen würden.⁴⁸ Wenn der erste Koranvers der verwitweten Frau das Recht auf das Ausziehen und die Heirat jederzeit gäbe, schränke der zweite Koranvers dieses Recht ein.Vor dem Ablauf der Wartefrist von vier Monaten und zehn Tagen dürfe die Frau dieses Recht nicht ausüben. Würde die Frau diesen Zeitraum abwarten, würde man ihr das Wohn- und Unterhaltsrecht für ein ganzes Jahr gewähren, sofern sie nicht

   

Paret: Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, 36 – 37 (Sure 2, Vers 240). ebd., 36 (Sure 2, Vers 234). al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 75 – 76. Nada: An-nasḫ fī l-Qurʾān bayn al-muʾyīdīn wal-muʿāriḍīīn, 100.

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ausziehen oder heiraten würde. Die beiden Koranverse würden zur Einschränkung der Absoluten (taqyīd al-muṭlaq) gehören.⁴⁹ Diese beiden Auffassungen für die beiden dargelegten Koranverse bestätigen die These, dass die scheinbar kollidierenden Koranverse nicht allein im Rahmen der Aufhebung zu verstehen sind. Ein darüber hinausgehendes Verstehen für solche Koranverse scheint möglich zu sein. b. Und wenn welche von euren Frauen etwas Abscheuliches begehen, so verlangt, daß vier von euch (Männern) gegen sie zeugen! Wenn sie (tatsächlich) zeugen, dann haltet sie im Haus fest, bis der Tod sie abberuft oder Gott ihnen eine Möglichkeit schafft (ins normale Leben zurückzukehren)! Und wenn zwei von euch (Männern) es begehen, dann züchtigt (?) sie (w. tut ihnen Ungemach an)! Wenn sie (daraufhin) umkehren und sich bessern, so wendet euch von ihnen ab (und setzt ihnen nicht weiter zu)! Gott ist gnädig und barmherzig.⁵⁰

Die meisten Koranexegeten sind der Auffassung, dass die beiden Koranverse abrogiert seien. Sie seien aber unterschiedlicher Meinung über die Art und Weise der Aufhebung. Einige hätten gesagt: aufgehoben worden seien der erste Koranvers durch den zweiten und der zweite Koranvers durch den Koranvers 2 der Sure an-Nūr und durch den von ʿUbada b. aṣ-Ṣāmit⁵¹ überlieferten Ḥadīṯ, dem zufolge die Strafe des Festhaltens im Haus durch die Züchtigung und die Züchtigung durch den Koranvers 2 der Sure an-Nūr für die Nichtverheirateten und durch die Steinigung für die Verheirateten gewesen sei. Eine weitere Gruppe von Gelehrten sei der Ansicht, dass der zweite Koranvers durch den ersten aufgehoben worden sei. Gemäß der Meinung dieser Gruppe sei die Strafe die Züchtigung gewesen, die durch das Festhalten im Haus aufgehoben worden sei. Dann sei das Festhalten im Haus durch das Auspeitschen mit 100 Hieben und die Steinigung abrogiert worden. Eine dritte Gruppe vertritt die Position, dass die beiden Koranverse zusammen offenbart und durch den Koranvers 2 der Sure an-Nūr und den von ʿUbada b. aṣ-Ṣāmit überlieferten Ḥadīṯ aufgehoben worden seien.⁵² Die Rede von

 ebd., 100.  Paret: Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, 61– 62 (Sure 4, Verse 15 – 16).  ʿUbada b. Aṣ-Ṣāmit berichtete, dass der Gesandte Gotts sagte: kommt und hört meine Belehrung, kommt und hört meine Belehrung, Gott hat das Vorgehen gegen diese Frauen festgelegt: Wenn ein nicht verheirateter Mann Unzucht mit einer nicht verheirateten Frau treibt, dann soll jeder einhundert Peitschenhiebe erhalten und ein Jahr verbannt werden. Und falls ein verheirateter Mann mit einer verheirateten Frau Unzucht treibt, dann sollen sie einhundert Peitschenhiebe erhalten und danach zu Tode gesteinigt werden. Vgl. Abū l-Ḥassan al-Qušairī anNaysābūrī: Ṣaḥiḥ Muslim, Bd. 3, 1316. Nr. 1690.  al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 77.

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Aufhebung würfe viele Probleme auf, zu denen die Abrogation des Korans durch die sinngemäß überlieferten einzelnen Ḥadīṯe gehöre.⁵³ Sich beziehend auf die von Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī in seiner Koranexegese über Abū Muslim al-Aṣfahānī zitierte Aussage⁵⁴ findet al-ʿAlwānī in den beiden Koranversen keine Aufhebung. Während die Rede im ersten von der Strafe der homosexuellen Frauen sei, beziehe sich der zweite auf die Strafe der homosexuellen Männer. Der Koranvers 2 der Sure an-Nūr 24 stelle aber die Strafe des Ehebrechers und der Ehebrecherin dar.⁵⁵ In seinem Werk Al-islām ʿaqīda wa šarīʿa zitiert Maḥmūd Šaltūt ebenso Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, der die Worte von Abū Muslim Al-Aṣfahānī überliefert. Wie oben gesagt wurde, sieht al-Aṣfahānī im Koran keine Aufhebung.⁵⁶ Die Aufhebung der im Koranves 2 der Sure an-Nūr 24 erwähnten gesetzlichen Regelung, d. h. des Auspeitschens mit 100 Hieben, durch eine andere gesetzliche Regelung, d. h. des Steinigens für den verheirateten Ehebrecher und die verheiratete Ehebrecherin, ist nach al-ʿAlwānī zurückzuweisen. Denn diese letzte Regelung entnähme einem auf ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb zurückgehenden Ḥadīṯ, nach dem ein Koranvers über die Steinigung im Koran enthalten gewesen sei. Dieser fehlende Koranvers besage: „Wenn ein verheirateter Mann und eine verheiratete Frau Unzucht treiben, so steinigt sie auf jeden Fall.“⁵⁷ Die Befürworter der Aufhebung im Koran gingen davon aus, dass dieser Koranvers aufgehoben worden sei, aber die aus diesem Koranvers entstammte Regelung noch vorhanden sei. Im Rahmen seiner Darstellung bezweifelt al-ʿAlwānī diesen von ʿUmar stammenden Bericht aus den folgenden Gründen: Dieser Bericht gehe durch Saʿīd b. al-Musayyib auf ʿUmar zurück. Es sei auf keinen Fall vorstellbar, dass Saʿīd b. al-Musayyib diesen Bericht von ʿUmar gehört hätte, da Saʿīd ein Jahr vor dem Tode ʿUmars geboren worden sei. Dementsprechend enthalte dieser Bericht eine unklare Lücke. Es sei nicht auszuschließen, dass dieser Bericht ein Teil der Tora sei. Dass dieser Bericht ein Koranvers gewesen sei, werde aber im Großen und Ganzen abgelehnt. Darüber hinaus sei es unmöglich, dass dieser Bericht von einem der besten, der Arabisch gesprochen hätte, stamme, da dieser mit aš-Šaiḫ waš-Šaiḫa beginne. Weder im Arabischen noch in den mit der islamischen Jurisprudenz

 ebd., 77.  Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: At-tafsīr al-kabīr, Bd. 9, 528.  al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 78.  Maḥmūd Šaltūt: Al-islām ʿaqīda wa šarīʿa. Kairo: Dār aš-šurūq, 182001, 282.  Mālik Ibn Anas Al-Aṣbuḥī: Muwaṭṭaʾ al-imām Mālik, hg.v. Muḥammad Fuʾād ʿAbd al-Bāqī. Beirut: Dār iḥjāʾ at-turāṯ al-ʿarabī, 1985, 824.

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zusammenhängenden Fachbegriffen sei mit aš-Šaiḫuḫa die Verheiratung gemeint.⁵⁸ In seinem Kommentar zum Koranvers 2 der Sure 24 vertritt Muḥammad Abū Zahra (gest. 1974) die Auffassung, dass der Koran keine Aufhebung enthält. Die im Koranvers 16 der Sure 4 angeführte Züchtigung sei seines Erachtens allgemein. Sie werde durch den Koranvers 2 der Sure 24 klargestellt.Was die Steinigungssanktion für unrechtmäßige geschlechtliche Beziehungen bei Verheirateten anbelangt, liefert Abū Zahra eine Überlieferung, der zufolge einige Nachfolger die Prophetengefährten gefragt hätte, ob der Prophet Muḥammad Māʿiz und al-Ġāmdīya nach oder vor der Herabsendung des Koranverses 2 der Sure 24 steinigen ließe. Der Gefragte hätte geantwortet: Ich weiß nicht, vielleicht war die Steinigung vor der Herabsendung. Nach Abū Zahra ist das Rechtsurteil im Koranvers 2 der Sure 24 allgemein. Es beziehe sich sowohl auf die Verheirateten als auch auf die NichtVerheirateten. Dann stellt Abū Zahra den Koranvers 25 der Sure 4 dar und kommt durch die Analyse dieses folgenden Teils aus diesem Koranvers: „Und wenn sie (durch die Eheschließung) ehrbare Frauen geworden sind und dann etwas Abscheuliches begehen, kommt ihnen die Hälfte der Strafe zu, die (in einem solchen Fall) für die (freigeborenen) ehrbaren Frauen vorgesehen ist“ ⁵⁹ zum Ergebnis, dass die Verheirateten nicht gesteinigt werden. Der Grund dafür bestehe darin, dass die Steinigung keine Halbierung kenne. Die Wahrscheinlichkeit, nach der die Steinigungssanktion durch den Koranvers 2 der Sure 24 aufgehoben werde, basiere auf einem Beweis. Es handele sich dabei nicht um die Aufhebung eines Teils aus dem Koran, sondern um die Aufhebung einer prophetischen Tradition. Denn die Steinigungssanktion fände sich nur in der prophetischen Tradition.⁶⁰ Aus der Darstellung dieses Gegenstandes geht hervor, dass die Koranverse 15 und 16 der Sure 4 sowie der Koranvers 2 der Sure 24 auf verschiedenerlei Art und Weise verstanden werden können. Während einige Gelehrte wie Šaltūt und alʿAlwānī zur Abū Muslim al-Aṣfahānīs Meinung neigen, der zufolge die drei Koranverse drei verschiedene Themen thematisieren, sieht Abū Zahra in der im Koranvers 16 der Sure 4 erwähnten Züchtigung eine allgemeine Strafe, die durch die Strafe der Geißelung im Koranvers 2 der Sure 24 deutlich gemacht wird. Der Koranvers 2 der Sure 24 setzt die Strafe der Geißelung fest, ohne zu sagen, dass diese Strafe nur allein an die Nicht-Verheirateten gerichtet ist. Mit anderen Worten kann man sagen, dass das von diesem Koranvers abgeleitete Rechtsurteil nicht auf eine bestimmte Gruppe eingeschränkt ist.  al-ʿAlwānī: Naḥwa mawqif Qurʾānī min an-nasḫ, 80 – 81.  Paret: Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, 63 (Sure 4, Vers 25).  Muḥammad b. Aḥmad b. Muṣṭafa Abū Zahra: Zahrat at-tafāsīr, Bd. 10, Dār al-fikr al-ʿarabī, o. J., 5140 – 5143.

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Neben den oben erwähnten Gründen, aus denen al-ʿAlwānī den göttlichen Ursprung eines Koranverses über die Steinigung ablehnt, kann man auch hinzufügen, dass dieser behauptete Koranvers auf gar keinen Fall zum Koran gehören kann. Auf der einen Seite steht er mit dem Charakter des Korans im Widerspruch. Auf der anderen Seite kommen Wörter wie aš-Šaiḫ waš-Šaiḫa niemals im Koran vor.

Fazit Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wurde die ablehnende Haltung von al-ʿAlwānī gegenüber der Aufhebung im Koran ausführlich dargelegt. An verschiedenen Stellen seiner Studie über die Aufhebung betont al-ʿAlwānī, dass die Aufhebung von Gelehrten nur zur Lösung der scheinbar widersprüchlichen Korantexte erfunden wurde. Seiner Meinung nach beinhalten die Korantexte keinen Widerspruch. Die Behauptung von der Aufhebung eines Textes durch einen anderen ist in erster Linie auf den Gelehrten zurückzuführen, der in den Texten Widersprüche sieht. Um seine Einstellung zur Aufhebung zu bekräftigen, zitiert al-ʿAlwānī eine Aussage von aš-Šāfiʿī, der zufolge der Koran durch den Koran und die Sunna durch die Sunna abrogiert werden. Al-ʿAlwānī zieht daraus den Schluss, dass ašŠāfiʿī die Aufhebung im Koran zurückweist. Durch die Behandlung dieser Aussage bei aš-Šāfiʿī lässt sich aber schlussfolgern, dass al-ʿAlwānī diese Aussage von ašŠāfiʿī falsch versteht. Aš-Šāfiʿī lehnt die Aufhebung im Koran nicht ab. In seiner Analyse zu einigen scheinbar abrogierten Koranversen bietet alʿAlwānī gelegentlich neue Interpretationen und stützt sich manchmal auf alte Interpretationen. Auf Basis der Darstellung der scheinbar abrogierten Koranverse lässt sich festhalten, dass ein weiteres von der Idee der Aufhebung unabhängiges Verstehen möglich ist. Aus der Darstellung der Thematik ergibt sich auch, dass Gelehrte vor alʿAlwānī die Aufhebung im Koran ablehnen. Zu ihnen gehören u. a. Muḥammad ʿAbdu, al-Ġazālī, Abū Zahra und Šaltūt. Die Behandlung der Frage der Aufhebung bei al-ʿAlwānī verdeutlicht, dass moderne Denker eine kritisch-rationale Haltung zur Tradition einnehmen. Die wissenschaftliche Analyse und Darlegung der für lange Zeit als richtig geltenden Auffassungen alter muslimischer Gelehrter stellen derzeit kein Tabu dar.

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Literatur Abū l-Ḥassan al-Qušairī an-Naysābūrī, Muslim b. al-Ḥaǧǧāǧ: Ṣaḥiḥ Muslim, hg. v. Fuʾād ʿAbd al-Baqī., Beirut: Dār iḥyāʾ at-turāṯ, 1955. Abū Zahra, Muḥammad b. Aḥmad b. Muṣṭafa: Zahrat at-tafāsīr. Dār al-fikr al-ʿarabī, o. O., o. J. Al-ʿAlwānī, Ṭāhā Ǧābir: Naḥwa mawqif qurānī min an-nasḫ. Silsilat dirāsāt qurānīya, 2006. Al-ʿAlwānī, Ṭāhā Ǧābir: Al- ğamʿ bayna al-qirāʾtayn, qirāʾat al-waḥy wa-qirāʾat al-kawn. Kairo: Maktabat aš-Šurūq ad-dawlīya, 2006. Al-Aṣbuḥī, Mālik Ibn Anas: Muwaṭṭaʾ al-imām Mālik, hg. v. Muḥammad Fuʾād ʿAbd al-Bāqī. Beirut: Dār iḥjāʾ at-turāṯ al-ʿarabī, 1985. Al-Bāqillānī, Abū Bakr Muḥammad b. aṭ-Ṭaiyib: Al-intiṣār li-l-qurʾān, hg. v. Muḥammad ʿIsām al-Quḍāh. Beirut: Dār Ibn Ḥazm, 2001. Al-Ġazālī, Muḥammad: Naẓarāt fī l-Qurān. Kairo: nahḍat maṣr li-ṭ-ṭibāʿa wa-n-našr wa-t-tauzīʿ, 2005. As-Suyūṭī, Ǧalāl ad-Dīn ʿAbd ar-Raḥmān: Al-itqān fī ʿulūm al-Qurʾān, hg. v. Markaz ad-dirāsāt al-Qurʾānīya. Medina, 2005. Aš-šāfiʿī, Muḥammad b. Idrīs: Ar-risāla, hg. v. Aḥmad Muḥammad Šākir. Kairo, 1940. Az-Zarkašī, Badr ad-Dīn: Al-burhān fī ʿulūm al-Qurʾān, hg. v. Muḥammad Abū l-Faḍl Ibrāhīm. Kairo: Dār at-turāṯ, 1957. Az-Zurqānī, Muḥammad ʿAbd al-ʿAẓīm: Manāhil al-ʿirfān fī ʿulūm al-Qurʾān, hg. v. Fawwāz Aḥmad Zammarlī. Beirut: Dār al-kitāb al-ʿarabī, 1995. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī, Muḥammad b. ʿUmar: At-tafsīr al-kabīr. Beirut: Dār iḥjāʾ at-turāṯ al-ʿarabī, 1999. Nada, Muḥammad Maḥmūd: An-nasḫ fī l-Qurʾān bayn al-muʾyīdīn wal-muʿāriḍīīn. Kairo: Maktabat ad-Dār al-ʿarabīya lil-kitāb, 1996. Paret, Rudi, Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret. Stuttgart u. a.: W. Kohlhammer, 2007. Šaltūt, Maḥmūd: Al-islām ʿaqīda wa šarīʿa. Kairo: Dār aš-šurūq, 2001.

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Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā’s “Second Message of Islam” Introduction The ideas of Sudanese reformer Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā (1909/1911– 1985) arguably represent one of the most profound and thorough proposals for a basic reform of Islamic thought and practice in the twentieth century. Coming from a rather “peripheral” region within the Arab and Islamic world, his writings have nevertheless attracted interest and admiration as well as scorn and hatred from the centers of Islamic thought. Furthermore, many Western scholars of Islam have also been intrigued by Ṭāhā’s thought and written extensively about it. This paper is divided into four parts. The first part will give a concise overview of Ṭāhā‘s thought and life. The second part will expound his method of interpreting the Qurʾān and the consequences it has for reforming current Muslim religious and social praxis. The third part will deal with the central importance of historicity within his thought, which, as I will show, has been greatly influenced by Karl Marx‘ concept of history. Finally, in the fourth part, I will give a short overview of Abdullahi An-Naʿim’s development of Ṭāhā’s theories¹.

1 Biography Hardly has there been there a Muslim reformist thinker whose thought was so tightly connected to the stations of his personal life as was the thought and life of Ṭāhā. This life culminated in the tragedy of his execution in 1985 due to his political activities. Therefore I shall first provide a short account of this extraordinary thinker’s biography. According to himself, Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā was born either in 1909 or in 1911 in the small town of Rufāʿa, a town on the Blue Nile south of Khartoum, into an Arab-Muslim family. He lost his parents in his early childhood and went

 I am greatly indebted to Asmāʾ Ṭāhā, Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā’s daughter, who provided me with numerous books and pamphlets as well as crucial explanations and clearifications on Ṭāhā’s theory, in addition to her warm hospitality, during a visit in Khartoum in November 2017. https://doi.org/10.1515/9783110588590-009

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on to live with his grandmother². He obtained his first education in a khalwa, a Sudanese traditional village school (similar to a kuttāb), and was raised within the religious environment of Sudan, which was characterized by the reverence of saints (walī) and Sufi practices³. He then went on to a modern-style secular elementary school, were he learned mathematics and writing, followed by some years in one of the country’s back then only 10 modern primary schools, where he also learned English⁴. After this, he became part of the small educational elite who went on to study at Gordon Memorial College in Khartoum in 1932, later to become Khartoum University. Indeed, this was the only intstitution of higher education in the whole country at the time. In 1936, he graduated from the College as an engineer and started to work for Sudan’s railway company. He first came to ʿAṭbara, a town in Northeastern Sudan, then moved around in the country’s eastern regions, before settling in Omdurman in the early 1940s⁵. He began his political activism in 1945, with the founding of the Republican Party, and in the same year, he started publishing texts. The party was a leftleaning group that demanded independence while criticizing the mainstream independence movement for being dominated by the country’s elites without involving the common people. It also supported Islamic cultural values. In 1946, the famous Rufāʿa incident occurred: The British colonial authorities of Sudan had enacted a law against female circumcision. The Republicans were against that practice too, but believed that education and not punishment was the only way to end it, hence they opposed the law. Furthermore, they felt that it was used to paint Sudanese society as cruel and backward and thereby provide a justification for the continuation of Britain’s colonial rule in light of its self-proclaimed “civilizing mission”. Thus, when in September 1946 in Rufāʿa, a woman was arrested for circumcising her daughter, Tāhā led a demonstration to protest this law against circumcision and to demand that the woman be released, an event which ended in violent clashes with authorities⁶. For this,

 Edward Thomas: Islam’s Perfect Stranger. The Life of Mahmud Muhammad Taha, Muslim Reformer of Sudan. London: I.B. Tauris, 2010, 9 and Abdullahi Ahmed An-Naʿim: Translator’s Introduction, in: Taha, Mahmoud Mohamed: The Second Message of Islam. Translation and Introduction by Abdullahi Ahmed An-Naʿim. Syracuse, NY: Syracuse University Press 21996, 2.  Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 11– 13 and Annette Oevermann: Die “Republikanischen Brüder” im Sudan. Eine islamische Reformbewegung im Zwanzigsten Jahrhundert. Frankfurt am Main: Peter Lang, 1993, 43 – 44.  Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 38 – 39.  ibid., 55 – 61.  On the issue of Britain’s politics towards these practices in general See Janice Patricia Boddy: Civilizing Women. British Crusades in Colonial Sudan. Princeton, N.J.: Princeton University Press,

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he was sentenced to two years in jail in October 1946. While in prison, he began to undergo an intense spiritual process in which he developed his own interpretation of Islamic teachings. He subdued himself to intense sessions of prayer, fasting, meditation, and reading, and secluded himself from worldly affairs. When he was released from prison two years later, in late 1948, he returned to his family in Rufāʿa, but continued the seclusion and meditation. Only in early 1951 had he finished the process and began to reappear in public life⁷. Over the course of his live, Tāhā’s interpretation of the teachings of Islam was subsequently developed, detailed and expanded in several books, pamphlets and speeches, but the cornerstones of his thinking were already developed in this early period. From then on, his movement became known as the Republican Brotherhood, instead of Republican Party, and abstained from electoral and party politics⁸. The attitude that Ṭāhā and his followers took to the realm of official politics from this time on is best summed up by Richard Stevens: “Neither before nor subsequent to Sudan’s independence in 1956 have the Republicans contested any elections. Their position has been that it would be useless for them to be in any council or assembly so long as the general populace does not accept their views. If and when these views are accepted, it is asserted, then anyone could put them into practice through legislation.”⁹ Rather, the form of the group was transformed to a religious community which nevertheless engaged in political activism, proclaiming its religiously inspired plan to transform the entirety of society. To this end, they did not only conduct common religious ceremonies, but also spread their views through public speeches, selling literature in the streets¹⁰ and initiating discussions in differ-

2007, passim; on the campaign that Ṭāhā tackled and the Rufāʿa incident specifically see ibd., 299 – 302 as well as Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 72– 77.  Oevermann: Die “Republikanischen Brüder” im Sudan, 5152 and An-Naʿim: Translator’s Introduction, 3 – 5, a detailed descprition of the protest is given in Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 79 – 91.  An-Naʿim: Translator’s Introduction, 5.  Stevens, Richard P. “Sudan’s Republican Brothers and Islamic Reform”. In: Journal of Arab Affairs Vol 1. Issue 1, 135– 146, (1981): 138 – 139.  Ṭāhā and his group produced an enormous body of literature, ranging from leaflets to small pamphlets to full books. These writings treated all kinds of topics, ranging from very general philosophical and theological problems to current political events. A detailed description of this written outpout is given in Steve Howard: Modern Muslims. A Sudan Memoir. Athens, OH: Ohio University Press 2016, 153 – 162. According to Howard, they amount to more than 200 books, see ibid., 157.

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ent public places¹¹, thereby quickly becoming a familiar phenomenon in the streets of Khartoum¹². They also visited religious scholars and intellectuals to inform them about their ideas¹³ and led campaigns where groups of Republicans went to remote villages and towns in Sudan’s provinces. They would live in these peripheral areas and engage in conversations with the population there in order to disseminate their ideas. Ṭāhā, living in Omdurman, conducted these activities, and his home became the base of his brethren. This missionary fervor and their great public visibility brought Ṭāhā and the Republican Brothers into many conflicts with the authorities and other groups in society, especially the conservative religious establishment which abhorred their ideas and their proselytizing approach. Eventually, this led to an apostasy trial against Ṭāhā in 1968. A sharīʿa court declared Ṭāhā to be an apostate, but in Sudan’s legal system of the time, this had no practical consequences because the sharīʿa court did not have the authority to act against him in any way¹⁴. It rather had the effect of publicizing his ideas even more¹⁵. Meanwhile, Tahas ideas also caused a stir outside Sudan. In 1972, Al-Azhar University issued a fatwā declaring him an apostate and demanding that the Sudanese government take action against him¹⁶. This was followed in 1975 by a fatwā issued by the Saudi-based Muslim World League with similar content¹⁷. The last chapter of this conflict began in 1983: President Numayrī, ruler of Sudan since 1969, who at the beginning of his reign had claimed to be an adherent of Arab Socialism and Nationalism and aligned himself with left-wing groups¹⁸, introduced the infamous “September Laws” in an effort to present himself as a devout Muslim and garner support from the growing Islamist trend in

 Howard: Modern Muslims, 163.  An-Naʿim: Translator’s Introduction, 8.  Asmāʾ Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā / an-Nūr Muḥammad Aḥmad. “madkhal ilā ḥayāt wa-fikr al-ustādh Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā” In: Naḥw mashrūʿ mustaqbalī li-l-islām: thalātha min alaʿmāl al-asāsīya li-l-mufakkir ash-shahīd Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā. Beirut: al-Markaz athThaqāfī al-ʿArabī, 2002, 41.  Oevermann: Die “Republikanischen Brüder” im Sudan, 60 – 66 and Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 133 – 137.  Asmāʾ Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā / an-Nūr Muḥammad Aḥmad. “madkhal ilā ḥayāt wa-fikr al-ustādh Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā”, 17.  German translation in Oevermann: Die “Republikanischen Brüder” im Sudan, 67.  ebd., 68 – 69.  Holt. P. M. / Daly, Martin W.: A History of the Sudan. From the Coming of Islam to the Present Day. London: Routledge 62011, 130 – 132.

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Sudan, mainly represented by Ḥasan at-Turābī’s Muslim Brotherhood¹⁹. The laws were meant to apply sharīʿa through the Sudanese legal system and entailed the prohibition of alcohol and the persecution of those brewing it as well as corporal punishments like cutting off the hands of thieves²⁰. Ṭāhā and the Republican Brothers firmly opposed the laws and started a public campaign against them. He and some others were imprisoned and released again, upon which they continued their campaign by publishing the pamphlet “Either This or the Flood”²¹. This led to them being arrested again, but this time Numayrī’s government set up an apostasy trial against Ṭāhā, which declared him an infidel and sentenced him to death. In January 1985 he was executed by hanging. The trial and execution of Ṭāhā were one of the main events that ignited the amounting civil unrest which led to the eventual overthrow of Numayrī in the following April²² and are widely accepted as the “catalyst for his downfall”²³. After the end of Numayrī’s Regime, Ṭāhā’s daughter Asmāʾ achieved that the death sentence was officially declared to have been unlawful²⁴. Although Ṭāhā‘s death brought notable international attention to his thought and movement, with articles appearing everywhere in the international press, it also dealt a fatal blow to the movement’s drive and energy. Yet still, until today, Republican Sisters and Brothers are active within Sudan and outside of the country, and his thought continues to have some influence among reformminded Muslims. In Sudan, Asmāʾ Ṭāhā is leading a group trying again to become active as a political party and openly engaging in politics and social affairs. Concurrently, there is also another trend within the movement that abstains

 Berridge, W. J.: Civil Uprisings in Modern Sudan. The ‘Khartoum Springs’ of 1964 and 1985. London: Bloomsbury Academic 2015, 45 – 48. On Turābī and his struggle with the Republican Brothers see Asmāʾ Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā / an-Nūr Muḥammad Aḥmad. “madkhal ilā ḥayāt wa-fikr al-ustādh Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā”, 18 – 22 and Howard: Modern Muslims, 164– 166.  Collins, Robert O. A History of Modern Sudan. Cambridge: Cambridge University Press 2008, 146 and Safia Safwat. “Islamic Laws: The Case of Sudan”. In: Fritsch-Oppermann, Sybille (Ed.): Fundamentalismus der Moderne? Christen und Muslime im Dialog. Rehberg-Loccum: Evangelische Akadamie Loccum 21996, 331–39.  Printed in Howard: Modern Muslims, 204– 205 and An-Naʿim: Translator’s Introduction, 10 – 12.  O’Sullivan, Declan. “The Death Sentence for Mahmoud Muhammad Taha: Misuse of the Sudanese Legal System and Islamic Shari’a Law?” In: The International Journal of Human Rights, Volume 5, Issue 3, (2001): 45 – 70. Berridge: Civil Uprisings in Modern Sudan, 111– 112; and Collins: A History of Modern Sudan, 149.  Safwat: “Islamic Laws: The Case of Sudan”, 339.  An-Naʿim: Translator’s Introduction, 17– 18.

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from public and political activity and simply confines itself to religious activities like common prayer²⁵.

2 Ṭāhā’s thought As previously mentioned, Ṭāhā says that he found his new approach to interpreting the Qurʾān in his period of seclusion (khalwa) in the late 1940s and early 1950s. Yet, we can trace a host of different sources that apparently influenced his thinking, ranging from ancient Greek philosophy, Sufism and the thought of Gandhi to Marxism, psychology, modern sociological theories, or evolutionary theory²⁶. Many of those references can only be surmised via insinuation or appear to be behind some rather hard to grasp passages in his writings. In chapter III of this article, I will focus on the influence of Marxist thought on Ṭāhā’s approach. But before doing so, I will first show how his concept of the two messages contained in the Qurʾānic text works.

2.1 Naskh and his reading of the Qurʾān and the Ḥadīth: The method a) Qurʾān Ṭāhā‘s concept of a “Second Message of Islam” is based on a peculiar reading or understanding of certain passages of the Qurʾān and the ḥadīth, which in many instances deviates considerably from traditional readings and interpretations. Once he establishes his main thesis of two messages being contained in the Qurʾān, he finds and points out to a host of insinuations – sometimes subtle, sometimes clear; sometimes quite logical, sometimes with considerable interpretational effort and creativity on Ṭāhā’s side – in the Qurʾān that support his conclusion²⁷.

 Conversation with Asmāʾ Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā, November 2017, Khartoum.  ʿAlī, Ḥaidar Ibrāhīm. “al-ustādh Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā. al-insān wa-al-mawāqif wa-alafkār”. In: ʿAlī, Ḥaidar Ibrāhīm (Ed.) al-Ustāḏ Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā. Rāʾid at-tajdīd ad-dīnī fi ‘s-Sūdān. ad-Dār al-Baiḍāʾ: Markaz ad-Dirāsāt as-Sūdānīya, 1992, 10 – 31.  Because of this, Ṭāhā’s writings are often quite hard to understand. Luckily, Abdullahi AnNaʿim has taken on the arduous task of translating his main work into English, thereby paying close attention to the peculiarities of his understanding of certain concepts. I will thus quote from this translation; if passages from the Qurʾān or a ḥadīth are quoted, I will also, as far as

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The core of his interpretation centers around his variant reading of the central verse regarding the problem of Naskh (abrogation), which is 2:106²⁸. ِ ِ ‫۞ َﻣﺎ ﻧَﻨ َﺴ ْﺦ ِﻣ ْﻦ ﺁ َﻳ ٍﺔ ﺃَ ْﻭ ُﻧﻨ ِﺴ َﻬﺎ ﻧَ ْﺄ ِﺕ ِﺑ َﺨ ْﻴ ٍﺮ ّﻣ ْﻨ َﻬﺎ ﺃَ ْﻭ ِﻣ ْﺜﻠِ َﻬﺎ ۗ ﺃَﻟَ ْﻢ َﺗ ْﻌﻠَ ْﻢ ﺃَ َّﻥ ﺍﻟﻠَّ َﻪ َﻋﻠَ ٰﻰ ُﻛ ّﻞ َﺷ ْﻲٍء َﻗ ِﺪﻳ ٌﺮ‬

The sixth word of this verse is commonly read as ‫[ ﻧُ ْﻨ ِﺴ َﻬﺎ‬nunsihā], (Stem IV of Root nūn-sīn-yāʾ) usually translated into English as “cause to be forgotten”²⁹ or “to make (s.o.) forget (s.th.)”³⁰. But Ṭāhā reads it as ‫[ ُﻧ ْﻨ ِﺴﺌﻬﺎ‬nunsiʾhā], (Stem IV of Root nūn-sīn-hamza), meaning “to postpone” or “to defer”³¹. Ṭāhā’s strategy here is paradigmatic: by giving a passage in the Qurʾān a different reading, interpretation or explanation at the very basic level of its linguistic meaning in the Arabic language, by paying attention to minute and intricate details, he arrives at an understanding of the Qurʾānic text that radically differs from tradition. In the case of verse 2:106, the result of this slightly different reading basically constitutes a complete reversal of the way the concept of Naskh is traditionally understood. Verses that advocate armed struggle against non-Muslims, like the (in)famous “Sword Verse”³², for example, have traditionally been taken to abro-

possible, refer to An-Naʿim’s translation into English, as he tried to reflect Ṭāhā’s specific reading of these sacred texts in his translations. On the problems of translating Ṭāhā, see Jürgen Rogalski: Die Republikanischen Brü der im Sudan. Ein Beitrag zur Ideologiegeschichte des Islam in der Gegenwart. Magisterarbeit, Freie Universität Berlin, 1990, 60. A French translation is also available: Mahmoud Mohamed Taha: Un Islam à Vocation Libératrice. Traduit par Mohamed El Baroudi-Haddaoui et Caroline Pailhe. Avant-propos de François Houtart. Préface de Samir Amin. Paris: L’Harmattan, 2002.  Hasan, Ahmad: “The Theory of Naskh.” In Islamic Studies. Journal of the Islamic Research Institute of Pakistan, Islamabad, Volume 4, Issue 2 (1965): 183 – 184 and 189 – 190 where the other important verses for the concept are also quoted.  Mahmoud Mohamed Taha: The Second Message of Islam. Translation and Introduction by Abdullahi Ahmed An-Naʿim. Syracuse, NY: Syracuse University Press 21996, 40, FN 9.  Wehr, Hans: A Dictionary of Modern Written Arabic. Arabic – English. Edited by J. Milton Cowan. Snowball Publishing, 2011, 963.  See Taha: The Second Message of Islam, 40 FN 9 and Wehr: A Dictionary of Modern Written Arabic, 959; on the history of this reading variant, see Oevermann: Die “Republikanischen Brüder” im Sudan, 128, especially FN 83. For a detailed treatment of the very complicated issue of the different assumptions as to the exact reading of this verse in Islamic tradition and their grave consequences for its interpretation, see John Burton, John. “The Exegesis of Q. 2: 106 and the Islamic Theories of ʿnaskh: mā nansakh min āya awnansahā naʾti bi khairin minhā aw mithlihā’.” In Bulletin of the School of Oriental and African Studies, Volume 48, Issue 3 (1985): 452– 469.  Sura 9, verse 5.

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gate other, more peaceful verses³³. The later, Medinan verses are, in general, supposed to have abrogated the earlier, more “lenient” Meccan verses, meaning that by the mere fact that they came down later in time, their superiority is established. In Ṭāhā‘s thought, on the contrary, the Meccan Verses are the original revelation and thus are “superior” to the Medinan verses which have only been sent down in order to adjust the message of Allah to the specific historical circumstances in which Muḥammad’s audience lived in the 7th century Arabian peninsula. Arab society of that time, he explains, was characterized by slavery, oppression, violent clashes between different tribes, and a low level of education. It therefore was not ripe to understand the lofty and sublime contents of the original message of Islam. Thus, in order for the new faith to catch foot at all, it was transformed and adjusted to the level of the surrounding society. The original message, however, was not abrogated, but only postponed (see above). It is therefore “dormant”, still contained within the pages of the Qurʾān, waiting to be discovered and set into practice once society has reached the level of development necessary to do so. Accordingly, he asserts that there are no contradictions within the Qurʾān, but rather different levels of meaning as described in concept of ẓāhir and bāṭin³⁴: two messages meant for two different stages of society. His differentiation between the Sūras belonging to the first message and those belonging to the second basically corresponds to the traditional distinction between Meccan and Medinan verses, though with some notable exceptions³⁵. He has his own ways of differentiating between them; for example, the addressing of people as Muʾminūn or Muslimūn respectively according to him refers to two different stages of belief: The Muʾmin is the one who only outwardly declares his belief and follows the rituals of religion without really inwardly comprehending them, while the real Muslim is the one who has totally understood God’s message and follows it with his heart³⁶. Hence, despite its slightly confusing name, the “Second Message” of Islam is actually its primordial, original one; it just never came into effect in society. It was only preached by Muḥammad in the early Meccan period when he did

 Hasan, Ahmad. “The Theory of Naskh”, 187 and 195 – 196.  Taha: The Second Message of Islam, 86 – 87.  These are explained in Taha: The Second Message of Islam, 124– 126. al-Makkī, Bāsim: Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā (1909 – 1985), in: In: Bassām al-Jamal (Ed.) Aʿlām tajdīd al-fikr ad-dīnī; alJuzʾ 1. ar-Ribāṭ: Muʾassasat Muʾminūn bi-lā Ḥ̣ udūd li-d-Dirāsāt, 2016, 17– 34, who criticises that Ṭāhā’s method of distinction is not quite clear, ibid, 33.  Taha: The Second Message of Islam, 124– 125.

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not have the power to institute it. By the time he gained actual political power, Allah’s message had already been adjusted to the circumstances, and this version of it has remained valid for centuries after that until our modern era. This is why it is called the “First Message” even though it is only a “derived”, minor form, so to speak, of the actual – universal – message for which the circumstances or, as he says dictates of the time (ḥukm al-waqt) had not yet been ripe when it was first sent down to man. The terms “First Message” and “Second Message”, therefore, do not relate to the temporal order in which they were revealed, but rather to the temporal order of the societal circumstances to which they respectively apply. This is no minor detail, as it shows that in Ṭāhā‘s thought on historical time, the contingent point of time of revelation of God’s message to the world is only second in importance as compared to the development of human society over time in order to be fit for that message (see more on this in chapter III). Ṭāhā finds examples of these two “layers” within the Qurʾān (and the Ḥadīth, see below) at several different passages and in a variety of ways of by which Allah, according to Taha, refers to them. A good example in this regard is his treatment of the term “mathānī” in Sura15 Verse 87 and Sura 39 Verse 23, which Ṭāhā, differing from common readings interpreting the word as “repetition”, reads as an an allusion to the “two messages” contained in the text³⁷. The list of such variant readings and/or interpretations of Qurʾānic passage could theoretically be extended almost indefinitely. In the subsequent discussion, we will observe several other examples of this hermeneutic while treating various aspects of Ṭāhā’s thought.

b) Ḥadīth and sunna The corpus of ḥadīth is subjected to basically the same interpretive procedure. By way of example, Ṭāhā very often quotes two ḥadīths that, in his understanding, allude to the “Two Messages” enclosed in Islam: One quotes the Prophet saying: “How I long for my Brothers who have not come yet.” At the repeated unsettled reply of his companions: “Are we not your Brothers, O Messenger of God?”, the prophet replies that his brothers are a people who will come at the end of time and be more virtuous than his companions (who, traditionally, have been viewed as being the most shining examples of human virtue). These “Brothers”, Ṭāhā

 See ʿAlī, Ḥaidar Ibrāhīm. “al-ustādh Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā”, 24– 25 and Rogalski: Die Republikanischen Brüder im Sudan, 66 FN 242.

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claims, are the “real Muslims” who have discovered the Second Message and live by it³⁸. Likewise, he quotes another ḥadīṯ that reports Muḥammad stating: “Islam started as a stranger, and it shall return as a stranger […]. Blessed are the strangers!” As his companions ask him who those strangers are, Muḥammad then replies: “Those who revive my Sunnah after it had been abandoned.”³⁹ This, according to Ṭāhā, also points towards the followers of the Second Message, and even foretells how they would be seen as strangers and mavericks (as he and his followers have been)⁴⁰. The Term sunna is understood by Ṭāhā in a specific way, too: According to him, the real sunna that Muslims should follow does not reflect everthing that the Prophet accepted or allowed, but rather only everything that he himself did. According to the logic of Ṭāhā’s interpretation, Muḥammad frequently had to acquiesce to or accept certain opinions, utterances and actions of his comrades because the circumstances and the low level of spiritual development of his contemporaries forced him to do so, even though he himself did not actually view these positions and actions as correct⁴¹. Accordingly, Ṭāhā strictly rejects the notion that the Prophet reached a stage of perfection that others can never attain and proclaimed it a necessity to try to live as virtuous as he did for every Muslim⁴².

2.2 Differences between the First and Second Messages: theological and practical implications We have seen how Ṭāhā‘s concept of the two messages works and how he reads it into the Qurʾānic text; we shall now turn our attention to the concrete differences between the two messages. “The Second Message of Islam” contains a list of eight core aspects of traditional sharīʿa which Ṭāhā regards as belonging only to the first message and thus ought to be “abrogated”, so to speak, in an Islam appropriate for our current times⁴³. These core elements consist of the following:

 Taha: The Second Message of Islam, 36.  ibid., 35.  Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 1.  Taha: The Second Message of Islam, 34– 35, see also Magnarella, Paul J. “The Republican Brothers: A Reformist Movement in the Sudan”. In The Muslim World, Volume 72, Issue 1 (1982): 22– 23.  Taha: The Second Message of Islam, 35 – 37.  ibid., 132– 145.

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2.2.1 Jihād is not an original precept in Islam According to Ṭāhā, Islam’s original idea provides for complete freedom and absence of coercion in religion. Thus, in the beginning, “Islam used persuasion for thirteen years in propagating its clearly valid message for the individual and the community”⁴⁴, and the first Muslims’ lives “consisted of sincere worship, kindness, and peaceful coexistence with all other people”⁴⁵. Islam wanted to grant the polytheists the freedom to choose that which is right or wrong, but when, after a long time of non-coercive persuasion, they still went on persecuting the Muslims and practicing cruel rituals like the burying of female children, “they lost this freedom, and the Prophet was appointed as their guardian until they came of age”⁴⁶. After being subdued, they could then embrace Islam and benefit from it. Hence, the ultimate goal of violent strife against non-believers was not to kill them as punishment for their lack of belief, but to afford them the possibility to find the truth of Islam. As Ṭāhā pointedly states: the sword is “a surgeon’s lancet and not a butcher’s knife”⁴⁷.

2.2.2 Slavery is not an original precept in Islam As slavery was an important part of society and economy in the 7th century Arabian Peninsula, and jihād necessitated the enslavement of others, its immediate abolition would have been impossible. Thus, the First Message simply improved the status of slaves, but did not completely abolish the institution; this was left for the time when the Second Message would be instituted, which would then completely do away with slavery.

2.2.3 Capitalism is not an original precept in Islam Capitalism is basically equated with private property here. Ṭāhā states that “Islam’s original principle is the common or joint possession of property among the slaves of God”⁴⁸, but those to whom the religion came first were so unfamiliar with this concept of sharing that the institution of zakāt was introduced as a     

ibid., 134. ibid., 133. ibid., 134. ibid. ibid., 138.

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specified share of people’s wealth which they were supposed to give to others in need, while they were allowed to retain the remainder of their property. The perfect zakāt though, as lived by the Prophet, demands that everything that one does not immediately need shall be given to others.

2.2.4 Inequality between men and women is not an original precept in Islam According to Ṭāhā, Islam’s original precept was “complete equality between men and women”⁴⁹, but patriarchy had been so deeply rooted enshrined in 7th century Arabia that neither society, nor even women themselves were ready to accept such complete equality. Hence, Islam instituted some prescriptions that would enhance women’s status as compared to their position in pre-Islamic times, but otherwise left men in place as their guardians until society would develop sufficiently in order to make complete equality possible.

2.2.5 Polygamy is not an original precept in Islam Originally, Ṭāhā claims that Islam prescribed that every man can only marry one woman. To prove this, he refers to the well-known juxtaposition of Verses 4:3 and 4:129. But in the society of 7th century Arabia, many men died in constant warfare, and left their wives and kids behind. Because of the patriarchal structure of society, they could not have taken care of themselves and would have remained alone with no one to support them if polygamy had been forbidden straight out. Thus, it was limited to four wives, and the duty to treat them all well and equally was imposed on Muslim husbands. But eventually, polygamy would have to be totally abolished.

2.2.6 Divorce is not an original precept in Islam Islam originally wanted marriage to be forever, but due to people’s folly under current circumstances, they sometimes choose partners who don’t really fit together, so Allah allowed divorce in a transitory period in order to offer a way out of a failed union. True Muslims who have attained consciousness of them-

 ibid., 139.

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selves and others on the level of the Second Message, though, will always find their perfect partner, so that there would never be any need for divorce.

2.2.7 The veil (ḥijāb) is not an original precept in Islam Islam implores men and women to be chaste and modest, but these qualities are supposed to come from within their hearts, not from external rules imposed on them. Yet, until now humans lacked the wisdom and discipline necessary to follow this ideal. Hence, the veil was introduced for a transitory period in order to help them stay modest until they reach a stage in their development when they will behave modestly out of inner conviction, thus rendering the veil superfluous.

2.2.8 Segregation of men from women is not an original precept in Islam Here, the argumentation is the same as in point 7. To sum up, all of these points revolve around the crucial and touchy issues of a) tolerance, or respectively, the question if religion allows for the use of violence, b) social inequality and exploitation and/or domination of some humans over others, and c) the relation between the sexes. All of these topics frequently come up in discussions about sharīʿa in its traditional understanding. It is generally perceived as one of the main fields in which Islam and modern society clash, and, as the example of Sudan itself demands for introducing a legal system based on this traditional understanding of sharīʿa has been one of the main political issues brought forward by modern Islamists. Ṭāhā thus demands that sharīʿa, the framework for the regulation of Muslim social life, must be radically reformed according to the principles outlined above⁵⁰. Most of the social practices advocated and lived by Ṭāhā and his supporters are somehow connected with these issues⁵¹. For example, the only permissible way to spread the Republican message is by peaceful persuasion through conversations, lectures or writings. In the realm of high politics, the Republican Brothers persistently fought for peace in Sudan’s on-and-off civil war⁵² and an accept-

 Rogalski: Die Republikanischen Brüder im Sudan, 125 – 126.  An-Naʿim: Translator’s Introduction, 5 – 6.  On this war, see Holt / Daly: A History of the Sudan, 121– 128 and 132– 135.

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ance of Southern Sudan’s different religious and cultural society⁵³, as well as for peace between the Arab states and Israel⁵⁴. As to social equality, some Republican Brothers lived in community-like houses where there was complete equality among them. Everyone, for example, worked together in doing chores and the like, while in discussions and political activities, every member was equal. Furthermore, Republican communities lived a modest and frugal life, expressed in modest clothing, simple food, and the renunciation of unnecessary luxuries⁵⁵. Total equality between man and women was advocated within the Republican Brotherhood as well as in society as a whole. Women were often part of the Republican’s street campaigns, which, of course, often raised great objection; they prayed together with the Republican men, even at funerals, and they took part in the internal discussions of the group alongside the men⁵⁶. Marriage was a topic of particular concern for the Republicans, and they devised a specific marriage ceremony whereby the dowry was reduced to one dollar in order to adhere to Sudanese legal statutes⁵⁷. Dowries, however, were eventually to be completely abolished, since the practice is seen as a remnant of a period where men could simply purchase their wives⁵⁸. Accordingly, the Republicans also demanded that all laws, regulations and behavior that discriminates against women should be abolished not only among the Republicans or within Sudan, but in society at large and the world over.

2.3 Elimination of Fear Fear, according to Ṭāhā, is the main source of immoral behavior⁵⁹. It dates back to the existential fear man felt at the primitive, animal-like stages of his develop-

 See the “Either this or the Flood” leaflet, quoted in footnote 21 of this article.  An-Naʿim, Abdullahi Ahmed. “Mahmud Muhammad Taha and the Crisis in Islamic Law Reform: Implications for Interreligious Relations.” In Journal of Ecumenical Studies, Volume 25, Issue 1 (1988):11; Rogalski: Die Republikanischen Brü der im Sudan, 37– 39, and Mohamed A. Mahmoud: Quest for Divinity. A Critical Examination of the Thought of Mahmud Muhammad Taha. Syracuse, NY: Syracuse University Press, 2007, 22– 23.  Howard: Modern Muslims, 59 – 72 and Rogalski: Die Republikanischen Brü der im Sudan, 54– 55.  Rogalski: Die Republikanischen Brüder im Sudan, 53 – 54 and Howard: Modern Muslims, 97– 105.  Howard: Modern Muslims, 125.  Taha: The Second Message of Islam, 140 – 141.  ibid., 86 and Rogalski: Die Republikanischen Brüder im Sudan, 62– 63.

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ment, and despite all civilizational achievements, it “has left its permanent imprint on the human self”⁶⁰. Men only act violently and aggressively towards others because of fear. Loving all of God’s creation is an obligation to man, and the “greatest obstacle to love is fear”⁶¹. Hence, in order to live a life according to Gods wishes, man must overcome all of his fears, and this requires that society must be ordered in a way to free him of all of his fears: To “achieve such freedom from any form or type of fear, it is necessary to organize the community in such a way as to secure the individual against fear of the lack of means of subsistence, oppressive authority, and intolerant public opinion. In order to avoid fear, the individual must also have a comprehensive conception of his relationship to the environment and to the essence of that environment. Only thus will the human mind be liberated from inherited fears which still persist in the subconscious.”⁶² Freedom of speech, a socialist economic system guaranteeing everyone fulfilment of their material needs, the absence of any political persecution and proper education are thus essential prerequisites for truly reaching the highest stage of Islam⁶³. Furthermore, Ṭāhā also wants to eliminate fear of eternal damnation in hell, as he states that punishment is not the rule in religion, but rather only a transitory state necessary to educate people until they will reach a higher stage of their individual development and do not need it anymore⁶⁴. Therefore, everybody is “bound to emerge from the suffering of hell and go into paradise”, and it is a “complete mistake for anyone to think that punishment in hell never ends, as he thereby makes evil the rule in the universe, which it is not. If punishment is eternal, it would be the vengeance of a grudging soul, totally lacking in wisdom. And God is absolutely free from this”⁶⁵.

2.4 Animal Ethics Another aspect of Ṭāhā‘s thought, usually just mentioned in passing, yet highly significant and thus deserving closer attention, is his position towards animals. In some almost pantheistic passages in the “Second Message”, Ṭāhā points out

     

Taha: The Second Message of Islam, 84. ibid., 112. ibid., 129. ibid., 153. Magnarella, Paul J. “The Republican Brothers”, 23. Taha: The Second Message of Islam, 107.

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that God’s love encompasses not just all humans, but all living things, and beyond that, all things created: God loves all creation: gases, liquids, stones and metals, plants, animals, man, angels and demons. He created all through the Will, which is love. Man cannot be God’ s viceregent over His creation until his heart is large enough to love all creation, in all its forms, and dispose of it wisely and constructively.⁶⁶

He also states that before man came along, animals also felt the need to communicate but were not able to do so⁶⁷. As a consequence of these views, Ṭāhā became a vegetarian, which some seem to regard mainly as part of his generally ascetic and frugal lifestyle⁶⁸. This, however, misses the point, as that way of nutrition was an important part of his teachings, based on his position towards animals: Man must, again, “love all creation”⁶⁹ and “have a comprehensive conception of his relationship to the environment and to the essence of that environment”⁷⁰ in order to achieve full understanding of God’s will. Ṭāhā even pondered about animal rights⁷¹ and compared insecticide to machine guns. He “would not kill mosquitoes, flies or scorpions. He liked going to the zoo, and all the local cats knew to come around at mealtimes”⁷² (Thomas, who reports this, calls these ideas of Ṭāhā “Buddhist”⁷³). Accordingly, vegetarianism was also advocated among Ṭāhā’s followers, especially those living in the brothers’ houses, who followed that diet more or less strictly⁷⁴. This extended even to Muslim festivities in which the slaughtering of an animal has traditionally constituted a crucial part of the feast. And, of course, Ṭāhā found a savvy explanation for this, which went back to the origins of Islam: “The nonviolent/socialist/vegetarian elements of Republican thought came together

 ibid., 112.  ibid., 129. See also al-Makkī: Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā, 25, who appears to be quite irritated by these thoughts of Ṭāhā.  For example Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 175; Rogalski: Die Republikanischen Brü der im Sudan, 55, Mahmoud: Quest for Divinity, 32.  Taha: The Second Message of Islam, 112.  ibid., 129.  Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 175 and 2.  Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 175.  ibid.  Howard: Modern Muslims, 78 – 80.

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in the idea that the Prophet had engaged in animal (goat, sheep, camel) sacrifice that sufficed for eternity and for all of humankind.”⁷⁵ Furthermore, he reads the sentence in verse 49:12: “[…]would any of you like to eat the flesh of your dead brother?”⁷⁶ to refer to animals, although it is traditionally read as referring to other humans. This is another typical case in which Ṭāhā interprets a certain Qurʾānic word differently than traditional understandings of the term in order to support his views⁷⁷.

2.5 Relationship with Sufism Ṭāhā‘s relationship with Sufism has always been a main point of interest for those researching his thought. Of course, it is obvious that Sufi ideas had a great influence on him. Sufi orders and practices have traditionally been very strong in Sudan⁷⁸, and as noted above, this influenced Ṭāhā from the very beginning of his religious education. Certain core Sufi ideas such as mystical unity with the divine, the differentiation between hidden and obvious meanings of the Qurʾānic text, the relative neglect of adherence to strict rules and customs in religious and social practice as opposed to the importance ascribed to knowing one’s self and a direct experience of a connection God⁷⁹ clearly constitute a central dimension of Ṭāhā’s thought. Furthermore, there are many passages in his works that feature typical Sufi topics. Very often, he refers to the hidden meanings behind certain letters and numbers⁸⁰. The number seven bears specific significance within his thought⁸¹, as well as the pyramid (in the sense of a geometrical structure), which symbolizes the ascent from the base to the lofty. He describes, for example,seven stages

 ibid., 127.  The Qurʾan: A New Translation by M. A. S. Abdel Haleem. Oxford: Oxford University Press, 2004, 339.  Ṭāhā, Maḥmūd Muḥammad: asʾila wa-ajwiba. Umm Durmān: [no publisher indicated], 1970, 28.  Collins: A History of Modern Sudan, 17– 18.  al-Makkī: Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā, 18 – 19 and 31– 32.  Taha: The Second Message of Islam, 126 – 129.  Mahmoud: Quest for Divinity, 60 – 61. On the signifance of the number seven in Muslim theology and culture in general, see Ulrike Hartmann-Schmitz: Die Zahl Sieben im sunnitischen Islam. Studien Anhand von Koran und Ḥadīṯ. Frankfurt am Main: Peter Lang 1989, passim. The number seven, she concludes, is essentialy “a symbol for the holy itself” (ibid., 123, translation mine).

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of perfection that a worshipper can reach on his way to Allah⁸². The ascent through these stages can also, according to Ṭāhā, be conceived as a pyramid. Rogalski has drawn them up into a graphic that I shall put here⁸³:

Nonetheless, Taha was also critical of traditional Sufi practices and organizations. For one thing, he correctly pointed out that in the circumstances of modern Sudan and its particular sociopolitical realities, Sufism also contributes to “sectarianism” in society with all its negative effects⁸⁴. Furthermore, Republicans ridiculed the Sufis’ empty and stiff repetition of religious practice, performed only out of habit and presumed obligation, as “dhikr bidun fikr”⁸⁵. Furthermore, he criticized traditional Sufi orders for not trying to change society and only practicing their prayers within the compounds of their houses⁸⁶.

3 Taha and Marxism/History 3.1 Negative attitudes of Ṭāhā towards Communist movements and regimes While the history of the interrelationship between Islamic movements and communism in the Islamic world constitutes a complicated web of conflict, mutual

 Taha: The Second Message of Islam, 124.  Rogalski: Die Republikanischen Brüder im Sudan, 69.  The Republican Brothers even called on the shaiks of Sufi orders to abandon them and follow only the Prophet’s way, see Oevermann: Die “Republikanischen Brüder” im Sudan, 144.  Howard: Modern Muslims, 55.  Rogalski: Die Republikanischen Brü der im Sudan, 70.

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influence and sometimes even cooperation⁸⁷, in most cases the two currents were strictly opposed to each other, mainly due to the obvious contradictions of some of their respective basic tenets. Ṭāhā, though calling himself a “socialist”, was, at first glance, no exception to that. He was a strong opponent of the Soviet Union and the global communist movement as well as pro-Soviet, socialist-inspired ideas and movements like so-called “Arab Socialism”⁸⁸ in the Arab world. The curtailing of the individual’s rights in the Soviet Union and similarly built societies and political systems elsewhere appalled him, given his strong emphasis on individual freedom. To him, Soviet Marxism and Western Capitalism are basically just two different versions of Western materialism. Both lack any spiritual guidance, cannot reconcile the individual with society, engage in a crazy arms race and fail to use the modern achievements in technology and science to create a really humane society⁸⁹. Ṭāhā also included Mao’s China in this framework⁹⁰. This is significant, as in the 1960s, China had broken with the Soviet Union and strove to establish itself as a “second center” of the world-wide socialist block. In doing so, it accused the USSR of being just another Western imperialist nation disguising itself as socialist, and appealed to socialist movements in the Third World to follow the Chinese model, which was presented to be more appropriate to the mostly agrarian societies of the former colonies⁹¹. But still, Ṭāhā would have none of this. He did not only criticize the realities of “Real Existing Socialism”, but also Marxist theory which, for the most part, he equated with Marxist-Leninist ideology. He condemns Marxist atheism in strong terms, categorically rejecting that it is possible to be moral and humane without believing in God, and states that the only incentives Marxism has to offer people for their actions are fear and deceit, as it cuts off the connection to God⁹². He even goes as far as saying that real so-

 For on overview, see Fowkes, Ben / Gökay, Bülent. “An Unholy Alliance Against a Common Enemy: A History of Communists’ Relations with Muslims.” In: Fowkes, Ben / Gökay, Bülent (Eds.) Muslims and Communists in Post-Transition States. London: Routledge, 2012, 1– 69.  Rogalski: Die Republikanischen Brü der im Sudan, 37– 39.  Taha: The Second Message of Islam, 52– 55 and 60 – 61. See also Amin, Samir. “Préface. Vers une théologie islamique de la libération?” In: Mahmoud Mohamed Taha: Un Islam à Vocation Libératrice. Traduit par Mohamed El Baroudi-Haddaoui et Caroline Pailhe. Avant-propos de François Houtart. Préface de Samir Amin. Paris: L’Harmattan, 2002, 15.  Taha: The Second Message of Islam, 54.  Chen, Jian. “China, the Third World, and the Cold War”. In: McMahon, Robert J. (Ed.) The Cold War in the Third World. Oxford: Oxford University Press, 2013, 85 – 100, 87– 93.  Ṭāhā: asʾila wa-ajwiba, 45 – 47.

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cialism and democracy can only be built on the ruins of Marxism⁹³. Another major point of contention with Marxism is the latter’s general advocacy of violent revolution and class struggle. Ṭāhā abhors the use of violence in any respect, including political violence, and insists that socialism must be achieved as a result of peaceful persuasion of the people and non-violent, gradual transformation of society from a capitalist to a socialist system⁹⁴. While explicitly embracing the concepts of socialism (the way towards communism) and communism (full social equality) – he even chastices Russia for its “failure in achieving socialism, let alone communism”⁹⁵ – Ṭāhā thus vehemently rejects Marxism and all movements and systems officially adhering to its models⁹⁶. Yet, if we look closer, we can see that it has had a profound influence on his thought.

3.2 Relation of Ṭāhā to Sudanese communists To understand this, we must first have a look at his relations to the communist movement in Sudan. As mentioned above, Ṭāhā spent several years in the late 1930s and early 1940s in the City of ʿAṭbara⁹⁷, northeast of Khartoum, which back then was a center of workers’ activism in Sudan. The town was the central hub of Sudan’s railway grid and thus hosted a large number of railway workers. It therefore also became a hotspot of communist and trade union activity in the country⁹⁸, to the extent that it quickly turned into “the centre of the Sudanese Worker’s Movement”⁹⁹. The labor movement of ʿAṭbara “spearheaded”¹⁰⁰ the protests against colonial rule which were to shake Sudan after the Second World War¹⁰¹, and it later became one of the bedrocks of Sudan’s famously powerful and influential communist movement after the country’s independence¹⁰².

 ibid., 45.  Taha: The Second Message of Islam, 153 – 157.  ibid., 54.  Amin. “Préface. Vers une théologie islamique de la libération?”, 15.  Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 55 – 61.  See Ismael, Tareq Y.: The Sudanese Communist Party. Ideology and Party Politics. London: Routledge, 2013, 17– 18 and Schmidinger, Thomas: ArbeiterInnenbewegung im Sudan. Geschichte und Analyse der ArbeiterInnenbewegung des Sudan im Vergleich mit den ArbeiterInnenbewegungen Ägyptens, Syriens, des Südjemen und des Iraq. Frankfurt am Main: Peter Lang, 2004, 54– 56.  Schmidinger: ArbeiterInnenbewegung im Sudan, 55, translation mine.  Sikainga, Ahmad Alawad: City of Steel and Fire. A Social History of Atbara, Sudan’s Railway Town, 1906 – 1984. Oxford: James Currey, 22011, 96.  For an overview of this period, see Sikainga: City of Steel and Fire, 97– 122.  Sikainga: City of Steel and Fire, 123 – 148.

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The young Ṭāhā, before his “epiphany” during the khalwa, was greatly influenced by this early independence movement, which represented the first stage of his political and social activities¹⁰³. But despite his background as a member of the well-educated engineering class, he spent several years of this crucial period amidst the militant and radical workers of ʿAṭbara due to his profession. While there, he was an active participant in political meetings and reading circles, and he was not afraid to mingle with the workers¹⁰⁴. This way, Ṭāhā came into contact with socialist and Marxist ideas during his time in ʿAṭbara¹⁰⁵. Besides, al-Bashīr points out that Marxist concepts of history were also present in the early stages of modern Sudanese historical research and writing, which played an important part in the emerging Sudanese national movement that Ṭāhā was a part of ¹⁰⁶. Marxist literature and views were widely circulating at Gordon Memorial College by the 1940s¹⁰⁷, and one of the founders of Ṭāhā’s 1945 Republican Party had travelled to the Soviet Union¹⁰⁸. Thus, Ṭāhā had a significant knowledge of Marxist theory as well as its practice in the socialist lands at a very early phase of his political development that was nurished by different sources. We also know the Ṭāhā read several works by Marx and Engels, even much later in his life¹⁰⁹. An certain awareness of this influence of Marxist theory on the development of his thought might also have motivated some policies on the organizational level. Though he never hid his enmity towards the communists, Ṭāhā nevertheless vehemently fought against a campaign to ban the Sudanese Communist Party in the second half of the 1960s that was orchestrated by right-winged Islamists¹¹⁰. Obviously, there were some overlaps between the Republican’s ideals and those of the Sudanese Communists¹¹¹; it is thus no surprise that the Republican Sisters, according to Asmāʾ Ṭāhā, were more successful in recruiting women from the Communist Party than from any other organization¹¹².

 Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 57.  ibid., 58.  Schmidinger: ArbeiterInnenbewegung im Sudan, 83.  al-Bashīr, ʿAbdallāh al-Fakkī: Ṣāḥib al-fahm al-jadīd li-l-Islām Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā wa-ʾl-muthaqqafūn. Qirāʾa fi ʾl-mawāqif wa-tazwīr at-tārīkh. Cairo: Ruʾya li-n-nashr wa-ʾt-tauzīʿ, 2013, 829 – 833.  Ismael: The Sudanese Communist Party, 14– 15.  Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 66.  Oevermann: Die “Republikanischen Brüder” im Sudan, 47– 48, especially 48 FN 31.  Mahmoud: Quest for Divinity, 21.  For the goals of the Sudanese Communist Party, see Ismael: The Sudanese Communist Party, 184.  Howard: Modern Muslims, 119.

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3.3 Aspects of Marxist thought in Ṭāhā’s theory If we now turn to the traces of Marxist thought in Ṭāhā‘s theory, we can detect them at some of its crucial nexuses. Unfortunately, a book on socialism that he had announced was never written¹¹³, but we can find those influences in some other remarks dispersed among various writings in which he shows a more differentiated view – if not of “Real Existing Socialism”, but of Marx himself and his thought: Marxism, he clarifies in a small book devoted to the issue, must be weighed on the balance scale (mīzān) of Islam, which is the absolute measurement in everything¹¹⁴, and from this starting point, he proceeds to look at the positive and negative sides of Marx’ thought; Islam, he declares, can correct the errors of Marxism¹¹⁵. On the negative side, he posits, as mentioned before, Marx concept’ of violent revolution¹¹⁶ and the idea of the dictatorship of the proletariat¹¹⁷. On the positive side of Marx, Ṭāhā continues, we must put the theory of constant dialectical development in history, commonly known as “dialectic materialism” or “historical materialism”, which according to Ṭāhā matches with the teachings of the Qurʾān¹¹⁸. Additionally, Marx’ scientific analysis of economy and its role in history is put on the positive side of the scale by Ṭāhā. These ideas of Marx, he stresses, are of vital importance and cannot just be cast aside because of Marx’ mistakes in other areas, which can, as stated above, be corrected through Islam: “By Allah’s grace and by virtue of him making Marx known”¹¹⁹ [!], Ṭāhā says in another book, the struggle for social justice can be conducted in a scientific and intelligent way, because we can draw upon Marx’s analysis of society. Furthermore, as opposed to many classical social and political theories which are mainly concerned with the question of how to balance the contradicting interests of the individual and society as a whole, Ṭāhā repeatedly states that his envisioned perfect Islamic society will be one in which the freedom of everyone and of the whole will not be in contradiction anymore¹²⁰, and claims that all  Taha: The Second Message of Islam, 153 FN 4.  Ṭāhā, Maḥmūd Muḥammad: al-Mārksīya fi al-mīzān. al-Kharṭūm: [no publisher indicated], 1973, 4– 5.  Ṭāhā: al-Mārksīya fi al-mīzān, 4.  ibid., 20 – 22.  ibid., 22– 25.  ibid., 15 – 17.  Cited in Niblock, Tim: Islamic movements and Sudan’s Political Coherence, in: Bleuchot, Herve´ / Delmet, Christian / Hopwood, Derek (Eds.): Sūdān. History, Identity, Ideology – Histoire, Identités, Idéologies. Reading: Ithaca Press, 1991, 258.  Ṭāhā: asʾila wa-ajwiba, 63 – 64.

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social philosophies so far have failed to reconcile the two and could only see them as antagonistic¹²¹. Even though he explicitly includes communism (in its current form) among these philosophies, one cannot but notice the familiarity between this demand and the famous line from the Communist Manifesto: “In place of the old bourgeois society, with its classes and class antagonisms, we shall have an association, in which the free development of each is the condition for the free development of all.”¹²² Yet, the most thorough influence of Marxist thought can be found in his theory of the two stages of Islam which are fit for different stages of the historical development of society, which forms the core of his thinking. Marx stresses that an understanding of history, its development and its trajectories are absolutely crucial to our understanding of the social world as a whole, as he explains in the German Ideology, co-authored with Friedrich Engels in the 1840s. One of the main arguments in this book, directed mainly against certain trends of German philosophy that were influential at the time of its writing, is that human social relations cannot be explained through universal principles or by deduction from philosophical concepts, but only through an analysis of their specific circumstances and their historical development¹²³. This culminates in the bold proclamation: “We know only a single science, the science of history”¹²⁴. From this follows a refutation of the concepts of universal and timeless truths and the conviction that any proclaimed truth must always be measured against concrete historical circumstances. In some of their historical writings, Marx and Engels sketch out a rough trajectory of the historical development of mankind, which they divide into several stages¹²⁵. This begins with the first stage of man’s social organization, usually called “Primitive Communism”¹²⁶ (Urkommunismus in German) in Marxist theory, which denotes an initial level of the organization of human society in which many of the negative aspects of modern society were not yet – or hardly – present: Divison of labor and the accompanying alienation of man from his labor, private property, individualization, or competition. Instead, small groups of sev-

 Taha: The Second Message of Islam, 56 – 59.  Marx/Engels. Collected Works, Volume 6, 506.  Marx/Engels. Collected Works, Volume 5, 27– 30.  ibid., Volume 5, 28, Footnote.  For example, see Marx/Engels. Collected Works, Volume 5, 31– 36 and Marx/Engels. Collected Works, Volume 6, 482– 489.  Gandy, Daniel Ross: Marx and History. From Primitive Society to the Communist Future. Austin: University of Texas Press, 22012, 12– 16.

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eral families lived together and commonly produced what they consumed¹²⁷. Yet, this initial, somewhat idyllic society is not perfect, as it lacks consciousness, material wealth, and adequate forces of production. It is still very much subdued to the harshness of nature, lives in fear of wild animals, and has not developed its productive and civilizational potential¹²⁸. Through a process lasting many centuries, the theory continues, this primitive communist society gradually eroded and dissolved together with the development of productive forces, leading to the division of labor and thus to the command over other’s labor by some privileged individuals and to private appropriation of formerly common wealth by some members of society¹²⁹. At the same time, the overall amount of wealth is continually increasing until mankind reaches the point of modern industrial society where an unprecedented, formerly unimaginable amount of wealth has been accumulated¹³⁰. The distribution of this wealth though is unequal to the extreme. While some few possess tremendous riches, most people own nothing other than their pure labor force¹³¹. And while productivity has reached enormous levels, it is less than ever connected to man’s needs, but only serves the senseless increase of capital’s profits. Hence, the communist revolution is expected by Marx and Engels to abolish division of labor and re-establish common property on a higher level by using the modern productive forces to create a new ideal society which is conscious of itself, sustainable, just and rich at the same time: the Communist society¹³². This model of the trajectory of history bears a striking resemblance to Ṭāhā‘s conception. He ascribes utmost importance to historical social circumstances (ḥukm al-waqt). In his case this refers to the specific circumstances in which God’s message – the universal truth, and the program for an ideal society – was revealed. He does not question that God is above history, but he stresses that God took human historical circumstances into account when he decided to reveal his message to mankind. As we have seen above, this indicates that when he revealed his message to mankind through Muḥammad in 7th century’s Arabian Peninsula, it quickly turned out that mankind was not sufficiently mature to receive it. Therefore, God adjusted his message to accommodate this society’s stage of development at that time. At the same time, he left several hints to the actual message he intended to send, but for which man was not yet ready,

     

Marx/Engels. Collected Works, Volume 26, 272– 273 and Gandy: Marx and History, 17. See Gandy: Marx and History, 18 and Marx/Engels. Collected Works, Volume 12, 132– 133. Gandy: Marx and History, 35 – 36. Marx/Engels. Collected Works, Volume 6, 489. ibid., Volume 6, 495 – 496. Gandy: Marx and History, 36.

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to be uncovered by mankind when its social organization and consciousness had reached a level that would enable them to rediscover it. This of course raises the question of how humans can discern if the time is ripe for uncovering and implementing this original message. Ṭāhā gives no detailed explanation of this, but it is clear for him that humankind in his age has reached the necessary level of development. Implicitly, one can deduce that since Ṭāhā, according to himself, actually did find the “hidden” Second Message and expounded it, this in and of itself is proof that the time must now be ripe. But according to Marxist historical thought – which is implicitly followed by Ṭāhā in this point – since human consciousness is a reflection of the historical circumstances that man lives in, he could only have been capable of uncovering the Second Message because the development of society had advanced to a certain level. This is exactly what his Muslim conservative and Islamist opponents fail to acknowledge since their simplistic understanding of history does not allow them to take into account these historical circumstances. Thus, it is only logical that they cannot but accuse him of claiming to be a new prophet who has received a new revelation from God, as they frequently did and do¹³³. Yet, Ṭāhā does specify the historical circumstances that made man ripe for the Second Message to some degree, and in doing so he clearly reflects Marxist influences: The major factor that he names is the material and technological development and progress made by human society¹³⁴. The use of science to subdue nature and increase production is enormous and crucial. This, according to Ṭāhā, has now – after World War II – “reached the end of its purely material development”¹³⁵. It has created riches and possibilities never seen before, enabling mankind, from the material side, to create a “paradise on earth”, where all human beings can live peacefully in leisure and happiness with all their needs fulfilled guaranteed. Yet this material progress totally lacks values, spirit and direction, and thus does not constitute a real civilization¹³⁶. Hence, people do not profit from such progress. Instead of using those means of production for a good life, they irrationally produce more and more without concrete aims or goals. Modern society faces an accumulation of crises, wars, famines, arms races and even the threat of a nuclear war which could destroy humankind in its entirety¹³⁷. Thus, it needs spiritual and moral guidance which “places the ma-

 See, for example, the fatwā issued by the Muslim World League.  Oevermann: Die “Republikanischen Brüder” im Sudan, 122 and An-Naʿim “Mahmud Muhammad Taha and the Crisis in Islamic Law Reform.”, 17– 18.  Taha: The Second Message of Islam, 54.  ibid., 51– 52.  Oevermann: Die “Republikanischen Brüder” im Sudan, 123 – 124.

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chine in its proper place as the servant of man and not his master”¹³⁸, as he explains with another strikingly Marxist phrase. Soviet and Chinese versions of Communism are, from Ṭāhā’s point of view, in this respect no alternative to Western capitalism, they are just different versions of the same problem, not a solution to it. Yet, these very same scientific and social developments now allow mankind to find and apply the solution to all of those problems, namely the Second Message of Islam, the very moral lighthouse that blind materialistic society needs in order to put its material achievements to real human use. Hence, we can juxtapose the Marxist scheme of historical development to that of Ṭāhā¹³⁹: Marxist scheme: 1. In the primitive stage of human development, there are no class differences, no private property, and no division of labor. Humans commonly produce and consume what they need. At the same time, however, they lack social consciousness, science and productive forces, hence they are dull, ignorant and subdued to the forces of an outward nature that they cannot control. 2. Then, with the development of individualization, the division of labor, private property and exploitation of some members of society by others, this harmonic community is painfully broken up and gradually dissolved with the development of different historical states of class society. At the same time, however, mankind experiences an enormous development of its faculties, an extension of its scientific and technological knowledge, of its abilities to control nature and to easily produce the means to fulfil its needs. 3. With modern industrialized capitalist society, which spreads over the entire world, this reaches a point whereby an enormous technological and scientific potential faces an extreme social inequality between oppressor and oppressed, exploiter and exploited, along with an accumulation of social contradictions and conflicts. This tension can only be solved by the communist revolution which reinstates, so to speak, common modes of production and ownership along with the harmony and equality of primitive societies, but combines them with the attained stage of knowledge and technology to create a harmonious, wealthy and prosperous society that is nevertheless socially conscious.

 ibid., 54.  Of course, in both cases, these schemes are gross simplifications; however, they are not meant to be perfect representations of Marxist or Republican thought, but are simply presented here in order to illustrate the point I am trying to make.

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Ṭāhā‘s Scheme: 1. The original Message of God, which entails a just and harmonious social system, is brought to the pagan society of 7th century Arabia and practiced and preached by the prophet Muḥammad. 2. But soon it turnes out that society at large is not ready for it, so it was historically necessary to postpone its implementation and resort to a non-ideal system (traditionally understood Sharīʿa) for a transitory period in which mankind could develop its knowledge and technological abilities. 3. Finally, in our modern age, the productive forces, scientific control of nature, and the concomitant development of social organizations has reached a point where a return to the initial message is both possible and necessary, since the unconscious, foolish use that mankind has applied to these achievements creates a rising amount of problems. This idea of “returning to the origins on a higher level” can also be found in his concept of the seven stages of the believer. It is noteworthy that the first and last stages of his pyramid reflecting the development of the believer are both called “Muslim”, though one of them constitutes solely the primitive, outward stage of belief, the mere mechanic profession of adherence to Islam, while the other represents its fulfilment. Here, we find the same idea of a “return to the origin on a higher level”, for the Muslim of the first stage, although imperfect and only outwardly believing, with his acceptance of Islam, which bears all the secrets of its evolution towards its highest stage with it, already opens up the potential to eventually reach that stage¹⁴⁰. Ṭāhā also brilliantly employs the well-known Qurʾānic metaphor of al-ʿurwa al-wuthqā in order to explain the importance of historical development for man’s capability of understanding God’s teachings. God has extended a rope to humankind, and this rope is religion (Islam). It “descends from infinitude to people on earth”¹⁴¹, and at its end lies the ʿurwa, the “secure handle” that man must grasp tightly in order to be guided by God along the right path, and this handle, according to Ṭāhā, is Sharīʿa. By following its prescriptions, man, while remaining distant and separated from God, at least has some degree of moral guidance. Continuing with this image, Ṭāhā says that the effects of the social developments across the 14 centuries since the revelation of God’s message – at which point the rope was first extended to man – can be understood as to mean that “part of the rope has been drawn from the distance to a closer point, thereby placing the new

 I am indebted to Ahmed Amer for pointing this relation out to me.  Taha: The Second Message of Islam, 34– 35.

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secure handle [which is his reformed version of Sharīʿa, P.W.] closer to infinitude than the old one”¹⁴².

4 Abdullahi An-Naʿim Among the most important disciples of Ṭāhā is Abdullahi Ahmed An-Naʿim, an academic who has had a scholarly career in many universities in the Sudan, the USA and many other countries. He appropriated Ṭāhā’s idea that “we always understand Islamic sources (or any other text, for that matter) as who we are, in our specific location and context”¹⁴³ and developed it further. Having joined the Republican Brotherhood as a member while he was still living in Sudan, he translated, as mentioned above, “The Second Message of Islam” into English, and through this translation along with his numerous publications, lectures and seminars greatly helped to disseminate the thought of Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā in all parts of the Muslim world and beyond¹⁴⁴. But An-Naʿim dedicated most of his activities to the world of academia,contributing greatly to scholarly debates in his capacity as a scholar of law. Ṭāhā‘s deeply religious, sometimes eclectic, opaque and often mystical thought featured a degree of peculiarity that make it difficult for contemporary academic discourse to accept it as a basis for further discussion. There is some debate if Ṭāhā can be called an “Islamist”¹⁴⁵; whether we utilize that term or not, there is no doubt that Ṭāhā always believed that Islam, in the way he understood it, constitutes a universal truth, and while his understanding of Islam strictly precluded any form of violence or coercion in the process of its dissemination, he always kept to his belief that in the end, all mankind would (and would have to, if it was to solve its problems) accept (his interpretation of) Islam¹⁴⁶. Thus An-Naʿim attempted in his academic work to transform Ṭāhā‘s ideas and insert them into a framework that is compatible with academic discourse,  ibid., 36.  An-Naʿim, Abdullahi Ahmed: Islam and the Secular State. Negotiating the Future of Shariʿa. Cambridge, MA: Harvard University Press, 22009, vii. This book, in his own words, is the “culmination” (ibid., vii) of his lifelong research and thus can be counted as his most important work.  Howard: Modern Muslims, 32.  Niblock: Islamic movements and Sudan’s Political Coherence; see Duran, Khalid. “An Alternative to Islamism: The Evolutionary Thought of Mahmud Taha”. In CrossCurrents. The Journal of the Association for Religious and Intellectual Life, Volume 42, Issue 4 (1992/1993): 454.  Thomas: Islam’s Perfect Stranger, 230 – 231. Thomas also points out that this, for many South Sudanese, made it hard to accept his ideas, despite their respect for Taha’s commitment for peace with the South and the rights of the Southerners.

Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā’s “Second Message of Islam”

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one that could be accepted by non-Muslims and Muslims alike and thus also prove applicable to practical (legal and other) problems of Muslim life in modern societies. His main focus in this regard is the compatibility of Sharīʿa law with a modern, secular state and Human Rights. Starting from the premise that “Muslims everywhere, whether minorities or majorities, are bound to observe Shariʿa as a matter of religious obligation”¹⁴⁷, he argues that Sharīʿa must not and can never be enforced by the state, since behaviour according to its values has to come from the inner conviction of Muslims. The idea of forcing people – whether they be Muslims are non-Muslims – to adhere to Sharīʿa thus is a contradiction in and of itself. This does not mean that politics cannot be guided by Islamic values – it should be, according to An-Naʿim¹⁴⁸ – but this must emerge from the free, democratic decision of the members of society. Thus proper Sharīʿa and Islamic guidance of state policy necessitates a strictly secular state. Such an approach, though, would first necessitate a radical reform of the way Sharīʿa is commonly understood by many Muslims. This reform, he continues, “can best be realized through the methodology proposed by Ustadh Mahmoud Mohamed Taha”¹⁴⁹ in his eyes¹⁵⁰, but he concedes “the possibility of alternative approaches that are capable of achieving the necessary degree of reform”¹⁵¹. But the specific theological method of reform one should follow must always “take into consideration political, economic, social, and cultural factors as well as the coherence and theoretical viability of the ideas”¹⁵².

Conclusion As has been demonstrated, historicity is absolutely crucial to the reform project of Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā. Human actions, social relations and ideas always must be related to the environment in which they emerge or take place, and this environment changes and evolves over the course of time. This holds true even of

 An-Naʿim: Islam and the Secular State, 3.  ibid., 4– 5.  ibid., 2.  For a detailed description of how to apply Ṭāhā’s method to reform Sharīʿa, see An-Naʿim, Abdullahi Ahmed: Toward an Islamic Reformation. Civil Liberties, Human Rights, and International Law. Syracuse, NY: Syracuse University Press, 21996, 52– 68. In this book, he also explains how a Sharīʿa reformed along these lines can be related to modern legal concepts like human rights or international law.  An-Naʿim: Islam and the Secular State, 2. and 135– 136.  ibid., 124.

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man’s approach to divine revelation. The thought of Karl Marx, for whom this insight was also central, had a great, if subtle, influence on the development of Ṭāhā’s concept of historicity and his teaching of the “Second Message of Islam”. His example shows that we should not, from a merely superficial opposition between Marxist and Islamic (or, for that instance, any religious) thought, infer that there can be no connection, commonality or mutual influence between them. The Egyptian Marxist Samir Amin, for example, acknowledges that Ṭāhā’s proposed program for society was closer to the idea of communism than the actual praxis of the so-called socialist societies in the 20th century¹⁵³. Taking this into account might yield new insights not just in Ṭāhā’s case, but in research on modern Islamic thought in general. Even more then 30 years after his death, the thought of Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā still represents a powerful proposal for a transformation of traditional Islam. Many researchers and writers, Muslims and Non-Muslims, Marxists and theologians, have been fascinated by his thought and personal example. And while his movement might always have remained marginal both within and beyond Sudanese society, it might be appropriate to quote Abdullahi An-Naʿim as to its future prospects,: “In view of the long time it has often taken for significant ideas to take hold and social transformation to occur, it may be premature to declare this particular initiative dead and gone”¹⁵⁴.

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Internet A large number of books and pamphlets authored by Ṭāhā and other Republicans as well as pictures, audio recordings and a copious amount of additional information can now by accessed at: https://www.alfikra.org/.

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Al-Ḥākimīya nach Muḥammad Abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad Die Souveränität Gottes oder die Autorität der Menschen Das Thema al-ḥākimīya, die Souveränität Gottes oder die Autorität der Menschen, spielt im Islam eine große Rolle, sowohl in der Vergangenheit als auch in der heutigen Zeit. Deswegen gab es mehrere religiöse Strömungen. Eine religiöse Strömung bedeutet, dass Gott den Menschen zum Statthaltergott gemacht und ihm die Regeln gegeben hat, die er befolgen muss. Allah ist der Gott und er hat die Welt erschaffen, deswegen ist es sein Recht, nach seinen Regeln zu herrschen. Es existiert die Unterscheidung zwischen al-ḥākimīya in ihrem religiösen Sinn al-ḥākimīya at-tašriʿīya, die Gott betrifft aber nicht mit dem theokratischen Verständnis oder ihrer politischen Bedeutung al-ḥākimīya as-siyāsīya, die sich auf die Menschen verlässt. Die Vorstellung der Säkularen unterscheidet sich von dieser Sichtweise, sie lehnen die religiösen Gesetze ab. Sie finden, dass der Mensch Verstand hat und mit diesem selbst entscheiden und die Gesellschaft so verwalten soll, wie es ihm passt. Ḥāǧ Ḥamad vertritt eine neue Ansicht von al-ḥākimīya und legt dar, welche Rolle der Mensch hätte spielen sollen oder können. Er stellt die sukzessive Loslösung von der göttlichen, sichtbaren Herrschaft hin zur menschlichen Autorität dar.

1 Muḥammad Abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad Muḥammad abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad (1942– 2004) war ein sudanesischer Politiker, Philosoph und moderner islamischer Denker. Seine Methodologie und Ideen haben viele Diskussionen und Debatten im islamischen und arabischen Raum beeinflusst. Er integriert in seinem Konzept, mit dem er den Koran und den Islam modern verstehen will, verschiedene Richtungen. Aus diesem Grund ist er keiner bestimmten Denkschule zuzuordnen.¹ Zunächst werden die wichtigsten Schritte seines Lebens erläutert:

 Dwāq, al-Ḥāǧ Ūḥaminih: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya wa-l-manhaǧ al-maʿrifī at-tawḥīdī. Qiraʾa https://doi.org/10.1515/9783110588590-010

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Muḥammad Abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad ist am 28 November 1942 auf der Insel Maqrāt im Sudan geboren.² Er musste das Gymnasium wegen seiner Teilnahme an politischen Demonstrationen verlassen. Aus diesem Grund hat Ḥāǧ Ḥamad keine Universität besuchen können. Er eignete sich seine Kenntnisse autodidaktisch an, indem er viel Zeit in Bibliotheken mit Lektüre verbrachte. Am 20. September 2004 ist er gestorben.³ Er beschäftigte intensiv mit dem Studium des Korans und versuchte eine neue Methode zu finden, um den Koran in der modernen Zeit rational verstehen zu können, vor allem was gesellschaftlich relevante Themen betraf. Einige seiner wichtigsten Schriften sind: 1. Manhaǧīyat al-qurʾān al-maʿrifīya. Aslamat falsafat al-ʿulūm aṭ-ṭabīʿīya wa alʾinsānīya. 2. Al-Ḥākimīya. 3. Ǧadalīyat al-ġaīb wa al-ʾinsān wa aṭ-ṭabīʿa. Al-ʿālamīya al-ʾislāmīya aṯ-ṯānīya. 4. tašrīʿāt al-ʿāʾila fi al-ʾislām. 5. Ḥurīyat al-ʾinsān fi al-ʾislām. 6. Ǧuḏūr al-maʾzaq al-ʾuṣūlī. 7. Al-Qurān wa al-mutaġaīyrāt al-ʾiǧtimāʿīya wa at-tāriḫīya. 8. Al-Azma al-fikrīya wa al-ḥaḍārīya fi al-wāqiʿ al-ʿarabī ar-rāhin. 9. Abustmūlūǧīyat al-maʿrifa ak-kawnīya. ʾIslāmīyat al-maʿrifa wa al-manhaǧ. In der Zeit von 1990 bis 1995 arbeitete er als Berater am Internationalen Institut für Islamisches Gedankengut “The International Institute of Islamic Thought” in Washington.⁴ Er ruft in seinen Schriften dazu auf selbstständig zu denken und den Koran, ohne den Einfluss und die Vorstellungen der alten Schulen zu lesen.⁵ Er unterscheidet zwischen dem Islam als umfangreicher Religion für die ganze Welt und den anderen Religionen, die für eine bestimmte Zeit und Menschengruppe

fi mašrūʿ Muḥammad abu al-qāsim Ḥāǧ Ḥamad. Virginia USA: al-Maʿhad alʿālamī lil-fikr al-islāmī, 2015, 27– 28.  Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 28. Bībī, Ḫaddūǧa: al-Badīl al-ibstumūlūǧī ʿan almašrūʿ al-ḥaḍārī al-ġarbī ʿind Muḥammad abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad. Unveröffentlichte Masterarbeit. Algerien: Muḥammad bū-Ḍīyāf Universität, 2017, 8.  Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 29. Bībī: al-Badīl al-ibstumūlūǧī, 2017, 8.  Bībī: al-Badīl al-ibstumūlūǧī, 2017, 8 – 9.  Ḥāǧ Ḥamad, Muḥammad abu al-Qāsim: Manhaǧīyat al-qurʾān al-maʿrifīya. Aslamat falsafat al-ʿulūm aṭ-ṭabīʿīya wa al-insānīya. Beirut: Dār al-hādī lil-ṭibāʿa wa an-našr wa at-tawzīʿ, 2003, 253 – 254.

Al-Ḥākimīya nach Muḥammad Abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad

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offenbart wurden. Der Islam soll nicht mit den anderen Religionen verglichen werden, da es einen großen Unterschied in der Botschaft gibt. Ein Unterschied betrifft die Herrschaft Gottes und die Autorität der Menschen, was in diesem Artikel besprochen wird.⁶

2 Das Konzept der ḥākimīya 2.1 Der Begriff al-ḥākimīya Der Begriff al-ḥākimīya ist eine Form des Infinitivs, und zwar ein synthetischer Infinitiv maṣdar ṣināʿī, der vom Verb ḥakama stammt.⁷ Die Wurzel ḥakama hat mit ihren Ableitungen verschiedene Bedeutungen, die wie folgt zusammengefasst werden können: a. Ḥakama bedeutet ursprünglich “die Verhinderung”. b. Ḥukm und ḥikma bedeuten “die Wissenschaft und die Weisheit”. c. Iḥkām meint “die Beherrschung und die Genauigkeit”. d. Ḥakama, ḥukm, ḥakkama und ḥākama “die Gerichtsbarkeit und die Verurteilung”. Davon kommt das Wort ḥākim, das Richter bedeutet.⁸ Aus diesem wird der heutige arabische Begriff ḥukūma abgeleitet, der “Regierung” meint.⁹ Im Koran wird ḥakama mit seinen Ableitungen 210 mal erwähnt und zeigt sich dort in seinen verschiedenen, zahlreichen Bedeutungen.¹⁰ Die ḥākimīya ist die Souveränität Gottes. Sie stellt die Einheit von Religion und Politik her. Sie ge-

 Ḥāǧ Ḥamad, Muḥammad abu al-Qāsim: Ḥurīyat al-ʾinsān fi al-ʾislām. Beirut: Dār as-sāqī, 2012, 31– 33.  Ǧaʿfar, Hišām Aḥmad ʿAwad: al-Abʿād as-siyāsīya li-mafhūm al-ḥākimīya. Ruʾya maʿrifīya. Virginia USA: al-Maʿhad al-ʿālamī lil-fikr al-islāmī, 1995, 55. Maʿlūm, Ḥussain: al-Islām wa as-siyāsa. Qirāʾa naqdīya fi mafhūm al-ḥākimīya. In Qirāʾāt islāmīya. Giza: Markaz faǧr lil-dirāsāt al-istirātiǧīya, ²2018, 51– 52. Al-Bannā, Ibrahim ʿAbd Allāh; Bin Mohd Daud, Noor Amali: An Analysis of the Conceptual Framework of al-Ḥākimiyyah of Sayyed Quṭb. In Al-Itqān, Research Management Centre, RMC International Islamic University Malaysia, Kuala Lumpur: IIUM Press, International Islamic University Malaysia, Bd. 2, ²2018, 160.  Ibn Manẓūr, Muhammad: Lisān al-ʿarab. Beirut: Dār Ṣādir, Bd. 12, 1992, 140 – 145. Ǧaʿfar, alAbʿād as-siyāsīya, 1995, 56 – 57. Dwāq, al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 362– 363. Al-Bannā; Mohd Daud: An Analysis of the Conceptual Framework, Bd. 2, 2018, 160 – 161.  Hefny, Assem: Herrschaft und Islam. Religiös-politische Termini im Verständnis ägyptischer Autoren. Frankfurt a. M.: Peter Lang GmbH, 2014, 187.  Maʿlūm: al-Islām wa as-siyāsa, 2018, 22.

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währleistet, dass die Herrschaft tatsächlich nach dem Willen Gottes ausgeübt wird.¹¹ Der Fachbegriff al-ḥākimīya wurde weder im Koran noch in den Hadithen erwähnt.¹² Er ist ein moderner Terminus, der vom indisch-pakistanischen Journalisten und islamischen Denker abū al-Aʿlā Maudūdī (1903 – 1979) geprägt wurde.¹³ Aus diesem Grund ist dieser Begriff auch nicht in den klassischen arabischen Lexika zu finden, wie in tahḏīb al-luġa von al-Azharī (895 – 981), in muʿǧam maqāyīs al-luġa von Ibn Fāris (941– 1004), oder in lisān al-ʿarab von ibn Manẓūr (1232– 1311)usw.¹⁴ Der Begriff mit diesem Verständnis im politischen Sinne wurde vom ägyptisch, islamischen Denker Sayyid Quṭb (1906 – 1966) verwendet und entwickelt.¹⁵ Die Ähnlichkeit zwischen den Gedanken von Maudūdī und den Ideen von Quṭb wird durch das identische Verständnis des Themas tawḥīd al-ulūhīya “Bekenntnis zur Einheit Gottes” und tawḥīd ar-rubūbīya “Bekenntnis zur Einheit des Herrn”, und ihrer Beziehung mit dem Begriff al-ḥākimīya deutlich.¹⁶ Z. B. wurden die gleichen Beispiele über den Pharao, Josef und die Ungläubigen in Mekka, die Maudūdī verwendet hat, um seine Vorstellung von al-ḥākimīya zu bestätigen, auch von Quṭb benutzt. An verschiedenen Stellen in seinem Werk fi ẓilāl alqurʾān wird darauf hingewiesen.¹⁷ Sayyid Quṭb erklärt in diesem Zusammenhang, dass al-ḥākimīya meint, dass nur Allah die Macht und die Verantwortlichkeit hat, die Welt mit seinen Gesetzen zu verwalten, die aus dem Koran und aus den Hadithen abgeleitet werden können. Allah hat die absolute Macht, mit seinen Gesetzen zu beurteilen und zu entscheiden, wie die Menschen auf der Erde leben sollen. Er überlässt bestimmten Personen einen Teil dieser Herrschaft, um

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Al-Ḥākimīya nach Muḥammad Abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad

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diese auf der Erde auszuüben, wie beispielsweise Propheten, Herrschern, Vätern, Ehemännern usw.¹⁸ Die Idee dahinter ist, dass Gott die Welt erschaffen hat und die Menschen zum Statthalter Gottes gemacht hat. Gott hat auch Regeln und die Scharia offenbart, nach denen die Menschen sich richten und die Welt verwalten sollen.¹⁹

2.2 Die Entstehung des Begriffs al-ḥākimīya Der Fachbegriff al-ḥākimīya ist modern, wie oben bereits erklärt wurde, aber das Konzept dahinter und das Verständnis des Begriffes sind sehr alt.²⁰ Die ersten, die dieses in dieser Weise verwendet haben, waren die Ḫāriǧiten. Sie vertreten die Ansicht, dass die Entscheidung bei Gott liegt und nicht, wie es der vierte Kalif ʿAlī b. Abī Ṭālib (reg. 656 – 661) tat, einen menschlichen Schiedsspruch gegen Muʿāwiya b. Abī Sufyān (reg. 661– 680) in der Schlacht von Ṣiffīn (657– 658) auszusprechen, der dann akzeptiert wurde, obwohl er nicht von Gott kam. Dies führte zur Spaltung seiner Anhängerschaft und zum Abfall der egalitären Ḫāriǧiten, die gegen Verhandlungen mit Muʿāwiya waren. Mit Verweis auf Koranverse, die den Kampf gegen Rebellen gebieten, meinten sie, dass gerade ein solches Schiedsgericht unrechtmäßig sei, weil es nur ein menschliches Urteil fällen konnte, während sie den Ausgang der Schlacht als Gottesurteil verstanden haben. Noch während sie in Siffīn waren, erhoben einige von ihnen in Anlehnung an koranische Formeln (Sure 12, 40) den Ruf: “Die Entscheidung/Herrschaft steht allein Gott zu!” lā ḥukma illā li-Llāh. Das war die erste Verwendung und der erste Aufruf zu diesem Konzept.²¹

 Quṭb, Sayyid: Maʿālim fī aṭ-ṭarīq. Beirut: Dār aš-Šurūq, 61979, 8; 24– 25; 123 – 125. Al-Bannā; Mohd Daud: An Analysis of the Conceptual Framework, Bd. 2, 2018, 147– 149; 151– 152.  Ǧaʿfar: al-Abʿād as-siyāsīya, 1995, 124– 128. Al-Ḫālidī: Fi ẓilāl al-qurʾān, 2000, 185.  Uçar, Bülent: “Islam und Verfassungsstaat vor dem Hintergrund der Scharia-Regelungen.” In Islam – Säkularismus – Religionsrecht. Aspekte und Gefährdungen der Religionsfreiheit, hg.v. Lothar Häberle; Johannes Hattler, Heidelberg: Springer, 2012, 30 – 31. Al-Ghazālī, Abū Ḥāmid: al-Mustaṣfā min ʿilm al-uṣūl. Beirut: Muʾassast al-risāla, Bd. 1, 1997, 21– 22; 275 – 276.  Aš-Šahrastānī, Abu al-Fatḥ Muḥammad: Religionspartheien und Philosophen-Schulen. Zum ersten Male vollständig aus dem Arabischen übersetzt und mit erklärenden Anmerkungen versehen von Theodor Haarbrücker. Halle: Schwetschke, 1950, 128 – 133. Al-Ḫālidī: Fi ẓilāl alqurʾān, 2000, 184– 185. Ǧaʿfar: al-Abʿād as-siyāsīya, 1995, 75 – 77. Al-ʿAuwā, Muḥammad Salīm: Fi an-niẓām as-siyāsī li ad-dawla al-islāmīya. Kairo: Dār aš-šurūq, ²2006, 100 – 101. AlQaraḍāwī: Baīynāt al-ḥal al-islāmi, 1993, 163.

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[…] Die Entscheidung steht Gott allein zu. Er berichtet die Wahrheit. Und Er kann am besten entscheiden.²² (Sure 6, 57).

Daraufhin meinten die Ḫāriǧiten, dass keine menschliche Entscheidung akzeptiert werden soll, solange es einen göttlichen Text und religiöse Beurteilungen gegen die Gruppe gibt, die gegen den Kalifen rebelliert.²³ Und wenn zwei Gruppen von den Gläubigen einander bekämpfen, dann stiftet Frieden zwischen ihnen! Wenn dann aber die eine der anderen (immer noch) Gewalt antut, dann kämpft gegen diejenige, die gewalttätig ist, bis sie wiedereinlenkt(?) und sich der Entscheidung Gottes fügt! […].²⁴ (Sure 49, 9).

Wichtig ist hier darauf hinzuweisen, dass ʿAlī in diesem Kontext antwortete: Ein Wort der Gerechtigkeit, wodurch Ungerechtigkeit bezweckt wird; sie sprechen mir keine Herrschaft, und eine Herrschaft, eine gerechte oder ungerechte, ist doch notwendig.²⁵

2.3 Die verschiedenen Strömungen Aus diesem Grund entstanden mehrere Strömungen. Die erste Meinung lautet, dass Gott den Menschen als Statthalter Gottes eingesetzt hat und ihm die Regeln gegeben hat, die er befolgen muss. Allah ist Gott und er hat die Welt erschaffen, deswegen ist es sein Recht mit seinen Regeln zu herrschen. Der Mensch darf nicht andere menschliche Gesetze erfinden, die ihm bei der Verwaltung der Welt helfen können. Es gibt keine Möglichkeit Gesetze und Regeln nach Gutdünken zu erschaffen, mit denen das Leben und die Gesellschaft kontrolliert werden kann. Gott hat die passenden Gesetze für die Menschen vorgeschrieben, die in allen Zeiten passen und der Mensch kann keine besseren Gesetze finden als die von Allah vorgeschriebenen. Er hat den Menschen alle Gesetze, die für sie hilfreich sind, gegeben und sie dürfen diese nicht ignorieren oder andere benutzen.²⁶ Der Koran beschreibt den Menschen als Statthalter Gottes aber nicht als

 Paret, Rudi: Der Koran. Übersetzung von Rudi Paret. Stuttgart: W. Kohlhammer, 112010, 97.  Aš-Šahrastānī: Religionspartheien, 1950, 129 – 132. Al-ʿAuwā, Fi an-niẓām as-siyāsī, 2006, 100. Ǧaʿfar: al-Abʿād as-siyāsīya, 1995, 77. Al-Ḫālidī: Fi ẓilāl al-qurʾān, 2000, 184.  Paret: Der Koran, 2010, 364.  Aš-Šahrastānī: Religionspartheien, 1950, 132. Al-ʿAuwā: Fi an-niẓām as-siyāsī, 2006, 101. AlQaraḍāwī: Baīynāt al-ḥal al-islāmi, 1993, 163. Al-Ḫālidī: Fi ẓilāl al-qurʾān, 2000, 184.  As-Sudīs, ʿAbd ar-Raḥmān Ibn ʿabd al-ʿAzīz: al-Ḥākimīya fi tafsīr aḍwāʾ al-bayān. Riad: Dār ṭība lil-našr wa at-tawzīʿ, 1991, 13 – 63.

Al-Ḥākimīya nach Muḥammad Abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad

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Herrscher. Zwischen beiden gibt es einen großen Unterschied. Der Mensch soll den vorgeschriebenen Gesetzen Gottes als “Herrscher” folgen und nichts Neues erfinden, sondern den heiligen Text anhand der menschlichen Interpretation der göttlichen Gesetze verstehen.²⁷ Es gibt dazu Belege aus dem Koran, die bestätigen, dass der Mensch keine Gesetze, außer denen, die von Gott gegeben sind, verwenden darf.²⁸ Darauf verweist vor allem ein Vers, der besagt: […] Die Entscheidung steht Gott allein zu. Er berichtet die Wahrheit. Und Er kann am besten entscheiden.²⁹ (Sure 6, 57).

Diese Gruppe hat noch viele andere Belege aus dem Koran, die ihre Meinung bestätigen, unter anderem: 1. […] Diejenigen, die nicht nach dem entscheiden, was Gott (in der Schrift) herabgesandt hat, sind die (wahren) Ungläubigen. (Sure 5, 44). 2. […] Diejenigen, die nicht nach dem entscheiden, was Gott (in der Schrift) herabgesandt hat, sind die (wahren) Frevler. (Sure 5, 45). 3. […] Diejenigen, die nicht nach dem entscheiden, was Gott (als Offenbarungsschrift) herabgesandt hat, sind die (wahren) Frevler. (Sure 5, 47). 4. […] Entscheide nun zwischen ihnen (d. h. den Juden und Christen?) nach dem, was Gott (dir) herabgesandt hat, und folge nicht (in Abweichung) von dem, was von der Wahrheit zu dir gekommen ist, ihren (persönlichen) Neigungen! […]. (Sure 5, 48). 5. […] Entscheide zwischen ihnen nach dem, was Gott (dir) herabgesandt hat, und folge nicht ihrer (persönlichen) Neigung, und hüte dich vor ihnen, daß sie dich (nicht) in Versuchung bringen (so daß du) von einem Teil dessen, was Gott dir (als Offenbarung) herabgesandt hat (abweichst)! […].³⁰ (Sure 5, 49). 6. […] Und niemanden läßt er an seiner Entscheidung teilhaben.³¹ (Sure 18, 26).

Diese Beispiele verdeutlichen und betonen mehrfach, dass der Mensch nur der Offenbarung Gottes zu folgen hat. Wer diese göttliche Offenbarung ignoriert, ist entweder ein Ungläubiger, ein Ungerechter oder ein Frevler.³²

     

Quṭb: Maʿālim, 1979, 5. Ǧaʿfar: al-Abʿād as-siyāsīya, 1995, 124– 135. As-Sudīs: al-Ḥākimīya, 1991, 13 – 63. Paret: Der Koran, 2010, 97. ebd., 84– 85. ebd., 206. As-Sudīs: al-Ḥākimīya, 1991, 13 – 63.

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Darüber hinaus werden diejenigen, die die menschlichen Gesetze befolgen, den Leuten in der “ǧāhilīya” (Zeit der Unwissenheit vor dem Islam) gleichgesetzt.³³ Wünschen sie sich (etwa) die Entscheidungsweise des Heidentums? Wer könnte für Leute, die (von der Wahrheit) überzeugt sind, besser entscheiden als Gott?³⁴ (Sure 5, 50).

Zusammenfassend lautet die Meinung dieser Gruppe wie folgt: Gott ist der Herrscher. Er hat durch die Scharia entschieden, wie Menschen die Gesellschaften und die Welt verwalten können. Die Menschen haben keine freie Entscheidungsmöglichkeit Gesetze und Regeln zu erfinden, denn der Mensch ist Statthalter Gottes aber nicht der Herrscher.³⁵ Der islamische Staat wird durch die Scharia geregelt, d. h. durch die göttliche Offenbarung und nicht durch menschliche Gesetze.³⁶ Es gibt eine zweite Vorstellung, und zwar die Ansicht der Säkularisierung: Sie lehnt die religiösen Gesetze ab. Sie findet, dass der Mensch Verstand hat und deshalb selbst entscheiden soll, wie er die Gesellschaft nach seiner Ansicht passend verwalten kann. Die religiösen Gesetze sind alt und berücksichtigen die Entwicklung und die verschiedenen Gesellschaften und Zeiten nicht. Gott hat den Menschen die Vernunft gegeben, damit sie entscheiden können, was passend ist. Die Säkularisierung lehnt ab, dass der Mensch als eine Maschine bezeichnet wird, die keine Macht hat über ihr Leben zu entscheiden.³⁷ Sie stellen das Recht über die absolute Wahrheit zu entscheiden und was die Menschen befolgen sollen oder nicht, in Frage. Im sunnitischen Islam könne niemand beanspruchen, dass seine Worte heilig wären. Vielmehr sei eigenes, individuelles Ur-

 Hartmann: Religion in der Politik, 2014, 221– 222. Al-ʿAuwā: Fi an-niẓām as-siyāsī, 2006, 317– 319. Al-Ḫālidī: Fi ẓilāl al-qurʾān, 2000, 186 – 203. Maudūdī: al-Muṣṭalaḥāt al-arbaʿa, 1971, 79 – 94. Quṭb, Maʿālim, 1979, 8 – 9. Quṭb: Fi ẓilāl al-qurʾān, 2003, Bd. 11, 1761– 1767.  Paret: Der Koran, 2010, 85.  Ǧaʿfar: al-Abʿād as-siyāsīya, 1995, 124– 128. Al-Ḫālidī: Fi ẓilāl al-qurʾān, 2000, 185.  Quṭb: Maʿālim, 1979, 5; 8 – 9; 24– 25; 123 – 125.  Muckel, Stefan: Antworten des staatlichen Religionsrechts auf Herausforderungen durch den Islam. In Islam – Säkularismus – Religionsrecht. Aspekte und Gefährdungen der Religionsfreiheit, hg.v. Lothar Häberle; Johannes Hattler. Heidelberg: Springer, 2012, 62– 63; 68 – 69. Uçar: Islam und Verfassungsstaat, 2012, 36 – 37. An-Naʿīm, ʿAbdallāh Aḥmad: Scharia und säkularer Staat im Nahen Osten und Europa / Schariʾa and the Secular State in the Middle East and Europe. Berlin: Europa im Nahen Osten – Der Nahe Osten in Europa, 2010, 18 – 26. Al-Qaraḍāwī, Yūsuf: alIslām wa al-ʿalmānīya waǧhan li-waǧh. Kairo: Maktabat Wahba, 71997, 106 – 108; 124– 129; 138; 142; 148 – 150; 153. Al-Qaraḍāwī: Baīynāt al-ḥal al-islāmi, 1993, 68 – 70. Ḥaṣīd, Faiṣal: al-ʿAlmānīya fi al-fikr ad-dīni. Dirāsa fi fikr abī al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad. In Al-ʿAlmānīya wa as-siǧālāt al-kubrā fi al-fikr al-ʿarabī al-muʿāṣir. Algerien: Ibn an-Nadīm lil-našr wa at-rawzīʿ, 2015, 219 – 220.

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teilen iǧtihād für jeden in der Gesellschaft zulässig. Niemand darf im Namen des Islam reden.³⁸ Zwischen den beiden Richtungen gibt es eine Gruppe, die versucht einen Weg parallel dazu zu finden. Sie unterscheidet zwischen al-ḥākimīya in ihrem religiösen Sinn al-ḥākimīya at-tašriʿīya, die Gott betrifft aber nicht mit dem theokratischen Verständnis, und mit ihrer politischen Bedeutung al-ḥākimīya as-siyāsīya, die sich auf die Menschen verlässt.³⁹ Die Diskussion innerhalb der islamischen Strömungen gestaltet sich immer heftig und lebendig. Jeder erhebt Vorwürfe gegen die jeweils anderen Sichtweisen und Argumente.⁴⁰

3 Die Vorstellung Ḥāǧ Ḥamad von al-ḥākimīya Ḥāǧ Ḥamad ordnet all diese genannten Anschauungen islamischer Strömungen als abweichend vom gemeinten Sinn von al-ḥākimīya. Auf der einer Seite ist die Gottesherrschaft mit der Menschenautorität nicht zu vergleichen. Gottesherrschaft ist ewig und wurde in verschiedenen Formen praktiziert, was für die Menschen in bestimmten Zeiten geeignet ist. Trotzdem hat der Mensch seine Freiheit nicht verloren.⁴¹ Aber das Problem wird deutlich, wenn der Mensch den Begriff Gottesherrschaft eng definiert, oder wenn die Säkularen ihn allgemein ablehnen und Gott mit einer menschlichen Betrachtungsweise und als Konkurrenz für sie sehen.⁴² Auf der anderen Seite findet Ḥāǧ Ḥamad, dass die menschliche Vorstellung der Gottesherrschaft nicht richtig ist. So unterscheidet Ḥāǧ Ḥamad drei Formen der Herrschaften. Die Souveränität Gottes, die Herrschaft des Statthalters Gottes und die Autorität des menschlichen Buches.⁴³

 Kinitz, Daniel: Die andere Seite des Islam. Säkularismus-Diskurs und Islamischer Denker im modernen Ägypten. Berlin: Walter de Gruyter, 2016, 21– 22; 36. Ǧaʿfar: al-Abʿād as-siyāsīya, 1995, 130.  Al-Ġazzālī: al-Mustaṣfā, Bd. 1, 1997, 21– 22; 275 – 276. Al-Qaraḍāwī: Baīynāt al-ḥal al-islāmi, 1993, 163 – 168. Ǧaʿfa:, al-Abʿād as-siyāsīya, 1995, 115 – 116; 121– 135.  Kinitz: Die andere Seite des Islam, 2016, 16 – 92.  Ḥāǧ Ḥamad, Muḥammad abu al-Qāsim: al-Ḥākimīya. Beirut: Dār as-sāqī, 2010, 30.  Ḥaṣīd: al-ʿAlmānīya fi al-fikr ad-dīnī, 2015, 221– 222. Al-Qaraḍāwī: al-Islām wa al-ʿalmānīya, 1997, 106 – 108. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 30 – 32.  Ḥāǧ Ḥamad, Muḥammad abu al-Qāsim: Tašrīʿāt al-ʿāʾila fi al-ʾislām. Beirut: Dār as-sāqī, 2011, 30. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 32– 35.

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3.1 Die Souveränität Gottes Die Souveränität Gottes bedeutet im Koran die absolute, unmittelbare Kontrolle Gottes über die Menschen. Gott hat die direkte Dominanz über Mensch und Natur. Er übt seine Macht sichtbar und spürbar aus.⁴⁴ Demzufolge bedeutet die Souveränität Gottes etwas ganz anderes und bei weitem mehr als die bloße Rückkehr zum Recht Gottes šarʿ Allāh herbeizuführen, die durch menschliche Herrschaft realisiert wird.⁴⁵ Ḥāǧ Ḥamad fasst die Bedeutung von Gottesherrschaft in vier Punkten zusammen, und zwar: 1. Gottesherrschaft bedeutet, dass Gott selbst die Gesellschaft kontrollieren und direkt verwalten soll. So hat er auch keinen Vertreter auf der Welt. Er übt diese Souveränität selbst aus. 2. Wenn Gott selbst die Herrschaft praktiziert, dann verübt er viele übersinnliche und ungewöhnliche Taten. Er steht über dem Naturgesetz. Er spaltet das Meer, wenn ein Volk in der Falle sitzt. Er spendet dem Volk mit den Wolken Schatten usw. 3. Gott befindet sich an einem Ort, von wo aus er das Volk direkt verwaltet. Demzufolge wird dieses Land heilig, da Gott selbst es beherrscht. 4. Jeden Sünder trifft eine starke, große Strafe. Die Scharia ist schwierig und streng, was an den entsprechenden Strafen zu sehen ist.⁴⁶ Dieser Zustand, der aus den oben genannten Punkten hervorgeht, war der Kern der Beziehung zwischen Gott und den Israeliten. Ihnen sollte ein Ort zugewiesen sein, an dem Gott selbst waltet. Es gibt keinen Statthalter. Er kontrolliert selbst und bestimmt alles, was dort passieren muss. So wird das von Gott verwaltete Land heilig, da selbst seine unmittelbare Herrschaft darin ausübt.⁴⁷ Leute! Tretet ein in das Heilige Land, das Gott euch bestimmt hat, und kehrt nicht (gleich wieder) um, so daß ihr (letzten Endes) den Schaden habt!⁴⁸ (Sure 5, 21).

 Ḥāǧ Ḥamad, Muḥammad abu al-Qāsim: Ǧadalīyat al-ġaīb wa al-ʾinsān wa aṭ-ṭabīʿa. Al-ʿālamīya al-ʾislāmīya aṯ-ṯānīya. Beirut: Dār al-hādī lil-ṭibāʿa wa an-našr wa at-tawzīʿ, 2004. 262– 263. Ḥāǧ Ḥamad, al-Ḥākimīya, 2010, 32– 33; 45. Šaḥrūr, Muḥammad: ad-Dīn wa as-sulṭa. Qirāʾa muʿāṣira lil-ḥākimīya. Beirut: Dār as-sāqī, 2014, 81.  Kinitz: Die andere Seite des Islam, 2016, 125 – 126.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 32– 33; 45.  Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 262– 263. Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 381– 382. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 45 – 46. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 81.  Paret: Der Koran, 2010, 81.

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Dementsprechend wurden die Israeliten bevorzugt, weil Gott dort selbst seine direkte Souveränität praktizierte.⁴⁹ Ihr Kinder lsraels! Gedenkt meiner Gnade, die ich euch erwiesen habe, und denket daran, daß ich euch vor den Menschen in aller Welt ausgezeichnet habe!⁵⁰ (Sure 2, 47).

Allah macht weder Orte heilig wegen bestimmter Aspekte an diesem Ort noch bevorzugt er ein Volk wegen dessen Eigenschaften. Allah akzeptiert keine Bevorzugung aufgrund der Beschaffenheit oder des Wesens der Kreaturen. Ein Beispiel, das dies verdeutlicht, ist die Verärgerung Allahs darüber, dass Iblīs es ablehnte sich vor Adam niederzuwerfen, da er sich als besser als Adam betrachtete, da letzterer aus Lehm und nicht aus Feuer, wie er, erschaffen wurde.⁵¹ Gott (w. Er) sagte: “Geh von ihm (d. h. vom Paradies) hinab (auf die Erde)! Du darfst darin nicht den Hochmütigen spielen. Geh hinaus! Du gehörst (künftig) zu denen, die gering geachtet sind”.⁵² (Sure 7, 13).

Wie oben bereits gesagt wurde, verwaltet Gott die Menschen und die Natur unmittelbar und erschafft das Übernatürliche und das Ungewöhnliche. So z. B. wird das Meer gespalten, dem Volk mit Wolken Schatten gespendet, ein Stein zerschlagen aus dem Wasser für Dürstende heraussprudelt, und Hungrige werden mit Nahrung versorgt.⁵³ Und (damals) als wir euch einen Weg mitten durch das Meer machten und euch erretteten und die Leute Pharaos ertrinken ließen, während ihr zuschautet!⁵⁴ (Sure 2, 50). Und wir zerteilten sie (d. h. die Kiber Israels) in zwölf Stämme und Gemeinschaften. Und wir gaben dem Mose, als sein Volk ihn um Wasser bat, (die Weisung) ein: “Schlag mit deinem Stock auf den Felsen!” (Er tat so.) Da strömten zwölf Quellen aus ihm hervor. Nun wußte jedermann, wo es für ihn zu trinken gab. Und wir ließen die Wolke über sie Schatten werfen. Und wir sandten das Manna und die Wachteln auf sie hinunter (indem wir sie aufforderten): “Eßt von den guten Dingen, die wir euch beschert haben!” […].⁵⁵ (Sure 7, 160).

 Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 46. Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 381– 383.  Paret: Der Koran, 2010, 16.  Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 381– 383. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 46 – 48; 49.  Paret: Der Koran, 2010, 109.  Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 381– 382. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 262– 263. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 48 – 49. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 81– 82.  Paret: Der Koran, 2010, 16.  ebd., 121.

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Das Walten Gottes ist greifbar und spürbar. Er ist der Verantwortliche. Er entscheidet alles. Kein Schritt wird getan, ohne seine Befehle und seine Zustimmung. Außerdem gibt es keinen Propheten oder Statthalter, der die Thora liest und selbst entscheidet, was das Volk tun soll, oder sich bemüht die religiösen Texte zu verstehen und zu interpretieren. Die religiösen Texte sind klar. Es ist zu sehen, dass immer “Gott sagt”, “Gott entscheidet” oder “Gott macht” geschrieben steht. Es gibt nur die Propheten, die Gott auserwählt, die Befehle und Entscheidungen Gottes dem Volk übermitteln und mitteilen. Es gibt keine Zeit ohne Propheten, in denen die Entscheidungen Gottes nicht übertragen wurden.⁵⁶ Wir haben doch (seinerzeit) dem Mose die Schrift gegeben und nach ihm die (weiteren) Gesandten folgen lassen. […].⁵⁷ (Sure 2, 87).

Diese übernatürliche Gabe braucht eine strenge Botschaft und strikte Scharia (Scharia der Bürde und der Fesseln), dementsprechend eine starke und große Strafe, wenn dieses Volk Sünden begeht.⁵⁸ (Denen) die dem Gesandten, dem heidnischen Propheten, folgen, den sie bei sich in der Thora und im Evangelium verzeichnet finden, und der ihnen gebietet, was recht ist, verbietet, was verwerflich ist, die guten Dinge für erlaubt und die schlechten für verboten erklärt und ihre drückende Verpflichtung und die Fesseln, die auf ihnen lagen, abnimmt. […].⁵⁹ (Sure 7, 157).

Es ist wichtig hier zu erwähnen, dass Ḥāǧ Ḥamad zwischen den Israeliten, und Adam, als er im Paradies war, vergleicht. Er findet, dass Adam in seiner Situation im Paradies im gleichen Zustand wie die Israeliten lebte. Gott übte die Gottesherrschaft in beiden Fällen aus. Er ist verantwortlich für sein Volk und gibt ihnen, was sie brauchen.⁶⁰

 Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 381– 384. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 262– 263. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 52– 53.  Paret: Der Koran, 2010, 19.  Ḥāǧ Ḥamad: Tašrīʿāt al-ʿāʾila, 2011, 30. Ḥāǧ Ḥamad: Ḥurīyat al-ʾinsān, 2012, 32. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 269 – 271. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 48 – 49. Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 383 – 384. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 82.  Paret: Der Koran, 2010, 121.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 53 – 54.

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Und (damals) als wir sagten: “Tretet in diese Stadt ein, und eßt uneingeschränkt davon (d. h. von dem, was sich euch in ihren Gärten und Ländereien bietet), wo ihr wollt!” […].⁶¹ (Sure 2, 58). Und wir sagten: “Adam! Verweile du und deine Gattin im Paradies, und eßt uneingeschränkt von seinen Früchten (w. von ihm), wo ihr wollt!” […].⁶² (Sure 2, 35).

Als die beiden die Sünde begangen hatten sprach Gott zu Adam und zu Iblīs jeweils mit dem Wort ihbiṭū – geht herunter – (vom Paradies). Genauso geschah es, als sich die Israeliten über das Essen und die Voraussetzungen der Gottesherrschaft in ihrer heiligen Stadt beschwerten und aufbegehrten. sprach Gott sie mit demselben Wort ihbiṭū an.⁶³ […] Und wir sagten: “Geht (vom Paradies) hinunter (auf die Erde)! Ihr (d. h. ihr Menschen und der Satan) seid (künftig) einander feind.” […].⁶⁴ (Sure 2, 36). Und (damals) als ihr sagtet: “Mose! Wir können es nicht ertragen, nur eine einzige Speise zu haben. Bete doch für uns zu deinem Herrn, damit er für uns hervorbringt, was die Erde (anderswo) wachsen läßt, – Grünzeug, Gurken, Knoblauch, Linsen und Zwiebeln!” Er sagte: “Wollt ihr denn das, was (an Wert) niedriger ist, in Tausch nehmen gegen das, was besser ist? Zieht (doch wieder) nach Ägypten hinab! […]”.⁶⁵ (Sure 2, 61).

Dieses Gespräch ist nur im Zusammenhang mit Adam und den Israeliten bekannt. Aus dieser Beschreibung ist abzuleiten, dass die Stadt der Israeliten die gleiche Rolle wie das Paradies von Adam spielte.⁶⁶

3.2 Die Rebellion der Israeliten gegen die Souveränität Gottes Hunderte von Jahren nach Moses Tod rebellierten die Israeliten gegen die Gottesherrschaft. Sie fragten einen Propheten unter ihnen, Gott zu bitten einen König aus ihren Reihen auszuwählen. Sie wollten die Autorität Gottes durch die Propheten und Rabbiner nicht mehr anerkennen. Sie unterrichteten den Propheten, der die Gottesherrschaft bei ihnen ausübte, über die Notwendigkeit einen

     

Paret: Der Koran, 2010, 17. ebd., 15. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 54– 55. Paret: Der Koran, 2010, 15. ebd., 17. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 54– 55.

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König zu wählen. Deshalb baten sie den Propheten darum, Gott die Wahl des Königs zu überlassen.⁶⁷ Mit diesem Fall verabschiedeten sie sich von der Souveränität Gottes und die Herrschaft des Statthalters Gottes begann. Gott ernennt für sie einen König, der sie regiert. Hervorstechend ist, dass die göttliche Entscheidung anders ausfiel als die menschliche. Sie dachten, dass der König edel, reich usw. sein sollte, Gott aber wählte ihn nach seinen eigenen Kriterien aus und verlieh ihm Wissen.⁶⁸ Hast du nicht die Vornehmen von den Kindern Israels (in der Zeit) nach Mose gesehen? (Damals) als sie zu einem ihrer Propheten sagten: “Schick uns einen König, damit wir (unter seiner Führung) um Gottes willen kämpfen!” […].⁶⁹ (Sure 2, 246 – 252).

Gott wählte Ṭālūt (Saul) als König aus.⁷⁰ Da Gott seine Herrschaft nicht mehr unmittelbar ausübte, begann die Zeit, in der er unsichtbar wirkte, nicht mehr direkt spürbar wie es früher der Fall war. Jetzt sollten die Israeliten selbst kämpfen. Nicht nur das, sie sollten auch aus dem Fluss, dem sie unterwegs begegneten, nicht trinken oder nur wenig trinken. Eine kleine Anzahl, die durstig war, stand einer großen Armee gegenüber. In dieser Situation gab es keine direkte Hilfe von Gott. Das Meer wurde nicht mehr gespalten usw. Gott war jetzt verborgen. Die Israeliten sollten ihren Feinden allein begegnen. Sie waren aber noch nicht bereit, sich von der unmittelbaren Gottesherrschaft zu entfernen, weshalb sie Gott baten, einen Statthalter für sie einzusetzen, um den Sieg im Kampf zu erlangen. Sie hofften darauf, dass der von Gott eingesetzte Statthalter ihnen zum Sieg verhelfen würde. Dementsprechend hat Ṭālūt mit seiner kleinen durstigen Gruppe gekämpft und gewonnen. Hier nahm die Herrschaft des Statthalters ihren Anfang. Die Israeliten brauchten hunderte von Jahren, damit sie das akzeptieren und verstehen konnten.⁷¹

 ebd., 55 – 56. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 83.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 56.  Paret: Der Koran, 2010, 37– 38.  Firestone, Reuven: Ṭālūt. In Encyclopaedia of Islam. Leiden/Boston: Brill, Bd. 10, ²2000, 168 – 169.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 56 – 58. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 83 – 84.

Al-Ḥākimīya nach Muḥammad Abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad

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3.3 Die Herrschaft des Statthalter Gottes In diesem Fall war Gott in einem verborgenen Zustand, aber trotzdem nicht voll unsichtbar. Er hatte entschieden wer der König sein sollte. Am Anfang Ṭālūt, dann David und danach Salomo.⁷² David! Wir haben dich als Nachfolger (früherer Herrscher) auf der Erde eingesetzt. […].⁷³ (Sure 38, 26).

Da Gott nicht mehr die Gottesherrschaft ausübt, sondern stattdessen eine andere Person als Statthalter auswählt, ist dies eine auf die Gottesherrschaft folgende Stufe, was jedoch nicht bedeutet, dass die Menschen selbst herrschen können. Die Gottesentscheidungen und Hinweise bleiben in Form von Inspiration oder dem Wissen der Könige, die wahrscheinlich auch Propheten sind. Wenn der Statthalter etwas nicht versteht, oder von der richtigen Beurteilung abweicht, schickt Gott ihm entweder Personen, die ihn auf den richtigen Weg zurückbringen, oder verleiht ihm Inspiration zum richtigen Verstehen und der Lösungsfindung des jeweiligen Problems.⁷⁴ (Sure 38, 20 – 24/ 30 – 34) und (Sure 21, 78 – 79). Gott beeinflusst daher nicht selbst die Natur wie früher, sondern er gibt dem König die Fähigkeit und die Macht, die Natur zu kontrollieren und zu verwalten. Gott entscheidet darüber, wer König ist und nicht die Menschen. Gott macht diesem König die Natur und die Kreaturen dienstbar. Wie die Verse über David erzählen.⁷⁵ Ertrage geduldig, was sie sagen! Und gedenke unseres kraftvollen Dieners David! Er war (wahrhaft) bußfertig. Wir machten im Verein mit ihm die Berge dienstbar, so daß sie (mit ihm zusammen uns) abends und bei Sonnenaufgang priesen. Ebenso (w. Und) die Vögel in Scharen. – Alles wendet sich (bußfertig) ihm (d. h. Gott) zu (oder: Alles wandte sich (bußfertig) ihm zu).⁷⁶ (Sure 38, 17– 19).

Das gleiche trifft auf Salomo zu. Über ihn wird im Koran vielfach berichtet. (Sure 38, 35 – 40), (Sure 34, 10 – 14) und (Sure 27, 15 – 44).

 Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 383. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 64.  Paret: Der Koran, 2010, 319.  Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 84. Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 383. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 63 – 67. Ḥāǧ Ḥamad: Tašrīʿāt al-ʿāʾila, 2011, 30 – 32. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 263 – 264.  Ḥāǧ Ḥamad: Tašrīʿāt al-ʿāʾila, 2011, 30 – 32. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 67– 68. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 263 – 264. Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 383.  Paret: Der Koran, 2010, 318.

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Aus diesen Versen geht hervor, dass dem Statthalter Gottes alle Kreaturen und die Natur dienstbar gemacht wurden. Z. B. der Wind, die Dschinn, die Teufel, die Tiere und die Menschen. Er kann dazu die Sprachen der Tiere und der Insekten verstehen. Deswegen hat der Statthalter Gottes weder eine nur religiöse noch eine nur politische Aufgabe, sondern als Vertreter Gottes die Hegemonialmacht über alles.⁷⁷ Es ist anzumerken, dass die Statthalterschaft Gottes nicht bedeutet, ein unfehlbarer Mensch zu sein. Er kann Fehler machen und Sünden begehen. Er ist nicht der stärkste, hat aber die Macht die Kreaturen zu kontrollieren und zu regieren. Alle Kreaturen sollen nur ihm gehorchen und seine Befehle befolgen, weil er Statthalter Gottes ist. Deshalb darf keiner gegen ihn aufbegehren, außer mit Gottes Willen.⁷⁸

3.4 Die Autorität des menschlichen Buches Die Autorität des menschlichen Buches⁷⁹ “ḥākimīyat al-kitab al-bašarīya” betrachtet Ḥāǧ Ḥamad auf andere Weise als die Souveränität Gottes und die Herrschaft des Statthalter Gottes. In diesem Zustand ist Gott vollständig verborgen. Die Menschen haben Hunger, aber ihnen werden weder Manna noch Wachteln herabgesandt. Sie haben Durst aber kein Wasser kommt aus dem Stein. Sie sind arm, aber es gibt keinen Wind, der ihren Lebensunterhalt sichern könnte. Sie sollen selbst ihre Waffen herstellen. Nur mit Schwierigkeit gelangen sie an Waffen. Viele bleiben am Ende unbewaffnet. Sie sollen selbst kämpfen und mit ihren Händen einen Schützengraben ausheben. Weder Dschinn erscheinen, noch werden Tiere geschaffen, die mit ihnen kämpfen. Es gibt keinen König oder Propheten, der das Eisen mit seinen Händen beugt, um die Rüstungen und die Schutzschilder herzustellen. Die Menschen sollen selbst herausfinden, wie sie kämpfen können. Gott unterstützt die Menschen in keinem Fall mit materiell spürbarer Hilfe. Am Ende können sie den Sieg erringen oder eine Niederlage erleiden.⁸⁰ Die Muslime haben das alles schnell erfasst. Sie haben die Botschaft

 Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 67. Ḥāǧ Ḥamad: Tašrīʿāt al-ʿāʾila, 2011, 30 – 32. Šaḥrūr: adDīn wa as-sulṭa, 2014, 84– 85. Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 383.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 68. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 86.  Es wird “ḥākimīyat al-kitab al-bašarīya” genannt, weil es sich im Rahmen der göttlichen Dominanz auf die Menschen verlässt. Es ist die Epoche, in der die Menschen die Vorrangstellung haben, da Gott vollständig verborgen ist. Daher ist der Mensch der Entscheidende, aber im Rahmen der Methodenlehre des Korans. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 86 – 87.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 71. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 86.

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mit dem verborgenen Gott in wenigen Jahren akzeptiert und verstanden, wofür die Israeliten hunderte von Jahren brauchten.⁸¹ In diesem Sinn versteht Ḥāǧ Ḥamad die Verse, die über die Engel in der Schlacht von Badr sprechen, die am Krieg teilgenommen, sich aber in Wahrheit nicht sichtbar am Kampf beteiligt hatten.⁸² (Damals) als dein Herr den Engeln eingab: Ich bin mit euch. Festigt diejenigen, die gläubig sind! Ich werde denjenigen, die ungläubig sind, Schrecken einjagen. Haut (ihnen mit dem Schwert) auf den Nacken und schlagt zu auf jeden Finger von ihnen!⁸³ (Sure 8, 12).

Allah hat den Engeln befohlen, dass sie oberhalb des Halses und auf die Finger schlagen. Ḥāǧ Ḥamad stellt fest, dass normalerweise im Krieg weder auf die Finger noch oberhalb des Halses geschlagen wird. Denn oberhalb des Halses liegt das Nervenzentrum im Kopf und in den Fingern die Nervenenden. Daraus geht hervor, dass die Engel das Nervensystem der Feinde im Krieg beeinträchtigt haben. Das bedeutet, dass die Reaktion der Feinde langsamer wurde und sie in der Kontrolle der Waffen beeinträchtigt wurden. Er erläutert dazu die normalerweise angewandte Art des Schlagens der Menschen im Kampf. Es soll auf den Hals geschlagen werden, wie es im Koran erwähnt wird, oder die Hände sollen abgehackt werden, aber nicht die Finger. Hier hat Allah den Muslimen befohlen, auf den Hals zu schlagen. Das ist normales Schlagen im Kampf, aber nicht oberhalb des Halses oder der Finger, deswegen ist das Schlagen der Engel nicht im wortwörtlichen Sinn zu verstehen, sondern metaphorisch.⁸⁴ Wenn ihr (auf einem Feldzug) mit den Ungläubigen zusammentrefft, dann haut (ihnen mit dem Schwert) auf den Nacken! […]⁸⁵ (Sure 47, 4).

Durch diese Erklärung von Ḥāǧ Ḥamad versucht Ḥāǧ Ḥamad zu bekräftigen, dass es in dieser letzten Stufe der Autorität des menschlichen Buches nichts Übernatürliches gibt. Hier fällt auf, dass Gott die Menschen Schritt für Schritt auf die Stufe der Selbstverwaltung bringt, mit dem Ziel sich selbst zu regieren. Der Prophet Mohammed ebnete dafür den Weg und etablierte ein System, in dem mit dem Koran als Buch der Rechtleitung das notwendige Werkzeug gereicht wurde. Wesentliches Kennzeichen dieser Epoche ist, dass deutlich zwi-

 Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 324– 326. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 58. Ḥāǧ Ḥamad: Tašrīʿāt al-ʿāʾila, 2011, 30 – 33.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 58 – 59.  Paret: Der Koran, 2010, 126.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 58 – 59.  Paret: Der Koran, 2010, 357.

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schen dem Recht der göttlichen Herrschaft und seinem Ziel die Welt und die Menschen zu erschaffen differenziert wird. Die Vorstellung ändert sich dahingehend, dass Gott die Welt und die Menschen nicht erschaffen hat, um sie zu regieren, zu beherrschen und angebetet zu werden. Dies stellt eine enge, falsche und menschliche Vorstellung dar, was Gottes Absicht war, die Welt zu erschaffen. Das göttliche Streben nach Herrschaft wird durchgehend im Koran verneint, da Allah weder die Welt braucht noch der Anbetung durch die Menschen bedarf. Das menschliche Tun als Ganzes ist darauf ausgerichtet ihr Wissen und Verständnis zu vermehren, damit sie die Welt selbst verwalten können.⁸⁶ […] Gott ist auf niemand in der Welt angewiesen.⁸⁷ (Sure 29, 6).

3.4.1 Die Grenze der Verantwortlichkeit Die Autorität des menschlichen Buches wurde vom Propheten Mohammed begründet. Aber warum wurde der Prophet Mohammed für diese wichtige Rolle in der Zeit der Menschlichkeit und der Welt auserwählt? Ḥāǧ Ḥamad sieht, dass Allah dem Propheten Mohammed und der Nation danach die Verwaltung auf der ganzen Welt erteilt hat.⁸⁸ Und wir haben dir doch sieben Erzählungen (von Strafgericht) und den gewaltigen Koran gegeben.⁸⁹ (Sure 15, 87)

Er versteht diesen Vers ganz anders als die meisten Korankommentatoren. Sie meinten, dass diese sieben Erzählungen entweder die erste Sure des Korans (al-Fātiḥa), die großen Suren des Korans oder der Koran selbst sind.⁹⁰ Ḥāǧ Ḥamad kommentiert, dass diese Suren auch zum Koran gehören und deshalb nicht das sind, was Gott mit den sieben Dualen meinte. Denn Gott unterscheidet zwischen dem Koran und den sieben Dualen. Von daher ist es nicht logisch, dass sie auch der Koran oder Teile des Korans sind. Allah spricht hier über sieben

 Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 266 – 269. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 71– 73. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 87.  Paret: Der Koran, 2010, 277.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 73.  Paret: Der Koran, 2010, 185.  Paret, Rudi: Der Koran. Kommentar und Konkordanz. Stuttgart: Kohlhammer, 82012, 279 – 280. Ṭabarī, Muḥammad Ibn-Ǧarīr: Tafsīr aṭ-Ṭabarī. Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl āy al-Qurʾān. Kairo: Dār haǧar, Bd. 14, 2001, 107– 125. Az-Zamaḫšarī, Abū al-Qāsim Maḥmūd: al-Kaššāf. ʿAn ḥaqāʾiqi ’ttanzīl wa ʿuyūn al-ʾaqāwīl fi wuǧūh at-taʾwīl. Beirut: Dār al-maʿrifa, Bd. 14, 32009, 565.

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Duale. Das bedeutet diese sieben begegnen den anderen sieben nicht. Seiner Ansicht nach, meint Gott hier die Himmel und die Erde.⁹¹ Gott ist es, der sieben Himmel geschaffen hat, und von der Erde ebensoviel, […].⁹² (Sure 65, 12)

Das heißt, dass Gott dem Propheten Mohammed und den Menschen danach den Koran gegeben hat und ihnen außerdem die Macht über Himmel und Erde verliehen hat. Gott erfüllt sein Versprechen, dass er den Menschen die Statthalterschaft auf der Welt gibt.⁹³ Ḥāǧ Ḥamad versteht unter dem Wort maṯānī als im Vers verdoppelt. Dieses Verständnis des Wortes wird als eine Meinung in der Koranexegese erwähnt.⁹⁴ Aber Ibn Manẓūr beschreibt in Lisān al-ʿarab, die Bedeutung des Wortes als Wiederholung oder Erzählung,⁹⁵ Diese Bedeutung ist auch in den meisten Koranauslegungen bzw. bei den Islamwissenschaftlern zu finden.⁹⁶ Merkwürdig ist, dass die deutsche Koranübersetzung von Hartmut Bobzin und die von Rudi Paret (1901– 1983) das arabische Wort maṯānī als Erzählungen oder Wiederholung übertragen haben.⁹⁷ Die Bedeutung des Wortes als Wiederholung oder Erzählung ist praktischer und passender, besonders wenn die Bedeutung des Wortes an anderen Stellen im Koran verglichen wird, wie in Sure 39, Vers 23. Daher wurde der Koran als maṯānī bezeichnet. Die Bedeutung von verdoppelt oder Himmel und Erde ist nicht mehr passend. Seine Sichtweise konnte er durch andere Verse bestätigen, aber das Verständnis des Verses von Ḥāǧ Ḥamad ist sprachlich nicht passend.⁹⁸ Gott hat die beste Verkündigung (die man sich überhaupt denken kann, als Offenbarung) herabgesandt, eine sich gleichartig wiederholende Schrift (oder: [in der Anordnung der Teile] ebenmäßige Schrift) (mit) Erzählungen die diejenigen, die ihren Herrn fürchten, zum Schaudern bringt […].⁹⁹ (Sure 39, 23)

 Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 73. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 87.  Paret: Der Koran, 2010, 398 – 399.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 73 – 74.  Aṭ-Ṭabarī: Tafsīr aṭ-Ṭabarī, Bd. 14, 2001, 126.  Ibn Manẓūr: Lisān al-ʿarab, Bd. 14, 1992, 118 – 121.  Paret: Der Koran. Kommentar und Konkordanz, 2012, 279 – 280. Aṭ-Ṭabarī: Tafsīr aṭ-Ṭabarī, Bd. 14, 2001, 125. Az-Zamaḫšarī: al-Kaššāf. Bd. 14, 2009, 565.  Bobzin, Hartmut: Der Koran. München: C. H. Beck, 22015, 229. Paret: Der Koran, 2010, 185.  Paret: Der Koran, 2012, 279 – 280. Az-Zamaḫšarī: al-Kaššāf. Bd. 24, 2009, 938 – 939. Aṭ-Ṭabarī: Tafsīr aṭ-Ṭabarī, Bd. 20, 2001, 190 – 192.  Paret: Der Koran, 2010, 324.

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In diesem Zusammenhang hat Ḥāǧ Ḥamad viele Belege angeführt, damit er die Besonderheit des Propheten Mohammed bestätigen konnte, und warum Allah ihn für diese entscheidende Phase auserwählt hat. Demzufolge betont er, dass der Prophet Mohammed weder Wunder verübt noch fühlbare oder sichtbare Zeichen ausgeführt hat. In dieser Stufe sollen die Menschen an den verborgenen Gott glauben. Es wurden keine Wunder oder Übernatürliches verübt, damit die Menschen an Gott glauben können.¹⁰⁰ Und sie sagten: “Wir werden dir nicht glauben, solange du uns nicht aus der Erde eine Quelle hervorkommen läßt” oder einen Garten mit Palmen und Weinstöcken hast und dazwischen lauter Bäche hervorsprudeln läßt oder den Himmel, wie du behauptet hast, in Stücken auf uns herabfallen läßt oder Gott und die Engel (uns) leibhaftig) herbeibringst oder (solange du nicht) ein prunkvolles Haus hast oder in den Himmel aufsteigst.” […] Sag: Mein Herr sei gepriesen! (Wo denkt ihr hin?) Bin ich denn etwas anderes als ein Mensch) und ein Gesandter?¹⁰¹ (Sure 17, 90 – 93) Und sie (d. h. die Ungläubigen) sagen: “Warum ist (denn) auf ihn (zur Bestätigung seiner Sendung) kein Zeichen von seinem Herrn herabgesandt worden?” […].¹⁰² (Sure 6, 37)

Die Verse zeigen klar, dass die Ungläubigen Wunder oder Zeichen vom Propheten Mohammed gefordert haben, aber dieser ihnen entgegnete, dass er nur ein Prophet und ein Mensch sei, wie alle anderen Menschen. Er vollbringe keine materiellen Wunder. Die Ungläubigen fragten erstaunt, ob Allah einen Menschen als Propheten geschickt habe. Sie wussten genau, dass alle Propheten Menschen waren. Aber die hier wichtige Frage ist nicht, ob er ein Mensch ist oder nicht, sondern ob er ein Prophet ist, der keine sichtbaren Wunder vollbringt, wie es alle anderen Propheten vor ihm taten. Der Prophet Mohammed kam ohne Wunder. Der Grund ist nicht, dass er einen geringeren Stellenwert als die anderen Propheten innehatte, sondern weil Gott entschieden hat, dass die nächste Phase eine rein menschliche Epoche ist, in der sich die Beziehung zwischen Gott und den Menschen immateriell gestaltet.¹⁰³

 Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 373 – 376. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 73 – 78. Ḥāǧ Ḥamad: Tašrīʿāt al-ʿāʾila, 2011, 226 – 231.  Paret: Der Koran, 2010, 202– 203.  ebd., 95.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 77– 78; 87.

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3.4.2 Die Merkmale der Autorität des menschlichen Buches Im Islam hat Allah am Beginn der Botschaft angekündigt, dass er ein voll verborgener Gott ist. Er übt seinen Einfluss auf das normale weltliche System aus. Die Araber sollten das in kurzer Zeit verstehen und akzeptieren. Wenn sie Gott oder seinen Einfluss sehen möchten, sollen sie ihn in sich selbst oder in der Natur suchen.¹⁰⁴ Wir werden sie (draußen) in der weiten Welt und in ihnen selber unsere Zeichen sehen lassen, damit (oder: bis) ihnen klar wird, daß es die Wahrheit ist (was ihnen verkündet wird).¹⁰⁵ (Sure 41, 53)

Der Unterschied zwischen dem Islam und den anderen alten Religionen und Kulturen ist, dass wenn die anderen alten Kulturen wie die der Griechen oder der Römer Gott nicht sehen konnten oder seine klare Auswirkung nicht spürten, richteten sie sich dann nach der Macht der Natur. Gott sollte Regen bringen oder in Kriegen helfen, geschah dies nicht wurde er durch andere Götter ersetzt. Im Islam wurde dieses Verständnis geändert. Allah will, dass er der einzige Gott ist. Er existiert fernab von Ort und Zeit, kann jedoch alles verwalten. Die Autorität der Menschen bewirkt, dass sie Kultur schaffen und eine Zivilisation aufbauen können. Der Mensch ist nicht mehr voll abhängig vom Verborgenen, das ihm seine freie Entscheidung nimmt. So bleibt der Mensch nicht wie eine Maschine, die angetrieben werden muss. Der Mensch soll die Zeichen Gottes und die Spuren seiner Anwesenheit in sich selbst, in der Welt, in allem und überall sehen. So vollzieht sich der Glaube an Gott ohne dessen unmittelbare Aktion. Zu den Merkmalen dieses Verhältnisses gehören die von jetzt an dominierende Wissenschaft und die daraus resultierende Macht der Menschen, ihre persönlichen Fähigkeiten zu entwickeln.¹⁰⁶ Der Prophet Mohammed ist zwischen zwei Zeitabschnitten erschienen. Der erste Abschnitt geht von Adam bis zu seiner Zeit, der zweite beginnt dann nach ihm bis zum Ende der Welt.¹⁰⁷ Deswegen beginnt die islamische Botschaft mit dem Aufruf zur Sammlung der beiden Lesarten, die am Anfang der Sure 96 gesammelt werden. Die erste Lesart ist, dass Allah der Gott und der Schöpfer ist, und die zweite ist die wissenschaftliche mit dem Schreibrohr. Der Koran sammelt

 Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 379 – 380. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 90. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 89.  Paret: Der Koran, 2010, 339.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 85 – 90.  Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 377.

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die beiden Versionen vom seelischen Glauben an den verborgenen Gott und von der abstrakten, kosmischen Wissenschaft.¹⁰⁸ Trag vor im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen aus einem Embryo erschaffen hat! Trag (Worte der Schrift) vor! Dein höchst edelmütiger Herr (oder: Dein Herr, edelmütig wie niemand auf der Welt) ist es ja, der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat (oder: der durch das Schreibrohr gelehrt hat).¹⁰⁹ (Sure 96, 1– 4)

Der Islam ist der Weg durch den religiösen Text und die Wissenschaft, um Gott kennenzulernen. Allah hat den Menschen den Koran durch den Propheten Mohammed übertragen und als Erbe hinterlassen. Der Koran beschreibt, dass es drei Gruppen von Erben unter den Menschen gibt. Die erste kennzeichnet sich dadurch, dass sie gegen sich selbst freveln, die zweite nimmt einen gemäßigten Standpunkt ein und die dritte strebt danach, das gottgefällig Gute zu tun. Das heißt, dass die Beziehung zwischen dem Koran und der Nation des Propheten Mohammed nicht als neue Botschaft oder neue Beziehung gilt, sondern als ein Erbe, in dem das Buch mit der Gesellschaft und der Zeit verschmilzt, um das göttliche Verfahren zu schützen.¹¹⁰ Schließlich (w. Hierauf) haben wir die Schrift denjenigen von unseren Dienern, die wir auserwählt haben, (damit sind vielleicht die Araber gemeint, die das Auftreten Mohammeds erlebt haben) zum Erbe gegeben. Die einen von ihnen freveln nun gegen sich selber (indem sie überhaupt nicht daran glauben). Andere nehmen einen gemäßigten Standpunkt ein(?) (ohne sich in ihrem Glauben bedingungslos auf Allah einzustellen?). (Wieder) andere werden mit Gottes Erlaubnis den Wettlauf nach den guten Dingen gewinnen. Das ist (dann) die große Huld (die Gott ihnen gewährt).¹¹¹ (Sure 35, 32)

Das Ziel, weshalb die Prophetie beendet wurde, also der Prophet Mohammed das Siegel der Propheten darstellt, betrifft den göttlichen Willen und seine Entscheidung, dass der Koran durch die menschlichen Entwicklungen immer neu verstanden werden muss, was zu der jeweiligen Zeit und Kultur sowie der Entwicklung und dem Verstehen der Menschen passt.¹¹²

 Ḥaṣīd: al-ʿAlmānīya fi al-fikr ad-dīnī, 2015, 229 – 230. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 228 – 231. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 87– 88.  Paret: Der Koran, 2010, 433.  Ḥaṣīd: al-ʿAlmānīya fi al-fikr ad-dīnī, 2015, 229 – 230. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 228 – 231. Ḥāǧ Ḥamad: Ḥurīyat al-ʾinsān, 2012, 86 – 94. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 88; 97.  Paret: Der Koran, 2010, 306.  Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 227– 229. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 88. Dwāq, al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya: 2015, 387– 388.

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Nach Ḥāǧ Ḥamad, machte Gott die Menschen auf diese persönliche Verantwortung aufmerksam und hat im Koran darauf hingewiesen, dass die Muslime den Propheten nicht als Hirten bezeichnen dürfen, da nur die Schafe oder die Tiere dem Hirten folgen, ohne dabei selbst zu denken. Das bedeutet, dass der Prophet die Menschen wie Tiere anführt, ohne sich mit ihnen zu beraten. So wird der Anführer zum Hirten und die Menschen zu einer Schafherde, die ihm gedankenlos folgen. Er sieht das als eine Beleidigung gegen den Propheten und gegen die Muslime an.¹¹³ Ihr Gläubigen! Sagt nicht: “rāʿinā!” (d. h. gib auf uns acht), sondern: “unsurnā” (d. h. Schau auf uns) Und hört (auf das, was euch gesagt wird)! […].¹¹⁴ (Sure 2, 104)

Aus diesem Grund verleugnet Ḥāǧ Ḥamad den Hadith des Propheten Mohammed: “Wahrlich, ihr seid alle Hirten, und jeder von euch ist verantwortlich für seine Herde, […]”. Kullukum Rāʿin wa kullukum masʾūl ʿan raʿīyatuh, […], ¹¹⁵ weil der gegen den Koran ist. Er sieht außerdem, dass das Wort rāʿ im negativen Sinn im Koran erwähnt wird. Das Wort rāʿ wird im Koran in Verbindung mit dem Eid, der Ordensgemeinschaft und der Zuverlässigkeit erwähnt. Was hier bezeichnet wird ist schwer und hart und kann nur bewältigt werden, ohne zu denken. Das aber passt nicht zu der menschlichen Verantwortlichkeit, denn der Mensch ist in diesem Fall nicht wie in einer Herde.¹¹⁶ Der Prophet Mohammed ist gestorben, hat aber keinen Nachfolger benannt, wie Ḥāǧ Ḥamad bemerkt¹¹⁷ Er stellt die Frage, weshalb der Prophet Mohammed niemanden als Kalifen oder Nachfolger erwählt hat. Hätte er das gemacht, dann hätte er die Kernaussage der Autorität des menschlichen Buches zerstört. Die Autorität muss nach dem Propheten Mohammed zu den Menschen zurückkehren. Allah hat den Menschen vorgeschrieben, dass sie ihm und dem Propheten Mohammed und den Befehlshabern unter ihnen gehorchen sollen. Hätte der Prophet Mohammed einen Nachfolger benannt, dann hätten die Muslime ihm gehorchen müssen, weil der vom Propheten aufgetra-

 Ben Touhami Meftah, Jilani: The Arab Modernists and the Qurʾanic Text. Kuala Lumpur: University of Malaya Press, 2005, 113 – 119. Ḥāǧ Ḥamad, Muḥammad abu al-Qāsim: Tašrīʿāt al-ʿāʾila fi al-ʾislām. Beirut: Dār as-sāqī, 2011, 25 – 28. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 56 – 58. Ḥāǧ Ḥamad: Ḥurīyat al-ʾinsān, 2012, 53 – 55.  Paret: Der Koran, 2010, 21.  Al-ʿAsqalānī, Šihāb ad-Dīn Ahmad ibn Haǧar: Fatḥ al-bārī bi-šarḥ Ṣaḥīḥ al-Buḫārī. Damaskus: Dār ar-risāla al-ʿālmīya, Bd. 8, 2013, 164.  Ḥāǧ Ḥamad: Tašrīʿāt al-ʿāʾila, 2011, 25 – 28. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 56 – 58. Meftah: The Arab Modernists, 2005, 113 – 119. Ḥāǧ Ḥamad: Ḥurīyat al-ʾinsān, 2012, 53 – 55.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 91. Šaḥrūr, ad-Dīn wa as-sulṭa: 2014, 90.

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gene Gehorsam direkt von Gott ist. Aus diesem Grund hat er keinen Nachfolger benannt, damit die Muslime selbst entscheiden können. Der Prophet begründete ein Beratungssystem –šūra-, in dem die Menschen sich beraten und selbst entscheiden können, was für sie passend ist. Gott entscheidet nicht mehr für sie. Sonst kann Gott sagen “gehorcht nur Allah und seinem Propheten”. Aber Allah hat den Gehorsam auf die Befehlshaber erweitert, damit die Menschen selbst entscheiden können, wer die Befehlshaber sind.¹¹⁸ Ihr Gläubigen! Gehorchet Gott und dem Gesandten und denen unter euch, die zu befehlen haben (oder: zuständig sind)! […].¹¹⁹ (Sure 4, 59)

Ḥāǧ Ḥamad weist hier darauf hin, dass im Koran gesagt wird, “Befehlshaber unter euch!” aber weder ʿalaikum “auf euch” noch fīkum “von euch”. Er erklärt weiter, hätte Allah gesagt “auf euch” dann hätten die Menschen allen gewalttätigen und unrechten Tyrannen und Unterdrückern gehorchen müssen. Und hätte er “von euch” gesagt, dann hätten sie den Menschen gehorchen müssen, die mächtiger, in hohen Stellungen und wohlhabender sind, oder als edel gelten. Aber Allah will das nicht. Er möchte, dass alle vernünftigen Menschen sich beraten ohne Autorität oder Oberhand für diejenigen, die die Macht haben, egal ob ihr Einfluss religiös oder finanziell ist.¹²⁰ Der Prophet Mohammed hat den Koran weder ausgelegt noch Regeln festgelegt wie die Muslime ihn kommentieren sollen. Er hat die Koransuren gesammelt, wie Allah sie offenbart hat. Er hat nur die religiöse Botschaft von den Mythen gereinigt, sowie auf den Sinn und das Ziel des Korans hingewiesen. Daraufhin hat er ihn den Menschen hinterlassen, damit sie ihn durch ihre Vernunft und ihr Verständnis begreifen und erfassen können.¹²¹ Der Prophet Mohammed hat auch nicht darüber entschieden, wie die Institutionen des Landes aufgebaut werden müssen. Er hat ebenso wenig vorgeschrieben, wie das Beratungssystem und die Wahl durchgeführt werden sollen. Er hat seine Gefährten gefragt, aber ohne dem Beratungssystem eine Satzung zu geben. Die Autorität des menschlichen Buches soll das selbst entscheiden und formulieren. Demzufolge ist der Prophet Mohammed weder Staatsgründer

   105.  Ḥāǧ

Kinitz: Die andere Seite des Islam, 2016, 123 – 124. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 91– 93. Paret: Der Koran, 2010, 66. Ḥāǧ Ḥamad: Ḥurīyat al-ʾinsān, 2012, 54– 55. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 91– 92; 104– Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 61– 62. Ḥāǧ Ḥamad: Ḥurīyat al-ʾinsān, 2012, 86 – 94. Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 93 – 95.

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noch Korankommentator, vielmehr ist er Begründer einer neuen Ära, der Ära der Autorität des menschlichen Buches.¹²² Ḥāǧ Ḥamad meint, dass Medina kein islamisches Staatsmuster ist, sondern Modell für die Sicherung und den Schutz der Grundlagen der islamischen Botschaft. Das heißt, die Staatsgründung gehört zur Herrschaft der Menschen und umfasst verschiedene Formen der Verfassungen und Verwaltungsarten, die sich für die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme jeder Zeit eignen. Die Muslime sollen dazu den Koran durch die Entwicklung der verschiedenen Phasen und des Verständnisses richtig verstehen und ihn immer als Orientierungspunkt nehmen.¹²³

3.4.3 Die Stufe der Freiheit der menschlichen Autorität Der Koran ist die Methode und der Weg. Die Menschen sollen den Koran als eine Einheit mit allen möglichen Methoden des Verständnisses erfassen. Sein Ziel soll vom Text verstanden werden. Der Koran darf nicht als trockener Text und Gesetz angesehen werden, sondern der Text soll untersucht und durchdrungen werden.¹²⁴ Denn der Koran und der Islam sind für die ganze Welt und alle Menschen und sollen somit für diese geeignet sein. Die im Koran enthaltene Scharia dient den Menschen als Erleichterung und muss in diesem Sinn befolgt werden. Sie soll nicht nur als eine Sammlung von Strafen verstanden werden, sondern dient dazu den Menschen zu beobachten, ihn zu schützen und ihn in seinem Aufstieg und seiner Entwicklung zu begleiten. Die Scharia schützt die Menschen davor in Minderwertigkeit abzufallen, aber sie hat trotzdem keinen Zusammenhang mit der Autorität des menschlichen Buches.¹²⁵ […] Das ist (gegenüber der früheren Handhabung der Blutrache) eine Erleichterung und Barmherzigkeit von Seiten eures Herrn. […].¹²⁶ (Sure 2, 178)

 Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 93 – 101.  Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 97– 105. Šaḥrūr: ad-Dīn wa as-sulṭa, 2014, 90.  Ḥaṣīd: al-ʿAlmānīya fi al-fikr ad-dīnī, 2015, 225 – 229; 233. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 340. Ḥāǧ Ḥamad: Ḥurīyat al-ʾinsān, 2012, 26; 31– 33. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 105 – 113.  Ḥāǧ Ḥamad: Tašrīʿāt al-ʿāʾila, 2011, 147– 155; 159 – 165. Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 58 – 61. Ḥāǧ Ḥamad: Ḥurīyat al-ʾinsān, 2012, 31– 34; 92. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 105 – 113. Dwāq: al-Ibstumūlūǧīa al-kawnīya, 2015, 393 – 395.  Paret: Der Koran, 2010, 28.

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Heutzutage nimmt die Wissenschaft die führende Rolle in der Welt und bezüglich Menschlichkeit ein. Aber die Wissenschaft mit ihren Methoden kann nur dazu beitragen, dass die Menschen mit der materiellen Welt in Verbindung bleiben. Sie schafft einen Menschen ohne eigenen Willen, der nichts Anderes als das Paradies auf der Erde sehen und suchen kann. Diejenigen, die die Religion durch Wissenschaft zu bestätigen versuchten, um zu zeigen, dass es keine Widersprüche zwischen der Wissenschaft und der Religion gibt, räumten damit der Wissenschaft ein zu beurteilen und zu entscheiden, ob die Religion richtig oder falsch ist. Außerdem steht die Wissenschaft den Religionen kritisch gegenüber. Wenn ein Widerspruch zwischen Religion und Wissenschaft auftritt, führt dieser insbesondere bei religiösen Menschen zu einer Verunsicherung in ihrem Glauben.¹²⁷

Fazit Der Vorteil der heutigen Kultur ist, dass sie die Menschen zu kritisch rationalem Denken und zur Analyse befähigt. Die Voraussetzung zu einem aufrichtigen Glaubens besteht darin, aus rationaler, vernünftiger Gewissheit zu entspringen. Wer heutzutage behauptet, ein Prophet zu sein, findet niemanden, der ihm zuhört oder glaubt. In der Vergangenheit war die Lage umgekehrt. Es gab kein Problem mit der Idee, dass es Propheten gäbe. Die Leute folgten Propheten, egal was sie sagten. Gab es Widerspruch so richtete er sich nicht gegen das Prinzip der Prophetie, sondern gegen den Propheten als Person. Weil Allah die Entwicklung der Menschlichkeit kannte hat er entschieden, die Prophetie zu beenden. Er führte diesen Fortschritt schrittweise durch. Sukzessive übertrug er seine eigene Souveränität auf die Herrschaft des Statthalters Gottes und dann auf die Autorität des menschlichen Buches. Abschließend ist zu sagen, dass irgendwelche Ideen heutzutage keinen Wert haben, solange sie nicht die ganze Welt umfassen. Wir sind ein Teil der Welt, egal ob europäisch, arabisch usw. Die Gedanken und Ideen müssen global sein und die religiösen Gedanken und wissenschaftlichen Methoden in sich vereinigen.

 Ḥāǧ Ḥamad: Ǧadalīyat al-ġaīb, 2004, 161– 163. Ḥāǧ Ḥamad: al-Ḥākimīya, 2010, 117– 121. Ḥaṣīd: al-ʿAlmānīya fi al-fikr ad-dīnī, 2015, 230 – 231.

Al-Ḥākimīya nach Muḥammad Abu al-Qāsim Ḥāǧ Ḥamad

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II Philosophisches Denken

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Diesseits und Jenseits von Mythos und Logos Vernunftglaube und Glaubensvernunft in der Hermeneutik von Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī und Ṭāhā ʿAbd ar-Raḥmān

Einleitung Moderne, Religion, Rationalität – Vorbemerkungen zu „contested concepts“ Er sprach: ‚Siehe, ich weiß, was ihr nicht wisst.‘ Und er lehrte Adam alle Namen.¹

Ein Beitrag zum Thema Rationalität in der Islamischen Theologie im Horizont der Moderne sieht sich mit dem grundlegenden Problem konfrontiert, dass die dabei zu verhandelnden Signifikationsfelder Rationalität (wovon?), Islamische Theologie (welche?) und Moderne (wessen?) bzw. die damit verbundenen Perspektiven, Interpretationen und Wandlungsprozesse zu unübersichtlich, zu divergent und heterogen sind, als dass intersubjektiv tragfähige oder gar propositionale Aussagen dazu möglich wären. Die genannten Signifikanten begegnen als „essentially contested concepts“², als zutiefst umstrittene Begriffe also, denen im Horizont unterschiedlichster diskursiver (religiöser und nichtreligiöser) Praktiken Sinn und Bedeutung zugeschrieben wird und deren begriffliche Unschärfe und normative Aufladung ein Ende des Streits über ihre Bedeutung nahezu ausschließen. Zugleich ist es das damit in den Blick gerückte Phänomen der Bedeutungszuschreibung, das einen Zugang wenn nicht zu den Signifika(n)ten selbst, so doch zumindest zu grundlegenden Dynamiken eröffnet, die sich innerhalb einer diskursiven Tradition wie der des Islam hinsichtlich der genannten Konzepte beobachten lassen.

 Der Koran, Sure al-Baqara (Q 2), Vers 31d; in der Übertragung von Harmut Bobzin. München 2010, 13.  Diese Bezeichnung entlehne ich W.B. Gallie, der von der ‚Moderne’ als „essentially contested concept“ spricht. In: Wolfgang Knöbl. „Beobachtungen zum Begriff der Moderne“, IASL 37,1 (2012): 62– 77, 65. https://doi.org/10.1515/9783110588590-011

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Mit kurzen Vorbemerkungen zu den erwähnten Signifikanten sei das skizzierte Problemfeld nochmals präzisiert und dabei mit dem Begriff der Moderne begonnen. So unterschiedlich und kritisch die Interpretationen von Moderne im islamischen Diskurs auch ausfallen mögen, wird von keinem ernstzunehmenden Diskursteilnehmer mehr deren Faktizität und Unhintergehbarkeit bestritten. Die Moderne erweist sich insofern nicht als bloßes Bewusstseinsphänomen, sondern vielmehr, wie Schnädelbach formuliert, als die unter den neuzeitlichen Bedingungen der Globalisierung unausweichliche „gesellschaftliche und kulturelle conditio humana“.³ Missverstanden wäre diese conditio, würde man sie in einem geschichtsphilosophischen Horizont mit einer spezifisch westeuropäischen Lesart von Moderne im Sinne einer kosmopolitischen „säkularen Modernität“⁴ verbinden bzw. normativ überhöhen wollen. Eine solche Lesart hat nicht nur den Muslimen einen unvoreingenommenen Zugang zu diesem zumeist mit Fremdbestimmung und westlicher Hegemonie verbundenen Begriff erschwert. Mit ihr geriet zugleich aus dem Blick, was Wolfgang Knöbl in Bezug auf Max Weber als die „unaufhebbaren[n] Antinomien“⁵ der Moderne zu bezeichnen sucht, Antinomien, welche diese höchst widersprüchliche Epoche nicht als Ergebnis einer gleichsam naturgesetzlichen Entwicklung der Weltgeschichte, sondern, wie Christoph Dipper ebenfalls in Bezug auf Weber formuliert, „aus Entwicklungsbrüchen und dadurch verursachten Kulturkämpfen hervorgegangen“⁶ erweist. Für die hier zu verhandelnde Frage nach der Rationalität von Religion im Horizont der Moderne erscheinen mir aus der Vielzahl von Momenten, welche die zeitgenössische Moderne-Forschung als besonders kennzeichnend für diese Epoche erachtet, zwei von besonderer Relevanz: das insbesondere von Reinhard Koselleck und Harmut Rosa herausgearbeitete Moment der „Beschleunigung“⁷ sowie der von Peter Wagner in Anknüpfung an Gedanken von John Dewey formulierte „Gewissheitsverlust“ (absence of certainties).⁸ Beide Momente bringen

 Herbert Schnädelbach: Vorträge und Abhandlungen, Bd. 2, Zur Rehabilitierung des animal rationale. Frankfurt/M. 1992, 444.  José Casanova: „Religion Challenging the Myth of Secular Democracy“, in Religion in the 21st Century, Challenges and Transformations, hg.v. Lisbet Christoffersen u. a. Farnham/UK 2013, 34 (eigene Übersetzung).  Knöbl, „Beobachtungen“, 65.  Christof Dipper. „Die deutsche Geschichtswissenschaft und die Moderne“, IASL 37,1 (2012): 37– 55 und 58.  Reinhard Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M., 1984, 34, 63 – 64,199 – 200, sowie Hartmut Rosa Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne Frankfurt/M. 2004.  Peter Wagner. „Palomar’s Question, the Axial Age Hypothesis, European Modernity and Historical Contingency“ in Axial Civilizations in World History, hg.v. Johan Arnason u. a. Leiden/

Diesseits und Jenseits von Mythos und Logos

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die für die Konstellation der Moderne wesentlich erscheinende Dynamik eines radikalen Wandels als einer „Kategorie der Bewegung, als ‚Geist der ewigen Revision‘“⁹ zum Ausdruck, die dem Soziologen Franz-Xaver Kaufmann zufolge jede Bestimmung der Moderne durch feststehende Merkmale unabdinglich scheitern lässt. Es ist insbesondere das Moment der Unbestimmtheit der Moderne, welches – gleichsam als deren verdrängte Unterseite – das Potential zur Freisetzung gegenläufiger Dynamiken aufweist und somit das Gesicht der Moderne als zutiefst janusköpfig erscheinen lässt. Denn die sich aus der Konstellation eines unaufhaltsamen Wandels ergebende Vielgestaltigkeit der Sprachspiele lässt sich nicht nur mit Jean-Francois Lyotard¹⁰ als Befreiung von der vereinheitlichenden Dynamik der spezifisch westlichen hegemonialen Moderne feiern. Die in der Moderne zum Tragen kommende Transformationsdynamik ruft aufgrund der durch sie zugleich ausgelösten Unsicherheit zutiefst widersprüchliche Reaktionen hervor: sie reichen von der wissenschaftlichen Suche nach (rationaler) Gewissheit bis hin zu fundamentalistischen Versuchen, diese Unsicherheit mit theologischen Mitteln einzudämmen.¹¹ Mit letzterer Reaktion rückt unwillkürlich der Signifikant Religion in den Blick, der im Laufe des 20. Jahrhunderts im Gefolge einer bestimmten Form des phänomenologischen Zugangs zunehmend aller politischen Konnotationen entkleidet und auf das Problem der individuellen Erlösung reduziert wurde. Was mit dieser Reduktion von Religion auf ein Glaubensphänomen sui generis aus dem Blick geriet, war der von Kultursoziologen wie Weber oder Durkheim noch als zentral erachtete Vergemeinschaftungsaspekt, in dessen Horizont Religion nicht als ein „Sonderbezirk der Kultur“ zu deuten, sondern als elementare, alle Handlungsvollzüge des Menschen (mit‐)bestimmende „Sinnstruktur“¹² zu verstehen ist. Die Einsicht in die Elementarität religiöser Sinnstrukturen hat den syrischen Philosophen Ǧurǧ Ṭarabīšī von einer „anthropologischen Wunde“¹³ sprechen lassen, welche die Erfahrung von Kolonialismus, Imperialismus und

Boston 2005, 86 – 106, 90 – 91. Einschlägig dazu auch: Ders., Soziologie der Moderne. Freiheit und Disziplin. Frankfurt/M. 1995.  Wolfgang Knöbl. „Soziologie. Definitionen von Moderne und Anwendungsbereiche“, in Handbuch Moderneforschung, hg.v. Friedrich Jaeger u. a. Stuttgart 2015, 261– 274, 271; zitierend aus: Franz-Xaver Kaufmann: Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven. Tübingen 1989, 41.  Jean-Francois Lyotard: La condition postmoderne. La rapport sur le savoir. Paris 1979.  Dipper. „Deutsche Geschichtswissenschaft“, 69; sowie Knöbl, „Beobachtungen“, 69.  Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2004, 103.  George Tarabishi. „Die anthropologische Wunde in unserer Beziehung zum Westen“. In Islam, Demokratie, Moderne, hg.v. Erdmute Heller. München 1998, 72– 83.

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kultureller Hegemonie im Selbstbewusstsein der (vor allem arabischen) Muslime hinterlassen habe: für sie war und ist der Konflikt mit der europäischen Moderne immer nur Teilaspekt einer viel umfassenderen und historisch weit zurückreichenden Auseinandersetzung zweier monotheistischer Religionen um religiöse Wahrheit und weltliche Herrschaft. Gegenwärtige Dynamiken in der Islamischen Welt geben Tarabīšīs Diagnose insofern Recht, als dass ein kleiner, aber medial höchst präsenter Teil der Muslime in vehementer Ablehnung aller Assimilationsversuche der muslimischen Welt an die Moderne die Heilung dieser „anthropologischen Wunde“ vor allem in der Rückkehr zu den Fundamenten (uṣūl) früherer Überlegenheit sucht – eine Rückkehr, die durch das offenkundige Scheitern der nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen modernen Staaten spätestens seit dem Sechstagekrieg (1967), also mittlerweile seit über einem halben Jahrhundert, beständig Auftrieb erhält. Sie lässt gleichwohl den medial weniger präsenten, aber nicht unerheblichen Teil der Muslime aus dem Blick geraten, der sich mit der globalen Moderne als gesellschaftliche und kulturelle conditio humana und der mit ihr einhergehenden Prozesse der Pluralisierung und Individualisierung zu arrangieren und – jenseits einer fundamentalistischen ReIslamisierung einerseits und eines kämpferischen Säkularismus arabischer Eliten andererseits – eine konstruktiv-kritische Aneignung der Moderne zu bewerkstelligen sucht. Die damit verbundenen Anstrengungen, sich von der Hegemonie des Westens zu emanzipieren und zugleich die Faktizität der Moderne mit den eigenen kulturellen Kontexten zu versöhnen, generieren nicht nur aufwendige, zwischen Tradierung und Adaption changierende Transformationsprozesse religiösen Lebens im Allgemeinen, sondern auch neue Formen der Verhältnisbestimmung von Glaube und Rationalität im Besonderen. In welchem Maße die säkulare Moderne den religiösen Diskurs zu weitreichenden Wandlungsprozessen veranlassen kann, zeigt sich an der modernen Transformation des rabbinischen Judentums, das sich zur Aussöhnung der eigenen Rechtsnorm mit der sie umgebenden Kultur bereits im 19. Jahrhundert zu einer Neukonfiguration des eigenen Symbolsystems gezwungen sah. Die mit der Tradition der oralen Exegese verbundene Flexibilität in der Schriftinterpretation, die eine solche Neukonfiguration des Symbolsystems bzw. die damit verbundenen modernen Relektüren des biblischen Kanons erst ermöglichte, hatte in der Gesamtschau freilich unterschiedliche Konsequenzen. Sie erlaubte zum einen eine breiter gefasste Definition jüdischen Denkens und Lebens in der Diaspora, führte zum anderen aber auch – aufgrund der damit einhergehenden Diversität in der exegetischen Praxis – zu einer Ausdifferenzierung des Judentums in mehrere voneinander abgrenzbare und miteinander

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konkurrierende Formen von Religiosität und zugleich auch religiöser Rationalität.¹⁴ Damit sei im Horizont dieser einleitenden Gedanken zu den erwähnten contested concepts abschließend noch ein Blick auf den Signifikanten Rationalität im religiösen Diskurs geworfen. Zu einer wesentlichen Markierung des zeitgenössischen religiösen Diskurses wird Rationalität auch deshalb, weil sich Religionsangehörige in der Moderne je länger je mehr mit der Herausforderung konfrontiert sehen, hinsichtlich der Passung ihrer Religion in der pluralen Lebenswelt der Moderne sowohl den Rationalitätsstrukturen der eigenen Religionsgemeinschaft als auch den Anforderungen der Zivilgesellschaft gerecht zu werden, d. h. ihre Religion als eine plausible, den Herausforderungen der modernen Lebenswelt überzeugend gewachsene Weltanschauung darzustellen. Das darin bereits implizierte Eingeständnis der Existenz unterschiedlicher Rationalitätsstandards, die es in ein mehr oder weniger ausgeglichenes Verhältnis zu setzen gilt, fordert nicht nur die an diesem Diskurs beteiligten, dem religiösen ebenso wie dem zivilgesellschaftlichen Spektrum angehörenden Akteure, sondern auch die diesen Diskurs beobachtende wissenschaftliche Reflexion dazu heraus, sich im Horizont der zeitgenössischen rationalitätstheoretischen Debatte darüber Klarheit zu verschaffen, welcher Begriff von Rationalität bzw. welches Verständnis von Vernunft im Einzelnen den jeweiligen (theologischen oder zivilgesellschaftlichen) Reflexionen und Aussagen zugrunde liegt. Eine solche Thematisierung der Vernunft und ihrer Grenzen wird sich nicht nur zu fragen haben, wie in den jeweiligen religiös-kulturellen Sinnhorizonten Notwendigkeit und Kontingenz, Universalität und Partikularität, schließlich Sozialität und Individualität im Hinblick auf die Konzeption von Vernunft bzw. Rationalität zueinander in Beziehung gesetzt werden; sie wird sich vor allem mit Kant daran erinnern lassen, dass der: […] größte und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft […] nur negativ [ist]; da sie nämlich nicht, als Organon, zur Erweiterung, sondern, als Disziplin, zur

 Vgl. neben der vornehmlich kulturellen Definition des Judentums im Reformjudentum die analog zum neuzeitlichen Christentum vorgenommene Neudefinition des jüdischen Glaubens als „Glaubensreligion“ im konservativen Judentum und die sich in expliziter Reaktion darauf konstituierende sog. jüdische „Orthodoxie“; vgl. dazu die Beiträge in Jüdisches Denken. Theologie – Philosophie – Mystik, hg.v. Karl Erich Grötzinger. Frankfurt/M. 2004, sowie der instruktive Lexikonartikel von Stefan Schreiner, Art. „Schriftauslegung I. Judentum“, in Historisches Wörterbuch der Rhetorik Bd. 8, hg.v. Gert Ueding, Tübingen 2007, 608 – 622.

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Grenzbestimmung dient, und, anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten.¹⁵

Zur Grenzbestimmung herausgefordert sieht sich der vorliegende Beitrag nicht zuletzt dort, wo es darum geht, sich angesichts der höchst komplexen Dynamiken des zeitgenössischen islamischen Diskurses auf eine überschaubare Auswahl von Diskursakteuren zu beschränken, deren wissenschaftliches Interesse explizit den mit diesen Signifikanten verbundenen denkerischen Herausforderungen gilt und deren kontrastive Positionierung es zugleich erlaubt, zumindest grundlegende Konturen dieses Diskurses in den Blick zunehmen. Den hier zur Sprache kommenden Diskursakteuren ist gemeinsam, dass sie sich durch die beschriebenen Antinomien der Moderne zu einer intentionalen Veränderung des islamischen Symbolsystems veranlasst sehen, die dieses System bzw. die ihm zugrundeliegenden heiligen Schriften neu zu ent-decken bzw. in die Moderne zu über-setzen sucht: dabei gilt es, sowohl den Plausibilitätsstrukturen der religiösen Sozialität als auch den Anforderungen individueller Identitäten in der modernen Gesellschaft gerecht zu werden und zugleich eine wie auch immer geartete Kohärenz zur bereits akkumulierten Tradition aufzuweisen. Die zeitgenössischen Reformer begegnen dieser Herausforderung im Wesentlichen durch einen neuen methodologischen Zugang zur Religion des Islam, die sie mitsamt der islamischen Rechtsphilosophie auf ihren eigentlichen „Kern“ bzw. ihre normative „Intention“ (maqṣad) zurückzuführen suchen.¹⁶ Als ein Moment, das den zeitgenössischen islamischen Diskurs zu Moderne und Rationalität wesentlich charakterisiert, dient der letztgenannte Begriff der Intention dem hier vorliegenden Beitrag als ein Index, an dem die kontrastive Dynamik dieses Diskurses nachgezeichnet werden soll. Als kontrastiv erweist sich die Dynamik dieses Diskurses deshalb, weil der Intentions-Begriff in diesem Diskurs, wie zu zeigen sein wird, nicht als ein Symbol der Konvergenz fungiert, sondern durch den Rückgriff auf unterschiedliche Referenzen sowie durch unterschiedliche Lesarten dieser Referenzen höchst divergente semantische Aufladungen erfährt. Damit sieht sich eine Annäherung an die Rationalität in der Islamischen Theologie zugleich zu einer Reflexion über die sich darin widerspiegelnden Verhältnisbestimmungen von intentio und ratio bzw. zu der Frage veranlasst, vor welchem philosophiegeschichtlichen Hintergrund die zeitgenössischen Akteure des Islamischen Diskurses ihre modernen Lesarten religiöser Vernunft im Einzelnen explizieren. Zur Profilierung dieses Diskurses be Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, hg.v. Raymund Schmidt. Hamburg, 1993, 721 (= B 823: II. Transzendentale Methodenlehre, Zweites Hauptstück); im Folgenden zitiert: Kant, KrV.  Vgl. insgesamt dazu Geert Hendrich: Islam und Aufklärung. Der Modernediskurs in der arabischen Philosophie. Darmstadt, 2004.

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schränke ich mich auf eine Handvoll zeitgenössischer Gelehrter, die mit Blick auf ihren Einfluss als repräsentativ für den Islamischen Diskurs und zugleich als exemplarisch für die kontrastive Relektüre des arabisch-islamischen Erbes (turāṯ) gelten dürfen. Sie greifen dabei, unter Bezugnahme auf klassische Referenzen wie Ibn Rušd (‐1198), Al-Ghazālī (–1111) und Aš-Šāṭibī (–1388)¹⁷, in je unterschiedlicher Weise entweder auf stärker aristotelisch-peripatetische oder stärker neuplatonische Denktraditionen im Islam zurück und stehen damit zugleich für unterschiedliche Lesarten und Verhältnisbestimmungen einschlägiger Begriffe wie die der Intention (maqṣad), der Tugend (aḫlāq) oder der Vernunft (ʿaql). Der weiteren Profilierung dieser beiden von unterschiedlichen Referenzen bestimmten Konzeptionen islamischer „Vernunft“ dient die Auseinandersetzung mit den beiden marokkanischen Gelehrten Muḥammad ʿĀbid Al-Ǧābirī und Ṭāhā ʿAbd arRaḥmān, deren eher strukturalistisch-rational(istisch)e bzw. sprachphilosophisch-semiotische Annäherungen an das Thema der Rationalität m. E. wesentliche Grundlinien der zeitgenössischen islamischen Rationalitäts-Debatte aufzuzeigen vermögen. Insofern sich beide Annäherungen ohne die Hintergrundfolie des Reformislam im frühen 20. Jahrhundert nur schwer einordnen lassen, werden beide Abschnitte durch eine kurze kursorische Reflexion zu den jeweiligen Referenzen eingeleitet, mit deren Hilfe die vorgestellten Denker ihren Zugang zu profilieren suchen. Abschnitt 1 (Epistéme und dianoia) beginnt daher mit Muḥammad ʿAbduh als jenem Gelehrten, der für das Nachdenken über Rationalität in der Islamischen Moderne, und dies gilt auch für die eher sprachphilosophischsemiotischen Zugänge in Abschnitt 2 (Semiose und noesis), zweifellos die grundlegende Referenz darstellt. Erst vor dem Hintergrund der von ʿAbduh neu in den Blick gerückten Intentionalität der koranischen Verkündigung lassen sich die ausgewählten, diese Intentionalität in ganz unterschiedlicher Weise ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit dem arabischen Erbe (turāṯ) stellenden Zugänge auf ihre Implikationen für die epistemologische Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft befragen. Insbesondere diesem Ansinnen dient der abschließende Abschnitt (Imagination und poiesis), der sich als ein Versuch versteht, mit Blick auf die Leiblichkeit und Relationalität der (nicht nur religiösen) Vernunft und unter Bezugnahme auf weitere zeitgenössische Gelehrte die Potentiale und Grenzen der vorgestellten Lesarten zur Rationalität aufzuzeigen und einen Ausblick auf die transformativen Dynamiken des Islamischen Diskurses insgesamt zu wagen.

 Im weiteren Fließtext sowie in den Fußnoten erfolgt die Angabe der Nachnamen nach der Erstnennung aus lesetechnischen Gründen ohne Artikel (Ġazālī für Al-Ġazālī, Ǧābirī für Al-Ǧābirī, Šāṭibī für Aš-Šāṭibī usw.).

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1 Epistéme und dianoia – Die ratio des Vernunftglaubens 1.1 Vernunftreligion Islam Angestoßen vor allem durch die Kolonialisierung weiter Teile der Islamischen Welt sowie durch den zunehmenden Reformdruck auf das Osmanische Reich vollzieht das islamische Denken bereits im 19. Jahrhundert einen immensen Transformationsprozess, der – zunächst beschränkt auf den Bereich der Jurisprudenz und einzelne indische Reformdenker wie Shāh Walī Ullāh (1703 – 1762) oder Sayyid Aḥmad Khān (1817– 1898) – auch den Gelehrtendiskurs an den arabischen Hochschulen erreicht und schließlich im kolonialen Ägypten in der Gestalt des ägyptischen Gelehrten und Großmuftis der Al-Azhar, Muḥammad ʿAbduh (1845 – 1905), kulminiert.¹⁸ In expliziter Bezugnahme auf die Reformation als einer „Gruppierung“ (ṭāʾifa), die auf „die Reform der Religion und die Rückkehr zu ihrer ursprünglichen Einfachheit“¹⁹ zielte, forderte ʿAbduh einen entschieden praktischen Zugang zur „ursprünglichen“, wesentlich am Menschen orientierten Botschaft des Koran und stellte dabei so deutlich wie wenige vor ihm die Rationalität nicht nur der koranischen Botschaft, sondern des Islam als Religion insgesamt heraus. Insbesondere das Pariser Exil hatte in ʿAbduh die Überzeugung reifen lassen, dass angesichts des desolaten Zustands der von den Kolonialmächten beherrschten islamischen Welt allein die Bildung des Menschen, d. h. konkret „der Rückgriff auf den Verstand (ʿaql), […] die Ausübung der eigenständigen Rechtsfindung (iǧtihād) und die Annäherung der Rechtsschulen (taqrīb almaḏāhib) rettende Abhilfe“²⁰ würde schaffen können. Um einen (Aus)Weg jenseits der Skylla des westlich orientierten liberalen Prokolonialismus („Verwestlichung“, arab. at-taġrib) und der Charybdis eines stagnierenden, an der Tradition orientierten Konservatismus („Erstarrung“, arab. al-ǧumūd) finden zu können, bedürfe es zudem eines lebensnahen Korankommentars, der imstande wäre, die eigentliche Intention (maqṣad) des Koran und die Weisheit seiner Gesetzgebung, d. h. seine den Glauben (īmān), die Moral (aḫlāq) und die Rechtsbestimmungen (aḥkām) umfassenden Wegweisungen auch adäquat und lebensnah zu vermit-

 Einführend zu den genannten Denkern: Rachid Benzine: Islam und Moderne. Die neuen Denker. Berlin 2012, 31– 55.  „tadʿū ilā al-iṣlāḥ waʿr-ruǧūʿ biʿd-dīn ilā saḏāǧatihi“, Muḥammad ʿAbduh: Risālat at-tawḥīd. Limassol 2001, 238.  Benzine: Islam und Moderne, 43.

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teln.²¹ Als Grundbedingung dafür sieht ʿAbduh eine Neuausrichtung der islamischen Jurisprudenz, die nun den Menschen und dessen Wohl in den Mittelpunkt zu stellen und die Rechtsquelle des Konsenses (iǧmāʿ) im öffentlichen Gemeinwohl (maṣlaḥa) zu verankern hat. Die Legitimation dafür liefert ihm die koranische Anthropologie bzw. der koranische Begriff des Statthalters (ḫalīfa), ein Begriff, der in der klassischen Koranexegese konsequent auf den/die Propheten oder auf den/die Kalifen als „Befehlshaber der Gläubigen“ (amīr al-muʾminīn) gedeutet wurde.²² ʿAbduh geht über diese Tradition insofern hinaus, als dass er, inspiriert vom französischen, in seiner Lesart wiederum auf muslimische Einflüsse zurückgehenden Positivismus²³ den ḫalīfa-Begriff universalisiert und dazu nutzt, nicht nur die „Macht (sulṭān) des Menschen zur Herrschaft“, sondern vor allem dessen nahezu grenzenlose „intellektuelle Perzeption und Vernunft“²⁴ herauszustellen. Exegetisch fundiert sieht er diese Interpretation durch den koranischen Verweis auf Adams Kenntnis „aller Namen“ (al-asmāʾ kullaha, Q 2,31), die ʿAbduh zufolge die Fähigkeit des Menschen symbolisiert, die Natur aller Dinge „durch Forschung und Deduktion“²⁵ zu durchdringen. In Entsprechung zu dieser anthropologischen und epistemologischen Sonderstellung des Menschen erweist sich das universale Moment der koranischen Botschaft im Wesentlichen darin, dass sie die primär dem Zweck der Disziplinierung der dualen Natur des Menschen dienende Religion aus dem (in anderen Religionen noch stark ausgeprägten) lokalen Charakter in universale Prinzipien zu überführen vermag.²⁶ Damit erweist sich der Islam als zugleich primordiale und finale Etappe einer evolutionären Religionsgeschichte bzw. als Materie und Geist zusammenführende Religion der Vernunft (dīn al-ʿaql)²⁷, welche die Extreme des Legalismus (im Judentum) sowie

 Vgl. Muḥammad ʿAbduh and Muḥammad Rashīd Riḍā: Tafsīr al-manār. Kairo 1947 f; bis Sure Q 12.  Vgl. ʿAbdallāh Ibn ʿUmar Al-Baiḍāwī: Anwār at-tanzīl wa asrār at-taʾwīl, Bd. I, Kairo 1955, 20 (zu Q 2,30). Konzise nachgezeichnet bei Han H. Liew. „The Caliphate of Adam: Theological Politics of the Qurānic Term Ḫalīfa“. Arabica 63 (2016): 1– 29.  ʿAbduh greift dabei vor allem auf Auguste Comtes Dreistadiengesetz zur geistigen Entwicklung der Menschheit zurück; vgl. ʿAbduh: Risālat at-tawḥīd, 214 ff.; Tafsīr al-manār, Bd. III. Beirut 2 2005, 47– 52.  „ʿilm ǧamīʿ al-ašyāʾ min ġairi taḥdīd wa lā taʿyīn“, ʿAbduh: Tafsīr al-manār, Bd. I, Beirut 22005, 217– 218.  „ʿibar ʿan al-madlūl bi’d-dalīl“, ʿAbduh: Tafsīr al-manār, Bd. I, Beirut 22005, 217– 218. Kursivsetzung RB.  Vgl. dazu insbesondere den Abschnitt „taraqqī al-adyān bi-taraqqī al-insān“. ʿAbduh: Risālat at-tawḥīd, 214– 227.  ʿAbduh: Risālat at-tawḥīd, 240: awwalu dīnin ḫāṭaba al-ʿaql.

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des Antilegalismus (im Christentum) zu überschreiten und mit den Bedingungen des menschlichen Lebens in Einklang zu stehen vermag. Das Bild ʿAbduhs als eines pragmatischen Rationalisten bedarf insofern einer kleinen, aber nicht unerheblichen Korrektur, als dass er in seiner apologetischen Schrift al-islām waʿnnaṣrānīya bei der Beschreibung des Verhältnisses von Religion und Wissenschaft zugleich mit Nachdruck betont, beide hätten sich „gegenseitig zur Aufrichtung des Verstandes (taqwīm al-ʿaql) und des Gefühls (wiǧdān) [zu] unterstützen, […] erfahre doch nur so der Verstand das Ausmaß seiner Stärke und erkenne die Grenzen seiner Macht“. So lobt Gott ausdrücklich das Eingeständnis der Rechtgeleiteten, „[…] nicht in der Lage zu sein, Wissen von dem zu erlangen, wovon sie keine Kenntnis erlangen können“ und nennt „ihren Verzicht auf das Eindringen in das, dessen Wesen ihnen zu erforschen nicht aufgetragen ist, ‚Verwurzelung (rusūḫ) im Wissen‘“.²⁸ So sehr also ʿAbduh in der Ausrichtung auf die Vernunft (ʿaql) eine wesentliche Signatur des Islam sieht, stellt er doch nirgendwo dessen normative Funktion als übergreifendes Regulativ der Gesellschaft – die normativ-rechtliche „Schale“ des Islam sozusagen – in Frage. Darüberhinausgehende, zwischen Schale und Kern differenzierende und sich vom Islam als normatives Regulativ distanzierende Positionierungen vermögen sich im islamischen Diskurs erst zu etablieren, als knapp zwei Jahrzehnte nach ʿAbduhs Tod (1905) das Kalifat als jene Institution, welche die fragmentierte Gemeinschaft der sunnitischen Muslime zumindest ideell über Jahrhunderte zu einen schien, endgültig sein Ende findet (1924) und damit die Frage nach dem eigentlichen bzw. „wahren“ Islam an Virulenz gewinnt. Zutiefst von ʿAbduh beeinflusst, sucht der in Oxford ausgebildete ʿAbduh-Schüler und Azhar-Absolvent ʿAlī ʿAbd ar-Rāziq (1888 – 1966) die Antwort darauf überraschenderweise in einer strikten Trennung zwischen Religion und Staat und deutet in einer Abhandlung zum „Islam und die Grundlagen der Herrschaft“²⁹ die spezifische politische Autorität des Propheten zur Zeit des medinensischen Stadtstaates (622– 632) als kontingente Konzession an die damals herrschenden historischen Umstände. Der Islam sei „Religion, nicht Staat“ und habe als „spirituelle Mission […] nichts mit der Organisation der Gesellschaft […] zu schaffen“³⁰, zudem schwäche eine zu enge Bindung der Religion an die Politik

 Muḥammad ʿAbduh. Al-islām wa’n-naṣrāniya. In Tafsīr al-manār, Bd. V, 542– 543, übers. nach Gunnar Hasselblatt: Herkunft und Auswirkungen der Apologetik Muhammed ʿAbduh’s. Göttingen, 1968, 129 – 130.  ʿAlī ʿAbd ar-Rāziq: Al-islām wa uṣūl al-ḥukm. Baḥṯ fī l-ḫilāfa wa’l-ḥukūma fī’l-islām. Kairo 1925.  So im Referat zu ar-Rāziq Muḥammad ʿAmmāra: Maʿrakat al-islām wa-uṣūl al-ḥukm. Kairo 1989, 8.

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„die auf das Innere gerichtete Überzeugungskraft der religiösen Botschaft“.³¹ Die bereits von ar-Rāziq vorgenommene hermeneutische Differenzierung zwischen mekkanischer und medinensischer Verkündigung wird Maḥmūd Muḥammad Ṭāhā in seinem einschlägigen Werk zur „zweiten Botschaft des Islam“ (1967) nochmals radikalisieren: Weil die beduinisch geprägte Stammesgesellschaft die grundlegende Botschaft des Koran, die Offenbarung der ewigen Gottesliebe, nicht aufzunehmen vermochte, bedurfte es in den medinensischen Suren einer Akkommodation der mekkanischen Liebesbotschaft³² an die vorarabischen Sitten der Araber des 7. Jahrhunderts. Der in der Moderne (al-ḥadāṯa) erreichte zivilisatorische Fortschritt der Menschheit hingegen geböte es, nun wieder die universalen bzw. humanistisch-ethischen Prinzipien der mekkanischen Offenbarungszeit, die im damaligen Medina aus mentalitätsgeschichtlichen Gründen nicht zur Anwendung kommen konnten, wieder neu zur Geltung zu bringen.³³ 1979, im Jahr der Islamischen Revolution im Iran und der Besetzung der Großen Moschee in Mekka durch militante Islamisten, fordert der pakistanische, in Chicago lehrende Korangelehrte Fazlūr Raḥmān (–1982) eine Trennung des „fundamental Islamischen“ (fundamentally Islamic) vom „rein Historischen“ (purely historical)³⁴ und sucht diese Trennung koran-exegetisch wiederum mit Adams Kenntnis aller Namen (Q 2,31) zu legitimieren: diesem symbolischen Verweis auf die Vernunftnatur des Menschen entsprechend bestünde die „essentielle Aufgabe des Menschen“ (man’s essential task) darin, „to reconstruct a scientific picture of the objective reality and partly to proceed to interfere in it and create a moral order on the basis of this scientific knowledge“.³⁵ Nur so sei der für das verdienstvolle Leben vor Gott notwendige ausgeglichene „Status der Selbstkontrolle“ (state of self-control) zu erlangen:

 So zu ar-Rāziq Alexander Flores, „Die innerislamische Diskussion zu Säkularismus, Demokratie und Menschenrechten“. In Der Islam in der Gegenwart, hg.v. Werner Ende und Udo Steinbach. München 2005, 620 – 634, 623.  Vgl. zu „Love shall triumph“ Maḥmūd Ṭaha: The second message of Islam, übers. v. Abdullāhi an-Naʿīm. Syracuse 1996, 157.  Geert Hendrich. „Identitätskonstruktion und Geschichtsbilder im arabo-islamischen Modernediskurs“. In Geschichte und Erinnerung im Islam, hg.v. Angelika Hartmann. Göttingen, 2004, 31– 49; auch: Ders.: Islam, 345.  Fazlur Rahman: Islam. Chicago/London 1979, 250; dies als Grundsatz eines ‚enlightened conservativism’.  Fazlur Rahman. „The Qur’ānic concept of God, the universe and man.“ Islamic Studies 7,1 (1967): 1– 19, 3.

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It is only by intensifying this state of mind that the creative energy and quality of man can be maximized – which is the purpose of human life. This is the state of faith (īmān), the opposite of kufr. ³⁶

Auch der stark von Raḥmāns hermeneutischem Ansatz geprägte, 2010 verstorbene ägyptische Gelehrte Naṣr Ḥāmid Abū Zaid sieht das zentrale Prinzip menschlicher Handlungsfähigkeit in der Vernunft (ʿaql), die dem grundlegend als rational bestimmbaren Wesen Mensch erst wirkliche Freiheit ermöglicht. Dadurch, dass der Islam beides, Vernunft und Freiheit, semantisch „unauflöslich miteinander verbinde[]“, führt er zugleich „das Konzept einer befreiten und freien Humanität“ ein und ermöglicht so den Übergang der Menschheit „von einem Zustand der Unreife, der ständiger Bevormundung bedurfte, in einen Zustand der vollen Reife“.³⁷ Die von Abū Zaid herausgestellte evolutionäre Verbindung menschlicher Reife und epistemisch einsichtiger Offenbarung begegnet in nochmals präzisierter Form im Œuvre des algerischstämmigen französischen Gelehrten Abdou Filali-Ansary, dem zufolge sich der Koran im Horizont einer „allgemeinen Geschichte der Religionen und des Heiligen“ als „Krönung eines viele Jahrhunderte währenden Prozesses“ bzw. als „letztes Stadium der Offenbarung“ präsentiert: dies deshalb, weil er genau in jenem Moment erscheine, […] in dem die Offenbarung sich selbst denkt und einen Blick zurück auf ihre eigene Bewegung und ihre vielfältigen Erscheinungsformen in der Geschichte zu werfen vermag […]. Genau das macht den Islam zur Religion der Reife der menschlichen Gattung, zur ultimativen Form wahrer Religiosität, jener, die der Verzauberung des Menschen ein Ende bereitet und sozusagen der Vernunft ‚die Hand reicht‘. […] Die Vernunft sieht sich endgültig von allen Hemmnissen befreit, die das Heilige vor ihr aufgebaut hatte, und kann nunmehr mit eigenen Flügeln fliegen.³⁸

In erzähltechnischer Perspektive manifestiert sich dies darin, dass der Koran seinen Hörern Geschichten und Erzählungen, die bereits aus der spätantiken Tradition bekannt sind,

 Rahman. „Qur’ānic concept of God“, 11.13; Ders.: Major Themes of the Qur’an. Chicago/London 1980, 165 – 166.  Naṣr Ḥāmid Abū Zaid. „Auszug aus der Unmü ndigkeit.“ In Philosophie-Mazagin Sonderausgabe ‘Der Koran’, 2004, 66, übers. v. Anna Metz und Alexander Vajda. Aus: Naṣr Ḥāmid Abū Zaid: A New Interpretation of the Universal Purposes of al-Sharīʿa, übers. aus dem Arab. von Amine Tais. Ders. „Qirāʾa ǧadīda li’l-maqāṣid al-kullīya li’š-šarīʿa.“ In Al-Ḫiṭāb wa’t-taʾwīl. Beirut 2008, 207– 208.  Abdou Filali-Ansary. „Jenseits des Heiligen“. Philosophie-Mazagin. Sonderausgabe: Der Koran. 2004, 74, übers. v. Till Bardoux. Aus: Ders.: ‚Réformer l’islam? Une introduction aux débats contemporains‘. Paris 2003, 24– 25.

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zugunsten einer rationalen Hinterfragung im Rahmen eines Diskurses eingesetzt, der den erzählten Mythos auf eine rein argumentative Rolle beschränkt. […] Das Mythische wird hier nur beschworen, um ausgetrieben zu werden.³⁹

Von hermeneutischem Interesse ist es, dass die genannten Vertreter dieses vernunftorientierten Zugangs zum Koran die sich in einem evolutionären Prozess abzeichnende Subjektwerdung des Menschen koranexegetisch, ganz ähnlich wie ʿAbduh, mit der Adam zugesprochenen Kenntnis aller Namen verbinden, darin aber zugleich über ʿAbduh hinausgehen. Adams Namensgebung wird hier nicht mehr nur als Symbol menschlicher Vernunft gelesen, sondern als Erweis einer den Menschen „von jeglicher Form der religiösen oder nichtreligiösen Bevormundung befreien[den] […] Mündigkeit“⁴⁰, die es erlaubt, die Normen der modernen Zivilgesellschaft als Skopus zeitgenössischer Koraninterpretation bzw. als Legitimation zur „Aufhebung des politisch-juristischen […] durch den ethischen Koran“⁴¹ anzusehen. Die veränderten Rahmenbedingungen des „durch Meinungsfreiheit geprägten Westen[s]“ bzw. der „westliche[n] Kultur“ als dem „neuen Kontext des Islam“⁴² veranlassen zeitgenössische Reformer zu dem über ʿAbduhs additive Aneignung der Moderne hinausgehenden Versuch, den Islam auf seinen Kern bzw. seine ethische Substanz zurückzuführen und so von seiner rechtsnormativen Schale sowie allen kulturellen Akzidenzien zu befreien. Im Horizont einer radikalen Kritik an allen legalistischen Konzeptualisierungen des Islam entspricht dann auch die Normensetzung einer Bürgergesellschaft teleologisch einer genuin islamischen Zielsetzung: denn die im Rahmen der eigenständigen Rechtsfindung (iǧtihād muṭlaq) vorgenommene Aufwertung der im klassischen Recht als Hilfsmittel angesehenen sekundären Rechtsquellen des Brauchtums (ʿāda), Gemeinwohls (maṣlaḥa) und der Billigkeit (istiḥsān) erlaubt es, die klassischen Gebote des Islamischen Rechts tendenziell soweit zu verallgemeinern, dass sie im Ergebnis im Begriff eines nicht näher bestimmten Naturrechts aufgehen.⁴³

 Filali-Ansary. Jenseits des Heiligen, 74; Réformer l’islam, 27.  Mouhanad Khorchide: Gott glaubt an den Menschen. Mit dem Islam zu einem neuen Humanismus. Freiburg, 2015, 23 und 19.  Abdel-Hakim Ourghi: Reform des Islam. 40 Thesen. München 2017, 81.88.  So nachdrücklich Ourghi, der als Ziel „die Modernisierung des Islam und seine Anpassung an die westliche Kultur“ (Reform des Islam, 71) bestimmt: „Der Islam muss sich an die heutige Zeit anpassen“, ebd. 229.  Freiheit (ḥurrīya), Gleichheit (musāwāt) und Gerechtigkeit (ʿadl) bilden als grundlegende „Prinzipien der sozialen Ordnung mit einem universalen Geltungsanspruch“ den „Ausgangspunkt und Skopus einer jeden legitimen Interpretation des Koran“. Mouhanad Khorchide. „Auf dem Weg zu einer humanistischen Qur’anhermeneutik“. In Moderne Zugänge zum Islam. Plädoyer

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1.2 Arabisch-islamischer Kanon und Dekonstruktion 1.2.1 Konstituierte und konstituierende Vernunft Besonders prägnant ausformuliert begegnet dieser den Signifikanten Islam mit dem Naturrecht verbindende Ansatz im Œuvre des 2010 verstorbenen marokkanischen Philosophen Muḥammad ʿĀbid Al-Ǧābirī, der in seiner mehrbändigen „Kritik der arabischen Vernunft“ eine grundlegende „Erneuerung des arabischen Erbes“ (taǧdīd at-turāṯ al-ʿarabī) zu bewerkstelligen sucht und dabei die Unterscheidung zwischen „epistemologischem“ (muḥtawā maʿrifī) und „ideologischem Gehalt“ (maḍmūn īdyūlūǧī)⁴⁴ zur unabdingbaren Voraussetzung einer wirklich rationalen Lesart des erst in seinem historischen Kontext zu begreifenden Kulturerbes erhebt. Zur Präzisierung dessen, was er darunter begreift, bezieht sich Ǧābirī auf den französischen Philosophen Andre Lalande (1867– 1963) und dessen Ausdifferenzierung der Vernunft in eine „konstituierende“ (raison constituante, arab. ʿaql mukawwin) und eine „konstituierte Vernunft“ (raison constituee, arab. ʿaql mukawwan)⁴⁵: zielt die raison constituante auf die jeden Menschen gleichermaßen auszeichnende und ihn von den Tieren unterscheidende kognitive Fähigkeit zur Reflexion, so steht die raison constituee für die dem Erkenntnisgewinn in einem bestimmten Bereich unterliegende Gesamtheit von Prinzipien und Regeln. Es ist diese letztere, die „konstituierte Vernunft“ im Sinne der kanonisierten Episteme (anẓima maʿrifīya), mit der sich Ǧābirī in den ersten beiden Bänden seiner „Kritik“ zur Genese und Struktur der arabischen Vernunft kritisch auseinanderzusetzen und die er auf dem Wege einer Unterscheidung dreier Erkenntnissysteme bzw. „kultureller Vermächtnisse“ (mawrūṯāt ṯaqāfīya) zu dekonstruieren sucht. Ziel dieser Dekonstruktion ist es, die für Ǧābirī wahrhaft rationale, in Logik und Metaphysik repräsentierte und am „griechisch rationalen Erbe (mawrūṯ yunāni ʿaqlī)“ orientierte Ordnung des burhān („Beweis“) aus dem Zangengriff der die Vernunft restringierenden text- oder erfahrungsorientierten für eine dialogische Theologie, hg.v. Hamideh Mohagheghi/Klaus von Stosch. Paderborn, 2010, 32. Ourghi: Reform des Islam, 81.88 spricht von der Aufhebung des „politisch-juristischen Koran durch den ethischen Koran“.  Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Naḥnu waʿt-turāṯ: qirāʾa muʿaṣira fī turāṯina al-falsafī. Casablanca 51986, 29 – 30 und 101– 111.  Muḥammad ʿĀbid Al-Ǧābirī: Takwīn al-ʿaql al-ʿarabī. Beirut 21985, 15. Mit Verweis auf: Andre Lalande: La raison et les principes rationnels. Paris 1963. Bei Ǧābirī: Takwīn, 35 angegeben unter: La raison et les normes. Paris: Hachette, 1963), 16 – 17, 187, 228. Vgl. dazu ausführlicher Abdelkader Al Ghouz in diesem Band sowie dessen Studie: Vernunft und Kanon in der zeitgenössischen arabisch-islamischen Philosophie. Zu Muḥammad Ābed al-Ǧābirīs (1936 – 2010) rationalistischer Lesart des Kulturerbes in seinem Werk ‚Kritik der arabischen Vernunft‘. Würzburg, 2015), 91– 92.

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Ordnungen des bayān und ʿirfān zu befreien.⁴⁶ Dass er bei dieser Ordnung dezidiert die bereits von Platon explizit von der noesis abgesetzte methodisch-diskursive Form der von genauen Verfahrensregeln bestimmten und aus notwendigen Schlüssen abgeleiteten demonstrative Vernunfterkenntnis (dianoia)⁴⁷ im Blick hat, zeigt sich an Ǧābirīs sehr spezifischem Rückgriff auf den andalusischen Rechtsgelehrten, Richter und Philosophen Ibn Rušd (lat. Averroes, 1126 – 1198), in dem er nicht nur die reinste Verkörperung der peripatetischen rationalen Philosophie sieht, sondern zugleich auch den schärfsten Kritiker der vom Gnostizismus bzw. neuplatonischen Elementen beeinflussten Theologie Al-Ġazālīs. Ibn Rušds Philosophie nehme, wie Ǧābirī glaubt, eine klare Distinktion unterschiedlicher Wissensformationen und Geltungsbereiche vor bzw. vertrete, in seinen Worten formuliert, „ein religiöses, d. h. nicht über die Phänomene des Religiösen hinausgehendes Verständnis von Religion, sowie ein philosophisches, d. h. ausschließlich auf philosophischen Prinzipien basierendes Verständnis von Philosophie“.⁴⁸ Zudem habe Ibn Rušd unter Bezugnahme auf den in Sure 16,125 begegnenden Begriff der ḥikma („Weisheit“) den Aufruf zur intellektuellen Reflexion (naẓar) als die mit der höchsten der drei aristotelischen Formen des Beweises konform gehende Intention des Koran herausgearbeitet und damit im Gegenüber zur rhetorischen (ḫaṭabī) und dialektischen (ǧadalī) Beweisführung die demonstrative (burhānī), der philosophischen Elite (ḫāṣṣa) vorbehaltene Beweisführung als den Weg erwiesen, der allein zur „höchsten Glückseligkeit“ (assaʿāda al-ʿuẓma) führt. Der philosophischen Elite vorbehalten ist diese Beweisführung deshalb, weil es Ibn Rušd zufolge der Verbindung von „natürlicher Intelligenz (ḏakā al-fiṭra) und moralischer Tugendhaftigkeit (ḥusn as-sulūk)“⁴⁹ sowie der Kenntnis „theoretischer Wissenschaften (ʿulūm an-naẓariyya)“ bedarf, um das Ziel des Erkenntnisprozesses, die Erfassung der Intelligibilia (maʿqūlāt) bzw. Universalia (kulliyāt), auch tatsächlich zu erreichen bzw. den materiellen (al-ʿaql al-hayūlānī) mit dem aktiven Intellekt (al-ʿaql al-faʿʿāl) zu „vereinen“ (ittiṣāl).⁵⁰

 Die nur „innerhalb der arabischen Religion denkbare“ (al-maʿqūl ad-dīnī al-ʿarabī) textorientierte Ordnung des bayān bestimmt Rechtswissenschaft (fiqh) und scholastische Theologie (kalām), die „nicht rational denkbare“ (al-lā-maʿqūl al-ʿaqlī) Ordnung des ʿirfān (‚Gnosis‘) hingegen die islamische Mystik bzw. illuminationistische Philosophie; Al-Ǧābirī: Takwīn, 29 – 30.  Vgl. zu diesen beiden Denkformen die immer noch einschlägige Studie zur aristoelischen dianoia von Klaus Oehler: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. München 21985, 176 – 185.  Al-Ǧābirī: Bunyat al-ʿaql al-ʿarabī. Beirut 1999, 126. Hier zitiert nach: Hendrich: Islam, 292.  Ibn Rušd: Tahāfut at-tahāfut. Beirut 1930, 59, 1.5 – 8; zitiert nach Anke von Kügelgen: Averroes und die Arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des Rationalismus im Islam. Leiden/ Boston 1994, 32.  Ibn Rušd: Muḫtaṣār zu de anima. Tn-Appendix 95; zitiert nach: Von Kügelgen: Averroes, 46.

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In der von Ibn Rušd vertretenen Vernunfttheorie sieht Ǧābirī eine doppelte Abgrenzung vollzogen: zum einen von den ašʿaritischen und muʿtazilitischen mutakallimūn, die auf der Stufe der dialektischen, nicht zur Gewissheit (yaqīn) führenden Beweisführung (ǧadal) stehen bleiben, zum anderen von den sufischen Mystikern, denen die angestrebte Vereinigung mit Gott aufgrund der fehlenden Kenntnis der theoretischen Wissenschaften versagt bleibt.⁵¹ Im Gegenüber zur insbesondere von Ibn Sīnā und der platonisch-emanationistischen Tradition dominierten „östlichen Schule“ (al-madrasa aš-šarqīya), die aufgrund ihres „Synkretismus“⁵² einen den grundlegenden Prinzipien des syllogistischen Schlusses entgegenstehenden Irrationalismus gefördert habe, vermochte die andalusisch-maghrebinische Gelehrtentradition dadurch, dass sie „Aristoteles durch Aristoteles (qirāʾāt Arisṭū bi-wāsiṭat Arisṭū)“ zu lesen verstand, einen „epistemologischen Bruch (qaṭīʿa maʿrifīya oder auch ībistīmūlūǧīya)“⁵³ mit dem Neuplatonismus in seiner „östlichen Ausprägung (ṣīġa mašriqīya)“ zu vollziehen. Um der Hegemonie dieses epistemologischen Erbes über das arabische Denken ein Ende zu setzen und den ethischen Gehalt der Religion von den Verkrustungen einer religiösen Scholastik zu befreien, bedürfe es Ǧābirī zufolge einer radikalen Dekonstruktion der Genese (takwīn), der Struktur (bunya) und der politischen Vernunft (al-ʿaql as-siyāsī) des islamischen Diskurses.⁵⁴ Die dieser Dekonstruktion notwendig folgende Rekonstruktion des Islamischen Erbes wiederum gründet im Wesentlichen auf der Rekonstitution einer wahrhaft koranischen Ethik bzw. im Rekurs auf das Gemeinwohl (maṣlaḥa) als dem „rein Islamischen“ (mawrūṯ islāmī ḫāliṣ) und auf die Tugend (aḫḷāq) als Charakteristikum des „griechischen Erbes“ (mawrūṯ yūnānī)⁵⁵: beide zugleich, Gemeinwohl und Tugend, bilden in gegensei Ibn Rušd: Faṣl al-maqāl, übers. v. Franz Schupp. Hamburg 2009, 29 – 30¸47– 48¸63 – 64. Zudem säen sie mit ihren allegorischen Interpretationen „Feindschaft, Hass und Streit“ (al-ʿadāwa wa’lbaġḍā wa’l-mušāǧara) unter den Gläubigen, 75 – 76.  „tadāḫul tawfīqī“, Ǧābirī Bunyat al-ʿaql al-ʿarabī. Beirut 82007, 486. Dieser „Synkretismus“ ohne eigene innere Logik wird auch als „muǧarrad maǧmūʿ assemblage“ beschrieben.Vgl. zu den einzelnen Elementen „Wortlaut“/sulṭat al-lafẓ; „Ursprung“/sulṭat al-aṣl; „Prinzip infiniter Möglichkeit“/mabdaʾ at-taǧwīz : ebd., 560 – 565.  Ǧābirī: Naḥnu wa’t-turāṯ. Casablanca 51986, 20 – 21. Vgl. auch Ǧābirī: Bunyat, 529 – 530.  Dies ist, was Ǧābirī mit seiner „Kritik der arabischen Vernunft“ (Naqd al-ʿaql al-ʿarabī), Beirut 1984– 1990 intendiert. Bd. 1: Takwīn al-ʿaql al-ʿarabī, 1984; Bd. 2: Bunyat al-ʿaql al-ʿarabī, 1986; Bd. 3: Al-ʿaql as-siyāsī al-ʿarabī, 1990; Bd. 4: Al-ʿaql al-aḥlāqī al-ʿarabī, 1990. Vgl. auch Ders.: Atturāṯ wa’l-ḥadāṯa. Beirut 1991, 36 – 37. Das ‚Geschöpf des Erbes’ (kā’in turāthī) müsse zu einem ‚Geschöpf mit Erbe’ (kā’in lahu turāṯ) werden: Naḥnu waʿt-turāṯ, 21– 22.  Vgl. ausführlicher zu den Maximen dieser Werteordnungen – Edelmut für das „rein arabische“ mawrūṯ ʿarabī ḫāliṣ, Gehorsam für das persische mawrūṯ fārisī, Entwerdung für das sufische mawrūṯ ṣūfī, Tugend für das griechische „Erbe“ mawrūṯ yūnānī – Al Ghouz: Vernunft und Kanon, 224 mit Verweis auf Al-ʿaql al-aḫlāqī. Beirut 22006, 27.

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tiger Verschränkung Ġābirī zufolge das „Zentrum des Korans“. Denn insofern sich „die in ihm enthaltenen Normen allesamt auf die Tugend [beziehen]“ und aḥkām (Normen) und aḫlāq (Tugenden) im Koran „zu einer Einheit verschmelzen“, erweist sich der Koran letztlich als ein Diskurs, dessen Kernbotschaft eine ethische ist.⁵⁶ Der Überschrift eines Kapitels der „Kritik der ethischen Vernunft“ entsprechend liegt der ethische Kernwert des Korans Ǧābirī zufolge im „guten Werk“ (alʿamal aṣ-ṣāliḥ) bzw. in dem das Gemeinwohl der Menschen Fördernden: „Das Gemeinwohl bildet die Grundlage von Politik und Ethik (al-maṣlaḥa asās assiyāsa waʿl-aḫlāq)“.⁵⁷

1.2.2 Demonstrative Vernunft und Rhetorik Ausgehend von der These, die koranische Sprache sei „eine Sprache der Vernunft (ʿaql) und nicht der Gnosis (ʿirfān)“⁵⁸, sieht Ǧābirī das innovative Potential von Ibn Rušds Koraninterpretation darin, dass sie im Gegenüber zur Interpretation der Mystiker, der Ǧābirī die Projektion hermetischer Ideen in den Koran vorwirft, vor allem auf die „innere Einheit des religiösen Wortes“⁵⁹ zielt und somit den Text des Koran mit Blick auf die Intention des gesamten Diskurses und nicht des einzelnen Wortes zu verstehen sucht. Eine solche an Ibn Rušd orientierte strukturalistische Analyse legt den Koran vor allem textimmanent im Sinne einer Induktion (istiqrāʾ) aus und schreitet im Bewusstsein für die besondere Beziehung zwischen Prämisse und Konklusion vom Signifikanten (ad-dāll) bzw. äußeren Wortsinn (ẓāhir) zum Signifikat (madlūl) bzw. zur eigentlichen Bedeutung (bāṭin/maʿna) fort. Zum anderen differenziert sie zwischen interpretationsfähigen und nicht-interpretationsfähigen Themen wie z. B. der Einheit des Seienden (waḥdat al-wuǧūd), der Prophetie (nubuwwa) und dem Jenseits (āḫira) und setzt somit die für Ǧābirī so eminent bedeutsame Distinktion zwischen Religion und Philosophie auch hermeneutisch um.⁶⁰ Ġābirīs eigene Bemühungen, „den Koran für Araber und Muslime sowie für alle anderen so zu definieren, dass er frei von der ideologischen Instrumentalisierung (at-tawẓīf al-īdyūlūǧī) und dem dogmatischen Gebrauch interpretiert

 Muḥammad ʿĀbid Al-Ǧābirī: Al-ʿaql al-aḥlāqī al-ʿarabī. Beirut 2012, 61– 62.  Ǧābirī: Al-ʿaql al-aḫlāqī. Beirut 22006, 593 – 594.  Ǧābirī: Naḥnu waʿt-turāṯ, 49; zitiert nach: Al Ghouz:Vernunft und Kanon, 271.  Ǧābirī: Takwīn. Beirut 21985, 321; Ders.: Bunyat. Beirut 21986, 372; zitiert nach: Von Kügelgen: Averroes, 350.  Dazu ausführlicher: Ǧābirī: Takwīn. Beirut 21985, 316 – 323.

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werden kann“⁶¹, münden schließlich in einen eigenen Korankommentar, in dem er zeitgenössische kontextuelle Zugänge zum koranischen Korpus mit einem rhetorischen Zugang zu kombinieren und dabei vor allem die chronologische Fortschreibung der prophetischen Verkündigung in den Blick zu nehmen sucht. Dabei ist er sich mit der nichtmuslimischen Koranforschung darin einig, dass die Identifizierung emergenter Signifikanten wie Islam, Tugend oder Glaube im Prozess der koranischen Verkündigung in engster Verbindung wie auch in kritischer Abgrenzung zur Interpretation der früheren Schriftbesitzer vorgenommen wird und der koranische Diskurs somit ohne ein Wissen um spätantike mythologische Narrationen, die unter seinen Hörern zirkulierten, nur schwer verständlich ist. Was den Koran allerdings im Gegenüber zur biblischen Adaption narrativer Traditionen der Antike singulär auszeichnet, ist Ǧābirī zufolge die Art und Weise, in der diese Narrationen im Prozess narrativer Rekonfiguration transformiert werden. In einem an Nöldekes Surenchronologie orientierten Durchgang durch die Suren des Koran sucht Ǧābirī nachzuzeichnen, wie die mit den (rhetorischen) Mitteln der Verfremdung, Auslassung, Erweiterung und Pointierung arbeitende koranische „Erzählstrategie“⁶² einen Prozess responsiver Signifikation eröffnet, der in einem zutiefst soziopolitischen Prozess der Gemeindekonstitution sowie im Dialog mit den früheren Traditionen des Judentums und des Christentums deren Partikularismus zu überwinden und „die allem Religiösen zugrundliegende moralische Lektion (ʿibra) der Geschichte zu extrahieren“⁶³ sucht. Anders als im Falle der Bibel ist mit der rhetorischen Transzendierung des mythologischen Charakters der inkorporierten Narrationen bzw. mit der „Kunst überzeugender Rede (quwwat al-iqnāʿ)“⁶⁴ – darin liegt für Ǧābirī die Unnachahmlichkeit (iʿǧāz) des Koran – die Ära des Mythos und der Mythologie ein für allemal beendet. Die dem Koran zugeschriebene Unnachahmlichkeit besteht nicht in seinem Vortrag (tartīl), sondern in seiner „rational-semantischen Charakteristik (mayyizāt maʿnawīya ʿaqlīya)“⁶⁵, in deren Horizont auch koranische Erzählungen nicht einfach nur Erzählungen, sondern „Klarheit“ (bayān) und „Beweis“ (burhān) zugleich sind, kurz: „Mittel

 Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Madḫal ila ʿl-qurʾān al-karīm. Beirut 2013, 14– 15. Einleitungsband zu: Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Fahm al-qurʾān al-karīm. At-tafsīr al-wāḍiḥ ḥasab tartīb annuzūl, Bde. I–III. Beirut 2009 – 2013.  „al-barnāmiǧ wa’l-stratejī al-qurʾānī“. Ǧābirī: Madḫal. Beirut 2013, 289 – 290.  Ǧābirī: Fahm al-qurʾān al-karīm, Bd. I, 245; Hervorh. RB; vgl. auch Ǧābirī: Madḫal, 433.  Zur „al-fann al-qisasī fīʿl-iqnāʿ“ vgl. Ǧābirī: Madḫal, 368 – 377, 425. Dazu auch Muhammed Coşkun: Muhammed Abid el-Cābirī ve tefsir anlayışı. Istanbul 2014, 153 – 159.  Ǧābirī: Madḫal, 185.

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einer ohne jeglichen Einsatz von nichtrationalen Mitteln auskommenden und zur Ausrichtung auf die Vernunft einladenden Überzeugungskunst“.⁶⁶ Es ist nun wahrhaftig so, dass sich die vollkommene Perfektion im Koran, insbesondere im Bereich seiner Erzählungen und mit Blick auf die besondere Weise, auf die er die Erzählungen präsentiert, im Vergleich zu den Erzählungen der Tora (offenbart). […] Die den Erfordernissen der Vernunft entsprechende Struktur seiner Argumentationen ist, bis in das Innerste der Erzählungen hinein, weit entfernt von den in Tora und Evangelium begegnenden und jenseits des Rahmens der Vernunft liegenden Formen der Überzeugung.⁶⁷

Lag die Funktion der Zeichen (āyāt) in den vorkoranischen Offenbarungsschriften vornehmlich darin, den Menschen „Furcht einzuflößen“ – „wir sandten sie nur, um den Zeitgenossen Angst zu machen“ (Q 17,59) – begegnet der Koran den Menschen „als eine Einladung zur Meditation über das System des Kosmos, als Sammlung von Zeichen […] für ein Volk, das nachdenkt“. Die von einer korrektiven „literarischen Strategie“ gesteuerte Wiederaufnahme biblischer Narrative erfolgt nicht nur in einer „den Anforderungen von Zeit und Ort (ḥasab mā yaqtaḍīhi al-maqām) angemessenen neuen Form (ṣiyāġa ǧadīda)“, sondern zugleich „völlig frei von der Bürde mysteriöser Mythen (ḫalūw min ṯuql al-asrār al-mystères), welche die religiöse Erkenntnis als etwas Irrationales (ḫāriǧ tanāwul al-ʿaql) erscheinen lassen“.⁶⁸ Präziser zu veranschaulichen sucht Ǧābirī diese responsive und korrektive Strategie des Koran u. a. an der anthropologischen Rekonfiguration des im Koran insgesamt in sieben Passagen begegnenden Adam-Iblīs-Narrativs. Dessen frühmedinensische, auf Wissen (ʿilm) und Lehre (taʿlīm; Q 2,31) fokussierende Version geht Ǧābirī zufolge insofern über eine einfache Wiederholung des bereits durch die rabbinische Tradition Ausgesagten hinaus, als dass sie die altsemitische Vorstellung von der Antizipation der Namensgebung⁶⁹ zur Herausstellung der besonderen Würde des Statthalters (ḫalīfa, Q 2,31) appropriiert. In der koranischen Bezugnahme auf die biblische Tradition erkennt Ǧābirī eine funktionale, sowohl auf die Person des Propheten als auch auf den Menschen an sich abhebende Typologie: wie bereits Adam vor ihm, wird nun auch Muḥammad von Gott

 „tadʿū li’l-iḥtikām ilā al-ʿaql baʿīdan ʿan asālīb al-lā-ʿaql“, Ǧābiri: Madḫal, 424– 425.; vgl. ebd. 368 – 377.  Ǧābirī: Madḫal, 423 – 424.  Ǧābirī: Madḫal, 433.  Vgl. dazu die rabbinische Tradition in Bereshit Rabbah XVII.4: „Seine Weisheit (ḥkmtw) wird die eurige übertreffen“. In Midrash Genesis Rabbah, übers. v. Rabbi H. Freedman und M. Simon. London 31961, 135.

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dazu erwählt, seine „Worte zu empfangen“ (fa-talaqqa kalimāt, Q 2,37) und diese an die Menschen als von Gott zu „Statthaltern“ bestimmte Geschöpfe weiterzugeben. Als Empfänger der Worte (kalimāt) bzw. des Buches Gottes (al-kitāb) repräsentiert Muḥammad gleichwohl nur den „Mittler“ (waṣīla) göttlicher Offenbarung, nicht aber das „Exemplum“ (numūḏaǧ) heilsamer Gottesbeziehung. Mag die Beziehung zwischen Offenbarung und Prophet auch „äußerst eng“ sein, verbleibt sie zutiefst „rational (ʿaqlī)“⁷⁰ bzw. durchgehend „im Rahmen der menschlichen, jeglicher ‚über-‘ oder ‚außermenschlicher‘ Vorstellung entbehrenden Natur“.⁷¹ In dieser nüchternen, nie ins Mythologische oder Irrationale abgleitenden Dimensionierung des koranischen Muḥammadbildes erkennt Ǧābirī auch das unverwechselbare Charakteristikum des Islam als Religion. „In Wirklichkeit“, so schreibt er, ist das, […] was den Islam von anderen Religionen unterscheidet (türk. diğer dinlerden ayıran şey), sowohl auf der Ebene des Prophetentums als auch auf der Ebene der ‚Schrift‘, dass er sich bei allem die Religion betreffenden Wissen von allen außerhalb des Vernunftfeldes stehenden Geheimnissen sowie von allen Mythen fernhält.⁷²

Epistemologisch bedeutsamer als die Adamstypologie erweist sich für Ǧābirī allerdings das in diesem Narrativ herausgestellte und nicht auf den Propheten beschränkte Motiv der Weisheit (ḥkm) und des Wissens (ʿilm): in seiner hermeneutischen Auseinandersetzung mit der aus dem kreativen Moment der Benennung resultierenden Heterogenität rabbinischer Interpretationspraxis sieht sich der auf hermeneutische Klarheit (bayān, Q 55,1– 3) bedachte Diskurs des Koran zu einer responsiven Signifikation in dem Sinne veranlasst, als dass er den „Statthalter auf Erden“ (ḫalīfa fīʾl-arḍi) eben über diese Namen mit einer intelligiblen natürlichen Ordnung in Beziehung setzt. Zur Herausstellung der besonderen Würde des ḫalīfa nutzt der Koran die altsemitische Vorstellung von der Antizipation der Namensgebung dazu, dem von den Engeln gezeichneten Negativ-Bild vom „Unheilstifter“ (fāsid) und „Blutvergießer“ (sāfiq ad-dimāʾ) das Bild eines Menschen gegenüberzustellen, der sich aufgrund seiner gottgegebenen „Potentiale der Vernunft und der Unterscheidung (quwwat al-ʿaql waʾt-tamyīz)“⁷³ von anderen Kreaturen  Türk. „arasındaki ilişki oldukça sıkı bir ilişki idi“, Muhammed Ābid el-Cābirī: Kur’an’a Giriş. Istanbul 32013, 497.  Ǧābirī: Madḫal, 430: „iṭār aṭ-ṭabīʿa al-bašarīya“; Türk. „insani dogasi: insān tabīʿī“: el-Cābirī, Kur’an’a Giriş, 497.  Türk. „din’e ilişkin bilgiyi akıl alanının dışına iten sırlardan, ‚mit’lerden (mysteres) uzak oluşudur“, el-Cābirī, Kur’an’a Giriş, 495; vgl. Ǧābirī: Madḫal, 429: „mā yumayyiz al-islām […] ḫulūwahu min ṯuql al-asrār“.  Ǧābirī: Madḫal, 393.

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unterscheidet und so seiner Aufgabe als Statthalter Gottes auf Erden zu entsprechen vermag.

1.2.3 Religionsgesetz und Philosophie Mit seiner Unterscheidung der Ordnungen des bayān und ʿirfān von der auf dem instrumentellen Verstand gründenden Erkenntnisordnung des burhān orientiert sich Ǧābirī grundlegend an Ibn Rušd, der im Ausgang von der Beobachtung der wiederholten koranischen Einladung zur Reflexion über alles Existierende in seinem frühen faṣl al-maqāl argumentiert, die Philosophie sei: […] entweder eine Verpflichtung, die das Religionsgesetz auferlegt (wāǧib biʿš-šarʿ), oder eine von ihr empfohlene Handlung. […] So wird es auch zu einer religionsrechtlichen Pflicht, unsere Betrachtung der existierenden Dinge mittels des vernunftmäßigen Analogieurteils [also des syllogistischen Arguments] auszuführen.⁷⁴

Doch der hier artikulierte grundlegende Gedanke, dass beide Rationalitäten, die offenbarungsunabhängige Rationalität der Kausalität sowie die offenbarungsabhängige Rationalität des intentional der Förderung der Tugend dienenden Religionsgesetzes (maqṣad aš-šarʿ) eigenständige Geltungsbereiche darstellen, schließt für Ibn Rušd nicht aus, dass sie zugleich komplementär aufeinander bezogen sind und sich somit eine Kritik am jeweils anderen Geltungsbereich grundlegend verbietet. Ebenso wie die Postulate (muṣādarāt) und Axiome (uṣūl) der demonstrativen Wissenschaften „gesetzt“ (mawḍūʿa) sind, sind dies auch die Prinzipien der Religionsgesetze (šarāʾiʿ) bzw. die Prinzipien des Handelns (mabādiʾ al-ʿamal): sie sind sowohl der Offenbarung (waḥy) und der Tradition (taqlīdan) als auch der Vernunft „entnommen“ (maʾḫūḏa) und so – als von Gott „Gesetztes“ – der Kritik entzogen: für die Notwendigkeit des Handelns gebe es „außer dem der Existenz der Tugenden (aḫlāq)“, wie Ibn Rušd in ausdrücklicher Zustimmung zu Ġazālī formuliert, „keinen demonstrativen Beweis“.⁷⁵ Die damit demonstrierte Dialektik von Eigenständigkeit und Aufeinanderbezogenheit im Verhältnis von Philosophie und Religionsgesetz erlaube daher auch keinen Zweifel an den Grundlagen der Religionsgesetze (ǧāmiʿ aš-šarāʾiʿ), lehren sie doch:

 Ibn Rušd: Faṣl al-maqāl, hg.v. Hourani. London 1961, 10 und 45 – 46, zitiert in Anver M. Emon: Islamic Natural Law Theories. Oxford 2010, 169 – 170, eig. Übersetzung.  Ibn Rušd: Tahāfut at-tahāfut. Beirut 1930, 584,1 f; zitiert nach: Von Kügelgen: Averroes, 338 – 339; vgl. Ǧābirī: Naḥnu wa’t-turāṯ, 238.

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[…] allesamt dieselben Prinzipien. […]. Bei den Weisen (ḥukamāʾ) unter den Philosophen ist das Sprechen und Disputieren (ǧadal) über die Grundlagen der Religionsgesetze (mabādiʾ aš-šarāʾiʿ) nicht erlaubt. […] da jede Wissenschaft (kull ṣināʿa) ihre eigenen Grundlagen hat, ist es Pflicht, ihre Grundlagen anzuerkennen.⁷⁶

Dementsprechend bedarf auch die Kunst allegorischer Interpretation, um ihre Funktion, die Förderung von Eintracht anstatt Zwietracht, auch tatsächlich erfüllen zu können, nicht nur „natürlicher Intelligenz (ḏakā al-fiṭra)“ und „theoretischer Tugenden (faḍāʾil naẓarīya)“, sondern – gleichsam als Grundbedingung aller theoretischen Reflexion überhaupt – auch „moralischer Tugendhaftigkeit (faḍāʾil ḫalqīya)“.⁷⁷ Erst sie erlaube überhaupt die vollständige Erlangung sowohl praktischer (ṣanāʾiʿ ʿamalīya) als auch theoretischer Fähigkeiten (faḍāʾil naẓarīya). Die Pflicht zur Anerkennung des Religionsgesetzes gründet somit in dessen wesentlicher Funktion, der Befreiung der triebhaften Seele von ihren Leidenschaften und der dadurch ermöglichten Erziehung zur Tugend – beides wesentliche Voraussetzungen für das diskursive Denken bzw. das wahre Wissen (al-ʿilm al-ḥaqq).⁷⁸ Als notwendige, sowohl der Vernunft als auch der Offenbarung entnommene „Einrichtung des Gemeinwesens (ṣināʿa ḍarūrīya madanīya)“⁷⁹ stellt das Religionsgesetz nicht nur die Prinzipien des Handelns (mabādiʾ al-ʿamal), sondern auch „das die Verstandeswissenschaften (ʿulūm al-ʿaql) vervollständigende (mutammim) praktische Wissen (ʿilm ʿamalī)“⁸⁰ zur Existenz Gottes, zum Prophetentum sowie zur jenseitigen Glückseligkeit bereit. Somit erweisen sich šarīʿa und falsafa als distinkte, zugleich aber aufeinander angewiesene Disziplinen: Da nun dieses Gesetz wahr ist und zur Vernunftüberlegung (naẓar) aufruft, die zur Erkenntnis der Wahrheit (al-ḥaqq) führt, wissen wir, die Gemeinschaft der Muslime, mit Bestimmtheit, dass die beweisende Überlegung (naẓar burhānī) nicht zu einem Widerspruch (muḫālafa) mit dem führt, was im Gesetz (aš-šarʿ) steht.⁸¹

 Ibn Rušd: Tahāfut at-tahāfut. Beirut 1930, 527.3 – 13; zitiert nach: Von Kügelgen: Averroes, 338. Vgl. dazu auch Ibn Rušd: Faṣl al-maqāl, übers. v. Franz Schupp, Hamburg 2009, 14: Ziel der Philosophie ist genau „jenes, zu dem uns auch das Gesetz drängt (al-maqṣad allaḏi ḥaṯṯanā aššarʿ)“.  Ibn Rušd: Tahāfut at-tahāfut 59,1.5 – 8; zitiert nach: Von Kügelgen: Averroes, 334.  Ibn Rušd: Faṣl al-maqāl, übers. v. Franz Schupp, Hamburg 2009, 14.19 – 20.  Ibn Rušd: Tahāfut at-tahāfut 58,1.11– 14; zitiert nach: Von Kügelgen: Averroes, 334.  Ibn Rušd: Tahāfut at-tahāfut 255,15 – 18; zitiert nach: Von Kügelgen: Averroes, 336.  Ibn Rušd: Faṣl al-maqāl, übers. v. Franz Schupp. Hamburg 2009, 18 – 19. Frank Griffel in Ibn Rušd: Massgebliche Abhandlung, Berlin 2010, 18 übersetzt hier freier: „[…] dass das durch apodiktische Beweise geleitete Studium nicht zu etwas führt, das von dem abweicht, was durch den Vorgang der Offenbarung zu uns gekommen ist“.

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Erst im direkten Vergleich von Ibn Rušds hier nur kursorisch erfasster Vernunftkonzeption mit deren Rezeption in Ǧābirīs „Kritik“ lässt sich erfassen, in welchem Maße die ambig oszillierende Verhältnisbestimmung, die der andalusische Rechtsgelehrte zwischen den genannten, komplementär aufeinander bezogenen Wissensordnungen Religionsgesetz und Philosophie vornimmt, in der Lesart Ǧābirīs zugunsten der Herausstellung ihrer Eigenständigkeit zurücktritt. Im Bestreben, den für ihn nur scheinbaren Gegensatz zwischen dem arabischen Erbe (turāṯ) und der Moderne (ḥadāṯa) aufzulösen und eine die Philosophie gleichsam unterhöhlende Eingemeindung der Religion in die Philosophie auszuschließen, sucht Ǧābirī das religiös-ethische strikt vom rational-philosophischen Denken abzugrenzen und mit Bezug auf die erwähnten Zitate aus dem Tahāfut die These zu belegen, Ibn Rušd habe eine vollständige Unabhängigkeit von Philosophie und Religion vertreten.⁸² Philosophische Rationalität richte sich ausschließlich auf die Beobachtung und Artikulation der Ordnung der Welt und der Kausalität, die Rationalität der Religion hingegen auf die Intention des Gesetzgebers bzw. die Förderung der Tugend. Durch dieses Verständnis von Recht und Philosophie als zweier distinkter Disziplinen glaubt Ǧābirī, nicht nur die aristotelische Kunst der logischen Beweisführung (burhān) wieder in ihr angestammtes Recht, sondern zugleich auch den Koran von der traditionellen Interpretationskultur frei setzen zu können. Ǧābirī versteht somit die Distinktion, die Ibn Rušd zwischen der offenbarungsunabhängigen Rationalität der Kausalität und der offenbarungsgebundenen Rationalität des dem Zweck der Tugendförderung dienenden Religionsgesetzes vornimmt, sehr viel radikaler als dies der als Jurist und Richter am Almohadenhof tätige Ibn Rušd jemals getan haben dürfte. Was Ǧābirī ausblendet, ist nicht nur die Grundsätzlichkeit, mit der Ibn Rušd die Philosophen sowohl in der Beschäftigung mit der Religion als auch in ihrem eigentlich philosophischen Geschäft auf die Anerkennung der religiösen Grundlagen verpflichtet. Ausgeblendet bleibt bei ihm auch der von Ibn Rušd deutlich mit dem Wohlergehen im Jenseits (al-āḫira) verbundene wesentliche Zweck des nur instrumental auf die Tugendförderung ausgerichteten Religionsgesetzes. In Ǧābirīs allgemeiner und abstrakter Lesart dieses Zweckes geht diese eschatologische Dimension nahezu vollständig verloren: Die wesentliche Aufgabe der Islamischen Jurisprudenz und der ihr obliegenden Normderivation (istinbāṭ) liegt für ihn in der Ermöglichung eines gerechten, mit den aristotelischen Kardinaltugenden konform gehenden Handelns. Letztere sind, wie die Zwecke des Islamischen Rechts auch, vermittels  Ǧābirī: Naḥnu waʿt-turāṯ, 238: Die „Prinzipien“ (mabādiʾ) und „Grundsätze“ (uṣūl) von Philosophie und Religionsgesetz sind so verschieden, dass von einer „absoluten Differenz des religionsgesetzlichen Gebäudes von dem der Philosophie (ḥatman iḫtilāf al-bināʾ ad-dīnī ʿan al-bināʾ al-falsafī)“ gesprochen werden kann.

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einer induktiven Analyse herauszuarbeiten, die über das syllogistische, formal eine aristotelische Subsumtion vornehmende demonstrative Beweisverfahren in der Lage ist, absolut „gewisse“ (qatʿī) Rechtsurteile zu generieren.

2 Semiose und noesis – Die ratio der Glaubensvernunft 2.1 Vernunftkritik und Imagination Die rationalistisch-modernistische Lesart des arabisch-islamischen Erbes, wie sie in ʿAbduh einen frühen und in Ǧābirī einen besonders konsequenten Ausdruck findet, blieb im islamischen Diskurs nicht unwidersprochen, wobei der Widerspruch des ägyptischen Aktivisten Sayyid Quṭb (–1966) zweifellos als einer der wirkmächtigsten gelten darf. Quṭb übt bereits in den 1950er Jahren schärfste Kritik an allen Formen einer positivistischen, historistischen Vernunft und bezichtigt Denker wie ʿAbduh oder Musṭafā Maḥmūd (–1970) der Imitation (taqlīd) des „Rationalismus westlicher Orientalisten“.⁸³ Gegenstand seiner Vernunftkritik ist dabei weniger die Vorstellung von der Vernunft als solcher, sondern vielmehr jene Vernunft, die glaubt, das Rationale vom religiösen Imaginaire, das die heiligen Schriften umgibt, isolieren zu können. Die Herausstellung dieser imaginativen Dimension der Vernunft hindert Quṭb gleichwohl nicht daran, zwischen den die Existenz (und Einheit) Gottes ins Bewusstsein rufenden semiotischen ZeichenSystemen des Universums, der Offenbarung und der inneren Erfahrung eine absolute Harmonie anzunehmen und in seinem Korankommentar „Fī zilāl alqurʾān“ den Gottesglauben als „ein Zeichen für eine gesunde Natur (fiṭra) und eine gesunde menschliche Konstitution im Einklang mit der Natur (fiṭra) des gesamten Universums“⁸⁴ zu beschreiben. Kaum weniger eloquent als Ǧābirī stellt er die unnachahmliche rhetorische und argumentative Kraft des Koran heraus, der, allen Fabeln und Mythen ein Ende bereitend, den rationalen Grundstein für eine gesunde menschliche Gemeinschaft legt, genauer: den Grundstein für „eine Weltanschauung auf der Grundlage des Glaubens (taṣawwur iʿtiqādī), der klar von

 Olivier Carré: Mysticism and Politics. A Critical Reading of Fī Ẓilāl al-Qurān by Sayyid Quṭb. Leiden/Boston 2003, 23.  Sayyid Quṭb: Fī zilāl al-qurʾān (1952– 1965), Bde. I–VI. Kairo 71978, 3367,6 zu Q 103; zitiert nach: Carré: Mysticism and Politics, 339; Übersetzung RB.

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heidnischen Mythen und von den Abweichungen und Verzerrungen der Schriftbesitzer gereinigt ist“.⁸⁵ Nicht ganz unbeeindruckt von seinem 1966 von Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir hingerichteten Landsmann interpretiert auch der ägyptische Sozialphilosoph Ḥasan Ḥanafī die logozentrische Rationalität aufklärerischer Vernunft, wie sie Ǧābirī im islamischen Bereich zu repristinieren sucht, als die spezifisch abendländische Lösung eines genuin kirchenpolitischen Konflikts, in dem es galt, die klerikalen Machtansprüche der Kirche zurückzudrängen.⁸⁶ Die mit der Orientierung auf die bloße Vernunft einhergehende radikale Spaltung zwischen Subjekt und Objekt habe in der westlichen Wissenschaftskultur nicht nur zu einer dichotomischen Trennung von Denken und Werten bzw. Rationalität und Gefühl, sondern letztlich zu einer mit sich selbst entzweiten Moderne geführt. Zur Versöhnung dieser Entzweiung bedürfe es Ḥanafī zufolge einer Neuentdeckung des emanzipatorischen Potentials der koranischen Offenbarung, deren akzidentielle Sprachbilder von Gott, Paradies oder Hölle allerdings, sollen sie ihrer transformierenden Dynamik nicht verlustig gehen, einer Über-Setzung in die Moderne bedürfen. Von epistemologischer Relevanz erweist sich in diesem Zusammenhang vor allem der Umstand, dass Ḥanafī zur Herausarbeitung der hinter diesen Sprachbildern stehenden „koranischen Logik (al-manṭiq al-qurʾānī)“⁸⁷ überraschenderweise auf denselben Denker zurückgreift, der bereits Ǧābirī Pate stand, dessen Vernunftkonzeption allerdings aus einer weniger rationalistischen Perspektive liest: Ibn Rušd habe, so Ḥanafī, das aristotelische Denken insofern „zu seinem lebendigen Ausgangspunkt zurückgeführt“⁸⁸, als dass er kongenial zwischen rhetorischer, dialektischer und apodiktischer Beweisführung unterschieden und so das ganzheitliche Spektrum koranischer Argumentation herausgestellt habe. Im Gegenüber zur logozentrischen Vernunft des Westens sowie im Gegensatz zur rationalistischen Lesart Ǧābirīs sieht Ḥanafī die koranische Beweislogik dadurch charakterisiert, dass sie mit ihrer Synthese von ratio und emotio einen „universalen ethischen Code“ (universal code of ethics) ermöglicht, der selbst auf einer Denken und Fühlen, Rationalität und Gefühl, Geist und Leiblichkeit miteinander verbindenden Wahrheit gründet: auf der Wahrheit einer „substantiellen Einheit“ (unity of the essence) als „foundation of the Oneness of the Principal and the

 Quṭb: Fī zilāl al-qurān, I, 825,10 zu Sure Q 5; zitiert nach: Carré: Mysticism and Politics, 285; Übersetzung RB.  Vgl. insb. Ḥasan Ḥanafī: Min al-ʿaqīda ila aṯ-ṯawra, Bde. I–V. Beirut 1988.  Ḥasan Ḥanafī: Dirāsāt islāmīya. Beirut 1982, 162; 121.  Ḥanafī: Dirāsāt islāmīya, 161– 162.

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Universality of the Code of ethics“.⁸⁹ Die Überlegenheit der islamischen Epistemologie erweist sich dabei nicht nur in ihrer Fähigkeit, die Welt als „eines“ zu erfahren, sondern zugleich auch in der Ermöglichung einer umfassenden Identität zwischen dem Individuellen, der Gemeinschaft und zwischen den Gemeinschaften selbst: denn sie allein vermag die alle Menschen irrespektive ihrer religiösen und weltanschaulichen Affiliationen umfassende „Einheit des epistemologischen, ontologischen und axiologischen Prinzips (unity of the Epistemological, Ontological and Axiological Principle)“⁹⁰ – übertragen damit auch die Einheit von Ontos, Logos und Ethos – vollkommen zu vergegenwärtigen.

2.2 Anthropologie der Moral und Grenzen der Vernunft 2.2.1 Herz und intellektuelle Intuition Die Reform des arabisch-islamischen Erbes hin zu einem wahrhaft authentischen Verständnis der arabisch-islamischen Philosophie ist ebenso auch das erklärte Ziel von Ǧābirīs Landsmann und akademischem Kollegen Ṭāhā ʿAbd ar-Raḥmān (1944*), der allerdings anders als Ǧābirī und Ḥanafī für eine solche Reform den Rückgriff auf die averroistische Tradition für unfruchtbar hält. In einem einschlägigen Beitrag zur arabischen turāṯ-Reformdebatte, einer Studie zur „Erneuerung der Methode in der Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe“⁹¹, stellt er im Gegenüber zu Ǧābirīs Orientierung an der (aristotelischen) Vernunft die grundlegende Bedeutung des Moralischen (al-aḫlāq) heraus und das der averroistischen Tradition zugrundeliegende aristotelische Rationalitätskonzept grundlegend in Frage: dieses erlaube es nicht, konkrete bzw. in der praktischen Lebenswelt der Muslime tatsächlich umsetzbare theologisch-ethische Kategorien zu erarbeiten. Die Elaboration solcher Kategorien sei, weil die „bloße Vernunft“ (al-ʿaqlānīya al-muǧarrada) aufgrund der ihr inhärierenden Beschränktheit nicht  Ḥasan Ḥanafī: Islam in the Modern World. Bd. 2: Tradition, revolution and culture. Kairo 2000, 239 – 240. Ḥanafī zufolge impliziert die Freiheit des Islamischen Bewusstseins eine phänomenologische Wahrnehmung der Wirklichkeit zunächst in einer sinnenhaften, dann geistigen Erfassung der Einheit Gottes und des Seins: vgl. den Abschnitt „The unity of God“ ebd., 367– 368. Vgl. auch Ḥasan Ḥanafī: „Vom modernistischen zum revolutionären Islam“. In kopfbahnhof/Almanach 4: Orient-Express. Ansichten zum Islam. Leipzig 1991, 82.  Ḥanafī: Islam in the Modern World. Bd. 2, 280: Dieses „Epistemological, Ontological and Axiological Principle can be shared by all human beings. It is the common heritage of Mankind“. Vgl. zum „Together“-Paradigma 220 – 221; zum Islam als „natural“, „rational, „humanistic“ und „communal religion“ 266 – 271.  Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān: Taǧdīd al-manhaǧ fī taqwīm at-turāṯ. Casablanca 42012.

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die Geheimnisse des Seins und der Religion begründen könne, nur im Kontext einer von der koranischen Offenbarung sowie der islamischen Tradition geprägten Sprach- und Imaginationswelt möglich. Wesentliches Charakteristikum von ʿAbd ar-Raḥmāns Vernunftkonzeption ist die bereits bei Platon begegnende Unterscheidung zwischen der doxa als einfacher Meinung, der bildbezogenen dianoia und der sich ausschließlich der reinen Ideen bedienenden intellektuellen Intuition (noesis) als höchste Form der die intelligiblen Wirklichkeiten abbildenden epistéme: allein durch sie vermag die menschliche Seele zu absoluten bzw. nicht-hypothetischen Prinzipien aufzusteigen.⁹² Kaum ein muslimischer Denker hat diesen Aufstieg der menschlichen Seele zur Erkenntnis intelligibler Wirklichkeit durch intellektuelle Intuition so wirkmächtig theoretisiert wie der von Raḥmān als grundlegende Referenz dienende persische Gelehrte Abū Ḥāmid Al-Ghazālī (1058 – 1111), dessen Synthese von Religionsgesetz und verinnerlichtem Gotteserlebnis mystischer Prägung sich epistemologisch in einer unauflöslichen Verbindung der menschlichen Vernunft (ʿaql) mit dem Herzen (qalb) als wesentlichem Organ der Erkenntnis manifestiert. Im Rückgriff auf die koranische Aussage, Gott habe „von allen Dingen ein Paar geschaffen“⁹³, leitet Ġazālī die Doppelgestalt der gesamten Natur ab und begreift das geistbestimmte Herz ebenso wie die als Erkenntnisapparat verstandene Natur (fiṭra) des Menschen als eine nicht durch die Einbildungskraft und die Sinne negativ beeinträchtigte Schöpfungsdisposition, die den Menschen dazu befähigt, „die Wahrheit der Dinge zu erkennen, entsprechend ihrer Erkenntnis und Wissen gemäßen Natur“⁹⁴: „Die Würde des Menschen […] ist seine Bereitschaft, Gott zu erkennen […]. Er ist zu dieser Erkenntnis befähigt mit seinem Herzen“.⁹⁵ Im Horizont dieser unauflöslichen Verbindung von menschlicher Veranlagung und göttlicher Rechtleitung lässt sich dann auch von einer unauflösbaren Korrelation von Gottes- und Selbsterkenntnis reden bzw. davon, dass Religion, wie Ġazālī formuliert, „eine Vernunft von außen“, „die Vernunft selbst eine Religion von innen“ sei: „sie arbeiten zusammen, ja, bilden sogar eine Einheit“.⁹⁶ Der Unter Vgl. zu ʿAbd ar-Raḥmān, Taǧdīd al-manhaǧ, 23 – 28, die Ausführungen zu Ġazālī (339 – 350) und zur platonischen noesis die genannte Studie von Oehler: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken, 87– 111.  „Alle Dinge in der Existenz stehen in Gegensatz zueinander, außer Gott, der kein Gegenüber hat, denn er ist die einzige wahrhaftige Wirklichkeit“, Abū Ḥāmid Muḥammad Al-Ghazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn. 4 Bde. Kairo 1938, Bd. I, 26.  Ġazālī: Ihyāʾ, Bd. IV, 299; zitiert nach: Richard Gramlich: Al-Ghazalis Lehre von den Stufen der Gottesliebe. Wiesbaden 1984, 599.  Ġazālī: Ihyāʾ, Bd. III, 2; zitiert nach: Mahmoud Zakzouk: Al-Ghazalis Philosophie im Vergleich mit Descartes. Frankfurt/M. 1992, 76.  Ġazālī: Ihyāʾ, Bd. IV, 299; zitiert nach: Gramlich: Al-Ghazalis Lehre, 598.

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schied zur Epistemologie des plotinischen Neuplatonismus ist klein, aber gewichtig. Ist das Licht des nous, der höchsten Vernunft, für Plotin mit Gott identisch, versteht es Ġazālī, wie er in seinem „Retter aus dem Irrtum“ (al-munqiḏ min ad-dalāl) herausstellt, als eine Gabe Gottes: „Wer meint, die Enthüllung der Wahrheit sei allein von sorgfältigen [logischen] Beweisen abhängig, hat die unendliche Gnade Gottes beschränkt“.⁹⁷ Nochmals präziser formuliert Ġazālī in der Iḥyāʾ: Das Herz ist von allen Teilen des Körpers getrennt durch eine Eigenschaft, durch die es die Ideen (maʿānī) begreift, die nicht durch die Einbildungskraft und die Sinne (zu begreifen sind) […] nennen wir diese Anlage Vernunft (ʿaql), unter der Bedingung, darunter nicht die Methoden der Dialektik zu begreifen.⁹⁸

Wogegen sich Ġazālī in seinen philosophiekritischen Werken wie z. B. dem der tahāfut al-falāsifa wendet, ist also nicht die intuitive oder sapientielle Funktion der intellectio, sondern vielmehr die Verabsolutierung der von Aristoteles und islamischen Peripatetikern wie Ibn Rušd gepriesenen ratiocinativen Funktion der ratio, die er im Munqiḏ als Vernunftform dezidiert von der intellectio unterscheidet und in Religionsangelegenheiten für nicht wirklich vertrauenswürdig hält. Tief beeindruckt von Ġazālīs philosophischem Skeptizismus beschreibt der pakistanische Reformer Muḥammad Iqbal (1877– 1938) Ġazālī daher als einen Denker, der dem oberflächlichen präkantianischen Rationalismus ein für allemal „das Rückgrat [brach]“⁹⁹, und verweist dabei, über die Iḥyāʾ und den Munqiḏ hinaus, auf dessen Studie „Die Nische der Lichter“ (Miškat al-anwār), in der Ġazāḷī die Kritik am Rationalismus mit einer rationalen Begründung von Religion verbindet und anhand des Lichtverses Q 24,35 eine Philosophie und Prophetie zusammenführende Epistemologie entwickelt: Im Rahmen einer typologischen, an AlFārābīs Unterscheidung der fünf Verstandesformen (ʿuqūl) orientierten Klassifizierung des Intellekts (ʿaql) in sinnenhaft wahrnehmend, rational-reflektierend und überrational-prophetisch arbeitet er eine um das Überrationale erweiterte Rationalität heraus, die das gängige Dilemma der Alternativen Rationalismus vs. Fideismus transzendiert und die Iqbal – und mit ihm nun auch ʿAbd ar-Raḥmān – für die Moderne fruchtbar zu machen sucht.

 Ġazālī: Al-munqiḏ min ad-dalāl, hg.v. Abd-Elsalām Elschazlī. Hamburg 1988, 60 bzw. 74.  Ġazālī: Ihyāʾ, Bd. IV, 299; zitiert nach: Zakzouk: Al-Ghazalis Philosophie, 76.  Muhammad Iqbal: Die Wiederbelebung des religiösen Denkens, übers. v. Axel Monte und Thomas Stemmer. Berlin 2003, 26 – 27. Vgl. Al-Ġazālī: Miškāt al-anwār, hg.v. Abū A. ʿAfīfī. Kairo: 1964, 47– 48.

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2.2.2 Moral und semiotische Vernunft Im Horizont dieses von Ġazālī systematisierten und Raḥmān adaptierten ašʿaritischen Vernunftverständnisses gewinnt der Begriff ʿaql eine sehr viel breitere Bedeutung als Ǧābirīs demonstrative Vernunft und umfasst, gleichsam als Äquivalent für das in unzähligen Prophetentraditionen begegnende koranische fikr, nicht nur die verstandesorientierten ratiocinativen, sondern zugleich auch die vernunftorientierten intellektiven Funktionen im Menschen. In ausdrücklicher Abgrenzung zur rationalistischen Tradition Ibn Rušds arbeitet ʿAbd ar-Raḥmān in seiner Studie zur „Frage der Moral“¹⁰⁰ die Morallehre (ʿilm al-aḫlāq) als das zentrale Moment des koranischen, von ihm primär moralphilosophisch gelesenen Diskurses und als Angelpunkt aller jurisprudentiellen Methodologie heraus. Denn das durch den instrumentellen Verstand ermöglichte Bewusstsein für die weise gestaltete Weltordnung (tadbīr) impliziere ʿAbd ar-Raḥmān zufolge noch nicht, wie die muʿtazilitisch-rationalistische Tradition glaubt, die Entwicklung einer natürlichen Moralität. Dafür bedürfe es nicht (nur) der bloßen Vernunft (al-ʿaqlānīya al-muǧarrada), sondern vielmehr der Seele (nafs) und des Gewissens (lubb), ebenso wie auch nicht die Vernunft, sondern die Moral (al-aḫlāqīya) „den Menschen zum Menschen macht (ma bihi yakūn al-insān insānan)“.¹⁰¹ Erst von diesen Voraussetzungen her wird verständlich, warum es über die „instrumentelle Vernunft“ (al-ʿaql al-ālāt) hinaus einer „semiotischen Vernunft“ (ʿaql al-āyāt) bzw. einer „Vernunft der Werte“ (ʿaql al-qiyam)¹⁰² bedarf, die […] sichtbare Phänomene mit Werten (aẓ-ẓawāhir biʾl-qiyam) und historische Ereignisse mit Weisheit (al-aḥdāṯ biʾl-ʿibar) verbindet und somit in einer speziellen Verbindung (irtibāṭan ḫāṣṣan) zum Herzen […] als Quelle aller menschlichen Erkenntnis in ihrer Essenz und Vollkommenheit (fī takāmulihā) steht […]. Die Horizonte der sinnlichen (ḥissiya) Erkenntnis werden [hier] verbunden mit denen der rationalen (ʿaqlīya), die Horizonte der rationalen Erkenntnis mit denen der spirituellen Erkenntnis (al-idrāk ar-rūḥī).¹⁰³

 Tāha ʿAbd ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq. Musāhama fī’l-naqd al-aḫlāqī li’l-ḥadāṯa al-ġarbīya. Casablanca 2013, 14.  ʿAbd ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq, 14; das „adamitische Wesen“ (al-māhīya al-ādamīya) des Menschen realisiert sich nur „auf dem Weg rechtgeleiteter Tugend“: „Derjenige, der dich an Moralität übertrifft, übertrifft dich in seiner Adamität (fī ādamīyatihi)“. Ders.: Rūḥ al-ḥadāṯa. Almadḫal ila taʾsīs al-ḥadāṯa al-islāmiya. Casablanca 2013, 227.  ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 199.  „Rationale“ (ʿaqlīya), „sinnliche“ (ḥissiya) und „mentale“ (rūḥiya) Erkenntnis sind somit verbunden, ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 201.

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Aus koranischen Versen über das „Hören“ (samʿ) schließt ʿAbd ar-Raḥmān, der Koran ziele primär gar nicht auf die instrumentelle Vernunft (ʿaql), sondern vielmehr auf die „Gegenwärtigkeit des Herzens“ (ḥuḍūr al-qalb) als eine (positive) spirituelle Tiefenschicht, die den (negativen) Impulsen der Seele (nafs) entgegensteht und somit erst die notwendige „Gegenwärtigkeit des Verstandes“ (ḥuḍūr al-ʿaql) ermöglicht.¹⁰⁴ Anders als die im Westen hochgepriesene postmoderne Vernunft, die in Entbehrung eines moralischen Narrativs letztlich herrschaftsorientierten Interessen unterworfen bleibe, weiß sich die komprehensive semiotische Vernunft des Islam eingebettet „in größere Narrative (marwīyāt kubra)“, die den instrumentellen Verstand mit „moralischen Gütern (qiyam aḫlāqīya) und geistigen Intentionen (maqāṣid maʿnawīya)“ in Beziehung setzen und so – darin manifestiert sich die „besonders rationale Ausrichtung (afḍalīyat at-tawaǧǧuh alʿaqlī)“ sowohl des Menschen als auch des Koran – eine „höhere Vernunft“ (mumārasa ʿaql aʿla) aktivieren. Mit deren Hilfe vermag der Mensch nicht nur „die Geheimnisse von Gottes Gunsterweisungen“ zu entdecken, sondern auch „seine materielle (al-māddī al-ḫāliṣ) mit der spirituellen (rūḥī) Existenz zu vereinen“.¹⁰⁵

2.2.3 Gesichter des Normativen Ganz ähnlich wie Ḥanafī oder Ǧābirī sieht auch ʿAbd ar-Raḥmān die Aufgabe der Interpretation des Koran darin, die fundamental moralische Botschaft, die dessen kontextueller arabischer Kode aus der Verarbeitung mythischer Narrative der Spätantike generiert, als „eine Erklärung für alle Dinge“ (Q 12,111 f) in die aktuelle Lebenswelt der Gläubigen zu über-setzen. Seine spezifische religiöse Autorität bezieht der Koran dabei vor allem aus seiner universalen Ausrichtung „auf das exemplarisch Historische (imtiyāzihi bi-wadʿihi at-tārīḫī)“¹⁰⁶, in dessen Horizont er das historisch Partikulare früherer Religionen zu transzendieren und deren mythenbehaftete Traditionen auf ihren eigentlichen, göttlichen „Kern“ zurückzuführen vermag.¹⁰⁷ Es ist nun eben diese universale Perspektive auf den Koran, die ʿAbd ar-Raḥmān zu einer scharfen Kritik an all jenen modernistischen Bestre-

 ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 200 – 201 mit Verweis auf u. a. Q 39,18; Q 7,204; Q 46,29; Q 17,47.  ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 200 – 201. Diese rationale Orientierung, die „so von keiner anderen Offenbarungsschrift erreicht wurde“, schließt „die historische Analogie (al-mumāṯala attārīḫīya) mit anderen Hlg. Schriften“ (206) aus.  ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 206.  Vgl. zu dieser transhistorischen Dynamik der koranischen Narrationen insb. Mustafa Öztürk. „Demitolojizasyon ve Kur’an“. In Kıssaların Dili. Ankara 2013, 79 – 102, 81, 95.

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bungen veranlasst, die im Rahmen eines rein intentionalistischen (maqāsidī) Zugangs den koranischen Diskurs mit den Prämissen der logozentrischen Vernunft zu harmonisieren und auf das spirituell-ethische Moment zu reduzieren suchen. ʿAbd ar-Raḥmāns Kritik zielt vor allem auf jene, die – „in Imitierung eines rein westlichen Zugangs (taqlīd at-taṭbīq al-ġarbī)“ und in „Leugnung des koranischen Privilegs (afḍalīya al-qurʾān)“¹⁰⁸ das Hindernis des Normativen (al-ḥukmīya) dadurch zu beseitigen suchen, dass sie den Koran auf die „inneren Tugenden begrenzen“.¹⁰⁹ Verbindet sich, fragt ʿAbd ar-Raḥmān, die koranische Offenbarung zur Einprägung ethischer Prinzipien nicht doch, anstatt im Raum des Abstrakten, Universalen und Allgemeinen zu verbleiben, „explizit und ausdrücklich mit den situativen Umständen der Zeit und den Kontexten der Verkündigung“?¹¹⁰ Anders als von den modernistischen Reformern behauptet, wird durch diese „zutiefst historische Verbindung mit den kontextuellen Umständen […] der religiöse Effekt (at-tafāʿul ad-dīnī)“ der koranischen Verse nicht etwa geschwächt, sondern vielmehr gestärkt: denn mit der Veränderung der kontextuellen Umstände verändert sich zugleich auch in dynamischer Weise „die Realisierung dieser Werte (qiyam)“ selbst. Die koranischen Verse verdanken ihre Existenz somit letztlich, wie ʿAbd ar-Raḥmān betont, „dem Schutz dieser Werte in verschiedenen Situationen und Kontexten“.¹¹¹ Anstatt einem destruktiven, westliche Koranforschungen imitierenden Programm zu dienen, habe alle interpretative Bemühung in der rechtsrelevanten Auslegung des Koran im Dienst der Erhaltung dessen zu stehen, was die „Originalität des Menschseins (al-aṣāla alinsānīya)“¹¹² wiederherstellt. Realisiert werden könne dieses Ansinnen nur unter der Bedingung einer „Ausweitung der Vernunft (tawsīʿ al-ʿaql)“¹¹³ über das Spektrum der aristotelischen ratio hinaus, eine Ausweitung, die ʿAbd ar-Raḥmān zufolge ihren klassischen Ausdruck bereits, und damit tritt eine weitere von ihm

 ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 183. Vgl. in diesem Zusammenhang Raḥmāns scharfe Kritik an MohammedArkouns Konzept der Judentum, Christentum und Islam einschließenden „Buchgemeinschaft“ (muǧtamaʿ al-kitāb).  „ḥaṣr al-qurʾān fīʿl-aḫlāqiyāt al-bāṭinīya al-ḫāṣṣa“, ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 187. Ihnen zufolge seien die ohnehin nicht mehr als 80 normativen Verse des Koran „grundlegend relativ“ (iḍfāʾ an-nisbīya) bzw. allein auf den „jenseitigen Lohn bezogen“.  ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 202.  „maḥfūẓa bi ḥifẓ qiyamihā fī muḫtalif al-aḥwāl waʿl-aṭwār“. ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 203.  Beziehungsweise die „Manifestation aller Formen der Würdigung des Menschen (bayān wuǧūh takrīm al-insān)“. ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 198.  Diese geschieht insbesondere durch das „Prinzip der Statthalterschaft“ (al-istiḫlāf), einem Prinzip, in dessen Horizont das Rechtsurteil (al-ḥukm) nichts anderem dient als allein der „Einprägung der Moral (tarsīḫ al-aḫlāq)“. ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 206.

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bevorzugte Referenz in den Blick, im Werk des andalusischen Rechtsgelehrten Abū Isḥāq Aš-Šāṭibī (‐1388) gefunden hat. Das Innovative an diesem Rechtsgelehrten entdeckt ʿAbd ar-Raḥmān darin, dass Šāṭibī in Aufnahme der bereits von Ġazālī geäußerten Kritik an den Formalismen des muslimischen fiqh die durch diesen Formalismus ausgeblendete ethische Dimension in den Blick zu rücken und den über ein nahezu halbes Jahrtausend angewachsenen Korpus an islamischen Rechtstraditionen durch das Konzept der metarechtlichen Intentionen (maqāṣid) auf deren wesentlichen Zweck (qaṣd) hin zu systematisieren sucht.¹¹⁴ Diese als ratio legis bzw. höchstes Prinzip der muslimischen Rechtstheorie etablierten „Universalien des Rechts“ (kulliyāt aš-šarīʿa) kongruieren ihm zufolge zugleich mit der originalen Intention des koranischen Diskurses (qaṣd al-ḫiṭāb), der sich in der mekkanischen Periode primär auf die Darlegung von Universalien beschränkt.¹¹⁵ Den allgemein aufgefassten mekkanischen Koranversen (uṣul) gegenüber bieten die medinensischen, stärker normativ aufgeladenen Verse lediglich „Spezifizierungen (furūʿ)“¹¹⁶, Spezifizierungen allerdings, die weder für Šāṭibī noch für den sich an ihm orientierenden ʿAbd ar-Raḥmān eine Begrenzung der Normativität des Koran auf dessen mekkanische Suren rechtfertigen. Normativ ist die koranische Verkündigung als ganze, deren mekkanische und medinensische Verse gleichwohl „zwei Gesichter“ (waǧhān) aufweisen: ein rechtliches (waǧh qanūnī) und ein moralisches Gesicht (waǧh aḫlāqī), wobei „das rechtliche dem moralischen folgt“.¹¹⁷ In Anknüpfung an Ġazālīs und Šāṭibīs Verständnis der Abrogation (nasḫ) koranischer Verse versteht ʿAbd ar-Raḥmān die Abrogation (nasḫ) ausdrücklich nicht im Sinne einer Aufhebung ihrer Geltungskraft, sondern vielmehr als eine Form der Akkomodation an spezifische Kontexte, ohne dass diese den ewigen Wert des abrogierten Verses (mansūḫ) herabsetzen oder mindern würde. In der Abrogation eines Befehles oder Rechtsurteils ändert sich nicht etwa das Wort Gottes bzw. dessen Essenz, sondern vielmehr dessen akzidentielles

 Vgl. dazu insbesondere Abū Isḥāq aš-Šāṭibīs rechtstheoretisches Werk Al-muwāfaqāt („Übereinstimmungen“), hg.v. Allāh Darrāz. Beirut o. J., Bd. I, 139. Siehe: Mohammed Nekroumi. „Koraninterpretation im Kontext intentionalistischer Rechtstheorien“. In Modern controversies in Qur’anic studies, hg.v. Ders. und Jan Meise. Hamburg-Schenefeld 2009, 153 – 196, 181.  Die koranische Grundlegung (taʾṣīl) legt die „Fundamente“ (uṣūl), aus denen die „Erklärung“ (tafṣīl) dieser Fundamente durch die Ausdehnung ihres Rechtscharakters auf partikulare Fälle erwächst. Vgl. Šāṭibī: Al-muwāfaqāt, Bd. IV, 20; II, 4– 7. Siehe: Wael Hallaq. „The Primacy of the Qurān in Shāṭibī’s Legal Theory“. In Islamic Studies presented to Charles J. Adams, hg.v. Wael B. Hallaq und Donald P. Little. Leiden/Boston 1991, 79 – 80.  Mohammed Nekroumi:Tugend und Gemeinwohl. Grundzüge hermeneutischen Denkens in der postklassischen koranischen Ethik am Beispiel der maqāṣid-Theorie von aš-Šāṭibī. Wiesbaden 2018, 41. Hervorh. RB.  ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 203.

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rechtliches Geltungsspektrum. Der Versuchung einer einseitig von der medinensischen Spezifizierung abstrahierenden bzw. ethisierenden Interpretation stellt ʿAbd ar-Raḥmān die epistemologische Grundierung von Šāṭibīs voluntaristischer Systematik entgegen. Im Horizont dieser Systematik ist das „rationale“ Moment der ratio legis ausdrücklich nicht dem Akt des Verstehens selbst intrinsisch, sondern Ergebnis einer direkten göttlichen „Instruktion“ (tawqīf) an den Ahnvater der Menschheit, den Gott selbst über alle Namen und somit über die Prinzipien der guten (gesellschaftlichen) Lebensordnung informiert. Mit Blick auf das Telos des Rechts als dem ewigen Heil im Jenseits geht die ratio legis der Islamischen Jurisprudenz somit bei Šāṭibī mit der Allumfassendheit des göttlichen Gesetzes konform.¹¹⁸ Die instrumentale Funktion der ratio als Weg zur Gottesintention liegt darin, die verpflichtende deontologische und die zielsetzende teleologische Dimension des Islamischen Rechts (šarīʿa) miteinander zu verbinden. Insofern die göttliche Ordnung (tadbīr), im Gegensatz zur aristotelischen Normvorstellung, „stets den Aspekt der Handlungen und ihre Auswirkungen auf das Schicksal im Jenseits vor Augen“¹¹⁹ hat, gelte es, Šāṭibīs Begriff des Gemeinwohls ausdrücklich von der muʿtazilitischen Vorstellung einer apriorischen Rationalität abzugrenzen, die „Gut“ und „Böse“ als abstrakte, eigenständige Kategorien und den Verstand als Grundlage der Ethik versteht.¹²⁰ Gegenüber der antik-philosophischen Auffassung vom Verstand als dem herausragenden, den Menschen von den übrigen Geschöpfen unterscheidenden Gattungsmerkmal sieht ʿAbd ar-Raḥmān mit Šāṭibī in der Moral die grundlegende Eigenschaft, „aus der alle anderen menschlichen Eigenschaften hervorgehen“.¹²¹ Zwar erachtet auch ʿAbd ar-Raḥmān, nicht anders als die in Abschnitt 1 erwähnten Vertreter des rationalistischen Paradigmas, die Barmherzigkeit (raḥma) als den „vollkommensten aller Werte (akmalihā ʿala al-iṭlāq)“, von dem her nicht nur Werte wie Gerechtigkeit (ʿadl), Gleichheit (al-musāwā) und Freiheit (ḥurriya), sondern auch die theoretische Vernunft ihr Sein und ihre Existenz beziehen.¹²²

 Anver Emon: Islamic Natural Law Theories. Oxford 2010, 174. Emon spricht von einer „totality of the law“ mit Verweis auf Abū Isḥāq aš-Šāṭibī: Al-iʿtiṣām, hg.v. Salīm b. Īd al-Halālī. Khobar 1997, Bd. II, 627– 628, 632.  Nekroumi: Tugend und Gemeinwohl, 27. Hervorh. RB.  Šāṭibī bleibt, wie Nekroumi (Tugend und Gemeinwohl, 96) in Anknüpfung an Raḥmān ausführt, ganz „der induktiven ašʿaritischen Methode treu, die dem Schriftbeweis (an-naql) Vorrang vor der rationalen Argumentation (al-ʿaql) gibt“: mit Verweis auf Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, hg.v. Abdallāh Darrāz u. a. Beirut o.J., Bd. II, 37.  ʿAbd ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq, 14– 15. Zitiert nach Nekroumi: Tugend und Gemeinwohl, 75.  Diesen Status der raḥma sucht ʿAbd ar-Raḥmān durch relevante Passagen des Koran zu belegen. Vgl. Q al-israʾ 110; al-aʿrāf 156 („meine Barmherzigkeit umfasst alles“); ġāfir 7; anʿām 147 („euer Herr ist von weiter Barmherzigkeit“).

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Was ʿAbd ar-Raḥmāns Zugang zum moralischen Gut der Barmherzigkeit jedoch im Vergleich zu den von ihm gescholtenen „Modernisten“ auszeichnet, ist die reflexive Frage nach dessen Konkretisierung in der Praxis des alltäglichen Lebens. Denn in Entsprechung zu den selbst von den Rationalisten hochgehaltenden aristotelischen Prinzipien der mimesis und poiesis erfordere die Barmherzigkeit in ihrer Funktion „als höchstes moralisches Gut bzw. höchste Existenz (al-kawnīya al-ʿulyā)“¹²³ eines „lebendigen Beispiels (numūḏaǧ ḥayy)“ bzw. „Zeugen (šāhid)“, der, so ʿAbd ar-Raḥmān, „das Gute in der vollkommensten Weise repräsentiert“. Damit rückt die bereits von Šāṭibī betonte kriteriale Bedeutung des prophetischen Beispiels in den Blick, ohne das sich die vom göttlichen Gesetz vorgeschriebene salvifikatorische Moral gar nicht realisieren lässt: „Niemand“, so Šāṭibī, könne „eine Einschätzung der Güter (maṣāliḥ) erlangen, ohne die Mittlerrolle des Propheten zu respektieren“.¹²⁴ Als Vermittler und erster Kommentator des Koran repräsentiert Muḥammad für Šāṭibī ebenso wie für ʿAbd ar-Raḥmān die unüberbietbare moralische Autorität bzw. das „universale Exemplum (numūḏaǧan liʿnnās ǧamīʿan)“ gottwohlgefälliger Moral, das dem „vollkommensten aller Werte“ auch „seinen vollkommensten Ausdruck“¹²⁵ verleiht.

3 Imagination und poiesis – Anmerkungen zur ratio der responsiven Signifikation 3.1 Einblicke – Diesseits von Mythos, Logos und Ethos Im direkten Vergleich zwischen den hier nur kursorisch vorgestellten, an Ǧābirī und Raḥmān nochmals präzisierten Vernunftkonzeptionen zeigen sich in der Bestimmung einschlägiger Signifikanten wie Intention, Tugend oder Rationalität sowohl Kohärenzen als auch Differenzen, die es abschließend nochmals in einer auf die Potentiale der zeitgenössischen muslimischen Rationalitätsdebatte hin zielenden Reflexion zu würdigen gilt. Grundlegend treffen sich die vorgestellten Konzeptionen bei aller Unterschiedlichkeit im hermeneutischen und methodi-

 ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 254.  „fa lā yaẓannu ẓānn annahu ḥaṣala ʿalā ḫayr bi-dūn wisāṭa nabawīya“. Šāṭibī: Al-muwāfaqāt II, 195. Vgl. Emon: Islamic Natural Law Theories, 178: „No one can reach an estimation of the good without respecting the mediating role of the Prophet“.  ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 256. „In dem Maße, in dem der Mensch am barmherzigen Propheten [Muḥammad, RB] hängt, erhält er einen Anteil an seiner noblen Barmherzigkeit (min raḥmatihi aš-šarīfa)“.

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schen Ansatz in der Intention, die Religion des Islam jenseits traditioneller legalistisch-kasuistischer Lesarten auf ihre wesentliche Intention (maqṣad) zurückzuführen und so die Universalität und Rationalität ihrer Botschaft aufzuweisen. Dabei zeigen sich alle Konzeptionen darum bestrebt, den Signifikanten Islam im Horizont der Ethik zu lesen und ihn so möglichst von allen Konnotationen des einschlägig Politischen freizuhalten. Zugleich treffen sie sich, ganz unabhängig davon, ob sie den Begriff der Vernunft aus einer eher aristotelischrationalistischen oder neuplatonisch-semiotischen Perspektive zu konzipieren suchen, darin, die Rationalität des Islam in z.T. allerschärfster Form von allen mythenbehafteten, „irrationale“ Inhalte beinhaltenden religiösen Traditionen abzugrenzen. Diese Abgrenzung des islamischen Logos zu allem, was nichtislamischen Traditionen noch an mythischen Inhalten und Erzählungen anhaftet, positioniert die Religion des Islam am Kulminationspunkt eines geschichtsphilosophischen Entwicklungsprozesses, der evolutionär vom Mythos über die Magie zum Monotheismus fortschreitet und schließlich in die finale Reifeform des zugleich ursprunghaft rein Religiösen bzw., wie Filali-Ansary formuliert, in den Islam als „Religion der Reife der menschlichen Gattung“¹²⁶ mündet. Der diesem Paradigma zugrundeliegende Gedanke einer aufklärerisch-linearen, vom Mythos zum Logos und schließlich zum Ethos fortschreitenden Entwicklung geht mit Positionierungen in der zeitgenössischen Philosophie konform, die den Mythos und dessen Analyse in eine die kantische Tradition perpetuierende Evolutionstheorie einbetten und die gattungsgeschichtliche Entwicklung als einen fortschreitenden Prozess der Rationalisierung¹²⁷ verstehen, in dessen Horizont die sich entfaltende Vernunft schließlich universal gültige Rationalitätsstandards generiert. Vor dem Hintergrund dieser spezifisch aufklärerischen Tradition sind die vorgestellten Zugänge zum islamischen Symbolsystem ein Zeugnis dafür, in welchem Maße die erst neuzeitliche, etwa um 1800 einsetzende Verschiebung in der Semantik des Religionsbegriffs¹²⁸ hin zu einem spirituell-moralischen, von

 Filali-Ansary: Jenseits des Heiligen, 74. Ders.: ‚Réformer l’islam? Une introduction aux débats contemporains’. Paris 2003, 27.  Vgl. zu dieser geschichtsphilosophischen Konstruktion einer den Mythos überwindenden „Weltbildrationalisierung“ insbesondere noch Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M. 1981, Bd. I, 76, 275. Habermas zufolge führe nur der abendländische Entwicklungspfad zu einem „vollständig dezentrierten Weltverständnis“. Christoph Jamme: ‚Gott an hat ein Gewand‘. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt/M. 1991, 241 und 245.  Ernst Feil. Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs (1986 – 2007), Bde. I–IV. Göttingen 1986, Bd. I, 30. Vgl. dazu auch Andreas Nehring. „Die Erfindung der religiösen Erfahrung“. In Kontexte der Schrift, Bd. 2. Kultur, Politik, Religion, Sprache, hg.v. Christian Strecker., Stuttgart 2005, 309.

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einschlägig politischen Konnotationen unabhängigen Bereich im 20. Jahrhundert zu einem Gemeingut auch muslimischer Reformdenker geworden ist. Im Horizont dieser semantischen Verschiebung, die es überhaupt erst erlaubt, das politische Moment in der Biographie des Propheten zurück- und demgegenüber die spirituelle Dimension des prophetischen Vorbildes in den Vordergrund treten zu lassen¹²⁹, richtet sich der Fokus zeitgenössischer islamischer Gelehrter, im Gegenüber zu früheren, primär auf die Natur und Ordnung der Gesellschaft ausgerichteten Debatten, zufolge verstärkt auf die moralische Person als solche: diese freilich nicht als isoliertes Etwas, sondern, wie Meryl Davies formuliert, als „a microcosm of the Islamic vision of the moral universe“.¹³⁰ Im durch den Kontakt mit der Moderne immens ausdifferenzierten Spektrum muslimischer Positionierungen zur Rationalität gehen manche Lesarten dabei weit über das hinaus, was die sich durch ein hohes Maß an „Wandelbarkeit“ (taġayyur) auszeichnende klassische Jurisprudenz noch als „islamisch“ hätte subsumieren können: In einer radikalen Wendung hin zum autonomen Individuum wird der Signifikant Islam nicht länger als soziales Faktum im positiven Sinne verstanden, sondern hermeneutisch ins Subjekt, d. h. den individuellen Muslim bzw. dessen (kulturelle) Persönlichkeit (šaḫṣ[ān]īya) integriert. Entsprechendes gilt für den Signifikanten Rationalität: er bedeutet das, was die einzelnen Muslime mit dem (die Wandlungsfähigkeit des Islam begründenden) Akt der Namensgebung in Korrespondenz zu einem dem religionsgeschichtlichen Entwicklungsprozess zugeschriebenen Rationalisierungsfortschritt als das „Islamisch Rationale“ bzw. als das „Vernünftige“ bezeichnen. Die anthropologische Begründung für die Möglichkeit des autonomen Subjekts, diese eigenständige Sinn- und Bedeutungszuschreibung („Namensgebung“) vornehmen zu können, liefert die sich in einem Großteil der muslimischen Ansätze widerspiegelnde kantische Konzeption der menschlichen Existenz als Zusammenspiel zweier unterschiedlicher Vermögen: Kant spricht dem Menschen bekanntlich neben dem als „Sinnesart“ bezeichneten empirischen „Temperament“ eine „Denkungsart“¹³¹ bzw. einen intelligiblen, den Menschen in der Tiefe seines Daseins bestimmenden „Charakter“ zu, der –

 Halid Akpinar. „Muhammad als Staatsmann“. In Muhammad. Ein Prophet – viele Facetten, hg.v. Yasar Sarıkaya u. a. Berlin 2014, 111– 122. Für Akpinar ist das Politische „im Islam“ oder „in der Prophetie Muḥammads“ dem damaligen historischen Kontext geschuldet und somit letztlich ein „nicht genuin islamischer Aspekt“, ebd. 112.  Zitiert bei Merryl Wyn Davies: Knowing one another. Shaping an Islamic Anthropology. London 1988, 169 mit Bezug auf Talal Asad. „The Idea of an Anthropology of Islam“. In The Anthropology of Islam. Reader, hg.v. Jens Kreinath. New York 2011, 93 – 110.  Kant: KrV. Hamburg 1993, 536 – 537 = B 579: Elementarlehre, II. Teil, II. Abt., II. Buch. II. Hauptstück. Vgl. dazu auch 549 = B 597: „Das Ideal der reinen Vernunft“.

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ähnliches formuliert bereits Ġazālī über die „Naturanlage“ (fiṭra) des Menschen – „keinen Zeitbedingungen“¹³² unterliegt und es dem Menschen erlaubt, die mit dem Kausalgesetz konform gehende „sittliche Maxime“¹³³ zugleich zum subjektiven Prinzip des eigenen Willens und damit zum Schauplatz der eigenen Freiheit zu machen. Diese allen Zeitbedingungen enthobene moralische Grundeinsicht bzw. praktische Vernunft mag in verschiedenen kulturellen Kontexten zwar unterschiedliche Konsequenzen haben, doch sagt sie, in kantischer Diktion, „als die Stimme des jenseits zeitlicher Bedingungen stehenden Gewissens […] in ihrem unantastbaren Kern immer dasselbe“: die Vernunft gebietet somit quer zu aller Zeit, dass die objektive „sittliche Vorschrift […] zugleich meine Maxime“¹³⁴ ist. Der hier zur Sprache kommenden (kantischen) Vorstellung von der Zeitlosigkeit der Vernunft liegt die Annahme einer ebenso zeitlosen Qualität der Sprache zugrunde, der Kant in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ als einem bloßen „beliebig bestimmbaren Bezeichnungsvermögen“ nur eine rein instrumentelle Bedeutung bzw. eine „reine Bezeichnungsfunktion“¹³⁵ zumisst. Neben den mit den Sinnen verbundenen biologischen, z.T. triebhaften Anlagen verfügt der Mensch in einer höheren Schicht seiner Psyche¹³⁶ über eine Freiheit, die er, will er seiner schöpfungsgemäßen Verantwortung nachkommen, auch in Anspruch nehmen soll: „Du kannst, denn du sollst“, oder, wie Kant in nochmals anderer Diktion formuliert: „Wir sollen bessere Menschen werden […] folglich müssen wir es auch können“.¹³⁷ Als besonders ausgeprägt erweist sich das kantische Vertrauen auf die „reine“ Vernunft und die Prägnanz der Sprache bei Ǧābirī, der in seinen Ausführungen zum Adam-Mythos zwar wiederholt nicht nur auf die Rationalität, sondern ins Kant: KrV. Hamburg 1993, 528 = B 567: „Dieses handelnde Subject würde nun nach seinem intelligiblen Charakter unter keinen Zeitbedingungen stehen, denn die Zeit ist nur die Bedingung der Erscheinungen, nicht aber der Dinge an sich selbst“.  „[…] denn die Vernunft gebietet, dass sie es sein soll“. Kant: KrV. Hamburg 1993, 745 = B 856: Methodenlehre. II. Hauptst. III. Abschn. Zum subjektiven Prinzipium des Willens vgl. Kant: KrV. Hamburg 1993, 535 = B 577.  Kant: KrV. Hamburg 1993, 745 = B 856.  „Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken […] und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, diesem größten Mittel, sich selbst und andere zu verstehen“. Immanuel Kant. Werkausgabe Bd. 12: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik, hg.v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1964, Bd. XII, 500 (BA 110).  Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, hg.v. Karl Vorländer. Hamburg 1993, 34. Erster Teil I, Erstes Buch, 1. Hauptstück, § 6 Aufgabe II.: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselseitig aufeinander zurück“.  Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, hg.v. Karl Vorländer. Hamburg 1990, 49. Erstes Stück […] Allgemeine Anmerkung: Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten.

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besondere auch auf die Responsivität der koranischen Argumentation verweist, im Horizont seines primär strukturalistischen Zugangs zum koranischen Diskurs jedoch einem sprachontologischen Denken verhaftet bleibt, das der frei von aller Erfahrung gedachten menschlichen Vernunft ein weitaus größeres Potential an Erkenntnis zuspricht als dies einem stärker sprachphilosophischem Ansatz wie dem von ʿAbd ar-Raḥmān je möglich wäre. Jenseits von Mythos und Metapher als Formen „uneigentlicher“ Rede besteht für Ǧābirī eine Klasse von verba propria bzw., aristotelisch gesprochen, „herrschender Namen“ (ὄνομα κύριον), die, wenn auch ihre semantische Funktion letztlich auf Übereinkunft basiert, doch eine mit der demonstrativen Vernunft zu erschließende, als adaequatio intellectus et rei zu verstehende universale Wahrheit (ἀλήθεια) auszusagen vermögen.¹³⁸ Die damit vorausgesetzte Korrelation von Namen und Sachverhalten erlaubt zugleich durch die sprachliche Absolutsetzung von Begriffen, propositionale bzw. absolut „gewisse“ (qaṭʿī) Aussagen zu formulieren.¹³⁹ Anders als Ǧābirī, der die existentialontologische Verbindung von Sprache und Geschichtlichkeit nahezu vollständig ausblendet, nimmt sie ʿAbd ar-Raḥmāns explizit sprachphilosophisch-semiotischer Ansatz ausdrücklich in den Blick, doch zeigt sich auch seine Vernunftkonzeption nicht ganz frei von der insbesondere Ǧābirīs Ansatz bestimmenden Vorstellung einer „Reinheit“ der Vernunft. ʿAbd ar-Raḥmāns Verweis auf die Notwendigkeit einer „höheren Vernunft“ (ʿaql aʿla), die der instrumentellen Vernunft an Erkenntniskraft überlegen ist, bleibt wesentlich dem kantischen Schema von einer den zeitlichen Bedingungen verhafteten „Sinnes“- und einer dem zeitlichen enthobenen „Denkungsart“ verhaftet, wenn er in direkter Anknüpfung an Ġazālī von einer nicht durch die Einbildungskraft und die Sinne negativ beeinträchtigten Schöpfungsdisposition (fiṭra) bzw. von einem vom sinnenhaften Körper getrennten Herzen (qalb) als Erkenntnisorgan spricht, über das sich die „Originalität des Menschseins (al-aṣāla al-insānīya)“ bzw. das „adamitische Wesen (al-māhīya al-ādamīya)“¹⁴⁰ des Menschen wiederherstellen ließe. Rationalität ist auch bei ʿAbd ar-Raḥmān, zumindest in ihrer höchsten noetischen Form, nicht eine leiblich situierte, in die physiologische, emotionale, begehrende und wil-

 Aristoteles: Poetik 4457 b 1– 3: ἄπαν δὲ ὄνομά ἐστιν ἤ κύριον ἤ γλῶττα ἤ μεταφορὰ ἤ κόσμος ἤ πεποιημένον ἤ ἐπεκτεταμένον ἤ ὑφηρημένον ἤἐξηλλαγμένον; zitiert aus: Ders.: Poetik, griechischdeutsch, übers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1994. Vgl. auch Rhetorik Γ 1404 b 32.  Vgl. im Gegensatz dazu Friedrich Nietzsche, der den „Trieb zur Metapherbildung“ einen „Fundamentaltrieb des Menschen“ nennt, „den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde“: Ders.: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Werke. Kritische Gesamtausgabe, III. Abt. 2. Bd. Berlin 1973, 381.  Beziehungsweise die „Manifestation aller Formen der Würdigung des Menschen (bayān wuǧūh takrīm al-insān)“. ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa, 198. Nachfolgende Zitation, ebd. 227.

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lentliche Leiblichkeit des Lebens eingebettete Vollzugsform menschlicher Existenz¹⁴¹, sondern manifestiert sich in der Anerkenntnis einer göttlich eingesetzten (gesellschaftlichen) Lebensordnung, über deren Prinzipien bereits Adam von Gott selbst – „er lehrte ihn alle Namen“ (al-asmāʾ kullaha, Q 2,31) – instruiert (tawqīf) wurde. Die Schärfe von ʿAbd ar-Raḥmāns Kritik am Mythos sowie seine Herausstellung der Exemplarität des Historischen und Moralischen in der koranischen Verkündigung offenbart eine auf einer analogischen Logik basierende Anthropologie, die von der Voraussetzung getragen ist, es gebe eine alles durchwaltende bzw. der Welt immanente Rationalität, in deren Horizont sich letztlich alle Strukturen auf immer grundlegendere Universalien reduzieren ließen.¹⁴² Dieser im Grunde semiologische Ansatz gründet, philosophisch gesprochen, auf einem ausgesprochen alexandrinischen, Signifikant und Signifikat in ein Korrespondenzverhältnis setzenden Zeichenbegriff und vermag somit in allem bildhaft Mythischen nur Einkleidungen des transhistorisch bzw. exemplarisch Vernünftigen zu sehen.¹⁴³ Die spezifisch kantische Trennung von Ästhetik und Logik bzw. der „Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit überhaupt, d.i. Ästhetik, von der Wissenschaft der Verstandesregeln überhaupt, d.i. der Logik“¹⁴⁴ bleibt bei ʿAbd ar-Raḥmān im Wesentlichen unangetastet, so dass auch sein im Vergleich zu Ǧābirī ausgeprägt sprachphilosophisch-semiotischer Zugang zum Koran sowie zur Rationalität des Signifikanten Islam sowohl die unauflösliche „Wechselseitigkeit von Ästhetik und Logik“¹⁴⁵ als auch die immer schon „metaphorische Grundqualität der Sprache“¹⁴⁶ nur beschränkt in den Blick zu nehmen vermag. In der zeitgenössischen Philosophie ist die von Kant nur einmal in seiner Kritik gestreifte, aber nicht weiter reflektierte überkreuzte Referenz von Logik und

 Vgl. dazu einschlägig die Ausführungen zur Leiblichkeit der Vernunft von Ingolf U. Dalferth: Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie. Tübingen 2003, 61– 62 und 191– 192.  Vgl. zum cum grano salis platonischen Hintergrund dieser Vorstellung Hans Blumenberg. Paradigmen zu einer Metaphorologie. Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 6. Frankfurt/M. 1960, 8 – 9.  Vgl. zum alexandrinisch-grammatischen Zeichenbegriff Mark Janse, „Alexandrian Grammatical Theory in Practice“ In Grammatical theory and philosophy of language in antiquity, hg.v. Pierre Swiggers and Alfons Wouters. Leuven 2002, 251– 252.  Kant: KrV. Hamburg 1993, 95 = A 52. Beides vergleicht Kant mit „zwei Grundquellen“ bzw. „Stämmen“. Kant: KrV. Hamburg: Meiner, 1993, 58 = A 15 und 95 = A 51– 52: I. Transzendentale Elementarlehre, II. Teil, Einleitung I.  Oswald Bayer. „A priori willkürlich, a posteriori notwendig. Die sprachphilosophische Verschränkung von Ästhetik und Logik in Hamanns Metakritik Kants“. NZSThR 42,2 (2000): 120.  Beda Allemann. „Die Metapher und das metaphorische Wesen der Sprache“. Weltgespräch 4. Welterfahrung in der Sprache, 1. Folge (1968): 42. Vgl. dazu auch Blumenberg: Paradigmen, 8 ff.

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Ästhetik sowie Historizität und Fiktionalität¹⁴⁷ insbesondere von Paul Ricœur in den Blick genommen worden, dessen hermeneutische Phänomenologie ganz wesentlich von der immer wieder neu durchdeklinierten Integration des von der „Wirklichkeit“ provozierten fiktional Poetischen in das Verstehen von Geschichte geprägt ist. Ricœur zufolge erzwingt die Annäherung an das geschichtlich konkrete Phänomen eine Transzendierung allein grenzbegrifflicher Erkenntnis: konkret in der Form symbolischer Darstellung bzw. repräsentativer Imagination als einem Denken, das, wie Ricœur schreibt, „sein Objekt in einer sinnlichen Weise bezeichnet“.¹⁴⁸ Statt in einen begrifflich-abstrakten Intellektualismus oder in eine rein poetisch-ästhetische Ausdrucksgestalt auszuweichen, lässt Ricœur die Deutung konkreten Lebens in ein nie endendes hermeneutisches Unternehmen münden: konkret in die Aufgabe, beides, Intellectio und Imaginatio in ihrem Deutungspotential immer wieder neu zu verbinden. Erst im Ringen mit der die eigene Imaginations- und Vorstellungswelt konstituierenden textuellen Tradition vollzieht sich für Ricœur die Selbsterkenntnis des Subjekts, das sich, so Ricœur, „nicht unmittelbar selbst [erkennt]“, sondern nur durch die „in seinem Gedächtnis und seinem Imaginären hinterlegt[en]“¹⁴⁹ Zeichen. Insofern sind die das Zeugnis konstituierenden und sich zu eigenständigen Gattungen entwickelnden Formen religiöser Rede, in der Gott jeweils an- und ausgesprochen wird (Erzählung, Gesetzgebung, Prophetie, Weisheit usw.) keineswegs, wie Martina Kumlehn ebenfalls unter Bezug auf Ricœur betont, „rhetorische Fassade […], die man niederreißen könnte, um einen gedanklichen Inhalt zutage zu fördern, sondern sie konstituieren den Inhalt wesentlich mit“.¹⁵⁰ Diese sich auch in ʿAbd ar-Raḥmāns Zugang zur koranischen Normativität widerspiegelnde Einsicht, die eine einfache Trennung zwischen mekkanischem und medinensischem Diskurs verunmöglicht, mündet in ʿAbd ar-Raḥmāns Kontextualität und Universalität ver-

 Vgl. die in der KrV, Hamburg 1993, 58 = A 15 geäußerte Vermutung, Sinnlichkeit und Verstand, die „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis“, könnten „vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen“. Im Gegenüber dazu stellt Kants Königsberger Gegenspieler Johann Georg Hamann die von vornherein wirksame „Vereinigung“ von Sinnlichkeit und Verstand heraus: Ders.: Golgotha und Scheblimini. Sämtliche Werke, hg.v. Josef Nadler. Wien 1949 – 1957, Bd. III, 18 – 19 und 234– 235. Einschlägig dazu Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache. Hamanns Metakritik Kants. Stuttgart 2002, 305 – 306.  Paul Ricœur : Philosophie de la volonté I. Le volontaire et l’involontaire. Paris 1963, 249; übersetzt in: Christian Ferber. „Die Transzendenz in der Konkretion. Zu den Spezifika theologischer Bestimmungsleistungen“. In Paul Ricœur und die evangelische Theologie, 132.  Paul Ricœur. „Eine intellektuelle Autobiographie“ (1995). In Ders.: Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970 – 1999), übers. v. Peter Welsen. Hamburg 2005, 23.  Martina Kumlehn. „Extravaganz und Grenzausdruck. Ricœurs Zugänge zur Bibel im Spiegel seiner Hermeneutik“. In Paul Ricœur und die evangelische Theologie, 1– 14, 10.

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bindender Zusammenschau des koranischen Zeugnisses allerdings nicht in eine weiterführende Reflexion der unhintergehbaren Imprägnierung von Rationalität durch eine (immer individuell gedeutete) (Sprach‐)Tradition. Im Rahmen einer solchen Reflexion wäre das Augenmerk stärker noch als es bei ʿAbd ar-Raḥmān geschieht auf die Prozesse der Signifikation selbst bzw. auf die in diesen Prozessen generierten Differenzen zu legen, über die zunächst „leere Signifikanten“¹⁵¹ wie Moral, Tugend oder eben auch Rationalität ihre (immer nur temporäre bzw. konstellative) Bedeutung gewinnen. Semantisch greifbar wird der nicht als etwas Ursprünglich-Wesenhaftes, sondern immer nur als etwas Imaginiertes zu verstehende Signifikant Rationalität erst dadurch, dass er von anderem unterschieden wird, d. h. erst in der Differenz zu etwas Anderem bzw. zum „Anderen“ der Vernunft – z. B. zum Mythos, zum Mythischen, zum Exo- und Esoterischen usw.¹⁵² In den Blick rückt damit nicht nur die Kontingenz, die den als „Namensgebung“ zu verstehenden Akt der Signifikation kennzeichnet, sondern zugleich auch dessen zutiefst (sozio‐)politische Natur: ohne sie wäre weder der einzelne Mensch noch eine Gruppe in der Lage, sich selbst oder anderen etwas (z. B. Sinn, Bedeutung, Identität usw.) zuzuschreiben. Werden die beiden in den Abschnitten 1 und 2 dieses Beitrags vorgestellten, tendenziell entweder stärker das Moment des Vernunftglaubens (z. B. Ǧābirī) oder das Moment der Glaubensvernunft (z. B. Raḥmān) betonenden Konzeptionen von Rationalität nochmals im Horizont der Dynamiken der Signifikation selbst in den Blick genommen, zeigt sich, in welchem Maße Signifikanten wie Rationalität, Tugend oder auch Moral semantisch vom (nie endenden) Kampf um die Deutungsmacht koranischer Referenzen abhängig sind und bleiben.¹⁵³

 Zur Theorie „leerer Signifikanten“ vgl. den einschlägigen Artikel von Ernesto Laclau. „Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun?“. Mesotes. Zeitschrift für philosophischen Ost-West Dialog 2 (1994): 157– 165.  Dies entspricht nicht zuletzt der bekannten Grundthese omnis determinatio est negatio von Baruch de Spinoza. „Brief an Jarigh Jelles am 2. Juni 1674“. In Benedictus de Spinoza, Spinozas Briefwechsel, übers. v. J. Stern. Leipzig 1904, Nr. 50. Vgl. dazu W. Röd. „Omnis determinatio est negatio“. In Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie Bonn, 23.–27.9. 2002, hg.v. W. Hogrebe. Berlin 2004, 478 – 489.  Andreas Nehring spricht in Bezug auf den Signifikationsprozess „vom Kampf um die Hegemonie innerhalb einer symbolischen Ordnung“. Ders. „Zwischen Monismus und Monotheismus“. In Gott – Götter – Götzen. XIV. Europäischer Kongress für Theologie (11.–15. 09. 2011 in Zürich), hg.v. Christoph Schwöbel. Leipzig 2013, 820.

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3.2 Ausblicke – Topologien von Rationalität Im 20. Jahrhundert war es vor allem Martin Heidegger, der mit seiner Kritik an der noch bei Habermas zu beobachtenden Reduktion des modernen Begriffs von Rationalität auf den theoretischen, den Mythos ablösenden Logos ¹⁵⁴ ein neues Bewusstsein dafür zu schaffen suchte, dass, wie Wolfgang Welsch in Bezug auf Heidegger formuliert, Faktoren wie „Situiertheit, Rahmenbedingungen, Bezogensein auf einen Geschichts- und Kulturstand […] von den einzelnen Rationalitätsausprägungen nicht zu trennen [sind]“.¹⁵⁵ Diese Einsicht deckt sich im Grundsätzlichen mit Ludwig Wittgensteins Rede von unterschiedlichen, durch soziale Regeln geprägten Sprachspielen¹⁵⁶, die den (z. B. instrumentellen) Intentionen sprachlicher Subjekte immer schon vorausgehen und die Peter Winch in Bezugnahme auf Wittgenstein von Rationalität als einem Konzept sprechen lässt, ohne das Sprache gar nicht zu denken ist: „to say of a society that it has a language, is also to say that it has a concept of rationality“.¹⁵⁷ Wissenschaftstheoretisch führte diese Einsicht dazu, die das philosophische Denken bis in die Gegenwart hinein beherrschende Vorstellung von der Einheit der Rationalität durch das Konzept von auf unterschiedliche Rationalitätskonzeptionen gestützten „Rationalitäten“¹⁵⁸ im Plural zu ersetzen, womit es möglich wird, ideologiekritische Perspektiven auf binäre Gegenüberstellungen von Religion/Mythos vs. Vernunft/Logos zu werfen und die mit diesen Binarismen einhergehenden (Fortschritts‐)Logiken durch eine kritische Differenzierung verschiedener Momente des Imaginären zu ersetzen. Von Wittgenstein und Heidegger nicht unbeeinflusst, hat der im selben Jahr wie Ǧābirī verstorbene algerischstämmige Franzose Mohammed Arkoun in seinem breiten Œuvre wiederholt den dualistischen Bewusstseinsrahmen kritisiert, der viele muslimische Denker, Ǧābirī eingeschlossen, zu einer radikalen Entgegensetzung von Vernunft und Imagination, Geschichte und Mythos,Verstand und Glauben veranlasst hat, und stattdessen für

 Martin Heidegger:Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 41978, 199 – 221. Ders.: Heraklit. Frankfurt/M. 1979, 267, 290.  Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1987, 300.  Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über Frazers ‚Golden Bough‘, hg.v. R. Rhees. Retford 1979, Bd. I und Ders.: Tractatus Logico-philosophicus, Werkausgabe. Bd. 1. Frankfurt/M. 1963.  Es ist „a concept necessary to the existence of any language“, Peter Winch. „Understanding a Primitive Society“. In Rationality, hg.v. Bryan R. Wilson. Oxford 1970, 99.  Jamme: Mythos-Theorien, 250. Vgl. die Übersicht über die Modelle bei Jürgen Mittelstraß. „Rationale Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte“. In Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung, hg.v. Peter Janich. München 1981, 89 – 111.

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„eine plurale, veränderliche und offene Rationalität“¹⁵⁹ geworben. Erst wenn die Vernunft ihren Souveränitätsanspruch aufgibt und die Rolle des Imaginären anerkennt, eröffne sich ihr Arkoun zufolge auch, wie Geert Hendrich formuliert, „die Chance, gesellschaftliche wie kognitive Prozesse zu durchschauen“.Von Hendrich übersetzt, formuliert Arkoun: Indem wir anerkennen, dass das Rationale und das Imaginäre voneinander abhängig sind und in jedem vom Geist geführten Akt in einer erzieherischen Spannung miteinander stehen, befreien wir uns von jenem Schwarzweißdenken, das lange Zeit Vernunft und Imagination, Logos und Mythos, Konzept und Metapher, eigentliche Bedeutung und figurative Bedeutung […] einander gegenübergestellt hat. Wir gewinnen so die intellektuellen Mittel, unser gesamtes kulturelles Erbe (turāṯ) neu zu bestimmen.¹⁶⁰ Wir können über den Geist der Aufklärung hinausgehen, indem wir den Mythos – und damit sämtliches von den Religionen angehäufte, transportierte und bewahrte symbolische Kapital – in die kognitive Aktivität der Vernunft integrieren. ¹⁶¹

Arkoun geht in seinem Zugang zur Rationalität mit einem Anliegen Charles Taylors konform, der in seinem diskursiv horizontierten Vernunftbegriff auf die Ereignishaftigkeit der Sprache abhebt, deren „Wesen“ eben nicht als rein kognitives System, sondern vielmehr als eine mit moralischen Urteilen und Emotionen verschränkte Topologie verstanden werden muss.¹⁶² Vor diesem Horizont erweist sich das mit dem Signifikanten Vernunft in den Blick genommene nicht als etwas Zeitloses, sondern vielmehr als etwas Situationsbezogenes, das sich unter den Bedingungen der Semiose und damit unter den Bedingungen von Zeit und Raum als Setzung, Kombination und Ausdifferenzierung von Differenzen in der Sprache „ereignet“.¹⁶³ Taylors Konzept von „moralischen Landkarten“ (moral maps) entsprechend orientieren sich Subjekte in einer Sprachtopologie, deren Begrifflichkeiten semantisch innerhalb eines in soziale Praktiken, Interessen und (Welt‐) Perspektiven eingebetteten Netzwerkes (network) geklärt werden.¹⁶⁴ Die damit in

 Mohammed Arkoun: Penser l’Islam aujourd’hui. Algier 1993, o.S.; zitiert nach: Benzine: Islam und Moderne, 255.  Mohammed Arkoun: Pour une critique de la raison islamique. Paris 31999, 264– 265. In: Hendrich: Islam, 304– 305.  Arkoun: Critique, 245; zitiert nach: Hendrich: Islam, 305; Hervorh. RB.  Charles Taylor: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt/M. 1996, 59.  Janne Mende. „Normativität und Relationen im transkulturellen Vergleich“. In Nichtwestliches politisches Denken. Zwischen kultureller Differenz und Hybridisierung, hg.v. Holger Zapf. Wiesbaden 2012, 59.  Charles Taylor. „Self-interpreting animals“. In Human Agency and Language. Philosophical Papers Bd. 1, hg.v. Charles Taylor. Cambridge 1985), 74– 75.

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den Blick gerückte existential-ontologische Verbindung von Sprache und Geschichte erfordert die Rückbesinnung nicht nur auf die menschliche Verwurzelung in der Sprache, sondern auf die insbesondere von Ricœur herausgearbeitete Symbolhaftigkeit der Sprache selbst, zu der Doris Hiller formuliert: „Symbole und mit ihnen der Mythos manifestieren die Verbindung von Sprachlichkeit und Geschichtlichkeit im Wesen des Menschen. Mensch-Sein ist Sprache-Sein und in dieser kommunikativen, zeitübergreifenden Relationalität Geschichte-Sein.“ ¹⁶⁵ Die Einsicht in die Symbolhaftigkeit der Sprache ist es auch, die Arkoun schließlich zu einer scharfen Kritik an all jenen rationalistischen Ansätzen veranlasst, die – wie im Falle Ǧābirīs – den Signifikanten Islam auf eine von der konkreten Lebenswelt losgelöste abstrakte aristotelische Tugendethik zu reduzieren suchen. Zwar würdigt auch er, wenn auch weniger aus- und nachdrücklich als Ǧābirī, die Bemühung Ibn Rušds, eine „metatheologische Sprache“ (langue méta-théologique) zu schaffen, die sowohl der Heiligen Schrift als auch dem aristotelischen Korpus gerecht zu werden sucht.¹⁶⁶ Doch im Unterschied zu Ǧābirī hält er den von Ibn Rušd genutzten aristotelischen Erkenntnisapparat für das von ihm selbst intendierte Unternehmen für ungeeignet. Mehr noch: Arkoun erscheint die Konzeption des Ibn Rušd mit ihrer Verbindung von traditioneller Religionsgelehrsamkeit und areligiöser Philosophie, und dies nicht nur in der Perspektive der säkularen Moderne, als janusgesichtig, wobei er, kritischer und unvoreingenommener als Ǧābirī, auf Ibn Rušds Zeitgenossen verweist, denen die Problematik dieser spannungsvollen Synthese, die eine Harmonie von Vernunftschluss und Offenbarungsgehalt zu beweisen sucht, nicht verborgen geblieben ist.¹⁶⁷ Arkoun selbst sieht das janusköpfige Erscheinungsbild der averroistischen Vernunftkonzeption als das Ergebnis einer nicht widerspruchsfreien Verknüpfung aristotelisch-peripatetischer und jurisprudentieller Denkformen, die sich nicht in einen Ausgleich bringen und zudem in der von Ibn Rušd selbst genutzten Form, anders als Ǧābirī glaubt, nur schwer in die Moderne transferieren lassen. Die Verwurzelung des Richters und Rechtsgelehrten Ibn Rušd in der Methodik der islamischen Jurisprudenz schließt für Arkoun die Möglichkeit einer Interpretation, die Ibn Rušds Vernunftkonzeption mit den Ansprüchen und Erwartungshaltungen der säkularen Moderne zu versöhnen sucht, aus. Zwar bietet Ǧābirī in seinem Bestreben, in einer sich säkularisierenden Welt den Islam von seiner ju-

 Hiller. „Integratives Geschichtsverstehen. Impulse der Geschichtstheorie Paul Ricœurs“. In Paul Ricœur und die evangelische Theologie, hg.v. Dietrich Korsch. Tübingen 2016), 120; Hervorh. RB.  Mohammed Arkoun. „Deux médiateurs de la pensée médiévale“ In Le Courrier de L’UNESCO 9, Sept. 1986, 16 – 17.  Arkoun: Critique, 116 – 118; Deux médiateurs, 15 – 17.

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risprudentiell-rituellen Schale zu lösen und auf einen mit der Moderne kompatiblen Kern, d. h. auf eine (relativ unbestimmte und damit abstrakte) Ethik des Gemeinwohls zurückzuführen, insbesondere im Bereich der Analyse der (sozio‐) rhetorischen Dimension der responsiven Argumentation des Koran einen beeindruckenden interpretatorischen Neuansatz, der weiterführender hermeneutischer Reflexion bedarf. Doch vermögen die von Ǧābirī aufgebotenen Anstrengungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die sich an Aristoteles orientierenden Lehren Ibn Rušds, in ihrem eigenen andalusischen Kontext gelesen, nicht mit denen der von Ǧābirī nahezu hypostasierten Moderne kongruieren. Auffällig ist nicht nur die nahezu ahistorische Lesart, mit der Ǧābirī diese Lehren ebenso wie die demonstrative Vernunft der aristotelischen, radikal von jeglicher religiösen Dimension abgegrenzten Philosophie in die Moderne zu übertragen sucht. Auffällig ist auch, in welchem Maße für Ǧābirī die Moderne als eine geradezu substantialistische Kategorie sui generis fungiert, in der – verstanden als Endpunkt einer sich geschichtsphilosophisch entfaltenden Fortschrittsgeschichte – die von allen Mythen gereinigte aristotelische Vernunft zu ihrem Ziel kommt: konkret oder doch eher abstrakt in einem von allen Akzidenzien gereinigten ethischen Islam. Damit kommt in Ǧābirīs philosophischem, wesentlich am Übergang vom mythologischen zum logischen Denken festhaltenden Ansatz kaum mehr in den Blick, was sich mit Charles Taylor oder klassischer noch, mit dem italienischen Philosophen Giovanni Battista Vico als „topischer“¹⁶⁸, die Eigenständigkeit des ästhetischbildlichen gegenüber dem logisch-diskursiven Prinzip betonender Zugang zur Rationalität bezeichnen lässt.¹⁶⁹ Der sich auch in ʿAbd ar-Raḥmāns sprachphilosophischem Ansatz niederschlagenden Einsicht, dass eine definitive bzw. definitorische Weltdeutung unmöglich ist, steht, wie die zeitgenössische Mythentheorie herauszustellen sucht, das menschliche Grundbedürfnis nach einer Symbolisierung der eigenen Lebenswelt gegenüber, die als solche entweder in einem diskursiven (Sprache) oder präsentativen Modus (Ritual, Mythos, Kunst) verfährt.¹⁷⁰ Insofern lässt sich ein Verständnis von Rationalität nur, wie es Arkoun  Vgl. dazu einführend Christoph Keitel und Lars Allolio-Näcke. „Einleitung“ In Differenzen anders denken. Bausteine einer Kulturtheorie der Transdifferenz, hg.v. Lars Allolio-Näcke u. a. Frankfurt/M. 2005, 12– 13.  Im Gegensatz zu einem cartesianisch-„kritischen“ bzw. statisch-letztbegründenden Denken betont Giovanni Battista Vico in seinen Principi di una scienza nuova (Grundzüge einer neuen Wissenschaft, 1725, überarbeitet 1730 und 1744) im Gegenüber sowohl zur allegorischen als auch zur rationalistischen Mytheninterpretation – und gegen die Aufklärung – die, so Jamme (MythenTheorien, 62), insbesondere den Mythos kennzeichnende „Natur symbolisch-metaphorischen bzw. poetischen Sprechens“.  Einschlägig dazu Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst (1942). Frankfurt/M. 1984, 50 – 51.

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in seinen eigenen Arbeiten zum Koran¹⁷¹ zu zeigen versucht, in der Auseinandersetzung mit, nicht aber in der Abgrenzung vom Mythos gewinnen. Letzterer ist, mit Christoph Jamme, als eine Form symbolischer Bearbeitung zu begreifen, die „Traditionsbildung ermöglicht und den Prozess der Sozialisation begleitet“¹⁷² und welche die Wissenschaft herausfordert, „bewußt zu vollziehen, was der Mythos unbewußt voll[zieht]: die symbolische Bearbeitung der menschlichen Existenz in einer bestimmten historischen Situation“.¹⁷³ Die Herausforderung liegt zugleich darin, im Bewusstsein für die Ambivalenz der Sprache, die sich aus ihrer Symbolhaftigkeit und Metaphorizität ergibt, nicht die Anstrengung zu scheuen, diese Ambivalenz durch eine primär propositionale, das Moment der Anrede bewusst unterbrechende Begriffssprache zugleich weitestmöglich zu kontrollieren. Es gibt, wie Eberhard Jüngel mit Bezug auf Ricœur formuliert, „keine Einbahnstraße vom Mythos zum Logos, wohl aber eine wechselseitige Dialektik von Mythos und Logos, von Symbol und Begriff, von μεταφορά und ὄνομα κύριον, von Anrede und Aussage“.¹⁷⁴ Es ist diese Dialektik, die es ratsam erscheinen lässt, die je spezifischen Potentiale der Vernunft-Diskurse von Ǧābirī und ʿAbd ar-Raḥmān in weiterführenden Reflexionen zur Rationalität nicht gegeneinander auszuspielen, sondern nach Möglichkeit zusammenzudenken. Dass es dazu einer Überwindung des traditionellen Subjektprinzips bedarf, hat insbesondere Bernd Waldenfels mit seinem Konzept einer responsiven Rationalität zu zeigen versucht. Eine so verstandene Rationalität lässt keine eindeutige Zuordnung von Handlungen und Äußerungen mehr zu, sondern rückt das „Zwischenereignis“ in den Blick: „Zwischenereignis“ verstanden als „etwas, das, indem es geschieht, an anderes anknüpft, und zwar so, daß es auf deren Anregung und Anspruch antwortet“.¹⁷⁵ Obwohl es beide, sowohl Ǧābirī als auch ʿAbd ar-Raḥmān, nicht versäumen, in ihren hermeneutischen Annäherungen an den Koran die Responsivität seines spätantike Narrative neu konfigurierenden Diskurses zu thematisieren, erlaubt es ihnen die binäre Gegenüberstellung von Mythos vs. (höhere) Vernunft und die diesem binären Dual implizite Fortschrittslogik nicht, das Spezifikum der kora Vgl. insbesondere Mohammed Arkoun: Al-Qurʾān: Min at-tafsīr al-mawrūṯ ilā taḥlīl al-ḫiṭāb ad-dīnī Beirut, 2001.  Wolfgang-Müller-Funk in einer Besprechung von Jamme: Mythostheorien. In: Presse. Wien, 8.9. 2.1992, X.  Christoph Jamme. „Mythos zwischen Sprache und Schrift“. In Unausweichlichkeit des Mythos, hg.v. Claudia Jünke u. a. Frankfurt/M. 2007, 36; Hervorh. RB.  Eberhard Jüngel. „Metaphorische Wahrheit. Erwägungen zur theologischen Relevanz der Metapher als Beitrag zur Hermeneutik einer narrativen Theologie“ In Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, hg.v. Paul Ricœur und Ders. München 1974, 110.  Bernd Waldenfels: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt/M. 1987, 47– 48; Hervorh. RB. Vgl. auch 29 ff.

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nischen, Elemente des Mythischen und Imaginären verarbeitenden Rekonfiguration (spät‐)antiker Narrative komparativ in den Blick zu nehmen. In ihrer Auseinandersetzung mit der frühmedinensischen Erwähnung der Namensgebung Adams bleibt daher auch die sowohl auf anthropologischer als auch auf epistemologischer Ebene signifikante Weichenstellung unreflektiert, zu der sich der koranische Diskurs in seiner kreativen Auseinandersetzung mit der aus der Namensgebung resultierenden Pluralität und Heterogenität rabbinischer Interpretationspraxis veranlasst sieht¹⁷⁶ und der er in der Mitte derselben Sure nochmals dadurch Nachdruck verleiht, dass er der jüdischen Praxis der Namensgebung die „bessere Taufe“ (ṣibġa) bzw. Namensgebung Gottes selbst gegenüberstellt: „Die Taufe Gottes! Wer hat wohl eine schönere Taufe als Gott?“ (man aḥsanu min allāh ṣibġatan; Q 2,138). Intertextuell gelesen stünde die koranische Signifikation quer zur Herausstellung des kreativen Potentials an Sinn- und Bedeutungszuschreibungen, über das die vorgestellten Gelehrten in ihrer z.T. weit über ʿAbduh hinausgehenden Trennung des eigentlichen Kerns der koranischen Verkündigung von der nachkoranischen jurisprudentiellen Schale die Rationalität des Islam in der Moderne herauszustellen suchen. Und doch sehen sie darin kein Hindernis, zu deren Plausibilisierung koranische Referenzen gegebenenfalls auch mit neuen, über traditionelle Lesarten hinausgehenden Bedeutungszuschreibungen in die Gegenwart zu über-setzen und so den Erwartungshaltungen der Moderne an die Religion auf ihre Weise responsiv zu begegnen: eben in der Form einer Rationalität, die sich nicht nur als wesenhaft hermeneutisch erweist, insofern sie die Wirklichkeit und Möglichkeit islamischer Existenz primär im Deutehorizont der muslimischen Interpretationspraxis zu erfassen sucht, sondern zugleich auch als zutiefst relational, insofern sie ihre Möglichkeiten und Grenzen, wie dies insbesondere an den gegenläufigen Positionierungen von Ǧābirī und Raḥmān deutlich wurde, nur im Verhältnis zu anderer Vernunft (Raḥmān vs. Ǧābirī) und zum Anderen der Vernunft (burhān/bayān/ʿirfān vs. Mythos) zu bestimmen vermag. Im Horizont eines topischen, intellectio und imaginatio verbindenden Denkens schließlich, wie es hier ansatzweise an Taylor und Arkoun expliziert wurde, erweist sich eine solche responsive Rationalität zugleich als unhintergehbar leiblich, insofern sich die imaginierten Normen der Moral (aḫlāq) ohne den in der Regel unexplizierten, hier an Ǧābirī und ʿAbd ar-Raḥmān zumindest ansatzweise erhellten Sinnhorizont von Präsuppositionen über die Existenz des Menschen und,  Zu dieser die koranische Signifikation kennzeichnenden Responsivität vgl. meinen Beitrag „Reasoning Humanity: Toward a Contextual Reading of the Qurʾānic Anthropology“. In New Approaches to Human Dignity in the Context of Qurʾānic Anthropology – The Quest for Humanity, hg.v. Ders. und Hüseyin I. Çiçek. Newcastle 2017, 179 – 220, 213 – 214.

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wie das Beispiel der Namensgebung zu zeigen versuchte, dessen Vernunft gar nicht denken lassen. Vor diesem Horizont steht die zeitgenössische Rationalitätsdebatte im islamischen Diskurs vor der Herausforderung, den von Ǧābirī, ʿAbd ar-Raḥmān und Arkoun auf je verschiedene Weise begonnenen Weg der De- und Rekonstruktion des islamischen Erbes konstruktiv-kritisch fortzuführen und dabei in ihren Spuren und doch zugleich über sie hinausgehend der hermeneutischen, relationalen und zutiefst leiblichen Dimension von Rationalität Rechnung zu tragen – diesseits und jenseits von Mythos und Logos.

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Eva Kepplinger

Rationalität im ethisch-juristischen Denken von Abdurrahman Taha Einleitung Unter jenen muslimischen Intellektuellen, die für ihre Bemühungen um intellektuelle Reform zunehmend Aufmerksamkeit erfahren, ist der marokkanische Philosoph und Ethiker Abdurrahman Taha (AT).¹ So erachtet ihn etwa Wael Hallaq als „one of the most significant philosophers that the world of Islam has produced since colonialism set foot in Afro-Asia.“² Sein Anliegen ist es, das zeitgenössische muslimische Denken zu reformieren, wofür er Ethik und Spiritualität als die geeignetsten Mittel sieht. Konkret ist es die von ihm konzipierte, ethikbasierte Idee des „Paradigma der Treuhandschaft“ (iʾtimāniyya), mit der er eine Reform auf mehreren Ebenen und in unterschiedlichen Bereichen anstrebt. Sie soll einerseits muslimisches Denken spirituell und ethisch bereichern, andererseits aber auch einen Gegenentwurf zur westliche-säkularen Lebensweise anbieten.³ Weil AT sein Konzept in diesem globalen Kontext als alternative Lebensphilosophie versteht, soll in diesem Artikel darauf eingegangen werden, bevor sein Paradigma vorgestellt wird. Für dieses Vorhaben wird zunächst ATs Paradigma der Treuhandschaft mit seinen unterschiedlichen Aspekten vorgestellt. Wie die konkrete Umsetzung des Ethikkonzepts in der Praxis aussehen soll, wird am Beispiel der Arbeit der Juristen und Gelehrten gezeigt werden, die nach AT ihre Arbeit auf seinem Paradigma aufbauen sollen. Wie sich ATs ethisches Denken und seine Prämissen auf sein juristisches Verständnis auswirken, soll außerdem anhand der Diskussion seiner Interpretation der maqāṣid aš-šarīʿa erfolgen. Für ein Verständnis von ATs Denken und seiner Argumente muss auf die Wichtigkeit seiner Zugehörigkeit zu dem marokkanischen Sufi-Orden der Boutchichiya hingewiesen werden. Motive des Sufismus lassen sich bei ATs Überlegungen immer wieder finden, u. a. wenn er bei seinen Erläuterungen des iʾtimā-

 Biographische Angaben wurden bereits in anderen Beiträgen über ATs Denken gegeben, weswegen an dieser Stelle darauf verzichtet wird.  Hallaq, Wael: Reforming Modernity: Ethics and the new Human in the Philosophy of Abdurrahman Taha. New York: Columbia UP. 2019, xiii.  Ṭāhā, ʿAbd ar-Raḥmān: Buʾs ad-dahrāniyya: Fī an-naqd al-iʾtimānī li faṣl al-aḫlāq ʿan ad-dīn. Beirut: aš-Šhabaka al-ʿArabiyya li-l-Abḥāṯ wa-n-Našr, 2014. https://doi.org/10.1515/9783110588590-012

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niyya-Konzepts über die Läuterung des Charakters (tazkiya) oder über die Aufrichtigkeit der Intention spricht und, was für diesen Artikel speziell von Interesse ist, welche Aufgaben und Verantwortung der Jurist („murabbī“) der Gesellschaft gegenüber hat. Charakteristisch für ATs Behandlungen unterschiedlicher Themen in seinen zahlreichen Beiträgen ist, dass er dabei einem dichotomischen Muster folgt. Dabei diskutiert er zwei Themen, bei denen er das eine als absolut eindeutig und zweifellos korrekt einem anderen, absolut falschem gegenüberstellt, wobei ATs Denken sich stets als das Richtige herausstellt. Diese Vorgehensweise erinnert entfernt an die Theorie des Islamwissenschaftlers Thomas Bauer. Er argumentiert in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität“⁴, dass Muslim*innen vor dem europäischen Kolonialismus die Fähigkeit besessen hätten, mehrere Meinungen und Wahrheiten nebeneinander stehen zu lassen. Seit dem kulturellen Bruch mit den eigenen Traditionen aufgrund des westlichen Kolonialismus und dessen weitreichenden Folgen, sei diese Fähigkeit verloren gegangen. So würden Muslim*innen die innermuslimische Vielfalt nicht mehr schätzen, sondern bestrebt sein, „das eine korrekte Denken“ auszuarbeiten. Bei seinen Beiträgen wird außerdem vermisst, dass er seine eigenen Reformvorschläge in einem breiten Rahmen kontextualisiert. Eine Folge davon ist, dass z. B. bei seinem Ruf nach einer Erneuerung der Güter der maqāṣid der Eindruck entsteht, er wäre der einzige muslimische Intellektuelle, der sich um eine Reform muslimischen Denkens bemüht, was keineswegs der Fall ist. Trotz mancher Kritikpunkte argumentiert der Artikel, dass ATs Fokus auf die Ethik und Spiritualität ein Gewinn für das zeitgenössische muslimische Denken sein kann, sowohl für die Arbeit einzelner JuristInnen als auch für eine zeitgenössische Interpretation rechtlicher Bestimmungen. Für den Bereich der maqāṣid können seine Vorschläge als weiterer Anstoß genommen werden, das Recht ethikund wertorientiert zu denken und seine Vorstellungen bei rechtlichen Überlegungen miteinzubeziehen.

1 Die ethische Weltsicht von Abdurrahman Taha 1.1 Abdurrahman Tahas Kritik an der (westlichen) Moderne In ATs Publikationen finden sich immer wieder Verweise auf den säkular-materialistischen Westen, von dem er sagt, er sei zwar in der Lage den Menschen

 Bauer, Thomas: Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011.

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technischen Fortschritt zu bieten, verabsäume es aber, den Menschen umfassend in all seinen Facetten zu betrachten. Die westliche Sichtweise auf die Welt und auf den Menschen sei eine zutiefst einseitige, die den Menschen in seiner Komplexität nicht erfasse und ihm damit Unrecht tue. Das Problem sei aber nicht nur, dass sich diese Lebensphilosophie ausschließlich auf westliche Länder beziehe, sondern, dass diese Lebensweise auch in den Rest der Welt exportiert werde und nun das Denken der Menschen global beeinflusse⁵. Als religiöser Ethiker erachtet er dies als problematisch, denn er erkennt in der westlich-säkularen Lebensphilosophie eine große Gefahr für die Beziehung der Menschen zu ihrem Schöpfer, weil dies für ihn auch bedeutet, dass diese Trennung von der Religion auch das Separieren von Religion und noblen Charaktereigenschaften (aḫlāq) nach sich zieht⁶. Den Menschen, der diese ursprünglich westliche, nun aber globale Moderne internalisiert hat, nennt AT den „modernen Menschen“ (al-insān al-muʿāṣir). Es handele sich dabei um eine Person, die eine Lebensweise verinnerlicht habe, die weit entfernt sei von religiösen moralischen Werten. Diese Bezeichnung des „insān muʿāṣir“ wird bei AT damit zu einem Ausdruck für eine bestimmte Lebens- und Denkweise, in der der aḫlāq auf den Umgang mit Einzelpersonen eingegrenzt wird, ohne dabei andere Geschöpfe oder gar die gesamte Schöpfung einzuschließen. Es wird dabei die Beziehung des Menschen mit sich selbst, seinem Schöpfer und mit der Allgemeinheit der Dinge, vergessen⁷. Wichtig zu erwähnen ist bei dieser Erörterung, dass mit ATs Bezeichnung des „modernen Menschen“ nicht bloß der „westliche Mensch“ gemeint ist, sondern genauso Muslim*innen einschließen kann, wenn sie sich dieser Lebensweise bedingungs- und kritiklos anschließen⁸. Den modernen Menschen bezeichnet AT als „toten Menschen“ (insān mayyit) und es sei notwendig, die Menschen aus dieser Lage des Todes herauszuholen und in eine gegenteilige Lage, nämlich in die „Lage des Lebens“ zu befördern (ḥāla al-ḥayā)⁹. Die Schuld dafür, dass sich die Menschheit in dieser Lage befindet, sieht er bei den Muslim*innen, denen er vorwirft, dass sie es bis jetzt nicht geschafft hätten, ihrer Verantwortung als Umma den Menschen gegenüber gerecht zu werden. Hingegen hätten sie ihre Herzen und ihren Verstand jemand anderem, nämlich dem Westen, ausgehändigt, sodass jemand anderer für sie denke. Somit seien sie auch nicht in der Lage und hätten

 Ṭāhā, ʿAbd ar-Raḥmān: Dīn al-ḥayāʾ: Min al-fiqh al-iʾtimārī ilā al-fiqh al-iʾtimānī [1] – Uṣūl ad-dīn al-iʾtimānī. Beirut: al-Muʾassasa al-ʿArabiyya li-l-Fikr wa-l-Ibdāʿ, 2017.  Arḥīla, ʿAbbās Aḥmad:. Bayn al-iʾtimāniyya wa ad-dahrāniyya. Bayn Ṭāhā ʿAbd ar-Raḥmān wa ʿAbd Allah al-ʿUrawī. Beirut: Al-Mu ʾassasa al-ʿArabiyya li-l-Fikr wa-l-Ibdāʿ, 2016, 61.  Arḥīla: Bayn al-iʾtimāniyya wa ad-dahrāniyya, 89.  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 14– 15.  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 16.

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nicht die Fähigkeit, an alternative Lebensformen als die westlich-materialistische zu denken¹⁰. Was nun laut AT notwendig ist, sei ein Projekt, das von Muslim*innen entwickelt werden sollte und kreativ und innovativ genug sei, den aktuellen ethisch-philosophischen Herausforderungen zu begegnen, weil aktuell laut AT keines dazu in der Lage sei¹¹. In der Darlegung seines eigenen Denkens zeigt er, welche Alternative er dem von ihm porträtierten Dilemma der (westlichen) Moderne entgegenhält.

1.2 Abdurrahman Tahas Paradigma der iʾtimāniyya Mit dem von AT entwickelten Konzept der iʾtimāniyya möchte er der westlichsäkularen Weltsicht eine Alternative entgegenstellen. Der begrenzte Blick der modernen westlichen Lebensphilosophie soll mit seinem Konzept ergänzt werden und dazu beitragen, den Horizont des Menschen zu erweitern und sich seelisch und charakterlich zu entwickeln. Seine Philosophie versteht AT als umfassend und diese enthält vier Komponenten, die nicht voneinander getrennt werden dürfen: Offenbarung, Vernunft, Ethik und Handlung¹². AT setzt zwar in das aktuelle islamisch-arabische Denken keine Hoffnung auf Erneuerung, bei der iʾtimāniyya hingegen geht er davon aus, dass diese Philosophie eine Erneuerung der Gesellschaft erwirken kann. Das Ziel dieser Theorie sei, dass sie einerseits philosophisch fundiert aber auch praxisorientiert und damit tauglich sei, um von jeder Person umgesetzt zu werden und auf globaler Ebene zu einem friedlichen, respektvollen Miteinander und einer gerechten Gesellschaft beizutragen¹³. Im Gegensatz zur westlichen Art zwischen Religion und dem Leben zu trennen, versteht AT die iʾtimāniyya als ein Konzept, das in der Lage ist, zwischen den verschiedenen Ebenen des menschlichen Lebens zu verbinden und keinen Bereich unbeachtet zu lassen. Sie verbinde zwischen Intellekt, Seele, Charakter und dem praktischen Handeln, der wahrnehmbaren und der nichtwahrnehmbaren Welt. Die letztere sei von besonderer Wichtigkeit für die ureigene Natur des Menschen, dessen Verbindung mit Gott bereits vor diesem Leben begann. Denn noch vor dem Eintreten des Menschen in diese vergängliche Welt hätten die

 Arḥīla: Bayn al-iʾtimāniyya wa ad-dahrāniyya, 81.  Ṭāhā, ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ al-ḥadāṯa: al-madḫal ila taʾsīs al-ḥadāṯa al-islāmiyya. Beirut: AlMarkaz aṯ-ṯaqāfī al-ʿArabī, 2006, 188 – 189.  Hashas, Mohammed. „Taha Abderrahmane′s Trusteeship Paradigm: Spiritual Modernity and the Islamic Contribution to the Formation of a Renewed Universal Civilization of Ethos.“ In Oriente Moderno 95, 67– 105. Leiden/Boston: Brill, 2015, 67.  Hashas. „Taha Abderrahmane′s Trusteeship Paradigm…“, 104.

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Menschen eine Vereinbarung (mīṯāq al-iʾtimān) mit Gott getroffen. Auch wenn AT nicht auf die Passage verweist, kann davon ausgegangen werden, dass er sich auf jenen Koranvers bezieht, in dem es heißt: „Und als dein Herr aus der Lende der Kinder Adams deren Nachkommenschaft nahm und sie gegen sich selber zeugen ließ [und sagte] ‚Bin ich nicht euer Herr?‘ Sie sagten: ‚Jawohl, wir bezeugen es.‘ (Dies tat er) damit ihr (nicht etwa) am Tag der Auferstehung sagt: ‚Wir hatten davon keine Ahnung‘ (Koran 7:172). Was in der islamischen Theologie oftmals als „amāna“ bezeichnet wird, nämlich, dass Menschen sich in dieser Welt entsprechend dieses Versprechens darum bemühen sollen, nach Gottes Willen zu handeln, interpretiert AT den Begriff so, dass die Menschen sich an jenem Tag in der nicht sichtbaren Welt dazu verpflichtet hätten, die moralischen Werte, die in den „schönsten Namen Gottes“ (asmāʾ Allāh al-ḥusnā) enthalten sind, zu bewahren. Nachdem sie diese physische, vergängliche Welt betreten haben, hätten sie nicht nur ihren zuvor perfekten natürlichen Zustand verlassen, sondern hätten auch ihre Abmachung mit Gott verletzt. Die Menschen hätten damit die „Lage der Treuehandschaft“ (ḥāla al-iʾtimāniyya) verlassen und die „Lage des Treuebruchs“ (ḥāla al-ḫiyāna) betreten¹⁴. Hat der Mensch die „Lage des Treuebruchs“ betreten, sei es allein die tazkiya die helfen kann, um damit das, was die Seele blind gemacht hat, zu entfernen und die göttlich offenbarten moralischen Werte und spirituellen Bedeutungen zu erfassen. Die tazkiya heile aber nicht nur das Individuum, sondern wirke auch allen moralischen und spirituellen Krankheiten der Gesellschaft und globalen Übel entgegen¹⁵. Der Islam könne außerdem nur vollkommen erfasst werden, wenn der Mensch sich befreie von seiner Liebe zu Besitz (mulkīyya). Und das sei mit iʾtimānī gemeint: Das vollständige Aufgeben von weltlichem Streben und die exklusive Ausrichtung auf Gott¹⁶. Die vollkommene Befreiung von jeglichem weltlichen Streben, auch nach Vermögen und Erfolg, ist wiederum ein Gedanke, der in ATs Sufi-Prägung begründet zu sein scheint. Wenn AT meint, der vollkommene, wahre Muslim sei der, der dem Streben nach Besitz entsage, wäre interessant zu wissen, wie AT mit Versen des Korans umgeht, in denen das Streben nach Besitz, solange es in ausgeglichenen Bahnen stattfindet und keinen individuellen wie gesellschaftlichen Schaden anrichtet, nicht abgelehnt wird. Außerdem wäre es spannend zu erfahren wie AT mit Quellen umgeht, die klar bestätigen, wie Gott den Menschen erschaffen hat, nämlich, dass das

 Hashas. „Taha Abderrahmane′s Trusteeship Paradigm…“, 84.  Ṭāhā, ʿAbd ar-Raḥmān: Buʾs ad-dahrāniyya: Fī an-naqd al-iʾtimānī li faṣl al-aḫlāq ʿan ad-dīn. Beirut: aš-Šhabaka al-ʿArabiyya li-l-Abḥāṯ wa-n-Našr, 2014, 16 – 17.  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 81.

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Streben nach Besitz Teil seiner Natur ist und dass es legitim ist, dass der Mensch sich an seinem Vermögen und an seinen Kindern erfreut.¹⁷

1.3 Der Mensch in Abdurrahman Tahas Paradigma der iʾtimāniyya In seinem Verständnis des Menschen folgt AT der weitverbreiteten islamischen Vorstellung, dass dieser aus einem vergänglichen Körper und einer ewigen Seele besteht. Der Philosoph bezeichnet diese Form der Existenz als eine „duale Existenz“ (muzdawaǧ al-wuǧūd)¹⁸. Der erschaffene Körper des Menschen ist dabei mit dem diesseitigen, sicht- und wahrnehmbaren Leben (al-ʿālam al-marʾī) verbunden. Zu der anderen, der unsichtbaren Welt (al-ʿālam al-ġaybīʾ), hätten Menschen bereits in diesem Leben mittels ihrer Seele Zugang¹⁹. Mit jener Welt sei der Mensch nach AT im Diesseits durch seine spirituellen Bedürfnisse verbunden, die Befriedigung bedürfen. Der Philosoph argumentiert, dass aufgrund dieser Besonderheit des Menschen und seiner unterschiedlichen Bedürfnisse keine Trennung zwischen weltlichen und spirituellen Angelegenheiten gezogen werden sollte²⁰. Was den Menschen zudem besonders mache, sei seine ihm angeborene Natur (fiṭra). Die fiṭra ist ein dem Koran entlehnter Terminus, der bei AT die Gesamtheit der höchsten Werte bedeutet²¹. Außerdem versteht er darunter eine spezielle Erinnerung (ḍākira sābiqa) des Menschen und meint damit, dass der Mensch sich auf eine bestimmte Weise daran erinnere, dass er nicht nur aus einem Körper, sondern auch aus einer unvergänglichen Seele bestehe, deren wahrer Heimatort das ewig währende Jenseits sei²². Trotz der Existenz der fiṭra merkt AT an, dass der Mensch gleichzeitig zum Vergessen neige, wem er seine eigene Existenz und seine Versorgung verdanke, nämlich Gott, und was ihn, den Menschen, in der Schöpfung besonders mache. Diese Vergesslichkeit passiere aufgrund seiner Begierden, seines Egoismus und seiner Machtgelüste²³. Um die Menschen vor ihren eigenen

 Siehe z. B. den Vers „Vermögen und [Nachkommen] sind [Schmuck] des diesseitigen Lebens“ (Koran 18:46).  Ṭāhā, ʿAbd ar-Raḥmān: Rūḥ ad-dīn: min ḍayq al-ʿalmāniyya ilā saʿa al-iʾtimānīyya. Casablanca: al-Markaz aṯ-ṯaqāfī al-ʿArabī, 22012, 52.  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 34.  Ṭāhā: Rūḥ ad-dīn, 449.  Ṭāhā: Taʿaddudiyya al-qiyam: ma madāhā wa ma ḥudūduhā? Marrakesch: Kulliyya al-Ādāb wa-l-ʿUlūm al-Insāniyya, 2001, 51.  Ṭāhā: Rūḥ ad-dīn, 52.  Ṭāhā: Rūḥ ad-dīn, 14.

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Schwächen zu schützen, solle das von AT konzeptualisierte Paradigma helfen, sich an seine besondere Position in der Schöpfung zu erinnern. Das Paradigma erinnere ihn außerdem an seine fitra, in der bestimmte ethisch-religiöse Werte festgelegt worden seien. Den „modernen Menschen“, der seine Besonderheit nicht kenne oder sie vergessen habe und der Pflege seiner Spiritualität nicht nachkomme, nennt AT eine „tote Person“ (al-insān al-mayyit). Dieses einseitig-lebende Individuum könne aber durch die Belebung seines Herzens zum Leben erweckt werden. Dies wiederum geschehe, indem der Mensch an seinem Charakter arbeite, diesen verbessere und bestimmte Werte verinnerliche. Als grundlegendsten Wert erachtet AT dabei die Sittsamkeit²⁴ bei der es sich für AT um den höchsten aller Werte handelt. Haben Menschen sich diesen erst angeeignet, seien sie in der Lage, das Konzept der iʾtimāniyya zu verinnerlichen²⁵. Um aus der „Lage des Todes“ zur „Lage des Lebens“ zu gelangen, benötige es demnach eine praktische Arbeit an sich selbst. AT nennt diese „die Praxis der inneren Läuterung“ (al-ʿamal at-tazkawī). Wird die Seele geläutert und ist eine Person um positive Änderungen in ihrem Verhalten bemüht, so spricht AT von einer Person, die nach dem Tod reanimiert wurde. AT erhofft sich, dass es nicht nur bei der individuellen positiven Veränderung bleibt, sondern dass die Gesellschaft insgesamt sich entwickelt²⁶. Diese Entwicklung könne der einzelne Mensch aber nicht allein durchführen, sondern es benötige dafür jemanden, der die Werte der iʾtimāniyya lehrt und in der Praxis damit arbeite.

2 Die ethische und soziale Verantwortung des Juristen (faqīh) Bei der Frage, wer den modernen Menschen an sein wahres Wesen erinnern und sein Herz beleben soll, ist ATs Antwort darauf: der Jurist. Seine Vorstellungen über die Aufgaben und Verantwortungen des faqīh finden sich in Dīn al-ḥayāʾ 1 ²⁷ und in Dīn al-ḥayāʾ 2 ²⁸ beschrieben.

 Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 20.  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 25.  Ṭāhā: Rūḥ ad-dīn, 503.  Ṭāhā, ʿAbd ar-Raḥmān: Dīn al-ḥayāʾ: Min al-fiqh al-iʾtimārī ilā al-fiqh al-iʾtimānī [1] – Uṣūl addīn al-iʾtimānī. Beirut: al-Muʾassasa al-ʿArabiyya li-l-Fikr wa-l-Ibdāʿ, 2017.

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ATs Verständnis, dass die Ethik von keinem Bereich des Lebens getrennt werden solle, sollte laut ihm auch jener vertreten, der mit den Grundlagen der Religion arbeitet, um diese dann den Menschen zu vermitteln: der faqīh. Er sei derjenige, der die Menschen begleite, um ihre Erinnerung an ihre Abmachung in der früheren Welt zu wecken und sie von einem „toten Menschen“ zu einem „lebendigen Menschen“ zu machen. Bei seiner Erörterung des faqīh stellt AT zwei unterschiedliche Typen von Gelehrten einander gegenüber: Der eine sei dadurch gekennzeichnet, dass er sich mit Regeln und Anordnungen der Religion auseinandersetze, diese in den Quellen suche und sie den Menschen mitteile. Seine Beschäftigung betreffe ausschließlich die äußeren Formalitäten religiöser Anordnungen und deren korrekte Ausübung, ohne dabei auf die tieferliegende Ethik dieser Anordnungen zu achten und nach ihrem Erkennen zu streben. Diesen Juristen nennt AT den faqīh iʾtimārī (von amr: Anordnung). Diesem stellt AT den faqīh iʾtimānī gegenüber, der den Gedanken an die amāna verinnerlicht habe und die Werte beachte, die von dieser amāna ausgehen und die sich auch in den Scharia-Anordnungen fänden²⁹. Zentral ist bei ATs Kritik am faqīh iʾtimārī, dass dieser sich mit Oberflächlichkeiten und einzelnen Regeln beschäftige und nicht in den allgemeinen Prinzipien der Scharia, sondern in den einzelnen Anordnungen forsche. Der Philosoph konstatiert, dass dies die Vorgehensweise aller Juristen die Geschichte hindurch gewesen sei und mit diesem oberflächlichen, am Buchstaben interessierten Vorgehen, hätten die Gelehrten (fuqahāʾ) die Disziplin des Wissens über den fiqh (ʿilm al-fiqh) entwickelt. AT meint, die Gelehrten hätten nicht nur den fiqh so behandelt und auf diese Art begründet, sondern sie hätten die ganze Religion darauf aufgebaut, indem sie behaupteten, Allahs Buch sei ein Gesetzbuch (kitāb at-tašrīʿ)³⁰. So sei die gesamte Religion (dīn) auf den al-fiqh alāmirī reduziert worden. Mit dieser Einengung werde die Religion in der Bedeutung von iʾtimān entfremdet und darauf reduziert, was Angelegenheiten und Fragen zum Besitz (al-iḥtiyāz) betreffe, weil AT behauptet, der fiqh behandle nur Fragen zum Besitz. Den fiqh in dieser, von ihm selbst konstruierten Bedeutung, lehnt er ab, weil der Philosoph AT das Streben nach Besitz (tamalluk) ablehnt. ATs Schlussfolgerung nach ist es demnach so, dass sich der faqīh iʾtimārī ausschließlich darauf konzentriere, die Begierde des iḥtiyāz zu kontrollieren und sich mit den Anordnungen beschäftige, die gegeben wurden um diesen Begierden Grenzen zu setzen, die wiederum nicht übertreten werden dürfen. So werde der  Ṭāhā, ʿAbd ar-Raḥmān: Dīn al-ḥayāʾ: Min al-fiqh al-iʾtimārī ilā al-fiqh al-iʾtimānī [2] – at-ta ḥaddiyāt al-aḫlāqiyya li ṯawra al-iʿlām wa-l-ittiṣaal. Beirut: al-Muʾassasa al-ʿArabiyya li-l-Fikr wal-Ibdāʿ, 2017.  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 21.  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 82– 83.

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gesamte fiqh zu fiqh iḥtiyāzī. Damit werde der Islam zu einem Synonym für Anordnungen und Verbote, mit denen das Streben der Menschen nach Besitz eingeschränkt werde³¹. LeserInnen könnten nun meinen, ATs Kritik richtet sich an eine Randgruppe von religiösen Fanatikern oder extreme Literalisten. Tatsächlich aber kritisiert er die etablierten Traditionen des islamischen Rechts, die auch die vier sunnitischen Rechtsschulen beinhalten. Ohne auf konkrete historische Vorkommnisse zu verweisen, vertritt AT, dass es im 2./8. Jahrhundert zu einer Trennung zwischen Recht und aḫlāq gekommen sei, als die Juristen (ahl al-fiqh) den Sieg über die Befürworter der inneren Läuterung (ahl at-tazkiya) davontrugen, erfolgreich religiöse Bestimmungen auf ihren juristischen Aspekt reduzierten und moralische Werte davon trennten³². Der faqīh iʾtimārī, der sich mit seinem Verständnis in der islamischen Geschichte gegenüber dem faqīh iʾtimānī durchgesetzt habe, sei also lediglich am Buchstaben interessiert. AT attestiert diesem, dass er sich nur für seine oberflächliche Arbeit interessiere, dabei die Wichtigkeit der Intention (iḫlāṣ) als einem essentiellen aḫlāq-Wert ignoriere und es ihm deswegen nicht möglich sei, zum Inneren der Werte der Regeln vorzudringen. Dies verhindere außerdem, dass er den aḫlāq iʾtimānī erkenne und sich damit auseinandersetze. Im Zentrum seines Interesses und seiner Beschäftigung stünde ausschließlich das Schlichten von Auseinandersetzungen zwischen den Menschen. Darüber hinaus informiert der Philosoph, dass der faqīh erst zum wahren faqīh, nämlich zum al-fiqh al-iʾtimānī werde, wenn er sich mit den Werten der iʾtimāniyya, auf dem die aḥkām der Scharia aufbauen, auseinandersetzte³³. Eine weitere Kritik ATs am faqīh iʾtimārī besteht in dessen begrenzter Beschäftigung mit der Eigenschaft der Sittsamkeit. An dieser Stelle kritisiert er Abū Ḥāmid al-Ghazālī (gest. 505/1111),³⁴ dem er vorhält, dass seine Auseinandersetzung mit der Sittsamkeit nicht über den Begriff des Anstands (iḥtišām) hinausgehe – ein Charakteristkum, das auch beim Tier zu finden sein könne. Im Verständnis des faqīh iʾtimārī so AT, diene das Schamgefühl (ḥayāʾ) zu nichts mehr als einen Menschen davon abzuhalten, Schändlichkeiten zu begehen³⁵. Dies sei ein Problem, denn wer keine ḥayāʾ hat, habe auch keinen aḫlāq und auf diese Person treffe zu, dass sie keinen Glauben (īmān) habe. Er sagt,

 Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 84.  Ṭāhā: Rūḥ ad-dīn, 406.  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 85.  Es ist interessant, dass er gerade al-Ġazālī nennt, der sich laut seiner eigenen Autobiografie jahrelang zurückzog, um nach innerer Läuterung und Reinigung zu streben. Siehe: al-Ghazālī, Abū Ḥāmid: Der Erretter aus dem Irrtum: al-munqiḏ min aḍ-ḍalāl, hg. und übers. v. Abd-Elsamad Elschazli. Hamburg: Meiner, 1987.  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 203.

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hätten die Juristen sich mehr damit beschäftigt, obwohl es doch so viele zuverlässige Prophetenüberlieferungen dazu gibt, hätten sie etwas entwickelt, das auf der ḥayāʾ aufbaue, etwa eine Wissenschaft mit der Bezeichnung „Wissen (über) die Sittsamkeit“ (ʿilm al-ḥayāʾ)³⁶.

2.1 Der Umgang des faqīh iʾtimārī mit dem „modernen Menschen“ AT zeigt anhand des Umgangs mit dem „modernen Menschen“ wie sich der faqīh iʾtimānī vom faqīh iʾtimārī unterscheidet. Zuerst attestiert er dem modernen Menschen bestimmte Eigenschaften. Zu diesen gehöre, dass dieser nur akzeptiere, was mit dem bloßen Verstand angenommen werden könne und damit vereinbar sei. Diese Eigenheit zählt AT zu dessen primären Eigenschaften und führe dazu, dass der Verstand vergöttlicht werde³⁷. Dazu zähle auch, dass selbst wenn dieser Mensch tot sei und den aḫlāq aufgegeben habe, ihm dies bewusst sei, jedoch lehne er sogar gezielt traditionelle Werte ab. Dies mache er mit dem Argument, dass sie mehr schaden als nützen und er möchte diese traditionellen Werte gegen neue eintauschen. Auch wenn er wisse, dass diese Werte nicht besser seien, genüge es ihm zu wissen, dass die neuen Werte von ihm stammen. Denn seine Gefühle der Freiheit bedeuten ihm mehr als das Gefühl zu folgen oder zu gehorchen. Beziehungsweise bevorzuge er die Freiheit des Falsch-handelns vor dem Folgen von Richtigem. Mit seinem sich Aufbäumen und Rebellieren werde dem Verstand Unrecht getan, der Mensch werde seinem Schöpfer gegenüber arrogant und er behaupte seine eigene Göttlichkeit³⁸. Zudem kennzeichne diesen toten Menschen, dass, obwohl er seine Religion verlassen habe, er nicht hoffnungslos lebe, sondern nach Erfolg trachte und ambitioniert darin sei, seine Stärken herauszufinden und seine Möglichkeiten in dieser Welt zu erproben. Auch lebe der tote Mensch nicht isoliert und hoffnungslos, sondern strebe nach dem, was ihm zu einem guten Leben, Besitz und Genuss verhelfe³⁹. Auch an dieser Stelle wird ATs Sufi-Ideal deutlich, das sich teilweise aber nur schwer mit islamischen Quellen vereinbaren lässt, denn wie einige Verse zeigen, sieht es der Koran nicht als problematisch an, dass der Mensch nach Gutem strebt und seine Möglich-

   

Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 205. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 245. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 246. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 247.

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keiten auslotet um weltlichen Erfolg zu haben, solange dies im Bewusstsein religiös-gesellschaftlicher Verantwortung geschieht.⁴⁰ AT stellt nun die Frage, ob der faqīh iʾtimārī in der Lage sei, mit diesen Charakteristika des modernen Menschen umzugehen und ihn mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu beleben⁴¹. Nach seiner Art der Darstellung der oberflächlichen Denkweise des faqīh iʾtimārī erstaunt das Ergebnis seiner Analyse wenig: der faqīh iʾtimārī habe bloß drei Möglichkeiten, um mit dem modernen Menschen zu kommunizieren, diese seien: Einladung (daʿwa), Ermahnung (mawʿiẓa) und Ratschlag (naṣīḥa). Alle diese würden den modernen Menschen aber nicht erreichen, weil religiöse Werten ihm nichts bedeuten würden und er darauf nicht anspreche. Das Debattieren sei diesem faqīh mit dem „toten Menschen“ auch nicht möglich, weil es sich aus seiner Sicht bei einer solchen Art der Diskussion um eine ablehnenswerte Innovation in der Religion (bidʿa) handle, die nicht dem entspreche, wie man laut dem Koran kommunizieren sollte⁴². Nach ATs Darstellung entspricht dieser faqīh eher einem Automaten als einem des Denkens fähigem Menschen, geschweige denn einem Juristen, der die intellektuelle Fähigkeit haben muss, auf komplexe Fragestellungen Antworten aus den Primärquellen des Islams abzuleiten. Weil AT „dem“ faqīh die Fähigkeit komplex zu denken aber abzustreiten scheint, ist es seiner Ansicht nach nur klar, dass der tote, moderne Mensch diesem Automaten („faqīh iʾtimārī“) keine Beachtung schenkt. Daraufhin werde der faqīh noch extremer in seiner Schriftgläubigkeit und denke dabei fälschlicherweise, er verteidige die Religion, dabei verteidige er sich nur selbst, weil er sich von dem modernen Menschen persönlich angegriffen fühle. Dieser Gelehrte sei auch nicht in der Lage, dem Menschen die wichtigste Eigenschaft überhaupt mitzuteilen, also die Sittsamkeit, weil er schließlich nur mit haram und halal beschäftigt sei⁴³. Das einzige was der faqīh iʾtimārī tue, das Einfluss auf das Individuum und die Gesellschaft haben könnte, ist das Produ-

 Siehe z. B. den Koranvers: „Ihr Gläubigen! Wenn am Freitag zum Gebet gerufen wird, dann wendet euch mit Eifer dem Gedenken Gottes zu und laßt das Kaufgeschäft (so lange ruhen)! (…) Doch wenn das Gebet zu Ende ist, dann geht eurer Wege und strebt danach, daß Gott euch Gunst erweist (indem ihr eurem Erwerb nachgeht! Und gedenket Gottes ohne Unterlaß! [Aufdass] es euch (dann) wohl ergehe (Koran 62:9 – 10).  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 248.  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 248, bezieht sich hier auf einen Koranvers, bei der er der Ansicht zu sein scheint, dass muslimische Gelehrte in ihrer Art zu diskutieren bzw. zu argumentieren sich ausschließlich daran orientiert hätten. Wieder könnten LeserInnen glauben, Taha spricht hier von extremen Literalisten, tatsächlich kritisiert er aber die etablierten Juristen. „Ruf (die Menschen) mit Weisheit und einer guten Ermahnung auf den Weg deines Herrn und streite mit ihnen auf eine möglichst gute Art“ (Koran 16:125).  Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 73 – 74.

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zieren von Fatwas, die aber nur bloße Rede seien, ohne dass sie notwendigerweise umgesetzt werden und auch nicht zwingend das Verhalten des einzelnen Menschen ändern würden⁴⁴.

2.2 Der faqīh iʾtimānī Im Gegensatz zum faqīh iʾtimārī forscht der faqīh iʾtimānī in den Werten des aḫlāq, auf denen die Bestimmungen der Scharia aufgebaut sind, weswegen er nach AT auch als „Gelehrter über die Werte der iʾtimāniyya“ bezeichnet werden könne⁴⁵. Dieser Jurist habe als Basis seines Denkens und seiner Arbeit die iʾtimāniyya verinnerlicht, weswegen AT ihn als faqīh iʾtimānī bezeichnet. Diese Person komme ihrer Verantwortung als Erzieher nach und wird von AT mit dem für die SufiTradition typischen Terminus, nämlich als murabbī, bezeichnet⁴⁶. Seine Aufgabe sei das Betreuen und Leiten von Individuuen und das Beitragen zum Lösen gesellschaftlicher Herausforderungen. Beim modernen Menschen strebe der faqīh iʾtimānī nach dessen Wiederbelebung und sei bemüht, ihn aus der Lage des Treuebruchs (iḫtiyāniyya) in die Lage der iʾtimāniyya zu holen. Beim Treffen zwischen dem Individuum und dem faqīh iʾtimārī gehe es nicht um Oberflächlichkeiten, sondern um den Kern des Menschen. Wenn der faqīh nun über sein Konzept spreche und der Mensch mit der Idee übereinstimmt, so werde dessen Herz beruhigt. Ob der faqīh einen Muslim oder einen Nichtmuslim berate, sei dabei irrelevant, denn letzlich handele es sich um einen „modernen Menschen“, der sich an den faqīh wende⁴⁷. Der faqīh iʾtimānī sei darauf bedacht, dass nicht primär ein Regelwerk verinnerlicht werde, sondern die Werte der Regeln⁴⁸. Eine Grundüberzeugung dieses faqīh sei, dass die schönsten Namen Allahs die Basis der relevanten Werte seien. Die Scharia-Normen seien gekommen, um bestimmte religiös-ethische Werte und auch die Weise darzulegen, wie sich diese Werte angeeignet werden sollen. Nur dieser faqīh sei auch in der Lage, den Menschen die Sittsamkeit beizubringen⁴⁹. Bei dieser Art der Erziehung stehe die Praxis (ʿamal) im Vordergrund. Dabei unterscheidet AT zwischen „äußerer Handlung“, nämlich der Handlung der Gliedmaßen, und der „inneren Handlung“, die eine Erziehung

     

Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [2], 84. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 86. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 23. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 20. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 23. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 17.

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des Herzens bedeutet⁵⁰. Die Vermittlung und Erziehung beschränke sich auch nicht auf das bloße Vermitteln von Informationen, wie dies bei dem anderen faqīh der Fall sei. Hingegen verbringe er Zeit mit diesem „modernen Menschen“ und vermittle ihm nicht Distanz, sondern Nähe⁵¹.

2.3 Der Umgang des faqīh iʾtimānī mit dem „modernen Menschen“ Im Gegensatz zum faqīh iʾtimārī sei der faqīh iʾtimānī erfolgreich in der Kommunikation mit diesem Menschen, der durch den Verlust der ḥayāʾ gestorben ist. Anstatt mit Ge- und Verboten vorzugehen, arbeite der faqīh iʾtimānī praxisorientiert an der Umsetzung der Werte und predige nicht nur. Der „tote Mensch“ könne somit Nähe finden, die er sonst nicht erlangen würde⁵². Der murabbī beginne diesen Menschen nun zu erziehen, bis er in ihm die iʾtimānīya festige, danach könne er in den Ge- und Verboten unterwiesen werden⁵³. Die Arbeit dieses faqīh findet bei AT auf drei Ebenen statt. Auf der 1. Ebene werden die aḫlāq-Werte von den Gelehrten aus den Beurteilungen der Scharia ausgearbeitet. Diese werden den „schönsten Namen Gottes“ entnommen. Weil die Anordnungen der Scharia ein Ausdruck der Deutlichwerdung der schönsten Namen Gottes seien, sei es notwendig, dass die aḥkām mit den Namen Gottes verbunden seien, um mit ihnen die aḫlāq-Werte zu begründen. Die 2. Ebene ist praktischer Natur und betrifft die Handlungen. Denn faqīh zu sein bedeutet nach AT immer, dass die Praxis (ʿamal) in der Arbeit eine Bedingung sei. So gäbe es keinen fiqh ohneʿamal und keinen faqīh der nicht praxisorientiert (ʿāmil) arbeiten würde. Ansonsten, wenn dem nicht so ist, so wäre er bloß ein Forscher. Jedoch das Wissen allein sei ohne eine praktische Umsetzung nicht nützlich. Die 3. Ebene ist jene der Anwendung (istiʿmāl), die auch von beiden faqīhs ausgeführt wird, aber AT unterscheidet zwischen al-istiʿmāl al- iʾtimārī, bei der es um die Beobachtung und Begleitung anderer bei der Anwendung von Anordnungen geht, und dem al-istiʿmāl al-iʾtimānī. Letztere bedeute die Beobachtung anderer bei der Praxis mit dem, was an Scharia-Anordnungen verborgen sei und das Aneignen von Werten betreffe⁵⁴. Somit kann von ATs Ausführungen ge    

Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 254– 255. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 255 – 256. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 273. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 274. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 22.

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schlossen werden, dass es beide faqīhs braucht, aber primär, für die Läuterung und Erziehung des Menschen, den faqīh iʾtimānī. Die Rolle des faqīh iʾtimārī sei sekundär und beschränke sich auf die Vermittlung von Regeln. Mit den Beiträgen der beiden Juristen hofft AT letztendlich, dass sie ihr Bestmögliches leisten, um Probleme dieser Zeit zu lösen.

2.4 Unterschiede im Rechtsdenken zwischen den beiden Juristen am Beispiel der „ḥudūd Allah“ Hinsichtlich der ḥudūd, der festgesetzten Strafen in Koran und der Prophetentradition, kritisiert AT die muslimischen Gelehrten dafür, dass sie den Ausdruck im Koran „ḥudūd Allāh“ auf eine ausschließlich juristische Art verstanden hätten. Das fiqh-Verständnis sei eingeschränkter als das koranische Verständnis davon und betreffe Themen wie Diebstahl, Trunkenheit, etc. Aus vielen Gründen sei es nicht korrekt, das Wort „ḥadd“ auf den fiqh-Bereich zu beschränken⁵⁵. AT schlägt vor, dass die ḥudūd als eine ethische Idee verstanden werden sollten, die mit den asmāʾ Allah al-ḥusnā und ihren moralischen Lehren und Implikationen verbunden werden sollten⁵⁶. Richtig interpretiert sollten die ḥudūd den Menschen helfen, zu der Idee der iʾtimāniyya zurückzukehren⁵⁷. Dies solle mit Hilfe des faqīh iʾtimānī geschehen, da das Verständnis des faqīh iʾtimārī beschränkt und nur auf die aḥkām beschränkt seien⁵⁸. Das wahre Verständnis sei jedoch, dass die Grenzen und Regeln und ihre Befolgung nicht das endgültige Ziel seien. Hingegen sei die korrekte Sicht darauf, dass die Anordnungen Gottes den Menschen aus seiner ḥāla al-ḫiyāna herausführen sollen, die er betreten habe⁵⁹.

    

Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 120. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 119. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 135. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 129. Ṭāhā: Dīn al-ḥayāʾ [1], 135.

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3 Ethik als Basis von Abdurrahman Tahas juristischem Denken 3.1 Abdurrahman Tahas Interpretation der „Ziele der Scharia“ (maqāṣid aš-šarīʿa) ATs Kritik an der Arbeitsweise der Juristen setzt sich im Bereich der maqāṣid fort, denn er wirft ihnen vor, bei der Kategorisierung der maqāṣid ausschließlich auf materielle Aspekte des Lebens geachtet zu haben, die nicht-physischen hingegen ignoriert zu haben⁶⁰. Hier scheint AT auf die traditionelle Vorstellung von den maqāṣid anzuspielen, wie sie über Jahrhunderte bekannt war, nämlich Schutz der Religion, des Lebens, des Verstandes, der Familie und des Vermögens. AT fordert eine Erneuerung dieser Vorstellung, der die Ethik zugrunde liegen sollte. Ohne konkrete Namen zu nennen, wobei anzunehmen ist, dass er al-Ġazālī meint, auf den diese Kategorisierung zurückgeht, wirft er Gelehrten vor, dass sie sich nicht an die Grundlagen der Scharia gehalten hätten, indem sie bei dieser Kategorisierung materielle Aspekte in den Vordergrund gestellt hätten⁶¹. Eine Reform des bisherigen maqāṣid-Verständnisses sollte darin bestehen, dass die maqāṣid, auf ein Wissen des islamischen noblen Charakters (ʿilm alaḫlāq al-islāmī) aufgebaut werden sollten. Außerdem sollten die maqāṣid nicht einen Unterbereich der uṣūl al-fiqh darstellen, sondern eine eigene, unabhängige Disziplin ausmachen⁶². Eine weitere Kritik an den Juristen besteht in ihrer Einteilung der maqāṣid in notwendig zu schützende Güter (ḏarūriyāt), die Bedürfnisse decken (ḥāǧiyāt) und die eine Verbesserung des Lebens mit sich bringen (taḥsiniyāt). Üblicherweise beinhalten die ḏarūriyāt fünf Rechtsgüter: Religion (dīn), Leben (nafs), Verstand (ʿaql), Abstammung (nasl) und Vermögen (māl). Der Philosoph bemängelt, dass diese Güter auf diese Zahl beschränkt wurde und dass vor allem gerade diese Güter in der üblichen Klassifikation beachtet wurden. Er sagt, dass es keinen Grund gebe, warum diese Beschränkung weiterbestehen sollte und den traditionellen Gütern keine weiteren hinzugefügt werden sollten⁶³. Wie bei vielen anderen Themen, die der Philosoph behandelt, fällt auch an dieser Stelle auf, dass er seine Beträge nicht in einen weiteren Rahmen stellt und diese

 Ṭāhā, ʿAbd ar-Raḥmān: Su’āl al-Manhāǧ: Fī ufuq at-ta’sīs li unmūḏaǧ fikrī ǧadīd, hg.v. Riḍwān Marḥūm. Beirut: al-Mu’assasa al-ʿArabiyya lil-Fikr wa-l-Ibdāʿ, 2015, 85.  Ṭāhā: Su’āl al-Manhāǧ, 94– 95.  ebd.  Ṭāhā: Su’āl al-Manhāǧ, 111– 112.

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nicht kontextualisiert. Denn er ist bei weitem nicht der einzige Intellektuelle, der eine Erweiterung dieser klassischen Güter fordert.⁶⁴

3.2 Abdurrahman Tahas Vorschlag für eine neue Kategorisierung der maqāṣid Ein starker Kritikpunkt von AT betrifft die 3. Kategorie der traditionellen Gliederung, die taḥsiniyāt, unter die viele uṣūl-Gelehrte den „guten Charakter“ (makārim al-aḫlāq) gereiht haben. AT vertritt, dass es falsch sei, dass der gute Charakter nicht unter die erste Kategorie, die der Notwendigkeiten, gereiht wurde. Die makārim al-aḫlāq unter die 3. Kategorie zu stellen, impliziere nämlich, dass sie lediglich als ergänzende Güter erachtet werden, die somit auch als entbehrlich verstanden werden können, sodass der Mensch frei sei entsprechend dieser zu handeln oder sie zu missachten. ATs Argument ist, dass der gute Charakter nicht bloß etwas Ergänzendes sein könne und er stützt sich dabei auf die prophetische Tradition in der es heißt: „Wahrlich, ich bin gesandt worden, um den guten Charakter zu vervollständigen“ (Innamā buʿiṯtu li-utammim makārim al-aḫlāq). Der Philosoph vertritt, dass es unmöglich sei, dass die prophetische Mission reduziert werde auf etwas, das ergänzend und das Notwendige lediglich unterstützen sollte⁶⁵. AT argumentiert, dass die makārim al-aḫlāq alle Nutzen (maṣāliḥ) in der Scharia beinhalten. Diese Erkenntnis bringt ihn dazu eine neue Klassifikation vorzunehmen, die die Ethik zur Grundlage hat. Er schlägt die folgenden Punkte als Grundlage des maqāṣid-Denkens vor: 1. Die Werte von Nutzen und Schaden (qiyam an-nafʿ wa aḍ-ḍarar). Diese könnten identifiziert werden durch Empfindungen wie Genuss (lizza) wenn Nutzen, oder Schmerz, wenn Schaden erfahren wird. Güter, die diesen Werten zugeschrieben werden sind jene der Nutzen (maṣāliḥ), die verbunden sind mit Leben (nafs), Gesundheit (ṣiḥḥa), Nachkommenschaft (nasl) and Besitz (māl). An dieser Stelle erwähnt AT kein Beispiel, das klarmachen würde, wie z. B. ein Jurist seinen Vorschlag umsetzen sollte. Auch sind die Wahrnehmung und

 Für die Forderung, dass die bisherigen Kategorien um den Umweltschutz erweitert werden sollten siehe z. B. an-Nağğār, ʿAbd al-Mağīd: Maqāṣid aš-šarīʿa bi abʿād ğadīda. Beirut: Dār alĠarb al-Islāmī, 2006. Für das gleiche Argument, aber die Menschenrechte betreffend, siehe Bassiouni, Mahmoud: Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität. Berlin: Suhrkamp, 2014.  Ṭāhā, ʿAbd ar-Raḥmān: Taǧdīd al-manhāǧ fī taqwīm at-turāṯ. Casablanca: al-Markaz aṯ-ṯaqāfī alʿArabī, 21993,112.

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2.

3.

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Auffassung von gut und schlecht, Nutzen und Schaden, sehr subjektiv. Deswegen stellt sich die Frage, wer beurteilen sollte, was von Nutzen ist und worin Schaden besteht? Sollte das jedem Individuum überlassen sein? Oder sollte sich diesen Fragen eine Gruppe von Juristen oder Ethikern annehmen? Was auch überrascht ist, dass AT als explizit religiöser Ethiker keine religiöse Perspektive auf seine Vorschläge erwähnt. Denn bei seinen Vorschlägen spricht er ausschließlich von diesseitigen Empfindungen, ohne dabei die Aspekte der Geduld und das Hoffen auf Entschädigung für erlittenen Schaden in der nächsten Welt in Betracht zu ziehen. Die Werte von gut und schlecht (qiyam al-ḥasan wa-l-qubḥ)⁶⁶. Gefühle mit denen diese identifiziert werden können sind: Freude (faraḥ) wenn etwas Positives oder Trauriges, etwa bei Verlust, erfahren wird. Nutzen, die unter diese Bedeutungen fallen, seien z. B.: Sicherheit, Freiheit und Frieden. Auch hier stellt sich wieder die Frage: wer soll festlegen, was gut und was schlecht ist? Werte von Rechtschaffenheit und Verdorbenheit. Empfindungen, die diese Kategorien feststellen können sind: Freude, wenn ein Nutzen erfahren wird oder Kummer, wenn Not gefühlt wird. Emotionen, die zu diesen Werten gehören seien spirituelle Aspekte der Religion wie Barmherzigkeit und Liebe.

Nach AT sei der Nutzen dieser Kategorisierung: 1. Die Vermehrung von Werten: ein juristisches Urteil wäre demnach nicht mehr auf lediglich einem Wert gegründet und auch nicht nur durch einen Nutzen gerechtfertigt. 2. Ein weiterer Nutzen sei der Vorrang spiritueller Werte gegenüber materialistischen Prioritäten im Prozess des Rechtsdenkens. AT argumentiert, dass Juristen und Gelehrte sich bis jetzt auf Werte konzentriert hätten, die das materielle Leben betreffen, wie: Leben, Nachkommenschaft, Vermögen etc., während spirituelle Nutzen als Teile der taḥsiniyāt erachtet worden wären. Diese Nutzen werden bei AT aber nun zu den höchsten aller Ebenen angehoben, denn sie seien am ehesten in der Lage, den guten Charakter zu fördern, was ein zentrales Element in ATs Denken darstellt⁶⁷.

 Ṭāhā: Taǧdīd al-manhāǧ fī taqwīm at-turāṯ, 113.  Ṭāhā: Taǧdīd al-manhāǧ fī taqwīm at-turāṯ, 113 – 114.

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Fazit Nachdem AT betont, dass sein philosophisch-ethisches Konzept durch Praxistauglichkeit gekennzeichnet sei, wollte dieser Artikel bisherige Analysen des Denkens von AT mit praktischen Aspekten seiner Überlegungen ergänzen. Dafür wurde gezeigt, wie AT die konkrete Umsetzung seines Denkens in der Arbeit und Verantwortung der Juristen bzw. Gelehrten vorsieht, indem sie einerseits der Gesellschaft Werte seines Konzepts lehren und andererseits auf diesen Werten auch die juristische Arbeit aufgebaut wird. Als weiteres Beispiel dafür, wie sich nach AT seine Ethikvorstellungen im Recht manifestieren sollten, wurden seine Vorschläge zu einer Überarbeitung der traditionellen Kategorien der maqāṣid vorgelegt. Insgesamt wird es als positiv gesehen, dass AT zu den aktuell zahlreichen Beiträgen vieler GelehrtInnen und Intellektuellen beitragen möchte, um das islamische Recht ethisch auszurichten, und dafür auch konkrete Vorschläge für die Theorie und Praxis einbringt. Irritierend ist jedoch, dass er sein eigenes Denken innerhalb der zahlreichen Beiträge anderer DenkerInnen nicht kontextualisiert. Dies fällt u. a. bei seinem Ruf nach einer Reform der maqāṣid auf, wo es lange vor AT bereits Vorschläge zu einer Erweiterung ihrer klassischen Güter gab, die auf ethischen Überlegungen fußen sollten. Der Eindruck, der durch ATs nicht-Kontextualisieren bei der Leserschaft entsteht, ist, dass unter allen muslimischen Intellektuellen einzig und allein AT eine ethikbasierte, intellektuell tiefgreifende und nachhaltige Reform als notwendig ansieht und sich darum bemüht, wohingegen alle anderen muslimischen Gelehrten sich seit Jahrhunderten ausschließlich mit Oberflächlichkeiten aufhalten. Das zeigt sich u. a. in seinem Vorwurf, dass „die“ Juristen nur an halal und haram interessiert wären, aber ethischen Überlegungen keinen Platz einräumen würden. Der Eindruck, dass AT der einzige Reformer wäre, der den Islam korrekt versteht, wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass der Philosoph namhaften Gelehrten und Juristen der islamischen Geschichte vorwirft, sie hätten den Islam und die Scharia nicht verstanden. Seine Vorwürfe sind äußerst harsch, er zitiert keine Gelehrten um dann seine Kritik zu konkretisieren, sondern bleibt sehr allgemein und vermittelt damit einen Eindruck von der islamischen (Ideen‐) Geschichte, die der Realität nicht gerecht wird. Trotz mehrerer kritischer Anmerkungen stellt ATs Beitrag zur aktuellen Diskussion zu einem ethikorientierten Rechtsdenken fruchtbare Ansätze bereit. Seine Überlegungen können dazu dienen, Aspekte der Spiritualität und Ethik im Prozess der Rechtsfindung zu berücksichtigen und in die Arbeit einfließen zu lassen.

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Rationalism, Metaphysics and Science: Ṭabāṭabāʾī and al-Ṣadr Facing Western Challenges Introduction Ṣadr al-Dīn Shīrāzī (1572– 1640), also known as Mullā Ṣadrā and Ṣadr al-Mutaʾallihīn, was a contemporary of the father of modern philosophy, René Descartes (1596 – 1650). As it is well known, the latter knew very well how to disconnect himself from medieval Aristotelianism, thus establishing and opening a new phase in human thought.¹ On the other hand, the former, in whose works scholars only gained interest a few decades ago, was no less critical of Aristotelianism and no less a modernist than Descartes himself, as I will explain below. Still, he did not expect to have as much influence as he did, beginning after his death and lasting through the present in the Islamic world, especially among the branch of Shīʿa known as the “Twelver” or “Imāmiyya.” In this article, I focus on aspects of the concept of substantial motion, especially in the works of the philosopher Mullā Ṣadrā, whose thoughts many consider to have comprised a great turning point in comparison to his predecessors, Aristotle and Ibn Sīnā. Furthermore, I discuss the reverberations of this concept in modern times. Mullā Ṣadrā, who greatly impacted the succeeding generations of Shīʿa scholars and remained faithful to his teachings and legacy, earned himself a prestigious reputation as the father of modern Shīʿa philosophy. Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabāʾī and Muḥammad Bāqir al-Ṣadr were among the twentieth-century thinkers who were deeply influenced by Mullā Ṣadrā’s tradition. Among other things, the echoing of Mullā Ṣadrā’s concept of substantial motion was quite common in their writings, especially those dedicated to struggle against philosophical ideas prevalent in modern science and to combatting historical materialism, the backbone of Marxism. Paralleling Aristotle’s Physics, Ibn Sīnā defines motion in al-Samāʿ al-Ṭabīʿī as follows: “[M]otion is the first perfection belonging to what is in potency from

 René Descartes: Meditations on First Philosophy, trans. John Cottingham. Cambridge: Cambridge University Press, 2017. https://doi.org/10.1515/9783110588590-013

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the perspective of what is in potency.”² Moreover, in a treatise entitled al-Ḥudūd (The Definitions), Ibn Sīnā adds to the previous definition, writing: “[I]t is the transition from potentiality to actuality [but] not all at once.”³ Motion is, therefore, the actualization of a potentiality, considering that this process is carried out gradually and not all at once. In this sense, it can be said that gradual motion exists in four of the ten known Aristotelian categories: quantity, quality, where, and position. ⁴ In quantity, motion is the growth or deterioration of the substance; in quality, it is the change of the substance from a certain quality to another;⁵ in where, it is the movement of the substance from one place to another; and in position, it is the changing relationship between the different components of the substance, like the transition from standing to sitting.⁶ In addition, motion does not exist in any of the other categories, namely, substance, relation, property, when, action, and affection. It can exist in some of them metaphorically, i. e., not a gradual change but all at once (dufʿa), and in this sense it is not considered a real motion.⁷ The phrase, first perfection, mentioned in Ibn Sīnā’s definition of motion, denotes a state of incomplete actuality. The intention is that motion is not over, and

 Avicenna: The Physics of the Healing, vol. 1, translated, introduced, and annotated by Jon McGinnis. Provo (Utah): Brigham Young University Press, 2009, 110.  Ibn Sīnā. “Al-Ḥudūd,” [Definitions]. In Al-Muṣṭalaḥ al-Falsafī ʿind al-ʿArab [The philosophical Terminology Among the Arabs], ed. ʿAbd al-ʾAmīr al-ʾAʿsam. Beirut: Al-Muʾassasa al-ʿArabiyya li-al-Nashir, 1997, 252. See also: Ibn Sīnā: Al-Najāt [Deliverance], ed. Mājid Fakhrī. Beirut: Dār alʾĀfāq, 1985, 142, 144; Al-Jurjānī: Al-Taʿrīfāt [Definitions], ed. Muḥammad ʿUyūn al-Sūd. Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya, 2000), 89. To compare with Aristotle’s definition of motion, see: Aristotle. “Physica”. In The Works of Aristotle, vol. 2, ed. Willian D. Ross. Oxford: Clarendon Press, 1970, 10a 201.  In his Maqūlāt, Ibn Sīnā adds two other motions that occur in the category of substance; generation (takawwun) and corruption (fasād): Ibn Sīnā. “Al-Maqūlāt” [Categories] In Al-Shifāʾ [Healing], vol. 10 ed. Ibrāhīm Madkūr et al. Cairo: Al-Hayʾa al-ʿĀmma, 1959, 271– 272. To compare with Aristotle’s view explained by Ackrill, see: J. L. Ackrill: Aristotle’s Categories and De Interpretatione. Oxford: Clarendon Press, 1963, 112. It is worth noting that Aristotle devoted his work De Generatione et Corruptione to discuss the two motions (generation and corruption) and following him many peripatetic philosophers like Ibn Sīnā and Ibn Rushd produced parallel writings talking about the same subject.  Contrary to takawwun, which is a change that occurs in the substance itself, istiḥāla is a change that occurs in a quality attached to the substance. About the difference between these two concepts, see: Ibn Sīnā. “ Al-Kawn” [Generation] In Al-Shifāʾ, vol. 2, ed. Ibrāhīm Madkūr et al. Cairo: Al-Hayʾa al-ʿĀmma, n.d., 122– 132.  Ibn Sīnā, Maqūlāt, 233.  See Aristotle Physica, 226a 23–35. For a comparison between two types of categories, those whose motion is gradual and those whose motion is immediate, see: Avicenna: The Physics of the Healing, 136 – 151.

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that the moving body is between two points: A and B, where A is the beginning and B is the end. As long as the moving body has not reached point B, it is in a state of first perfection or incomplete actuality; but if the body reached point B, it is in a state of final perfection–the end of motion.⁸ The motion of first perfection (kamāl awwal) is a stage towards the second perfection (kamāl thānī), which is the end of motion. In his position on the categories where motion takes place, Ibn Sīnā remains more or less faithful to the Aristotelian tradition. Feeling obliged to preserve Aristotle’s conception of the categories in which motion takes place, he protects his physics based on a clear distinction between substance (jawhar) and accident (ʿaraḍ), along with the entire ontology involved in the relationship between these two concepts. This philosophical foundation was very important to Ibn Sīnā in his struggle against Muslim theologians (mutakallimūn), especially those who advocated a different physical model than the Aristotelian one. For instance, the atomists developed a physical worldview based on dividing the object into the most fundamental basic particles, none of which can be divided any further (juzʾ lā yatajazzaʾ/jawhar fard). Through this atomism, they seek to prove some of their important doctrines, such as the creation of the world from nothing (ex-nihilo).⁹ At the same time, Ibn Sīnā, who promoted Aristotelian physics, attacks these Atomists in some of his works while defending the doctrines of the philosophers with regard to the eternity of the world.¹⁰ Thus, issues such as the creation of the world, or the providence of God, took on a new shape in Islamic culture, especially in light of the conflict between kalām (Islamic theology) and philosophy. After Ibn Sīnā, the Aristotelian philosophical system continued to dominate, especially in the eastern part of the Islamic empire. The emergence of Mullā Ṣadrā in the Islamic philosophical scene in the seventeenth century proved to be a crucial turning point, since he revolutionized all matters related to the concept of motion. Mullā Ṣadrā, who operated during a period in which philosophical preoccupation was not admired, especially among traditional Shīʿa circles, felt the need to legitimize philosophic practice by redefining the Aristotelian philosophical system so it could satisfy the spiritual needs of the Muslim believer. Thus, it could be said that he opened a new chapter in the history of Islamic

 Quality is the end of any action (fiʿl) or affection (infiʿāl): Ibn Sīnā, Maqūlāt, 68. To compare with Aristotle, see: Aristotle. “Metaphysica”. In The Works of Aristotle, vol. 8, ed. William D. Ross. Oxford: Clarendon Press, 1928, 1066a 20 – 21.  For more about atomism, see: Pines, Shlomo: Studies in Islamic Atomism, ed. Y. Tzvi. Langermann, trans. Michael Schwarz. Jerusalem: The Magnes Press, The Hebrew University, 1997.  Avicenna, The Physics of the Healing, vol. 2.

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philosophy whose influence is still felt today. Although basic Aristotelian concepts exist in his works, these concepts are assigned new meanings in the process of being integrated into a new system of thought. In contrast to traditional Aristotelianism, Mullā Ṣadrā’s radical change took root in his central argument that motion takes place not only in the four aforementioned categories (quantity, quality, where, and position), but rather within the category of substance. ¹¹ To understand this transformation, we must first explore Mullā Ṣadrā’s ontological point of departure, which is also an important shift in the development of later Islamic philosophy. Contrary to the prevailing position in Islamic philosophy, which gave precedence to essence over existence (aṣālat al-māhiyya),¹² Mullā Ṣadrā claims that essence is among the first intelligibles (maʿqūlāt ʾūlā), while existence is among the second intelligibles (maʿqūlāt thāniya). Moreover, he argues that existence precedes essence (aṣālat al-wujūd) and that existence has priority over essence, since existence is the basic truth and essence derives from it.¹³ For example, an outdoor fire has some qualities that accompany it, like smoke and heat. The question is, do these qualities stem from the essence of the fire or from its very existence? According to the principle of precedence of existence (aṣālat al-wujūd), the qualities derive from the existence of fire, and the same can be said of all phenomena occurring in nature.¹⁴ Based on this argument, Mullā Ṣadrā examines the philosophical tradition that preceded him.¹⁵ Among other things, he refers to the category of substance as an ontological rather than logical,¹⁶ and defines the motion that takes place within this cat-

 There are ten categories, divided into nine accidents and one substance. The nine accidents are: quantity, quality, relation, when, where, position, property, action and affection: Aristotle. “Categoriae”. In The Works of Aristotle, vol. 1, ed. William D. Ross. Oxford: Clarendon Press, 1966.  For more information about this major issue in Mullā Ṣadrā’s thinking, see: Sayeh Meisami: Mulla Sadra. London: One World, 2013, 23 – 41.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya [Transcendent Wisdom], vol. 1 Beirut: Dār Iḥyā’ al-Turāth al-ʿArabī, 1999, 332– 335. For example, he writes: “Existence is the real reality, while essence unites with it in a certain way, and there is no dispute about the distinction between existence and essence being an epistemological distinction and not a concrete reality” in Mullā Ṣadrā: AlḤikma al-Mutaʿāliya, vol. 1, 67. Later, he adds: “The principle of all things is their existence, [while their] essence belongs to it” in Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 3, 87.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 1, 38 – 39. He adds: “Existence is lofty than to be dependent on a certain cause” in Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 1, 54.  For more information about the various theological and philosophical implications of the argument regarding the primacy of existence over quiddity in Mullā Ṣadrā, see: Aḥmad alAḥsāʾī: Sharḥ al-Mashāʿir, vol. 1. Beirut: Muʾassasat al-Aḥsāʾī, 2007, 59.  It was Porphyry (d. 305) who perpetuated the logical interpretation of Aristotle’s Categories. Later, some Muslim philosophers and logicians who adopted this position followed him. See:

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egory as one containing a real existence (ṣifa wujūdiyya).¹⁷ The Aristotelian tradition, conversely, rejected any motion within this category and divided existents into substance and accident.¹⁸ For Aristotelian philosophers, “Accident is what exists within a thing” (al-mawjūd fī shayʾ),¹⁹ whereas “substance is the one that does not exist in a subject” (al-mawjūd lā fī mawḍūʿ),²⁰ but motion needs a subject to take place in it. Hence the classical argument adopted by Peripatetic Muslims that motion cannot exist within a substance, but it can exist in certain accidents; i. e., in the categories of quantity, quality, where, and position. According to Mullā Ṣadrā, since what appears to our senses are constantly changing accidents, the cause of them should be changeable too.²¹ In other words, the catalyst of the change in the four mentioned accidents is the variable substance; if the effect was changed, then its cause should also be changed.²² Motion, then, is not an external accident, but rather the constant flow of the substance itself.²³ When we say, for instance, that the color of the apple changes, it happens because the motion that occurs inside the apple itself caused this change, and not because the motion is limited to some characteristics accidently attached to the apple, such as its color or size. Hence, the process for a fetus to develop into a spiritual entity is not sudden but rather gradual.²⁴ The fetus develops towards achieving certain perfection, which is its inherent nature as determined by God (al-ʿināya al-rabbāniyya).²⁵ It is also possible, however, that the development will be negative, in the sense that it indicates deterioration resulting from certain physical constraints or the inability of the fetus to develop well.²⁶ In any case, when discussing fetal development, the intention is that the development goes beyond any of the accidents that may accompany it. Such a development does

Porphyry: On Aristotle’s Categories, trans. Steven K. Strange. Ithaca, NY: Cornell University Press, 1992.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 3, 38.  Like Ibn Sīnā’s position, which I previously described.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 4, 235.  ibid., 245.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 3, 33 – 34. He adds: “The cause of a changeable [object] is changing and the cause of a permanent one is permanent” in Mullā Ṣadrā, 1999, 33 – 34.  Nevertheless, this does not mean that God is a changing reason. God did not cause change to existents to say that He is changing; rather He invented existents so that their change is inherent in their essence.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 3, 69, 85.  To compare this with the Quranic view of the development of fetus, see: Quran, 23:12– 14.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 4, 273.  ibid.

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not occur at once, as in the case with Aristotle’s generation and corruption;²⁷ rather, it happens gradually. The sperm of man develops until it reaches the level of the plant, and then the gradual development continues until it attains the level of the animal, and finally the level of a human is achieved.²⁸ The transition from one level to another is a continuous one and not according to the Aristotelian process. Therefore, some substances are more intense in their existence than others because they reached a level of perfection much more advanced than the others. The substantial motion is a motion within the existence of an object rather than within its quiddity (ḥaraka fī wujūd al-shayʾ lā fī māhiyyatihi).²⁹ This physical and dynamic picture that Mullā Ṣadrā creates implies that physical objects are constantly changing, and they always move from one existential level to another.³⁰ Furthermore, Mullā Ṣadrā argues that they do not differ in their existence, but rather all objects belong to the same existence and have different degrees of it (tashkīk al-wujūd). Just as light can exist to various degrees (such as sunlight, moonlight and candlelight), so too do objects share the same existence each to a different degree. Thus, for some objects existence is strong, and for others it is weak; ultimately each has its own level.³¹ These degrees apply to both substances and accidents as well.³² In Ibn Sīnā’s model, objects differ in their existence because they differ in their essence; there is no ontological transition between the different existents, but in Mullā Ṣadrā’s view, this transition is possible because there is a common ontological infrastructure similar to that in numbers, where each number is included in the number above it.³³

 In the case of corruption, the substance ceases to be what it was since it accepts a new form and becomes a new substance; this is the meaning of generation. See: Aristotle. “De Generatione Et Corruptione”. In The Works of Aristotle, vol. 2.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 4, 274. You can compare this concept with Mullā Ṣadrā’s Quranic explanation of the development of man: Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 7, 127– 128. “First, man is created from inferior things, defective materials and weak bodies [..] then from dark dirt [..] and then from sperm”. Compare also with Ikhwān al-Ṣafā (10th century), who claimed that there are links between the different species in nature in a way that a certain species is connected with another until it reaches the most developed species, mankind. See: Ikhwān al-Ṣafā: Rasāʾil Ikhwān al-Ṣafā [Epistles of Ikhwān al-Ṣafā], vol. 3. Qom: Maktab alIʿlām al-Islāmī, 1984, 224– 229.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 4, 276.  To learn more about this major issue in Mullā Ṣadrā’s thinking, see: Christian Janbet: The Act of Being: The Philosophy of Revelation in Mullā Ṣadrā. New York: Zone Books, 2006, 191– 227.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 1, 35 – 37, 264; Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 4, 273 – 276.  Mullā Ṣadrā: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya, vol. 4, 276.  For example, three is included within four, four is included within five, etc.

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Many of the greatest Shīʿa thinkers of the twentieth century continued the tradition that Mullā Ṣadrā started. They employed this tradition in their struggle against Western philosophical streams, especially against the philosophical currents that had a materialistic character, such as Marxism. Among those thinkers were Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabāʾī and Muḥammad Bāqir al-Ṣadr, two pioneers who laid the foundations for a new philosophy that derived its major conceptions from Islamic heritage. Ṭabāṭabāʾī (1904 – 1981) was considered to be the man who revived the philosophy of Mullā Ṣadrā.³⁴ His work in this field were influential in making the philosophy a part of the curriculum of contemporary religious institutions in Iran,³⁵ the most important of which is the prestigious religious institution Qom. In his well-known work, The Principles of Philosophy (Uṣūl al-Falsafa),³⁶ Ṭabāṭabāʾī purports to speak in a discourse based on demonstration (burhān) and on premises that are subject to pure rational thinking, instead of experience. From the outset, Ṭabāṭabāʾī felt that he faced two strong challenges that posed a real threat to Islam; materialism on the one hand and modern science on the other. He found it fit to write a book that clarifies the legitimacy of Islamic philosophy in light of the challenges posed by Western civilization.³⁷ Notably, he omitted the agnostic element (ʿirfān) that characterizes Mullā Ṣadrā and his followers, because of its irrational nature. Despite this difference, Ṭabāṭabāʾī is considered one of the proponents of Mullā Ṣadrā’s philosophy and under his influence; Ṭabāṭabāʾī emphasizes the

 To read more about his biography and intellectual enterprise, see: Louis Medoff, “Ṭabaṭabāʾi, Muḥammad-Ḥosayn”. In Encyclopædia Iranica online edition, last updated June 13, 2017. http:// www.iranicaonline.org/articles/tabatabai-mohammad-hosayn.  See, e. g., one of Ṭabāṭabāʾī’s major works that was inspired by the philosophy of Mullā Ṣadrā, which was translated into English: Ṭabāṭabāʾī: The Elements of Islamic Metaphysics (Bidāyat al-Ḥikmah), trans. Sayyid ʿAlī Qūlī Qarāʾī. London: Saqi Books, 2003.  Originally, this work was written in Persian and then translated into Arabic by ʿAmmār Abū Raghīf with the detailed commentary of the Iranian philosopher and Ṭabāṭabāʾī’s disciple, Murtaẓā Muṭahharī (d. 1979). See: Ṭabāṭabāʾī: Uṣūl al-Falsafa [Principles of Philosophy], translated by ʿAmmār Abū Raghīf with the commentary of Murtaẓā Muṭahharī, Al-Muʾassasa al-ʿIrāqiyya li-al-Nashir, 1997.  One of the ways in which Ṭabāṭabāʾī was exposed to Western thought is the dialogue he conducted with the well-known French Orientalist Henry Corbin (d. 1978), who taught philosophy in Iran and had many meetings and talks with Ṭabāṭabāʾī, as Nasr testifies. See: Seyyed Hossein Nasr: The Islamic Intellectual Tradition in Persia, 327; Seyyed Hossein Nasr: Traditional Islam in the Modern World. London and New York: Kegan Paul, 1987, 279.

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primacy of existence over essence.³⁸ Consequently, he emphasizes the ontological character of Islamic philosophy, which he believes is able to explore the existence of any object, its cause, and its existential level.³⁹ In this respect, philosophy differs from science. The latter takes the existence of the object for granted, and all it does is investigating the object’s properties (khawāṣṣ). The physicist, according to Ṭabāṭabāʾī, studies the characteristics of the physical body and does not bother to ask questions about the ontological status of that very body because, for him, science usually complements what philosophy has already proven.⁴⁰ However, according to Ṭabāṭabāʾī, modern philosophies, most of which rely on experience, accuse “metaphysical philosophy” (al-falsafa al-ilāhiyya)–the school to which he belongs–of having invalid principles, since the latter is not the result of experience and hence cannot be the basis for philosophy or science. Ṭabāṭabāʾī maintains that the source of this mistake committed by modern philosophies lies in the way in which they integrate science and philosophy, rather than separating them. While science is based on experience, philosophy must be based on demonstrative reasoning (burhān) in the Aristotelian sense of demonstration.⁴¹ Philosophy should not be based on experience, because science is changing continuously and philosophy should explore the fixed and the eternal.⁴² Philosophy does not need science, whereas science needs philosophy to prove the ontological existence of its objects of inquiry.⁴³ The scope of philosophy is broader than that of science; it includes the spiritual world without which the entire system of faith would collapse. Therefore, Ṭabāṭabāʾī argues that any denial of the truths of metaphysics is a sophistication that lacks any rational basis.⁴⁴ In the second volume of his work, The Principles of Philosophy, Ṭabāṭabāʾī discusses the concept of “motion” very elaborately.⁴⁵ Like Mullā Ṣadrā, he precedes the discussion on motion with a discussion about the two major Aristote-

 The commonly held view credits the prioritization of existence over essence to philosophers who lived long after Mullā Ṣadrā, such as the existential philosophers of the twentieth century, most notably Martin Heidegger (d. 1976) and Jean Paul Sartre (d. 1980).  Ṭabāṭabāʾī: Uṣūl al-Falsafa, vol. 1, 60.  ibid., 61.  Aristotle’s theory of demonstration is explained in detail in his famous work, Posterior Analytics. See: Aristotle: Posterior Analytics, trans. Jonathan Barnes. Oxford: Clarendon Press, 1993.  Ṭabāṭabāʾī: Uṣūl al-Falsafa, vol. 1, 70.  ibid,. 72.  Ṭabāṭabāʾī: Uṣūl al-Falsafa, vol. 1, 98.  Ṭabāṭabāʾī: Uṣūl al-Falsafa, vol. 2, 371– 392.

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lian concepts, “potential” (bi-al-quwwa) and “actual” (bi-al-fiʿl),⁴⁶ and the gradual transition from the first to the second. For Ṭabāṭabāʾī, actuality is the end of contingency (imkān), just as the beginning of the form (ṣūra) of a ripe apple marks the end of the form of a seed of the same apple, so that continuity is maintained throughout this gradual transition. Within each body, the two elements of motion, potentiality and actuality, are mixed.⁴⁷ The same holds for existence and non-existence, which are integrated inside the physical body during its motion. What is actually now contains within it the absence of what existed before. But this does not imply any violation of the law of non-contradiction, since existence and non-existence are not simultaneous, but rather one follows the other.⁴⁸ In another example, Ṭabāṭabāʾī writes that motion in place (al-ḥaraka fī alayn) is a body that at any given moment stands in another place. This body is one, but it is characterized by continuous flow and change.⁴⁹ This notion applies to all types of motion that cause changes within the physical body, not just to the motion in place. Hence, Ṭabāṭabāʾī defines motion in a simple language, as “any gradual change that occurs in the attributes and states [ṣifāt wa-ḥālāt] of the body.”⁵⁰ He adds: “The physical world is identical with motion [ʿālam al-ṭabīʿa yusāwī al-ḥaraka],” since it undergoes changes constantly.⁵¹ Ṭabāṭabāʾī writes that the process of generating is not random, but rather involves a progress toward a certain perfection (takāmul) of the physical body, for each motion comprises a new addition that is accumulated to the body, which is progressing toward attaining its perfection.⁵² Ṭabāṭabāʾī maintains that this explanation of motion, which was proven in Islamic philosophy long before him, does not contradict modern science, especially Darwin’s (d. 1882) theory of evolution. In this context, Ṭabāṭabāʾī writes: Experiments in the various sciences, whether on humans, animals and plants; have proved that these species are unstable, rather they are constantly moving towards perfection [takāmul], satisfying their needs, eliminating natural obstacles in a better way day after day, and continuing struggle against nature. This becomes clear in studying the field of life and

 See the relevant discussion of potentiality (dynamei) and actuality (energeia) in Aristotle: Aristotle, Metaphysica, K, 1066a.  Ṭabāṭabāʾī: Uṣūl al-Falsafa, vol. 2, 369.  ibid., 383 – 384.  ibid., 380.  ibid., 382. You can compare this definition with his treatment of motion in another major work: Ṭabāṭabāʾī: Bidāyat al-Ḥikma. Qom: Dār al-Fikr, 1966, 256.  Ṭabāṭabāʾī: Uṣūl al-Falsafa, vol. 2, 383.  ibid., 384.

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history of the human race, as well as in the comparison between modern and the primitive man, in particular.⁵³

Ṭabāṭabāʾī chooses to discuss the commonalities between his conception of “motion” and the theory of evolution in modern science. He is careful not to elaborate more about evolution, apparently, to avoid any clash with this theory and some of its principles and assumptions that may contradict the Islamic faith.⁵⁴ However, he warns against transferring any truth concerning the evolution of animals from the realm of science to the realm of philosophy, because experimental science has to examine a large number of cases in order to arrive at an accurate generalization–an impossible act in reality–whereas philosophy is capable of achieving the same truth regarding the progress of motion towards perfection in a rational way and, in this respect, is preferable to science.⁵⁵ In dealing with the philosophical models of Hegel (d. 1831) and Marx (d. 1883), Ṭabāṭabāʾī does not hesitate to criticize the dialectical method that both philosophers adopted. Although the dialectical method shares the concept of motion within a substance, the idea that objects develop toward perfection does not, causing Ṭabāṭabāʾī discontent. Thus, he expresses hostility to these philosophical models. Ṭabāṭabāʾī first and foremost rejects Hegel’s law of dialectics. According to this law, every development in consciousness passes three moments: thesis, antithesis, and synthesis. This law presupposes the presence of the contradiction within the thesis, which clearly violates the law of non-contradiction on which the philosophies of Ṭabāṭabāʾī and Mullā Ṣadrā are based. Yet, it was another thinker who stood firm against the challenges posed by Hegel and Marx and discussed them at length. This thinker is none other than Muḥammad Bāqir al-Ṣadr. Muḥammad Bāqir al-Ṣadr (1935 – 1980), the authority (marjaʿiyya) and prominent Iraqi scholar and one of the great Shīʿa thinkers of the twentieth century, known for his deep philosophical and religious education, was one of the scholars influenced by Mullā Ṣadrā’s tradition.⁵⁶ He employed this tradition, which he

 Ṭabāṭabāʾī: Uṣūl al-Falsafa, vol. 2, 393 – 394.  Despite his caution, if we compare Ṭabāṭabāʾī’s position with regard to the theory of evolution with that of Jamāl al-Dīn al-Afghānī (d. 1897), we will find that Ṭabāṭabāʾī’s position seems very positive. Afghānī did not hesitate to attack the theory of evolution severely in his book, Refutation of the Materialists. See: Jamāl al-Dīn al-Afghānī, al-Radd ʿAlā al-Dahriyyīn [Refutation of the Materialists], ed. Maḥmūd Abū Rayya. Cairo: publisher, n.d.  Ṭabāṭabāʾī: Uṣūl al-Falsafa, vol. 2, 295.  Much has been written on al-Ṣadr’s rich life until his execution by Ṣaddām Ḥusayn’s regime in 1980. See his detailed biography: Muḥammad Ramaḍān al-Nuʿmānī and Al-Shaykh al-Ṣadr:

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calls the “metaphysical philosophy” (al-falsafa al-ilāhiyya)⁵⁷– the philosophy of religion– in his struggle against Western philosophical streams, especially against some advocates of experimental science and Marxism.⁵⁸ In his famous work, Our Philosophy (Falsafatunā),⁵⁹ which many consider one of the most profound works dealing with Western science and philosophy from an Islamic perspective, al-Ṣadr refers to the status of metaphysical philosophy from an Islamic philosophical perspective.⁶⁰ In his view, metaphysical philosophy was wrongly accused of being dogmatic and unable to investigate what underlies nature: namely, change and development. Moreover, opponents of this philosophy accused it of freezing nature by eliminating its laws and associating it with an ex-

Sanawāt al-Miḥna wa-Ayyām al-Ḥiṣār [Years of Tribulation and Days of Siege]. Qom: Ismāʿīliyyān, second edition, 1997; Aḥmad al-ʿĀmilī: Muḥammad Bāqir al-Ṣadr- al-Sīra wa-al-Masīra fī Ḥaqāʾiq wa-Wathāʾiq [Muḥammad Bāqir al-Ṣadr- The Biography and The Journy, with Facts and Documents]. Beirut: Al-ʿĀrif li-al-Maṭbūʿāt, 2006. For information about the reformations that are usually attributed to al-Ṣadr, see: Talib Aziz, “Baqir al-Sadr’s Quest for the Marjaʿiyya”. In The Most Learned of the Shiʿa, ed. Linda S. Walbridge, Oxford: Oxford University Press, 2001, 140 – 148. For information regarding the “School of Najaf” where al-Ṣadr was active intellectually, see: Seyyed Hossein Nasr Traditional Islam in the Modern World, 190. For information about his involvement in politics, see: T. M. Aziz. “The Role of Muhammad Baqir al-Sadr in Shiʿi Political Activism in Iraq from 1958 to 1980”. In International Journal of Middle East Studies 25, no. 2 (May, 1993): 207– 222.  On certain occasions, some philosophers and scholars refer to this kind of philosophy with the expression, “the transcendent philosophy” (al-falsafa al-mutaʿāliya). See: Zailan Moris: Revelation, Intellectual Intuition and Reason in the Philosophy of Mulla Sadra. London and New York: Routledge Curzon, 2003, 85. Mullā Ṣadrā was the first to use this expression in the title of his magnum opus: Al-Ḥikma al-Mutaʿāliya [Transcendent Wisdom]. As for the expression “al-falsafa al-ilāhiyya,” it was Ibn Sīnā who proliferated it when he gave the title, al-Ilāhiyyāt [Metaphysics], to the volume on metaphysics from his grand work al-Shifāʾ.  In his struggle against some Western philosophical traditions, al-Ṣadr attacks these approaches in a dialogical and non-aggressive manner. He shows his appreciation of Western culture despite his opposition to some views advocated by Western philosophers. See: John Walbridge. “Muhammad-Baqir al-Sadr: The Search for New Foundations”. In The Most Learned of the Shiʿa, ed. Linda S. Walbridge. Oxford: Oxford University Press, 2001, 133.  Muḥammad Bāqir al-Ṣadr: Falsafatunā. Beirut: Dār al-Taʿāwun, 1989. Notably, the first edition of this book was published in 1959 when al-Ṣadr was only twenty-four years old. He devoted ten months to accomplish this remarkable work. See: Muḥammad Bāqir al-Ṣadr, Falsafatunā, 8 – 9. The book was translated into English in 1987: Muhammad Baqir al-Sadr: Our Philosophy, Translation, Introduction and notes by Shams C. Inati. London: Muhammad Trust, 1987. (Henceforth, I will refer to this English version).  Although this book was written by a Shīʿīte scholar, it gained popularity among some of the Sunnī scholars who found within it answers to questions concern with Islam’s relationship with the West, especially in the shadow of the latter’s military and scientifically dominance.

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ternal and eternal metaphysical entity they called “God.”⁶¹ Al-Ṣadr directs his criticism against the dominant Western philosophical currents of the twentieth century, especially against the Marxist philosophy that purported to provide a dialectic explanation of nature.⁶² Al-Ṣadr devoted several of his writings to presenting a holistic world view of Islam from different perspectives (philosophical, scientific, social, and economic).⁶³ In Our Philosophy, he seeks to introduce the reader to an Islamic philosophical worldview that can thwart Western challenges. His aim is to discuss the two fundamental elements that he claims to characterize Islam: the rational method and the metaphysical view. His processes of demonstration (burhān) are not necessarily Islamic; rather, they were taken from the medieval Muslim philosophers, who in turn received them from other ancient philosophers, most importantly, Aristotle.⁶⁴ For alṢadr, both the metaphysical (ilāhiyya) and the materialistic (māddiyya) philosophies agree on modern science being a true fact; however, they disagree with regard to the existence of external supernatural beings beyond the physical realm. While the materialist philosopher is satisfied with the laws of physics to account for the phenomenal world, the metaphysical philosopher argues that the laws of physics are not the end of the road, because they are subject to an external and

 al-Sadr, Our Philosophy, 162– 163.  Al-Ṣadr’s intention was to write a critique of the type of Marxism that was prevalent in Iraq, especially during the period when the book was written, i. e., the late 1950s when the Communists took control under the leadership of ʿAbd al-Karīm Qāsim (1914– 1963). In addition to his essay in question: Our Philosophy, al-Ṣadr wrote another critical essay against Marxism and capitalism from an Islamic economic point of view: Muḥammad Bāqir al-Ṣadr: Iqtiṣādunā [Our Economy]. Beirut: Dār al-Taʿāruf, 1979. He was the first to write a book on economy from such perspective. See: T. M. Aziz. “The Role of Muhammad Baqir al-Sadr in Shiʿi Political Activism in Iraq from 1958 to 1980,” 209.  Al-Ṣadr managed to write books on three of the four perspectives. On the Islamic philosophical view, he wrote his Our Philosophy (Falsafatunā); on the Islamic economy, he wrote his Our Economy (Iqtiṣādunā); and on the Islamic scientific method, he wrote his Logical Foundations for Induction (Al-ʾUsus al-Manṭiqiyya li-al-Istiqrāʾ). For more information about his three perspectives, read John Walbridge. “Muhammad-Baqir al-Sadr: The Search for New Foundations,” 134– 138. For more information about his program, read: Al-Ṣadr. “Introduction”. In Our Economy (Iqtiṣādunā), 27– 28.  He describes his own method as follows: “It is better that the dear reader knows at the outset that the benefit that lies at the heart of Islam is the method and the notion–that is, the rational method of thinking and the theological notion of the world. As for the various methods of demonstration and kinds of proof for this or that matter, we do not add all of them to Islam. Rather, they are the product of intellectual studies by prominent thinkers among Muslim scholars and philosophers” (al-Sadr, Our Philosophy, 36 – 37).

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metaphysical force beyond the realm of experience.⁶⁵ Al-Ṣadr explains the difference between these two branches of inquiry–physics and metaphysics–using examples from both to help him emphasize their special character; metaphysics is based on rationalism, while physics relies on experience.⁶⁶ As mentioned above, al-Ṣadr adopts the rationalist method of inquiry; for him, this method alone can explain human knowledge by founding it on necessary and primary principles.⁶⁷ This is not an attempt to deny the importance of experience in scientific investigation, but rather to argue that experience is not the sole source of human knowledge,⁶⁸ since rational knowledge is another source that has an advantage over experience. Namely, this advantage can be summarized by the fact that rational knowledge is based on primary and innate concepts (al-maʿlūmāt al-awwaliyya al-ʿaqliyya),⁶⁹ characterized by being fixed and unchangeable.⁷⁰ Throughout Our Philosophy, al-Ṣadr mentions numerous examples just to illustrate what kind of gap lies between scientific inquiry, based on experience, and philosophical inquiry, based on the innate concepts of the intellect. He writes: Thus, one can employ scientific methods in studying and solving the problem of the size of the moon, the distance of the sun from the earth, the structure of the atom, the composition of the plant or the number of simple elements. But if the same experiment is made the subject of investigation, and if the discussion focuses on its objective value, then by virtue of the experiment itself, there would be no room for scientific evidence in this area concerning the validity of the experiment and its objective value. Therefore, the objectivity of sense perception and experimentation is the foundation on which the structure of all the sciences depends. No scientific study or treatment can take place except on the basis of it.

 al-Sadr: Our Philosophy, 164– 165.  That said, physics is not entirely an empirical science; some of its branches still involve purely theoretical aspects.  al-Ṣadr: Our Philosophy, 67. See also 130.  It seems that al-Ṣadr places himself in the debates that took place in Western philosophy during the 17th–18th centuries between two great schools – the rationalist school represented by Descartes (d. 1650), Spinoza (d. 1677) and Leibniz (d. 1716); and the empirical school represented by thinkers such as Locke (d. 1704), Berkeley (d. 1753) and Hume (d. 1776). In his Our Philosophy, al-Ṣadr dedicates many of the first part discussions, entitled “The Theory of Knowledge,” to address the doctrines of these thinkers. See, e. g., the debate between rationalism and empiricism: al-Sadr: Our Philosophy, 54– 67.  In another work, al-Ṣadr calls these concepts “the principles of the first reason” (mabādiʿ alʿaql al-awwal), and these are the principles that every rational thinking starts with; they themselves are not the result of any previous thought, but they have an innate status in the mind from the outset. Muḥammad Bāqir al-Sadr: Muḥāḍarāt Taʾsīsiyya [Foundational Lectures]. Markaz alAbḥāth, 2009, 73.  al-Sadr: Our Philosophy, 65.

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Hence, this foundation must be tackled in a purely philosophical manner, before taking up any scientific truth.⁷¹

Both science and philosophy study matter, but each has a different attitude towards it; in the philosophical sense, matter is simpler than in the scientific one. The former cannot be proven in experience, but rather through a philosophical inquiry based on rational principles only.⁷² Although each field has its own method of investigation, al-Ṣadr claims that this does not imply a disconnect between science and philosophy;⁷³ on the contrary, they are related because it is possible for scientific outcomes to influence philosophy, which could result in new philosophical outcomes. Philosophy also provides an experimental method of inquiry with rational principles to enable the researcher to transcend an experiment to a general scientific law.⁷⁴ In any case, there is no validity to the physical world without metaphysics, which is based on rational thinking and necessary principles.⁷⁵ Among the concepts common to philosophy and science, alṢadr refers to the causality principle. In his opinion, this principle is at the heart of any rational thinking: The principle of “causality” is one of the primary propositions known to people in their ordinary lives. This principle states that for everything there is a cause. It is one of the necessary rational principles; for a human being finds at the heart of his nature a motive that causes him to attempt to explain the things he encounters and to justify the existence of such things by disclosing their causes. This motive is inborn in human nature. Also, it may be present in a number of animals. Thus, such animals instinctively pay attention to the source of motion in order to know its cause. They search for the source of a sound, again in order to know its cause. That is why human beings are always confronted with the question: “Why…?” This question is raised concerning every existence and every phenomenon of which they are aware, so that if they do not find a specific cause [of such an existence or such a phenomenon], they believe that there is an unknown cause that produced the event in question.⁷⁶

 ibid., 130. For more examples, see: al-Sadr: Our Philosophy, 72, 286.  ibid., 263, 266.  In classical Islamic philosophy, science was included and interacted with it. One example of this overlap is the Aristotelian corpus, which was almost entirely translated into Arabic and included topics of both a purely philosophical character and others of a purely scientific one; the encyclopedia of al-Shifāʾ written by Ibn Sīnā includes, along with philosophy, other sciences, like astronomy and mathematics.  al-Sadr: Our Philosophy, 80.  ibid., 134.  ibid., 229.

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Notably, the causality principle is not a principle of experimental science and cannot be proven by it; rather, it is a philosophical and rational principle that every human is supposed to possess.⁷⁷ This principle is incredibly vital to experimental science, because every scientific theory is based on it.⁷⁸ For instance, the assumption that existence that has no cause is a contradictory is based on it,⁷⁹ for if there is no such a cause, then the only choice left is to deny the constancy of the world and to believe in haphazardness.⁸⁰ The same causality principle that applies to the physical world ends up by reaching a super-metaphysical being, which is the first cause, as medieval Islamic philosophers called it.⁸¹ It is here that the connection of the believer to the natural sciences becomes apparent, since al-Ṣadr claims that the natural sciences are supposed to strengthen the belief in God because they reinforce the notion of God’s involvement and providence in our world, especially in the unique design of this world. He writes: Nature, therefore, is a marvelous artistic portrait, and the natural sciences are the human instruments that uncover the types of innovation in this portrait, that raise the curtain to show its artistic secrets, and that supply the general human heart with one evidence after another for the existence of the governing and wise Creator, and for His greatness and perfection. Whenever these instruments achieve a victory in their various fields or disclose a secret, they supply metaphysics with a new force and provide the human race with a new evidence for the innovative, creative greatness that created and organized this eternal portrait with what calls for astonishment, wonder and glorification. Thus, the facts declared by modern science leave no room for doubt concerning the issue of God, the omnipotent and the wise. If the philosophical proofs fill the mind with certainty and acceptance, modern scientific discoveries fill the soul with confidence and faith in the divine providence and the metaphysical explanation of the first principles of existence.⁸²

 ibid., 233.  ibid., 61, 71, 125, 127.  In this context, one can recall the famous debate that took place between al-Ghazālī (d. 1111) and Ibn Rushd (d. 1198) regarding the issue of causality. For as is well known, the first was an Ashʿarīte who rejected any causal relationship in the physical world, while the second was an Aristotelian philosopher and one of the major advocates of causality in particular, and rationality in general. See their discussions of the issue of causality in their two major works: AlGhazālī: The Incoherence of the Philosophers, trans. Michael Marmura. Provo: Bringham Young University Press, 2000, 166 – 177; Averroes: The Incoherence of the Incoherence, trans. Simon van den Bergh, vol. 1. Oxford: Oxford University Press, 1954, 316 – 333.  al-Sadr: Our Philosophy, 238.  ibid., 248, 261. First cause, along with first existent, and first principle are synonymous names with clear philosophical connotations that were mentioned repeatedly in the writings of Muslim philosophers during the Medieval Period to indicate God. See, e. g.: Al-Farabi: Al-Farabi on the Perfect State, trans. Richard Walzer. Oxford: Clarendon Press, 1985, 56 – 57.  al-Sadr: Our Philosophy, 271.

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In many places of Our Philosophy, al-Ṣadr emphasizes two essential needs, religion and science, without which one cannot exist as a believing person living in the twentieth century. By depending on clear philosophic tools derived from Mullā Ṣadrā’s tradition, al-Ṣadr argues, a Muslim believer can guarantee a respectable position even in the twentieth century. As a matter of fact, al-Ṣadr is not the only Shīʿīte thinker who supports this position; this seems to be the view of numerous modern Shīʿīte thinkers and scholars who were educated on a certain interpretation of Aristotelian philosophy, one which provided them with the philosophical and scientific basis for their faith.⁸³ In this respect, al-Ṣadr is unique in his knowledge the history of both Islamic and Western philosophy and his adoption of the rationalistic philosophical method;⁸⁴ particularly the view that there are rational concepts and laws, such as the laws of non-contradiction and causation, that have a fixed and necessary nature.⁸⁵ These laws are the condition of any rational knowledge, since there can be no proper recognition of reality without them.⁸⁶ Based on these laws, we acquire new knowledge in areas such as metaphysics, natural sciences, and mathematics. To conclude the existence of the first cause, i. e. the existence of God, there is no need for an experiment; suffice it for reason to rely on its basic necessary laws, such as the law of causation. Contrary to pure theoretical sciences like metaphysics and mathematics that have no connection to the physical world, knowledge remains inaccurate in natural sciences because the latter is based on experiment (tajriba).⁸⁷ Al-Ṣadr adds that Marxism violated the existence of innate laws, such as the law of non-contradiction, and replaced them with the law of dialectics, which does not allow true recognition of reality.⁸⁸ Fur-

 Ṭabāṭabāʾī is also a good example of this group of thinkers and scholars. See: Seyyed Hossein Nasr: The Islamic Intellectual Tradition in Persia, 324.  It is likely he read Western philosophy through translations into Arabic or studies written in that language, as I have found no evidence that he knew any European languages.  As for the law of non-contradiction and the other laws derived from it, it is clear that al-Ṣadr follows the Aristotelian tradition and its representatives in classical Islamic culture, such as Ibn Sīnā and Ibn Rushd. As for causality, however, this is not necessarily the case, because the meaning of this law, as al-Ṣadr describes it, is closer to the Kantian than to Aristotelian meaning. Al-Ṣadr referred to this law (or principle) as an innate (a-priori) concept that precedes any kind of experience. This recalls Kant, where he defines cause in his “Transcendental table of concepts of the understanding.” See: Immanuel Kant: Prolegomena to Any Future Metaphysics. Cambridge University Press, 2004, 55.  al-Sadr: Our Philosophy, 125.  ibid., 126.  ibid., 131. Also, see al-Ṣadr’s discussion of the law of non-contradiction as against the law of dialectics: al-Sadr: Our Philosophy, 193 – 210.

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thermore, according to al-Ṣadr, Marxism claims that the laws of dialectic are not static; they reflect the continuous development of both mental and external realities.⁸⁹ Al-Ṣadr confronts Marxism with philosophical tools taken from Mullā Ṣadrā’s tradition. This tradition describes the real recognition of an external object when the mental form (al-ṣūra al-dhihniyya) of the object corresponds to its external reality.⁹⁰ However, when this type of correspondence is missing, there will be no recognition of the external phenomenon.⁹¹ Accordingly, truth is not relative to the period in which it appeared, as Hegel and Marx advocate, but rather, it is static and permanent. Marxism, for instance, argues that thought is not a reflection of what occurs in nature but is actually part of nature; hence, it is dialectic and not static, because whatever applies to nature applies to thought too. For al-Ṣadr, metaphysical philosophy does not accept the development of concepts in the sense that science cannot be established without relying on fixed and necessary concepts.⁹² For this reason, science cannot be explained as a gradual development of a certain scientific truth, but rather as a kind of knowledge that progresses until it reaches its perfection and eventually becomes more accurate when it reflects reality by including more truths and fewer errors.⁹³ Marxism, on the other hand, has brought about a new world view regarding development within the world. This world view claims to explain every phenomenon in the world, be it material or mental, based on the laws of dialectics. According to this world view, contradiction exists in every truth or phenomenon in the world. Both the realm of thought and the realm of the material world are undergoing a process of development, and the laws of dialectic apply to them equally.⁹⁴ As noted above, dialectic means that every developmental process includes three stages: thesis, antithesis, and synthesis. The thesis is the object in the first stage, which becomes its negation in the second stage following the conflict between two opposites within it, whereas in the third stage the two opposites merge together and they become another thesis that contains its negation and

 ibid., 141.  ibid., 127.  ibid., 144.  ibid., 126.  ibid., 191.  al-Sadr: Our Philosophy, 191. I would like to note, in this context, that discussion of the philosophy of Hegel or Marx lies beyond the scope of the present article; here, I deal with the way that Ṭabāṭabāʾī and al-Ṣadr reacted to these philosophies. Therefore, throughout this article, I do not refer to the writings of these two German philosophers.

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may also develop further.⁹⁵ Al-Ṣadr claims that according to the dialectical process, everything in the world exists with its negation, writing, “In accordance with the requirements of this method of disputation, everything unites with its contradictory. It is at the same time affirmed and denied, existent and nonexistent.”⁹⁶ Al-Ṣadr argues that the laws of dialectics leave no room for classical logic based on several laws, one of which is the law of non-contradiction. According to this law, a particular object cannot be described by a particular feature and in its negation at the same time.⁹⁷ On the other hand, Marx and Hegel rejected this law entirely, emphasizing the presence of the opposite within each phenomenon.⁹⁸ If the dialectic applies to all worldly phenomena, then it applies to the mind just as it applies to material reality; hence, the process of development within nature parallels a process of development within consciousness. For al-Ṣadr, Marxism claims that the process of thinking is not static but develops because thinking is part of nature, and whatever applies to nature applies to thinking as well.⁹⁹ This approach raises a question regarding the status of scientific truths, since one can conclude from Marxism that these truths lose their rational validity because they become part of a dynamic world that moves constantly.¹⁰⁰ For al-Ṣadr, the law of non-contradiction–on which the basis of which his philosophy rests–is the most general law that applies to all phenomena, and any attempt to refute it by claiming that the world is in a constant developmental process is doomed to failure. Proponents of metaphysical philosophy, al-Ṣadr included, do not deny the idea of development within nature. Following Mullā Ṣadrā’s philosophy, they argue that evolution is the law of the physical world (al-taṭawwur qānūn ʿamm fī al-ṭabīʿa),¹⁰¹ which is constantly changing. But everything has to be explained on the basis of the law of non-contradiction and not on the basis of the law of contradiction. Al-Ṣadr further asserts that believing in God, the metaphysical reality, and the eternal truths do not mean freezing nature (tajmīd al-ṭabīʿa), as some opponents claim.¹⁰² He states that there is a difference between the physical world and the world of intellect; whereas in the physical world, objects are character-

 al-Sadr: Our Philosophy, 173.  ibid., 172.  For one of Aristotle’s discussions about the principle of non-contradiction, see: Aristotle, Metaphysica, vol. 4, 1005b.  al-Sadr, Our Philosophy, 172– 173. See more about the law of non-contradiction: 196 – 197.  ibid., 149.  ibid., 150, 175.  ibid., 167.  ibid., 148.

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ized by constant development, in the world of intellect, the concepts that represent external reality are characterized by a fixed and unchangeable position.¹⁰³ Therefore, development in nature does not mean conceptual development. The concepts remain static because they are based on pure rational thinking. However, according to al-Ṣadr, this does not mean that metaphysical philosophy denies development. On the contrary, it claims that the essence of nature is to evolve, but this development does not apply to the eternal metaphysical reality.¹⁰⁴ Notably, in this context, there is a close connection between the two worlds, the physical and the metaphysical, since the chain of causes in nature must end with an eternal metaphysical cause that modern science and philosophy refuse to recognize.¹⁰⁵ Unlike the Marxist conception, according to al-Ṣadr, the evolving nature does not include contradictions but rather potentiality for development. This notion cannot be based on experience but rather on pure rational principles of reason.¹⁰⁶ Motion is a phenomenon that is not disputed and is acceptable to most philosophers; however, the problem lies in its explanation. Al-Ṣadr writes in this context about his teacher Mullā Ṣadrā: Islamic philosophy played its role at the hands of the great Muslim philosopher, Ṣadr adDīn Shīrāzī. He posited the theory of general motion, and demonstrated philosophically that motion, in the precise meaning that has been presented above, does not only touch the phenomena of nature and its accidental surface, but the motion of such phenomena is just an aspect of the development that discloses a deeper aspect: that is, the development at the heart of nature and the substantial motion of nature. This is so, because since the outermost motion of the phenomena means renewal and perishing, its direct cause must be a renewable thing whose essence is also unfixed.¹⁰⁷

Al-Ṣadr states that motion is not the absolute corruption of a certain object, leading to the generation of a new one, but rather the development of the object according to the degrees of existence (darajāt al-wujūd). Each level expresses a stage of existence itself. Development is always composed of something that is potential (bi-al-quwwa) and something that is actual (bi-al-fiʿl). As long as it involves both, actual and potential together, motion continues. However, when ac-

 ibid., 186.  ibid., 177, 147– 148.  ibid., 163 – 165. Perhaps al-Ṣadr intends here to direct this criticism against positivism that cast its shadow on numerous sciences in the 19th and 20th centuries.  Notably, the rationalist method is highly prevalent in the curricula of modern Shīʿīte religious institutions, especially those in Najaf and Qom. One of the manifestations of this method is the insistence of these institutions on teaching medieval Islamic philosophy and logic with various interpretations that have been contributed since then by several major scholars.  al-Sadr: Our Philosophy, 178 – 179.

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tuality is exhausted and is emptied of any potential for a new degree of existence, motion ceases to exist.¹⁰⁸ According to al-Ṣadr, Mullā Ṣadrā not only proved the existence of motion, but also showed that the principle of motion in nature is a metaphysical necessity. On these grounds, he managed to explain some complex philosophical issues such as the relationship between body and soul, citing the interactions between these two components of man–the material body and the spiritual soul.¹⁰⁹ Al-Ṣadr writes that Mullā Ṣadrā admirably solved the soul-body problem,¹¹⁰ through his discovery of the “substantial motion” (al-ḥaraka al-jawhariyya) that formed a bridge connecting the material and the spiritual components of man. He notes: Finally, the explanation of the human being on the basis of the two elements the spiritual and the material, found its best formulation at the hand of the Muslim philosopher Ṣadr alMutaʾallihīn ash-Shīrāzī. This great philosopher apprehended a substantial movement at the heart of nature. This movement is the most primary source of all the sensible movements that occur in nature. It is the bridge that ash-Shīrāzī discovered between matter and soul. Matter in its substantial movement pursues the completion of its existence and continues its completion, until it is free from its materiality under specific conditions and becomes an immaterial being–that is, a spiritual being. Thus, there is no dividing line between spirituality and materiality. Rather, they are two levels of existence. In spite of the fact that the soul is not material, […]it has material relations because it is the highest stage of the completion of matter in its substantial movement.¹¹¹

In the course of the motion of the soul, man becomes increasingly perfect until finally, he reaches a high degree of perfection when he abstracts himself from matter and becomes a spiritual creature. According to this explanation, the material and the spiritual are not fundamentally different natures, but one of them is supposed to be a stage in the development of the other, and the difference between the two is similar to the difference between two degrees of heat–one weak and the other strong. Yet, this does not mean that the spiritual is a product of the material or a reflection of it, as Marxism claims; rather, it is a product of the motion that takes place within matter. The motion, then, is made up of the poten-

 ibid., 177– 178.  ibid., 180.  In this context, Mullā Ṣadra’s solution differs from the dualism of body-soul that Plato presented in his Phaedo, as well as from Aristotle’s definition of the soul in his De Anima (and in other writings) as a form of the body that corrupts once the body is corrupted. About this major issue in Mullā Ṣadrā’s thinking, see: Christian Janbet: The Act of Being: The Philosophy of Revelation in Mullā Ṣadrā, 229 – 281.  al-Sadr: Our Philosophy, 295.

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tiality and actuality that present themselves in every stage of the object’s development towards perfection.¹¹² Motion ends when the inherent potentiality of an object ends too; this, precisely, is the meaning of the transition from potentiality to actuality and the philosophical explanation that metaphysical philosophy presents.¹¹³ Al-Ṣadr emphasizes that Mullā Ṣadrā was the first to formulate the concept of motion in this way. Not only does he prove the existence of motion within substance, but he also demonstrates that motion is at the heart of nature and is a metaphysical necessity.¹¹⁴ Although al-Ṣadr repeatedly presents motion as embodied within the object, this motion is not spontaneous but rather is triggered by an external principle; namely, by God: Motion is a gradual development and completion of a deficient thing. A deficient thing cannot by itself develop and complete itself gradually, for it cannot be the cause of completion. On the basis of this, a dual principle of the mover and the moving thing was posited in the philosophical notion of motion. In light of this principle, we can know that the cause of the developmental motion of matter is not at heart and in substance matter itself, but a cause beyond matter that provides matter with continuous development, and that emits to matter linear motion and gradual completion.¹¹⁵

Accordingly, the Marxist claim that opposites exist simultaneously at a certain stage and merge and become one at another cannot be correct, because this claim presupposes the existence of two actual stages in the same motion–an assumption that cannot correspond with the assertion that at every stage of the development of a particular body, only one potentiality can be actualized. Notably, the immediate cause of any development is the substantial motion that is inherent within the object, while the remote cause that created the object itself is God Himself. Hence, this explanation guarantees the connection between the physical and the metaphysical worlds; without such a connection it would be impossible to understand the structure of the universe.¹¹⁶

    

ibid., 180 – 181. ibid., 178. ibid., 180. ibid., 269. ibid., 183.

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Conclusion The concept of motion, which was common among various Muslim philosophers, was employed in different periods and in different ways. For Ibn Sīnā, the goal was to protect the Aristotelian physical view based on the division of objects into substances and accidents against challenges posed by theologians (mutakallimūn), who advocated an atomistic physical world view. Mullā Ṣadrā, in contrast, rephrased the concept of motion and interpreted many of the philosophical issues that stem from it in a different way, thereby advancing a philosophy that has the ability to account for physical and metaphysical issues, while not conflicting with religious belief. Mullā Ṣadrā’s work was posthumously influential; in the twentieth century two prominent Shīʿīte philosophers, Ṭabāṭabāʾī and al-Ṣadr, were strongly influenced by his philosophy, which helped explain two strong challenges facing Islam–historical materialism and modern science. The two scholars examined many of the basic assumptions underlying these challenges. They argued that their metaphysical philosophy had no fundamental problem with modern science, claiming instead to be contesting the pretension of some scientific theories to transcend the boundaries of science, thus extending science into the wrong fields.

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Reza Hajatpour

Religiosität und Rationalität im Islam Religionsphilosophische Debatte in der modernen Zeit Im traditionellen Kontext muss sich die Theologie mit Argumenten behaupten, aber letztlich war sie von einer Erwartung des Glauben-Schenkens geprägt. Argumente waren ein dialektisches Mittel der Rechtfertigung und dienten dem Beharren auf der eigenen Wahrheit und dem Anspruch, dass die eine Religion mehr der Wahrheit entspricht oder sogar im Besitz der absoluten Wahrheit sei. Alles andere war verboten und unerlaubt. Dennoch gab es nicht nur eine Theologie, sondern unterschiedliche Schulmeinungen, Interpretationen derselben Glaubensinhalte und diverse methodische Herangehensweisen der Glaubensauslegung, die nicht nur vom theologischen Stammtisch aus, sondern auch von Nachbardisziplinen wie aus philosophischen und mystischen Perspektiven betrachtet wurden. Es ist ein außerordentlich komplexes Unterfangen, das Wesen der Theologie neu zu bestimmen. Man spricht mittlerweile von einer „neuen“ Theologie und setzt sie der sogenannten „alten“ Theologie gegenüber. Das Unternehmen gegen die Philosophen und Mystiker war ebenso dadurch geprägt, das Risiko zu vermeiden, dass Glaubensinhalte in ihren dogmatischen Strukturen gefährdet werden, sei es durch Ratio oder durch asketische Glaubenserfahrung. Obwohl die Theologie den Anspruch hatte, rational und argumentativ die Glaubensinhalte zu entfalten, war sie in einem Paradox verhaftet. Die Vernunft, die im theologischen Diskurs thematisiert wird, ist keine unabhängige, sondern eine von der Autorität des Textes und den Prämissen des Vorausgesetzten geprägte „religiöse Vernunft“.Wenn Muḥammad Šarīf Ğurğānī in seinem Buch „Taʿrīfāt“ von der Theologie als einer Disputation auf Grundlage des islamischen Kanons (qānūn al-islām) spricht, zeigt dies genau diese Anhängigkeit der Vernunft von den vorausgesetzten vorgesetzten Prämissen.¹ Die traditionelle Theologie konnte sich einerseits mit einer freien und nur auf rationalen Prinzipien beruhenden Diskussion über die Glaubensinhalte nicht abfinden, ebenso wenig mit einer irrationalen, auf Grundlage der individuellen Erfahrung, intuitiven Schau der Wahrheit. Damals konnte solch eine Vorgehensweise auch nicht die Erwartungen derjenigen Gelehrten befriedigen, die sich selbst zu den Theologen zählten. Al-Ġazālī warf sogar den Theologen Untreue vor und kritisierte die Mutakallimun, die durch  Ğurğānī, Muḥammad Šarīf: Kitāb at- Taʿrīfāt, hg.v. Maktaba Lubnān. Beirut, 2000, 194. https://doi.org/10.1515/9783110588590-014

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ihre Wissenschaft, die „ʿIlm al-kalām“ (die dialektische Theologie), zwar die Religion verteidigen wollten, ihre Pflichten aber (mit wenigen Ausnahmen) nicht in der richtigen Weise erfüllten.² Sie stützten sich blind auf die Prämissen ihrer Gegner, so auch auf den griechischen Syllogismus, um die Sunna (islamische Tradition) zu verteidigen. Dabei beschäftigten sie sich so sehr mit den Widersprüchen ihrer Gegner, dass sie das eigentliche Ziel ihrer Wissenschaft vergaßen. Das zwang sie entweder zu blinder Nachahmung (taqlīd), oder zum Konsensus der Gemeinde (iğmāʿ) oder zur einfachen Annahme aus dem Koran und der Überlieferung.³ Zusammengefasst könnte man sagen: die Defensivhaltung der islamischen Theologie ließ kaum zu, eine selbstreflektierte, sich optimierende Wahrheitsforschung zu betreiben. Es ist uns heute klar geworden, dass die damalige Theologie oft in einem sozio-kulturellen und sozio-politischen Rahmen eingebettet war. Durch den Einfluss der europäischen Aufklärung wurde in der islamischen Welt eine kritische und diskursive Wende hervorgerufen, in der es im Kontext der Erwachensbewegung zur Reflexion herkömmlicher Traditionen und zu neuen Akzentsetzungen kam. Man begann, sich von dem apologetischen Charakter der Theologie zu distanzieren. Theologisches Denken musste nicht länger statisches Denken sein, um als Theologie zu gelten. Man ließ sich auf Grund veränderter Bedingungen auf neue Fragen, Methoden, Themen und Perspektiven ein und traute sich Theologie zu betreiben auch ohne Angst, dabei eigene Glaubenswahrheiten verlieren zu müssen. Diese Perspektivänderung setzte allerdings voraus, sich den Herausforderungen der Zeit zu stellen. Unter den islamischen Theologen gab es wenige Denker, die einen Perspektivwechsel gewagt haben. Neben Muḥammad ʿAbduh und einige aus seinem Schülerkreis war neben Sayyid Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī unter anderen der iranische Geistliche Šeyḫ Hādī Nağmʾābādī (1834– 1902) der Vorreiter einer neuen rationalen Theologie, der die Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Glaube aufgegriffen und sich um eine sachliche Überprüfung der religiösen Vernunft bemüht hat. Er war der Meinung, dass der erste Prophet die Vernunft sei. Daher ist die Vernunft die einzige legitime Instanz um über Glaubensinhalte zu reflektieren. Da

 Al-Ghazālī, Abū Ḥāmid Muḥammad: al-Munqiḏ min aḍ-ḍalāl, hg.v.ʿAbd al-Ḥalīm Maḥmūd. Kairo 1955, 24.  ebd., 14.

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der Mensch als Vernunftwesen auf sich selbst gestellt sei, plädierte er für die freie, kritische Meinungsäußerung. Mit dem Schlüsselbegriff der Vernunft betreibt Nağmʾābādī eine rationale Theologie, die sich von der traditionellen Theologie unterscheidet. Während in der traditionellen schiitischen Theologie die Vernunft eine sekundäre Rolle spielt, stellt sich die Vernunft in seinem Sinne als primäre Quelle aller Erkenntnisse dar. Die islamische Theologie muss sich nach seiner Auffassung auf Grundlage der Freiheit durch selbständige Betätigung und Überprüfung der Vernunft unterziehen. Sein Buch „Darlegung der Einsichtigen“ (Taḥrīr al-ʿuqalāʾ)⁴erschien erst 1933, dreißig Jahre nach seinem Tod. Die Vernunft ist autonom und bedarf daher keiner Zustimmung der Religion (šarʿ, wörtlich: Religionsgesetz bzw. Scharia). Die religiösen Erkenntnisse werden somit sowohl in methodischer als auch inhaltlicher Hinsicht von der Vernunft abgeleitet.⁵ Man kann die Bedeutung solcher rationalistischer Ansätze auch daran ermessen, dass es radikale orthodoxe Stimmen gab und gibt, die eine Aktualisierung solch antiautoritären Denkens zu verhindern suchen.⁶ Das Problem der islamischen Theologie hat bereits Nağmʾābādī erkannt. Für ihn war die islamische Religion eine Religion der Vernunft und die islamische Theologie ein Ergebnis der Rationalität. Daher machte er sich Gedanken über die Gründe der Abkehr vom Rationalismus. Ihm zufolge sind sie in der Abwendung von der authentischen, gesunden, unverzerrten göttlichen Veranlagung (fiṭrat-i aṣliya salīma ilāhī) zu suchen. Diese zeige sich in folgenden Formen: 1. Argumentationen mit den Überlieferungen ohne sachliche Bewertungen, 2. subjektive Interpretationen, 3. Argumentationen mit Meinungen und Prämissen, deren Gewissheit nicht überprüft wurde,⁷ 4. Abweichung vom rationalen Dialog bzw. Diskurs (guftugū, wörtl. Gespräch).⁸ In diesem Sinne muss die Islamische Theologie in der Lage sein, die herkömmlichen selbstverständlichen Prämissen ihres Denkens kritisch neu zu bedenken. Nağmʾābādī sagt:

 Reza Hajatpour: Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus. Zum Diskurs über Herrschafts- und Staatsdenken im 20. Jahrhundert. Wiesbaden: Reichert Verlag, 2002, 137– 147.  ebd., 139.  ebd.  Muḥammad Taqī Ğaʿfarī Tabrīzī lobt Nağmʾābādī wegen seiner kritischen Haltung gegenüber der Anwendung der in der traditionellen Theologie verbreiteten Methode, die Ğaʿfarī „Rechtfertigungslogik“ (manṭiq-i tauğīhī) nennt. Siehe Hajatpour, Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus, 2002, 142.  ebd., 142.

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Egal, welche Aussage eines räsonierenden Theologen (Mutakkalimīn) du verstehen magst, du musst durch eben diese Methode [durch die Vernunft] deinen Geist leer [frei von den vorherbestimmenden Eindrücken] machen, mit Nachdenken und Überlegung beobachten, damit das Wahre und Nichtige, dessen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit offenkundig werden.⁹

Damit ist gewiss die Frage nach der Wahrheit bzw. dem Wahrheitsbegriff ein wichtiger Bestandteil der Beweisführung und die Bedeutung der Religion für die jeweilige Zeit muss daher neu gestellt werden, um frei von vorgesetzten Prämissen, von der Ideologisierung und Politisierung zum Gegenstand der Forschung zu dienen. Eines der größten Probleme der gegenwärtigen islamischen Theologie ist, dass sie sich in eine Identitätstheologie wandelte. Theologie ist eine Wissenschaft und entwicklungsfähig. Wie jede andere Wissenschaft ist sie zugleich eingebettet in die jeweiligen politischen und kulturellen Umbrüche und Strukturen. Das Problem der islamischen Theologie liegt darin, dass ihre Autoritäten oft mehr problemorientiert als lösungsorientiert waren. In Konflikten bzw. in den Auseinandersetzungen mit anderen Glaubensinhalten war die Theologie weniger an Lösungen interessiert, die sie für die neuen Fragen und Inhalten öffnete, als mehr daran, Probleme und Kritiken vom Glauben abzuwenden, um die herkömmliche Autorität zu schützen. Deshalb sind viele islamische Theologen auf der Ebene der Bewahrer und Interpretatoren der vergangenen Theologie geblieben, waren daran gehindert, sich den neuen Herausforderungen zu stellen und den Erwartungen gerecht zu werden, die jede Zeit durch Veränderungen und Umbrüche mit sich gebracht hat. Bis zum 19. Jahrhudert war die islamische Theologie nicht genötigt, in ihrer Aufgabe Änderungen vorzunehmen und seit der Modernisierung geriet sie in eine politisch-weltanschauliche Abwehrposition. Nur mit wenigen Ausnahmen konnten die islamischen Theologen erkennen, dass ihre bisherigen theologischen Ansätze und Inhalte schon längst nicht mehr die Erwartungen einer Wissenschaft der neuen Zeit erfüllten. Ebenso wenig nahmen sie die Notwendigkeit wahr, sich auf die Erwartungen der neuen Zeit an eine Religion einzustellen. Das Problem der islamischen Theologie war, dass sie an der Vergangenheit orientiert war und weniger an der Zukunft der Religion. Die Zukunft der islamischen Theologie liegt in ihrem dialogischen Potential. Nun soll hier ein Blick auf die gegenwärtige theologische Debatte im Iran geworfen werden, in der es um die Definition des Glaubens geht. Die Frage nach der Religion ist immer verbunden mit der Frage nach dem Glauben und damit  ebd.

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einhergehender Religiosität, Spiritualität und Rationalität. Die iranischen Denker versuchen einen Platz für den Glauben zwischen Religiosität und Rationalität zu finden. Religion bzw. Glaube war immer Ritus und Vorstellung zugleich. Eine Religion ohne Mythos, Ethos, Religiosität und Spiritualität war kein bindendes Authentizität bildendes Kennzeichen eines Volkes. Mythos, Ethos, Religiosität und Spiritualität sind die wichtigsten Bestandteile der ethnisch-kulturellen Authentizität gewesen. Die Religion war das Symbol und Abbild der Ideen und des gemeinsamen und gegenseitigen Kennzeichens der Beziehungen der Menschen untereinander. Doch jede Glaubensform hat einen Ursprung in einer Vorstellung, die notwendigerweise in die Praxis eingebunden ist. Jede transzendentale Idee, die in eine Glaubensform eingebettet ist, wird durch praktische Formen bzw. Riten vermittelt. Religion basiert auf einer eschatologisch ausgerichteten Gottesvorstellung.¹⁰ Eschatologie ist die höchste Vorstellungsform, in der Gott und Mensch untrennbar zum Ausdruck kommen.¹¹ Arnold Gehlen definiert Religion als ein Phänomen, in der die kosmischen und eschatologischen Aspekte in enger Verbindung stehen: Religion überhaupt ist wohl ein Überwältigtwerden von dem unwiderstehlichen Eindruck eines ‚ganzen‘ Lebens, das sich in kosmischen und dramatischen Bildern begreift, in deren Mitte meist übermenschliche Wesen handeln.¹²

In einer weiteren Definition hebt Gehlen sowohl das Handlungsprinzip wie auch die Anwesenheit eines Übersinnlichen in der Welt hervor.¹³ Solch eine Haltung tritt dann ein, wenn der Mensch die „Transzendenz ins Diesseits“ ¹⁴ mit der Transzendenz ins Jenseits verbindet. Im Koran findet man eine Fülle solcher Verse, in denen die Vergänglichkeit der Welt und die Allmacht des ewigen Göttlichen mit dem Leben, dem Tod und der Auferstehung einhergehen. Wie Émile Durkheim zu

 Hajatpour: Iranische Geistlichkeit, 2002, 33.  Gehlen, Arnold: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Frankfurt/M. u. Bonn: Klostermann-Verlag, 1970, 121– 122.  ebd., 124.  Wuchterl, Kurt: Analyse und Kritik der religiösen Vernunft. Bern u. Stuttgart: UTB, Bd. 1543, 1989, 170.  Diesen Begriff verwendet Gehlen, indem er die Institution als eine Art Religionsersatz benutzt, mit der sich der Mensch seine Welt gestaltet und sich selbst übersteigt. Siehe Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Frankfurt/M.: Klostermann-Verlag, 1977, 16.

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Recht formuliert, bilden die Rituale „den objektiven Inhalt der Idee, die man meint, wenn man von der Religion im allgemeinen spricht.“¹⁵ Die Religion bezeichnet man im Islam mit „ad-dīn“. Dieser Begriff kommt im Koran häufig vor. Mit ihm gibt der Koran zwar keine Definition der Religion vor, wohl aber eine Richtlinie.¹⁶ „Ad-dīn“ bezeichnet im Koran den Glauben einer Nation und einer Gemeinschaft, wie z. B. die Religion Abrahams und Jakobs bzw. des Islams,¹⁷ ebenso wie den Gehorsam gegenüber Gott. „Ad-dīn“ wird auch als Religion Gottes betrachtet; ein Hinweis, der auf eine Orientierung nach dem Islam deutet.¹⁸ Der Koran verweist daher auch auf den Islam als der Religion schlechthin.¹⁹ Somit bezeichnet die Religion das, was man Offenbarung nennt, also den Glauben an die Schrift und deren Befolgung.²⁰ In welcher Ausprägung auch immer der Begriff „ad-dīn“ als Glaube im Koran vorkommt,²¹ der Glaube an Gott, an die Schrift, die Prophetie und an das Jenseits ist immer an eine Art „Institution“ gebunden. D. h. die Religion ist nicht nur eine Vorstellung und das geistige „Überwältigtsein vom Ganzen“, sondern vielmehr steht ihre praktische Orientierung im Vordergrund, welche in der Befolgung der Offenbarung zum Ausdruck kommt. Das reine „Transzendenzbewußtsein“ bestimmt zwar den Grad der Religiosität bzw. des Glaubens, es rechtfertigt aber keineswegs die Bezeichnung für Religiosität ohne Offenbarung. Die Religion stellt das Bindeglied einer Gemeinschaft dar, die keine Differenzierung, keine Gruppierung und keine individuelle Weltanschauung duldet.²² Muḥammad Taqī Miṣbāḥ Yazdī (gest. 2021) verdeutlicht, dass die koranische Vorstellung von der Religiosität, dass Ritus und Glaube nicht voneinander zu trennen sind. Verse wie z. B. 16/97 und 40/40 lassen keinen Zweifel daran. Diese Einheit vom Glaube und Praxis macht die Religiosität des Menschen aus.²³ Nicht nur Miṣbāḥ hebt die Verbundenheit der Religiosität und des Islams überhaupt mit

 Durkheim, Émile: Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2007, 22.  Siehe Hajatpour, 2002, 34.  Koran 2/132, 3/18 f., 4/46, 6/161, 8/72, 12/76.  ebd., 3/3/19, 83, 9/122.  ebd., 3/19, 85, 5/3.  ebd., 9/29, 33, 36, 39/3.  Über die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffes „dīn“ siehe ar-Rāġib al-Iṣfahānī: Muʿǧam mufradāt li-alfāẓ al-Qurān, hg.v. Nadīm Marʿašlī. Beirut 1972, 177– 178; ar-Rāzī, Muḥammad Ibn Abī Bakr Ibn ʿAbd al-Qādir: Muḫtār aṣ-ṣiḥāḥ, hg.v. Maḥmūd Ḥātir und Maktabat Lubnān. Beirut 1999, 91.  Koran 8/39, 2/256, 30/32, 42/13, 49/15.  Miṣbāḥ Yazdī, Muḥammad Taqī: Aḫlāq dar Qurʾān, hg.v. Muḥammad Ḥusain Iskandarī, Bd.1. Ghom 1998, 131– 138.

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dem Ritus hervor. Religion ist für eine große Mehrheit der islamischen Denker eine Mischung von Glauben und Handlung.²⁴ Der Mensch ist gemäß seiner Disposition (fiṭra), die Gott in ihm verankert hat, an Gott orientiert und findet dadurch auch den wahren Glauben. Zu dem „FiṭratInstinkt“ gehört nach Miṣbāḥ auch die Suche nach Wissen und Erkenntnis sowie das Machtstreben. Während Macht durch äußere Mittel erreicht wird, erlangt man Wissen und Erkenntnis durch inneres Vermögen. Misbah stellt sich gegen diejenigen Denker, die den Erwerb von Erkenntnissen, nur auf die Philosophie beschränken. Muḥammad Taqī Ğaʿfarī (gest. 1998) ist jedoch der Auffassung, dass die Grundlage des Glaubens und der Religion die Erkenntnis Gottes ist („awwqal adDīn maʿrifatahu“). Die Vollendung dieser Erkenntnis ist die Zustimmung bzw. Gewissheit der Überzeugung. Ğaʿfarī meint, dass der Glaube an Gott nur dann Zustimmung findet, wenn die Erkenntnis vollkommen ist.²⁵ Ğaʿfarī ist der Überzeugung, dass die wahre Zustimmung nur einer Minderheit möglich ist, die von der eigenen Erforschung und Erkenntnisse geleitetet ist. Die Zustimmung des Glaubens der Mehrheit ist reine Nachahmung und abhängig von vorherigen Prämissen. Die Vollendung dieser Zustimmung führt zum Glauben an seine Einheit. Die Vollendung des Einheitsglaubens ist die Hingabe an Gott. Ğaʿfarī meint, dass der Glaube eine emotionale Reflexion ist, die allerdings auf Gewissheit aufgebaut wird.²⁶ Rezā Dāwarī Ardakānī, Professor für Philosophie an der Teheraner Universität, versucht die Religion von Weltlichem zu trennen und spricht ihr jeglichen apriorischen Bezug zur Ethik, zur Vernunft und zur Wissenschaft ab.²⁷ Auch wenn Dāwarī Ardakānī, sich nicht festlegt, die Grenze und die Beziehung zwischen der Religion und den übrigen Phänomenen der Welt zu benennen, bleibt jedoch kein Zweifel daran, dass Religion für ihn weder eine Form noch eine Kategorie des Denkens und der Welt, sondern der Transzendenz ins Jenseits ist. Die Beziehung zur Religion ist nach Dāwarīs Darstellung durch reine Abhängigkeit und Machtfülle gekennzeichnet. Der Mensch ist dann ein religiöses Wesen, wenn er einer übernatürlichen Macht gegenübersteht und sich willenlos ergibt. Für Dāwarī gehören das Überwältigtsein vom Ganzen und der Ritus eng zusammen. Die Handlung ergibt sich quasi durch die Natur der Zustände und den

 Siehe dazu Ḥamdī, ʿAlī Aḥmad: al-Insān wa-l-muǧtamaʿ fī l-fikr al-islāmī. Kairo: An-nahar litabʿ wa an-anšr wa at-tauziʿ, 1998, 36 ff.; ʿUtayya, Aḥmad ʿAbd al-Ḥalīm: al-Aḫlāq fī l-fikr al-ʿarabī al-muʿāṣir. Kairo 1998, 215.  Ǧaʿfarī, Muḥammad Taqī: Tarǧuma wa-tafsīr nahǧ al-balāġa, Bd. 2. Teheran 1997, 32– 36.  ebd., 56.  Dāwarī, Riḍā: Farhang, ḫirad wa āzādī. Teheran 1999, 77– 111.

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Grad der Ergebenheit gegenüber der Übermacht Gottes. In diesem Sinne meint Dāwarī, dass die Religiosität (diyānat) keineswegs auf Ethik (aḫlāq) und die spekulative Theologie (elm-i kalām) reduziert werden darf. Dāwarī schließt die gegenseitige Anziehung von Ethik und Religion nicht aus, man darf jedoch seiner Meinung nach Religion nicht mit Ethik gleichsetzen. Ihm geht es nicht darum, dass man die Welt leugnet oder in ihr untätig bleibt, vielmehr handelt es sich bei der Welt und der Transzendenz sozusagen um zwei verschiedene „Sprachen“. Das Missverständnis, das bei Dāwarīs Darstellung deutlich zu Tage tritt, liegt an seiner Erklärung, welche zwar eine Differenz zwischen Glaube und Vernunft bzw. Wissenschaft aufweist, nicht aber ihre Beziehung zur Welt näher bestimmt. Dies liegt daran, dass Dāwarī der Religion, im Gegensatz zur Kritik der religiösen Erkenntnis seines zeitgenössischen Denkers Abdulkarim Sourush, eine eigene Sprache zuweist, die sich unabhängig von den Interpretationen der religiösen Wissenschaften artikulieren lässt. Demnach löscht gerade jeder Versuch, der Religion unbestimmt bzw. stumm darstellt, um sie von der Sphäre der religiösen Wissenschaften zu trennen, die Unabhängigkeit der Transzendenz von der diesseitigen Welt.²⁸ Demnach ist die Sprache der Religion in der Welt eine metaphorische Sprache, die durch Rituale zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne erfolgt die Selbsterkenntnis durch die Sprache der Vernunft, doch die Betrachtung des Ganzen ist eine Unmittelbarkeit der Selbst- Welt- und Gotteserfahrung, die mit dem Mystischen identisch ist. Diese Erfahrung hat keine Grenze, denn das Ziel der religiösen Erfahrung des Menschen ist die transzendentale Unbegrenztheit. Auch Abdulkarim Sourush ist der Meinung, dass die anfängliche religiöse Gemeinschaft keine gesetzgeberische, sondern eher eine spirituelle Glaubensgemeinschaft war.²⁹ Die Botschaft des Propheten war es, das Herz des Menschen anzusprechen. Sourush meint jedoch, dass Religiosität und das Wissen über Religion zwei verschiedene Erkenntnisse sind. Es geht um die Souveränität der Vernunft in Sachen des Glaubens. Denn Glaube und Wahrheit stehen unter der Diversität des religiösen Diskurses und der Mensch beansprucht die Freiheit, um Erkenntnisse über seinen Glauben zu erlangen. Der Glaube ist eine persönliche Angelegenheit und verlangt somit auch die persönliche Gewissheit.³⁰ Anders als Sourush ist Muṣṭafā Malakiyān der Auffassung, dass die religiösen Prinzipien, Erkenntnisse und Überzeugungen nicht überprüfbar sind, auch wenn  Zu Sourushs Ideen siehe Hajatpour, 2002, 320 – 339.  Sourush, Abdulkarim: „Mudārā wa mudīriyyat muʾmenān. Suḫanī dar nisbat‐i dīn va dimukrāsī“. In Kīyān, 4. Jahrgang 1373/1994 Nr. 21, Teheran, o. J., 7.  Sourush, Abdulkarim: Basṭ‐e taǧrobe‐ye nabūwī. Teherān: Entešārāt‐e ṣerāṭ, 1999, 6 – 7.

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man den Anspruch haben sollte, dass sie wahr und objektiv sind. Die Rolle der Religion besteht in diesem Fall darin, die Spiritualität in der Gesellschaft lebendig zu erhalten. Spiritualität ist für Malakiyān mehr als eine Religion in der Form, wie wir sie aus der Geschichte kennen. Sie ist die Substanz der religiösen Botschaft. Die Spiritualität kann erst im Menschen verwirklicht werden, wenn der Mensch eine Reihe metaphysischer, ethischer und anthropologischer Kenntnisse verinnerlicht hat. Diese Kenntnisse werden, wenn sie undogmatisch sind, durch die Menschen und ihre Beziehung zur Religion aufgenommen und bilden im Menschen den Kern der Spiritualität, die aus freien Stücken des menschlichen Wollens entsteht. Sie ist deshalb notwendig, weil sie den Missbrauch der Freiheit verhindert.Malakiyān ist der Ansicht, dass Vernunft und Spiritualität zwei untrennbare Bestandteile einer säkularen Gesellschaft sind. Für ihn besteht kein Zweifel daran, sich von der Moderne nicht trennen lassen zu können w. „Ob wir wollen oder nicht, wir sind moderne Menschen.“ Der moderne Mensch, meint er, kann die Religion in der traditionellen Form nicht akzeptieren, weil sie seine Fragen nicht beantworten kann. So bleibt den modernen Menschen nichts anderes übrig, als sich entweder von der Religion zu verabschieden oder ihr eine ihr passende Form zu geben. „Sie können, [sagt er], diese moderne Auffassung von der Religion Spiritualität nennen.“ Was Malakiyān damit erreichen will, ist eine neue Auffassung von Religion, die er mit Spiritualität wiedergibt. Dadurch, glaubt er, wird der wahre Kern der Religion bewahrt. Wenn der Mensch sich ändert, ändert sich auch sein Verständnis von den Dingen und von dem, was ihn umgibt. Mit der inhaltlichen Reduzierung der Religiosität auf eine spirituelle Ebene versucht Malakiyān die grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen Religiosität und Modernität aufzuheben.³¹ Sayyid Muḥammad Ṯaqafī meint, dass kein Widerspruch zwischen Vernunft und Glaube existiert. Die Offenbarung ist die Einheit von Vernunft und Glaube. Zwar ist die menschliche Vernunft begrenzt, ist aber in der Lage sich zu entfalten. Durch Glauben findet die Vernunft den Weg zu Gott. „Vernunft ist die Vorbedingung des Glaubens und der Glaube ist ein Akt, der die Vernunft in Form einer Anziehungskraft und Ausdehnung jenseits ihrer Reichweite ermöglicht und das ist der Punkt, an dem Glaube und Vernunft sich vereinen.“³²

 Poya, Abbas: Religiös und doch modern: Die Frage der Kompatibilität von Religion und Moderne in den Schriften von Muṣṭafā Malakiyān. In Die Welt des Islams 48, 2008, 1– 22; Sorūš, ʿabdulkarīm/ Moǧtahed Šabestarī/ Kadīwar, Muḥsan/Malakiyān, Muṣṭafā, Sunnat wa sekulārīsm. Teheran 2004.  Ṯaqafī, Muḥammad: Imān wa aqlāniyyat. In Mağalla taḫaṣṣuṣī kalām-i islamī. Jahrgang 7, 1998, Nr. 27; Ghum: Muʾassisa taḥqiqāt wa tʿalīmāt-i Imām Ṣādiq. Hauza ʿimliyya Qum (Sāl-i haftum, Šumāreh 27). 72.

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Für Dāwarī ist Vernunft ebenfalls begrenzt und aus diesem Grund kann sie nicht die Quelle des Glaubens sein. Denn der Glaube ist eine innere Reflexion. Alles was mit der Vernunft erfasst wird, ist eine menschliche Erkenntnis. Glaube ist jedoch keine erworbene Erkenntnis, vielmehr trägt der Mensch ihn schon von seiner Erschaffung an in seinem Wesen mit sich. Dāwarī macht damit die Religiosität zu einer unlogischen Handlung, die jeder nur für sich entscheiden kann. Die Theologie ist eine Wissenschaft, die versucht, Glaubensinhalte rational zu erklären. So jedoch wie Dāwarī die Religiosität darstellt, kann sie nicht rational erklärt werden. Im Sinne von Wittgenstein kann man sagen, dass sie ein inneres Bekenntnis, ein Erlebnis des Unlogischen ist.³³ Mit dem jungen Wittgenstein kommt der Glaube als ein rein mystisches Erlebnis in einem „radikalen Schweigen“; Schweigen wird daher nicht im Sinne der „verzweifelten Sprachlosigkeit“ verstanden, „denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.“ […] [denn] „wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“.³⁴ Wittgensteins Gedanken über die Religion kann man tatsächlich nur dadurch erklären, dass im Ritus, wie Wuchterl ihn interpretiert, „dem Menschen [….] etwas bedeutsam werden kann, was sonst nicht erfasst wird.“³⁵ Der Mensch in Wittgensteins Sinne ist dadurch ein „zeremonielles Tier“. Diese „sprachbezogene Ritualisierung“ ist meines Erachtens der Ausgangspunkt der Überwindung der menschlichen Sprachlosigkeit. Das Mystische lässt sich nun in einem religiösen Sprachspiel begreifen. Auch in der islamischen Mystik findet man ähnliche Aussagen. Muḥammad Abu Hamid al-Ġazālī hielt das Erlebnis des Religiösen für etwas Unaussprechliches. Nur durch das Schmecken (ḏauq) ist der Glaube erfassbar. Die Rituale sind daher eine allegorische und sogar metaphorische Funktion, womit der Mensch versucht, das Unaussprechliche zu artikulieren, ohne ein Wort darüber zu verlieren.³⁶ Religiosität ist daher nicht nur ein innerer Zustand, sondern eine Haltung, die durch den Ritus zum Ausdruck kommt und wodurch der Mensch seine besondere Stellung im Kosmos bekundet. Mit Ritus versucht der Mensch, die innere Welt zu interpretieren. Die Sprache wird zum Medium der Seele. In diesem Sinne lassen

 Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Philosophische Untersuchungen, hg.v. Peter Philipp. Leipzig, 1990, 86.  ebd., 88 – 89.  Wuchterl, Kurt: Analyse und Kritik der religiösen Vernunft. Bern u. Stuttgart, 1989, 212– 213.  Hajatpour, Reza: Vom Gottesentwurf zum Selbstentwurf. Die Idee der Perfektibilität in der islamischen Existenzphilosophie. Freiburg: Karl Alber Verlag, 2013, 273.

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sich ebenso die religiösen Handlungen interpretieren. Demnach befindet sich der Mensch in einem interpretativen Selbstbekenntnis, das in einem dialektischen Verhältnis zu innerer Ratlosigkeit und einem unaufhörlichen Verlangen nach existentieller Erfüllung steht. Es ist sozusagen der Ausdruck der Selbsterkenntnis, der Selbstdefinition und des Selbstentwurfes. Im Wortlaut des Korans ist der Gottesdienst (ʿibāda) Ziel der Schöpfung. Damit zeigt der Koran, dass im Ritus der Sinn der Schöpfung offenbart wird. So verkörpert der Ritus ein seelisches Erlebnis für den Menschen. Nach Ansicht des libanesischen Gelehrten Muḥammad Ğawād Muġniya beinhaltet „ʿibāda“ nicht nur den rituellen Gottesdienst, sondern symbolisiert die besondere Stellung des Menschen im Kosmos. Muġniya zufolge drückt diese Stellung die spezielle Stellvertreterschaft Gottes aus (Ḫalīfa), die der Mensch auf der Erde trägt. Laut Koran wird der Mensch als sein Sachwalter auf der Erde eingesetzt. „Und als dein Herr zu den Engeln sprach: ‚Siehe, ich will auf der Erde für mich einen Sachwalter einsetzen‘, da sagten sie: ‚Willst du auf ihr einen einsetzen, der auf ihr Verderben anrichtet und Blut vergießt? Wir verkünden doch deinen Lob und rühmen dich.‘ Er sprach: ‚Siehe, ich weiß, was ihr nicht wisst.“³⁷ Durch den Ritus zeigt der Mensch seine besondere Bewunderung für die göttliche Macht und Handlungen. Gleichzeitig sieht er sich mit seiner Stellung als Stellvertreterschaft Gottes als die „Verkörperung göttlicher Macht und des Handlungsvermögens“ (mażharan li-qudrat Allāh fī qudratihi wa fī aʿmālihi), in der Welt. Das hat zur Folge, für göttliche Belange Verantwortung zu übernehmen. Der Mensch setzt sich für die „Kultivierung der Erde“ (fī taʾmīr al-arḍ), die „Nutzbarmachung des Kosmos“ (istiġlāl al-kaun) und seiner Elemente und für die „Errichtung eines vergleichbaren Lebens“ (fī banā ḥayāt miṯli) ein. Ob mit dieser besonderen Stellvertreterschaft politische Herrschaft gemeint ist, ist den Aussagen Muġniyas nicht zu entnehmen. Einige Forscher sind der Meinung, dass diese Position jedem Menschen zukommt und sich auf die allgemeine Herrschaft des Menschen in der Welt bezieht.³⁸ In dem bereits genannten koranischen Vers 2/30 findet einen Dialog zwischen Gott und den Engeln statt, so dass er einen „Ḫalīfa“ einsetzen möchte. Der Anglikaner Kenneth Cragg (1913 – 2012) übersetzt diesen Terminus mit ‚Statthalter‘ oder ‚Stellvertreter‘, welcher alle Menschen auf der Erde umfasst, sei es Mann oder Frau.³⁹

 Koran 2/30.  Cragg, Kenneth: Privilege of Man. Oxford onward publication, 2003, 3.  Cragg, Kenneth: Sandals at the Mosque. Oxford University Press, 1959, 45 – 46.

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Dass der Mensch als Stellvertreter Gottes auf Erden bestimmt wurde, führt zum Protest der Engel. Sie haben moralisches Bedenken und raten Gott von diesem Schritt ab, weil sie ahnen, dass der Mensch Unheil anrichten wird. Gott antwortet darauf, dass er es besser weiß woraufhin er Adam lehrt, alle Dinge zu benennen. Die Namensgebung ist laut Cragg ein klassisches semitisches Bild für Souveränität. Diese Position erhebt den Menschen sogar über die Engel, da Gott sie sonst nicht aufgefordert hätte, sich vor Adam, dem prototypischen Menschen nieder zu werfen. Allein der Teufel (Iblis) weigert sich aus Hochmut und Unglauben. Diese Weigerung ist gleichbedeutend mit einer Verweigerung der Anerkennung Gottes, seiner Herrschaft und Schöpfungsautorität. Dies gilt auch auf Erden: Gott wird verhöhnt, wo der Mensch verachtet wird. In diesem Sinne ist der Mensch „Pächter“ der Welt, vertritt Gott als Herrscher im Sinne von delegierter Autorität. „Ḫalīfa“ beinhaltet auch den Aspekt von Herrschaft moralischer Verantwortung: Herr und Diener. Der Mensch hat keine Souveränität über die Welt, außer in der Verantwortung vor Gott. Diese doppelte Berufung des Herrschens und Dienens wird im Ritualgebet durch die abwechselnden Haltungen des Stehens und der Prostration symbolisch-leibhaftig zum Ausdruck gebracht. Diese Verantwortung führt dazu, dass der Mensch seiner Pflicht nachgeht. Muġniya zufolge, wird verurteilt wer seine Verpflichtung vernachlässigt in Trägheit verfällt und das Vertrauen Gottes bricht.⁴⁰ Kein anderes Wesen ist würdig Gott auf der Erde zu vertreten, mit Ausnahme des Menschen.⁴¹ Dem koranischen Vers „laisa li-al-insāna illā mā saʿā wa anna saʿyahu saufa urā“⁴² zufolge wird der Mensch nur durch seine Leistung beurteilt. Diese von ihm zu erbringende Leistung bedarf der Tätigkeit in der Welt. Menschliches Handeln kann ohne Freiheit nicht gedacht werden, sonst wäre der Mensch in seinem Glauben prädestiniert. Ohne Freiheit ist er, wie Muḥammad Ğawād Muġniya betont, kein Mensch und kann somit auch keinen Wert und keine Personalität beanspruchen.⁴³ Demnach verfügt der Mensch über sich selbst, ist für sich verantwortlich und kann nur allein für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden. Er ist Schöpfer seiner Handlungen, auch wenn er sich der Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Nicht nur als Gemeinschaftswesen ist er entlastet, sondern in seinen Glaubensfragen, in seinen seelischen Fragen und in den Bedürfnissen seiner Innenwelt. Nur als Individuum ist es dem Menschen möglich hier Antworten zu    

Muġnīya, Muḥammad Ǧawād: Falsafat al-aḫlāq fī l-islām. Dar al-ilm li-l-Malaiin, o. J., 160. ebd. 77. Koran 53/39 – 40. Muġnīya, Muḥammad Ǧawād: Maʿālim al-fasafat al-islāmiyya. Maktabat al-hilal, o.J., 122.

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finden. Die Offenbarung spricht zwar alle Menschen gleichermaßen an, nicht aber alle Menschen können sich ihr gleichermaßen zuwenden. So müssen wir auch den Urvertrag des Menschen mit Gott bzw. seine Urzustimmung zu Gott als ein individuell-kognitives Bekenntnis verstehen. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Jeder Mensch kann nur aufgrund seines Ermessens, seines seelischen und körperlichen Vermögens der Offenbarung begegnen. Das sind wesentliche Bedingungen, die im Koran den Handlungen vorausgehen.⁴⁴ Der Mensch steht nicht in Verantwortung für die Taten und Glaubensinhalte anderer. Das Selbst ist im koranischen Sinn der Ausgang seiner Selbstdefinition, und diese wird an seinen Handlungen gemessen: „Ihr Gläubigen! Haltet Euch an euch selber (und kümmert euch nicht zu sehr um die anderen)! Es kann euch nicht schaden, wenn einer irregeht, wenn ihr (selber dabei) rechtgeleitet seid. Zu Gott werdet ihr (dereinst) allesamt zurückkehren. Und dann wird er euch Kunde geben über das, was ihr (in eurem Erdenleben) getan habt.“⁴⁵ Mūsawī Lārī meint sogar, dass der Mensch so geschaffen ist, dass die körperlichen und seelischen Probleme für seine geistige und seelische Entwicklung und Vollendung notwendig seien.⁴⁶ Schon am Tag der Zustimmung zu der göttlichen Herrschaft (a lastu birabbikum)⁴⁷ geht er einen „religiösen Urvertrag“ mit Gott ein. Gemäß Gehlens Begriff von der „Entlastung“ kann allein die Einbindung in die Glaubensgemeinschaft nicht schon als Entlastung verstanden werden. Hier spielt die individuelle Handlung eine tragende Rolle. Aber auch alle anderen „Bedürfnisse der Innenwelt“ sind der individuellen Handlung untergeordnet. Diese erzeugt einen Entwurf der Innenwelt, da der Mensch diese Innenwelt nur selbsttätig und souverän bewältigen und gestalten kann. Als Institution ist der Glaube wiederum gebunden an Notwendigkeiten, Interessen, Reduktion und Freiheitsverzicht. Der Glaube kann aber nicht reduziert werden. Wenn der Glaube als Urprinzip dem existentiellen Ursprung zugrunde liegt, so kann er nur in der Freiheit und völligen Uneingeschänktheit seine konkrete, aber auch seine vollständige Form erlangen. Er kann keineswegs in Freiheitsentzug vollzogen werden. Überhaupt können Entwürfe nur dort entstehen, wo kein Selbstentzug bzw. Selbstverlust vorausgeht. Mit einem Freiheitsentzug geht ein solcher Selbstentzug bzw. Selbstverlust notwendigerweise einher. In diesem Sinne formuliert der libanesische Gelehrte Muġniya treffend:    

Koran 53/39. Koran 5/105. Mūsawī Lārī, Muǧtabā: Riṣālat-i aḫlāq dar takāmul-i insān. Ghom, 41999, 166. Koran 7/172.

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Also die Freiheit ist nicht ein Vermögen, das von den Vätern und Urvätern ererbt wird und keine Eigenschaft, die durch Erziehung und Umwelt erworben wird. Sie ist auch kein Ergebnis der Ergebnisse der historischen Entwicklung, wie die Marxisten behaupten. Sie ist eine essentielle Eigenschaft des Menschen, der er nicht entrinnen kann [von der er sich nicht befreien kann]. Wenn er [der Mensch] versuchen und sich bemühen würde, mit seiner Willenskraft und der Freiheit, nimmt er damit die Selbstverpflichtung und die Verantwortung auf.⁴⁸

Der Mensch ist aufgrund seiner Willenskraft und der Fähigkeit, sich Erkenntnisse anzueignen in der Lage selbstständig zu fungieren und Verantwortung zu übernehmen. Ferner ist er in der Lage, durch die Kraft seines Geistes und seiner Leistung den Vollzug seines Wesens gewährleisten zu können, seine Ziele und Pflichten zu erfüllen, und vor allem in seiner Glaubenswelt, Gott nach seiner eigenen Erfahrung und Leistung näher zu kommen. Somit kann er sich als Person und Ebenbild Gottes der Aufgabe hingeben gerecht zu werden, die ihm auferlegt wurde. Der Mensch ist, wie Sartre sagt, „nichts anderes als das, wozu er sich macht.“⁴⁹ In diesem Sine ist der Mensch in allen seinen Taten und Verpflichtungen der Vollbringer seiner Person und das gilt auch für seine Glaubenswelt. Er verwirklicht sich im Glauben und in seiner Gottesbezogenheit nach dem Grad seiner Fähigkeit und seiner Verantwortung. Das bedeutet, dass der Mensch nur als freies Wesen, und in der Praxis seiner freien Tat in der Lage ist, seine Wirklichkeit zu bestimmen. Der Mensch ist sozusagen ein Produkt seiner Freiheit und seiner Handlungen, auch wenn es ihm nicht immer gelingen kann, sein Ganzes zur Entfaltung zu bringen. Dennoch ist er der Künstler seines Gewordenseins, nicht aber der Erschaffer seiner Existenz. „Der Mensch ist, was er vollbringt“.⁵⁰ Diese Aussage von Sartre gibt aus islamischer Sicht nicht die ganze Wirklichkeit des Menschen wieder, macht aber klar, dass der Mensch den Grad seines Menschseins und alles, was aus seinen Taten hervorgeht, durch Selbsttätigkeit erreichen kann. Schon vor Sartre hören wir von Kant einen ähnlichen Ton, der jedoch das Ganze und die existentielle Fülle des Menschen anspricht. Bei Kant erlangt der Mensch sein vollwertiges Personsein in seiner freien Handlung: „Nur durch das, was er tut, ohne Rücksicht auf Genuss, in voller Freiheit und unabhängig von dem, was ihm die Natur auch leidend verschaffen könnte, gibt er seinem Dasein als der Existenz einer Person einen absoluten Wert; und die

 Muġnīya: Falsafat al-aḫlāq fī l-islām, 75 – 76.  Sartre, Jean Paul. „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“. In Drei Essays. Frankfurt, 1977, 11.  ebd. 23.

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Glückseligkeit ist, mit der ganzen Fülle ihrer Annehmlichkeit, bei weitem nicht ein unbedingtes Gut.“⁵¹ Murtaḍā Muṭahharī (gest. 1979) versucht, ähnliche Gedanken wie Sartre aus seiner islamisch-schiitischen Glaubensvorstellung zu konstruieren, allerdings mit dem Unterschied, dass der Mensch, seine Freiheit und seine natürliche Anlage einen göttlichen Ursprung haben und somit der Mensch seine Existenz und sein Tun unter der Gnade Gottes bewähren kann. Daher ist für Muṭahharī Gott nicht untätig und wird auch nicht, wie Sartre behauptet, durch die Freiheit des Menschen überflüssig, sondern ist der Grund und der Sinn alles Seienden. Alle Aktivitäten in der Welt und nicht zuletzt die Freiheit des Menschen weisen Muṭahharī zufolge auf die göttliche Notwendigkeit hin.⁵²Die Intention, die oben von Musawī Lārī als Ausgangspunkt des Handelns verstanden wurde, dient daher als Bewusstsein und Willensakt, worauf sich das freie und verantwortliche Handeln bezieht. Denn Freiheit und Bewusstsein sind Bedingungen, unter denen die Strafe nach Muġniya gerechtfertigt werden kann.⁵³ Die Institutionen können nur als äußere Mittel betrachtet werden, vor denen die Selbstverfügung des Menschen geschützt bzw. durch welche sie garantiert wird. Alle seelischen Ereignisse sind daher gebunden an eine selbsttätige interpretative Selbstbekenntnis bzw. Selbstauslegung. Daraus folgt, dass in der religiösen Vorstellung nicht Gott, sondern der Menschen für das Gute und Übel verantwortlich ist. Die religiöse Betrachtung sieht den Menschen als ein freies und rationales Wesen an, als Erbauer seiner Lebenswelt und -kunst. Seine Religiosität ist in diesem Sinne verbunden mit dem Entwurf seiner eigenen Glaubenswelt. Folglich sind Vernunft, Glaube, Seele und die Welt überhaupt innere Erscheinungen eines Selbstentwurfes.

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Demanding Tolerance in a Middle Eastern Context: The Example of Mājid al-Gharbāwī Introduction

In 2006, during the outbreak of sectarian violence in Iraq, a book was published in war-torn Bagdad, entitled Tolerance and the Sources of Intolerance. ¹ In the preface, its author, the Iraqi scholar Mājid al-Gharbāwī (b. 1954), a trained Shia theologian and researcher of religious thought², states that there is no other choice left for the Muslim people than to embrace the values of tolerance (at-tasāmuḥ), forgiveness (al-ʿafw), mercy (ar-raḥma), brotherhood (al-ʾuḫūwa), and peace (as-salām) among themselves.³ In so doing, he addresses the Iraqi people specifically and the Muslim community more broadly, and states that there are two main challenges for the Iraqi people in cultivating tolerance. First, they would find themselves in a process of transformation, moving from a despotic political system to a democratic one. Second, it is a country with a high degree of cultural, religious, confessional, and ethnic diversity, populated by “Muslim and Christians, Mandeans and Yezids, Shiites and Sunnites and a large number of different Christian denominations as well as Arabs, Kurds, Turkmen, Assyrians and Chaldaens.”⁴ Given this context, al-Gharbāwī is not exaggerating when he calls tolerance an “essential remedy”⁵ to prevent widespread sec-

I am thankful to Kenneth Garden and Andrew Wildermuth for corrections and remarks on a previous version of this paper. The Qurʾān verses in the text are quoted from Marmaduke Pickthall, The Meaning of the Glorious Koran. An Explanatory Translation by Marmaduke Pickthall (London: George Allen and Unwin, 1948). All other translations from Arabic are my own.  Mājid al-Gharbāwī: at-Tasāmuḥ wa-manābiʿ al-lā-tasāmuḥ. Furaṣ at-taʿāyush bayna l-adyān wa-th-thaqāfāt. Bagdad: Markaz Dirāsāt Falsafat ad-Dīn, 2006. The book was published in a second edition in 2008. My citations follow the first edition. See also the essay “at-Tasāmuḥ wamanābiʿ al-lā-tasāmuḥ. Muqārabāt tamhīdiyya,” in at-Tasāmuḥ laysa minna aw hiba, ed. ʿAbd al-Jabbār ar-Rifāʿī. Beirut: Dār al-Hādī, 2006: 149 – 195. In the following paper, I shall focus on the monograph.  See hereto “Mājid al-Gharbāwī: Sīra dhātiyya,” Ṣaḥīfat al-Muthaqqaf, http://www.almothaqaf. com/k/majedalgharbawi/885900 (accessed 15/07/2018).  al-Gharbāwī: at-Tasāmuḥ, 11.  ibid., 14.  ibid., 13. https://doi.org/10.1515/9783110588590-015

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tarian killing and to enable the people to surmount local religious and confessional conflicts.⁶ In the following essay, which is primarily a revised version of a presentation which I gave at the conference Rationality in Islamic Theology between Traditions and Modernity, in Erlangen, I point out how al-Gharbāwī’s interpretation of the Arabic term tasāmuḥ reflects his rational approach to tolerance as both a term and concept. For this purpose, I focus on three main aspects of his book: the definition of tolerance, the political preconditions of its implementation, and the rejection of religious extremism. I further state to what extent al-Gharbāwī’s demand for tolerance must be regarded as an intellectual reflection of his own religious and cultural tradition. Such an approach asserts that interpretations of tolerance are the result of a specific historical, cultural, and socio-political context. This approach also admits that in neither the European-Christian nor the Middle-Eastern-Muslim context has thinking about tolerance – whether as “simple toleration,” “acceptance,” or “appreciation” – emerged in a timeless vacuum. Especially when we bear in mind the conclusion of Rainer Forst, who has defined “toleration/tolerance” as a “term of conflict” (Konfliktbegriff)⁷: “an attitude or practice which is only called for within social conflicts of a certain kind.”⁸

1 Two Traditions of “Tolerance” 1.1 The European Context In his impressive study Toleration in Conflict, Forst analyses how the ancient stoic term tolerantia has developed through European history into a concept that “promises a coexistence in disagreement.”⁹ He divides toleration/tolerance into four concepts: permission, coexistence, respect, and esteem. First defined by Cicero (d. 43 BC) as enduring pain, misfortune, and injustice, the term tolerantia changed its meaning under the supremacy of Christianity to a patient indulgence towards the behavior of others in the sense of enduring their wrongdoings and

 al-Gharbāwī: at-Tasāmuḥ, 19.  Rainer Forst: Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, 12.  Rainer Forst: Toleration in Conflict. Past and Present, übers. v. Ciaran Cronin. Cambridge: Cambridge University Press, 2013, 1.  Forst: Toleration, 1.

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unbelief.¹⁰ Forst classifies this aspect of tolerance as the permission conception ¹¹ and subsumes within this conception the late antique and medieval Christian understandings of tolerance/toleration, as well as the Edict of Nantes (1598) of the Reformation Era. Moreover, he considers the Peace of Augsburg (1555) to be an example of the combination of the concepts of permission and coexistence of toleration/tolerance, which are based on the insights of “groups of approximately equal strengths who recognise that they must practice tolerance for the sake of social peace and in their own interests.”¹² It was not, however, until the bitter experiences of the confessional wars in Early Modern Europe (French Wars of Religion, Thirty Yearsʾ War) that toleration/tolerance finally developed into an independent philosophical and political object. Pathbreaking in this regard was John Locke‘s (1632– 1704) A Letter Concerning Toleration of 1689, which Forst regards as a culmination of liberal justifications of toleration.¹³ At this point Forst comments on the respect conception, which “proceeds from a morally grounded form of mutual respect” in which the “tolerating parties respect one another as autonomous persons or as equally entitled members of a political community constituted under the rule of law.”¹⁴ Finally, during the European Enlightenment, the term tolerance received a “secular generalization” (säkulare Generalisierung).¹⁵ Whereas it has previously been predominantly applied to religious affairs, it was henceforth used in the sense of accepting moral, philosophical, and political views. After the experiences of the “Age of extremes”¹⁶ of the 20th century, the Declaration of Principles on Tolerance by UNESCO Member States in 1995 has surely been one of the most important attempts of establishing an internationally unified understanding of the meaning and practice of tolerance.¹⁷ According to the declaration, tolerance is

 ibid., 38.  Forst: Toleration, 27: “Toleration here means that the authority (or majority) grants the minority the permission to live in accordance with its convictions so long as it – and this is the crucial condition – does not question the predominance of the authority (or majority).”  ibid., 28.  ibid., 208.  ibid., 29.  Gerhard Besier, Klaus Schreiner. “Toleranz,” In Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, hg.v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Stuttgart: Klett-Cotta, 1990, 445 – 605; 495.  See Eric Hobsbawm: The Age of Extremes: A History of the World, 1914 – 1991. New York: Vintage Books, 1996.  UNESCO. “Declaration of Principles on Tolerance, 16 November 1995,” http://portal.unesco. org/en/ev.php-URL_ID=13175&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (accessed 15/12/ 2018).

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defined as “respect, acceptance and appreciation of the rich diversity of our world’s cultures, our forms of expression and ways of being human” (1.1) and as “the responsibility that upholds human rights, pluralism (including cultural pluralism), democracy and the rule of law” (1.3). However, this modern view of tolerance as a “beacon of multicultural justice and civic peace”¹⁸ has also been critically assessed. Wendy Brown has argued that western political and social discourses on tolerance tend to produce subjects and meanings of identity through a politic of “regulating aversion” by marking religious, social, cultural, and ethnical borders, rather than accepting and appreciating differences as characteristics of a democratic society.¹⁹ With regard to the function of tolerance, the UNESCO declaration undoubtedly reflects the European experiences of toleration/tolerance as a term of conflict by emphasizing its function as an instrument of peacebuilding (1.1) and as a positive virtue that can alleviate conflicts on different social levels (religious, cultural, ethnic, and sexual). Nevertheless, the breadth of this definition has made it accessible for non-western cultures, which might be the reason that the declaration was also signed by every one of the Islamic member states of UNESCO, including Iran and Saudi Arabia.

1.2 “Tolerance” in Islamic Tradition: Some Classical Terms and Conceptions In the Islamic tradition, conceptions of tolerance usually refer directly to the Qurʾān. Here, Q 2:148, 5:48, and 109:6 play especially important roles with regard to the behavior of Muslims towards practitioners of other religions: And unto thee have We revealed the Scripture with the truth, confirming whatever Scripture was before it, and a watcher over it. So judge between them by that which Allah hath revealed, and follow not their desires away from the truth, which hath come unto thee. For each We have appointed a divine law and a traced-out way. Had Allah willed He could have made you one community. But that He may try you by that which He hath given you (He hath made you as ye are). So vie one with another in good works. Unto Allah ye will all return, and He will then inform you of that wherein ye differ.²⁰

 Wendy Brown: Regulating Aversion. Tolerance in the Age of Identity and Empire. Princeton/ Oxford: Princeton University Press, 2006, 1. See also Wendy Brown, Rainer Forst: The Power of Tolerance. A Debate, hg.v. Luca Di Blasi, Christoph F. E. Holzhey. New York: Columbia University Press, 2014.  Brown: Regulation, 4.  Q 5:48.

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Also important are Q 10:99²¹ and Q 2:256 (“There is no compulsion in religion”), which, according to Yohanan Friedmann, have become the “prooftext” for the idea of religious freedom in Islam.²² Both verses seem to prohibit coercion in matters of faith, and therefore play a prominent role in contemporary Muslim reform discourses on toleration.²³ In addition to these statements which express an embrace of diversity, other verses of the Qurʾān rather call to fight the followers of Arab polytheism (almushrikūn). As Q 9:5 states, they must be combated until they convert to Islam: “Then, when the sacred months have passed, slay the idolaters wherever ye find them, and take them (captive), and besiege them, and prepare for them each ambush. But if they repent and establish worship and pay the poor-due, then leave their way free. Lo! Allah is Forgiving, Merciful.” In contrast to this treatment of the idolaters, however, is the relationship to the “People of the book” (ahl al-kitāb), i. e., Jews and Christians, who, along with the Sabians and the Zoroastrians, are regarded as “protected people” (ahl adhdhimma).²⁴ Non-Muslims categorized by this status were allowed to continue practicing their religion and to follow the regulations of their own religious laws, but were not treated as equal to Muslims. Their status was bound to the condition that all male members among the dhimmīs were to pay a poll tax (al-jizya) to the Muslim authorities. According to Anver Emon, the dhimmī rules “were a legal expression of the way in which the Muslim polity contended with the fact of diversity and governed pluralistically.”²⁵ But the dhimmī rules at the same time subjected non-Muslims to discrimination, as the “Ordinances of ʿUmar” (ash-shurūṭ al-ʿumariyya) clearly show.²⁶

 “And if thy Lord willed, all who are in the earth would have believed together. Wouldst thou (Muhammad) compel men until they are believers?”  Yohanan Friedmann: Tolerance and Coercion in Islam. Interfaith Relations in the Muslim Tradition. Cambridge Studies in Islamic Civilization. Cambridge: Cambridge University Press, 2003, 100.  See Khaled Abou El Fadl. “The Place of Tolerance in Islam”. In The Place of Tolerance in Islam, hg.v. Joshua Cohen, Ian Lague. Boston: Beacon Press, 2002, 3 – 23.  During the early Muslim conquests the dhimmī-status was extended also to non-ahl al-kitāb, such as Buddhists and Hindus.  Anver Emon: Religious Pluralism and Islamic Law: Dhimmis and Others in the Empire of Law. Oxford Islamic Legal Studies. Oxford: Oxford University Press, 2012, 4.  For the “Pact of ʿUmar” see Albrecht Noth. “Problems of Differentiation between Muslims and Non-Muslims: Re-reading the ‘Ordinances of ʿUmar’ (Al-Shurūṭ al-ʿUmariyya)”. In Muslims and Others in Early Islamic Society, hg.v. Robert Hoyland, The Formation of the Classical Islamic World 18. Aldershot/Burlington: Ashgate, 2004, 103 – 124.

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Besides this most important classical Islamic concept of toleration toward non-Muslims, Islam has also developed concepts of accepting diversity from within. As Thomas Bauer demonstrates, Islam has distinguished itself through a long “culture of ambiguity” by accepting the plurality of discourses, different meanings, and interpretations.²⁷ Among other examples, Bauer cites the accepted readings of the Qurʾān (al-qirāʾāt) and the diversities of opinion in religious law (al-iḫtilāf). He shows how iḫtilāf has been legitimated in Islamic legal thought by a saying attributed to the Prophet Muḥammad, in which he declares it as a “mercy” (raḥma) for the Muslim community.²⁸ It is remarkable that Forst in his extensive study also manages to analyze the work of two of the most important Islamic thinkers of their own times, and of Islam in general: the Persian theologian Abū Ḥāmid al-Ghazālī (d. 505/1111) and the Andalusian jurist and philosopher Ibn Rushd (“Averroes,” d. 595/ 1198). Both scholars shared the idea of tolerating alternative understandings as long as they do not question or contradict the basic truths of religion.²⁹ For al-Ghazālī, such actions which open one to charges of unbelief include not believing in God, deeming the Prophet a liar, and denying corporal resurrection.³⁰ With regard to their influence on European thought, Forst concentrates more on Ibn Rushd than on al-Ghazālī. He demonstrates how Ibn Rushd distinguishes between literal and allegorical understandings of religious law so as to show that philosophical truth-seeking does not contradict faith. For Ibn Rushd, basic truths of religion, such as the acknowledgement of God and the prophethood, represent the “apparent meaning” of the law and must be understood literally. To question or criticize these truths must, therefore, be regarded as an act of unbelief (al-kufr) and should be punished. But in the domain of the “esoteric meaning” of the religious law, which is to be allegorically interpreted and is only accessible to a small elite of capable religious scholars, difference of opinion and deviation are permissible. Forst finally concludes that “ideas such as these – in particular that of an autonomous philosophical truth alongside the religious truth that

 Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011.  Bauer: Die Kultur der Ambiguität, 183 – 185.  Schulze: Der Islam und die Toleranz, 59.  See Sherman A. Jackson: On the Boundaries of Theological Tolerance in Islam. Abū Ḥāmid alGhazālī’s Fayṣal al-Tafriqa Bayna al-Islām wa al-Zandaqa. Studies in Islamic Philosophy I. Oxford: Oxford University Press 2002, 131. Frank Griffel. “Toleranzkonzepte im Islam und ihr Einfluß auf Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres”. In Bodinus Polymeres. Neue Studien zu Jean Bodins Spätwerk, hg.v. Ralph Häfner, Wolfenbütteler Forschungen 87. Wiesbaden: Harrassowitz, 1999, 119 – 144; 126 ff.

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poses a challenge to every religious orthodoxy – […] underlay the enduring influence of Averroes under the guise of ‘Averroism’ into modern times, especially during the Renaissance.”³¹

1.3 Tasāmuḥ and “Tolerance” The term that is used in the Arabic translation of the UNESCO Declaration of Principles on Tolerance is the same one that al-Gharbāwī uses in his 2006 published monograph: tasāmuḥ, ³² literally meaning “being wide or ample” and acting “in an easy, or a gentle manner, one with another.”³³ In its sixth form of the Arabic root s-m-ḥ, tasāmuḥ expresses a mutual action. The classical lexical meaning of tasāmuḥ also carry connotations of indulgence bound to one’s “permission”³⁴ in the shape of an act of graciousness towards a subordinate. According to the definition of the Lisān al-ʿArab of Ibn Manẓūr (d. 711/1311), tasāmuḥ is equal to the words jūd (benignity, goodness) and tasāhul, which is there defined as “acting in an easy or facile manner, one with another.”³⁵ Since the second half of the 19th century, Arab intellectuals – secular as well as religious – have begun to discuss the meaning and the function of religious and political tolerance by using the terms tasāmuḥ and tasāhul. This new thinking about “tolerance” was promoted during the period of the so-called “rebirth” (an-Nahḍa) of Arabic literature and thought under Western influence. Its pioneers were Muslim and Christian authors like the Egyptian Muḥammad ʿAbduh (1849 – 1905); the Lebanese Faraḥ Anṭūn (1874– 1922) and Amīn arRīḥānī (1876 – 1940); and the Tunisian Muḥammad aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀshūr (1879 – 1973).³⁶ The latter uses the term tasāmuḥ to express an original Islamic religious

 Forst: Toleration, 88.  Munaẓẓamat al-umam al-muttaḥida li-t-tarbiyya wa-l-ʿilm wa-th-thaqāfa. “Iʿlān al-mabādiʾ bi-shaʾn at-tasāmuḥ”. In Sijillāt al-Muʾtamar al-ʿĀmm, ad-Dawra ath-Thāmina wa-l-ʿIshrūn, 25/ 10 – 16/11/1995. Paris: UNESCO, 1996, 76 – 84.  Edward William Lane: An Arabic-English Lexicon, Bd. 4. London: Williams and Norgate, 1872, 1423.  Reinhard Schulze: “Der Islam und die Toleranz”. In Aufgeklärte Zeiten? Religiöse Toleranz und Literatur, hg.v. Romana Weiershausen, Insa Wilke, Nina Gülcher. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2011, 45 – 68; 64.  Ibn Manẓūr: Lisān al-ʿarab, Bd. 3. Kairo: Dār al-Maʿārif, ca. 1982, 2088; Lane: Arabic-English Lexicon, Bd. 4, 1453.  See Sarhan Dhouib. “Toleranz, Intoleranz und Reformgedanken in der arabischen Moderne”. In Pluralität – Subjektivität – Kritik. Akten des Internationalen Kongresses der Schleier-

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tolerance towards non-Muslims, which in his view arises directly from the divine law (ash-sharīʿa).³⁷ Faraḥ Anṭūn, on the other hand, defines the term tasāhul in the sense of the political and religious tolerance of a secular state, which is based on a complete equality between Muslims and Christians.³⁸ From this time on, one generally finds positive connotations bonded with the term tasāmuḥ, such as “conciliation, which is bounded on concessions” (esprit de conciliation, porté aux concessions).³⁹ Therefore, the term tasāmuḥ, which for decades had been used as an indefinite “mutual generosity,” is now widely associated with positive attributes and has ultimately achieved political relevance.

2 Al-Gharbāwī and Tolerance Al-Gharbāwī maintains an understanding of tolerance that goes beyond the religious sphere, and is therefore relevant for all parts of a civil society. According to his biographical information, he studied Islamic religious sciences in a traditional Shia ḥawza ʿilmiyya in Najaf and afterwards taught at a Shia seminary in Qom, Iran. Due to the lack of security, he was forced to leave his homeland and currently lives in Sydney. There, he has founded and chairs The Society of the Arab Intellectual (Muʾassasat al-muthaqqaf al-ʿarabī), an association for Arabic writers and intellectuals. According to his entry on the Al-Muthaqqaf-website, al-Gharbāwī strives to anchor the values of freedom, tolerance, and justice to establish a civil society which is free from violence, hostility and war. He also highlights the main topics to which he devotes his writings and which distinguish him as a reform thinker: “critique of religious thinking,” “tolerance,” “violence,” “Islamic movements,” “women,” and “reform and renewal.”⁴⁰

macher-Gesellschaft in Halle (Saale), März 2017, Schleiermacher-Archiv 27, hg.v. Jörg v. Dierken, Arnulf v. Scheliha, Sarah Schmidt. Boston: Walter de Gruyter, 2018, 45 – 58.  Muḥammad aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀshūr: Uṣūl an-niẓām al-ijtimāʿī fī l-islām. Tunis: ash-Sharika at-Tūnisiyya li-t-Tawzīʿ, 1985, 226 – 233.  Albert Hourani: Arabic Thought in the Liberal Age 1789 – 1939. Cambridge: Cambridge University Press, 1983, 255.  Albert de Biberstein-Kazimirski: Dictionnaire Arabe-Français, Bd. 1. Paris: Maisonneuve, 1860, 1135.  “Mājid al-Gharbāwī. Sīra dhātiyya.”

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2.1 Two Meanings of Tolerance Tolerance and the Sources of Intolerance is divided into three chapters. The first deals with different meanings of tolerance. The second deals with the bases and conditions of tolerance in a pluralistic society. Here, al-Gharbāwī emphasizes the rule of law and civil rights, which include equal rights for non-Muslims, and stresses that a tolerant society could only be realized within the frame of a secular and democratic state. The third and final chapter provides an overview of evidences of central Islamic values in the Qurʾān and Hadith, which al-Gharbāwī declares as essential bases for tolerance: kindness (ar-rifq), leniency (al-ḥilm), forgiveness (al-ʿafw), and mercy (ar-raḥma). Al-Gharbāwī begins with a general observation by asking why people should practice tolerance toward one another. Referring to the principle of human fallibility, he argues theologically and philosophically. Because human beings are fallible in their thinking and behavior, they possess the ability to exercise tolerance towards its fellow men. This ability, al-Gharbāwī argues, was given by God to mankind in the form of human qualities like love (al-ḥubb), mercy, leniency, magnanimity (al-karam), humanity (al-insāniyya), compassion (al-ʿaṭf), and forgiveness. Al-Gharbāwī then emphasizes his view by citing the famous quote of the French philosopher Voltaire (1694– 1778) from his Philosophical Dictionary (1764). According to Voltaire, human beings should pardon one another for their failings: “What is toleration? It is a privilege to which human nature is entitled: we are all made up of weakness and errors, it therefore behoves us mutually to forgive anotherʾs follies. This is the very first law of nature.”⁴¹ In this argumentation, we see how al-Gharbāwī combines the idea of a Godgiven ability to exercise an ethic of tolerance with Voltaire’s demand to pardon each other’s failings. By doing so, al-Gharbāwī links the Islamic theological tradition with the thought of one of the central protagonists of the European enlightenment.⁴² Furthermore al-Gharbāwī makes clear that, before discussing the term tolerance, it is necessary to establish a correct definition of it. Otherwise, a faulty interpretation of the term could lead to its misuse, in the sense of submission and humiliation, as an act of mere mercy, or as a passive ethic that permits and accepts wrong actions.⁴³ Al-Gharbāwī therefore distinguishes between a linguistic  al-Gharbāwī: at-Tasāmuḥ, 13 – 14. For the quote, see Voltaire: The Philosophical Dictionary. London: Wynne and Scholey, 1802, 338.  For a similar argument, see Abdolkarim Soroush: Treatise on Tolerance, Series Praemium Erasmianum Essay. Amsterdam: Praemium Erasmianum Foundation, 2004, 13 – 14.  al-Gharbāwī: at-Tasāmuḥ, 16.

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and a terminological understanding of the term. Referring to the classical philological definition of tasāmuḥ established in Ibn Manẓūr’s Lisān al-ʿArab, alGharbāwī emphasizes that tasāmuḥ literally contains samāḥa (generosity) and jūd (goodness), and argues that, according to its etymological origin, tasāmuḥ contains mercy (al-minna) and magnanimity (al-karam). As he stresses, this linguistic interpretation of tasāmuḥ possesses an inequality between the tolerator and the tolerated, and thus implies a hierarchical relationship between a superior who practices tolerance and an inferior who receives toleration.⁴⁴ Al-Gharbāwī then turns to the meaning of tolerance as a term and emphasizes that the development of tolerance to a suitable concept, which guarantees the consolidation of civil liberties like religious freedom and human rights, was the result of the local confessional conflicts and wars during the 17th and 18th centuries in Europe. By doing so, he emphasizes the influence of the European enlightenment’s philosophical tradition. From this time, he states, tolerating the other was no longer considered as an act of mere mercy or as a withdrawal in favor of the other, but, rather, as a social obligation based on one’s individual rights. Finally, al-Gharbāwī provides his own definition of tolerance: a positive and open-minded point of view towards faiths and opinions that allows a coexistence of different views and beliefs, beyond war and exclusion, based on the right of the other who differs in religious and political views, and rooted in the principle of freedom of thought.⁴⁵ He also points out that this meaning of tolerance is primarily a product of the historical developments in Europe, caused by the decline of the church’s power and influence in political life.⁴⁶ This argumentation shows us that al-Gharbāwī does emphasize the importance of the immediate historical background of the concept of tolerance in Europe, especially when he states that this terminological understanding of tolerance (bi-maʿnāhu al-iṣṭilāḥī), as a concept of accepting and appreciating the rights of the other, is strange (gharīb) to the Arabic and Islamic environment and distant from its language and the forms of its thinking. It is therefore necessary for al-Gharbāwī to consider additional discourses regarding the meaning of tolerance and the question of the extent to which tolerance, as a concept, can be compatible with the predominant values of the society in which it finds itself. For him, it seems clear that this new thinking about tolerance will enable the people to revise their own religious values and will show, at the very least,

 ibid., 16.  ibid., 17.  ibid.

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which of them are suitable and which must be negotiated. He assumes that after this process people would realize that concepts like tolerance and pluralism are not alien to their religion, and that intolerance is in fact the result of an extremist understanding of the holy texts and of religion in general.⁴⁷ Al-Gharbāwī seems to be aware that his aims are highly ambitious. Addressing the reader, he confesses that this reconsideration of traditional values and concepts will require a great measure of openness and willingness to change. Otherwise, attitudes on tolerance will either change not at all, or change in form but not in substance.⁴⁸ Only through an open discourse will the society be able to transform into “a real modern society” which “is ʿmodernʾ not only according to the wording.”⁴⁹

2.2 The Political Framework After al-Gharbāwī points out that the true meaning of tolerance lies in the “appreciation of the other” (iʿtirāf bi-l-āḫar), he then turns to the question of how tolerance might be realized within a pluralistic society, such as Iraq. According to him, four Islamic values are essential to legitimize the concept of tolerance in a society: kindness, leniency, forgiveness, and mercy.⁵⁰ These values would be capable of preventing violence and could help build an atmosphere in which tolerance could be spread. But in creating such a society, he states, there is a great difference between an acceptance of living with the other and a true, deep appreciation of the other. The former would entail a merely pragmatic perspective along the lines of what Forst has called a coexistence conception of tolerance; whereas the latter would signify an appreciation of the other in their otherness, regarding their ethnic and religious identity not as inferior, but as equally worthy as one’s own.⁵¹ This distinction drives al-Gharbāwī to the insight that, if the people cannot yet take the step to actualize this form of appreciation of each other, tolerance as mere acceptance (qabūl al-āḫar) must first be realized through the implementation of civil rights. Only civil rights (ḥuqūq al-muwāṭana) could guarantee equal rights for all members of society, especially for non-Muslims. For this proposal, al-Gharbāwī states plainly, a precondition must already be fulfilled: the unity of     

ibid. ibid., 19. ibid. ibid., 169. ibid., 83.

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the country and the creation of peace and security, two qualities which can only be realized through a strong state that is able to secure the rights of its citizens. How does such a state look? For al-Gharbāwī, it must be a democratic and secular one. He emphasizes that the strength of a democracy depends on the level of tolerance within that respective society. If tolerance lacks, democratic structures will only promote the development of undemocratic and intolerant powers. He argues that the essence of a secular state is not wanting to fight and suppress religion; rather, it must be regarded as a religiously neutral institution that allows for the free practice of religion rather than its suppression. As al-Gharbāwī demonstrates, only within the framework of a secular democratic state can the rights of Muslims and non-Muslims be equally guaranteed and protected by political powers: So if the state were secular, not in the false meaning of the term, but in the sense of the separation of state and religion, then the state would not be hostile toward religion. Because secularism (al-ʿalmāniyya), in its correct meaning, does not imply this attitude. Rather, religion acquires freedom through it [the state], which enables a Muslim society to carry out its religious commandments and express its religious feelings in complete freedom and security, provided, however, that this freedom is also guaranteed for all other religions.⁵²

With regard to this passage, we can observe that al-Gharbāwī does not justify “secularity” through religious terms. He rather only emphasizes that one should not understand “secular” in its “false meaning.”⁵³ The passage shows us how cautiously he argues so as to avoid misunderstanding and to prevent his reader from dismissing him from the outset as a “secularist.” He therefore must make clear that by using the critical term ʿalmāniyya he is not calling for an anti-religious and despotic form of the government, but instead uses ʿalmāniyya in the sense of a separation of state and religion, through which all religious communities and citizens would become carriers of state-protected rights. It is noteworthy that al-Gharbāwī in this case argues religiously concerning the rights of non-Muslims. In this respect he refers to the “Constitution of Medina” (ṣaḥīfat al-madīna), where Muslims and non-Muslims were acknowledged as constituent parts of the new Islamic community with equal rights, as alGharbāwī apologetically states. His reference to such a religious justification shows us that he is not convinced that a bare “secular” argument would suffice to convince his readers.

 ibid., 90.  ibid.

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2.3 Religious Extremism and Religious Freedom In Tolerance and the Sources of Intolerance, al-Gharbāwī declares religious extremism (at-taṭarruf ad-dīnī) to be the exact opposite of tolerance.⁵⁴ According to him, it represents the most dangerous source of intolerance, because it “hides itself behind the clothes of religion and exploits the religious text.”⁵⁵ People accept extremist opinions very quickly precisely because these are often hidden under the guise of religious concepts like “the striving in the path of God” (al-jihād fī sabīl allāh), the “good deeds” (al-ʿamal aṣ-ṣāliḥ), and “commanding right and forbidding wrong” (al-ʾamr bi-l-maʿrūf wa-n-nahīy ʿan al-munkar).⁵⁶ Hence, al-Gharbāwī states that religious extremism must be regarded as nothing more than a “biased reading of religion and a selective reading of the holy texts.”⁵⁷ In an essay published shortly after the “London bombings” in July 2005 alGharbāwī states that religion has always been a cover for justifying acts of terror.⁵⁸ Islamic extremists try to pervert Islam, making it a “permanent fight against the other” by degrading those who do not convert to Islam to the status of infidels. They use the Qurʾān and the Sunna only to justify their own political and social purposes through exploiting certain actions or declaring fellow Muslims non-believers (at-takfīr). In at-Tasāmuḥ wa-manābiʿ al-lā-tasāmuḥ, he critically concludes that extremists had “turned religion to a sword that is still unsheathed, to cut the jugular of anyone who dares to contradict the opinion of religious extremists or to resist their methods and behaviour.”⁵⁹ He further argues that it is especially the writings of Sayyid Quṭb (1906 – 1966) which were responsible for the spread of extremist thought. By doing so, extremists have shaped a new religious culture that is completely contrary to the human values of the Qurʾān.⁶⁰ To overcome this threatening phenomena, al-Gharbāwī calls to establish a “new religious culture” based on a review of the religious sources and the methods of derivation:

 ibid., 12.  ibid., 56.  ibid.  ibid.  al-Gharbāwī. “al-Ḥarakāt al-islāmiyya wa-l-irhāb,” ʾĪlāf, 08/06/2005, https://elaph.com/ Web/ElaphWriter/2005/7/74661.html (accessed 20/09/2018).  al-Gharbāwī: at-Tasāmuḥ, 68.  al-Gharbāwī. “al-Ḥarakāt al-islāmiyya wa-l-irhāb”.

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There is a need to create a new religious culture that will draw the borders of the regulations of the religious law in the Qurʾān and define what is relevant to the life of the Prophet, and that will clarify when and how a regulation is absolute for every time and place, and whether all that is in the Qurʾān should be put into practice. Then, there is a need to intensify the discussion about abrogation and whether it is correct that the sword verse abrogated all mercy, forgiveness and pardon in the Qurʾān.⁶¹

Q 2:256⁶² plays a prominent role in al-Gharbāwīʾs argumentation against the exclusive rhetoric of religious extremism. He argues that no religion or confession can claim to be the owner of absolute truth. Most people, he suggests, are simply unable to choose their religion voluntarily, but are rather born into a certain religious tradition in which they follow the beliefs of their community.⁶³ AlGharbāwī corroborates his point of view with the theory of the “straight paths” to truth of the Iranian reform thinker ʿAbdolkarīm Sorūsh (b. 1945): Neither Shiʿism nor Sunnism is pure Islam and absolutely right (although the followers of each of these paths maintain this view about themselves). Neither the Ashʿarites nor the Muʿtazilites are absolutely right. Neither the fiqh of the Malakis nor that of the Jaʿfaris. Neither the interpretation of Fakhr al-din Razi nor that of Tabatabaʾi. Neither the Zaydis nor the Wahhabis. It can neither be said that Muslims’ understanding and worship of God is free of idolatry, nor that all Christians are following an idolatrous creed. The world is filled with impure identities. It is not as if on the one side we have pure truth and, on the other, pure falsehood. As soon as we recognise this, it becomes easier and more palatable for us to digest plurality.⁶⁴

In his argumentation, al-Gharbāwī also refers to the interpretation of one of the most influential Shia scholars of the 20th century, Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabāʾī (1904 – 1981).⁶⁵ In his famous Qurʾānic commentary, al-Mīzān, Ṭabāṭabāʾī understands Q 2:256 not exclusively as related to the ahl al-kitāb, but instead as a binding prohibition of coercion in matters of faith: ‘There is no compulsion in the religion’ negates and disapproves compulsion and coercion in religion. Religion is a set of truths which are believed in, and some of them are then

 al-Gharbāwī. “al-Ḥarakāt al-islāmiyya wa-l-irhāb.”  “There is no compulsion in religion. The right direction is henceforth distinct from error. And he who rejecteth false deities and believeth in Allah hath grasped a firm handhold which will never break. Allah is Hearer, Knower.”  al-Gharbāwī: at-Tasāmuḥ, 96.  ibid., 20. For the quote see Abdolkarim Soroush: The Expansion of Prophetic Experience. Essays on Historicity, Contingency and Plurality in Religion, übers. v. Nilou Mobasser. Leiden/Boston: Brill, 2009, 143.  ibid., 141.

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acted upon. In short, religion is belief and faith, it is a matter of conscience, and such a thing cannot be created by coercion and compulsion. One may force someone to do a certain physical action against his will but he cannot be forced to believe against his will. Belief follows reason and understanding; and nothing but reason and understanding can create it.⁶⁶

Following the argumentation of Ṭabāṭabāʾī, al-Gharbāwī states that Q 2:256 contains the sanctity of every religious confession. Hence, the verse abrogates controversial statements of the Qurʾān, such as Q 9:29, which calls to fight non-Muslims until they pay tribute, i. e., the jizya. In this point al-Gharbāwī’s argument is historical-critical and theologically based. On the one hand, he argues that Q 9:29 must be analyzed with regard to its historical background and should therefore carry no contemporary relevance. On the other hand, such verses of the Qurʾān must be regarded as abrogated either by all statements of the Qurʾān which speak about Godʾs mercy, or alternatively through the universal meaning of the principle “There is no compulsion in religion” and Q 60:8: “Allah forbiddeth you not those who warred not against you on account of religion and drove you not out from your homes, that ye should show them kindness and deal justly with them. Lo! Allah loveth the just dealers.”⁶⁷ Respect and appreciation towards other religions should therefore not be regarded as a weakness of one’s own steadfastness of faith, but should rather be understood as a required ethic towards non-Muslims as prescribed by the Qurʾān. The question about the meaning of Q 2:256 is linked to the issue of the treatment of an apostate (al-murtadd). Al-Gharbāwī emphasizes that the Qurʾān mentions consequences for the apostate in the afterlife, but does not require a punishment or his killing in this world.⁶⁸ He further argues that the regulation to kill an apostate was only relevant for the time of the Prophet and hence is no longer valid.⁶⁹ Consequently, the well-known Hadith attributed to Muḥammad, “The one who changes his religion should be killed” (man baddala dīnahu fa-ʾqtulūhu), was relevant only in the times of the Prophet, when abandoning Islam as equal to a political statement against the leadership of Muḥammad and thus a dangerous threat for the consistency of the then-emerging Muslim community.

 Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabāʾī: al-Mīzān fī tafsīr al-qur’ān, http://www.almizan.org/ (accessed 10/10/2018). al-Gharbāwī: at-Tasāmuḥ, 141.  ibid., 97.  ibid., 133.  ibid., 139.

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Al-Gharbāwī thus justifies the punishment for apostasy of the early period of Islam by contextualizing its meaning. Today, it must not be regarded as permissible. Instead, several other verses⁷⁰, including Q 5:54, prove that the Qurʾān deals calmly with the phenomenon of apostasy: O ye who believe! Whoso of you becometh a renegade from his religion, (know that in his stead) Allah will bring a people whom He loveth and who love Him, humble toward believers, stern toward disbelievers, striving in the way of Allah, and fearing not the blame of any blamer. Such is the grace of Allah which He giveth unto whom He will. Allah is All-Embracing, All-Knowing.

Al-Gharbāwī thus concludes that all of the Qurʾān’s statements dealing with killing apostates must be understood as abrogated through the fundamental meaning of Q 2:256 and the famous part of Q 10:99: “And if thy Lord willed, all who are in the earth would have believed together. Wouldst thou (Muḥammad) compel men until they are believers?”⁷¹

Concluding Remarks The demand for tolerance has more than once been an answer to the spread of religious extremism. The Iraqi scholar Mājid al-Gharbāwī follows this approach when he declares tolerance and secularism to be concepts indispensable to the fight against the spread of extremism in his homeland. It is thus clear that his interpretation maintains an immediate and local orientation. In Tolerance and the Sources of Intolerance, al-Gharbāwī turns the term tasāmuḥ into an “appreciation of the religious and political rights of the other” and supersedes its pre-modern, unspecified meaning. It is remarkable that he uses the term ʿalmāniyya as a concept linked with civil rights (which includes basic human rights), the separation of state and religion, and democracy. By doing so, his argumentation reflects the approaches of other Muslim reform thinkers, such as ʿAbdolkarīm Sorūsh and ʿAbdullāhi Aḥmad an-Naʿīm (b. 1946). Hence, al-Gharbāwī does not stand alone in his demand. Besides Soroush, scholars like Khaled Abou El Fadl (b. 1963)⁷², the Syrian writer Haytham Mannāʿ (b. 1951)⁷³, the Saudi theologian and activist Muḥammad Maḥfūẓ (b.  al-Gharbāwī: at-Tasāmuḥ, 133 – 134. Al-Gharbāwī mentions Q 47:25, Q 5:5, Q 4:137, Q 2:217, Q 3:86 – 90 and Q 3:85.  al-Gharbāwī: at-Tasāmuḥ, 41.  Khaled Abou El Fadl. “The Place of Tolerance in Islam,” 3 – 23.  Haytham Mannāʿ: Sifr at-tasāmuḥ. Beirut: Baysān, 2019.

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1966)⁷⁴, or the Iranian thinker Moḥammad Mojtahed Shabestarī (b. 1936)⁷⁵ all extensively discuss the term tolerance in their writings. At the same time, however, al-Gharbāwī does not provide a detailed description of precisely how a seculardemocratic state should be defined. For him it seems to be enough to emphasize that a culture of tolerance, implemented within such a framework, does not stand in contradiction to the religious fundaments of Islam. Al-Gharbāwī’s approach to the concept of tolerance is primarily a theological one. With regard to politics, he often argues generally and refrains from explicating his ideas in concrete terms. However, when it comes to subjects with a direct link to local Iraqi readership – such as in his refutation of extremist thought, or in suggestions that tolerance is suitable to a Muslim society, including that of Iraq – his argumentation rather develops into great detail and poignantly responds to concrete issues. Finally, this hints that contemporary Middle Eastern approaches to tolerance are similar to European or “Western” ones when we understand them as products of the specific political and social contexts in which they arise.

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III Menschenrechtliche Themen

Mohammed Abdel Rahem

Die Frage der Apostasie im Islam – Rationale Behandlung von Adlabī und El-ʿAwwā Einleitung Die Schwierigkeit bei der Behandlung der meisten islamischen Fragen liegt u. a. darin, dass die verschiedenen islamischen Kontexte auf sehr unterschiedliche Erfahrungen zurückgehen und demzufolge sehr unterschiedliche Stellungen in Bezug auf die religiöse Prägung der Gesellschaft, Politik und nicht zuletzt die Gesetze des jeweiligen Landes haben. Während das eine Land fortschrittliche Gesetzgebung auf dem Weg der Anerkennung des Pluralismus geleistet hat, erlebt das andere Land heftige Diskussionen über moderne Begriffe wie Pluralismus, Demokratie, Freiheit, Muwāṭana (gleichberichigte Bürgerschaft), etc. Hierzu kommen jene islamischen Länder, in denen die Gelehrten und Intellektuellen diese Begriffe zwar anerkennen und sie als nicht mit den islamischen Lehren in Widerspruch stehend erklären, jedoch noch nicht so weit sind sie konkret in ihre Gesetze und Lehrfächer umgesetzt zu haben. Das Relevante ist hier die Auswirkung dieser verschiedenen Situationen und Umstände auf die wissenschaftliche Bewegung eines jeden Landes bzw. eines jeden Kontextes. Eine Auswirkung, die sich nicht selten auf die Auseinandersetzung mit den offenbarten und den überlieferten Texten erstreckt. Als historisches Beispiel dafür kann der bekannte Meinungsunterschied, der zwischen den Ḥanafīten und Mālikīten in Bezug auf die Argumentation mit dem Aḥād-Hadith und dem Analogieschluss auftaucht, dienen. Beschäftigen wir uns in diesem Rahmen mit der Frage der Ridda (Apostasie), dann scheiden sich die Geister. Man ist in großem Maße darüber uneins, ob das Todesurteil die richtige islamische Bestimmung für den Apostat ist. Während einige Intellektuelle die im Koran explizit betonte Glaubensfreiheit hervorheben und die damit mehr oder weniger in Widerspruch stehenden Vorgehensweisen in der islamischen traditionellen Praxis in Frage stellen, versucht eine Zahl der heutigen Theologen die fraglichen Überlieferungen des Propheten und die Praxen seiner Kalifen so zu interpretieren, dass sie mit der koranischen Auffassung in keinem Widerspruch stehen. Nach den Ereignissen in Folge von Salmān Rušdīs Roman „The Satanic Verses“ (1988) wurden vereinzelt Hinrichtungen an anderen Personen durchgeführt: https://doi.org/10.1515/9783110588590-016

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So etwa im Jahre 2000 bei einem somalischen Staatsbürger. Der Gelehrte Maḥmūd Muḥammad Ṭāha wurde im Sudan am 18. Januar 1985 offiziell wegen „erwiesener Apostasie“ hingerichtet. Wegen angeblichen Abfalls vom Glauben wurde die Ehe zwischen dem ägyptischen Gelehrten Naṣr Ḥāmid Abū Zaid und seiner Frau im Jahre 1996 nach einem langen Gerichtsverfahren aufgelöst. Der Ägypter Muḥammad Salīm el-ʿAwwā und der Syrer Muḥammad Munīr Adlabī sind zwei Intellektuelle, die in ihren Werken die Berechtigung für ein Todesurteil bei Apostasie heftig bestreiten. Im Folgenden setzt sich die Untersuchung mit ihren Auffassungen hinsichtlich der heiligen sowie tradierten Texte, die sich für oder gegen das Todesurteil des Murtad (Apostat) äußern, auseinander. Vorab wird ein Blick über die traditionellen Meinungen der vier sunnitischen Rechtsschulen zum Thema Ridda geworfen.

1 Apostasie-Urteil in der früheren Literatur des islamischen Rechts – Überblick der vier sunnitischen Rechtsschulen in al-fiqh ʿalā l-maḏāhib al-Arbaʿa von al-Ǧazīrī Unter diesem Punkt werden die verschiedenen Meinungen der vier sunnitischen Rechtsschulen nur kurz skizziert.¹ Die Darstellung stützt sich auf das Buch al-fiqh ʿalā al-maḏāhib al-arbaʿa (Das islamische Recht nach den vier Schulen) von ʿAbdul Rahman al-Ǧazīrī, Beirut 1998. In fast allen Werken der vier Rechtsschulen gibt es ein spitzielles Kapitel über den Murtad. Am Anfang des jeweiligen Kapitels gehen alle Rechtsgelehrten von der folgenden Überlieferung von Ibn ʿAbbās aus und betonen die Todesstrafe des Murtad, dessen Ridda schon feststeht: Ibn ʿAbbās überliefert, dass der Prophet Muḥammad sagte: ‫َﻣ ْﻦ َﺑ َّﺪ َﻝ ِﺩﻳﻨَ ُﻪ َﻓﺎ ْﻗ ُﺘﻠُﻮ ُﻩ‬ Wer seine Religion wechselt, den tötet!

Für die Feststellung der Ridda führen sie eine Vielzahl von Voraussetzungen an, die in den Aussagen, Taten oder Überzeugungen des Murtad vorhanden sein müssen. Beispielsweise kann der Abfall durch die eindeutige Aussage anā ušriku

 Die vier bekanntesten sunnitischen Rechtsschulen sind die Ḥanafīten, die Mālikīten, die Šāfiʿīten und die Ḥanbalīten, die der Reihenfolge nach von Abū Ḥanīfa (gest. 150 H.), Mālik ibn Anas (gest. 179 H.), Aš-Šafiʿī (gest. 204 H.) und Aḥmad ibn Ḥanbal (gest. 241 H.) gegründet wurden.

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billāhi (Ich geselle Allah andere Götter bei) erfolgen, oder durch eine Behauptung, die den Unglauben ausdrückt, wie allahu ǧismun kal-aǧsām (Allah ist eine Substanz wie die anderen Substanzen) oder alʿālamu qadīm (die Welt existiert von Ewigkeit her) oder alʿālamu bāqin ʿalā ad-dawām (die Welt besteht für immer, ohne ein Ende zu nehmen). Der Abfall erfolgt auch durch eine Tat, die eindeutig dem Unglauben gleichkommt, wie das Verbrennen oder das leichtfertige Wegwerfen des Korans aus Verachtung. Dies gilt auch, wenn der Muslim sich vor Idolen niederwirft oder die Zauberei lernt und praktiziert, weil man bei der Zauberei einen anderen Namen außer dem Namen Gottes verherrlicht und die Vorherbestimmung nicht allein auf Gott zurückführt. Der Muslim wird als Ungläubiger beurteilt, wenn er die Existenz Gottes, seiner Engel oder das Prophetentum Muhammads leugnet. Nach Aufzählung solcher Beispiele hebt alǦazīrī den Konsensus aller Rechtsgelehrten darüber hervor, dass der Abfall durch das Zeugnis zweier gerechter Zeugen festgestellt werden muss. Die Zeugen müssen darin übereinstimmen, mit welcher Aussage oder Tat genau der Betroffene vom Islam abgefallen ist. In diesem Falle muss der Murtad zur Todesstrafe verurteilt werden. Was al-Ǧazīrī m. E. an dieser Stelle außer Betracht lässt, ist die strenge Haltung aller Gelehrten bei der Feststellung der Ridda, indem sie das Nicht-Vorhandensein des geringsten Zweifels im vorliegenden Ridda-Fall voraussetzen. Khoury zitiert bei seiner Rede über die Eindeutigkeit der Apostasie die Aussage Maliks: Wenn jemand etwas sagt oder tut, was auf 99 Weisen als Unglaube und nur auf eine Weise als Glaube verstanden werden kann, so ist die Sache als Glaube zu deuten.² In diesem Zusammenhang kann auch die Aussage des hanafitischen Gelehrten ibn ʿAbdīn zitiert werden: ³‫ ﺃﻭ ﻛﺎﻥ ﻓﻲ ﻛﻔﺮﻩ ﺍﺧﺘﻼﻑ‬،‫ﻭﺍﻟﺬﻱ ﺗﺤﺮﺭ ﺃﻧﻪ ﻻ ﻳﻔﺘﻲ ﺑﻜﻔﺮ ﻣﺴﻠﻢ ﺃﻣﻜﻦ ﺣﻤﻞ ﻛﻼﻣﻪ ﻋﻠﻰ ﻣﺤﻤﻞ ﺣﺴﻦ‬ Es steht bei mir fest, dass kein Muslim zum Unglauben verurteilt werden darf, wenn von seiner Rede das Gute [das Unschuldigsein] verstanden werden kann, oder wenn über seinen Unglauben keine Einigkeit besteht.

Die Rechtsgelehrten behandeln im Kapitel des Murtad noch eine Reihe von rechtlichen Fragen, die u. a. von der Person des Murtad, seinem Vermögen, seiner Ehefrau, seinen Verfügungen abhängen. Davon möchte ich im Folgenden nur auf zwei für den weiteren Verlauf der Untersuchung relevante Fragen eingehen, nämlich die Aufforderung des Murtad zur Buße und den Fall einer Murtadda (weiblichen Abtrünnigen).  Khoury 1991, 22.  Ibn ʿAbdīn 1994: Bd. 6, 367.

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1.1 Aufforderung des Apostaten zur Buße istitabat al-Murtad Die Ḥanafīten:⁴ Wenn ein Muslim vom Islam abfällt, wird ihm zuerst die Annahme des Islam angeboten. Wenn er Zweifel oder Fragen hinsichtlich der Religion hat, dann muss man ihm helfen, die Zweifel auszuräumen, und muss die Fragen beantworten.Verlangt er eine Bedenkzeit, so ist es mustaḥab (wünschenswert), dass der Richter ihm eine dreitätige Frist gewährt, während derer er in Gewahrsam bleibt. Wenn er den Islam danach nicht annimmt, wird er ohne Verzögerung getötet, weil der Abtrünnige zweifelsohne ein feindlicher Ungläubiger ist. Die Ḥanafīten machen im Falle des Abtrünnigen keinen Unterschied zwischen einer freien Person und einem Sklaven. Die Šafiʿīten: Wenn der Muslim vom Islam abfällt, yaǧibu ʿalā al-imām an yuʾaǧǧilahu ṯalāṯata ayyām (soll der Imam ihm eine dreitätige Frist gewähren). Er darf ihn vor Ablauf dieser Frist nicht töten. Auch wenn er sie nicht verlangt, ist die Frist eine Pflicht, damit er nachdenken kann und ihm die Wahrheit wieder sichtbar wird. Man stützt sich hierbei auf die Überlieferung, in der ein Mann aus dem Jemen dem zweiten Kalifen ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb berichtete, dass ein Muslim dort vom Islam abfiel und getötet wurde. ʿUmar sagte: ‫ﺃﻓﻼ ﺣﺒﺴﺘﻤﻮﻩ ﺛﻼﺛﺎ ﻭﺃﻃﻌﻤﺘﻤﻮﻩ ﻛﻞ ﻳﻮﻡ ﺭﻏﻴﻔﺎ ﻭﺍﺳﺘﺘﺒﺘﻤﻮﻩ ﻟﻌﻠﻪ ﻳﺘﻮﺏ ﻭﻳﺮﺍﺟﻊ ﺃﻣﺮ ﷲ ﺛﻢ ﻗﺎﻝ ﻋﻤﺮ ﷲﻢ ﺇﻧﻲ ﻟﻢ ﺍﺣﻀﺮ ﻭﻟﻢ ﺁﻣﺮ ﻭﻟﻢ ﺃﺭﺽ‬ ⁵‫ﺇﺫ ﺑﻠﻐﻨﻲ‬ Hättet ihr ihn für drei Tage ins Gefängnis gebracht, ihm jeden Tag Brot gegeben und von ihm die Umkehr gefordert! Vielleicht hätte er bereut und wäre zum Gehorsam gegen Gott zurückgekehrt. O. Gott! (Ich mache Dich zum Zeugen, dass) ich nicht dabei war, dies nicht befohlen habe und dem nicht zustimme; Mir wurde es nur so berichtet.

Die Mālikīten: Der Imam soll dem Murtad drei Tage und Nächte gewähren, und zwar ab dem Tag, an dem sein Abfall vom Islam festgelegt wird und nicht ab dem Tag, an dem man gegen ihn den Prozess angestrengt hat. Man gibt ihm während der Haft zu Essen und zu Trinken, was aus seinem Vermögen bezahlt wird. Wenn er kein Vermögen besitzt, wird er vom bait al-māl (der Staatskasse) versorgt. Er darf im Gefängnis nicht geschlagen werden, selbst wenn er auf dem Abfall beharren sollte. Wenn der Richter die Tötung des Murtad vor Ablauf der Frist beschließt, so ist sein Urteil rechtsgültig, weil es sich bei der Frist im Grunde um eine umstrittene Frage handelt. Bei der Beharrung auf dem Abfall wird der Murtad am dritten Tag bei Sonnenuntergang getötet.

 Al-Ǧazīrī 1998, 640 – 641.  Al-Aṣbuḥiy 1994, Kapitel al-Murtadd, 283, Ḥadīṯ Nr. 869.

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Die Ḥanbalīten: Hier gibt es hinsichtlich der Aufforderung zur Buße zwei Gruppen: Die eine ist der Meinung, dass dem Murtad eine dreitätige Frist zur Buße eingeräumt werden muss. Die andere ist der Auffassung, dass ihm, ohne ihm eine Bedenkzeit zu gewähren, die Annahme des Islam angeboten werden soll. Wenn er den Islam wieder annimmt, wird er freigelassen, sonst wird er sofort getötet.

2 Rechtsurteil der weiblichen Abtrünnigen ḥukm al-marʾah al-murtadda Die Mālikīten, die Šafiʿīten und die Ḥanbalīten sind der Auffassung, dass das Urteil über die murtadda (die weibliche Abtrünnige) dasselbe sein soll wie über den Murtad. ⁶ Die Murtadda muss nämlich vor ihrer Tötung drei Tage lang aufgefordert werden, wieder zum Islam zurückzukehren. Sie stützen sich auf die obenerwähnte Überlieferung von Ibn ʿAbbās, in der der Prophet keinen Unterschied macht. Ein weiterer Beleg für sie ist der Bericht von Ǧābir Ibn ʿAbdellāh,⁷ dass eine Frau namens Umm Marawān vom Islam abgefallen war. Der Prophet befahl, ⁸‫ﺃﻥ ﻳﻌﺮﺽ ﻋﻠﻴﻬﺎ ﺍﻹﺳﻼﻡ ﻓﺈﻥ ﺗﺎﺑﺖ ﻭﺇﻻ ُﻗﺘﻠَﺖ‬ dass ihr der Islam angeboten wird. Entweder tut sie Buße, oder wird getötet.

Nach den Mālikīten muss die Tötung einer stillenden Frau verschoben werden, bis ihre Stillzeit vollendet ist, wenn man keine Amme findet, oder wenn das Kind die Amme nicht akzeptiert. Die Murtadda darf auch während ihrer Periode nicht getötet werden. Wenn sie wegen einer Schwäche oder Krankheit keine Periode bekommt, lässt man sie drei Monate in Ruhe, falls von ihr die Schwangerschaft erwartet wird. Die Ḥanafīten: Die Murtadda soll nicht getötet werden, weil der Prophet verboten hat, Frauen zu töten. Was die oben erwähnte Überlieferung anbelangt, wonach der Prophet eine Murtadda töten ließ, so hat er sie nicht nur wegen des Abfalls getötet, sondern v. a. deshalb, weil sie eine Zauberin und Dichterin war, die den Propheten verspottete und ihre Söhne gegen ihn aufhetzte. In der Argu-

 Al-Ǧazīrī 1998, 642– 643.  Mit identischem Wortlaut wird die Überlieferung bei ad-Dāra Qaṭnī in seinem Sunan-Werk auch nach ʿĀʾiša, einer der Ehefrauen des Propheten Muhammad, berichtet. Ad-Dāra Qaṭnī 1983, Bd. 3, 118 Hadith-Nr. 121.  Ad-Dāra Qaṭnī 1983, Bd. 3, 119. Hadith-Nr. 122.

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mentation stützt man sich außerdem auf einige Berichte, wonach Ibn ʿAbbās und ʿAlī ibn Abī Ṭālib die Tötung der Murtadda verboten haben sollen. Sie wird aber mit Gefängnis bestraft, bis sie wieder zum Islam zurückkehrt oder stirbt.

3 Gegner der Apostasie-Strafe am Beispiel von Adlabī und el-ʿAwwā 3.1 Normative Texte des Korans und der Tradition El-ʿAwwā und Adlabī⁹ gehen zunächst mal wie alle anderen Gegner der Todesstrafe davon aus, dass aus dem heiligen Text des Koran keine weltliche Strafe für die Apostasie abzuleiten ist. Beide Autoren führen alle Koranverse an, in denen der Koran bestimmte Fälle von Glaubensabfall beschreibt, und bestätigen, dass für jene, die ungläubig werden, nachdem sie gläubig waren, ‫ ﺍﻟﺬﻳﻦ ﻛﻔﺮﻭﺍ ﺑﻌﺪ ﺇﻳﻤﺎﻧﻬﻢ‬keine Todesstrafe gefordert wird. Sie berufen sich auf den in Sure 3,72¹⁰ berichteten Fall, dass einige Juden sich als Muslime erklärten und bald wieder zum Judentum zurückkehrten, und zwar mit dem Ziel, Unruhe unter den Muslimen zu stiften. Beide Autoren stellen hinsichtlich dieses Sachverhalts zwei Fragen: (1) Wäre das vom Propheten Muḥammad damals vollstreckte Urteil gegen den Murtad die Todesstrafe gewesen, hätten die Juden ganz sicher nicht gewagt, auf diese Art und Weise zu denken und ihr Leben zu riskieren.¹¹ (2) Warum hat der Prophet diese Gruppe von Juden nicht getötet bzw. nicht töten lassen?¹² Mit Hinweis auf die vielen koranischen Stellen, die eine Zwangsbekehrung zum Islam deutlich verbieten, bekräftigen die zwei Denker das Verbot, einen Murtad zu töten.Vor allem wird der Koranvers „In der Religion gibt es keinen Zwang“ (Sure 2, 256) ‫ „“ﻻ ﺇﻛﺮﺍﻩ ﻓﻲ ﺍﻟﺪﻳﻦ‬als ersteren Beleg erwähnt. Adlabī zitiert seinerseits die Koranstelle „Und diejenigen von euch, die sich (etwa) von ihrer Religion ab-

 Vor allem wird für el-ʿAwwā sein Buch al-ḥaqq fi t-Taʿbīr (Ausdrucksrecht), und für Adlabī sein Buch qatl ul-Murtad – al-Ǧarīma allatī ḥarramaha al-islam (Die Tötung des Apostaten – Das Verbrechen, das der Islam verbietet) zitiert.  „Und eine Gruppe von den Leuten der Schrift sagt: „“Glaubt am Anfang (waǧh) des Tages an das, was auf die Gläubigen (als Offenbarung) herabgesandt worden ist, und glaubt (wieder) nicht daran, wenn er (abends) zu Ende geht! Vielleicht kehren sie dann um.“ (Sure 3,72). ِ 72 ‫} َﻭ َﻗﺎﻟَﺖ َّﻃﺂﺋِ َﻔ ٌﺔ ّﻣ ْﻦ ﺃَ ْﻫ ِﻞ ﺍ ْﻟ ِﻜﺘَﺎ ِﺏ ﺁ ِﻣﻨُﻮ ْﺍ ﺑِﺎﻟَّ ِﺬ َﻱ ﺃُﻧ ِﺰ َﻝ َﻋﻠَﻰ ﺍﻟَّ ِﺬﻳ َﻦ ﺁ َﻣﻨُﻮ ْﺍ َﻭ ْﺟ َﻪ ﺍﻟﻨَّ َﻬﺎ ِﺭ َﻭﺍ ْﻛ ُﻔ ُﺮﻭ ْﺍ ﺁ ِﺧ َﺮ ُﻩ ﻟَ َﻌﻠَّ ُﻬ ْﻢ ﻳَ ْﺮ ِﺟ ُﻌﻮ َﻥ }ﺁﻝ ﻋﻤﺮﺍﻥ‬  Adlabī, 1993, 97.  El-ʿAwwā, 2003, 70.

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bringen lassen und (ohne sich wieder bekehrt zu haben) als Ungläubige sterben …“ (Sure 2,217) ‫ „“ﻣﻦ ﻳﺮﺗﺪﺩ ﻣﻨﻜﻢ ﻋﻦ ﺩﻳﻨﻪ ﻓﻴﻤﺖ ﻭﻫﻮ ﻛﺎﻓﺮ‬und kommentiert, dass Gott im Vers davon ausgeht, dass dieser bis ans Ende seines Lebens keine Buße tut. Das bedeutet für ihn, dass der Abtrünnige nach dem koranischen Urteil lebenslang die Chance hat, über seine Entscheidung nachzudenken und wieder zum Islam zurückzukehren. Gegen die prophetischen Überlieferungen, in denen der Prophet das Todesurteil befohlen bzw. angewandt habe, haben die zwei Intellektuellen gewisse Vorbehalte. In Bezug auf den Hadith von Ibn ʿAbbās meint el-ʿAwwā, dass die Strafe des Murtad ʿuqūba taʿzīriyya (eine eingeschätzte Strafe) ist. Demzufolge hat für ihn der Hadith die Bedeutung, dass derjenige, der seine Religion wechselt, getötet werden kann, nicht muss. Die zweite am meisten zitierte Überlieferung lautet: ¹³‫ﻻ ﻳﺤﻞ ﺩﻡ ﺍﻣﺮﺉ ﻣﺴﻠﻢ ﺇﻻ ﺑﺜﻼﺙ ﺍﻟﺜﻴﺐ ﺍﻟﺰﺍﻧﻲ ﻭﺍﻟﻨﻔﺲ ﺑﺎﻟﻨﻔﺲ ﻭﺍﻟﺘﺎﺭﻙ ﻟﺪﻳﻨﻪ ﺍﻟﻤﻔﺎﺭﻕ ﻟﻠﺠﻤﺎﻋﺔ‬ Das Blut eines Muslims [zu vergießen] ist nicht erlaubt, außer in einem dieser drei Fälle: der verheiratete Ehebrecher, Leben um Leben, und derjenige, der von seinem Glauben abfällt, und sich von der Gemeinschaft trennt.

Nach el-ʿAwwā kann man bei dieser Überlieferung von Ibn Masʿūd von so einem Fall ausgehen, wo der Prophet voraussetzt, dass der mit dem Tode zu bestrafende Murtad auch mufāriq lil-ǧamāʿa (gegen den Willen der Gemeinschaft angegangen) ist. El-ʿAwwā zitiert an dieser Stelle den ehemaligen Al-Azhar-Großscheich Šaltūt (gest. 1963), der meint, dass ‫ ﻭﺃﻥ ﻇﻮﺍﻫﺮ ﺍﻟﻘﺮﺁﻥ‬،‫ ﻭﻣﺤﺎﻭﻟﺔ ﻓﺘﻨﺘﻬﻢ ﻋﻦ ﺩﻳﻨﻬﻢ‬،‫ ﻭﺍﻟﻌﺪﻭﺍﻥ ﻋﻠﻴﻬﻢ‬،‫ ﻭﺇﻧﻤﺎ ﺍﻟﻤﺒﻴﺢ ﻟﻠﺪﻡ ﻫﻮ ﻣﺤﺎﺭﺑﺔ ﺍﻟﻤﺴﻠﻤﻴﻦ‬،‫ﺍﻟﻜﻔﺮ ﻧﻔﺴﻪ ﻟﻴﺲ ﻣﺒﻴﺤﺎ ﻟﻠﺪﻡ‬ ¹⁴‫ﺍﻟﻜﺮﻳﻢ ﻓﻲ ﻛﺜﻴﺮ ﻣﻦ ﺍﻵﻳﺎﺕ ﺗﺄﺑﻰ ﺍﻹﻛﺮﺍﻩ ﻋﻠﻰ ﺍﻟﺪﻳﻦ‬ nicht der Unglaube selbst das Vollziehen der Todesstrafe (im islamischen Recht) veranlasst, sondern die Kampfführung oder der Angriff gegen die Muslime sowie der Versuch, diese von ihrer Religion abzubringen. Denn der Wortlaut vieler Koranverse lehnt jedes Zwingen zur Bekehrung zur Religion (des Islam) ab.

In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass die Interpretation vieler Gelehrter im 7. und 8. Jhd. Die gleiche Auffassung erkennen lässt. Die Ḥanafīten und andere Gelehrte, die gegen die Tötung der Konvertitin waren, begründeten ihre Ansicht damit, dass die Frau nicht in der Lage sei, Angriffe gegen die Muslime

 Muslim, o. J.: Bd. 3, 1302, Hadith-Nr. 1676. „Muslim“ ist der Vorname des Verfassers von Ṣaḥīḥ Mualim. Im Literaturverzeichnis wird er mit dem Familiennamen Abū al-Ḥusain erwähnt.  Šaltūt 1991, 281.

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zu führen.¹⁵ Daraus lässt sich schlussfolgern, dass auch diese Gruppe die Vollstreckung der Todesstrafe nur unter der Bedingung vertritt, dass der Murtad gleichzeitig zum Kriegsfeind wird, der die Muslime angreift. Der Hanafīte Ibn alHumām (gest. 861 H.) fasst das im Folgenden zusammen: ‫ ﻭﻻ ﻳﺘﻮﺟﻪ ﺫﻟﻚ ﻣﻦ ﺍﻟﻨﺴﺎﺀ ﻟﻌﺪﻡ ﺻﻼﺣﻴﺔ‬،‫ﻷﻥ ﺍﻷﺻﻞ ﺗﺄﺧﻴﺮ ﺍﻷﺟﺰﻳﺔ ﺇﻟﻰ ﺩﺍﺭ ﺍﻵﺧﺮﺓ ]…[ ﻭﺇﻧﻤﺎ ﻋﺪﻝ ﻋﻨﻪ ﻟﺸﺮ ﻧﺎﺟﺰ ﻭﻫﻮ ﺍﻟﺤﺮﺍﺏ‬ ¹⁶‫ﺍﻟﺒﻨﻴﺔ ]…[ ﻓﺼﺎﺭﺕ ﺍﻟﻤﺮﺗﺪﺓ ﻛﺎﻷﺻﻠﻴﺔ‬ Das Grundprinzip (in der Frage der Bestrafung) ist das Aufschieben der Strafen bis zum Jenseits […] Darauf wird hier aber verzichtet, weil eine aufdrängende Gefahr besteht, nämlich die Kriegsführung. Dies kommt von den Frauen – wegen ihrer körperlichen Unfähigkeit – nicht vor. Daraufhin gilt die Konvertitin wie die Muslime.

Dem Bericht ist zu entnehmen, dass die Todesstrafe nur dann vollzogen werden musste, wenn der Übertretende sich kriegerisch gegen die Muslime betätigen wollte. Da die Frau zur Zeit Ibn al-Humāmsʾ nicht in der Lage war, dies zu tun, wurde sie grundsätzlich davon ausgenommen. Bekräftigt wird diese Ansicht auch von einigen Hadith-Wissenschaftlern, wie az-Zailaʿī, der nach dem Zitieren des fraglichen Hadith von Ibn ʿAbbās betont: ¹⁷‫ﺍﻟﻤﺮﺍﺩ ﺑﺎﻟﺤﺪﻳﺚ ﺍﻟﻤﺤﺎﺭﺏ ﻟﻨﺎ ]…[ ﻭﺍﻟﺬﻱ ﻳﺪﻝ ﻋﻠﻴﻪ ﺃﻥ ﻫﺬﺍ ﺍﻟﺤﺪﻳﺚ ﻳﺮﻭﻳﻪ ﺍﺑﻦ ﻋﺒﺎﺱ ﺭﺿﻲ ﷲ ﻋﻨﻬﻤﺎ ﻭﻣﺬﻫﺒﻪ ﺃﻥ ﺍﻟﻤﺮﺗﺪﺓ ﻻ ﺗﻘﺘﻞ‬ Mit dem Hadith ist derjenige gemeint, der gegen uns kämpft […] Dies kann dadurch erwiesen werden, dass der Hadith von Ibn ʿAbbās überliefert ist, der selbst meint, dass die Murtadda nicht getötet werden darf.

El-ʿAwwā weist noch darauf hin, dass diese Überlieferung ein aḥād-Hadith¹⁸ ist, nach dem die Strafen nach Meinung vieler Gelehrter nicht umgesetzt werden sollen. Auch Adlabī unterstreicht diese Einstufung der Überlieferung und meint dazu, dass der absolute Befehl im Hadith, den Murtad zu töten, durch andere Überlieferungen eingeschränkt werden muss, nach denen der Prophet und seine Gefährten Apostaten nicht aufgrund der Ridda getötet haben, sondern weil der Apostat Kriegsfeind wurde. Adlabī beruft sich auf den Hadith-Wissenschaftler Ibn Ḥaǧar, der in seinem Werk fatḥ al-bārī erwähnt, dass nach Ibn ʿAbbās zwei Arten von Überlieferungen berichtet wurden, nämlich muṭlaqa (Überlieferungen mit

 Zu dieser Gruppe gehören z. B. ʿAli ibn abī Ṯālib (gest. 40 H./661), ibn ʿAbbās (gest. 68 H./687), al-Ḥassan al-Baṣrī (110 H./728), Sufīān aṯ-Ṯawrī (gest. 161 H./778), abū Ḥanīfa (150 H./767), ʿAṭāʾ (114 H./732) und ibn ʿIkrimah (144 H./761): (s. ʿImāra, 1998, 126).  Ibn al-Humām o. J.: Bd. 6, 72.  Az-Zailaʿī o. J., Bd. 3, 285.  Ein aḥād-Hadith ist ein Bericht, dessen Überlieferungskette in den ersten Generationen aus jeweils nur einem oder wenigen Berichterstattern besteht, Mansour 2003, 51.

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absoluten Urteilen) und muqaiyada (Überlieferungen mit bedingten Urteilen). Ibn Ḥaǧar ist der Meinung, dass die muṭlaqa durch die muqaiyada zu verstehen sind. Als Beispiel für frühere Gelehrte, die der gleichen Auffassung waren, führt Adlabī die Meinung von Ibn al-Humām in seinem Werk fatḥ al-qadīr an, wonach der Murtad nach dem Bericht von Ibn ʿAbbās getötet werden muss, weil er kāfirun ḥarbiyy (ein Kriegsfeind) ist. Darüber hinaus zitiert Adlabī noch arabische Lexikographen wie Ibn Manẓūr und Az-Zubaidiy, die für das im Hadith benutzte Verb qatala andere Bedeutungen anführen als „töten“, nämlich „verfluchen“ und „als Feinde behandeln“. Als Beispiel aus dem Koran werden die Suren 63,4 und 80,17 angeführt, in denen das Verb „das Verfluchen“ bedeutet. Aus der Tradition zitiert Adlabī den von aṭ-Ṭabarī erwähnten Bericht, dass ʿUmar einmal den Gefährten wortwörtlich befohlen habe, denjenigen, der dem ersten Kalifen Abū Bakr nicht huldige, zu töten: „tötet ihn. Möge Gott ihn auch töten!“ ¹⁹„‫“ﺍﻗﺘﻠﻮﻩ ﻗﺘﻠﻪ ﷲ‬. ʿUmar meinte aber, dass sie ihre Beziehung zu ihm abbrechen sollten. In diesem Sinne haben auch alle Gefährten den Befehl ʿUmarsʾ verstanden; keiner von ihnen hat versucht, den betroffenen Mann zu töten.²⁰ Dass es unter allen Gelehrten iǧmaʿ (einen Konsens) über die Vollstreckung der Todesstrafe gegen den Murtad gibt, verneinen die beiden Autoren. El-ʿAwwā und Adlabī betonen, dass der Kalif ʿUmar Ibn al-Ḫaṭṭāb (gest. 23 H./644), Ibrahīm al-Naḫʿīy (gest. 96 H./715) und Sufīān al-Ṯawrīy (gest. 161 H./778) gegen die Todesstrafe waren. Wie kann dann ein Konsens feststehen? Adlabī erwähnt seinerseits die Überlieferung, die al-Baihaqī in seinem Werk Sunan nach Anas ibn Mālik berichtet. Dieser soll erzählt haben, der Kalif ʿUmar habe ihn nach sechs Männern aus dem Stamm Bakr Ibn Wāʾil gefragt, die vom Islam abgefallen seien und sich den Ungläubigen angeschlossen hätten. Anas antwortete, dass sie im Krieg getötet worden seien. Da gab der Kalif Zeichen der Unzufriedenheit von sich. Anas fragte erstaunt, was er denn in diesem Fall gemacht hätte. Der Kalif ʿUmar erwiderte: ²¹‫ﻧﻌﻢ ﻛﻨﺖ ﺃَﻋﺮﺽ ﻋﻠﻴﻬﻢ ﺃَﻥ ﻳﺪﺧﻠﻮﺍ ﺍ ِﻹﺳﻼﻡ َﻓﺈﻥ ﺃَﺑ ُﻮﺍ ﺍﺳﺘﻮﺩﻋﺘﻬﻢ ﺍﻟﺴﺠﻦ‬ Ja, ich hätte ihnen den Islam angeboten. Hätten sie ihn abgelehnt, hätte ich sie ins Gefängnis gebracht.

 aṭ-Ṭabarī 1407 H., Bd. 3, 222.  Adlabī, 1993, 114.  Al-Baihaqī 1994: Bd. 8, 207, Hadith-Nr. 16665.

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3.2 Ridda-Kriege Was die Ridda-Kriege anbelangt,²² meint Adlabī, dass der Kalif Abū Bakr den Krieg gegen die Apostaten nicht nur deswegen führte, weil die Stämme vom Islam abfielen, sondern auch, weil sie sich gegen ihn auflehnten, indem sie ihm die Zahlung von Zakat verweigerten, sich miteinander verbündeten und eine Armee zum Zweck der Kriegsführung gegen die Muslime aufstellten. Die nach Abū Huraira²³ berichtete Überlieferung ist ein klarer Beweis dafür, dass diejenigen, mit denen Abū Bakr kriegerisch zu tun hatte, ihrerseits keinen ausdrücklichen Abfall erklärten, sondern das Entrichten der Zakat ablehnten. Sie schlossen sich dann zu einem militärischen Bündnis mit anderen Stämmen zusammen, die im Grunde nicht Muslime waren. Die Geschichtswerke erzählen auch, dass die Rebellen mit dem Angriff gegen die Muslime anfingen:

 Als Ridda-Kriege wurden nach den islamischen Historikern die Kriege bezeichnet, die Abū Bakr gegen jene führte, von denen berichtet wird, sie seien unmittelbar nach dem Tode des Propheten Muhammad vom Islam abgefallen. Der Anlass war die Weigerung verschiedener arabischer Stämme im Jahr 632– 33, die Zakat durch die Hand der ihnen von Muhammad beigegebenen Zakat-Verwalter an Abū Bakr zu entrichten, vgl. Hoenerbach 1951, 209.  Abū Huraira, Allahs Wohlgefallen auf ihm, berichtete: „Als der Gesandte Allahs, Allahs Segen und Friede auf ihm, starb, und Abū Bakr zu seinem Nachfolger wurde, und es geschah, dass einige unter den Arabern durch den Abfall vom Islam ungläubig wurden, sagte ʿUmar, Allahs Wohlgefallen auf ihm, zu Abū Bakr: „Wie kannst du gegen Menschen kämpfen, wo doch der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, sagte: ‚Mir wurde der Befehl erteilt, dass ich die Menschen solange bekämpfe, bis sie die Worte sprechen: lā ilāha illa-llāh (Es gibt keinen Gott außer Allah). Wer dies ausspricht, der nimmt sein Vermögen und sich selbst in Schutz vor mir – es sei denn, es läge ein Verstoß gegen das Recht vor – und die Abrechnung mit ihm ist Allah überlassen! ’“ Abū Bakr erwiderte: „Bei Allah, ich werde jeden bekämpfen, der einen Unterschied zwischen Gebet und Zakat (Almosensteuer) macht, denn die Zakat ist das Recht (der Armen) auf Güter. Bei Allah, wenn sie die Abgabe einer kleinen Ziege verweigern würden, welche sie an den Gesandten Allahs, Allahs Segen und Friede auf ihm, geleistet haben, so werde ich gegen sie wegen dieser Weigerung kämpfen.“ ʿUmar, Allahs Wohlgefallen auf ihm, sagte: „Ich schwöre dann bei Allah, dass Allah das Herz des Abū Bakr, Allahs Wohlgefallen auf ihm, (mit der richtigen Entscheidung) erleuchte, und dadurch habe ich es erkannt, dass dies das Wahre ist.“ Al-Buḫārī 1987, Bd. 2, 507. HadithNr. 1335. ‫ ﻳﺎ‬:‫ ﻗﺎﻝ ﻋﻤﺮ‬،‫ ﻭﻛﻔﺮ ﻣﻦ ﻛﻔﺮ ﻣﻦ ﺍﻟﻌﺮﺏ‬،‫ “ﻟﻤﺎ ﺗﻮﻓﻲ ﺍﻟﻨﺒﻲ ﺻﻠﻰ ﷲ ﻋﻠﻴﻪ ﻭﺳﻠﻢ ﻭﺍﺳﺘﺨﻠﻒ ﺃﺑﻮ ﺑﻜﺮ‬:‫“ﻋﻦ ﺃﺑﻲ ﻫﺮﻳﺮﺓ ﺭﺿﻲ ﷲ ﻋﻨﻪ ﻗﺎﻝ‬ ‫ ﻓﻤﻦ ﻗﺎﻝ ﻻ ﺇﻟﻪ ﺇﻻ ﷲ ﻋﺼﻢ‬،‫ ﺃﻣﺮﺕ ﺃﻥ ﺃﻗﺎﺗﻞ ﺍﻟﻨﺎﺱ ﺣﺘﻰ ﻳﻘﻮﻟﻮﺍ ﻻ ﺇﻟﻪ ﺇﻻ ﷲ‬:‫ ﻛﻴﻒ ﺗﻘﺎﺗﻞ ﺍﻟﻨﺎﺱ ﻭﻗﺪ ﻗﺎﻝ ﺭﺳﻮﻝ ﷲ ﺻﻠﻰ ﷲ ﻋﻠﻴﻪ ﻭﺳﻠﻢ‬،‫ﺃﺑﺎ ﺑﻜﺮ‬ ‫ ﻭﷲ ﻟﻮ ﻣﻨﻌﻮﻧﻲ‬،‫ ﻓﺈﻥ ﺍﻟﺰﻛﺎﺓ ﺣﻖ ﺍﻟﻤﺎﻝ‬،‫ ﻭﷲ ﻷﻗﺎﺗﻠﻦ ﻣﻦ ﻓ َّﺮﻕ ﺑﻴﻦ ﺍﻟﺼﻼﺓ ﻭﺍﻟﺰﻛﺎﺓ‬:‫ ﻭﺣﺴﺎﺑﻪ ﻋﻠﻰ ﷲ؛ ﻗﺎﻝ ﺃﺑﻮ ﺑﻜﺮ‬،‫ﻣﻨﻲ ﻣﺎﻟﻪ ﻭﻧﻔﺴﻪ ﺇﻻ ﺑﺤﻘﻪ‬ ‫ ﻓﻮﷲ ﻣﺎ ﻫﻮ ﺇﻻ ﺃﻥ ﺭﺃﻳ ُﺖ ﺃﻥ ﻗﺪ ﺷﺮﺡ ﷲ ﺻﺪﺭ ﺃﺑﻲ ﺑﻜﺮ‬:‫ﻋﻨﺎﻗﴼ ﻛﺎﻧﻮﺍ ﻳﺆﺩﻭﻧﻬﺎ ﺇﻟﻰ ﺭﺳﻮﻝ ﷲ ﺻﻠﻰ ﷲ ﻋﻠﻴﻪ ﻭﺳﻠﻢ ﻟﻘﺎﺗﻠﺘﻬﻢ ﻋﻠﻰ ﻣﻨﻌﻬﺎ؛ ﻗﺎﻝ ﻋﻤﺮ‬ ‫„ﻟﻠﻘﺘﺎﻝ ﻓﻌﺮﻓ ُﺖ ﺃﻧﻪ ﺍﻟﺤﻖ‬

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²⁴‫ ﻋﺎﺟﻠﻮﻩ ﻓﻘﺎﺗﻠﻬﻢ ﻗﺒﻞ ﺭﺟﻮﻉ ﺃﺳﺎﻣﺔ‬،‫ﻭﻛﺎﻥ ﺃﻭﻝ ﻣﻦ ﺻﺎﺩﻡ ﻋﺒﺲ ﻭﺫﺑﻴﺎﻥ‬ ʿAbs und Ḏubiān waren die ersten Stämme, denen er im Krieg begegnete, denn sie fingen (mit dem Angreifen) an. Da bekämpfte er sie, bevor Usāma zurückkehrte.

Dem Zitat entnimmt Adlabī, dass Abū Bakr den Krieg gegen diejenigen erklärte, die in einem Aufstand die Muslime angriffen, und nicht nur aus dem Grunde, weil sie vom Glauben abtrünnig wurden. Dass es einige arabische Stämme gab, bei denen es sich nicht um die Bezahlung von Zakat handelte, erzählen auch nicht wenige muslimische Autoren. Ibn Ḥazm spricht seinerseits von drei verschiedenen Gruppen, die zur Zeit Abū Bakrs als Apostaten bezeichnet wurden: Eine Gruppe erklärte offenbar ihren Abfall vom Islam, eine andere Gruppe verweigerte Abū Bakr die Bezahlung von Zakat und eine dritte Gruppe verhielt sich abwartend.²⁵ Wenn Ibn Ḥazm inhaltlich mit seiner Einteilung unterstreicht, dass eine Gruppe sich definitiv als nichtmuslimisch definierte und über die Frage von Zakat nicht mehr mit sich reden ließ, bedeutet das konsequenterweise, dass diese Gruppe den Islam vor dem Tode des Propheten Muḥammad angenommen hatte, oder zumindest der islamischen Herrschaft in Medina irgendwie unterworfen worden war. Andere muslimische Autoren sprechen allerdings von unvollständiger Verbreitung des Islams unter den Stämmen um Medina herum, ohne dieser Tatsache eine große Bedeutung für die Entwicklung der Ridda-Frage zur Zeit Abū Bakrs beizumessen. Farouk erwähnt, dass es drei Personen zur Lebzeit des Propheten Muḥammad auf der Halbinsel gab, die ihm und der islamischen Religion Widerstand entgegensetzen: al-Aswad al-ʿAnsiy in Jemen, Musaylima in Yamāma (heute Teilgebiet von Riad) und Ṭulaiḥa im Westen von Medina. Nur al-ʿAnsiyy wurde kurz vor dem Tode des Propheten Muḥammad getötet. Musaylima und Tulaiḥa waren Häupter ihrer Stämme, nämlich der Banū Ḥanīfa und der Asad, und ihnen schlossen sich kurz nach der Huldigung Abu Bakrs in Medina andere Stämme an, die die Zakat nicht mehr zahlen wollten.²⁶ Dass es also bis zum Tode des Propheten Muhammads ungläubige, sich noch gegnerisch verhaltende Männer wie Musaylima und Ṭulaiḥa gab, die gleichzeitig Häupter ihrer Stämme waren, verschweigt auch die klassische Geschichtsliteratur des 8.Jh. nicht,²⁷ an der sich feststellen lässt, dass ein Aufstand seitens dieser Stämme „nichts Überraschendes mehr“ war.²⁸     

Aṭ-Ṭabarī 1407 H.: Bd. 2, 254. Ibn Ḥazm o. J.: Bd. 2, 67. Farouk 1961, 4. aṭ-Tabarī 1407 H., Bd. 2, 254. Hoenerbach 1951, 211.

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Fazit El-ʿAwwa und Adlabī kommen am Ende zur Schlussfolgerung, dass die Todesstrafe des Murtad durch keinen einzigen Vers im Koran festgelegt ist. Auch in der islamischen Tradition wurden nur diejenigen getötet, die als muḥāribūn (Kriegsfeinde) galten. Da auch Gelehrte, die zu ihrer Zeit als religiöse Autoritäten angesehen wurden, gegen diese Strafe waren, kann man nicht behaupten, dass es einen absoluten Konsensus unter allen islamischen Rechtsgelehrten über die Todesstrafe gibt. Beide Autoren sind schließlich der Auffassung, dass nur die zuständigen islamischen Rechtsgelehrten über die Abtrünnigkeit einer Person entscheiden können. Es gibt in der prophetischen Tradition zahlreiche Warnungen davor, dass ein Muslim einen anderen des Unglaubens beschuldigt. Nur die Gelehrten haben die Aufgabe, mit den Abtrünnigen über seine Zweifel bzw. seine Entscheidung zu diskutieren und ihn am Ende zur Umkehr zu treiben. Auch wenn ein Apostasie-Fall feststeht, und das Todesurteil gefällt ist, darf niemand außer den staatlich berechtigten Behörden die Strafe vollziehen. Die heutige Diskussion über das Ridda-Urteil berücksichtigt aber meiner Meinung nach die Tatsache nicht, dass die islamischen tradierten Texte von der islamischen Geschichte nicht isoliert behandelt werden können. Alle Berichte, die vom Propheten, seinen Kalifen und den Gelehrten der ersten islamischen Jahrhunderte überliefert wurden, waren durch die umgebenden Lebensverhältnisse beeinflusst. Die Tatsache, dass die Muslime vom Anfang an bis Ende des islamischen Kalifates 1924 in kriegerischer Auseinandersetzung mit anderen Kulturen bzw. Andersgläubigen gelebt haben, ließ die Muslime meiner Meinung nach die Apostaten kaum tolerieren. Das begreift man klar von der Diskussion der Ḥanafīten, der älteste Rechtsschule in der islamischen Geschichte, über die Ridda einer Frau. Die Diskussion ging von der Bereitschaft der Person zur Kriegsführung aus, derer die Frau damals nicht gewachsen war. Das haben die anderen späteren Rechtsschulen völlig abgelehnt, die sich ihrerseits – im Gegensatz zu den Ḥanafīten, die als ahl al-raʾī (Leute des rationalen Denkens) bekannt waren – zum großen Teil an der äußeren Bedeutung des überlieferten Texts orientierten. Die einzige prophetische Überlieferung, die ausdrücklich die Todesstrafe befiehlt, hörte allein Ibn ʿAbbās, der auch gegen die Tötung der Frau war. Einzig ʿIkrima hörte diese Überlieferung von Ibn ʿAbbās. Erwähnenswert ist, dass ʿIkrima zu den al-Ḫawāriǧ gehörte, einer politischen Gruppierung, die die Anhänger des vierten Kalifen ʿAlī Ibn Abī Ṭālib für Apostaten hielten, und gegen viele von ihnen die Todesstrafe verhängten. Das darf man bei der Diskussion über das Ridda-Urteil nicht außer Acht lassen. All dies lässt Zweifel daran bestehen, ob der Prophet bei

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seinem Urteil über den Murtad nicht auch andere Ursachen berücksichtigte als die bloße Apostasie.

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Ayman Arafa

Die Ethik der Gewaltlosigkeit anhand des Beispiels des syrischen Gelehrten Ǧaudat Saʿīd Es besteht kein Zweifel daran, dass das Konzept vom Sohn Adams anfängt, sich umzusetzen und sich weltweit zu verbreiten, sodass, wenn der Krieg ausgelöst wird und der Eine den Anderen töten will, die Menschen das Konzept vom Sohn Adams befolgen werden, indem der Eine zum Anderen sagt: „Wenn du deine Hand gegen mich erhebst, um mich zu töten, dann werde ich doch nicht meine Hand erheben, um dich zu töten, denn ich fürchte Gott, den Herren der Welten.¹

Einleitung Die monotheistischen Religionen haben in Teilen der heutigen politologischen Forschung keinen guten Stand. Es wird ihnen vorgeworfen, dass sie Gewaltpotenzial bergen. Oft wird verallgemeinernd alles Übel auf die Religionen zurückgeführt.² Die Frage nach dem Verhältnis von Gewalt und Religion und ob Religionen Gewalt verursachen, bleibt umstritten, obwohl es in der Politologie auch recht eindeutige Positionen gibt, die betonen, dass Religionen in der Gegenwart an keiner Stelle gewaltverursachend wirken, sondern eher als Katalysator für Gewalt bzw. als pazifizierende Kraft wirken können. Religionen können diesen Forschungsergebnissen zu Folge also Konflikte verschärfen oder entschärfen, aber sie sind nicht deren Ursache.³

Das Verhältnis zwischen Religion und Gewalt erlangte vor allem seit den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts im Rahmen der Erforschung ethnischer Konflikte neue Aufmerksamkeit. Zunächst wurde Religion in ethnischen Konflikten untersucht. Danach, und spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 bildete der religiös motivierte Terrorismus den Schwerpunkt zahlreicher For-

 Saʿīd, Ǧaudat: Maḏhab Ibn Adam al-auwal: mūškalit al-ʿunf fi al-ʿaʾ lm al- islāmī. Damaskus: Dār al-Fikr, 51993, 61– 62.  Mohagheghi, Hamideh / Stosch, Klaus von. „Einleitung.“ In Gewalt in den heiligen Schriften von Islam und Christentum. Beiträge zur komparativen Theologie, hg.v. Klaus von Stosch, Bd.10. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2014, 7.  ebd. https://doi.org/10.1515/9783110588590-017

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schungsarbeiten.⁴ Wird der Zusammenhang von Religion und Gewalt geschichtlich betrachtet, dann lassen sich dafür die bekannten Beispiele wie die Kreuzzüge, Hexenverbrennungen oder die Eroberungszüge der Muslime finden. Daran ist zu erkennen, dass es im Namen der Religion Kriege, Ausgrenzungen und gezielte Tötungen gab. Auf der anderen Seite gibt es gegenwärtige Konflikte, die religiös ausgelegt werden wie der Nahostkonflikt, Spannungen zwischen Christen und Muslimen in Nigeria, Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen in Indien und viele andere mehr.⁵ An dieser Stelle ist zu fragen, ob all diese Konflikte tatsächlich theologisch und religiös zu begründen sind oder ob sie nicht primär soziale, wirtschaftliche und politische Ursachen haben. Es ist festzustellen, dass religiösen Motive am meisten dort auftreten, wo in diese Konflikte Menschen unterschiedlicher Nationen und Ethnien verwickelt sind, wobei jedem Konflikt eine Mischung verschiedener Faktoren und komplexer Ursachen zugrunde liegt. Eine Reduzierung auf religiöse Unterschiede wäre eine Vereinfachung und eine Deutung die zu kurz greift. Es ist jedenfalls hinreichend belegt, dass die monotheistischen Religionen lange nicht so gewalttätig sind, wie es immer behauptet wird. Dabei wird nicht bestritten, dass es in den Religionen verschiedene Elemente vorhanden sind, die als Auslöser für das Auftreten von Gewalt dienen können. Dazu gehört ein Wahrheitsanspruch, der so interpretiert wird, dass die anderen Religionen als unwahr, veraltet und minderwertig betrachtet werden. Eine Einstellung, die dazu führen kann, dass „Glaubenseiferer“ sich berufen fühlen, Andere mit allen Mitteln, also auch mit Drohungen und Gewalt zu ihrer Überzeugung zu zwingen. Hierbei liegt das Problem nicht bei einem „religionstheologischen Exklusivismus“, sondern bei einer herabsetzenden Interpretation von Religion, die mit absolutem Wahrheitsanspruch auftritt. Blindgläubige, fanatische Auslegungen können zu extremen Ideologien führen, indem Menschen sich berufen fühlen, im Namen Gottes die aus ihrer Sicht richtige Moral und Lebensweise mit allen Mitteln durchzusetzen.⁶ Die Frage nach der Gewalt sollte unter Einbeziehung verschiedener Faktoren in den Blick genommen werden, nämlich unter soziologischen, politologischen, psychologischen und auch theologischer Aspekten. Mit solch interdisziplinärer Herangehensweise sind die Quellen der jeweiligen Religionen zu befragen, inwieweit sie Anhaltspunkte für Konflikte liefern, sie verursachen und verschärfen

 Wohlrab-Sahr, Monika. „Religion und Gewalt. Überlegungen zu den sozialen Voraussetzungen einer Wahlverwandtschaft.“ In Religion-Christentum-Gewalt, Einblicke und Perspektiven, hg.v. Wolfgang Ratzmann. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2004, 233.  Mohagheghi, Hamideh / Stosch, Klaus von: Einleitung, 8.  ebd.

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oder ob sie nur als Vorwand genommen werden um die wahren Gründe zu verdecken.⁷ Im Laufe der Geschichte geschahen Gewalttaten im Namen der Religionen, vor allem im Christentum und im Islam. Der Islam steht in der heutigen Zeit am häufigsten unter Verdacht, eine Religion der Gewalt zu sein, weil es im Koran zahlreiche Aussagen geben soll, die zu Gewalt aufrufen und sie legitimieren würden. Zudem soll der Prophet Muḥammad selbst Kriege geführt und Gewalt gegen seine Gegner ausgeübt haben.⁸ In der westlichen Welt wird der Islam vielfach als eine gewalttätige Religion angesehen, weil es in den letzten vierzig Jahren zahlreiche gewalttätige Ereignisse gab, die in Zusammenhang mit dem Islam standen.⁹ Dieses negative Islambild hat für Jamal Malik¹⁰ seine Wurzeln in den Orientkreuzzügen und wurde im 18. und 19. Jahrhundert wiederbelebt, als europäische Mächte muslimische Gesellschaften für sich beanspruchten und ihre Vorstellung auf fremde Kulturen übertrugen. Dabei führt er aus, dass die Europäer die „heterogene islamische Welt auf eine religiös monolithische, an sich anti-moderne und anti-verstandesmäßige Welt, die Angst und Schrecken verbreitet, reduzierten, und sie folglich aus der weltgeschichtlichen Entwicklung ausschlossen.“¹¹ Aus dem historischen Kontext heraus bekamen dortige Entwicklungen einen „pathologischen Charakter“ und so wurden Gewalttaten mit dem Wesen des Islam erklärt bzw. verbunden.¹² Des Weiteren betont Malik nachdrücklich, dass der Islam und die Muslime natürlich auch Gewalt kennen, ebenso wie jede andere Religion und deren Träger. Aus den historischen Gegebenheiten ist es für ihn ebenfalls evident, dass die religiös motivierte und legitimierte Gewalt stets eine wesentliche Rolle bei der Ausbreitung und Konsolidierung der islamischen Macht spielte. Der Koran spricht für ihn sehr deutlich von Kampf und Gewalt, und zwar im Sinne des Tötens.¹³

 ebd. 9.  ebd.  Klußmann, Jörgen: Vorwort und Begründung: Warum ich als Christ für den Dialog mit Muslimen eintrete. In Gewaltfreiheit, Politik und Toleranz im Islam, hg.v. Jörgen Klußmann, Muhammad Sameer Murtaza, Holger-C.Rohne, Yahya Wardak. Wiesbaden: Springer VS, 2016, 7.  Jamal Malik ist ein in Pakistan geborener deutscher Professor für Islamwissenschaft und Lehrstuhl für Religionswissenschaft-Islamwissenschaft an der Universität Erfurt. Malik wurde 1956 in Peshawar, Pakistan geboren.  Malik, Jamal: Gewalt und Gewaltverzicht im Islam. In Religion- Christentum- Gewalt, Einblicke und Perspektiven, hg.v. Wolfgang Ratzmann. Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2004, 57.  ebd.  ebd., 58.

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Es ist nicht leicht, die muslimische Lage in den letzten zweihundert Jahren zu eindeutig beschreiben. Es herrscht heutzutage, wie es Murtaza nennt, eine „intellektuelle Stagnation.“ Für ihn zog sich die islamische Welt ab dem 13. Jahrhundert mehr und mehr in sich selbst zurück, sodass er „jegliche Kreativität des Lebens, jegliche Dynamik in Technik und Wissenschaft, jeglichen materiellen Fortschritt und jegliche Ambiguitätstoleranz“ verloren sieht.¹⁴ Über die islamische Religionsgemeinschaft führt Murtaza aus: Wir erleben eine Zeit der Abrechnung, jeder ist den anderen Wolf, Sunniten kämpfen gegen Schiiten und Schiiten gegen Sunniten, Wahhabiten gegen Sufis und Schiiten, Israelis gegen Palästinenser, Palästinenser gegen Israelis, Muslime gegen Christen, säkulare Diktaturen gegen ihre Bevölkerung. Das einstige religiös begründete Tabu einem Menschen zu schaden, ihn zu verletzen, gar zu töten, scheint irrelevant geworden zu sein, stattdessen findet eine Enttabuisierung statt, indem das Töten religiös legitimiert wird. Hierdurch aber diskreditieren Muslime – und nicht nur sie – ihre Religion und berauben sie ihrer friedensstiftenden Kraft und somit ihrer Existenzberechtigung.¹⁵

Barbarei und der Terror, die vom sogenannten Islamischen Staat (IS) und anderen Gruppen und auch im Namen des Islam begangen wurden, haben einen vermeintlich untrügerischen Zusammenhang zwischen Gewalt und Islam im Bewusstsein vieler Menschen verankert. Islamistischen Gruppen darf nicht erlaubt werden, sich der islamischen Tradition zu bemächtigen und sie für sich zu vereinnahmen. Vielmehr brachte das letzte Jahrhundert bedeutende, sich auf die islamische Tradition beziehende „große DenkerInnen, ReformatorInnen, PazifistInnen und gewaltlose RevolutionärInnen“ hervor.¹⁶ Neben der Gewalt im Islam ist in der islamischen Rechtswissenschaft auch das Konzept der Gewaltlosigkeit zu finden. Für Jamal Malik rückte dieses Konzept aber erst seit dem 11. September 2001 in den Vordergrund des innerislamischen Diskurses, als Muslime in „apologetischer Absicht“ erklärten, dass die Tat mit dem Islam nichts zu tun habe und der Islam eine friedliche Religion sei.¹⁷ Tatsächlich finden sich im Koran bzw. in der islamischen Theologie eine Vielzahl von

 Murtaza, Muhammad Sameer: Eine Ethik der Gewaltlosigkeit- Ein Ansatz des syrischen Gelehrten Jawdat Saʿid. In Gewaltfreiheit, Politik und Toleranz im Islam, hg.v. Jörgen Klußmann, Muhammad Sameer Murtaza, Holger-C.Rohne, Yahya Wardak. Wiesbaden: Springer VS, 2016, 123.  ebd.,123 – 124.  Marin, Lou. „Ein anderes Syrien war und ist möglich. Islam und Gewaltfreiheit: Jawdat Said, der syrische Ghandi:“ In Im Kampf gegen die Tyrannei, Gewaltfrei-revolutionäre Massenbewegungen in arabischen und islamischen Gesellschaften: der zivile Widerstand in Syrien 2011 – 2013 und die „Republikanischen Brüder“ im Sudan 1983 – 1985, hg.v. Guilaume Gamblin, Pierre Sommermeyer, Lou Marin. Heidelberg: Verlag Graswurzelrevolution, 2018, 82.  Vgl. Malik, Gewalt und Gewaltverzicht im Islam, 68.

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friedensstiftenden Aussagen, weshalb für Malik das Ziel des Islams die Herstellung des Friedens auf Erden ist.¹⁸ Aus der Reihe muslimischer Gelehrter und Denker, die sich mit dem Konzept von Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit im Islam befasst haben, sticht Ǧaudat Saʿīd hervor, ein muslimischer Gelehrter aus Syrien, der im Jahre 1931 geboren wurde.¹⁹ Ǧaudat Saʿīd verstand sich in der Tradition muslimischer Reformer, wie Ğamāl ad-Dīn Al-Afghani (gest. 1897), Muḥammad ʿAbduh (gest. 1905), Muḥammad Iqbal (gest. 1938), Malak Bennabi (gest. 1973) und Muḥammad Asad (gest. 1992).²⁰ Ǧaudat Saʿīd strebte danach, den Koran im Lichte der menschlichen Erfahrungsgeschichte zu lesen.²¹ So sagt er in seinem Buch „The Doctrin oft the first son of Adam“, dass die Antwort von Abel / Hābīl an seinen älteren Bruder Kain / Qābīl so entscheidend und von großer Bedeutung war, dass jeder gläubige Muslim bei der Begegnung mit einem gewalttätigen Menschen diese Haltung in seinem Leben einnehmen müsse.²² Sie steht im Einklang mit der koranischen Offenbarung (5:28): Wenn du deine Hand erhebst, um mich zu töten, dann erhebe ich nicht meine Hand, um dich zu töten.²³

Aus diesem Vers ist Saʿīd zufolge abzuleiten, dass zwei Handlungen am Anfang der Menschheitsgeschichte geschahen, nämlich der Mord von Kain an seinem Bruder Abel und der gewaltlose Widerstand Abels gegenüber seinem Bruder.²⁴ Demnach sieht Saʿīd hier ein Ethos, das darin besteht, dass die Menschheit auf jegliche Handlung verzichten kann, die Gewalt beinhaltet, mit Ausnahme des Rechts auf Selbstverteidigung.²⁵ Saʿīd kommentiert dazu: Einerlei ob es sich nun um ein historisches Ereignis oder um symbolische Geschichte handelt: Was mir wichtig erscheint, ist der Weg, der hier angezeigt wird, um die Menschheit auf das Niveau seines Geistes zu heben. (…) Über die Position Abels gibt es keinen Zweifel und

 ebd. 68 – 69.  Murtaza, Muhammad Sameer: Gewaltlosigkeit im Islam. Denker, Aktivisten und Bewegungen islamischer Gewaltfreiheit. Berlin: Vergangenheitsverlag, 2019/20, 15.  ebd.  Marin, Ein anderes Syrien war und ist möglich, 83 – 84.  ebd., 84.  ebd.  Murtaza, Eine Ethik der Gewaltlosigkeit, 129.  ebd.

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kein Zögern. Er ist entschlossen und hat den Willen, sie auch angesichts der Konsequenzen seiner Haltung beizubehalten.²⁶

Ǧaudat Saʿīd, dessen Schriften zur Gewaltlosigkeit im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen, wurde von vielen seiner syrischen MitbürgerInnen als „syrischer Gandhi“ bezeichnet, da er seit den Sechzigerjahren ein Konzept der Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit im Islam entwickelte.²⁷

1 Zur Person: Ǧaudat Saʿīd Ǧaudat Saʿīd²⁸ wurde 1931 in Biʾr Ajam, in der Provinz al-Qunaiṭira²⁹ geboren und gehört zur Volksgruppe der Tscherkessen. Im Alter von zwölf Jahren reiste er nach Kairo um fast zehn Jahre an der Al-Azhar Universität zu studieren.³⁰ Zunächst besuchte er die Vorbereitungsschule, danach besuchte er die Fakultät für arabische Sprache und schloss sein Studium dort ab.³¹ Während seines Aufenthalts wurde seine Einstellung durch unterschiedliche Denkströmungen beeinflusst und inspiriert. Saʿid sagt über sich selbst, dass er sich dank seines Aufenthalts in Ägypten ausbilden und weiterentwickeln, sowie die Welt kennenlernen konnte.³² Nach seiner Rückkehr nach Syrien arbeitete er als Lehrer in Damaskus.³³ Dort wurde er mehrfach aufgrund seiner philosophischen Schriften und seines politischen Engagements verhaftet.³⁴ Außerdem war es ihm ebenfalls nicht erlaubt, seine Lehren zu verbreiten.³⁵ Dennoch veröffentlichte er im Jahr 1964 sein Hauptwerk mit dem Titel „Die Doktrin des ersten Sohnes Adams oder das Problem der Gewalt in der islamischen

 Marin, Ein anderes Syrien war und ist möglich, 84.  ebd.  al-Qadri, Ġaṭafān. „Ǧaudat Saʿīd, Nubḏa ʿan siratuh w fikruh w aʿmaluh“ In: Ǧaudat Saʿīd: buḥūṯ wa-maqālat muhdāt ilaihī, hg.v. Abū-Yaʿrub al-Marzūqī, u. a. Damaskus: al-Ṭabʿa 1, Dār alFikr, 2006, 17– 28, hier S. 17.  al-Qunaiṭira ist eine Stadt auf den Golanhöhen im Südwesten von Syrien.  Marin, Ein anderes Syrien war und ist möglich, 82.  Al-Qadri, Ǧaudat Saʿīd, Nubḏa ʿan siratuh w fikruh w aʿmaluh, 17.  https://www.youtube.com/watch?v=PPGBWuvPW6A. Eine Nachricht an die Ägypter. 00:08 bis 00:23. Zuletzt abgerufen am 23. August 2020.  Murtaza, Gewaltlosigkeit im Islam, 16.  Marin, Ein anderes Syrien war und ist möglich, 82.  ebd.

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Aktion.“³⁶ Ǧaudat Saʿīd formuliert darin sein Konzept der Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit, basierend auf seiner Sicht des Islams. Nach mehrmaligen Verhaftungen aufgrund seines politischen Engagements wurde er letztendlich aus seinem Posten im Staatsdienst entlassen.³⁷ In der Folgezeit verfasste Ǧaudat, ausgehend von seinem Hauptwerk zu Adams Söhnen, rund fünfzehn weitere größere Werke. 2015 ging er ins Exil in die Türkei, wo er am 30. Januar 2022 verstarb. Neben seinen Aufrufen zu Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit.³⁸ vertritt er folgende Kernthesen: 1. Die Ursachen für die Probleme in der islamischen Welt sind nicht die Abwesenheit von Treue und Aufrichtigkeit, sondern Unwissenheit.³⁹ 2. Verstehen und Wissen sind dem Menschen nicht angeboren, weshalb er danach streben soll, diese zu erlangen. 3. Wissen und Erkenntnis sind durchs Lesen zu erlangen. Lesen führt zu Erkenntnis und Selbstwahrnehmung.⁴⁰ 4. Weil die islamische Gemeinschaft den richtigen Weg verlassen hat, bedarf das islamische Denken der Erneuerung. 5. Die Probleme der islamischen Gemeinschaft und der Menschheit sind aus historischer Perspektive zu betrachten.⁴¹ 6. Vertrauen in die Wissenschaft und Geschichtsbewusstsein sind die Voraussetzungen für die Weiterentwicklung der Muslime. Geschichte ist eine essentielle Wissenschaft und Quelle für die Zukunft.⁴² 7. So wie Gott den Menschen dadurch gewürdigt hat, dass er ihm den Verstand gegeben hat, soll der Mensch den Menschen verstehen und ihm Vertrauen schenken. 8. Vertrauen zwischen Muslimen erwächst durch Dialog und Gespräch. 9. Glaube geschieht durch Überzeugung und nicht durch Zwang. Zwang ist Unglaube.⁴³

 ebd. Das Buch ist auch in englischer Sprache erschienen mit dem Titel „The Doctrin of the First Son of Adam Or The Problem of Violence in The Islamic Action“.  Murtaza, Gewaltlosigkeit im Islam, 16.  al-Qadri, Ǧaudat Saʿīd, Nubḏa ʿan siratuh w fikruh w aʿmaluh, 18.  ebd.  ebd. 18 – 19.  ebd.  ebd.  ebd., 19 – 20.

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10. Das Verständnis vom Ǧihād⁴⁴ ist im Schatten des Korans und der Sunna⁴⁵ neu zu entwickeln.⁴⁶

2 Die Gewaltlosigkeit im Islam 2.1 Das Konzept vom Sohn Adams Professor Aḥmad Maḥmoud Krīma von der Azhar Universität stellt fest, dass der Islam von seinen Kritikern als eine gewalttätige Religion angesehen wird, dessen Anhänger zu Blutvergießen und zur Gewalt gegenüber Menschen neigen, die andere Einstellungen und Wahrnehmung haben.⁴⁷ Er ist der Ansicht, dass die Handlungen der Muslime mit dem Islam selbst in Verbindung gebracht werden, was er für unzutreffend hält. Das Hauptziel des Islam und des islamischen Rechts, ist und bleibt es, so Krīma zum Frieden aufzurufen und ihn zu verbreiten.⁴⁸ Dafür bezieht er sich u. a. auf folgenden Vers aus dem Koran (2:208): Oh ihr, die ihr glaubt! Tretet allesamt ein in das Heil! Und folgt nicht den Schritten Satans!⁴⁹

Ein anderer Koranvers (8:61), auf den sich Krīma bezüglich des Themas Frieden im Islam stützt, lautet: Wenn sie zum Friedensschluss neigen, so tue das auch du! Vertraue auf Gott! Siehe, er ist der Hörende, der Wissende.⁵⁰

Als Ǧaudat Saʿīd sein Werk „Das Konzept von dem ersten Sohn Adams“ verfasste, stellte er fest, dass das Hauptproblem seit der Erschaffung der Menschheit war und immer sein wird, dass der Mensch gewalttätig ist.⁵¹ Bezugnehmend auf die Geschichte der beiden Söhne Adams stellt Saʿīd zuspitzend fest, dass der Mensch

 Der Begriff Ǧihād bezeichnet im religiösen Sinne ein umstrittenes Konzept der islamischen Religion, für das keine einheitliche Definition existiert.  Der Begriff Sunna ist ein islamischer Begriff und bezeichnet die Bräuche, Werte und Verhaltensweisen des Propheten Muhammad.  al-Qadri, Ǧaudat Saʿīd, Nubḏa ʿan siratuh w fikruh w aʿmaluh, 20.  Krīma: Aḥmad Maḥmoud: al-Islām wa-ẓāhirat al-ʿunf al-mūʿāṣr. Dokki: Dār ad-lta llnašr, 2015, 139.  ebd.  Bobzin, Hartmut: Der Koran, aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin. München: Verlag C.H. Beck. 32010, 33.  ebd., 156.  Saʿīd, Ǧaudat: Kun kā-ibn-Ādam. Beirut, Damaskus: Dār al-Fikr al-Muʿāṣir 1997, 66.

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seit Menschengedenken dazu neigt, „ein Anhänger des ersten Mörders zu sein.“⁵² Der erste Mörder war Kain, der seinen Bruder Abel getötet hat. Das weist für Saʿīd darauf hin, dass die „Mutter aller Probleme“ auf der Erde die Kriege und das Blutvergießen sind.⁵³ In Verbindung mit der vorangehenden koranischen Erzählung von den Bedenken tragenden Engeln, die Gott gegenüber einwenden, dass die Erschaffung des Menschen Adam nur Unruhe und Blutvergießen auf die Erde bringen würde erscheint dieser Brudermord wie eine Bestätigung ihrer Befürchtungen.⁵⁴ Gott hört sich die Warnung der Engel an und gibt ihnen eine Antwort. Er sprach zu den Engeln und sagte, dass er wisse, was sie nicht wüssten, woraufhin er Adam die Namen aller Dinge beibrachte. Auf diese Lösung bezieht sich Saʿīd: Gott wusste, dass der Mensch etwas kann, was alle anderen seiner Geschöpfe nicht können, und zwar Lernen. Der Mensch ist von Anfang an lernfähig. Für Saʿīd heißt das, dass im Wissen und Lernen die Überwindung für Krieg und Blutvergießen liegt. Das Wissen ist die Lösung,⁵⁵ denn mit dem Wissen erlangt der Mensch Erkenntnis und entwickelt sich weiter, so weit, dass er eines Tages auf Kriege und Blutvergießen wird verzichten können.⁵⁶ Es ist etwas Ungewohntes, wenn nicht gar Neues für die Muslime in der heutigen Zeit, Saʿīds Ansatz des gewaltlosen Widerstandes und den Entzug jedes Rechts auf Selbstverteidigung zu rezipieren, sich darauf einzulassen und sogar zu folgen. Sein Ansatz aber basiert ganz offensichtlich auf theologischen Erzählungen im Koran, namentlich auf der Geschichte von den beiden Söhnen Adams.⁵⁷ Bevor er auf diese Geschichte näher eingeht, betont Saʿīd, dass er die Probleme von Gewalt und Gewaltlosigkeit thematisiert, um die Probleme der islamischen Gemeinschaft zu erforschen und auch zu lösen.⁵⁸ So stellt er eine Reihe einleitender Fragen wie: „Was erzählt die Geschichte von dem ersten Sohn Adams?“ „Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem ersten Sohn Adams und dem islamischen bzw. gesamtgesellschaftlichen Problem?“„Was bedeuten Kains Worte heute, die er am Anfang der Geschichte der Menschheit sagte?“ „Was bedeuten sie für das menschliche Weltverständnis? „Was ist der Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft?“ Die Vergangenheit, so Saʿīd war der Moment, in

      

Murtaza, Gewaltlosigkeit im Islam, 23. ebd. Saʿīd, Kun kā-ibn-Ādam, 67. ebd., 68. ebd. Murtaza, Gewaltlosigkeit im Islam, 17. Saʿīd, Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 15 – 16.

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dem der Mensch geboren wurde. Die Geburt ist die Geschichte des Menschen, die er erleben wird. „Wie erlebt und erfährt der Mensch seine eigene Geschichte?“⁵⁹ Die Hauptidee seines Ansatzes der Gewaltfreiheit und Gewaltlosigkeit leitet Ǧaudat Saʿīd aus den folgenden Koranversen (5:27– 31) ab: Trag ihnen die Nachricht von den beiden Söhnen Adams vor, gemäß der Wahrheit, als sie beide ein Opfer brachten! Des einen Opfer wurde angenommen, das des anderen hingegen nicht. Der eine Sprach: „ich will dich töten!“ Der andere Sprach: „Gott nimmt nur von den Gottesfürchtigen an. Wenn du nun nach mir deine Hand ausstreckst, um mich zu töten, so will ich meine Hand doch nicht nach dir ausstrecken, um dich zu töten. Siehe, ich fürchte Gott, den Herrn der Weltbewohner. Siehe, ich will, dass du die Lasten meiner Schuld und deiner auf dich nimmst. Alsdann wirst du zu denen zählen, die Bewohner des Höllenfeuers werden; denn das ist der Lohn der Frevler.“ Da trieb ihn seine Seele, seinen Bruder zu töten, und er tötete ihn. So wurde er zu einem der Verlierer. Da sandte Gott einen Raben aus, der im Boden scharrte, um ihm zu zeigen, wie er die Gräueltat an seinem Bruder verbergen könne. Er sprach: „O wehe mir, vermag ich nicht einmal zu sein wie dieser Rabe, dass ich die Gräueltat an meinem Bruder verbergen könnte?“ So ward er einer derer, die bereuen.⁶⁰

Diese Verse geben zwei Handlungen wieder, die am Anfang der Menschheitsgeschichte standen: erstens, der Mord seitens Kain an seinem Bruder Abel und zweitens, der gewaltlose Widerstand seitens Abels.⁶¹ Murtaza führt über diese Urerzählung wie folgt aus: Da beide Söhne Adams im Koran namenlos bleiben, berichtet die Erzählung als Gattungsform der Urgeschichte urgeschichtlich von der ältesten Periode der Menschheitsgeschichte. Dadurch gibt sie inhaltlich immer und überall erfahrbare Grundzüge des Menschseins wieder, indem diese narrativ in die Uranfänge zurückversetzt werden. Deswegen gibt Gott Ihnen im Koran auch keine Namen, da jeder Mensch ein Sohn Adams bzw. eine Tochter Adams ist. Hier soll also etwas Grundsätzliches und Universelles berichtet werden.⁶²

Bei der Beschäftigung mit der Wendung: „trag Ihnen die Nachricht von den beiden Söhnen Adams vor, gemäß der Wahrheit“. gelangt Ǧaudat Saʿīd zur Ansicht, dass ein Muslim in der Lage ist und den Mut haben muss, sich für die Rechtleitung anderer Menschen zu opfern.⁶³ Darüber hinaus sieht er in der Antwort des bedrohten Abels an seinen Bruder Kain ein Ethos, nämlich, dass die Menschheit zu einer neuen „Morgenröte“ gelangen könnte, und zwar durch den Verzicht auf sämtliche Handlungen, die sich der Gewalt bedienen, eingeschlossen der Verzicht     

ebd., 16 – 17. Bobzin, Der Koran, 96 – 97. Murtaza, Gewaltlosigkeit im Islam, 18. ebd. Saʿīd, Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 77.

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auf das Recht der Selbstverteidigung.⁶⁴ Dazu ist der Muslim verpflichtet, wenn er das Ethos der gewaltlosen Verhaltensweise des Sohnes Adams leben will. Was genau Ǧaudat Saʿīd mit dem Konzept vom Sohn Adams meint, wird ausführlich in folgenden Punkten behandelt. 1. Die Muslime müssen an Gott glauben und zu dessen Anbetung aufrufen. Wenn die Menschen die Muslime da als schuldig betrachten, weil sie an Gott glauben, dann schadet es den Muslimen nichts, schuldig angesehen und damit auch vorgeworfen zu werden. Die Muslime müssen daran arbeiten, sie nicht als Aufrufer zur Gewalt zu bezeichnen. Den Muslimen soll es nicht vorgeworfen, gewalttätig zu sein und daran müssen sie viel arbeiten.⁶⁵ 2. Die Muslime dürfen weder zur Ermordung und Tötung von Menschen noch zu ihrer Liquidierung aufrufen.⁶⁶ 3. Kein Mensch darf einen anderen zwingen, seine Meinung anzunehmen. Auch soll sich keiner aus Angst vor irgendwelchen Konsequenzen gezwungen sehen, seine eigene Meinung zurückzunehmen. Der Mensch soll sogar mit diesem Konzept das Leid, also hier die körperliche Gewalt für seinen Glauben, für den er aufruft, ertragen, aber niemals dem anderen Leid wegen seines Glaubens, sei es mit Gewalt oder durch Zwang, antun.⁶⁷ 4. Mit seinem Konzept von den Söhnen Adams will Ǧaudat Saʿīd den Menschen inspirieren sich für sie Rechtleitung des anderen einzusetzen. Der Mensch soll ein gutes ethisches Vorbild darstellen, indem er an seinen Prinzipien festhält.⁶⁸ Murtaza konstatiert auch, was er unter dem Konzept des gewaltlosen Sohnes Adams versteht und zwar, dass der Muslim „jede Schmähung, jedes psychisch und physisch zugefügte Leid durch das Vertrauen auf Gott (tawakkul) geduldig zu ertragen habe.“⁶⁹ Der Muslim darf ebenfalls nicht dem Guten mit dem Bösem begegnen, sondern er versucht beispielsweise den Hass mit seinen Taten in Liebe umzuwandeln. Hierbei stützt sich Murtaza auf Saʿīds Begründung aus dem folgenden Koranvers (41:34):

     

Murtaza, Gewaltlosigkeit im Islam, 18 – 19. Saʿīd, Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 93. ebd. ebd. ebd., 94. Murtaza, Gewaltlosigkeit im Islam, 24.

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Das Gute und das Böse sind fürwahr nicht gleich. Wehre (das Böse) mit Besserem ab, und schon wird der, zwischen dem und dir Feindschaft war, dir wie ein echter Freund werden.⁷⁰

Saʿīd selbst betonte das in einem Interview. Er erzählt davon, dass er, als er auf einer Reise in Kanada war, Christen begegnete, denen er erzählte, dass er zwei oder drei Aussagen von Jesus immer gut im Kopf habe. Die eine davon betrachtet Saʿīd als Lebensweise aller Propheten und zwar, dass der Mensch gütig zu Menschen sein soll, die ihm Böses antun.⁷¹ Dem Bösen mit dem Guten zu begegnen ist keine leichte Sache für einen Menschen. Im Matthäusevangelium (5, 44– 48) sagt Jesus wie folgt: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder Gottes eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr da erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? 47 Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr da Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? Ihr sollt also vollkommen sein, wie es euer Vater im Himmel ist.

Das alles kann im Sinne der Gewaltlosigkeit als Feindesliebe bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang ist der amerikanische Theologe und Philosoph Reinhold Niebuhr (gest.1971) der Ansicht, dass dieses Liebesgebot darin besteht, den Widerstand zu verbieten: „Das Liebesgebot ist in der Tat im Gebieten der Widerstandslosigkeit gegenüber dem Bösen absolut und kompromisslos.“⁷² Dem steht die Auffassung von Bernhard Häring entgegen, der anderes behauptet und sagt: „Das Gebot der Feindesliebe verlangt je nach Möglichkeit den Einsatz gewaltfreier Liebe als den wirksamsten und entschlossensten Widerstand gegen das Böse. Ziel der Gewaltlosigkeit ist der Sieg über das Böse in den Herzen aller und im Leben aller.“⁷³ Für Sameer Murtaza meint das Konzept vom ersten Sohn Adams, dass der Muslim die Anordnungen „pathologischer“ Gewalt untersucht und sie zu verstehen versucht. Danach bemüht sich der Muslim, strukturelle Gewalt durch gesellschaftliche Erziehung und Reformen aufzuheben. Hierbei müssen sich die Muslime nicht nur mit religiösen Texten befassen, sondern ebenfalls die menschliche Geschichte studieren. Dies würde dazu beitragen, dass die Muslime

 ebd., 25.  https://www.youtube.com/watch?v=24udG2A-gLM&t=8s. Von 00:00 bis 02:21. Zuletzt abgerufen am 20. September 2020.  Häring, Bernhard: Die Heilkraft der Gewaltfreiheit. Düsseldorf: Patmos Verlag, 1986, 83.  ebd.

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verstehen, dass die Gewalt „strukturell nur durch einen demokratischen Rechtsstaat eingedämmt, domestiziert und reguliert werden könne.“⁷⁴ Hinzu soll der Muslim den „Pluralismus“ als notwendige Angelegenheit für die Entwicklung und Fortschritte der menschlichen Geschichte betrachten.⁷⁵ Saʿīd plädiert dafür, die Meinungen, Ideen und Einstellungen der anderen zu respekfvermittelten, aber ihre Völker nichttieren, egal welche dies sind. Er ist der Auffassung, dass nur die unreifen Gesellschaften und diktatorischen Regierungen die Menschen wegen ihrer Ideen und Wahrnehmungen töten.⁷⁶

2.2 Das gewaltlose Ethos in der Praxis Nachdem Saʿīd erklärt, wie er das Konzept vom Sohn Adams auslegt, fragt er, wie sich dieses umsetzen lässt. Saʿīd bezieht sich dabei vor allem auf koranische Texte, in denen es um die Geschichte der Propheten und den Umgang mit ihren Gemeinschaften geht, als sie die göttliche Botschaft verkündet und ihre Gemeinschaft dazu aufgerufen haben, an den einen Gott zu glauben. Der bereits erwähnte Hauptvers, aus dem Saʿīd das Konzept der Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit hervorhob lautet: „Wenn du deine Hand gegen mich erhebst, um mich zu töten, dann werde ich doch nicht meine Hand gegen dich erheben, um dich zu töten.“ (5:28) Dieser Vers bzw. diese Vorgehensweise stellt für Saʿīd kein „singuläres Phänomen dar, sondern ist eine prophetische Handlungsmaxime.“⁷⁷ Ǧaudat Saʿīd ist der Ansicht, dass alle Propheten bei ihrem Aufruf zu Gott am Anfang keine Gewalt anwandten, obwohl ihre Gegner ihnen Gewalt antaten. Wer einen souveränen Staat gründen möchte, der sollte für Saʿīd die Auftrittsweise der Propheten nachahmen und Geduld beweisen, auch wenn ihm Gewalt angetan wird sogar bis hin zur Folter.⁷⁸ Der Koran erzählt von den Konflikten zwischen den Propheten und ihren Völkern und wie die Propheten sich damals verhielten, als sie angegriffen und bekämpft wurden. Sie übten keine Gewalt aus und wurden allein wegen ihres Glaubens an Gott bekämpft.⁷⁹ Saʿīd belegt dies mit folgenden Ko-

 Murtaza, Gewaltlosigkeit im Islam, 25.  ebd., 25 – 26.  Saʿīd, Ǧaudat/ al-Būṭī, Muḥammad Saʿīd Ramaḍān: At- Taġyīr, mafhūmuhū wa-ṭarāʾiquhū ; nadwa fikrīya, Damaskus: Dār al-Fikr 1996, 172.  Murtaza, Gewaltlosigkeit im Islam, 19.  Saʿīd, Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 105.  ebd.

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ranversen, die einige Prophetengeschichten und ihr Umgang mit ihren Völkern zeigen. So heißt es in der Noah Erzählung (14:9 – 14): Kam zu euch nicht die Kunde derer, die vor euch lebten, des Volkes von Noah und der ʿAd und der Thamud? Und derer, die nach ihnen lebten, die Gott allein nur kennt? Ihre Gesandten kamen zu ihnen mit den Beweisen, da taten sie ihre Hände auf den Mund und sprachen: „Siehe, wir glauben nicht an das, womit ihr zu uns gesandet wart.“ Und: „Siehe, wir sind in starkem Zweifel über das, wozu ihr uns aufruft.“ Ihre Gesandten sprachen: „Gibt es denn Zweifel über Gott, den Schöpfer der Himmel und der Erde? Er ruft euch, dass er euch eure Sünden vergebe und euch Aufschub gewähre bis zu festgelegter Frist.“ Sie sprachen: „Ihr seid nichts anderes als Menschen wie wir! Wollt ihr uns von dem abbringen, was unsere Väter immer schon verehrten? So bringt uns klare Vollmacht!“ Zu ihnen sprachen ihre Gesandten: „Wir sind- wie ihr- nur Menschen; doch Gott erweist, wem er will von seinen Knechten, Gnade. Uns kam es nicht zu, mit einer Vollmacht zu euch zu kommen, außer mit Erlaubnis Gottes. Darum sollten die Gläubigen auf Gott vertrauen. Uns kommt es nicht zu, auf Gott nicht zu vertrauen, da er uns auf unserem Wege rechtgeleitet hat. Wir wollen dem gegenüber geduldig sein, was ihr uns an Kränkungen zugefügt habt. Auf Gott sollen die vertrauen, die Vertrauen haben.“ Die ungläubig waren, sprachen zu ihren Gesandten: „Wahrlich, wir wollen euch aus unserem Lande weisen- oder ihr kehrt zurück zu unserer Glaubensweise.“ Da gab ihr Herr ihnen ein: „Wahrlich, vernichten werden wir die Frevler. Wahrlich, nach ihnen werden wir euch das Land bewohnen lassen. Das für den, welcher meinen Auftritt fürchtet und meine Drohung.“⁸⁰

Saʿīd kommentiert, dass die Propheten mit den Beweisen zu ihren Völkern kamen und ihnen die göttliche Botschaft vermittelten, aber ihre Völker nicht daran glaubten und ihnen Gewalt antaten.⁸¹ Saʿīd appelliert dafür, dass sich jeder Menschen nach diesem Konzept der unbedingten Gewaltlosigkeit richten sollte bis zur Bereitschaft die körperliche Unversehrtheit aufs Spiel zu setzen.⁸² Weiter heißt es in der Noah-Erzählung (10:71): Und trage ihnen den Bericht über Noah vor! Damals, als er zu seinem Volk sprach: „Mein Volk! Wenn es euch lästig wird, dass ich auftrete und an die Zeichen Gottes erinnere, dann setzte ich mein Vertrauen auf Gott – ihr mögt euch in eurer Angelegenheit mit euren Gesellen zusammen. Dann möge eure Angelegenheit keinen Gram für euch bedeuten. Dann entscheidet über mich, und lasst mich nicht mehr warten!“⁸³

Noah, so Saʿīd, blieb bei seiner mahnenden Rede friedlich. Auch als sein Volk begann sich gegen ihn zu wenden und ihn zu töten versuchte, blieb er wider-

   

Bobzin, Der Koran, 220 – 221. Saʿīd, Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 106 – 107. ebd. Bobzin, Der Koran, 183 – 184.

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standslos und zeigte Bereitschaft und Mut für seine Mahnungen mit dem Tod einzustehen.⁸⁴ Weiterhin heißt es in der Hud-Erzählung (7:65 – 68): Und zu den ʿAd sandeten wir ihren Bruder Hud: Er sprach: „Mein Volk! Dient Gott! Ihr habt keinen Gott außer ihm. Wollt ihr nicht gottesfürchtig sein?“ Da sprachen die Ältesten aus seinem Volk, die ungläubig waren: „Siehe, wir sehen dich in einer Torheit und glauben wirklich, dass du ein Lügner bist.“ Er sprach: „Mein Volk! An mir ist nichts von Torheit, vielmehr bin ich ein Gesandter vom Herrn der Weltbewohner. Ich überbringe euch die Botschaften meines Herrn, und ich bin für euch ein redlicher Berater.“⁸⁵

Saʿīd verweist auf den Unterschied zwischen der Mahnrede von Noah und Hud. Während Noah bereit ist für seine Überzeugungen und die Sache Gottes und zu sterben, stellt sich im Gegensatz dazu Hud zu Dialog und Ratschlag mit seinem Volk zur Verfügung.⁸⁶ Für Saʿīd ist daran wesentlich, dass allen Menschen bewusst gemacht werden soll, dass der Erfolg jeder Mahnrede auf ihrer deutlichen und vollständigen Verkündigung basiert, egal ob die Menschen am Ende an diese Verkündigung glauben oder nicht. Hauptsache bleibt dabei keine Gewalt anzuwenden. Überzeugung ist der Schlüssel zur Glaubens-Kommunikation. Wird dagegen Gewalt und Zwang ausgeübt, wird derjenige, dem Gewalt angetan wurde, dem anderen mit Gewalt antworten um ihm zu zeigen, dass er an seine Idee bzw. seine Mahnungen von Anfang an nicht glauben konnte, da sie unter Zwang geschahen.⁸⁷ In der Mose-Erzählung heißt es (40:23 – 29): Einst sandten wir Mose mit unseren Zeichen und einer klaren Vollmacht zu Pharao, Haman und Korah. Da sprachen sie: „Ein betrügerischer Zauberer.“ Und als er ihnen die Wahrheit von uns brachte, sprachen Sie: „Tötet die Söhne derer, die mit ihm glauben, doch lasst ihre Frauen leben!“ Doch führt die List der Ungläubigen nur in die Irre. Pharao sprach: „Lasst mich Mose töten! Soll er dann doch seinen Herren anrufen. Ich fürchte, dass er eure Religion verändern oder im Lande das Verderben obsiegen lassen wird!“ Mose sprach: „Siehe, ich nehme meine Zuflucht zu meinem und deinem Herrn vor einem jeden, der sich mächtig dünkt und nicht an den Tag der Abrechnung glaubt.“ Da sprach ein gläubiger Mann aus dem Geschlecht Pharaos, der seinen Glauben verborgen hielt: „Wollt ihr denn einen Mann umbringen, nur weil er sagt: ‚Gott ist mein Herr‘, wo er doch mit den Beweisen von eurem Herrn zu euch kam? Wenn er nun ein Lügner ist, dann wendet sich sein Lügen gegen ihn. Wenn er jedoch die Wahrheit spricht, dann trifft euch einiges von dem, was er euch verheißt. Siehe, Gott leitet keinen recht, der es zu weit treibt und verlogen ist. Mein Volk! Heute habt ihr die

   

Saʿīd, Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 108. Bobzin, der Koran, 135– 136. Saʿīd, Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 109. ebd.

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Herrschaft inne, da ihr im Land die Oberhand habt. Doch wer kann uns helfen gegen Gottes Macht, wenn sie zu uns kommt?“⁸⁸

Saʿīd meint hierzu, dass ein Mann sich in die Diskussion zwischen Mose und dem Pharao einmischte, um den Menschen die Botschaft Moses zu verdeutlichen und sie seinerseits ebenfalls zu verteidigen. Er erklärte den Menschen, dass sie Gott und nicht den Pharao anbeten sollten.⁸⁹ Der Mann musste auch Mose selbst verteidigen, weil der Pharao ihn töten wollte. Aber Mose hielt an seiner Rede fest, in dem er sagte, dass Gott sein Herr sei. Der Pharao sah die Kraft in Moses Auftritt, weil dieser friedlich war. Auch konnte der Pharao Mose nichts vorwerfen und befahl seinem Volk daraufhin, ihn umbringen zu lassen.⁹⁰ Er sah, dass Mose die Situation auf friedliche Weise für sich ändern konnte. Der Pharao sah sich und sein Regime in Gefahr und fürchtete, dass Mose durch die Anbetung Gottes seine Macht brechen könne. Saʿīd will darauf abzielen, solchen Appellen Glauben zu schenken, die gut und logisch begründet sind. So fürchtet jeder Diktator eine gute Begründung mehr als Waffen. Begründung ohne Gewaltandrohungen schaffen Vertrauen.⁹¹ Diktaturen wünschen sich dabei, dass der oppositionelle Mahnredner Gewalt anwendet und nicht friedlich bleibt, um einen Vorwand für dessen Ermordung zu haben. Das sei die generelle Vorgehensweise von Diktaturen gegen friedliche Proteste wie Saʿid feststellt. Häufig werfen sie ihnen Terrorismus vor oder hängen ihnen die Verantwortung für Attentate an.⁹² Darüber hinaus erinnert der Pharao in der koranischen Erzählung sein Volk daran, dass Mose bei ihm großgeworden sei und er ihn erzogen habe. Saʿīd vergleicht die Aussagen mit den Argumentationsstrukturen von heutigen Diktatoren. Amts- und Funktionsträger in Diktaturen argumentieren gegenüber friedlichen Protestausübenden die das Regime absetzen wollen, dass sie doch in diesem Land geboren und aufgewachsen seien. Wie können sie dem Land dankbar sein, wenn sie das System ändern wollen, das sich um sie gekümmert hat und ihnen Erziehung, Ausbildung und Arbeit gewährt hat?⁹³ Die Tatsache, dass Menschen in einem Land geboren und aufgewachsen sind, bedeutet für Saʿīd nicht, dass sie deshalb dem System gehorsam sein und alles tun müssen, was das Regime oder das System für sie entscheidet. Es gibt keinen Grund für ihre Unterdrückung, auch wenn sie in einem Land geboren und groß-

     

Bobzin, Der Koran, 414– 415. Saʿīd, Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 111– 112. ebd., 112. ebd., 113. ebd. ebd., 113 – 114.

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geworden sind. Die Propheten aber akzeptierten so etwas nicht, ebenso wenig wie jeder vernünftiger Mensch.⁹⁴ Daher stellt Saʿīd am Ende fest, dass der, der für etwas appelliert, dann auch mit dem leben muss, wofür er sich eingesetzt hat. Er darf seinen Gegnern nicht die Gelegenheit zum Vorwurf geben, nicht nach seinen eigenen Grundsätzen zu leben. Wer an seinen Grundsätzen festhält und versucht, sie den Menschen zu erklären, der wird damit die Wahrheit ans Licht bringen. Entscheidend ist für Saʿid, dass den Menschen die Wahrheit klar bewusst gemacht werden muss. Die Person, die deswegen möglicherweise ihren Kopf hinhält tritt dahinter zurück.⁹⁵ Weiter heißt es in der Šuʿayb-Erzählung (7:88 – 89): Die Ältesten aus seinem Volk, die hochmütig warten, sprachen: „Wahrlich, wir werden dich, Schuʿib, und die mit dir glauben aus unserer Stadt vertreiben, oder aber du kehrst zurück zu unserer Glaubensweise!“ Er sprach: „Doch wenn wir uns nur dagegen sträuben? Wir müssen doch Lügen gegen Gott ersinnen, wollten wir zurückkehren zu euerer Glaubensweise, nachdem uns Gott aus ihrer errettet hat. Es steht uns nicht zu, zu ihr zurückkehren, es sei denn, dass Gott, unser Herr, es will. Unser Herr umfasst mit seinem Wissen alles. Auf Gott vertrauen wir. Du, unser Herr, richte zwischen uns und unserem Volk nach der Wahrheit! Du bist der biste Richter!“⁹⁶

Saʿīd meint, dass Šuʿaybs Volk ihm drohte, ihn aus der Stadt zu vertreiben, weil er verkündete, die Religion seines Volkes zu verlassen.⁹⁷ In diesem Zusammenhang wurde ihm nicht vorgeworfen, dass er gewalttätig geworden sei. Er hielt aber an seinem Grundsatz fest und erklärte eindeutig, dass er nie wieder zur Religion seines Volkes zurückkehren wolle, nachdem Gott ihn davor gerettet hatte.⁹⁸ In der koranischen Jesus-Erzählung (3:48 – 52) heißt es über ihn: Lehren wird er ihn das Buch, die Weisheit, das Gesetz und das Evangelium. Und ein Gesandter zu den Kindern Israel: „Ich kam zu euch mit einem Zeichen von eurem Herrn, dass ich für euch aus Ton erschaffe, was die Gestalt von Vögeln hat. Dann hauche ich es an, so dass es wirklich Vögel werden, mit Erlaubnis Gottes. Ich werde Blinde heilen und Aussätzige und werde Tote lebendig machen, mit Erlaubnis Gottes. Ich werde euch verkündigen, was ihr esst und was ihr in eueren Häusern speichert. Siehe, darin liegt für euch fürwahr ein Zeichen, sofern ihr gläubig seid! Ich kam zu euch, um zu bestätigen, was vor mir war von dem Gesetz, und um euch zu erlauben manches von dem, was euch verboten war. Ich kam zu euch mit einem Zeichen von eurem Herrn. So fürchtet Gott, und leistet mir Gehorsam! Siehe, Gott ist mein Herr und euer Herr! So dienet ihm! Das ist ein gerader Weg.“ Als aber Jesus den

    

ebd., 114. ebd. Bobzin, Der Koran, 138. Saʿīd, Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 116. ebd.

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Unglauben bei ihnen spürte, sprach er: „Wir sind denn meine Helfer hin zu Gott?“ Die Jünger sprachen: „Wir sind die Helfer Gottes, wir glauben ja an Gott. Sei du dafür Zeuge, dass wir Gott ergeben sind!“⁹⁹

Jesus trat mit Wundern Gottes auf, sodass die Helfer Gottes (al-ḥawarīyūn) sich Gott ergaben und an ihn glaubten.¹⁰⁰ Saʿīd bezieht sich auf einen Abschnitt im Matthäus Evangelium und Jesu Anweisung an einen seiner Jünger sich gewaltlos zu verhalten: Da traten sie heran und legten Hand an Jesus und ergriffen ihn. Und siehe, einer von denen, die bei Jesus waren, streckte die Hand aus und zog sein Schwert und schlug nach dem Knecht des Hohenpriesters und hieb ihm ein Ohr ab. Da sprach Jesus zu ihm: „Stecke dein Schwert an seinen Ort! Denn wer das Schwert nimmt, der wird durchs Schwert umkommen.“ (Mt 26, 50b–53)

Jesus handelt hier gewaltlos, so wie alle Propheten. Sameer Murtaza hebt hervor, dass im Koran die Propheten und ihre Anhänger immer eine Minderheit in ihrer Gesellschaft waren. Im Kontext einer heidnischen Gesellschaft waren sie andersgläubig und wurden mit Gewalt konfrontiert. Sie aber wollten in ihren Gemeinschaften einen gesellschaftlichen Wandel erreichen und verhielten sich dabei im Glauben an ihre göttliche Offenbarung, die „allen menschlichen Konzepten und Ideen überlegen ist, konsequent gewaltlos.“¹⁰¹ Schließlich wendet Saʿīd sich der Zeit Muhammads zu. Wiederholt betont er dabei, dass der Prophet Muḥammad keine Gewalt ausübte, als er sein Volk zum Islam aufrief. Er forderte ebenfalls keinen seiner Gefährten zum Kampf auf oder gar zum Töten eines Menschen. Die Gefährten Muhammads litten zu Beginn der Vermittlung der göttlichen Offenbarung unter der Gewalt von Polytheisten, die ihnen Schaden zufügten. Sie fühlten sich erniedrigt und wollten der Gewalt ebenfalls mit Gewalt begegnen. Muḥammad aber verbot ihnen dies zu tun. Er sprach zu ihnen, dass ihm befohlen worden sei, seinem Volk zu vergeben und keinen Krieg gegen es zu führen. Erst als Muḥammad von Mekka nach Medina vertrieben worden war, gebot ihm Gott den Kampf.¹⁰² In diesem Zusammenhang stützt sich Saʿīd auf die Aussagen des islamischen Denkers Muḥammad Rašīd Riḍā (gest.1935). Dieser ist der Auffassung, dass, bevor der Islam kam, die Gefährten des Propheten Muḥammad daran gewöhnt gewesen seien, Kriege zu führen und gegeneinander zu kämpfen. Der frühe

 Bobzin, Der Koran, 52– 53.  Saʿīd, Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 117– 118.  ebd.  ebd., 121.

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Islam zur Zeit der Offenbarung verlangte von ihnen von solchen Gewohnheiten abzulassen. Die Gläubigen sollten das Bewusstsein haben, ein anderes, ein ethisches Leben führen zu können, indem sie sich an islamischen Werten festhielten wie zum Beispiel das Gebet zu verrichten und Almosen zu geben. Saʿīd betonte, dass keiner bestreiten würde, dass Muḥammad und seine Gefährten am Anfang der Offenbarung keine Gewalt anwendeten und sich nicht verteidigten.¹⁰³ Für Murtaza steht in diesem Zusammenhang die göttliche Offenbarung, die an Muḥammad herabgesandet wurde, im Widerspruch zur Lebensart Muhammads. Murtaza hebt hervor, dass auch Saʿīd zwischen zwei Lebensphasen Muhammads unterscheidet, nämlich der mekkanischen und der medinensischen.¹⁰⁴ Hierbei betont Murtaza, dass zwischen diesen beiden Lebensphasen Muhammads deutlich unter Berücksichtigung des jeweiligen politischen Kontextes unterschieden werden muss, damit unterschiedliche Positionen nicht gegeneinander ausgespielt und weder „von Extremisten muslimischen Glaubens noch von Islamophoben missbraucht werden können.“¹⁰⁵ Die prophetische Offenbarung von Muḥammad währte insgesamt dreiundzwanzig Jahre. In den ersten dreizehn Jahren, die Muḥammad und seine Anhänger in Mekka verbrachten, wurde der muslimischen Gesellschaft obwohl sie Verfolgung, Marter und sogar Tötung erleiden musste, sämtlicher gewaltsamer Widerstand verwehrt.¹⁰⁶ Der libanesische Islamwissenschaftler und Koranübersetzer Adel Theodor Khoury (geb.1930) betont, dass Muḥammad in den Anfängen der islamischen Geschichte sich in erster Linie verpflichtet sah seinen Auftrag der Verkündung der Botschaft zu erfüllen. Khoury ist der Auffassung, dass sich Muḥammad mit der Rolle als Verkünder und Warner für seine Gemeinschaft begnügte und die Bestrafung des Unglaubens oder die Zukunft der Ungläubigen Gott überließ.¹⁰⁷ Letztere Behauptung scheint im Abgleich mit dem Koran widersprüchlich zu sein. In mehreren Koranstellen betont Muḥammad die Zukunft derjenigen, die nicht an Gott glaubten und seine Existenz abstreiten und verweist darauf, dass sie in die Hölle gehen würden und sie Strafe erwarte. So heißt es beispielsweise in (2:161– 162):

 ebd.  Murtaza: Gewaltlosigkeit im Islam, 21.  ebd.  ebd.  Khoury, Adel Theodor. Toleranz im Islam, Entwicklung und Frieden. Wissenschaftliche Reihe 22, hg.v. der Wissenschaftlichen Kommission des Katholischen Arbeitskreises Entwicklung und Frieden. München, Mainz: Kaiser Verlag, Matthias-Grünewald-Verlag. 1980, 17.

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Siehe, die ungläubig sind und sterben- und noch ungläubig sind, auf denen liegt der Fluch Gottes, der Engel und der Menschen insgesamt! Sie bleiben darin ewig. Die Strafe wird ihnen nicht erleichtert und Aufschub ihnen nicht gewährt.¹⁰⁸

An anderer Stelle heißt es (4:14): „Und wer sich Gott und seinem Gesandten widersetzt und seine Schranken überschreitet, den führt er ins Höllenfeuer. Ewig wird er darin bleiben, und erniedrigende Strafe ist ihm bestimmt.“¹⁰⁹ Es ist hier darauf hinzuweisen, dass es ein großes Thema unter den Muslimen ist, wer als „ungläubig“ zu betrachten ist. Dafür gibt es sehr unterschiedliche Wahrnehmungen. Ferner ist Khoury der Ansicht, dass Muḥammad, als er in Mekka war, bei seinem Umgang mit den Polytheisten und seinen Landesleuten versuchte, keinen Streit zu entfachen. Er ermahnte sie, den Glauben anzunehmen und verwies sie darauf, dass das in ihrem Interesse liege.¹¹⁰ Muḥammad befand sich in Mekka in der gleichen Situation wie die ihm vorangegangen Propheten. Er war ein einzelner Gottesrufer, der in einer Gesellschaft lebte, die den Glauben an Gott verweigerte und seine Existenz abstritt. Diese Situation änderte sich mit der Übersiedlung des Propheten Muḥammad und seiner Anhänger von Mekka nach Medina. In dieser Stadt, die „eine auf dem Gottesglauben gegründete souveräne Gesellschaft“ war, wurde es den Muslimen gestattet, sich zu verteidigen und Gewalt mit Gewalt zu begegnen. Die Muslime trugen hier die „Regierungsverantwortung“, womit sie für die Sicherheit aller ihre Bewohner gleich welchen Glaubens verantwortlich waren. Murtaza belegt das mit dem Koranvers (22:39), der es den Muslimen erlaubt Gewalt anzuwenden. Erlaubnis (zur Verteidigung) ist denen gegeben, die bekämpft werden –weil ihnen Unrecht angetan wurde– und Gott hat gewiss die Macht, ihnen beizustehen.¹¹¹

Erst nach der Auswanderung von Mekka nach Medina durften die Muslime sich folglich des Mittels der Gewalt bedienen, nachdem die Menschen von ihrer Hinwendung zum Islam überzeugt waren und für ihren Glauben gekämpft hatten.¹¹² So heißt es in der Offenbarung im Koran (4:77): „Sahst du nicht jene, zu denen gesagt wurde: „Haltet eure Hände zurück, verrichtet das Gebet und gebt die Ar-

    

Bobzin: Der Koran, 27. ebd., 71. Khoury, Toleranz im Islam, 18. ebd. Saʿīd: Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 121.

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mensteuer!“ Als ihnen dann zu kämpfen vorgeschrieben wurde, da fürchtete ein Teil von ihnen die Menschen, so wie sie Gott fürchten, oder gar noch mehr (…)“¹¹³ Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Muslime am Anfang der islamischen Offenbarung verfolgt und erniedrigt wurden, sie sich aber trotzdem gewaltlos verhielten und auf die Angriffe friedlich reagierten. Das änderte sich als sie von Mekka nach Medina zogen, wo sie einen eigenen Staat gründen konnten. Im Kontext Medinas war es ihnen erlaubt, auf Angriffe zu reagieren und in den Kampf zu ziehen. Die Muslime wehrten sich aus eigener Überzeugung, nicht nur, weil der Befehl von Gott kam.¹¹⁴ Daraus zieht Saʿīd den Schluss, dass eine Regel, damit sie eingehalten wird, auf einer inneren Überzeugung gegründet sein muss. Wovon Menschen überzeugt sind, daran halten sie sich auch. Das Einverständnis mit einer Regel muss vorhanden sein, damit deren Umsetzung erfolgen kann.¹¹⁵

2.3 Der Weg der Veränderung Menschen streiten sich, führen Kriege und töten einander. Anhänger einzelner Religionen verfolgen andere Religionsanhänger, tun ihnen Gewalt an und vertreiben sie aus ihren Häusern bzw. von ihrer Heimat. Die Menschheit befindet sich im Krieg und derjenige, der nach dem Konzept vom Sohn Adams lebt, wird sich von all dem distanzieren. So bleibt für Ǧaudat Saʿīd die Hoffnung, dass sich die Menschheit eines Tages nach diesem Konzept richtet. Dafür aber muss er sich für das Gute einsetzen, um dem Bösen, das auf der Welt herrscht, etwas entgegensetzen zu können.¹¹⁶ Die Erzählung von den Söhnen Adams weist darauf hin, wie die Menschheit sich mit ihren Problemen, die Saʿīd ebenfalls als Krankheiten bezeichnet, umgeht. Die eine Gruppe nimmt die Tötung als Heilung von ihren Krankheiten hin, die andere Gruppe hingegen lehnt diese Art der Lösung total ab.¹¹⁷ Die Menschheit muss zur Erkenntnis nehmen, dass es Selbstmord ist, wenn Gewalt als Mittel der Problemlösung ausgeübt wird. Die Menschheit geriet in eine Sackgasse und hat nun die Aufgabe, nach Lösungen für ihre Probleme zu suchen und keine Gewalt anzuwenden. Saʿīd widerspricht der verbreiteten Ansicht, dass es irrational und rückständig sei, wenn bei Problemen bzw. Konfliktlösungen keine Gewalt angewendet würde. Für Saʿīd ist das nicht der richtige Weg, das     

Bobzin: Der Koran, 79. Saʿīd: Maḏhab Ibn Adam al-auwal, 124. ebd., 122. Saʿīd, Kun kā-ibn-Ādam, 23. ebd., 13.

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Leben eines Menschen zu schützen. Denn wer keine Gewalt anwendet, der schützt damit auch sich selbst. Um in Frieden leben zu können ist es nötig auch auf die wirtschaftlichen Lebensumstände Rücksicht zu nehmen. Auf solchem Weg wird die Menschheit vorankommen.Will jedoch der Mensch weiterhin nicht auf Gewalt verzichten, dann werden, so Saʿīd, zumindest „die Stöße“, die ihm versetzt werden, ihn dazu führen müssen, eines Tages von Gewalt abzulassen. Dies wird die Menschheit lernen müssen.¹¹⁸ In den letzten Jahren gab es immer wieder islamische Reformbewegungen, die mit ihren innovativen Ideen und Gedanken versuchten, die muslimische Lage zu verbessern. Sie versuchten zu erreichen, dass sich die islamische Gemeinschaft weiterentwickelt und sie selbst die Verantwortung übernimmt sich für Zivilisation, Gerechtigkeit und Zufriedenheit der Menschen einzusetzen.¹¹⁹ Saʿīd fragt sich, warum die bisherigen Reformbewegungen nicht helfen konnten, die Lage der Muslime weiterzuentwickeln und positiv zu wandeln. Er sieht hierbei zwei Lösungen, nämlich erstens, dass die Intellektuellen und Vordenker unter den Muslimen sich verpflichtet fühlen sollten, ihre Ideen in einfacher Weise zu vermitteln, sodass die Muslime diese verstehen können. Zweitens, dass die Muslime sich untereinander mit ihren Problemen auseinandersetzen müssen, um sie lösen zu können. In diesem Zusammenhang appelliert Saʿīd dafür, die Kontakte zwischen muslimischen Ländern zu verstärken, damit die Muslime die Möglichkeit haben, mehr voneinander lernen zu können.¹²⁰ Saʿīd plädiert in seinen Schriften häufig für eine Vereinigung der Muslime. Er sieht in der europäischen Einigung ein „Wunder Gottes“, denn Europa war zerstört und die europäischen Länder hatten in den letzten Jahrhunderten immer wieder Kriege gegeneinander geführt. Dennoch gelang es ihnen sich zusammenschließen und die Europäische Union zu gründen. Saʿīd betont, dass die europäische Einigung etwas Neues und Interessantes in der menschlichen Geschichte sei. Wer sich mit der Geschichte auseinandersetzt, wird erkennen, von welch großer Bedeutung dieses europäische Ereignis ist, denn es basiert auf Gewaltverzicht, humanistischen Werten und auf dem Konzept der Solidargemeinschaft, dass alle gewinnen und keiner verlieren soll. Die Muslime nehmen es laut Saʿīd nicht wahr, was in Europa geschaffen wurde, wie z. B. Gerechtigkeit und Gleichberechtigung und vor allem die Gleichheit Aller vor dem Gesetz. Die Mus-

 ebd., 14.  Saʿīd/ al-Būṭī: At- Taġyīr, mafhūmuhū wa-ṭarāʾiquhū, 8.  ebd., 8 – 9.

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lime müssen davon lernen, sich zusammen zu tun und eine Basis für eine engere Zusammenarbeit untereinander zu schaffen.¹²¹ Saʿīd ist ebenfalls der Ansicht, dass die Europäer, mit allem was sie untereinander geschaffen haben, näher an Gott sind, als die Muslime selbst. Wären die Muslime wahre Muslime, dann hätten sie die Europäer nachgeahmt und die Einheit und die Einigung untereinander umgesetzt. In diesem Sinne versteht Saʿīd den Koranvers (3:103) und deutet ihn als Mahnung Gottes an die Muslime.¹²² „Haltet allesamt am Bande Gottes fest, und spaltet euch nicht auf! Gedenkt der Gnade Gottes über euch, als ihr noch Feinde wart, er dann Einklang zwischen euren Herzen stiftete und ihr durch seine Gnade Brüder wurdet!“¹²³ Trotz aller Unruhen, die in muslimischen Gesellschaften herrschen, sollen sich die Muslime nach Saʿīd versöhnen und den Streit bei Seite lassen. Die Muslime müssen von den Europäern lernen, das zu tun, was in ihrem eigenen Interesse liegt und zu einem besseren Leben führt.¹²⁴ Der syrische Gelehrte Muḥammad Saʿīd Ramaḍān al-Būṭī (1929 – 2013) ist der Auffassung, dass die Muslime sich eine Veränderung zum Besseren zwar wünschten, sie aber immer die Ausrede nützten, nicht den ausreichenden Willen dafür zu haben. Ihnen fehle schlichtweg die Motivation. Al-Būṭī kann diese Haltung nicht nachvollziehen, da er sich nicht vorstellen kann, dass jemand keinen Willen habe, sich zu verbessern und sich zu entwickeln.¹²⁵ Al-Būṭī ist der Ansicht, dass, wer als Mensch nah zu seinem Gott ist, ihn anbetet und sich an seine religiösen Grundsätze hält, dadurch ausdrückt, dass er grundsätzlich bereit sei sich zu verändern. Jede Veränderung basiere auf einer Reinigung der Seele von den schlechten Eigenschaften wie z. B. Neid, Hass und Hochmut.¹²⁶ Saʿīds Ansatz befasst sich im Kern damit, die Probleme der Muslime zu lösen. Er versucht, ihnen einen Weg zu zeigen, auf dem sie sich weiterentwickeln können. Er ist der Meinung, dass die Muslime selbst für ihre Rückständigkeit und ihre Kriege gegeneinander verantwortlich sind und nicht ihre Feinde dafür verantwortlich gemacht werden können.¹²⁷ Es gibt zwei Hauptverse aus dem Koran, die Saʿīd zum Konzept der Veränderung der Muslime inspirierten. Die Verse (13:11) und (8:53) lauten wie folgt:

      

ebd., 55 – 60. ebd., 83. Bobzin: Der Koran, 58. Saʿīd/ al-Būṭī: At- Taġyīr, mafhūmuhū wa-ṭarāʾiquhū, 84. ebd., 25. ebd., 27 ff. Saʿīd: Kun kā-ibn-Ādam, 14

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Gott ändert an einem Volk nichts, ehe sie nicht ändern, was in ihren Seelen ist.¹²⁸ „Das geschieht deshalb, weil Gott niemals eine Gnade ändern würde, die er seinem Volk einst verliehen hatte, ehe es sich nicht ändert bei sich selbst; und weil Gott hörend, wissend ist.“¹²⁹

Saʿīd ist in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass die Veränderung ein Prozess ist, der auf mehreren Grundlagen basiert. Die Veränderung ist sowohl auf Gott als auch auf den Menschen zurückzuführen. Das bedeutet, dass Gott die Geschichte erfindet und für die Rechtleitung des Menschen verantwortlich ist, während der Mensch sowohl bei der Erfindung als auch dem Aufbau der Geschichte durch eigene Arbeit beteiligt ist.¹³⁰ Zum anderen hat Gott den Menschen Gnade zuteilwerden lassen wie z. B. Gesundheit, Würde und Reichtum usw. Würden die Menschen darauf nicht achten, dann würde ihnen diese Gnade entzogen. Das heißt, der Mensch bekommt von Gott das, was in seiner Seele bereits vorhanden sei und was der Mensch nun frei zu legen und für sich zu erlangen habe.¹³¹ Daher fragt Saʿīd sich verwundert, ob es keinen einzigen vernünftigen Menschen unter den Muslimen gäbe, der die Probleme zwischen den Muslimen und Arabern friedlich lösen könne?¹³² Daran müssten die Muslime intensiv arbeiten, sich mit Frieden untereinander beschäftigen und sich für ihn einsetzen. Hierbei sei es wichtig, wie sie den Frieden untereinander schaffen würden, ohne dass jemand von ihnen irgendetwas verliert oder dabei ein Land zerstört werden würde und ihre Völker am Ende zufrieden seien. Schaffen die Muslime den Frieden untereinander, dann werden sie, so Saʿīd, von der ganzen Welt respektiert und hochgeachtet sein.¹³³ Es bleibt die Frage offen, wie die Muslime den Frieden schaffen und sich verändern können da sich laut Saʿīd viele Muslime immer noch nach Gewalt sehnen. Die erste Lösung für die Probleme dieser Muslime ist, dass sie diese Sehnsucht nach Gewalt und den Willen, diese einzusetzen, aus ihren Herzen löschen.¹³⁴ Der Weg der Veränderung liegt für Saʿīd darin, den Propheten zu folgen. Er sieht, dass die Propheten mit einem neuen Menschenbild auftraten und zwar, dass die Menschheit sich verändern kann, wenn der Einzelne mit sich selbst anfängt. Der Mensch kann sich und ebenfalls auch andere Menschen ändern,

      

Bobzin: Der Koran, 214. ebd., 155. Saʿīd/al-Būṭī: At- Taġyīr, mafhūmuhū wa-ṭarāʾiquhū, 42– 43. ebd., 43. Vgl. Saʿīd, Kun kā-ibn-Ādam, 14. ebd., 15. ebd., 16.

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ohne ihnen Gewalt anzutun oder sie töten zu müssen. Davon, müssen die Muslime jedoch erstmal überzeugt sein, von Gewalt als ihrer „Krankheit“ um sich von ihr heilen zu lassen.¹³⁵ Es ist möglich, den Menschen zu ändern, ohne ihn zu töten. Den Muslimen muss das bewusst gemacht werden, denn die Tötung der menschlichen Seele ist im Islam verboten. Das ist der Weg der Propheten, aber die Muslime sind davon noch weit entfernt sie zu verstehen, weshalb die Propheten und deren göttliche Offenbarung immer wieder lächerlich gemacht werden.¹³⁶ Die Propheten traten zur Befreiung der Menschen auf und konnten zwischen geistigem und physischem Streit gut unterscheiden. Hierdurch schufen sie eine „neue Welt“, die auf Dialog und Änderung der Seele basiert. Würde der Mensch unterscheiden wie die Propheten, dann würde er eine neue Welt betreten und sich am wahren Wort Gottes orientieren. Er würde weder Macht noch Gewalt benutzen, um Anderen ihre Religion, ihren Glauben und ihr Denken aufzuzwingen. Wer diese prophetische Unterscheidung ignoriert bliebe unfrei und würde nicht, so Saʿīd, an den Hauptkern des Monotheismus glauben. Dieser Hauptkern liegt für Saʿīd in dem Koranvers (2:256), in dem es darum geht, dass es keinen Zwang in der Religion gibt.¹³⁷

Fazit Religionen haben heutzutage keinen guten Ruf, denn es wird ihnen vorgeworfen, dass sie Gewalt verursachen und diese in die Welt bringen. Das Verhältnis zwischen Religion und Gewalt rückte als Thema der islamischen Theologie vermehrt Ende des 20. Jahrhunderts und vor allem nach dem 11. September in den Mittelpunkt. Religiös motivierte Gewalt bildet seitdem den Schwerpunkt zahlreicher Forschungsarbeiten. Für jede Gewalt gibt es verschiedene Faktoren, die betrachtet werden müssen, seien diese Faktoren religiös, sozial, politisch oder physisch. Der Islam ist eine Religion, die heute am häufigsten unter dem Verdacht steht, eine Religion der Gewalt zu sein. Er hat vor allem in der westlichen Welt ein sehr negatives Bild. Es ist nicht abzustreiten, dass Gewaltpassagen im Koran stehen, wie diese aber zu interpretieren sind, ist umstritten.

 ebd., 41.  ebd., 41 ff.  ebd., 45.

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Neben Gewaltpassagen im Koran sind auch Friedenpassagen zu finden. Einige Gelehrte sprechen deshalb auch von einer islamischen Gewaltfreiheit und von Gewaltlosigkeit. Einer der bekanntesten, Ǧaudat Saʿīd, wird von manchen sogar als „Ghandi“ der arabischen Welt bezeichnet. Said entwickelte das Hauptkonzept von Gewaltlosigkeit und Gewaltfreiheit aus dem Koranvers, von den Söhnen Adams ist wo es heißt: „Wenn du deine Hand erhebst, um mich zu töten, dann erhebe ich nicht meine Hand, um dich zu töten.“ (5:28) Am Anfang der menschlichen Geschichte war die Menschheit mit zwei Handlungen der beiden Söhne Adams konfrontiert. Einmal dem Mord von Kain an seinem Bruder Abel und zum anderen dem gewaltlosen Widerstand Abels. Dieser gewaltlose Widerstand Abels stellt Saʿīds Auffassung nach einem Ethos der Gewaltlosigkeit dar, an dem sich die ganze Menschheit festhalten soll. Saʿīd ist der Ansicht, dass das Hauptproblem der Muslime und die Hindernisse ihrer Entwicklung in ihrer Neigung zur Gewalt begründet liegen. Weitere Hintergründe für das Gewaltphänomen der Muslime sind die blinde Nachahmung von Positionen extremistischer Gruppen, das absichtliche Selektierten von Gewaltversen im Koran, um bestimmte Handlungen zu legitimieren und der Versuch durch Gewalt politische Macht zu erlangen. Saʿīd ruft die Muslime deutlich auf, Gewalt zu verurteilen, sich untereinander zu versöhnen, zu einigen und zusammenzuarbeiten. Saʿīd entwickelte das Konzept der Gewaltlosigkeit aus seiner Sicht des Islam. Über den Begriff der Gewaltlosigkeit herrschen unterschiedliche Meinungen. Gewaltlosigkeit als das Nein zu Gewalt besteht in dem Ansatz dem Bösen mit dem Guten zu begegnen sowie im Vertrauen in die Kraft der Gerechtigkeit. Als Saʿīd sein Buch „Das Konzept des ersten Sohns Adams“ verfasste, zielte er darauf ab, die Probleme der islamischen Welt und das Gewaltphänomen unter Muslimen zu erforschen. Saʿīd fordert darin die Muslime zur Verurteilung jeglicher Gewalt auf. Kein Muslim darf zur Tötung von anderen Menschen aufrufen. Ferner darf der Muslim andere niemals zu etwas zwingen, seien es bestimmte Handlungen oder der Zwang zum Glauben an bestimmte Weltanschauungen. Mit diesem Konzept will Saʿīd erreichen, dass der Mensch sich dafür einsetzt, andere Menschen rechtzuleiten, die Wahrheit zu sagen, an seinen Prinzipen festzuhalten und dafür auch die Folgen zu ertragen, egal welche dies sind. Saʿīds Ansatz der Gewaltlosigkeit basiert auf theologischen Texten im Koran, die über die Prophetengeschichten und deren Umgang mit ihren Gemeinschaften berichten. Die Propheten und ihr Umgang mit ihren Gemeinschaften stellen ein Vorbild für die Muslime dar. Saʿīd ist der Auffassung, dass alle Propheten bei ihrem Aufruf zur Anbetung Gottes keine Gewalt ausübten, obwohl sie verfolgt und gefoltert wurden. Der gewaltlose Widerstand ist der Weg, so Saʿīd, zum Erfolg

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jedes Aufrufs. Nur dieser Weg lässt die Menschen an die Wahrhaftigkeit glauben, unabhängig davon, wie die Forderungen und Mahnungen im Einzelnen lauten. Die Muslime müssen sich mit ihren Problemen auseinandersetzen. Dabei besteht der Weg der Veränderung zunächst im Verzicht auf Gewalt als Mittel zur Lösung ihrer Probleme. Außerdem müssen die Muslime anfangen, sich selbst zu verändern, indem sie versuchen, schlechte Eigenschaften abzulegen. Die Probleme der Muslime liegen für Saʿīd zuerst bei ihnen selbst. Sie sind verantwortlich für ihre Kriege und ihre Rückständigkeit und niemand anderes. Ändern sie sich selbst, dann werden sie sich weiterentwickeln können.

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Christiane Paulus

„Zinā“, Prostitution und wahrscheinliche Kindstötung Lebensweltliche Genderrekonstruktionen im Anschluss an Amīn al-Ḫūlī (Q 24: 2 – 29)

Einleitung, Methodologie Nicht nur in arabisch-muslimischen Kontexten stehen insbesondere weibliche Jugendliche und Frauen beständig unter dem Verdacht, eventuell illegitime sexuelle Beziehungen zu unterhalten. Im Vergleich zu dem männlichen Geschlecht, so wird zugeschrieben, hätten die Mädchen und Frauen etwas zu verlieren: Jungfräulichkeit und Ehre. Strukturelle Diskriminierungen, Sexismen folgen daraus, die heute vielerorts kommuniziert werden. Die schriftlichen Überlieferungen scheinen immer Dreh- und Angelpunkt der Diskurse, somit die Frage einer rechtlich verbindlichen Koraninterpretation, eben wer auslegt und wie gedeutet wird. Die rechtswissenschaftlichen Diskurse verkürzten und verkürzen bis heute zugehörige (ambige) Aspekte, so auch bei dieser Thematik. Der heutige theologische Anspruch der Historisierung oder Kontextualisierung bleibt überwiegend auf einer abstrakten Ebene und löst sich nicht weit genug von aktuellen Diskursen, die durch die Normen der heutigen modernen Gesellschaften, wie z. B. Freiheit und Gerechtigkeit, geprägt sind. Damit lässt er sich nicht ausreichend auf das im Grunde fremde Material ein, was im Sinne des hermeneutischen Zirkels notwendig wäre. Entsprechend verweist die aktuelle Debatte zur feministisch-islamischen Exegese des Koran auf ihre aktuelle methodologische Unsicherheit.¹ Im Anschluss an die hermeneutische Methode von Amīn al-Ḫūlī vermag eine thematische Interpretation, indes zusammen mit den zusammengehörigen Sinnabschnitten der koranischen Versabfolge, den jeweiligen sozialen Hintergrund der Thematik bis zu einem gewissen Grad zu verdeutlichen. Sozialwissenschaftlich-hermeneutische Fragestellungen scheinen eher in der Lage zu sein, die heutigen gesellschaftlichen Wirklichkeiten als primär unumgängliche Zu-

 Roundtable. „Feminism and Islam. Exploring the Boundaries of Critique.“ In Journal of Feminist Studies in Religion, Bd. 32, 2, Fall 2016, 111– 151. https://doi.org/10.1515/9783110588590-018

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Christiane Paulus

gänge zu den jeweils damaligen zu reflektieren, da die aktuellen Realitätskonstruktionen² weiterhin den Zugang zur Schrift bedingen; die der Koraninterpreten den ihren, eben als ihren Wissensvorrat. Der Begriff der Wirkungsgeschichte lässt sich daran anschließen.³ Die damaligen Verhältnisse und Wirklichkeitsauffassungen der ersten Hörerenden lassen sich folglich als jeweilige Bedingungen ihrer Zugänge fassen, die entsprechend rekonstruiert werden können. Der Begriff der Lebenswelt, der die Umweltbedingungen in den Auffassungen und Verhalten bzw. in den Diskursen spiegelt, kann ein Schlüssel zur Alltagskultur darstellten, der die angestrebte Kontextualisierung zu konkretisieren vermag.⁴ Daran anschließend bieten sich hermeneutische und erkenntnistheoretische Überlegungen an, auch der Zugang über die Lebenswelten vermag keine Sicherheiten im Sinne von Wahrheit zu liefern. Denn Identitäten bleiben nach Luhmann auf der Ebene der Selbstreferenz des Bewusstseins, Erkenntnis vermag nur zirkelhaft zu operieren. Sie könne durch Konditionierungen unterbrochen werden und zwar durch Anführung von Gründen, was indes durch Aufzeigen von Gründen der Gründe usw. einen infiniten Regress auslösen würde. Aber es werde alsdann unwahrscheinlicher, dass ein solches Gebäude nicht ohne Realitätsbezug hätte ausgeführt werden können. Der Zirkel werde nicht eliminiert, sondern entfaltet, enttautologisiert.⁵ Angesichts der methodologischen Paradoxien scheinen sich dennoch aus einer rekonstruierenden Lesart neue realitätsbezogene Informationen zu ergeben, nichts Wahres, Wirkliches, allein eine Interpretationsmöglichkeit. Durch die sozialwissenschaftliche Lesart des Koran, die die Lebenswelten früherer Muslime zu beschreiben versucht, soll in diesem Sinne exemplarisch das Thema Geschlecht anhand der Bedingungen der Umwelt und der entsprechenden Diskurse der damaligen Musliminnen und Muslimen entfaltet werden. Dazu werden an die rekonstruierten innerkoranischen Informationen der Unterscheidungen, Relevanzen und Bezüge temporale und lokale kontextuelle Inhalte angeschlossen. M. E.

 Peter L. Berger, Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Mit einer Einleitung zur deutschen Ausgabe von Helmuth Plessner. Frankfurt am Main: Fischer, 1969, 36 – 48. Ursprünglich auf Englisch als:The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge. Garden City: Anchor Books, 1966.  Im Anschluss an Amīn al-Ḫūlī, der diese Wirkungsgeschichte als allgemeine Bildungsgeschichte der islamischen Welt fasst, s. ders.: „Tafsīr al-yawm.“ In Manhaǧ taǧdīd fī an-naʿu wa-lbalaġa wa-t-tafsīr wa-l-adab. Kairo: al-Hayʾa al-miṣriyya al-ʿāmmali-l-kitāb, 2017, 229 – 231.  Schütz, Alfred und Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984 (insbesondere zur Thematik des Wissensvorrats, hier zu den Konturen des Selbstverständlichen) 246 – 251.  Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 31988, 648 – 649.

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kann die koranische Offenbarung, wenn ihr lebensweltlicher Hintergrund sichtbar gemacht ist, deutlicher erscheinen. Es geht somit nicht um Identitätszuschreibung der Bedeutung, sondern um die Differenz zur Ausgangslage, somit um eine Tendenz. Konsequenterweise werden somit normative Engführungen der Thematik zu vermeiden gesucht, Analyse und Interpretation stehen allein im Interesse. Im globalisieren Zeitalter des 21. Jahrhunderts sind viele Texte inklusive ihrer Variationen und Diskurse unmittelbar verfügbar, auch in Übersetzung. Diese ist immer eine Interpretation, daher werden u.U. verschiedene Übersetzungen bei der Diskussion der Stellen herangezogen als auch neu übersetzt, um durch die rekonstruierende Methode die Unterschiede, die im Text gesetzt wurden, genauer zu beschreiben.⁶ Verweise und Bezüge im Text werden herangezogen, um das jeweils angesprochene Problem oder die neu gesetzte Verhaltensnormen in ihrer Entstehung und ihrem Werden als soziales Phänomen zu beschreiben.⁷ Thematische Interpretation lässt sich mit Versfolge verbinden, zusammenhängende Sinnabschnitte werden unter Anlässen der Offenbarung bzw. auf ihrem lebensweltlichen Hintergrund analysiert. Die Ḥadīthliteratur enthält zwar viele exegetische Probleme, enthält indes auf der anderen Seite überaus interessante Informationen zu den Lebenswelten, einige erstrecken sich auf die sogenannten Offenbarungsanlässe (asbāb al-nuzūl). Sie werden an die innerkoranischen Aussagen nach Plausibiliätsgrad angeschlossen. Neben der Variation, die sich aus dem zeitlichen und lokalen Wechsel ergibt, ist die der vielfältigen Koraninterpretationen der Ausleger durch die Jahrhunderte zu nennen, einzelne Verse bzw. Versteile wurden interpretiert, die der Leser zu Sinnabschnitten zusammenfügen kann. Ein breites Spektrum an Ambiguität ist damit entfaltet, aber auch „gezähmt“ worden, wie Thomas Bauer die systemlogische Begrenzung von Möglichkeiten beschreibt.⁸ Die Frage nach den thematischen Bindungen bzw. den Sinnzusammenhängen könnte sich folgendermaßen

 Die im Text verwendeten Unterschiede werden festgestellt und im Sinnmedium weiter operiert. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998, 56 – 57; 546.  Karl Mannheim zeigte als einer der ersten Wissenssoziologen die „Seinsverbundenheit des Denkens“ auf. Dabei geht es sowohl methodologisch als auch bezüglich des Forschungsgegenstandes um die Frage, in welchem sozialen Zusammenhand ein Thema aufgekommen ist und sich entwickelt hat. Die Forschung fragt nach dem Sinn, d. h. nach dem Grund des Problems innerhalb seines „Erfahrungsraums“. Vgl. Mannheim, Karl. „Wissenssoziologie“. In Handwörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Enke 1931, 666 – 667. An diesen Ansatz lässt sich die System-Umweltunterscheidung von Luhmann anschließen.  Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams. Berlin: Verlag der Weltreligionen, 2011, 146.

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stellen: Welcher Art war das „Projekt Islam“? Was wurde warum und wie an der vorislamischen Alltagskultur kritisiert und was sollte – auf welche Art – verbessert werden? Was wurde beibehalten und warum, für wie lange? Worauf zielt koranische Ethik? In welchem Bezug stehen Ethik und Monotheismus? Muḥammad ʿAbduh (1849 – 1905) und insbesondere Amīn al-Ḫūlī (1895 – 1966) folgend in deren Forderung, Koran zu verstehen wie die ersten Hörenden begannen mit Tafsīr im Rahmen eines sozialen reformorientierten Bildungsprojektes. Letzterer entwickelte das Projekt einer thematischen Interpretation. Seine Themen versuchten die Ambiguitäten der bestehenden Auslegungen im Sinne einer Sozialethik zu bündeln.⁹ Die Rekonstruktion koranischer Umwelten und Lebenswelten soll versuchen, die ambiguen Deutungen durch entsprechende inhaltliche Sinnanschlüsse und Plausibilitäten weiter zu begrenzen. Die Attraktivität der Botschaft und die religiösen Erfahrungen der ersten Hörenden, die bekanntlich verschiedenster Schichten angehörten, hatte nicht nur eine rein ästhetische Dimension, sondern die Erfahrung der Botschaft lässt sich als ein ethisch-lebensweltliches Projekt beschreiben. Wie deutlich geworden sein wird, versucht dieser Zugang die Geschlechterfrage nicht isoliert von anderen sozialen Unterscheidungen, i. e. Bedingungen der Lebenswelten, zu thematisieren, sondern diese als ihre Kontexte zu sehen. Die oben erwähnte methodologische Unsicherheit in den Ansätzen der feministischen islamischen Theologie resultiert daraus, dass davon zu stark abstrahiert wird. Wie im Fortgang deutlich werden wird, kann die Rekonstruktion des Genders, eingebunden in die allgemeine kognitive, sozialethische und ästhetische Dimension der Offenbarung, präziser herausgearbeitet werden. Die Thematik der zinā und des ifk eignet sich, diesen Zusammenhang aufzuzeigen.

1 Sūrat an -Nūr, Q 24: 1 – 29 Der Kontext der Sūrat an-Nūr thematisiert die Probleme der jungen Gemeinde in der damaligen Gesellschaft (in Medina), die überwiegend zum Teil im Zusammenhang mit Sexualität, sexuellen Beziehungen und ihren konflikthaften Folgen stehen. Zu Beginn der Sure geht es um ein derartiges Problem, zinā, alsdann folgt in einem längeren Teil das Thema der Verleumdung von Frauen, sogar der Prophetenfrau. Warum gerade diese Vorkommnisse, die mit den Frauen bzw. der Geschlechtlichkeit zu tun hatten, während der Phase der medinensischen Eta-

 Amīn al-Ḫūlī: Fī amwālihim. Kairo: al-Hayʾa al-miṣriyya al-ʿāmmali-l-kitāb, 1987, 34– 35.

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blierung der neuen Gesellschaftsordnung so wichtig wurden, lässt sich rekonstruktiv erklären. Zunächst wird für die zinā eine Strafandrohung mit 100 Hieben genannt (V.2). az-zāniyatu wa-z-zānī fa-ğlidū kulla wāḥidin minhumā miʾata ğaldatin wa-lā taʾḫuḏkum bihimā raʾfatun fī dīni llāhi in kuntum tuʾminūna bi-llāhi wa-l-yawmi l-āḫiri wa-l-yašhad ʿaḏābahumā ṭāʾifatun mina l-muʾminīn/ „Eine Frau und ein Mann, die zinā begehen, geißelt jeden von ihnen mit hundert Hieben. Laßt euch nicht von Mitleid mit ihnen beiden angesichts (der Rechtsbestimmungen) der Religion Gottes ergreifen, wenn ihr an Gott und den Jüngsten Tag glaubt. Und es soll bei (der Vollstreckung) der Strafe an ihnen ein Teil von den Gläubigen zugegen sein.“¹⁰

Was war das Problem, auf das der Koran reagierte? As-Suyūṭīs zahlreiche Überlieferungen zu diesem Vers haben sämtlich einen Bezug zu vorislamischen Verhaltensweisen, überwiegend zur damals bekannten alltäglichen Prostitution, mit denen Frauen ihren Unterhalt verdienten und auch noch Ehemänner damit versorgen konnten oder mussten.¹¹ Die Anlässe der Offenbarung zu diesem Vers variieren nur wenig. Es wird erzählt, dass einige Auswanderer in Medina ganz ermattet ankamen und nicht wussten, wie sie nun ihren Unterhalt bestreiten konnten. Sie fragten den Propheten, ob sie die bekannten Prostituierten heiraten dürften. Diese gehörten zu den „Familien der Schriftbesitzer und den Sklavinnen der Helfer“. Die Männer sagten, sie könnten sie sich von ihrem Verdienst versorgen lassen, wenn sie sie nicht mehr brauchten, könnten sie sich auch von ihnen wieder scheiden. Unter der Frage, ob der Vers allgemeine oder besondere Bedeutung hat, zitiert Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 925) nach der rechtwissenschaftlichen Diskussion bezüglich der Heirat einer Unzüchtigen, einer Prostituierten, die bereut, die gleiche Überlieferung ähnlich. Einige Auswanderer wollten so lange mit den Prostituierten verheiratet bleiben, „bis uns Gott durch sie reich gemacht hat.“ Als dann sei der Vers offenbart worden.¹² Dies verweist rekonstruktiv darauf, dass anscheinend diese Ehen nur eine Weile dauern sollten, bis die Migranten selbst hätten für ihren Unterhalt sorgen

 Bubenheim, Frank; Elyas, Nadeem: Der edle Qurʾan – Übersetzung seiner Bedeutungen in die deutsche Sprache. Al-Madina: König-Fahd-Komplex, 22003.  ad-Dīn as-Suyūṭī, Ğalāl. ad-Dār al-manṯūr fī t-tafsīr bi-l-maʿṯur, hg.v. ʿAbd Allāh bin ʿAbd alMuḥsin at-Turkī, Bd. 10. Kairo: Markaz Hiğir li-l-Buḥūṯ-wa-d-Dirāsāt al-ʿarabiyya wa-l-islāmiyya, 2003, 634– 644.  Ar-Rāzī: Tafsīr al- Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī al-muštahir bi-t-tafsīr al-kabīr wa-mafātīḥ al-ghayb (=atTafṣir al-kabīr). Beirut: Dār al-Fikr li-ṭ-Ṭibāʿ an-Naš wa-t-tawsīʿ, 1934– 62, Bd. 23, 151.

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können in Medina. Der geoffenbarte Vers habe diese Möglichkeit der Zuhälterei abgelehnt. Noch andere Überlieferungen zitiert as-Suyūṭī, die andere Männer beschreiben, die sich von Prostituieren versorgen ließen, insbesondere werden arme muslimische Männer genannt. Somit ist die Motivation zu solch einer Heirat als materiell zu charakterisieren, aus der Not heraus. Ähnliches findet sich bei alWāḥidī, der eine Prostituierte, Umm Maḥsūl, erwähnt. Sie habe ihre Versorgung angeboten, um geheiratet zu werden. Einer der Muslime war einverstanden und habe den Propheten benachrichtigt.¹³ Der Umstand lässt sich daraufhin deuten, dass sie ihr geringes Prestige zu erhöhen suchte, dem Kandidaten daher einen ökonomischen Vorteil bot. Unter der Perspektive der Genderkonstruktion bleibt dennoch die Frage, was die besagten Prostituierten an sich motivierte, diese armen Männer zu heiraten, wenn sie sie mit ihrem Verdienst zu versorgen hatten. Es ist möglich, dass diese Frauen nicht auf Dauer allein leben konnten und auch bei diesem Erwerb männlichen Schutz im Haus brauchten sowie einen Vater für eventuelle Kinder.¹⁴ Der folgende Vers besagt, der zani, Freier oder Zuhälter, dürfe nur eine zaneia, Prostituierte, heiraten oder eine „mušrika“ sogenannte Götzendienerin. Es gehe hier nicht darum, dass einer, der dies bereut, nicht die Frau heiraten könne, mit der er vorher Unzucht betrieben habe, sondern es gehe um die fortgesetzte Prostitution. Nur ein bleibender zani dürfe keine andere sexuelle Beziehung haben, so die Überlieferung von Ibn ʿAbbās, außer zu einer seinesgleichen. Indes sei dies an sich keine Ehe.¹⁵ Auch ar-Rāzī erwähnt einen ähnlichen Zusammenhang, basierend auf einer anderen Überlieferung von Ibn ʿAbbās: Wenn man eine Frucht gestohlen habe, solle man den Baum auch kaufen. Der Mann, der mit einer Frau unzüchtig verkehrt habe, solle sie heiraten. Es gebe auch den entsprechenden Hadith vom Propheten, erst komme die Unzucht, dann die Heirat. Er zitiert noch andere unterstützende Meinungen, dass das Verbotene das Gute nicht verbiete.¹⁶ Interessant ist diese Überlieferung, da rekonstruktiv gesehen Partei für die Frau ergriffen wird. Der Dieb in der Baummetapher ist der Mann, er hat die Schuld und  Al-Wāḥidī: Asbāb an-nuzūl, hg.v. ʿIṣṣām bin ʿAbd al-Muḥsin al-Ḥumaidān. Ad-Damām: Dār alIṣlāḥ, 21992, 316. Der Name der Frau Umm Maḥsūl bedeutet übersetzt Mutter des Abgemagerten/ Ausgemergelten, was auf die Armut dieser Frau hinweist.  Der Zeitfaktor kann ebenso eine Rolle gespielt haben. Es ist zu berücksichtigen, dass die Lebenswelten schon zu einem Teil von den islamischen Orientierungen erfasst waren. Das hieße konkret, dass die Zahl der Freier u.U. schon etwas abgenommen hatte und sich die Frauen nach neuen muslimischen Lebensformen hin orientieren mussten. Attraktiv waren sie anscheinend wegen ihrem Einkommen zumindest für ärmere Männer, ihre weitere Arbeit könnte dann als für sie mögliche Übergangslösung konzipiert gewesen sein.  As-Suyūṭī: ad-Dār al-manṯūr fī t-tafsīr bi-l-maʿṯur, 643 – 644.  Ar-Rāzī: at-Tafṣir al-kabīr, 152.

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muss dafür geradestehen. So appelliert diese Auslegung an die gegenseitig soziale Verantwortung im Gegenüber zur vorislamischen Ignoranz gegenüber den Folgen einer Tat.¹⁷ Insofern birgt sie ein Potential zur Aktualisierung in Bezug auf eine islamische Sicht auf voreheliche Partnerschaften. Die Institution der Prostitution und Zuhälterei wird vom Koran abgelehnt bzw. zu überwinden versucht, auch für betroffene Sklavinnen, was im Vers 33 deutlich wird. Sklavinnen sollen nicht zur Prostitution gezwungen werden. Es ist hier zu fragen, aus welchem Grund die neue soziale Ordnung der muslimischen Gemeinde in Medina für den Alltag eine so hohe Relevanz auf die Ehe legte, d. h. auf eine relativ feste Struktur der sexuellen Beziehungen in der Eheinstitution? Bedeutete Ehe somit Schutz und Versorgung der betreffenden Frauen und die Klarheit bezüglich der Nachkommenschaft? Es ist anzunehmen, dass es diese Strukturen vorher nicht gegeben hat. Prostituierte und Freier bzw. ihre Gatten, die im Grunde die Funktion eines (beschützenden) Zuhälters innehaben, werden unmittelbar in Beziehung mit den Polytheisten, den mushrikūn und mushrikāt, gesetzt. Ein starker Vorwurf für die Betroffenen. Diese Beziehung des „zinā“ zum „širk“¹⁸ kann an dieser Stelle nicht die „Beigesellung“ anderer Gottheiten zu Gott bedeuten. Sie verweist indes auf einen Lebensstil, i. e. auf die Gestaltung der sexuellen Beziehungen der vorislamischen Zeit. Grenzen- bzw. rahmenloses Handeln und ihre Legitimierung scheint die lebensweltlich praktische Seite des Begriffs širk als Selbstüberschätzung zu beinhalten, ein fast grenzenloses Ausleben der Sexualität, die den Rahmen der Ehe im Sinne von Exkludierung, also Treue, nicht kannte oder ignorierte. Die vorislamischen Arten der sexuellen Beziehungen werden von Ğawād ʾAlī dargestellt und können bei der o. a. Frage, warum die entstehende muslimische Gesellschaft ihren wichtigsten gesellschaftlichen Ordnungsfaktor auf die Ehe legte, weiterführen. Die Gesellschaft wurde durch das islamische Projekt umgestaltet, und dieser Prozess bedeutete für alle Beteiligten eine enorme Veränderung der Alltagswirklichkeit, der Verhaltensweisen, kulturellen Muster und Normen, die sie zu lernen hatten.

 Einige der Rechtswissenschaftler hätten diesen Vers, so as-Suyūṭī durch Q 24: 32, Ledige zu verheiraten, als aufgehoben betrachtet, bei ar-Rāzī steht durch Q 4: 3. Inwieweit der jeweilige aufhebende Bezug wirklich plausibel ist, bleibt äußerst zweifelhaft, kann indes an dieser Stelle nicht weiter geklärt werden.  Dieser Ausdruck wird in der Regel mit Beigesellung oder Götzendienst übersetzt. Leider lassen alle Übersetzungen sowie das heutige arabische Verständnis des Wortes das Moment der menschlichen Selbstüberschätzung vermissen, die Gottes Allmacht und Gnade ignoriert. Diese Bedeutung des Wortes širk wird in der Sūrat al-Kahf (Q 18) offenbar. širk ist hier jenseits des Polytheismus zu verstehen, Q 18: 38 – 39.

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Der Historiker macht deutlich, dass die „zinā“ vorislamisch ein Recht und ein Stolz für Männer war, indes für verheiratete Frauen an sich verboten. Ein Mann konnte seine Frau indes auffordern, sich von einem bestimmten Mann schwängern zu lassen, um ein Kind mit einer noblen Abstammung zu bekommen.¹⁹ Sklavinnen waren, wie o. a., der Zuhälterei durch ihre Herren ausgesetzt. Insofern spiegelt auch hier der Begriff der zinā in erster Linie die damals etablierten Formen der Prostitution, wahrscheinlich als Einnahmequelle armer Frauen. Wegen der vielen Reisen gab es die Form der Genussehe, nikāḥ al-mutʿa, die auch in Q 4: 24 eine nachislamische Fortsetzung gefunden habe, jetzt mit vereinbartem Brautgelt. Die koranische Unterscheidung von einer Beziehung mit einer Prostituierten könnte allein in der Transparenz der Beziehung gesehen werden. Rechtswissenschaftlich ist diese Thematik umstritten.²⁰ Die Formen des Frauentausches, die der Koran in Q 4: 21 weiterhin erlaubt, gehen ebenso auf vorislamische Verhältnisse zurück. Islamisch hingegen durfte ihr nun das Brautgelt nicht wieder abgenommen werden, wenn die Ehefrau zu einem anderen Mann zur Heirat geschickt wurde, was darauf verweist, dass dies vorislamisch der Fall war. Darüber hinaus seien auch Töchter oder Schwestern zur Heirat getauscht worden, um die Brautgabe zu sparen. Diese Austauschformen seien bei den armen Schichten der Araber verbreitet gewesen. Formen der fraternalen Polyandrie scheinen nach ʾAlī auch praktiziert worden zu sein, er zitiert den römischen Historiker Strabon, der u. a. über sexuelle Beziehungspraxen Südararabiens geschrieben hat, dass sich mehrere Brüder durch eine Zeitstruktur eine Frau teilten. Dies verweist auf die Armut beziehungsweise Nahrungsunsicherheit in diesen Kontexten und allgemein darauf, wie Umweltbedingungen soziale Beziehungen und Normen strukturieren.²¹ ʾAlī geht weiterhin mit der Klassifizierung der zinā auf Formen der Prostitution ein, die, und das ist einsichtig aufgrund mehrerer Freier, unmittelbar mit dem Problem der Zuordnung der Nachkommenschaft verbunden war. Ğawād ʾAlī klassifiziert zawāğ ar-rahṭ, in der eine (eventuell nicht öffentlich bekannte) Prostituierte einen Freier für ein eventuelles Kind bestimmte und zawāğ aṣḥāb arrāyāt, die durch Zeichen an ihren Häusern bekannte schwanger gewordenen

 ʾAlī, Ğawād. al-Mufaṣṣal fī taʾrīḫ al-ʿarab qabl al-islām. Beirut: Bde. 1– 8, 1968 – 1972, Bd. 5, 538 – 539. Es bleibt in der Quelle unklar, wessen Namen diese Kinder trugen: War die Motivation für den Ehemann an dieser Stelle nur das Blut, die eventuelle Stärke des Kindes? War die Abstammung dieser Kinder bekannt? Die Bedeutung der Motivation bleibt vage.  Hüseyn Ilker Çınar. „Eheschließung, Scheidung und ihre unterschiedlichen Formen bei den vorislamischen Arabern unter Berücksichtigung des frühislamischen Rechts.“ In Journal für Religionskultur 114, (2008): 5.  ʾAlī. al-Mufaṣṣal fī taʾrīḫ al-ʿarab qabl al-islām, 541.

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Prostituierten unter zehn anwesenden Freiern einen Vater aussucht oder diese sich einigen.²² Es scheint, dass die Möglichkeit, Vater zu werden, allen bekannt war. Frauen hätten Angst gehabt, dass ein eventuell weibliches Neugeborenes umgebracht würde, so organisierten sie keine Vaterschaftsfindung. Die Gesellschaft bevorzugte Söhne, spätere Krieger, die den Stamm verteidigen konnten. Frauen scheinen in der Regel eher für Dienstleistungen und für die Reproduktionsvorgänge elementar gewesen zu sein,²³ zu diesen sind sie aber erst im Erwachsenenalter fähig. Geraubte erwachsene Frauen waren für Sexualität und Fortpflanzung sofort bereit. Wahrscheinlich gab es zu knappe Ressourcen für das Aufwachsen der Mädchen, vor allem, wie es scheint, für ihren Schutz. So wurde die Zahl der neugeborenen Mädchen begrenzt gehalten. Der Koran äußert in der mekkanischen Sūrat at-Takwīr, (Q 81: 8), die Problematik der Ermordung der weiblichen Neugeborenen, die – und das ist irritierend – lebendig begraben wurden, während an anderen Stellen die Kindstötung untersagt wird.²⁴ Es deutet sich die Zuschreibung einer Art Ritual an. Die Kommentare zu der Stelle erklären durch die Überlieferungen die lebensweltlichen Bedingungen und die sich daran anknüpfenden kulturellen Konstruktionen. Interessanterweise wird in fast allen Interpretationen für Mädchen, eben für weibliche Neugeborene, der Begriff ğāriya benutzt. Dieser Begriff konnotiert sowohl Mädchen als auch Sklavin. Die Angst, das neugeborene Mädchen könnte zu einer Sklavin werden, bedrohte das Ansehen der Familie in der

 ʾAlī. al-Mufaṣṣal fī taʾrīḫ al-ʿarab qabl al-islām, 539 – 540.  Der Vers 19 in Sūrat an-Nisāʾ, yā ayyuhā llaḏīna āmanū lā yaḥillu lakum an tariṯu n-nisāʾa karhan wa-lā taʿḍulūhunna li-taḏhabū bi-baʿḍi mā ātaytumūhunna illā an yaʾtīna bi-fāḥišatin mubayyinatin wa-ʿāširūhunna bi-l-maʿrūfi fa-in karihtumūhunna fa-ʿasā an takrahū šaiʾan wa-yağʿala llāhu fīhi ḫayran kaṯīrā, „Ihr Gläubigen! Es ist Euch nicht erlaubt (nach dem Tode ihres Mannes) wider (ihren) Willen zu erben. Und drangsaliert sie nicht in der Absicht, (ihnen) einen Teil von dem, was ihr ihnen (vorher als Morgengabe) gegeben habt, wegzunehmen! (Behaltet nichts von ihrer Morgengabe ein) es sei denn, sie begehen etwas ausgesprochen Abscheuliches. Und geht gut mit ihnen um! Wenn sie euch zuwider sind, so ist euch vielleicht etwas zuwider, während Gott viel Gutes in es hineinlegt“, konnotiert den Objektstatus von Frauen in der vorislamischen Zeit, ar-Rāzī diskutiert die beiden Bedeutungen des tarithu, ob es sich um die Frau selbst als Erbstück oder um den Erbteil der Frauen handelte. Ersteres werde mit der arabischen Sitte begründet, verwandte Männer des Verstorbenen hätten ein Kleid über die Frau geworfen und sie somit als Erbe annektiert. Wenn der Ausdruck ihren Erbteil meine, hätte sie nach Willen des Verstorbenen nicht wieder heiraten sollen bis zu ihrem Lebensende. Beide Varianten bringen den schwachen rechtlichen Status von Frauen im Kontext der vorislamischen tribalen Kultur zum Ausdruck. Vgl. ar-Rāzī, Bd. 10, 10 – 12.  Wie in Q 16: 58 – 59, Q 6: 151, Q 17: 31 und Q 60: 12; dort ist allgemein von Kindstötung die Rede ohne Geschlechtsspezifikation.

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Stammesgesellschaft.²⁵ Al-Qurṭubī zitiert mit einer weiterer Überlieferung die damals verbreitente Annahme unter den vorislamischen Arabern, die Engel seien weiblich und so sagte man: „Geh zu deinen Schwestern!“ Darin lässt sich ein Moment der Legitimation erkennen, was ein Problembewusstsein der betreffenden Mütter und Väter erkennen lässt. Eine sich anschließende Überlieferung über einen Mann, Farazdaq, so wird erzählt, hatte zwischen 70 und 80 weibliche Neugeborene gekauft, hier ausnahmsweise als banat bezeichnet, um sie vor ihrer Tötung zu retten. Diese Überlieferung bringt das existierende Unrechtsbewusstsein gegenüber diesem Kulturmuster zum Ausdruck. Getötet wurden auf diese Weise nur Mädchen. Es habe Frauen gegeben, die nach der Entbindung und Feststellung des Geschlechts nur die Jungen behalten hätten, die Mädchen hingegen lebendig verscharrt.²⁶ Wie der Kommentator schon zu Beginn erwähnt, hätten die edlen Leute diese Praxis nicht gehabt, so war die Armut, die ja auch vom Koran als Grund erwähnt wird, ist für dieses Phänomen ausschlaggebend, hingegen ist der Kontext der Armut, eben die Stammeskultur zu berücksichtigen. Die Armut impliziert nicht nur den Mangel an Versorgung/Ernährung, sondern auch den an Schutzmöglichkeiten für das Mädchen vor Sklaverei durch die Stammesfehden. Beide Aspekte der Armut erklären die Motivationen der speziellen Mädchentötung, die, so lässt sich vermuten, für viele Mütter und Familien nicht leicht war. Insofern macht es Sinn, dass der Koran das Verbot an die Schuldfrage bindet. Die neue intensivere Solidarität der Umma in Medina sollte und konnte, wie es scheint, mit zunehmender Sesshaftigkeit die Lebenswelten in Richtung Sicherheit verändern und zwar durch zunehmende Ressourcen und ausgeglichenere Verteilung. Die Gesellschaft konnte in die Lage kommen, auch alle weiblichen Neugeborenen erstmal zu versorgen, so dass die Beendigung der Femizide möglich wurde. Nichts desto trotz lässt sich aus den Quellen rekonstruieren, dass die Kindersterblichkeit allgemein sehr hoch war. Interessanterweise stehen auch die drei koranischen Parallelstellen zu ZNY sämtlich in einem ähnlichen Zusammenhang, der Kindstötung allgemein. In dem Gebotskatalog der Sūrat al-isrāʾ (Banī Isrāʾīl), Vers 32, steht das zinā-Verbot zwischen dem der Kindstötung aus Armut und dem des allgemeinen Mordes/Totschlags. Sārat al-Furqān, Q 25: 68, verbietet es, Leben widerrechtlich zu töten, ebenso wie zinā zu begehen. Dies lässt sich durch den Offenbarungsanlass entsprechend auch auf Kindstötung hin konkretisieren. As-Suyūṭī erzählt die Frage  Die Schande wird auch in der Parallelstelle Q 16: 57– 59 ausgedrückt.  Al-Qurṭubī. „al-Ğāmiʿ li-aḥkām al-Qurʾān.“ Hg. v. ʿAbd Allāh bin ʿAbd al-Muḥsin at-Turkī. Beirut: Muʾassat ar-Risāla, Bd. 22 (2006): 102– 104. Ar-Rāzī und al-Wāḥidī zitieren Ähnliches, aber weniger ausführlich.

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eines Mannes an den Propheten, was die größte Schuld sei. Der Prophet verweise zunächst darauf, dass Gott den Menschen geschaffen habe, so sei die größte Schuld, sich mit Gott zu messen. „Und dann? Dass du dein Kind umbringst, damit es nicht mit dir isst. Und dann? Dass du mit einer anderen Frau zinā machst …“²⁷ Es ließe sich auch übersetzen, „dass du einer Prostituierten schläfst“. Die Plausibilität dieses Zusammenhangs mit der Kindstötung ist weiterhin deutlich in 60: 12, wo es heißt: „kein zinā, noch Kinder töten“. Hier ist nur die Reihenfolge umgekehrt. Es wird im Blick auf die diskutierte Thematik deutlich, dass die mangelnde Befolgung des schon in Mekka geoffenbarten Verbotes der zinā sich bis nach Medina gezogen hatte. Mit der Offenbarung des Verses 2 der Sūrat an-Nūr wurden dort sozusagen rechtliche Konsequenzen in Richtung Ausschluss der Betreffenden aus der Umma gezogen. Die spätantiken jüdischen Referenzen zu dieser Thematik legen sich nahe. Nicht nur in der auffällig formalen und inhaltlichen Nähe des Gebotskatalogs zu den Zehn Geboten, sondern auch in Bezug auf die jeweiligen religiösen Lebenswelten. Im Hebräischen werden zwei verschiedene Verben für den besagten Zusammenhang benutzt. Das 6. Gebot, „Du sollst nicht ehebrechen“ wird durch das hebräische NʿF „ehebrechen“ ausgedrückt, daneben wird der Begriff ZNY an mehreren Stellen genannt, in denen außerehelicher Verkehr im Zusammenhang mit der altkanaanäischen Religion mitthematisiert und angeklagt wird. In den Erzähltexten wird Hurerei, ZNY, fast immer im Zusammenhang mit Opferfesten für fremde Gottheiten der Kannaaniter erwähnt, in denen auch manchmal Kinder geopfert wurden. In den prophetischen und deuteronomistischen Texten wurden sie zum Synkretismusvorwurf stilisiert. Die Aussetzung der eigenen Frauen und (Schwieger‐) Töchter zu diesem sexuellen Verkehr wird angeklagt.²⁸ Der Inkulturisationsprozess der Jahwe-Religion in die kanaanäische Umwelt wird von Rainer Alberts expliziert. „Das Problem bestand darin, dass Jahwe einfach in diese traditionelle Kultsymbolik Palästinas einrückte … Mazzebe und Aschere waren von Hause aus Fruchtbarkeitssymbole, und sie repräsentierten das Göttliche in der für die vorderorientalischen Religionen so typischen männlichweiblichen Zweiheit (Jer 27), der Stein das männliche Element, der Baum das weibliche Element.“ Ashera sei auch die Bezeichnung für die weibliche Göttin, Göttermutter, die Gemahlin Els, auch außerhalb von Kanaan. Es ging in den lokalen Kulturen um die Sicherheit der Fruchtbarkeit des Ackers, des Vieh und des  Ğalāl ad-Dīn as-Suyūṭī: Lubāb an-nuqūl fī asbāb an-nuzāl. Beirut: Muʾasasat al-kutub al-ṯaqāfiyya, 2002, 193.  Jost, Renate. „Hure / Hurerei (AT)“. In Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, 2007. https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/de tails/hure-hurerei-at/ch/0e5f892b6e39e094552ec2a0c0ec9e8b/ (abgerufen am 15.04. 2020).

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Körpers. Auf der Ebene der Volksfrömmigkeit sei die Ashera nun Jahwe zugeordnet worden.²⁹ Archäologische Funde haben eine Reihe von Plaketten, Figurinen und Anhänger hervorgebracht, die allesamt nackte Frauendarstellungen aufweisen. Ein kultischer Gebrauch lege sich nahe: Geburts- bzw. Fruchtbarkeitsriten u. a., alte syrische und mesopotamische Traditionen seien in abgewandelter Form fortgesetzt worden, ferner nicht nur auf der Ebene der einfachen Volkes, sondern im königlichen Milieu und im Tempel.³⁰ Sakrale- bzw. Tempelprostitution lege sich nahe, die mit dem Ausdruck der Quedeschen in den Texten der jüdischen Bibel elf Mal vorkommt. Laut Albertz habe sie wahrscheinlich einen eher profanen Charakter gehabt, um mittellosen Frauen ein Einkommen zu sichern und gleichzeitig zu den Einnahmen des Tempels beizutragen und damit zur Verehrung der Göttin.³¹ Es legt sich nahe, dass die Religiosität der jüdischen Araber zur Zeit der Spätantike einen wichtigen Einfluss auf das Verbot der zinā hatte. Zu erklären ist jedoch, warum gerade diese Thematik für die koranische Offenbarung relevant war und somit – auch gerade für die aus dem Polytheismus stammenden Araber – als Element in die entstehende Umma integriert wurde. In Arabien der vorislamischen Zeit, so Ğawād ʾAlī, hätten Prostituierte in der Regel ein rotes Zeichen an der Tür gehabt und mit ihrer Tätigkeit ihren Lebensunterhalt bestritten, eigenes Geld erworben. As-Sukkarī habe dies erwähnt, es habe in diesem Milieu viele Kinder der Unzucht gegeben, die als solche bekannt waren.³² Auch der Koran reflektiert diese Gruppe der Kinder in Q 33: 5. Hier werden die Muslime aufgefordert, die Kinder, deren Väter unbekannt waren, in die entstehende Umma zu integrieren.³³ Anderweitig dargestellte Formen der vorislamischen Polygamie existierten laut Ğawād ʾAlī in der Form, dass ein Mann seine Schwägerin bei Tod des Bruders geheiratet habe oder zwei Schwestern. Die

 Albertz, Rainer: Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1996, 131– 132.  2 Kön. 23, 6 und 7.  Albertz, 134. Der letzte Satz verweist darauf, dass der Unterschied von sakral und profan nicht im heutigen Sinne greift. Jost, op.cit. zweifelt an dem gesamten Phänomen, verweist indes religionsgeschichtlich auf das tatsächliche Vorkommen der kultischen Prostitution in Indien und Westafrika.  ʾAlī. al-Mufaṣṣal fī taʾrīḫ al-ʿarab qabl al-islām, 540.  (Q 33: 5): udʿūhum li-ābāʾihim huwa aqsaṭu ʿinda llāhi fa-in lam taʿlamū ābāʾahum fa-iḫwānukum fī d-dīni wa-mawālīkum wa-laysa ʿalaykum ğunāḥun fī-mā aḫṭaʾtum bihi wa-lākin mā taʿammadat qulūbuku wa-kāna llāhu ġafūran raḥīmā/, „Nennt sie (w. ruft sie [d. h. eure Adoptivsöhne]) nach ihrem Vater! Das ist, so dünkt es Gott, am ehesten rechtmäßig gehandelt.Wenn ihr aber nicht wißt, wer ihr Vater ist, sollen sie als eure Glaubensbrüder und Schutzbefohlenen gelten. Und es ist keine Sünde für euch, wenn ihr etwas (Derartiges) versehentlich tut, sondern nur, wenn ihr es vorsätzlich tut. Gott ist barmherzig und bereit zu vergeben.“ (übers. v. Rudi Paret).

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koranischen Verbote der inzestuösen Verbindungen, Heirat der Mutter, Schwester, Tochter waren seines Erachtens zwar selten, verwiesen indes auf die bekannte Existenz dieser Art sexueller Beziehungen vor dem Islam, obschon dies von einigen Koraninterpreten abgelehnt worden sei.³⁴ Diese inzestuösen Beziehungen – auch mit Müttern und Töchtern – entsprechen in der Tat der pharaonischen Kultur als auch einem historischen Zeitraum der persischen Kultur. Hier, wie auch sonst im rassischen Stammesdenken, liegt die Motivation in der Bewahrung des Blutes, i. e. in der Zuschreibung einer besonderen Abstammung.³⁵ ʾAlī schließt das Thema mit der Bemerkung, die Menschen zur Zeit des Vorislams hätten nur die sichtbare Unzucht gehasst, sie hätten das geheim gehalten, es sei aber an sich kein moralisches Problem gewesen. Wie immer sich diese bis heute in der Wissenschaft anhaltende Thematik deuten lässt, der synkretistische Bezug zu vorislamischen religiös-kulturellen Auffassungen impliziert in jedem Fall den evolutionären Nachteil der Kindstötung bzw. Kindsopferung, sowie der Instabilität der verwandtschaftlichen Beziehungen. Für die vorteilhafte Weiterentwicklung zur Stabilisierung der Umma legte sich die Abschaffung der Prostitution nahe. Mit einer Sicht auf einen größeren Zusammenhang wird die hohe Relevanzsetzung der Ehe in der koranischen Offenbarung, die entsprechende Denunzierung der Unzucht, die hier als etablierte Prostitution – inklusive einer durch den Ehemann vorgenommene Zuhälterei, die auf edle Söhne abzielte – deutlich. Da moralischen Normen bei ihrer Entstehung keinen Selbstzweck haben, können die sozialen Nachteile dieser Formen der sexuellen Beziehungen in der sexuellen (Selbst‐) Ausbeutung der Frauen durch Prostitution bzw. der sexualisierten männlichen Gewalt gesehen werden. Die Konsequenz für die entsprechenden Kinder war entweder Kindsmord oder sie wurden zu stigmatisierten Waisen, Kinder der Unzucht. So scheint die neue Relevanzsetzung der Beschränkung sexueller Beziehungen auf die Ehe die Ordnung der sozialen Beziehungen im Blick gehabt zu haben inklusive der privatrechtlichen Regelungen, v. a. des Schutzes der Person und des Besitzes. Die die koranische Offenbarung reagiert damit auf die allgemeinen sozialen Probleme der vorislamischen Gesellschaft, die alltäglich durch Ausbeutung der schwächeren Personen durch stratifikatorische Gewaltstrukturen hervorgerufen und begleitet waren. Die Probleme der Lebenswelten der frühen islamischen Gemeinde sind in den Texten zu erkennen, diese Probleme hielten an und begleiteten ihre Entwicklung. Es gibt keine Verweise im Koran,  ʾAlī. al-Mufaṣṣal fī taʾrīḫ al-ʿarab qabl al-islām, 543.  Der Anthropologe Jörg Klein spricht hier vom dynastischen Inzest, der auch von privilegierten Teilen der Bevölkerung imitiert wurde.Vgl. Klein, Jörg. „Kulturelles Verbot und natürliche Scheu.“ In Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 102. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991, 97 ff und 159.

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dass sie zu Lebzeiten des Propheten endeten.³⁶ Nicht zuletzt verweisen die Konflikte unmittelbar nach dem Tod des Propheten darauf. Eines der Probleme, mit dem die junge Gemeinde immer wieder konfrontiert war, wird mit shirk bezeichnet. Denn die Unzüchtigen, die Prostituierten und die Freier, sollten nur unter sich heiraten oder eben andere mušrikūn, die ihnen somit gleichgestellt werden sollten. Širk konnotiert im Koran immer die vorislamische Kultur. Das Verhalten der Polytheisten vor den anderen, ihr Umgang mit den Mitmenschen, hier Frauen, lässt Stärke und Souveränität sowie Macht durch materielle Mittel erkennen. Es scheint einen strukturellen Zusammenhang von Polytheismus, Selbstüberheblichkeit und einem folgenden sozialen rohen Verhalten, wie o. a., gegeben zu haben.³⁷

2 ifk – verleumdender Vorwurf Vers 4 der Sūrat an-Nūr schließt unmittelbar an mit dem Thema Verleumdung von Frauen und fasst sie als eine Straftat. wa-llaḏīna yarmūna l-muḥṣanāti ṯumma lam yaʾtū bi-arbaʿati šuhadāʾa fa-ğlidūhum ṯamānīna ğaldatan wa-lā taqbalū lahum šahādatan abadan wa-ulāʾika humu l-fāsiqūn/ „Diejenigen, die den ehrbaren Ehefrauen (Untreue) vorwerfen und hierauf nicht vier Zeugen beibringen, die geißelt mit achtzig Hieben und nehmt von ihnen niemals mehr eine Zeugenaussage an – das sind die (wahren) Frevler“.³⁸

Interessanterweise wird hier der Begriff zina nicht benutzt, der Inhalt wird allein mit dem Verb yarmūna ausgedrückt. Handelt es sich hier um eine Latenz, die im Koran als Stilelement oft benutzt wird? Ob diese Untreue unter zina subsumiert werden kann, muss daher zunächst offenbleiben. Unter der Genderperspektive

 Eine Idealisierung der frühen gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie der salafitische Diskurs aufweist, ist somit eigentlich nicht möglich.  Diese Selbstdarstellung wird im Koran oft kritisch mit dem Begriff ğahl, Ignoranz gepaart mit Arroganz, bezeichnet. Iḏ ğaʿala llaḏīna kafarū fī qulūbihimu l-ḥamiyyata ḥamiyyata l-ğāhiliyyati faanzala llāhu sakīnatahu ʿalā rasūlihi wa-ʿalā l-muʾminīna wa-alzamahum kalimata l-taqwā wakānū aḥaqqa bihā wa-ahlahā wa-kāna llāhu bi-kulli šaiʾin ʿalīmā/, „Als diejenigen, die ungläubig waren, in ihren Herzen die Hitzigkeit entfachten, die Hitzigkeit der Unwissenheit -, da sandte Gott Seine innere Ruhe auf Seinen Gesandten und auf die Gläubigen herab und ließ sie an dem Wort der Gottesfurcht festhalten. Sie hatten ja ein größeres Anrecht darauf und waren dessen würdig. Und Allah weiß über alles Bescheid.“ (Sure 48: 26).  Übersetzung nach F. Bubenheim und Nadeem Elias: Der edle Qurʾan – Übersetzung seiner Bedeutungen in die deutsche Sprache. Al-Madina: König-Fahd-Komplex, 22003.

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schließt sich die Beobachtung an, dass, wie es scheint, Frauen oft Opfer einer Verleumdung wurden, und zwar nur Frauen, obschon oben von Männern und Frauen die Rede ist, die der zinā schuldig waren. Auf diese Verleumdung von Frauen in der damaligen Gesellschaft scheint die koranische Offenbarung mit der Androhung von harten Strafen zu reagieren. Während oben in Vers 2 im Fall der zinā ein Untersuchungsprozess vom Koran nicht als notwendig erachtet wurde, äußert der Koran nun Zweifel an Beschuldigungen. Es lässt sich daraus rekonstruieren, dass es vordem keine Zweifel an der Wahrheit der Aussage des Mannes gab, wenn der seiner Frau Untreue vorwarf. Der Koran nimmt sozusagen eine Verteidigungsposition für die beschuldigen Frauen ein. Mit diesem Vers werden die Ereignisse um die der Prophetengattin ʿĀʾiša eingeleitet. Der Koran typisiert durch die Voranstellung des Plurals verleumdeter Frauen die der Prophetenfrau. Anderen Frauen scheint dies ebenso passiert zu sein bzw. konnte dies in dieser Gesellschaft ebenso leicht passieren. Ğawād ʿAlī weist darauf hin, dass die „Unzucht“ in der vorislamischen Zeit eigentlich nur ein richtiges Problem gewesen sei, wenn der Fall öffentlich bekannt wurde. Daran schließt sich die Überlieferung zum Anlass der Offenbarung dieses Verses an, der besagt, den aus Mekka zum Propheten nach Medina ausgewanderten Frauen, die zum Islam konvertieren wollten, sei von mekkanischer Seite vorgeworfen worden, sie hätten nicht den Islam, sondern Männer (zur Prostitution) gewollt.³⁹ Was genau den Frauen unterstellt wurde, bleibt dunkel. Wie die o. a. mittellosen männlichen Migranten, lässt sich annehmen, dass ihnen vorgeworfen wurde, durch Sexarbeit ihr Einkommen zu sichern und dass dieses Gerücht in Medina die Runde machte. Der Inhalt dieser Verse bezieht sich speziell auf die Problematik der Beweisführung eines sexuellen Aktes der Frau ohne Wissen des Mannes. Die Motivation der Frauen, ohne das Wissen ihres Mannes fremd zu gehen, legt sich – aufgrund der verbreiteten Armut unter den harten Bedingungen – als materiell nahe, was dieses Phänomen der „Unzucht“ der Ehefrauen zu einer Art Zinā macht, eben nur verdeckt. Das Ansehen der Männer und des Stammes – durch ihre Frauen – stand bei der Thematik im Zentrum. Die nahen Prophetengefährten werden in den Überlieferungen als noch gewaltbereit dargestellt. Der Prophet fragte sie nach ihrer Reaktion zu einem Vorwurf gegenüber ihren Frauen, sie sagten, sie würden die Frau, u.U. mit dem Liebhaber, misshandeln oder umbringen. So scheint die neue Regelung für sie nicht einfach gewesen zu sein. Allein die Reaktion von Suhayl bin Bayḍāʾ, so der Prophet, entspreche dem Koran, denn er habe gesagt, Gott verdamme beide und zusätzlich denjenigen, der das

 Ğalāl ad-Dīn as-Suyūṭī, Bd. 10, 650.

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herausbringe.⁴⁰ Es ging somit bei dieser Thematik um einen weisheitlichen Umgang mit dem Ungewissen, das Ungewisse kann nicht mit Gewalt der Schuld überführt werden. Zu viele Frauen scheinen dabei unrechtmäßig bestraft worden zu sein. Die koranische Anordnung der Schwurprozesse auf beiden Seiten, die in den folgenden Versen thematisiert wird, schien die üblichen Gewaltauseinandersetzungen zwischen den beteiligten Personen reduzieren, ja überwinden zu wollen, indem durch das Schwören ein innerlicher Lernprozess und so in Bezug auf die äußere Seite ein offener Ausweg ermöglicht wurde. Die Frau ʿĀʾiša habe – im speziellen Fall, auf den der Koran sich bezieht – ihre Halskette gesucht, die außerhalb des Lagers, wohl um den Abort gerissen und verloren gegangen war. Die Karawane war unwissentlich ohne sie aufgebrochen, man dachte, sie sei in ihrer Kamelsänfte. Sie habe die Nacht in dem verlassenen Lager verbracht und sei morgens von einem Mitstreiter des Propheten, der als Nachhut das Lager nochmals kontrolliert habe, gefunden und zur Kampftruppe gebracht worden.⁴¹ Daraufhin hätten einige Leute der Muslime wie ʿAbdallāh b. Ubayy b. Salūl, Ḥassān b. Ṯābit und Misṭaḥ eine Verleumdungskampagne gegen sie begonnen, sie hätte mit dem jungen Mann Ṣafwān bin al-Muʾaṭṭal Ehebruch begangen. Nach einiger Zeit wurde sie durch die offenbarten Verse 11– 21 freigesprochen. Die Verse konzentrieren sich auf die Kritik an den Gläubigen, auf diese Art der Verleumdung hereingefallen zu sein. Auch hier wird deutlich, dass, wie es scheint, allein die Frau ʿĀʾiša Objekt der Verleumdung war. In den Überlieferungen wird die Erzählung der jungen Frau zitiert, ihr Leiden während der Unruhezeit, aber auch ihre Klugheit, sich nicht zu positionieren. Zu den Umständen des beteiligten Mannes wird nichts gesagt, ob er auch verheiratet war o. ä.. Vor allem stellt sich von heute aus die Frage, ob ʿĀʾiša und der junge Mann überhaupt andere Handlungsmöglichkeiten gehabt hätten, außer zusammen die Truppe zu erreichen. Aus heutiger Sicht ist es irritierend, dass es eigentlich keine Information darüber gibt, dass man dem jungen Mann

 As-Suyūṭī, 659. Ähnlich al-Wāhidī zu Ḥilāl bin Umayya, der mit einem Ehebruchsvorwurf zum Propheten kam, seine abweisende Reaktion indes nicht akzeptierte. Er ließ verlauten, er bitte Gott um einen Ausweg, woraufhin die Schwurverse offenbart wurden.  „Die Frauen waren damals nicht so dick, haben nur leichte Dinge gegessen, so haben die Kamelführer keinen Unterschied gemerkt. Auch war ich damals noch jung … Als ich zu dem Lager kam und dachte, sie würden mich vermissen, war niemand mehr da und ich legte mich an dem Ort schlafen.“ (Übers. CP) Sie erzählt in der Überlieferung weiter, er habe sie schon vor der Verschleierung gekannt, sie habe, als die aufwachte, ihr Gesicht mit dem ğilbāb bedeckt. Er habe kein Wort mit ihr gesprochen, bis sie die Armee erreicht hätten. As-Suyūṭī, 663 – 664.

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gedankt hat, ihr Leben – mit Gottes Hilfe – gerettet zu haben. Der Prophet habe sein Verhalten gelobt während der Verleumdungskampagne.⁴² Es legt sich nahe, dies als einen normalen, alltäglichen Akt zu sehen, dass Menschen oder Dinge in Lagern vergessen wurden und es dafür – und eventuell für die Verwischung der Spuren – immer eine Nachhut gab. Dennoch war die Frau des Propheten etwas Besonderes, aber dass sie gefunden und gerettet wurde, wurde nicht tradiert, sondern die Verleumdung beherrschte und beherrscht bis heute den gesamten Diskurs um das Ereignis. Die Intrige legt sich als Grund dafür nahe, da die eine politischen Gefahr für den Propheten und die Gemeinde bedeutete. Entsprechend streng wurden Muslime durch den Koran gerügt, weil sie diese Geschichte geglaubt, d. h. dieser Verleumdung zu viel Wert beigemessen und sich aktiv mitschuldig gemacht hatten. Es ist zu erkennen, dass die junge Gemeinde sich im Lernprozess befindet. Die VerleumderInnen der Frauen werden als fāsiqūn bezeichnet, ein starker Begriff, der Ehebruch, Ausschweifung und sogar Prostitution bzw. Zuhälterei konnotiert. Somit wird die Relevanz einer durch die Ehe geordneten Sexualität betont. Dazu gehört auch die Thematik des gesellschaftlichen Status der Sklaven und Sklavinnen, auf die hier nicht mehr eingegangen werden kann. Anschließen lässt sich der genannte Begriff der fāsiqūn an den Charakter des mushrik, als grenzen- und morallos, selbstüberschätzend, hier durch die Erniedrigung anderer, eben schwacher Personen wie Frauen. Vers 23, der eine harte Strafe für einen Verleumder fordert, verweist auf den anhaltenden Lernprozess durch die Möglichkeit der Reue und der Besserung dieser fāsiqūn, die hier nur Sinn macht, wenn sie eine öffentliche Dimension bekam, denn es ging auch um die öffentliche Glaubwürdigkeit dieser Personen. Die Verse 27 und 28 scheinen den problematischen Sachverhalt im Rahmen dieser Lebenswelten weiter fortzusetzen. Männer der Gläubigen gingen spontan in andere Häuser, was der Kultur der Araber zu dieser Zeit entsprochen zu haben scheint. Die Häuser scheinen nicht verschlossen und der Eingang oder Vorraum manchmal leer gewesen zu sein, was darauf verweist, dass oft nur Frauen und Hauspersonal, Sklaven und Sklavinnen zugegen waren. Die Eintretenden sollten jetzt erst um Erlaubnis bitten. Ar-Rāzī sieht den Zusammenhang mit der Verleumdung von ʿĀʾiša: Weil die Information, dass sie mit dem jungen Mann allein auf dem Weg gewesen war, zur Intrige ausgenutzt worden war, sollte dies nun vermieden werden. Fremde Männer, die nicht zur Familie gehörten, hatten daher um Erlaubnis zu bitten und zu grüßen. Das schaffte Transparenz. Sie hatten zu

 aḏ-Ḏahabī, Šams ad-Dīn: Siyar aʿlām an-nubalāʾ. Beirut: Dār al-kutub al-ʿilmiyya, 1971, 496 – 497.

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warten, eventuell wurden ungebetene Gäste aufgefordert zu gehen. Wie ar-Rāzī betont, sollte damit ein unmittelbarer, verachtender Blick von Fremden auf die Intimität von Frauen ausgeschlossen werden, der zu instrumentalisierenden Verleumdungen führen konnte.⁴³ Denn für die vorislamischen Araber war es nur wichtig gewesen, die Orte ihrer willkürlichen sexuellen Beziehungen mit angesehenen Frauen geheim zu halten, nicht zu vermeiden. Sicher entwickelte sich mit den neuen Normen auch allgemein eine Alltagskultur der mehr individuellen Intimität. Möglicherweise sollte auch die nahe Verwandtschaft hier mit inbegriffen sein, die überwiegend in verschiedenen Häusern wohnte. Auch sie sollte eine Bitte um Erlaubnis äußern beim Eintreten in ein Haus bzw. einen Raum, so der von as-Suyūṭī zitierte Anlass der Offenbarung. Nicht zufällig handelt es sich bei der Überlieferung um die Erzählung einer Frau, die ihre Intimität von jedweden Blicken, männlichen Blicken, schützen wollte. Zu bedenken ist an diesem Punkt, dass die Häuser sehr einfach waren, in der Regel ein Zimmer für eine Frau, in dem nicht nur geschlafen wurde, sondern auch der Alltag verbracht. Es gab Vorräume für Besuche oder Hauswirtschaft, so ist anzunehmen. Die Alltagskultur des ungezwungenen Kommens und Zusammenseins war tief verankert. Eine Überlieferung verweist darauf, dass der Prophetengefährte ʿUmar bin al-Ḫaṭṭāb die Offenbarung dieses Verses noch nicht gewusst oder nicht realisiert hatte, er hatte sich gewundert, dass der Besucher erst um Einlass bat, anstatt unmittelbar hineinzugehen.⁴⁴ Der nächste Vers betraf die sogenannten unbewohnten Warenhäuser, die außerhalb der Ortschaften an den Handelswegen der Quraish standen und die zur Rast genutzt wurden. In diesen sei in der Regel niemand, der um Erlaubnis gefragt werden könne, so Zitat Abū Bakr als Reaktion auf den vorhergegangenen Vers.⁴⁵

3 Der Zusammenhang von Prostitution und Kindstötung Mit dem Ausdruck zinā scheint der Koran allein Formen der Prostitution zu beschreiben, i. e. Sexarbeit gegen Geld. Diese Form des Unterhaltserwerbs wurde von ärmeren Frauen ausgeübt, die, wie es scheint, dennoch einen Ehemann brauchten. Denn es gab Schwangerschaften in diesem Milieu, und der Nach-

 ar-Rāzī, 196 – 198.  as-Suyūṭī, Bd. 11, 12– 13.  as-Suyūṭī, Bd. 11, 16.

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wuchs, so ist anzunehmen, war in der Stammesgesellschaft von allen Seiten her gewünscht und in der Regel notwendig zur Altersversorgung. Vor allem in Bezug auf die Abstammung,Vaterschaft, i. e. Namensgebung war dieses Milieu ein Problem. Die Versorgung eines Kindes war ebenso oft bei armen Familien problematisch, die Not war zu groß. Wie erwähnt wurde, gab es den Brauch, dass die Prostituierte unter den Freiern einen Vater aussuchte, sie hatte jedoch auch Angst, dass er das Kind umbringen könnte. Es ist anzunehmen, dass sie selbst es schwerlich allein versorgen und erziehen konnte, ohne Vater blieb das Kind ohne Abstammung, daher Diskriminierung und Misshandlung ausgesetzt, ohne Schutz. Kindesmord war kein seltenes Phänomen, die Ressourcen reichten nicht aus, um alle Kinder durchzubringen. Die Kinder aus den gesellschaftlich nicht fest etablierten sexuellen Beziehungen, waren wahrscheinlich die überwiegenden Opfer.⁴⁶ Einem Kind Sicherheit zur Versorgung und Schutz gewähren zu können, lag und liegt natürlicherweise im Interesse der überwiegenden Anzahl der Mütter. Auf diesem Hintergrund lässt sich die koranische Intention verstehen, die mehr oder weniger freien, latenten sexuellen Beziehungen zu beschränken und auf die Ehe hin zu konzentrieren, um die soziale Problematik der sexuellen Ausbeutung der armen Frauen und der Sklavinnen als auch den diese Akte oft begleitenden Kindesmord zu vermindern. In dem bestehenden kulturellen Rahmen versuchte die koranische Offenbarung, den quantitativen Mangel, den dies für die arabischen Männer nun bedeuten sollte, durch eine ästhetische und moralische Aufwertung des Beischlafs mit den eigenen Frauen und Sklavinnen auszugleichen. Zuneigung und Barmherzigkeit, nach Sūrat ar-Rūm, Vers 21, verdeutlicht die koranische Aufforderung, diese neue Kultur des sanften, gefühlvollen Umgangs zu lernen. Er lässt sich als funktionales Äquivalent des besagten Mangels interpretieren. Noch andere Maßnahmen werden vom Koran in diesem Sinne festgelegt, um die Ehe zu festigen. Neben dem Recht der Braut selbst auf die Brautgabe, gegenüber dem Kaufpreis der Baut, der an die Familie ging, wurde die Ehe als ein festes Bündnis, eben als ein fester Vertrag organisiert und verstanden. Die Frauen selbst sollten jetzt den Ehebund sakral und rechtlich selbst annehmen, nichts durfte bei Scheidung oder Tausch zurückgenommen werden. Ferner dienten die neuen Reinheitsvorschriften wie der ġusl nach dem Geschlechtsverkehr zu Er-

 Auf der anderen Seite zeigte sich die stratifikatorische Gewalt in der Adoption. In der Ğāhiliyya gab es die Aneignung eines fremden Kindes in den eigenen Stammbaum, eines Jungen, der wahrscheinlich wegen seines guten Körpers ausgewählt wurde. Vgl. al-Qurṭubi, Bd. 17, 57.

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schwernis der Auflösung der Ehe.⁴⁷ Es ist anzunehmen, dass gerade bei unmittelbaren Vergewaltigungsakten (von sozial schwachen weiblichen Personen) oder bei anderweitig verborgenem sexuellem Verkehr nicht immer Wasser zur Verfügung stand. Der notwendige ġusl, die Ganzkörperwaschung nach dem Verkehr, fungierte somit auch als ein Moment der Transparenz, um diese nachteiligen Akte vorislamischer Sexualität zu beschränken. Ferner wurde auch durch die neuen Scheidungsbestimmungen und die Wartefristen bis zur Neu- oder Wiederheirat die Auflösung der Ehe behindert. Kohn vermutet, dass das Verbot der Heirat mit der zāniya ebenso der Festigung der Ehe und der Familie dienen sollte.⁴⁸ Nicht zuletzt scheint die Regelung auch für die betreffenden Frauen selbst einen enormen Vorteil geboten zu haben. Die Sicherheit in einer gefestigten Ehe schützte sie vor der Willkür sexueller männlicher Gewalt. Der Beruf der Prostituierten war in dieser Gesellschaft nicht angesehen, das Prestige dieser Frauen gering, ihre Lage sehr wahrscheinlich schwierig. Entsprechendes ließe sich für die anderweitig sexuellen Beziehungen in Bezug auf materielle- und Prestigevorteile plausibilisieren, auf die die betreffenden Frauen, wie sich nahelegt, angewiesen waren. Mit den heutigen Maßstäben und Normen der sexuellen Selbstbestimmung oder der Freiheit, die eigentlich im Sinne des Foucaultschen Diskursbegriffs schon dekonstruiert wurden, kann dieses Phänomen nicht verstanden werden. Die geschichtlich-kulturelle Differenz ist vorauszusetzen, in den Details dieser Lebenswelten kann sich etwas an die damalige Situation angenähert werden. Reichere, angesehenere Frauen dieser Stammesgesellschaften hatten, wie es sich nahe legt, mehr Möglichkeiten zur Gestaltung des Alltags und ihrer sexuellen Beziehungen. Die Mehrzahl der neuen Musliminnen gehörte indes nicht zur Oberschicht, die Neuerungen mögen insbesondere für sie fortschrittlich gewesen sein. Die junge Umma wollte mit dem Phänomen der Prostitution aufgrund der Nachteile für Frau und Kind brechen. Grenzen zu ziehen war praktisch erforderlich. Denn die materielle Ausbeutung des Geschlechtsakts mit seiner Wahrscheinlichkeit der Kindstötung gehörte auf die Seite des šhirks, der keinen menschlichen Respekt gegenüber Schwächeren kannte. Die Androhung des Koran, der Freier bzw. der Zuhälter und die Prostituierte dürften nur Polytheisten heiraten, war den Muslimen durch die Offenbarung her verboten worden. Es bedeutete ein Abfall vom Glauben, eine Exkludierung aus der Umma. Für ihre se Kohn, Sara: Die Eheschließung im Koran. Leiden: Hochschulschrift der Rijks Universität Leiden, 1934, 6 – 8. Die moralische Beurteilung bzw. die Norm der sogenannten Sittlichkeit, die dieser orientalistischen Untersuchung der 30er Jahre zugrunde liegt, enthält jenseits davon einige interessante Analysen zur Thematik der zinā und der Ehe.  Kohn, 8.

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xuellen Akte außerhalb der Ehe wurden nun auch Männer bestraft. Sex gegen Geld konnte nicht mit der neuen Festigung der Ehe, die den betroffenen Frauen mehr Stabilität und allen eine Intensivierung der Gefühle der Romantik und Verantwortlichkeit bot, einhergehen.

Fazit: Genderzuschreibung der Verdächtigung Der Koran hatte ʿĀiʾša freigesprochen und die frühen Muslime kritisiert. Die Zweifel der Gefährten des Propheten, von denen er selbst betroffen war, lassen die Beteiligten in einem negativen Licht erscheinen. Dennoch werden heute noch viele Mädchen grundlos verdächtigt, eine Beziehung zu männlichen Jugendlichen oder Männern zu haben. Darin dokumentiert sich eine Genderzuschreibung, die an den oben genannten Ausdruck ğāriya erinnert. Allein aufgrund der Möglichkeit eines illegitimen sexuellen Aktes des Mädchens wird unterstellt, dass das Mädchen das Ansehen der Familie erniedrige. Diese Zuschreibung zieht zum Teil menschenunwürdige Maßnahmen und Konditionierungen in der Erziehung und Sozialisation nach sich, eine Art symbolische Kindstötung, die der Vermeidung besagter Schande der Familie dient. Die Thematik wird dabei selbst nicht sachlich besprochen, sondern tabuisiert, die Konstruktion nicht in Frage gestellt. Im Laufe der Geschichte scheint die damalige Gefahr der Schande für die Familie, die im Koran bei der Tötung der weiblichen Säuglinge konnotiert ist, zur Verdächtigung vieler Mädchen und Frauen in muslimischen Kontexten zu festen Kategorien der Ehre und Scham, in die Traditionen und Bräuche der Familien geronnen zu sein. Das Phänomen lässt den Schluss zu, dass die koranische Offenbarung an dieser Kultur nichts hat ändern können.⁴⁹ Im Gegenteil, der aktuelle religiöse Diskurs zeigt sich an diese vorislamische Genderzuschreibung angepasst, die die Frauen und Mädchen instrumentalisiert für das Ansehen der Familie. Die Beobachtungen sind im Grunde verwunderlich. Denn die heutigen muslimischen Gesellschaften sind fast alle seit längerer Zeit sesshaft und teils urbanisiert, Frauenraub gibt es so gut wie nicht mehr. Scheint die Möglichkeit einer außerehelichen Beziehung der Frau den Platz der Gefahr des ehemaligen Frauenraubes einzunehmen?

 Entsprechend weisen die Feldbeobachtungen Pierre Bourdieus, der diesen Ehre- und TabuZusammenhang im Alltag der Geschlechtertrennung in der Kabylei der 50er und 60er Jahre beschreibt, keine religiöse Referenz auf. Vgl. Bourdieu, Pierre: „Ehre und Ehrgefühl.“ In Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 32012, 35 – 40.

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In der damaligen Stammesgesellschaft betraf die prekäre Lage der Frauen ebenso die der Oberschicht, wenn auch viel geringer als in armen Milieus. Auch im Übergang zur Umma, der den koranischen Kontext darstellt, waren alle Frauen den Gewaltstrukturen der kriegerischen Stammesfehden ausgesetzt. Frauenraub diente einmal der exogamen Fortpflanzung, neue Gene in den Stamm zu bringen,⁵⁰ darüber hinaus auch als Waffe. Dem Gegner die fruchtbare Frau zu rauben, hatte auch den moralischen Sieg, die Ehre des Stammes zu erniedrigen. Die Intrige gegen die Prophetenfrau verdeutlicht Letzteres, auch wenn sie zunächst nicht geraubt werden konnte. Indes war sie selbst das Opfer, dieses Moment war den Männern aber wohl irrelevant. Der Vorwurf, eine sexuelle Beziehung zu ihrem Retter gehabt zu haben, wird vom Koran indes nicht als zinā bezeichnet, da dies, wie rekonstruiert wurde, eine geschäftliche Praxis der Sexarbeit bezeichnete. Dies bedeutet, dass wenn Fälle von sogenannten romantisch-sexuellen Liebesbeziehungen von nichtverheirateten Menschen, in der Regel Jugendlichen, bekannt werden, dürften sie, sofern sich auf den Koran gestützt wird, nicht als zinā bezeichnet werden. Alles weitere Vorgehen müsste davon abhängen, ob die Beziehung eine Tendenz zu einer festen Beziehung hat. Der Koran legitimiert alsdann keine Diskriminierung des jungen Paares, er fordert und fördert die romantische Liebe. Das Gute soll das Schlechte ausgleichen, wie Amīn al-Ḫūlī als eine der Grundlagen des Koran erkannt hatte. Es hängt davon ab, ob die Umstehenden, die Freunde und die Familie, das junge Paar unterstützen und zwar jenseits von Ehre, tabuisierter Scham und Ansichten des Prestiges. Das koranische Interesse, so kann schlussgefolgert werden, liegt in der Beendigung sexueller und anderer Formen von Gewalt. Der besagte Ehrzusammenhang erweist sich in diesem Sinne als kontraproduktiv, darauf verweist u. a. die heutige strukturelle häusliche Gewalt gegen Frauen.⁵¹ Romantik und Eigenverantwortung des jungen Paares im Sinne des o.g. mawwada wa-raḥma, erweisen sich als Basis und den Garanten der Ehebeziehung als weitreichender.

 Klein, Jörg. „Kulturelles Verbot und natürliche Scheu.“ In Studien zur Sozialwissenschaft, Bd. 102. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991, 28 – 29.  Zum Beispiel die Situation von häuslicher Gewalt in Ägypten, ähnlich wie in vielen anderen Ländern. Vgl. den Bericht zur 7. Forensik-Tagung in Kairo zu dieser Thematik: https://cu.edu.eg/ Cairo-University-News-11843.html., ferner http://english.ahram.org.eg/NewsContent/1/64/85640/ Egypt/Politics-/Egyptian-women-demand-cultural-revolution-against-.aspx (abgerufen am 10.09. 2020).

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Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 31988. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998. Mannheim, Karl. „Wissenssoziologie“. In Handwörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Enke 1931. „Roundtable. „Feminism and Islam. Exploring the Boundaries of Critique.“ In Journal of Feminist Studies in Religion, Bd. 32, 2, Fall 2016. Schütz, Alfred und Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984.

Muhammed Ragab

Nationalgemeinschaft vs. Religionsgemeinschaft Das Verhältnis von Staat und christlich-religiösen Institutionen im zeitgenössischen islamischen Denken

Einleitung Das Verhältnis von Staat und Religion wurde und wird oft im Rahmen des zeitgenössischen islamischen Denkens erörtert. In einem Land wie Ägypten, in dessen Verfassung seit den 1970er Jahren steht, dass die Prinzipien der islamischen Scharia eine grundlegende Quelle für die Gesetzgebung darstellen,¹ und seit 2012 ergänzt wurde, dass die Prinzipien der Gesetze der ägyptischen Juden und Christen die Hauptquelle für die Gesetzgebung hinsichtlich ihres Personenstandswesens, ihrer religiösen Angelegenheiten und der Auswahl ihrer religiösen Führungspersonen sind,² ist dieses Verhältnis von großer Bedeutung, denn es übt einen Einfluss auf verschiedenen Ebenen aus, nicht zuletzt auf die Erhaltung der Menschenrechte und den Status der religiösen Minderheiten. Die religiösen Institutionen spielen dabei eine wichtige Rolle, z. B. erließ Al-Azhar Urkunden zu politischen Themen, z. B. muwāṭana (die gleichberechtigte Staatsbürgerschaft).³ Mit dem Status der Christen und deren Rechten in Ägypten beschäftigen sich mehrere islamische Denker aus den verschiedensten Richtungen, jedoch bleiben die Leistungen einer bestimmten Richtung, die manchmal als gemäßigt (wasaṭi) oder unabhängig (mustaqil) genannt wird, von besonderer Bedeutung. Der Beitrag der Vertreter dieser Denkrichtung, wie Fahmī Huwaidī (geb. 1937), Muḥammad Salīm al-ʿAuwā (geb. 1942), Muḥammad ʿImāra (1931– 2020) und nicht zuletzt Ṭāriq al-Bišrī (1933 – 2021), in diesem Bereich ist dadurch charakterisiert, dass diese Denker weder einer der islamistischen Bewegungen noch den öffentlichen religiösen Institutionen zuzuordnen sind. Außerdem ist der intellektuelle Werdegang einiger Vertreter dieser Denkrichtung, wie ʿImāra und al-Bišrī, durch  „Iṣdār Dustūr Ğumhuriyat Miṣr al-ʿArabiyya.“ In al-Ğarīda ar-rasmiyya, § 2, 36A bis, 1971.  „Iṣdār Dustūr Ğumhuriyat Miṣr al-ʿArabiyya.“ In al-Ğarīda ar-rasmiyya, § 3, 51B bis, 2012.  „Iʿlān al-Azhar li-l-muwāṭana wa-l-ʿaiš al-muštarak“, Al-Azhar Portal, 1. März 2017, http://www. azhar.eg/details/ArtMID/821/ArticleID/11890/‫ﺍﻟ ُﻤﺸ َﺘ َﺮ ِﻙ‬-‫ﺶ‬ ِ ‫ﻭﺍﻟ َﻌ ْﻴ‬-‫ﻟﻠ ُﻤﻮﺍ َﻃﻨ ِﺔ‬-‫ﺍﻷﺯﻫ ِﺮ‬-‫ﺇﻋﻼ ُﻥ‬, Zugriff am 20.05. 2020. https://doi.org/10.1515/9783110588590-019

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die Wandlungen, die sie erlebten, charakterisiert. Beide Personen waren während der 60er Jahre Unterstützer des arabischen Sozialismus und Nasserismus, erst in den 70er und 80er Jahren wurden sie als islamische Denker gezählt. Besonders Ṭāriq al-Bišrī, der ägyptische Jurist und Historiker, beschäftigte sich über Jahre in mehreren Schriften intensiv mit dem Status der Nichtmuslime in Ägypten und mit ihrer Beziehung zu den Muslimen und zum Staat. 2010 verfasste al-Bišrī eine Artikelreihe in der ägyptischen Zeitung aš-Šurūq unter dem Titel alIdāra al-kanasiyya baina niẓam al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (Die Kirchenführung zwischen der Religionsgemeinschafts- und Nationalgemeinschaftsordnung), die sehr kontrovers war und eine Kritik- und Diskussionswelle in der ägyptischen Gesellschaft auslöste.⁴ Ausgangspunkt in dieser Reihe ist alBišrīs Vorstellung von der Nationalgemeinschaft bzw. Nationalordnung als Konzept zum Zusammenleben aller Ägypter, abgesehen von ihrer religiösen Zugehörigkeit. Dabei kritisiert er das Verhalten und die Aussagen der Kirchenführung in Ägypten in den letzten Jahren, weil sie gegen dieses Konzept verstößt und die alte Religionsgemeinschaftsordnung wiederbeleben möchte, indem sie die Vertretung der Kopten gegenüber dem Staat für sich monopolisiert und über ihre Angelegenheiten das letzte Wort haben will. Die Studie nimmt diese Artikelreihe zu Gegenstand, um dadurch die Vorstellung al-Bišrīs über das Verhältnis der religiösen Institutionen und des Staates im Lichte seines Konzepts von der Nationalgemeinschaft zu erarbeiten und danach zu fragen, wie diese Vorstellung und dieses Konzept mit den Rechten und dem Status der Kopten in Ägypten umgeht. Al-Bišrīs Artikelreihe wurde aus folgenden Gründen als Gegenstand ausgewählt: Erstens: Das Verhältnis des Staates und der religiösen Institutionen ist nicht nur eine reine juristische oder politische Angelegenheit, sondern eine Angelegenheit, die einen direkten Einfluss auf die Menschenrechte hat, besonders in den Ländern, in denen der Religion eine Rolle in der Gesetzgebung zukommt. Zweitens: obwohl mehrere islamische Denker sich mit dem Status der Nichtmuslime in den islamischen Ländern beschäftigten, wird der Aspekt des Verhältnisses der religiösen Institutionen und des Staates dabei nicht berücksichtigt, was al-Bišrī in dieser Artikelreihe dagegen tut. Drittens: der Autor ist vom Beruf her Jurist, der jahrelang im Staatsrat arbeitete, weshalb ihm die juristische Seite des Verhältnisses der religiösen Institutionen und des Staates nicht fremd ist.  Mit der Artikelreihe setzten sich sowohl muslimische Autoren, wie Sāmir Sūlaimān („Man alMasʾūl fiʿlan ʿan qīām niẓām al-milla al-masīḥī?“. In aš-Šurūq al-ǧadīd, 4. November [2010]: 13); als auch nicht muslimische Autoren wie Hānī Labīb.(„Idārat ad-dawla ad-dīniyya bi-qināʾ dawlat al-muwāṭana“. In Rūz al-Yūsif, 30. Oktober [2010]: 33 – 35) auseinander.

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Viertens: die Studie fragt danach, inwieweit die Denkrichtung, die als gemäßigt oder unabhängig bezeichnet wird, am Beispiel von al-Bišrī sich von den Vorstellungen des Mainstream-Islam und der islamistischen Gruppierungen bezüglich des Verhältnisses von Staat und religiösen Institutionen distanziert oder identifiziert. Fünftens: die Studie fragt danach, ob die intellektuellen Wandlungen, die alBišrī und andere Vertreter dieser Denkrichtung erlebten, bei der Kristallisierung seiner Vorstellungen eine Rolle spielten. Die Studie bietet zunächst einen Überblick über die Geschichte des Verhältnisses vom Staat und der koptisch-orthodoxen Kirche in Ägypten seit Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Erscheinungszeit der oben genannten Artikelreihe. Danach wird al-Bišrīs intellektueller Werdegang und Wandel untersucht, um zu elaborieren, wie dieser Wandel einen Einfluss auf seine Vorstellung über die Nationalgemeinschaft und das Verhältnis des Staates und der religiösen Institutionen ausübte. Abschließend setzt sich die Studie mit der Artikelreihe alIdāra al-kanasiyya auseinander, in der al-Bišrī mehrere Beispielsfälle behandelte, um sein Konzept der Nationalgemeinschaftsordnung zu rekonstruieren, seine Vorstellung über das Verhältnis vom Staat und der koptisch-orthodoxen Kirche herauszuarbeiten und um zu verstehen, warum sich ein islamischer Denker mit diesem Verhältnis beschäftigt.

1 Staat und Kirche in Ägypten: sich wandelnde Beziehung Die Geschichte des Verhältnisses zwischen der koptisch-orthodoxen Kirche und dem ägyptischen Staat im 19. und 20. Jahrhunderten ist zum Teil die Geschichte eines Konflikts zwischen verschiedenen Strömungen in der koptischen Gesellschaft. Es ist auch die Geschichte eines Versuchs, die koptisch-orthodoxe Kirche durch koptische Laien zu reformieren, und der Reaktion des ägyptischen Staates darauf.

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1.1 Vor 1952: Die Stimme der Laien Bis zum 19. Jahrhundert war die koptisch-orthodoxe Kirche die einzige Vertreterin der Kopten gegenüber dem Staat.⁵ Auf Verlangen des ägyptischen Politikers und späteren Ministerpräsidenten⁶ Buṭrus Ġālī (1846 – 1910) wurde im Jahre 1874 almaǧlis al-milī (der Kirchengemeinderat) per Dekret des Khediven Ismāʿīl Pascha (1830 – 1895) als ein Gremium eingerichtet, dessen Mitglieder von den koptischen Christen gewählt wurden und das für die Stiftungen und Schulen der koptischorthodoxen Kirche und die Personenstandsgerichte der Kopten zuständig war. AlMaǧlis al-milī bestand aus zwölf Mitgliedern und weiteren zwölf Sub-Mitgliedern, die alle fünf Jahre von den Kopten ausgewählt wurden.⁷ Die Mitglieder von almaǧlis al-milī waren gut ausgebildete und gut bemittelte koptische Laien, die höhere Stellen in der Regierung hielten. Dadurch konnten sie direkten Einfluss auf das Leben der Kopten ausüben.⁸ In ihrem Artikel über das Verhältnis von Staat und Kirche in Ägypten ist Mariz Tadrus der Meinung, dass durch die Gründung von al-Maǧlis al-milī eine weitere legitime Stimme in der koptischen Szene auftauchte, die die Kopten zwar vertrat, aber nicht unbedingt in Übereinstimmung mit der Führung der Kirche war, sondern das Ziel hatte, die Kirche zu reformieren. Al-Maǧlis al-millī nahm auch bei der Wahl des Patriarchen, des Hauptes der Kirche, teil. Dadurch kam es zu einem Konflikt über die Vertretung der Kopten gegenüber dem ägyptischen Staat.⁹ Zeichen dieses Konflikts war die Auflösung des ersten Rates als Folge eines Disputes zwischen den Laien und dem Klerus. Patriarch Kirellos V (1824 oder 1831– 1927) war gegen die Idee von al-maǧlis al-milī, weil er beabsichtigte, die alleinige Autorität in allen Angelegenheit, die die koptische Kirche betreffen, zu sein, weshalb er al-maǧlis al-milī im Jahre 1875 auflöste. Auf Drängen der koptischen Gesellschaft wurde al-maǧlis al-milī im Jahre 1883 vom Patriarchen Kirellos V reorganisiert. ¹⁰ Ein immer wieder auftretendes Thema des Konflikts zwischen dem Klerus und al-maǧlis al-milī waren die kirchlichen Stiftungen. Mehrere Oberhäupter der koptischen Klöster waren dagegen, dass die klösterlichen Stiftungen von al-maǧlis

 Tadros, Mariz. „Vicissitudes in the Entente between the Coptic Orthodox Church and the State in Egypt“ (1952– 2007). In International Journal of Middle East Studies 41, Nr. 2, 2009, 270.  Damals als Raʾīs maǧlis an-nuẓẓār bekannt.  Meinardus: Otto F. A.: Two Thousand Years of Coptic Christianity. Cairo: The American University in Cairo Press, 2002, 71.  Tadros, Vicissitudes, 270.  ebd.  Meinardus, Two Thousand Years of Coptic Christianity, 72.

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al-milī verwaltet werden. Patriarch Yūʾānnis XIX (1855 – 1942) beabsichtigte deshalb, ein Gremium zu gründen, das die Stiftungen verwalten, und gemeinsam von ihm und dem al-maǧlis al-milī geleitet werden sollte. Einen ähnlichen Plan hatte auch Patriarch Makārīūs III (1872– 1945), der jedoch von al-maǧlis al-milī deshalb abgelehnt wurde, weil in diesem Plan vorgesehen war, dem Patriarchen die alleinige Autorität bezüglich der Stiftungen zu geben.¹¹ Die Stiftungen waren nicht das einzige Anliegen, mit dem sich al-maǧlis almilī beschäftigte. Ein weiteres für die vorliegende Studie relevantes Thema ist ein Erlass durch al-maǧlis al-milī zu Personenstandsangelegenheiten der koptischen Christen aus dem Jahr 1938, bekannt als lāʾiḥat 38 (die Verordnung von 38). Diese Verordnung führte eine Reihe von Gründen für eine Ehescheidung auf, nämlich: 1. Ehebruch. 2. Konversion eines der Ehepartner zu einer anderen Religion. 3. Abwesenheit für fünf aufeinander folgende Jahre. 4. Haftstrafe für sieben Jahre oder mehr. 5. Geisteserkrankungen, ansteckende Krankheiten oder Impotenz, die im Laufe von zwei Jahren nicht geheilt werden konnte. 6. Gefährliche häusliche Gewalt. 7. Eintritt eines der Ehepartner in einen Mönchsorden. 8. Trennung für drei Jahre wegen unerträglicher Heiratsumstände. 9. Immoralisches Verhalten eines der Ehepartner. 10. Fehlen der Ebenbürtigkeit.¹² Ghattas beschreibt die Vorschriften dieses dieser Verordnung als liberal attitude, die eine Reaktion seitens der koptisch-orthodoxen Patriarchen hervorriefen. So vertrat Patriarch Makārīūs III, die Ansicht, dass sich nach dem Evangelium die Gründe für eine Ehescheidung allein auf Ehebruch beschränken. Eine Stellungnahme, die die weiteren Patriarchen bestätigten.¹³ Mit der Gründung von al-maǧlis al-milī war die Führung der koptisch-orthodoxen Kirche weder die einzige Vertreterin der Kopten gegenüber dem Staat noch die einzige Entscheidungsträgerin über ihre Angelegenheiten. Ein Sachverhalt, der bei den Patriarchen keinen Gefallen fand. Staatlicher Einfluss wurde in mehreren Fällen im Sinne von al-maǧlis al-milī ausgeübt. Etwa bei der Reorganisation von al-maǧlis al-milī im Jahre 1883 oder bei der Verwaltung der kirchlichen Stiftungen und Klöster, die trotz Einwänden kirchlicher Oberhäupter in den Händen von al-maǧlis al-milī blieben. Gleiches gilt für die Verordnung zu Personenstandsangelegenheiten. Für die Stimme der Laien hatte der Staat in dieser Zeit ein offenes Ohr. Es kann sein, dass der Staat damals in der Konkurrenz zwischen der Führung der Kirche und al-maǧlis al-milī eine Balance sah, in der keine der Seiten die koptische Stimme für sich monopolisierte.  Meinardus, 72– 73.  Ghattas, Iskandar. „Personal Status Law.“ In The Coptic encyclopedia, hg.v. Aziz Suryal Atiya. New York, Toronto: Macmillan, 1991, 1943a.  Ghattas, 1943a.

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1.2 Kirche und Staat in Zeit von Nāṣir: Verstaatlichung der Kirche Als am 23. Juli 1952 König Fārūq I (1920 – 1965) von der Bewegung der freien Offiziere gestürzt wurde, trat Ägypten in eine neue Phase ein. Tamir Moustafa spricht von einem Programm der nun folgenden Präsidenten der ägyptischen Republik, Ğamāl ʿabd an-Nāṣir (1918 – 1970), Anwar as-Sadāt (1918 – 1981) und Muḥammad Ḥusnī Mubārak (1928 – 2020) alle Moscheen zu subventionieren und zu verstaatlichen.¹⁴ Dasselbe galt auch, seiner Meinung nach, für die Kirchen in Ägypten.¹⁵ Im Gegensatz zur Dynastie von Muḥammad ʿAlī (1769 – 1849), in deren Amtszeit sich al-maǧlis al-milī gründete und die für die Anliegen der Laien in der koptischen Gesellschaft ein offenes Ohr hatte, wollte Nāṣir dieser Konkurrenz bei der Vertretung der Kopten ein Ende setzen. Nach Tadros ist nach dem Putsch eine Allianz zwischen dem ägyptischen Staat und der Führung der koptisch-orthodoxen Kirche gebildet worden, besonders zwischen Nāṣir und dem Patriarch Kirellos VI (1902– 1971).¹⁶ Nāṣir entschied sich dafür, sich mit der zum Teil konservativen Konfliktpartei, nämlich dem Klerus als Vertreter der Kopten zu verbünden. Im Jahre 1955 wurde ein einheitliches Gesetz über die Personenstandsangelegenheiten erlassen, das am 1. Januar 1956 wirksam wurde. Diesem Gesetz gemäß wurden die Personenstandsgerichte der Kopten, die unter Aufsicht von almaǧlis al-milī standen, abgeschafft.¹⁷ Danach wurden einheitliche Personenstandsgerichte für Muslime und Christen eingerichtet. Die Richter, die über die Ehescheidungsfälle der Kopten entschieden, waren mehrheitlich Muslime, die die Vorschriften vom Jahre 1938 anwandten.¹⁸ Im Jahre 1955 wurden einige Änderungen vorgeschlagen, die folgende Gründe für die Ehescheidung nicht mehr enthielten: immoralisches Verhalten eines der Ehepartner, Fehlen der Ebenbürtigkeit, Trennung für drei Jahre wegen unerträglicher Heiratsumstände und Eintritt eines der Ehepartner in einen Mönchsorden.¹⁹ Diese Änderungen aber wurden von dem Berufungsgericht abgehlehnt.²⁰

 Moustafa, Tamir. „Conflict and Cooperation between the State and Religious Institutions in Contemporary Egypt“. In International Journal of Middle East Studies 32, Nr. 1 (2000): 7.  Moustafa, 19.  Tadros, Vicissitudes, 269.  Tadros, 271.  Elsässer, Sebastian: The Coptic Question in the Mubarak Era. Oxford, New York: Oxford University Press, 2014, 146.  Ghattas, Personal Status Law, 1943a.

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Die koptischen Stiftungen wurden nun nicht länger vom al-maǧlis al-millī betreut, sondern einem Gremium anvertraut, das von dem Patriarchen selbst bestimmt wurde. Im Jahr 1957 entschied sich die Regierung, bezugnehmend auf das Wahlsystem des Patriarchen dafür, nur noch die Vorschläge des Klerus anzunehmen und die Vorschläge von al-maǧlis al-millī abzulehnen. Dadurch, dass die nicht-klerikale Stimme der Kopten schwächer wurde, brachte Nāṣir, so Tadros, die Kirche dazu, eine politische Rolle zu spielen.²¹ Damit kam die aktive Rolle, die al-maǧlis al-millī im Leben der ägyptischen Kopten vor 1952 gespielt hatte, zu Ende. Die von Tadros als Allianz beschriebene Beziehung zwischen Staat und Kirche geriet mit dem Tode von Nāṣir am 28. September 1970 in Gefahr.

1.3 Der Konflikt zwischen Šinūda und Sadāt Unter Sadat blieb die Allianz bestehen, auch als Kirellos VI im Jahre 1971 starb und Naẓīr Ǧayyid Rawfāʾil (1923 – 2012) unter dem Namen Šinūda III als Patriarch gewählt wurde. Gegen Ende der 70er Jahre war die Ruhe jedoch zu Ende und zwar aus mehreren Gründen; Erstens: angeblich lehnte Šinūda ab, dass die Kopten Jerusalem besuchen, um die Pilgerfahrt durchzuführen. Hätte er sich für das Gegenteil entscheiden, so wäre die Stellung von Sadāt bei den Verhandlungen mit der israelischen Seite gestärkt worden.²² Zweitens: Šinūda lehnte die Einführung der islamischen Scharia als Quelle für die Gesetzgebung in der ägyptischen Verfassung ab, weil dies das Prinzip der Glaubensfreiheit verletzt.²³ Drittens: der Aufstieg des Islamismus zu dieser Zeit und die religiös motivierten Gewaltereignisse.²⁴ Die Eskalation ging weiter bis September 1981, als Sadat kurz vor seinem Tod durch ein Attentat am 6. Oktober 1981, sein Dekret zur Einsetzung von Šinūda als Patriarch annullierte und einen Ausschuss an seiner Stelle einsetzte.²⁵ Obwohl die Kirche, nachdem Nāṣir die Rolle von al-maǧlis al-milī beschränkt hatte, die Kopten einheitlich repräsentierte, war unter Sadāt die Beziehung zwischen der koptisch-orthodoxen Kirche und dem ägyptischen Staat durch Konflikte

 Bernard-Maugiron, Nathalie. „Divorce and Remarriage of Orthodox Copts in Egypt: The 2008 State Council Ruling and the Amendment of the 1938 Personal Status Regulations“. In Islamic Law and Society 18, 3/4, (2011): 361– 362.  Tadros, 271.  Haykal, Muḥammad Ḥasanayn: Autumn of Fury. The Assassination of Sadat. New York: Random House, 1983, 220 – 221.  Tadros, Vicissitudes, 274.  Tadros, 273.  Elsässer: The Coptic Question in the Mubarak Era, 84.

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geprägt. Mubārak dagegen setzte nun alles daran, die Konflikte zu entschärfen und die Kirche-Staat-Beziehung wiederherzustellen.

1.4 Die Regierungszeit Mubāraks Vier Jahre später, im Jahre 1985 setzte Präsident Mubarāk Šinūda wieder als Haupt der koptisch-orthodoxen Kirche ein. Der Grund dafür liegt nach Elsässer darin, dass Šinūda noch viele loyale Anhänger innerhalb der Kirche hatte. Damals war die Eindämmung des islamischen Radikalismus, der auch Angriffe gegen die Christen in Ägypten verübte, für den ägyptischen Staat von höchster Priorität.²⁶ Deshalb sah das Regime Šinūda als den geeigneten Ansprechpartner bzw. Vertreter der Kirche gegenüber dem ägyptischen Staat an. Mit dem islamistischen Radikalismus hatten Staat und Kirche einen gemeinsamen Feind, was sie verbündete, obwohl die religiös motivierten Gewaltereignisse nicht abrissen und die Scharia als Quelle für die Gesetzgebung weiterhin in der Verfassung stand. Die Allianz wurde neu gebildet und die Kirche unterstützte Mubāraks Regime in mehreren politischen Referenden und Wahlen.²⁷ Als Beispiel dafür erwähnt Tadros, dass Šinūda bei der Präsidentschaftswahl im Jahre 2005 die Bischöfe und die Kopten dazu aufrief, Mubārak zu wählen. Allerdings meint Tadros hierzu, dass dies keine persönliche Meinung darstellt, sondern eine institutionalisierte Stellungnahme auf allen Ebenen der Kirchenhierarchie.²⁸ In Bezug auf die juristische Ebene kann die Beziehung der Kirche zum Gerichtswesen besonders in den letzten Jahren in der Amtszeit von Mubārak nicht als optimal beschrieben werden. Es gab einen lang andauernden Konflikt zu Fällen von Ehescheidung und Wiederehe Geschiedener, worauf später noch einzugehen sein wird. Um derartige Konflikte zu vermeiden, wurde die Verordnung von 1938 geändert.²⁹ Ein weiteres Problem stellte der Neubau von Kirchen dar, über den der Sicherheitsapparat die endgültige Entscheidung zu treffen hat. Der Kirchenbau ist durch den Mangel an Rechtssicherheit und administrative Rechenschaftspflicht erschwert worden, nicht durch den diskriminierenden Charakter der Gesetze

 Elsässer, 284– 85.  Elsässer, 87.  Tadros, Vicissitudes, 276.  Am 2. Juni 2008 wurde die Verordnung geändert, vgl. Bayūmī, ʿAmr. „Al-Ğarīda ar-rasmiyya tanšur naṣ qarār taʿdīl lāʾiḥat al-aḥwāl aš-šaḫṣiyya li-l-aqbāṭ al-urṯūḏuks“. In al-Miṣrī al-yūm, 5. Juni (2008): 5.

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selbst.³⁰ Eine weitere Herausforderung für die Kirche war die Konvertierung koptischer Frauen, zum Islam. Ein Beispiel dafür ist der Fall von Wafāʾ Qusṭanṭīn, der Ehefrau eines koptischen Priesters, aus dem Jahr 2004. Nach Tadros ging sie in ein Polizeirevier, um dort ihre Konvertierung zum Islam zu erklären.³¹ Das führte zu Protesten von den Kopten, die behaupteten, dass sie entführt wurde. Als ihr die Sicherheitsbehörden den Eintritt in ein Kloster gewährten, gab es weite Proteste von Muslimen, die behaupteten, dass die Kirche eine muslimische Frau inhaftieren würde.³² Mitten in diesen Verhältnissen schrieb im Jahre 2010 Ṭāriq al-Bišrī seine Artikelreihe al-idāra al-kanasiyya, die u. a. die Gerichtsbeschlüsse und die Reaktion der Kirche bezüglich der Ehescheidung und Wiederehe von koptischen Bürgern zum Gegenstand nimmt. Die Frage, welche Faktoren zu al-Bišrīs Ausführungen zum Verhältnis von Staat, koptisch-orthodoxer Kirche und Nationalgemeinschaft beitrugen, bildet der Kern des nächsten Teils der Studie.

2 Ṭāriq al-Bišrī und seine Wandlungen Ṭāriq ʿAbd al-Fatāḥ Salīm al-Bišrī ist ein ägyptischer Jurist und Historiker. 1954 erlangte er den Bachelor of Laws an der Kairoer Universität. Seine berufliche Laufbahn begann im höheren ägyptischen Verwaltungsgericht, maǧlis ad-dawlah (Staatsrat). Dort machte er bis zu seinem Ruhestand 1998 Karriere bis schließlich zum stellvertretenden Vorsitzenden des Staatsrates und Vorsitzenden der Generalversammlung für Gesetzgebung und Beratung.³³ Nach der ägyptischen Revolution im Jahre 2011 wurde er von al-maǧlis al-aʿlā li-l-quwwāt al-musallaḥa, dem obersten Rat der Streitkräfte zum Vorsitzenden des Rats zur Reform der ägyptischen Verfassung ernannt.³⁴ Im Laufe seines Lebens verfasste al-Bišrī mehrere Werke über die zeitgenössische Geschichte Ägyptens, wie al-Ḥarakah as-siyasiyya fī Miṣr 1945 – 1952,

 Elsässer: The Coptic Question in the Mubarak Era, 93 – 94.  Tadros, 279; Elsässer sprach im Zusammenhang dieses Falls von Wafāʾs „ alleged conversion to Islam“, vgl. Elsässer: The Coptic Question in the Mubarak Era, 92.  Elsässer, 92.  Māhir, Midḥat: Ḥiwārāt maʿa Ṭāriq al-Bišrī. Sīra maʿrfiyya baina aḏ-ḏāt wa-l-umma. ʿAmmā n: Dār al-Bašīr, 2020, 32; Dyāb, Muḥamma Ḥāfiẓ: Al-Islāmīyyūn al-mustaqilūn: al-hawiyya wa-s-suʾāl. Kairo: Al-Haiʾa al-miṣriyya al-ʿāma lil-kitāb, 2005, 18.  al-Bahnasāwī, Ahmad. „Aš-Šurūq tanfarid bi-taškīl al-laǧna al-mukallafa bi-taʿdīl ad-dustūr: Ṭāriq al-Bišrī raʾīsan wa-l-iḫwānī Ṣubḥī Ṣāliḥ ʿuḍwan bi-l-laǧna“. In aš-Šurūq al-ǧadīd, 15. Februar (2011): 1.

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(1972) und Saʿd Zaghlūl yufāwiḍ al-istiʿmār(1977). Zum Verhältnis der islamischen Scharia und dem positiven Recht verfasste er Werke wie al-Masʾala al-qānūniyya bayna aš-šariʿa al-islamiyya wa-l-qānūn al-waḏʿī (1985) und as-Syāq at-tārīḫī wa-ṭṭaqāfī li-taqnīn aš-šarīʿa al-islāmiyya (2011). Wie eingangs erwähnt, erlebte al-Bišrī wie auch andere Denker seiner Generation in den Jahren von 1960 bis 1980 Wandlungen intellektueller Natur. Der nächste Teil der Studie widmet sich die Darstellung dieser Wandlung, um zu untersuchen ob und wie diese Wandlungen eine Rolle bei der Formulierung seiner Vorstellung über die Nationalgemeinschaft und das Verhältnis von Staat und koptischer Kirche spielen.

2.1 Die ersten Bausteine Die britische Besatzung von Ägypten und die Existenz von verschiedenen fremden militärischen Mächten in Ägypten während des zweiten Weltkriegs führten dazu, dass das Ringen um nationale Befreiung von der Kolonialisierung die ersten Bausteine für den frühen intellektuellen Werdegang al-Bišrīs bildeten.³⁵ Er stellte sich existenzielle Fragen nach eigener Identität und Lebenszielen.³⁶ Antworten auf diese Fragen fand er im Nasserismus,³⁷ namentlich in ihrem Projekt des arabischen Sozialismus³⁸, das er mit Rat und Tat unterstützte. Er schrieb mehrere Artikel in der ägyptischen Zeitschrift aṭ-Ṭalīʿa, darunter einen Artikel über den Aufstand der ägyptischen Nationalbefreiungsbewegung von  al-Bišrī, Ṭāriq, u. a. „At-Takwīn: Ḥayyāt al-mufakirīn wa-l-udabāʾ bi-aqlāmihim“. In Kitāb alHilāl, 566. Kairo: Dār al-Hilāl, 1998, 41– 43. Giordani vertritt die Meinung, dass die nationale Befreiung die Geburtsstunde des intellektuellen Projekts al-Bišrīs und seiner Generation ist, weshalb sie dieses Projekt in einem postkolonialistischen Rahmen als Projekt zur Gestaltung der eigenen Identität versteht. Vgl. Giordani, Angela: Al-Mustašār Ṭāriq al-Bišrī wa-riḥlatahu al-fikriyya: Fī masār al-intiqāl mina an-nāṣṣiriyya ilā al-islām as-siyāsī, übers. v. ʿUmariyya Sulṭānī, Marāṣid 5. Alexandria: Maktabat al-Iskandariyya – Wiḥdat ad-dirāsāt al-mustqabaliyya, 2011, 7.  al-Bišrī, u. a., At-Takwīn, 48 – 49.  Dyāb: Al-Islāmīyyūn al-mustaqilūn, 18. Vgl. Giordani: Al-Mustašār Ṭāriq al-Bišrī, 9 – 10.  Der Arabische Sozialismus (AS) gilt in seinen Hauptströmungen als Denk- und Handlungsweise, mit der Araber seit dem 19. Jahrhundert bestimmte Ideen von Marx und Engels einerseits im arabischen Raum zu befruchten und andererseits auf Westeuropa zu begrenzen suchen. Ähnliches betrifft Ideen des sozialdemokratischen Sozialismus, des Staatssozialismus Osteuropas nach 1917 und Südostasiens nach 1949 sowie des Eurokommunismus nach 1968. Arabische Sozialisten betonen den staatlichen Zentralbesitz, die privaten Eigentumsanteile, die naturhistorischen Eigenheiten im Orient und den Islam. Siehe: Schwanitz, Wolfgang G. „Arabischer Sozialismus“. In Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus. Hamburg: Argument Verlag, 1994, 392.

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1946. Darin beschrieb er die Ägypter und den im Palast sitzenden König als Kampfparteien, wobei der König und die Minderheitsparteien als die Interessenvertreter der herrschenden kapitalistischen Klasse galten.³⁹ Er stellte die Kluft zwischen den Klassen innerhalb der ägyptischen Gesellschaft der Nachkriegszeit mittels Statistiken über das Besitztum der Ackerländer dar. Diese Kluft erklärte er mit der Anwesenheit von fremden militärischen Mächten im Lande.⁴⁰ Zum anderen äußerte er sich über die Muslimbruderschaft in dieser Epoche und dessen Gründer Ḥasan al-Bannā (1906 – 1949), der seiner Meinung nach in ersten Jahren des 2. Weltkriegs Kontakte zu den Nationalsozialisten unterhielt.⁴¹ Die Betonung der Religion aus Sicht der Muslimbruderschaft führte dazu, die Uneinigkeit in der Bevölkerung zu befördern und sie von ihren realistischen, nationalen und sozialen Problemen abzulenken und die sozialen Unterschiede zwischen einer reaktionären Ausbeuterklasse und den arbeitenden Klassen der Bevölkerung zu verwischen.⁴² Al-Bišrī unternahm den Versuch, den politischen Streit und die damalige Befreiungsbewegung im Rahmen des Klassenkampfes zu erklären. Auch seine Kritik gegen die Muslimbruderschaft basiert darauf, dass durch die Betonung der Religion der Klassenkampf außer Acht blieb. In einem anderen Artikel verteidigte al-Bišrī die Einstellung des arabischen Sozialismus bezüglich des Privateigentums, in dem er die Meinung, die das Recht auf Privateigentum aus islamischer Sicht rechtfertigen wollte, stark kritisierte.⁴³ Davon ausgehend bildete das marxistische Geschichtsverständnis und die Theorie des Klassenkampfes für al-Bišrī den intellektuellen Rahmen, durch den er die Geschichte Ägyptens im 20. Jahrhundert wahrnahm und analysierte. Seine Motivation sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen mag auf seiner Überzeugung vom Marxismus nach nasseristischer bzw. arabisch-sozialistischer Prägung beruhen. Seine kritische Stellungnahme gegenüber der Muslimbruderschaft kann auch aus diesem Kontext heraus verstanden werden.

 al-Bišrī, Ṭāriq. „ʿĀm 1946 fī at-tārīḫ al-miṣrī“. In Aṭ-Ṭalīʿa, Nr. 2, 1965, 51b, 56a.  Nach ihm besitzen 5 % der Ackerlandesbesitzer 34 % der Ackerländer, während 94 % der Ackerlandesbesitzer nur 35 % der Ackerländer im Besitz hatten, vgl. al-Bišrī, 51a.  al-Bišrī, 55a.  ebd.  al-Bišrī, Ṭāriq. „Fī mafhūm al-milkiyya al-ḫaṣa“. In Aṭ-Ṭalīʿa, Nr. 10, 1966, 40a–42a.

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2.2 Der Einfluss des Sechstagekriegs Der Sechstagekrieg war ein Motiv für al-Bišrī, sich selbst intellektuell neu zu orientieren.⁴⁴ Er reflektierte seine Ideen und verfasste daraufhin neue Schriften zur Geschichte Ägyptens im 20. Jahrhundert, die sich auf die Demokratie und ihr Verhältnis einerseits zum Nasserismus und andererseits zum Islam beziehen.⁴⁵ Al-Bišrī übte durchaus Selbstkritik. In seinem Werk al-Ḥaraka as-siyāsiyya fī Miṣr kritisiert er den Diskurs der politischen Elite in den 1960er Jahren, weil diese lediglich den politischen Kampf gegen die Kolonialisierung und auf der anderen Seite und den Klassenkampf ⁴⁶ auf der anderen Seite in den Blick genommen hatte. Ein wichtiger Aspekt blieb dabei außer Acht, nämlich der Konflikt auf der dogmatischen Ebene zwischen fremden Gedanken und eigener Tradition (al-wāfid wa-l-mawrūṯ).⁴⁷ Durch diese Selbstkritik und Revision der eigenen Gedanken gelang es ihm, sich selbst intellektuell neu zu finden, und zwar als dezidiert islamischer Denker. In einem Interview sagte al-Bišrī, dass er die Pilgerfahrt erst verrichtete, nachdem er seine Denkstrukturen und Verhaltensregeln auf islamische Grundlagen umstellte.⁴⁸ Die Natur dieser Wandlung bleibt jedoch umstritten; während Nasīra die Meinung vertritt, dass al-Bišrīs Wandlung einen Übergang vom marxistischen Denkmodell mit Fokus auf den sozialen Konflikt hin zum islamischen Denkmodell mit Fokus auf den dogmatischen Konflikt zwischen der eigenen Tradition und fremden Ideen darstellt,⁴⁹ argumentiert Giordani, dass das Konzept der Tradition bzw. die Dichotomie von der Tradition und den fremden Ideen immer präsent im Bewusstsein von al-Bišrī war, auch in der Zeit, in der er den arabischen Sozialismus verteidigte. Sein marxistischer Hintergrund führte ihn dazu, dass er

 al-Bišrī, u. a. At-Takwīn, 49 – 50.  al-Bišrī, u. a., 50.  Obwohl er sich in mehreren Artikeln, die er in aṭ-Ṭalīʿa in den 60er Jahren schrieb, mit diesen Themen beschäftigte, siehe Abschnitt 2.1.  al-Bišrī, Ṭāriq: al-Ḥaraka as-siyāsiyya fī Miṣr: 1945 – 1953. Kairo: Dār aš-Šurūq, 2002, 46.  Bayūmī, Layla. „Ṭāriq al-Bišr yataḥaṯ ʿan riḥlatihi wa-taḥuwlihi mina al-ʿalmāniyya ilā alislām“. In al-Muḫtār al-islāmī, Februar (1998): 49.  Nasīra bestätigt, dass der Bezugspunkt (ar. marǧʿiyya) al-Bišrīs keine Änderung erlebte, sondern al-Bišrī die Horizonte seines intellektuellen Projekts vom ägyptischen Nationalbewusstsein zum Panislamismus erweiterte.Vgl. Nasīra, Hānī ʿAlī. „ Al-Ḥanīn ilā as-samāʾ: Dirāsa fī at-taḥawūl naḥwa al-itiǧāh al-islāmī fī an-niṣf aṯ-ṯānī min al-qarn al-ʿišrīn“. In Silsilat ad-dirāsāt al-ḥaḍāriyya. Beirut: Markaz al-Ḥaḍāra li-Tanmiyat al-Fikr al-Islāmī, 2010, 290.

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die Tradition im Rahmen des historischen Materialismus als ein kollektives Bewusstsein der Ägypter betrachtete.⁵⁰

2.3 Gemäßigte oder unabhängige islamische Denker? Al-Bišrī war nicht die einzige Person, die eine solche Wandlung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts erlebte. Auch Muḥammad ʿImāra vollzog eine solche Wandlung weg vom Marxismus hin zur Unterstützung der islamischen Ausrichtung von Kultur und Politik.⁵¹ Charakteristisch für diese Gruppe war die Abwendung von Anhängern des arabischen Sozialismus oder Marxismus und ihre Hinwendung zu islamischen Intellektuellen. Das liegt nach Hatina darin, dass diese Gruppe das Konzept der Gleichheit nach dem westlich-sozialistischen Muster aufgegeben hatte, da die soziale Gerechtigkeit ein genuiner Bestandteil des Islam ist. Nur durch den Islam können die Klüfte in der ägyptischen Gesellschaft überbrückt werden. Diese Denker sahen eine Harmonie zwischen dem Islam und der Demokratie auf der einen Seite und dem Sozialismus auf der anderen Seite sowie eine Bereicherung des menschlichen Geistes durch die weltlichen Erfahrungen. Ihre Argumentationsmethode basiere auf rationalen, durch sozio-historische Analyse gewonnenen Einsichten und nicht auf der dogmatischen Exegese der heiligen Texte. Sie stellen, so Hatina, einen dynamischen Islam dar, der sich nicht auf die wortwörtlichen Texte beschränken lässt.⁵² Al-Islamiyyūn al-mustaqilūn, (unabhängige islamische Denker) nannte Muḥammad Ḥāfiẓ Dyāb diese Gruppe. In seinem gleichnamigen Buch rechnet er auch Leute wie Fahmī Huwaidī, Muḥammad Salīm al-ʿAuwā, Aḥmad Kamāl Abū al-Maǧd (1930 – 2019) und Ṭāriq al-Bišrī zu dieser Gruppe.⁵³ Gemeinsamkeiten zwischen diesen Personen sah er darin, dass sie alle aus derselben bestimmten

 Giordani: Al-Mustašār Ṭāriq al-Bišrī. An einer anderen Stelle meinte Giodrani, dass al-Bišrī in dem nasseristischen Projekt einen Ausweg aus der post-kolonialistischen Krise sah. Nach dem Scheitern dieses Projekts war die islamische Scharia für ihn die optimale Lösung. Die Tradition war in seinem Bewusstsein immer präsent und deshalb kann bei dieser intellektuellen Wandlung nicht von einem Bruch geredet werden, sondern von einer Kontinuität bzw. Entwicklung, vgl. Giordani, 18.  Høigilt, Jacob. „Islamist rhetoric: language and culture in contemporary Egypt.“ In Routledge Arabic linguistics series 7. London, New York: Routledge, 2011, 107.  Hatina, Meir. „On the Margins of Consensus: The Call to Separate Religion and State in Modern Egypt“. In Middle Eastern Studies 36, Nr. 1 (Januar 2000): 52.  Dyāb, Muḥammad Ḥāfiẓ: Al-Islāmīyyūn al-mustaqilūn: al-hawiyya wa-s-suʾāl. Kairo: Al-Haiʾa al-miṣriyya al-ʿāma lil-kitāb, 2005, 10.

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Zeitepoche stammen. Auch studierte keiner von ihnen Fiqh oder der Uṣul al-Fiqh aus einer religiösen Perspektive. Seiner Meinung nach neigt die Mehrheit dieser Personen zu demjenigen Kreis von Intellektuellen, die politisch zur Muslimbruderschaft tendieren und deren Gedankengut teilen. ⁵⁴ Über die Neigung zum Gedankengut der Muslimbruderschaft meint Giordani, dass sich diese Gruppe, ebenso wie al-Bišrī von den verschiedenen Stimmen innerhalb des islamischen Diskurses der 1970er und 80er Jahre unterscheide, weil sie sich weniger auf universelle islamisch-moralische Autoritäten stützte, als vielmehr auf die historischen soziokulturellen Erfahrungen der Ägypter. Auch Anfang der 1980er Jahre waren ihre Ziele unverändert, nämlich die Einheit, Unabhängigkeit und Wiederbelebung Ägyptens.⁵⁵ Davon ausgehend bahnte sich diese Gruppe einen Weg, sich von der Muslimbruderschaft zu distanzieren, indem sie den Islam weniger als ein politisches, sondern als ein kulturelles Projekt verstanden. Diese Gruppe von Intellektuellen wird als tayār al-wasaṭ bezeichnet. Der Begriff wasaṭ weist im Arabischen auf die Bedeutung der Mitte oder die gemäßigte Einstellung hin.⁵⁶ Jedoch kommt der Begriff bei den Autoren in Bezug auf das islamische Denken mit verschiedenen Sinngehalten zur Anwendung. In ihrer Studie über al-Bišrī benutzt Angela Giordani den Begriff wasaṭī an einer Stelle als Bezeichnung einer moderaten Form des politischen Islams,⁵⁷ während sie an anderer Stelle das Adjektiv wasaṭī im Sinne einer vermittelnden Stimme zwischen den ägyptischen Islamisten und den säkularen Strömungen verwendet.⁵⁸ Wasaṭī will ausdrücken, dass diese Intellektuellen die Gruppe die Moderaten oder Gemäßigten unter den islamischen Denkern darstellt. Jedoch stellen die Vielfalt und die schnellen Änderungen auf der islamischen intellektuellen Bühne solch eine Unterscheidung in Frage. Noch dazu beanspruchen viele andere Gruppen und Intellektuelle für sich diese Bezeichnung. Ihrer aller gemeinsames Motiv dafür ist die Koranstelle aus Sure 2, Vers 143: „So machten wir euch zu einer Gemeinde, die in der Mitte steht.“⁵⁹ Von den verschiedenen Bezeichnungen für diese Gruppe halte ich al-islāmiyyūn al-mustaqilūn für aussagekräftiger als die anderen. Auf der einen Seite betont al-islāmiyyūn al-mustaqilūn den islamischen Hintergrund dieser In-

 Dyāb, 14.  Giordani: Al-Mustašār Ṭāriq al-Bišrī, 18 – 19.  Anīs, Ibrāhīm u. a. „al-Wasaṭ“. In al- Muʿǧam al-wasīṭ. Kairo: Maǧmaʿ al-luġa al-ʿarabiyya, Maktbat aš-šurūq ad-dawliyya, 2004,1031b.  Giordani: Al-Mustašār Ṭāriq al-Bišrī, 5.  Giordani, 6.  Wa kaḏalika ǧaʿlnakum ummatan wasṭan. Übersetzung nach Hartmut Bobzin und Katharina Bobzin: Der Koran. Neue orientalische Bibliothek. München: Beck, 2010, 25.

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tellektuellen, auf der anderen Seite verweist die Bezeichnung mustaqilūn auf die Unabhängigkeit sowohl von den religiösen Institutionen als auch von islamistischen Bewegungen. Dies nicht nur im organisatorischen, sondern auch im intellektuellen Sinn, und zwar aufgrund ihrer ehemaligen ideologischen Ausrichtung, die ihre Denkweise nach der Wandlung beeinflusste,⁶⁰ und wodurch sie sich von den Motiven der traditionellen Islamisten unterscheiden.⁶¹ Mit dieser Wandlung änderte sich der Fokus des intellektuellen Projekts einiger Vertreter dieser Denkrichtung. Al-Bišrī zum Beispiel stellte die muslimischen-christlichen Beziehungen, die Rechte und den Status der Christen in der ägyptischen Gesellschaft in den Mittelpunkt seines Projekts und trat mit einer Reihe von einschlägigen Veröffentlichungen hervor.⁶²

3 Die Artikelreihe al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa l-ǧamāʿa al-waṭaniyya Diese Artikelreihe besteht aus drei langen Artikeln, die in den aufeinanderfolgenden Nummern 23 bis 25 vom Oktober 2010 in der Zeitung aš-Šurūq unter dem Titel al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa l-ǧamāʿa al-waṭaniyya erschienen. Später formte der Autor diese Reihe zu einem Kapitel in seinem Buch ad-Dawla wa-l-kanīsa. ⁶³ Zur Zeit des Erscheinens der Artikelreihe oder kurz davor gab es mehrere Ereignisse, die die Beziehung zwischen dem ägyptischen Staat und der koptischorthodoxen Kirche in den medialen Brennpunkt rückten, wie die Gerichtsbeschlüsse zur Ehescheidung und Wiederehe von koptischen Ägyptern oder auch der Streit über Landbesitz zwischen einem koptischen Kloster und anderen Bürgern. In der Artikelreihe setzte sich al-Bišrī mit diesen Ereignissen auseinander, indem er auf verschiedene Gerichtsbeschlüsse Bezug nahm, Zeitschriftenberichte, Presseerklärungen und Fernsehauftritte von führenden Personen in der koptisch-

 Das Interesse al-Bišrīs an der Geschichte, das seine Schriften auch nach der Wandlung prägte, könnte von seinem ehemaligen sozialistischen Hintergrund geweckt worden sein, wie bereits in Abschnitt 2.1 dargelegt.  Giordani meinte, dass die Ziele al-Bišrīs Anfang der 80er Jahre, nämlich Einheit, Unabhängigkeit und Wiederbelebung Ägyptens dieselben Ziele sind, die er in den 60er Jahren verfolgte, Giordani: Al-Mustašār Ṭāriq al-Bišrī, 19.  Dazu gehört: Al-Muslimūn Wa-l-Aqbāṭ Fī Iṭār al-Ǧamāʿa al-Waṭaniyya. Dār aš-Šurūq, 1988; AlĞamaʿa al-Waṭaniyya bayna al-ʿuzla wa-l-indimāğ. Kairo: Dār al-Hilāl, 2005; Ad-Daula wa-l-kanīsa, Kairo: Dār aš-Šurūq, 2011.  al-Bišrī: Ad-Daula wa-l-kanīsa, 9 – 36.

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orthodoxen Kirche zitierte und historische Ereignisse schilderte. Im folgenden Teil der Studie wird anhand ausgewählter Beispiele aus der genannten Artikelreihe die Vorstellung vom Verhältnis des ägyptische Nationalstaates zur koptisch-orthodoxen Kirche geklärt.

3.1 Der Fall von ʿĀṭif Kīrulus Im ersten Artikel⁶⁴ behandelt al-Bišrī die Frage der Ehescheidung und Wiederehe von koptischen Geschiedenen anhand von Beschlüssen ägyptischer Gerichte und die Stellungnahme der koptisch-orthodoxen Kirche dazu. Die Ehescheidung und Wiederehe gehören zu den heiklen Fragen, die einen Streitgegenstand zwischen der koptisch-orthodoxen Kirche und dem ägyptischen Gerichtswesen darstellen.⁶⁵

3.1.1 Der gesetzliche Konflikt Ohne zu erklären, warum er diese Artikelreihe (in dieser bestimmten Zeit) verfasste oder aus wie vielen Teilen sie besteht, begann al-Bišrī seine Artikelreihe mit der Schilderung des Falles von ʿĀṭif Kīrulus (gest. 2010). Am 27. April 2002 verkündete das Amtsgericht von Süd-Kairo einen Beschluss, gemäß dem ein koptischer Mann namens ʿĀṭif Kīrulus sich von seiner Frau scheiden lassen durfte, weil sie den ehelichen Wohnsitz für längere Zeiten verlassen hatte und die ehelichen Pflichten nicht erfüllte.⁶⁶ Der Beschluss des Amtsgerichts basierte auf der Verordnung, die al-maǧlis al-milī im Jahre 1938 erlassen hatte. Die Verordnung erlaubte die gesetzmäßige Ehescheidung im Falle der Misshandlung seitens eines der Ehepartner gegen den anderen, solange die Misshandlung zur Abneigung und Trennung für drei aufeinanderfolgende Jahre führt. Zur Zeit als der der Gerichtsbeschluss verkündet wurde, war diese Verordnung noch gültig.⁶⁷ Als Kīrulus die Kirche um Erlaubnis zur Wiederehe bat, lehnte die Kirche dies mit der Begründung ab, dass die Ehescheidung nur im Fall des Ehebruchs möglich ist und dass er in den Augen der Kirche noch verheiratet war. Kīrulus legte

 al-Bišrī, Ṭāriq. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (1)“. In aš-Šurūq al-ǧadīd, 23. Oktober 2010, 13.  Für mehr Details siehe Bernard-Maugiron, Nathalie. Divorce and Remarriage of Orthodox Copts in Egypt, 356– 86, sowie Elsässer, Sebastian. „The Coptic Divorce Struggle in Contemporary Egypt“ In Social Compass 66, Nr. 3, September (2019): 333 – 51.  Bernard-Maugiron, Divorce and Remarriage of Orthodox Copts in Egypt, 364.  al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (1)“, 13.

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beim Verwaltungsgericht eine Revision gegen die Kirche ein. Am 14. März 2006 verkündete dieses Gericht einen Beschluss, der die Kirche dazu verpflichtet, Kīrulus eine Erlaubnis zur Wiederehe zu erteilen. Das Gericht begründete den Beschluss damit, dass die Ablehnung der Kirche, Kīrulus eine Erlaubnis zur Wiederehe zu geben, gegen die Verfassungsregeln, die die individuelle Freiheit und das Recht auf Gründung einer Familie schützen, stößt.⁶⁸ Gegen diesen Beschluss legte die koptisch-orthodoxe Kirche am 3. Mai 2006 Revision beim obersten Verwaltungsgericht ein, die am 1. März 2008 abgelehnt wurde, was die koptisch-orthodoxe Kirche nun dazu verpflichtete, Kīrulus eine Erlaubnis zur Wiederehe zu erteilen.⁶⁹ Obwohl dieser Beschluss rechtskräftig und unwiderruflich ist, lehnte die Kirche seine Umsetzung ab. Bischof Murqus von Šubra äußerte sich damals wie folgt: Folge leistet die Kirche nur der Bibel, die die Ursachen der Ehescheidung bestimmte. […] Die Kirche wird niemals gegen das göttliche Gesetz um eines von Menschen erlassenen Gesetzes Willen verstoßen. […] Die Gesetze der Kirche werden nie von einem Menschen diktiert.⁷⁰

Wenige Tage nach Verkündigung des Gerichtsbeschlusses äußerte sich am 5. März 2008 Patriarch Šinūda III erneut über diesen Beschluss. Mit ähnlichen Worten⁷¹ kommentierte er diese Frage in einem Interview in Oktober 2008 wie folgt: „Die Kirche übt keine Kritik an der Rechtsprechung. Das Gerichtswesen hat aber keine Aufsicht über das Gewissen der Kirche.“⁷²

3.1.2 Stellungnahme der Kirche aus der Sicht al-Bišrīs Nach der Schilderung des Falles beschrieb al-Bišrī den Blick des ägyptischen Staatsrats auf die koptisch-orthodoxe Kirche. Den Prinzipien des Staatsrats zufolge gibt es den folgenden Konsens: „Sowohl die koptisch-orthodoxe Kirche als auch die anderen ägyptischen Kirchen sind öffentliche administrative Behörden, deren Tätigkeit von dem ägyptischen Gerichtswesen beaufsichtigt werden

 al-Bišrī, 13; Vgl. Bernard-Maugiron, Divorce and Remarriage of Orthodox Copts in Egypt, 365.  Bernard-Maugiron, Divorce and Remarriage of Orthodox Copts in Egypt, 365 – 66.  al-Qarnašāwī, Šaymāʾ und Bayūmī, Ayman. „Al-qaḍāʾ yulzim al-bābā Šinūda bistiḫraǧ taṣrīḥ zawāǧ lil-masīḥī al-muṭalaq“. In al-Miṣrī al-yūm, 2. März (2008): 1, übers.v. Vf.  al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (1)“, 13.  Bayūmī, ʿAmr und Ramaḍān, Raǧab. „Al-Bābā Šinūda: tiʾdad al-masīḥiyyin fī miṣr 12 milyūn“. In al-Miṣrī al-yūm, 27. Oktober (2008): 1, übers. v. Vf.

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muss“.⁷³ Darum können die Entscheidungen, die diese Behörden fällen, wie z. B., dass die Kirche eine Erlaubnis zur Wiederehe zu erteilen unterlässt, auch vom Gerichtswesen beaufsichtigt und für rechtsgültig oder rechtsungültig erklärt werden. Das formuliert al-Bišrī wie folgt: „Die Entscheidungen solcher Behörden hinsichtlich des gesetzlichen Status der Individuen sind Verwaltungsverordnungen. Der Staatsrat ist für Rechtsstreite und Berufungen anlässlich solcher Beschlüsse zuständig.“⁷⁴ Mit diesen Worten versucht al-Bišrī, das Fundament für seine Kritik an der Stellungnahme der Kirchenführung zu dieser Frage zu legen. Seiner Meinung nach ist die Kirche ein Teil des administrativen Staatsapparats. Die Beschlüsse solcher Behörden bleiben als ein Gegenstand der gerichtlichen Aufsicht, auch wenn sie sich auf religiöse Angelegenheiten wie Ehescheidung und Wiedereheschließung für Geschiedene beziehen, die die koptisch-orthodoxe Kirche als eine der heiligen Mysterien betrachtet. Deshalb ist die Kirche nicht dazu berechtigt, die Durchführung eines rechtskräftigen und unwiderruflichen Gerichtsbeschlusses abzulehnen, da sie der Gerichtsaufsicht unterliegt. Noch dazu sagt al-Bišrī, dass als die koptisch-orthodoxe Kirche eine Revision bei dem obersten Verwaltungsgericht einlegte, anerkannte, dass das ägyptische Gerichtswesen dafür zuständig ist, über diesen Streitgegenstand Urteil zu geben. Demgemäß sollte die Kirche den Beschluss dieses Gerichts akzeptieren und danach handeln, was sie aber nicht machte.⁷⁵ Als Nächstes versucht al-Bišrī zu erklären, auf welcher Basis das oberste Verwaltungsgericht seinen Beschluss in diesem Fall erließ, nämlich der von dem Kirchengemeinderat der koptischen Christen erlassenen Verordnung vom Jahre 1938.⁷⁶ Als der Patriarch ablehnte, diesen Beschluss umzusetzen, überschritt er die Befugnisse, die ihm gemäß dem Gesetz der koptisch-orthodoxen Christen zustehen. Erst am 2. Juni 2008, drei Monate nach der Verkündigung des rechtskräftigen unwiderruflichen Beschlusses des obersten Verwaltungsgerichts, änderte die koptisch-orthodoxe Kirche die Verordnung von 1938, indem sie nur den Ehebruch als den einzigen Grund zur Ehescheidung vorsah.⁷⁷ Diese Änderung weist so al-Bišrī darauf hin, dass die Kirche diese Verordnung vor diesem Datum, d. h. zu der Zeit, als der das oberste Verwaltungsgericht den Beschluss ver-

 al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (1)“, 13, übers.v. Vf.  ebd.  ebd.  ebd.  „Qarār taʿdīl lāʾiḥat al-aḥwal aš-šaḫṣiyya li-l-aqbāṭ al-urṯūḏuks“. In al-Waqāʾiʿ al-miṣriyya, Nr. 126, 2008.

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kündete, als gültig betrachtete. Diese Änderung kann jedoch keine Rückwirkung auf diesen Beschluss ausüben.⁷⁸ Es ist hier zu erwähnen, dass ʿĀṭif Kīrulus nicht der/die Einzige war, der/die durch dieses Labyrinth von Gerichtsbeschlüssen und Entscheidungen der Kirche für sein/ihr Recht auf Wiederehe kämpfen musste. Nach verschiedenen Quellen, die Bernard-Maugiron zitierte, liegt die Anzahl der betroffenen Personen zwischen 40.000 und 160.000. Diese sind durch Gerichtsbeschlüsse von ihren Ehepartnern geschieden, in den Augen der koptisch-orthodoxen Kirche aber noch verheiratet.⁷⁹ Diese Personen versammelten sich in verschiedenen Gruppen, die auch mehrere mediale Auftritte hatten, z. B. die Gruppe Aqbāṭ 38, die „Die Kopten von 38“, benannt nach der Kirchengemeinderatsverordnung von 1938, die sie zur Wiederehe nach der Scheidung berechtigte.⁸⁰ Trotzdem sieht al-Bišrī den Fall nicht als große Sache an sich an. Wichtig ist dabei seiner Meinung nach, dass die führenden Personen der Kirche diese Frage ausnutzten, um sich gegen die Legitimität des ägyptischen Staates aufzulehnen, und um öffentlich zu demonstrierten, dass sie sich weder an die Gerichtsbeschlüsse noch an die Verordnung des Jahres 1938 vom Kirchengemeinderat halten. All diese Prämissen führen, so al-Bišrī, zu der Schlussfolgerung: die Kirche betrachtet den ägyptischen Staat als eine Entität und sich selbst als eine andere Entität, die den Gesetzen des ägyptischen Staates nicht unterworfen ist.⁸¹ Al-Bišrī kam zu dieser Schlussfolgerung dadurch, dass er den Fall aus einer rechtlichen Perspektive betrachtete. Dabei konzentrierte er sich fast ausschließlich auf die gesetzlichen Details, gerichtlichen Verfahren und diesbezüglichen Äußerungen der Kirchenführung. Er lehnte es ab, jede religiöse Autorität in diesem Zusammenhang als Maßstab zu betrachten, auch wenn sie behaupten würde, auf die heiligen Texte zurückzugehen. Nur das Gesetz, bestehend aus der Verordnung des Kirchengemeinderats von 1938, den Prinzipien des Staatsrats und den Gerichtsbeschlüssen, soll seiner Ansicht nach in diesem Fall gelten. In der Ablehnung dieser verschiedenen Komponenten des Gesetzes seitens der Kirche sah er einen Versuch, sich gegen den Staat aufzulehnen und als selbständige Institution, die dem Gesetz nicht unterliegt, zu fungieren. Er ignorierte, dass bei einem dieser Verfahren die Entscheidung der hayʾat mufawḍī ad-dawla (Gremium

   

al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (1)“, 13. Bernard-Maugiron, Divorce and Remarriage of Orthodox Copts in Egypt, 364– 65. Elsässer, The Coptic Divorce Struggle in Contemporary Egypt, 341. al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (1)“, 13.

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der Staatskommissare) die Stellungnahme der Kirche bestätigte. Das Gremium der Staatskommissare riet dazu, die Revision der Kirche anzunehmen.⁸² Ṭāriq al-Bišrī stellte diese Frage in der Öffentlichkeit zu der Zeit, als die Beziehung zwischen Kirche und Staat als ziemlich friedlich zu bezeichnen war, besonders im Vergleich mit und im Gegensatz zu den stürmischen Jahren in der Zeit von Sadāt.⁸³ Es stellt sich hier die Frage, ob dieser Friede in der Beziehung zwischen Staat und Kirche, der der Kirche mehr Raum und Freiheit beim Umgang mit den rechtlichen Angelegenheiten erlaubte und zwar im Tausch gegen die politische Unterstützung, die die Kirche für das ägyptische Regime damals leistete, das Motiv war, das al-Bišrī dazu brachte, diese Artikelreihe zu veröffentlichen. Eine Frage, die wohl offen bleibt.

3.2 Das menschliche Gesetz und die religiösen Institutionen Al-Bišrī vertrat die Meinung, dass die Bestimmungen des Evangeliums ohne Zweifel im Bereich der rituellen Anbetungshandlungen gelten, jedoch verallgemeinerte die Kirche dies so, dass es nicht mehr erkennbar ist, was die Kirche als rituelle Anbetungshandlungen betrachtet, mit Ausnahme von dem, was durch den Patriarchen bestätigt wird. Das Urteil des Evangeliums, das die Kirche über jeden bestimmten Fall fällt, ist auch bloß das, was sie durch den Patriarchen vorsieht und entscheidet.⁸⁴ Im Zusammenhang des Verhältnisses von dem Gesetz und den Bestimmungen der heiligen Texte versuchte al-Bišrī einen neuen Punkt aufzumachen, nämlich die Stellungnahme derjenigen, die die Anwendung der islamischen Scharia bei der Gesetzgebung fordern, gegenüber den von Menschen erlassenen Gesetzen. Er zog einen Vergleich zwischen ihrer Stellungnahme und der der koptisch-orthodoxen Kirchenführung. Al-Bišrī meint, dass solche Gruppen oder Institutionen den von Menschen erlassenen Gesetzen Folge leisten, auch wenn diese Gesetze nicht im Einklang mit der islamischen Scharia stehen. Al-Bišrī führt al-Azhar als Beispiel dafür an: Falls ein Gerichtsbeschluss gegen al-Azhar verkündet werde, der al-Azhar dazu verpflichte, einem Bauunternehmen einen Geldbetrag mit Zinsen zu bezahlen, so führe al-Azhar diese Beschlüsse aus, obwohl sie im Widerspruch zum Zinsverbot im Koran und zu der islamischen

 Šaymāʾ al-Qarnašāwī. „Al-idāriyya al-ʿuliyya tulzim al-kanīsa bistiḫraǧ taṣrīḥ zawāǧ lilmasīḥī al-muṭalaq, in al-Maṣrī al-Yūm“. In al-Miṣrī al-yūm, 2. März (2008): 5.  Siehe Abschnitte 1.3 und 1.4 in dieser Studie.  al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (1)“, 13.

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Scharia stehen. Weiter sagte er, dass das Ziel solcher Gruppen oder Institutionen nicht darin liegt, die Durchführung der ägyptischen Gesetze und Gerichtsbeschlüsse abzulehnen, sondern darin, die islamische Scharia als Quelle für die Gesetzgebung einzusetzen.⁸⁵ Die Stellungnahme seitens der Kirche, die Durchführung von Gerichtsbeschlüssen abzulehnen, beschreibt al-Bišrīs als „Auflehnung gegen das staatliche Gerichtswesen und Rechtssystem. Hier ist der Staat im Sinne des Nationalstaates gemeint.“⁸⁶ Obwohl beide Fragen, die Wiederehe und das Zinsverbot, auf religiöse Bestimmungen zurückzuführen sind, meinten einige Autoren, dass die Frage der Ehescheidung und Wiederehe nicht mit dem Zinsverbot in der islamischen Scharia gleichzusetzen ist. Die Fragen des Personenstands, also der Heirat, Familie und den Kindern seien, vom Gegenstand her, ganz anders als die finanziellen Fragen.⁸⁷ Wie gesagt hält die koptisch-orthodoxe Kirche die Heirat für eine der heiligen Mysterien. Obwohl al-Bišrī im Fall der Al-Azhar nur von einem hypothetischen Ereignis sprach und kein konkretes Beispiel anführte, wie er das im Fall der Kirche detailliert mit Daten und Gerichtsverfahren tat, zeigt dieser Vergleich, dass al-Bišrī die zwei größten religiösen Institutionen in Ägypten gleichermaßen als Teil des administrativen Staatsapparats betrachtet. Beide Institutionen haben die Freiheit, ihre religiöse Autorität im rituellen Bereich auszuüben. Wenn jedoch in einem bestimmten Fall die religiösen Bestimmungen gegen Gesetz und Gerichtsbeschlüsse verstoßen, dann hätten diese das letzte Wort. Auch bezüglich der islamischen Scharia kritisierte al-Bišrī die Aussagen des Patriarchen Šinūda III über die Möglichkeit, dass eine christliche Person das Amt des Staatspräsidenten übernimmt. Šinūda lehnte die Möglichkeit ab und sagte: „Das ist nicht erlaubt, denn die Mehrheit der ägyptischen Bevölkerung sind Muslime. Es ist nicht erlaubt, dass ein Kopte regiert und die Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert.“⁸⁸ In dieser Aussage, die entweder als Eigenmeinung oder als eine Beschreibung der Realität in der ägyptischen Gesellschaft wahrgenommen werden kann, sah al-Bišrī eine Ähnlichkeit mit dem Diskurs der islamischen religiösen Gruppierungen⁸⁹ bezüglich der Religionszugehörigkeit des Staatspräsidenten. Demnach verstand al-Bišrī, dass der Patriarch die Ab-

 al-Bišrī, 13.  al-Bišrī, 13, übers. v. Vf.  Labīb: Idārat ad-dawla ad-dīniyya bi-qināʾ dawlat al-muwāṭana, 33.  ʿAbd al-Raʾūf, Muḥammad. „Qāla li-š-šarq al-awsaṭ: Kul muškila tuḥal fī iṭārihā. Al-Baṭrayark Šinūda: Lā yaǧūz tawalī qibṭī riʾāsat ad-daula la-anna al-aġlabiyya muslima“.In aš-Šarq al-awsaṭ, 27. Juli (2009): 1, übers. v. Vf.  Vielleicht meinte er damit islamistische Gruppierungen.

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sonderung einer religiösen Gemeinschaft, nämlich die Kopten, von der Nationalgemeinschaft für plausibel halte.⁹⁰ Die Kritik in diesem Fall richtet sich nicht nur an die Kirchenführung, sondern auch gleichermaßen an die traditionellen islamisch-rechtlichen bzw. islamistischen Auffassungen bezüglich der Religionszugehörigkeit des Staatsoberhauptes, die diese auf den Islam beschränken und es ablehnen, dass ein Nicht-Muslim die Herrschaft über die Muslime hat.

3.3 Die Anzahl der Kopten Die Anzahl der Kopten in Ägypten bzw. der Prozentsatz der Kopten unter den Ägyptern bleibt immer im Fokus der Debatten über die Christen in Ägypten. Dazu äußerte sich der Patriarch Šinūda III in einem Interview mit dem privaten Sender ONTV in Oktober 2008 folgendermaßen: Die Kirche kennt die Anzahl der ägyptischen Orthodoxen durch die Besucherlisten, die man als eine interne Volkszählung für jede christliche Kirche betrachtet. […] Die Anzahl unseres Volks können wir erkennen. Die bekanntgegebene Anzahl ist für uns irrelevant.⁹¹

In demselben Interview schätzte der Patriarch die Anzahl der Kopten auf etwa 12 Millionen.⁹² Al-Bišrī setzte sich mit den Aussagen des Patriarchen wiederum aus einer rechtlichen Perspektive auseinander. So verweist al-Bišrī darauf, dass der ägyptische Staat im Jahre 1897 die erste Volkszählung durchgeführt hat. Der Prozentsatz der Christen betrug dabei 6.3 %. In den folgenden Jahren erfolgten weitere Volkszählungen. Der Prozentsatz der Christen schwebte dabei zwischen 6 % und 8 %. In den zwei letzten Volkszählungen (gemeint 1996 und 2006) wiesen die ägyptischen Behörden keine Berichte über den Prozentsatz der Christen aus, ohne Gründe dafür anzugeben.⁹³ Zur Durchführung einer Volkszählung ist ausschließlich die ägyptische Regierungsbehörde al-ǧihāz al-markazī li-t-taʿbiʾa al-ʿāma wa-l-iḥṣāʾ, (die nationale Behörde für öffentliche Mobilisierung und Statistik) zuständig.⁹⁴ Dazu sagt alBišrī:

 al-Bišrī, Ṭāriq. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (2)“ In aš-Šurūq al-ǧadīd, 24. Oktober (2010): 13.  Bayūmī und Ramaḍān. „Al-Bābā Šinūda: tiʾdad al-masīḥiyyin fī miṣr 12 milyūn“, 1, übers. v.Vf.  ebd.  al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (1)“, 13.  ebd.

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Nach dem Gesetz der Mobilisierung und Statistik und der nationalen Behörde für öffentliche Mobilisierung und Statistik können die Statistik und die Volkszählung nur von den öffentlichen Behörden durchgeführt werden, weil diese eine politische Angelegenheit darstellen, die sich auf das ägyptische Volk im Allgemeinen hinsichtlich dessen Tätigkeiten und Umstände beziehen. Das Gesetz sieht eine Bestrafung für diejenigen vor, die eine Volkszählung ohne staatliche Genehmigung durchführen. ⁹⁵

Für wichtig hält al-Bišrī, wie der Patriarch sich über diese Angelegenheit äußerte. Er sprach von „unserem Volk“ und davon, dass die Kirche die Rolle des Staates übernahm, indem sie eine Volkszählung auf Dauer durchführe. Die Behauptung des Patriarchen, dass die vom Staat bekanntgegebene Anzahl der Kopten für ihn irrelevant ist, weist darauf hin, dass er über Möglichkeiten verfügt, Zählungen durchführen, ohne dass die staatlichen Behörden davon Bescheid wissen und dass er die Befugnisse dieser staatlichen Behörden nicht anerkennt.⁹⁶ Die Benutzung des Ausdrucks šaʿbuna (unser Volk, unsere Gemeinde) durch den Patriarchen in dem oben erwähnten Interview ist mehrdeutig. Es ist üblich, den Ausdruck šaʿb al-kanīsa im Sinne von „Kirchengemeinde“ zu benutzen. Jedoch bietet der Kontext des Interviews auch Raum dafür, den Ausdruck unser Volk als ein eigenes und separates Volk, möglicherweise im nichtreligiösen Sinne, i. e. die Kopten, zu verstehen. Für dieses Volk führt die Kirche eine Zählung mit Hilfe von Besucherlisten durch und erkennt die staatliche Statistik nicht an. Jedoch ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass die Besucherlisten bloß Namenlisten derjenigen sind, die eine Kirche regelmäßig besuchen. So kann die Kirche die Abwesenden erkennen und sich nach Gründen ihrer Abwesenheit erkundigen. Dass die Kirche solche Listen als Methoden der Volkszählung benutzt, kann darauf zurückgeführt werden, dass die letzten offiziell anerkannten Angaben über die Anzahl der Christen aus dem Jahre 1986 stammen. Bis zur Zeit der Veröffentlichung der Artikelreihe machte der ägyptische Staat keine weiteren Angaben über die Anzahl der Kopten, wie al-Bišrī betont.⁹⁷

3.4 Nationalgemeinschaft vs. Religionsgemeinschaft In dem zweiten Artikel erklärt al-Bišrī sein Konzept vom Staat als ein Land, auf dem ein Volk lebt, über das eine Regierung Autorität hat. Nach al-Bišrī hat die Kirche einen selbständigen politischen Willen, durch den sie die Rolle des Staates

 al-Bišrī, 13, übers. v. Vf.  ebd.  ebd.

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gegenüber einem Teil der ägyptischen Bürger, nämlich den koptischen Christen, zu übernehmen versucht. Er meint auch, dass die Rede in diesem Zusammenhang nicht von den muslimisch-christlichen Beziehungen ist, sondern von dem ägyptischen Nationalstaat, dessen Autorität über all seine Bürger herrschen solle. Wenn die eine oder die andere Gruppe sich von dem Ganzen absondere, dann gebe es keinen einheitlichen Nationalstaat mehr.⁹⁸ Demgemäß orientiert sich die koptisch-orthodoxe Kirche nach al-Bišrī nicht am Modell einer modernen Nationalgemeinschaftsordnung (niẓām al-ǧamāʿa alwaṭaniyya), sondern am Modell der alten Religionsgemeinschaftsordnung (niẓām al-milla), wobei der/die Anführer jeder Religionsgemeinschaft die jeweilige Religionsgemeinschaft gegenüber dem Staat repräsentiert. Er sagt weiter: „Diese Stellungnahme rekonstruiert die alte Religionsgemeinschaftsordnung und die Religionsgemeinschaftsräte und vermindert die Judikative als eine der drei Staatsgewalten“.⁹⁹ Nach al-Bišrī steht diese Stellungnahme im Widerspruch zum Prinzip der gleichberechtigten Staatsbürgerschaft (al-muwāṭana), das mehrere Generationen von Ägyptern, sowohl Muslime als auch Christen, verteidigt und auf gesetzliche und Scharia-konforme Grundlage zu etablieren versucht haben.¹⁰⁰ Als Beispiel für dieses Verhalten der Kirche schrieb al-Bišrī den größten Teil des 3. Artikels über die Ereignisse des in der mittelägyptischen Provinz Minya gelegenen Abū-Fānā-Klosters.

3.4.1 Die Ereignisse um das Abū-Fānā-Kloster Die Ereignisse begannen laut al-Bišrī, nachdem das Kloster ein nahe gelegenes 2000 Feddan großes Grundstück in Beschlag genommen hatte. Daraufhin brach ein Streit zwischen dem Kloster und einigen Beduinen-Familien in der Gegend aus, die den Besitz dieses Landes, zumindest Teile davon, für sich beanspruchten. Die hinzugerufenen zuständigen Behörden ließen eine Entscheidung offen und schlugen das Besitzrecht keiner der beiden Parteien zu.¹⁰¹ Der Streit eskalierte am 31.05. 2008 zu einem gewaltsamen Gefecht, wobei einer der Beduinen ums Leben kam und sieben Personen verletzt wurden. Drei der

 al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (2)“.  al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (1)“, 13, übers. v. Vf.  al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (2)“, 13.  al-Bišrī, Ṭāriq. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (3)“. In aš-Šurūq al-ǧadīd, 25. Oktober 2010, 13.

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Klostermönche wurden von den Beduinen entführt und später wieder freigelassen.¹⁰² Nach diesen Ereignissen griff der ägyptische Staat ein, und zwar durch verschiedene Behörden. Dazu zählen das Innenministerium, der Kommunalrat, das Landesvermessungs- und Grundbuchamt. Darüber hinaus übernahm die Staatsanwaltschaft die Vermittlungsprozesse. Al-Bišrī erwähnte all diese Behörden namentlich, um zu zeigen, dass jede einzelne Institution sich mit den Ereignissen je nach ihren Zuständigkeiten engagierte. Die Führung der koptisch-orthodoxen Kirche verhielt sich, so al-Bišrī dagegen anders.¹⁰³ Al-Maǧmaʿ al-muqadas, die heilige Synode der koptisch-orthodoxen Kirche gab eine Erklärung ab, mit der sie den Präsidenten der Republik direkt ansprach und von ihm verlangte, die Sicherheit für die Mönche in Abū-Fānā-Kloster zu gewährleisten, die ungerecht verhafteten Mönche freizulassen, die Täter festzunehmen und einen Zaun rund um das Kloster zu bauen sowie Entschädigungen in Höhe von einer Millionen ägyptischen Pfund zu leisten.¹⁰⁴ Aus der Sicht al-Bišrīs besteht das Problem bei den Anliegen der heiligen Synode darin, dass sie diese nicht an die zuständigen Stellen richtetet. So ist für die Freilassung der inhaftierten Mönche die Staatsanwaltschaft zuständig. Gleichermaßen könne kein Zaun um das Kloster gebaut werden, solange das Gericht nicht darüber entschieden habe, wem das Recht auf Eigentum des Landes zusteht, usw.¹⁰⁵ Die heilige Synode entschied sich jedoch dafür, sich mit ihren Anliegen an den Präsidenten des Staates zu wenden, als ob sie „nicht zu den Bürgern des ägyptischen Staates gehören würden, […] und als ob die Synode oder die Kirche eine dem Staat fremde Person darstellen würde. Deshalb spricht sie direkt das Oberhaupt des Staates an, als ob der Kontakt zu den verschiedenen Behörden nur über ihn stattfinden würde.“¹⁰⁶ Später entschied sich der Gouverneur von Minya dafür, die widerrechtlichen Übergriffe seitens des Klosters auf das umliegende Land zu unterbinden, solange bis das Gericht über das Eigentum dieses Landes ein Urteil fällte. Seitdem weigerte sich die Kirche, mit ihm zu-

 Bayūmī, ʿAmr und az-Zahī, Maḥmūd. „Muẓāhara fī muṭraniyyat Mallawī li-l-muṭālaba bimuḥāsabat murtakibi al-ḥādīṯ“ In al-Miṣrī al-yūm, 2. Juni 2008, 5; al-Miniyyawī, Armīnīūs. „Farḍ ḥaẓr at-taǧawul ḫawla dīr al-Anbā Abū Fānā bi-Mallawī“. In al-Yūm as-sābiʿ, 1. Juni 2008, https:// www.youm7.com/story/2008/6/1/‫ﺑﻤﻠﻮﻯ‬-‫ﻓﺎﻧﺎ‬-‫ﺃﺑﻮ‬-‫ﺍﻷﻧﺒﺎ‬-‫ﺩﻳﺮ‬-‫ﺣﻮﻝ‬-‫ﺍﻟﺘﺠﻮﻝ‬-‫ﺣﻈﺮ‬-‫ﻓﺮﺽ‬/25409, Zugriff am 20.08. 2020.  al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (3)“, 13.  Fahmy, Viola. „Bayān kanasī yuṯīr intiqāḍāt baina al-awsāṭ al-qibṭiyya“. In Ğaridat al-Māl, 16. Juni 2008, https://almalnews.com/‫ﺍﻝ‬-‫ﺍﻷﻭﺳﺎﻁ‬-‫ﺑﻴﻦ‬-‫ﺍﻧﺘﻘﺎﺩﺍﺕ‬-‫ﻳﺜﻴﺮ‬-‫ﮔﻨﺴﻲ‬-‫ﺑﻴﺎﻥ‬, Zugriff am 09.09. 2020.  al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (3)“, 13.  al-Bišrī, 13, übers. v. Vf.

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sammenzuarbeiten. Das betrachtete al-Bišrī als Ablehnung des lokalen Vertreters des Staates.¹⁰⁷ Durch diesen Teil seiner Reihe versuchte al-Bišrī, Argumente für seine Behauptungen gegen die Führung der koptisch-orthodoxen Kirche vorzubringen, und zu belegen, dass sie die Religionsgemeinschaftsordnung wiederbeleben wollte und sich als die einzige Vertreterin koptischen Christen im Staat ansah. Deshalb sprachen sie nicht die zuständigen Stellen an, sondern den Präsidenten des Staates. Al-Bišrī zitiert in diesem Zusammenhang ausführlich die Presse, jedoch ignorierte er jene Zeitungsnachrichten, in denen erwähnt wurde, dass die Erzdiözese von Mallawī¹⁰⁸ eine Anklage beim Generalstaatsanwalt erhob, weil die Staatsanwaltschaft keine Gegenüberstellung zwischen den Tätern und Geschädigten vornahm.¹⁰⁹ Das bedeutet, dass die Kirche ebenfalls die Autorität des Staates und deren Organe in diesem Fall anerkennt und damit zusammenarbeitet. Dass die Führung der Kirche eine Erklärung gerichtet an den Staatspräsidenten abgab, weist nicht unbedingt darauf hin, dass sie sich als die einzige Vertreterin der orthodoxen Kopten in Ägypten betrachtet, sondern kann als Hilferuf verstanden werden, da im Zuge der Ereignisse Mönche entführt wurden und es zur Anwendung von Schusswaffen kam. Meines Erachtens war der Umgang der Kirchenführung mit den Staatsorganen in diesem Fall ganz anders als im Vergleich zu ihrem Umgang im Fall von ʿĀṭif Kīrulus und der Wiederehe, wo sie die Umsetzung von Rechtsbeschlüssen ablehnte. Der Grund für diesen Unterschied kann daran liegen, dass es beim Abū-Fānā-Kloster nicht um eine theologische Angelegenheit ging, anders als beim Fall der Wiederehe von Geschiedenen, die nach der Meinung der Kirche gegen die Bibel verstoße.

3.5 Schlusswort al-Bišrīs In seiner Artikelreihe spricht al-Bišrī „die Gesamtheit der Ägypter, Muslime und Kopten“¹¹⁰ an. Er wollte die Themen seiner Reihe unter dem Schirm der Nationalgemeinschaft zur Diskussion stellen, da nur diese Nationalgemeinschaftsordnung den Zusammenhalt aller Ägypter garantiere. Den Staat sieht er als die Institution an, die diese Nationalgemeinschaft repräsentiere. Um für jedes Pro-

 ebd.  Eine Stadt in der Provinz Minya, in dessen Landkreis das Abū-Fānā-Kloster liegt.  Nāfīʿ, Saʿīd und Kamāl, Tirīza. „Muṭraniyyat Mallawī tuqadim taẓaluman ilā an-nāʾib al-ʿām bi-sabab ʿadam ʿarḍ al-ǧunat ʿalā ḍaḥaiyya Abū-Fānā“. In al-Miṣrī al-yūm, 14. Juni 2008, 3.  al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (3)“, 13, übers. v. Vf.

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blem, von dem diese Nationalgemeinschaft herausgefordert würde, eine sachliche und faire Lösung zu finden, müsse die Gemeinschaft sich diesen Problemen stellen und sie nicht ignorieren.¹¹¹ Al-Bišrī bezweckte mit seiner Artikelreihe in eigenen Worten Defizite der Nationalgemeinschaftsordnung zu ergänzen, Lücken zu schließen und die Korruption zu bekämpfen. Ihm war daran gelegen, die Institutionen des ägyptischen Staates von individualistischen Souveränitätsansprüchen und ungültigen Ordnungen zu befreien, wobei er sich offenkundig auf die Religionsgemeinschaftsordnung bezieht. Er erklärt weiter, dass die Aussagen der Führung der koptischorthodoxen Kirche in der „letzten Zeit“, womit er die Zeit während der Entstehung seiner Reihe meint, darauf hinweisen, dass man in der Führung dem ägyptischen Gesetz und Gerichtswesen sich nur dann unterworfen fühlt, solange Gesetze und Gerichte mit dem christlichen Selbstverständnis der Kirche übereinstimmen. Das aber schließt eine Gruppe von Ägyptern von der ägyptischen Nationalgemeinschaft aus, und führt dazu, die alte Religionsgemeinschaftsordnung wieder ins Leben zu rufen.¹¹² Diese Aussagen und das Verhalten der Kirche und die Erwähnung der islamischen Scharia als Rechtfertigung dafür¹¹³, gehen, so al-Bišrī, über die Grenze des Konzepts von der gleichberechtigten Bürgerschaft hinaus. Er betonte mehrmals in der Artikelreihe, dass er und mehrere Generationen vor ihm das Konzept der gleichberechtigten Bürgerschaft auf theoretischer und religiöser Basis zu gründen versucht hatten, damit diese wiederum Basis für das Zusammenleben der Ägypter sein kann. Al-Bišrī und andere Denker unternahmen Versuche, dem Konzept der Nationalgemeinschaftsordnung und der Gleichberechtigung Raum innerhalb des islamischen Rechts zu geben.¹¹⁴ Wie bereits erwähnt, begann al-Bišrī im ersten Artikel dieser Reihe direkt mit dem Fall von ʿĀṭif Kīrulus, ohne den Lesern irgendwelche Vorstellungen zu vermitteln, was sie von dieser Reihe zu erwarten hätten. In seinem Schlusswort, das einen kleinen Teil des 3. Artikels einnimmt,¹¹⁵ wendet er sich an seine Leserschaft und erklärt, dass sich seine Artikelreihe nicht nur an die koptischen Christen richtet, sondern auch an die Muslime als Mitglieder der Nationalgemeinschaft in Ägypten. Es kann sein, dass al-Bišrī damit Vorwürfe vermeiden wollte, dass diese Artikelreihe als Angriff gegen die koptischen Christen oder das Christentum verstanden wird. In diesem Teil wird ein milder Ton angeschlagen, anders als der     

ebd. ebd. Siehe Abschnitt 3.2 über die Religionszugehörigkeit des Staatspräsidenten. al-Bišrī. „Al-Idāra al-kanasiyya baina niẓām al-milla wa-l-ǧamāʿa al-waṭaniyya (3)“, 13. Der dritte Artikel ist halb so umfangreich wie die ersten beiden Artikel.

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scharfe Ton in den kritischen Teilen zu den verschiedenen Aussagen und Handlungen der Kirchenführung in dem letzten Jahrzehnt (in Bezug auf das Erscheinungsdatum der Artikelreihe). Al-Bišrī erklärt hier seine Ziele und betont einmal mehr seine Bemühungen, gemeinsam mit anderen islamischen Denkern, die Prinzipien des Nationalstaats, der nationalen Gemeinschaftsordnung und einer gleichberechtigten Bürgerschaft zu etablieren. Diese Bemühungen gefährde der Patriarch, indem er auf die traditionelle Interpretation der islamischen Scharia mit islamistischer Prägung zurückgreift. Hier zeigt al-Bišrī, dass er und andere aus dem Kreis unabhängiger islamischen Denker weder mit den traditionellen islamischen Konzepten noch mit den islamistischen Konzepten bezüglich der religiösen Minderheiten einverstanden sind und dass sie sich gegen die Anhänger solcher Konzepte stellen, seien sie Muslime oder Christen.

Fazit Die intellektuellen Wandlungen, die al-Bišrī und andere Denker aus demselben Milieu erlebten, bieten eine Antwort auf die Frage, warum al-Bišrī sich für das Verhältnis von Staat und Kirche in einem Land mit einer muslimischen Mehrheit wie Ägypten interessiert. Die nationale Befreiung und die Gründung des Nationalstaates waren die ersten Bausteine für den intellektuellen Werdegang al-Bišrīs. Sie prägen sein damaliges intellektuelles Projekt, wie es in seinen Artikeln in aṭṬalīʿa aus den 1960er Jahren erkennbar ist.¹¹⁶ Mit seiner Wandlung von einem Unterstützer des arabischen Sozialismus zu einem islamischen Denker erlebte parallel dazu auch sein intellektuelles Projekt eine Wandlung. Der Fokus seiner Ausführungen liegt auf der Entwicklung eines von der Kolonialisierung unabhängigen Nationalstaates hin zu einer lebendigen Nationalgemeinschaft, die in diesem Nationalstaat lebt und blüht. Die Nationalgemeinschaftsordnung nach alBišrī umfasst alle Ägypter, Muslime und Christen und basiert auf bestimmten progressiven Prinzipien wie der gleichberechtigten Staatsbürgerschaft und der Rechtstaatlichkeit. Jeden Versuch, gegen diese Prinzipien zu verstoßen, egal ob von muslimischer oder christlicher Seite, betrachtete er als Absonderung eines Teils der Nationalgemeinschaft, die zur Wiederbelebung der alten Religionsgemeinschaftsordnung führen würde. Dass al-Bišrī einen Vergleich zwischen der Nationalstaats- und Religionsgemeinschaftsordnung zog, kann auch durch seinen marxistischen Hintergrund erklärt werden. Obwohl die Religionsgemein-

 Siehe Abschnitt 2.1. in dieser Studie.

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schaftsordnung eigentlich ein Relikt aus der Vergangenheit darstellt, ist es ihm bewusst, dass diese Ordnung in die heutige Zeit zurückkehren kann. Die Auswahl der Fälle, die al-Bišrī in der Artikelreihe erörtert, kann durch seinen juristischen Hintergrund erklärt werden, weil sie mehr oder weniger mit Gesetzen und Gerichtsverfahren zu tun haben. So zielt seine Kritik auf die juridische Bedeutung der Aussagen und Handlungen der Kirchenführung. Eine Auseinandersetzung mit den religiösen bzw. theologischen Seiten der Fälle meidet er. So stellte er keine Frage nach den Bestimmungen der Bibel bezüglich der Ehescheidung und Wiederehe, sondern beschränkt sich auf die juristischen Seiten und fordert die Kirchenführung auf, das Gesetz, die Gerichtsbeschlüsse und die vom Kirchengemeinderat erlassenen Verordnung zu respektieren und demgemäß zu handeln. Auch seine Wortauswahl in Bezug auf den Titel al-idāra alkanasiyya, also die Kirchenführung oder die kirchliche Verwaltung, weist darauf hin, dass er die Kirche als eine Institution ansieht, die ein hohes Ansehen unter den Ägyptern im Allgemeinen und bei den Christen im Besondern genießt. Ebenso würdigt al-Bišrī die wichtige Rolle, die die Kirche bei der nationalen Befreiung spielte. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass obwohl al-Bišrī für jeden Fall mehrere Quellen aus Presse und Fernsehauftritten usw. zitiert, ignoriert er andere Quellen, die mehr oder weniger nicht in Einklang mit seiner Sicht auf die Ereignisse stehen.¹¹⁷ Trotzdem bietet al-Bišrī eine Vorstellung vom Verhältnis zwischen Staat und den religiösen Institutionen, die mit Vorsicht als progressiv zu bezeichnen wäre. Sowohl die muslimischen als auch die christlichen Institutionen betrachtet er als einen Teil des administrativen Staatsapparats. Diese Institutionen unterliegen dem Staatsgesetz und den Gerichtsbeschlüssen und dürfen die Bestimmungen ihrer eignen Religion nur im rituellen Bereich als Maßstab betrachten. Darum dürfen diese Institutionen sich nicht gegen das Gesetz oder die Gerichtsbeschlüsse auflehnen, weil diese gegen die Bestimmungen der heiligen Texte verstoßen. Diese Vorstellung erlaubt diesen Institutionen auch nicht zu bestimmen, was zum rituellen Bereich gehört und was nicht, da auch dies durch das staatliche Gesetz bestimmt wird. Die Intention dahinter ist, die Nationalgemeinschafts- und Nationalstaatsordnung aufrechtzuhalten, in der alle Bürger gleich vor dem Gesetz stehen und sich keiner das Recht herausnehmen kann, die Ausführung der Gesetze oder der Gerichtsbeschlüsse zu ignorieren. Es gibt keine Legitimation für eigens interpretierte heilige Texte, sich gegen oder über das Gesetz zu stellen. Diese Vorstellung lehnt es auch ab, dass eine religiöse Institution sich als die einzige Vertreterin der Anhänger der jeweiligen Religion

 Siehe z. B. Abschnitte 3.1.2. und 3.4.1. in dieser Studie.

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gegenüber dem Staat betrachtet, und dass sie die Befugnisse des Staates, wie Volkszählungen übernimmt, oder dass sie die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden ablehnt. In der Nationalgemeinschaftsordnung werden die Rechte der Menschen besser geschützt als unter der Herrschaft eines theokratischen Regimes oder unter einer Religionsgemeinschaftsordnung, die die Autorität in die Hände einer Elite legt, die ohne Aufsicht über die Angelegenheiten ihrer Anhänger entscheidet. Die Rechtsstaatlichkeit und die gleichberechtigte Bürgerschaft garantieren, dass jeder Bürger dieselben Rechte und Pflichten hat, abgesehen von seiner religiösen Zugehörigkeit. Dadurch kann das Konzept der Nationalgemeinschaftsordnung auch als ein Beitrag zur Garantie der Menschenrechte, besonders der religiösen Minderheiten, gelten. Während einige Autoren die Meinung vertreten, dass al-Bišrī in seiner Kritik der Kirche von einer islamistischen Perspektive ausgeht,¹¹⁸ ist der Verfasser der Ansicht, dass sich al-Bišrī in seiner Artikelreihe nicht nur von dem traditionellen islamisch-rechtlichen Verständnis der Beziehung zwischen Muslimen und Christen und der Staatsform distanziert, sondern auch von Vorstellungen islamistischer Bewegungen. Er spricht von der Nationalgemeinschaftsordnung und gleichberechtigter Staatsbürgerschaft, nicht jedoch vom ḏimma-Status oder Kalifat, sondern vom Nationalstaat. Die Aussage des Patriarchen, dass es einem Kopten nicht erlaubt ist, Staatspräsident in Ägypten zu werden, lehnt er ab und bezeichnet eine solche Stellungnahem als identisch mit der Haltung islamistischer Gruppierungen. Er spricht von Rechtsstaatlichkeit und davon, wie das Gesetz das letzte Wort haben muss, auch wenn es gegen die Bestimmungen der heiligen Texte, sowohl der Muslime als auch der Nichtmuslime, verstößt. Diese Meinungen vertritt al-Bišrī in dieser Artikelreihe als ein Jurist, Historiker und islamischer Denker, der mehrere Wandlungen in seinem intellektuellen Leben vollzogen hat, die nicht ohne Einfluss auf sein intellektuelles Projekt blieben, so dass es zu einem Maße einzigartig wurde und sich von den traditionellen und islamistischen Auffassungen deutlich unterschied. In seiner Artikelreihe bringt al-Bišrī mehrmals seine Befürchtung zum Ausdruck, dass die Handlungen und Aussagen der Kirchenführung die Nationalgemeinschaftsordnung gefährden könnten. Das würde auch seine Bemühungen sowie die von anderen progressiven islamischen Denkern, die für gleichberechtigte Staatsbürgerschaft einstehen, gefährden, nachdem sie für ihre Konzepte einen Raum im Rahmen des islamischen Denkens und des islamischen Rechts erstritten.

 Vgl. Sūlaimān, „Man al-Masʾūl fiʿlan ʿan qīām niẓām al-milla al-masīḥī?“, 13.

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Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011) Einleitung Nach den Revolutionen kamen in einer Reihe von arabischen Ländern neue Regierungen mit islamischen Orientierungen an die Macht. In Ägypten spaltete sich die Bevölkerung in zwei Teile. Auf einer Seite wollte ein Teil der Bevölkerung das moderne europäische Modell des demokratischen Staatsaufbaus übernehmen und durchsetzen. Nach ihrer Auffassung sollte die Trennung von Religion und Politik stattfinden, damit sich das Land weiterentwickeln kann. Die Anhänger dieses Bevölkerungsteils riefen zur Säkularisierung und Liberalisierung des Landes auf. Sie argumentierten damit, dass die bestehenden religiösen Gesetze nicht zur Moderne passen, weil sie die persönlichen Freiheiten beschränken und die Menschenrechte missachten. Wegen der Religion könnten die gesellschaftlichen Umwandlungen nicht stattfinden. Dafür werden Beispiele angeführt, unter anderem, dass die Herrschaft der Kirche im Mittelalter die Entwicklung Europas bremste und Europa sich erst nach der Befreiung aus der Herrschaft der Kirche weiterentwickeln konnte. Aus diesen Gründen würde ein islamisches Land die Minderheiten unterdrücken und ihre zivilrechtlichen Normen nicht vollständig anerkennen. Auf der anderen Seite vertritt ein Teil der Bevölkerung die Meinung, dass nur der Islam das Land retten und weiterentwickeln kann. Sie sprechen über die Toleranz des Islams gegenüber den Nichtmuslimen, weil der Islam die Rechte der Nichtmuslime voll anerkannte und sie mit den islamischen Rechten gleichstellte. Sie geben ihrerseits viele Belege aus dem Koran und den Hadithen und bestätigen sie mit praktischen Beispielen der Behandlung von Nichtmuslimen als Minderheit unter den islamischen Herrschern der damaligen Zeit. Es wird durch die Elemente des Zivilrechts mit den Gesetzen der islamischen Scharia wie folgt ein Vergleich angestellt: – Die soziale Stellung: das heißt der Zugang zu höheren öffentlichen Ämtern sowie die soziale Differenzierung zwischen den Christen und den Muslimen. – Die finanziellen Abgaben: beinhaltet den Tribut und die Steuer. – Öffentliche Ausübung der Religion: das enthält den Bau der Kirchen und alle christlichen Zeremonien. – Die religiösen Gesetze der Christen: betrachtet das Familienrecht wie die Heirat, die Scheidung, das Erbsystem usw. https://doi.org/10.1515/9783110588590-020

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Die Ausbildung.

1 Wer sind die Christen Die Christen, arab. ‫ ﻣﺴﻴﺤﻴﻮﻥ‬masīḥīyūn, sind Anhänger von Jesus, der als Christus bezeichnet wurde. Christus war ein hebräischer Titel, hebr. mašíaḥ für eine Person, die durch Ölsalbung beauftragt wurde.¹ Das Wort Christus, arab. ‫ ﻣﺴﻴﺢ‬masīḥ, wird im Koran elf Mal als Beschreibung für Jesus genannt.² Das arabische Wort stammt aus dem Verb ‫ ﻣﺴﺢ‬masaḥa, es bedeutet „reiben“.³ Aber das Wort „Christen“ wird weder im Koran noch in den Hadithen des Propheten Mohammed erwähnt. Die Christen werden im Koran und in den Hadithen des Propheten Mohammed naṣārā arab. ‫ ﻧﺼﺎﺭﻯ‬genannt (vgl. Sure 2, 62). Die Christen werden im Koran und den Hadithen auch unter dem Begriff „Leute der Schrift“ genannt (vgl. Sure 3, 64). Auch wurden die Priester und Mönche im Koran unter naṣārā erwähnt (vgl. Sure 5, 82). Die Christen in Ägypten werden als Kopten bezeichnet. Das Wort „Kopten“ kommt mehrere Male in den Hadithen des Propheten als eine allgemeine Bezeichnung für die Ägypter vor. Das Wort „Kopte“ stammt aus der alten ägyptischen Sprache. Es meint ursprünglich Ägypter, ohne Religion oder ähnliches zu bezeichnen und entwickelte sich in der griechischen Sprache weiter. Dann wurde es in alle Sprachen als das Wort für Ägypter übertragen. Aber da die Religion in Ägypten vor der islamischen Eroberung das Christentum war, hat dieses Wort heutzutage einen religiösen Bezug. Daher wird das Wort Kopten nur für die Christen aus Ägypten benutzt. Raġib as-Serǧanī und Saīyda Ismāʿīl Kāšif (gest. 2018) sind der Ansicht, dass die Verwendung des Wortes Kopten für die Christen ein politisches Zeichen sei, das nur die Christen Ägypter und die Muslime Kolonialisten und keine Ägypter seien.⁴

 Pokorny, Petr. „Jesus als Christus“. In Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hg.v. Don S. Browning u. a., Tübingen: Mohr Siebeck Verlag, Bd. 4., 42001, 467.  Fūʾ ād ʿAbd-l-bāqī, Muḥammad: al-Muʿǧam al-mufahras li alfāẓ al-qurʾān al-karīm. Kairo: Dar al-kutub al-miṣrīya Verlag, 1945, 666.Vgl. Sure 3,Vers 45 & Sure 4,Verse 157, 171, 172 & Sure 5,Verse 17, 72, 75 & Sure 9, Verse 30, 31.  Ibn Manẓūr, Muḥammad: Lisānu al-ʿarab, Bde. 5, 13, 14. Beirut: at-Tārīḫ al-ʾarabī Verlag, 31993, 98 – 101.  Ismāʿīl Kāšif, Saīyda: Miṣr al-islāmīa wa ahl aḏ-ḏimma, Kairo: al-Hayʾa al-miṣrīya al-ʿāma lilkitāb Verlag, 1993, 28. & as-Sirǧānī, Rāġib: Mustaqbal an-naṣārā fi ad-dawla al-islāmīya, Kairo: Dar al-kutub al-miṣrīya Verlag, 2011, 117– 118.

Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

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2 Das moderne Ägypten Historiker sind geteilter Meinung, ab wann genau von einem „modernen Ägypten“ zu sprechen ist. Einige verbinden das moderne Ägypten mit dem französischen Kolonialismus ab dem Jahr 1798, da die Franzosen die westlichen Wissenschaften und Künste mitbrachten, was den ägyptischen Fortschritt beeinflusste. Die meisten Historiker finden, dass das moderne Ägypten unter Muḥammad ʿAlī Bāšā (reg. 1805 – 1849) ab dem Jahr 1805 mit der Unabhängigkeit von der osmanischen Herrschaft beginnt. Zu dieser Zeit entstand der Nationalismus, und die Errichtung moderner Institutionen. Besonderes Augenmerk galt dem Ausbau der ägyptischen Armee und der Lehrinstitutionen.⁵ Daher kann man diese lange Epoche in zwei Abschnitte unterteilen: die erstarkende Orientierung am Nationalismus und die Republik selbst.

2.1 Die Orientierung am Nationalismus Der in der Religionsfrage als tolerant geltende Muḥammad ʿAlī Bāšā gewährte Freiheit. Noch im Jahre l8l7 wurden die alten Vorschriften bezüglich des gestatteten Besitzes von Waffen und der Benutzung von Pferden als Reittiere für Christen und Griechen neu bekräftigt.⁶ Muḥammad ʿAlī Bāšā hatte niemals einen Antrag zum Bau einer Kirche abgelehnt.⁷ Die Christen durften unter Muḥammad ʿAlī erstmals ihre Kirchenglocken laut läuten lassen und das Kreuz öffentlich tragen.⁸ In einem Land, das nach Fortschritt und Entwicklung strebte, beschäftigte sich Muḥammad ʿAlī Bāšā damit, eine rein ägyptische Armee aufzubauen. Die Christen spielten ihre gewöhnliche Rolle bei der Verwaltung der finanziellen Angelegenheiten des Landes. Ein Großteil war im Finanzministerium beschäftigt. Ihre Rolle und Stellung unter Muḥammad ʿAlī Bāšā war von großer Bedeutung, da viele große ökonomische Konzeptionen umgesetzt werden sollten und qualifi-

 al-Bišrī, Ṭā riq: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ fi ʾiṭār al-ǧamāʿa al-waṭanīya. Kairo: al-Hayʾa al-miṣ riȳ a al-ʿāma lil-Kitā b Verlag, 1980, 13.  Behrens-Abouseif, Doris: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1923. Freiburg im Breisgau: Klaus Schwarz Verlag, 1972, 15 – 16.  Ibrahim, Vivian: The Copts of Egypt. The challenges of modernization and identity. London: Tauris Acad. Studies, 2011, 13.  Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 7. & Ibrahim: The Copts of Egypt, 2011, 15.

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zierte, verlässliche Mitarbeiter notwendig waren.⁹ Die Historiker stellen keine großen Unterschiede hinsichtlich der Lebensweise fest. Alle hatten die gleichen Sitten und Traditionen, so trugen beispielsweise sowohl die christlichen als auch die muslimischen Frauen den Schleier.¹⁰ Jedoch absolvierten die Christen nicht den gleichen Wehrdienst wie die Muslime, obwohl die Armee aus den Ägyptern rekrutiert wurde. Muḥammad ʿAlī unterschied nicht zwischen Militär- und Zivildienst. Es ist anzumerken, dass die ägyptischen Christen auch keinen Anteil an den wissenschaftlichen Gesandtschaften nach Europa hatten, die Kapazitäten von bis zu 500 Personen erreichten. Es lässt sich nur ein ägyptischer Christ anführen, und zwar Dr. Ibrāhīm al-Subkī, der als Beamter arbeitete und im Jahr 1845 nach Frankreich zog. Es wurde argumentiert, dass die ägyptischen Christen nicht in diese wissenschaftlichen Gesandtschaften gewählt wurden, da die Christen für die Regierung und Verwaltung des Landes arbeiteten, was keiner westlichen Erfahrung bedurfte. Dies würde erklären, warum Muḥammad ʿAlī die Christen von diesen wissenschaftlichen Gesandtschaften mit Absicht ausschloss. Auch waren die meisten derjenigen, die in diesen wissenschaftlichen Gesandtschaften arbeiteten, Türken.¹¹ Auch unter Muḥammad Saʿīd Bāšā (reg. 1854– 1863) und Ismāʿīl Paša (reg. 1863 – 1879) studierten auf Kosten des Staates nur vier Kopten im Ausland.¹² Im Zuge dieser Entwicklung des Landes wurden auch juristische Prozesse, sowie zivile und finanzielle Vorgänge, Strafen und die Regeln des Rechts neu organisiert. Es wurden Gerichtsgebäude errichtet, um diese neuen Organisationen und Regelungen für das ganze Volk umzusetzen. Unter Vizekönig Ismāʿīl Paša wurden viele Christen als Richter in diesen Gerichtsgebäuden eingesetzt.¹³ Muḥammad ʿAlī hatte zwar die Oberherrschaft über Ägypten, aber es gab einen Senat, der ihm bei der Herrschaft helfen sollte. In diesem Senat gab es jedoch keine Christen. Erst ab der Zeit von Ismāʿīl Paša waren die Christen im Parlament vertreten. In der ersten Abgeordnetenkammer im Jahr 1866 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass jeder Ägypter über 25 Jahre für die Abgeordnetenkammer kandi-

 Šafīq, Sulaymān: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān al-kanasī wa al-waṭanī. Kairo: Dar al-amīn Verlag, 1996, 39. & al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 9 – 10. & Tamcke, Martin: Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck, 2008, 128. & BehrensAbouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 9 – 10.  Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 12– 13. & al-Bišrī: alMuslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 20 – 23. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 40.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 20 – 23. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 40.  Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 35.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 29 – 31.

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dieren kann, unter der Bedingung, dass er treu und ehrlich und in Ägypten geboren sein muss. So sprach das Gesetz alle Ägypter, sowohl Christen als auch Muslime an, die in Ägypten geboren waren.¹⁴ Zwischen 1866 und 1869 wurden zwei Christen von 75 Abgeordneten in die Abgeordnetenkammer gewählt. Im Jahr 1881 waren es vier Christen von 80 Abgeordneten.¹⁵ Nach der britischen Besetzung Ägyptens in den Jahren von 1883 bis 1890 wurden fünf Christen im Parlament eingesetzt.¹⁶ Saīyda Ismāʿīl Kāšif erklärt auch, dass im modernen Ägypten unter Muḥammad ʿAlī Bāšā die Christen noch die ǧizya bezahlten. Hier ist jedoch anzumerken, dass sie sehr gering und auf dem Weg der Abschaffung war. Die Zakat wurde von den Muslimen auch nicht mehr staatlich eingetrieben.¹⁷ Das gesamte Aufkommen der ǧizya in der Regierungszeit Muḥammad ʿAlī Bāšā scheint eine verhältnismäßig geringe Belastung gewesen zu sein, denn die ǧizya betrug im Jahr 1832 sechstausend ägyptische Pfund, während das Gesamteinkommen des christlichen Bevölkerungsteils auf 60.000 ägyptische Pfund geschätzt wurde.¹⁸ Als Folge der starken Orientierung am Nationalismus wurde die ǧizya offiziell im Jahr 1855 unter Muḥammad Saʿīd Bāšā abgeschafft, wodurch Christen in die ägyptische Armee rekrutiert werden konnten. Nach und nach wurden Christen auch von allen anderen religiösen Abgaben befreit.¹⁹ Im Jahr 1856 wurden die Christen dazu verpflichtet, den Wehrdienst wie die Muslime zu verrichten.²⁰ Das Gesetz des Militärdienstes in den Regeln Nummer 28 und 31 erläutert, dass jeder Ägypter Wehrdienst verrichten muss, ungeachtet seiner Religion und seiner Lage. Die Christen und die Muslime waren auch gleichgestellt hinsichtlich der Befreiung von der Wehrpflicht. Damit wurde die letzte religiöse Differenzierung zwischen den Christen und den Muslimen abgeschafft.²¹

 ebd., 31. & Tamcke: Christen in der islamischen Welt, 2008, 128.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 31– 33. & Šafīq al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 40.  Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 40. & Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 25: „Aus den Listen der Abgeordneten sich lassen mindestens 3 von insgesamt 75 Namen mit Sicherheit als koptisch identifizieren“.  ebd., 87– 88.  Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 6.  Ibrahim: The Copts of Egypt, 2011, 20. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 87– 88. & Hage, Wolfgang: Das orientalische Christentum. Stuttgart: W. Kohlhammer, 2007, 185 – 186.  Tamcke: Christen in der islamischen Welt, 2008, 128. & Ibrahim: The Copts of Egypt, 2011, 20. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 40. & al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 29 – 31.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 29 – 31. & Tamcke: Christen in der islamischen Welt, 2008, 128.

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Ahmed Ishaq Amer

Viele Christen wurden mit wissenschaftlichen Gesandtschaften nach Europa geschickt, was ihnen die Arbeit als Lehrer, Dozenten und Professoren in allen Fachbereichen ermöglichte. Im Jahr 1889 begannen die Christen, in islamischen Stiftungsschulen zu studieren.²² Auf der anderen Seite besuchten die Christen staatliche Schulen, in denen Sprachen sowie neue wissenschaftliche und pädagogische Bereiche gelehrt wurden. Vizekönig Ismāʿīl Paša befahl, dass die Absolventen eine Arbeit, Land, welches 1000 Feddan²³ umfasste und eine jährliche Abgabe von 2000 ägyptischen Pfund erhielten.²⁴ Viele Christen studierten auch an der al-Azhar-Universität und wurden Gelehrte und bedeutende Wissenschaftler. studierten, wie die christliche Zeitung vom 5 Mai 1916 erklärte.²⁵ Hier sind zu nennen: Ibrāhīm al-Ǧundī und Mīḫāʾīl ʿabd as-Sayyid, beide nacheinander Herausgeber der Zeitung al-Waṭan, sowie die beiden Dichter Faransīs al-ʿItr und Tādrus Wahba.²⁶ An den Schulen gab es keinen christlichen Religionsunterricht, ungeachtet der Forderung danach und trotz der Tatsache, dass die Engländer die Lehrinhalte im Kultusministerium bestimmten.²⁷ Im Jahr 1907 entschied Saʿd Zaghlūl (gest. 1927), als er das Amt des Kultusminister innehatte, dass die Christen das Christentum in der Grundschule lernen durften und sagte: „Wir wollen, dass die Kopten, unsere Mitglieder des Landes, die Anfangsgründe ihrer Religion beherrschen und die Regel ihrer Religion beharren, da der keine Religion hat, Unehrlichkeit und keine Treue hat.“²⁸ Daraufhin wurde das Christentum an den Schulen durch christliche Lehrer gelehrt, mit Ausnahme der Schulen, an denen die Christen weniger als 15 Schüler ausmachten. Das Christentum wurde Lehrfach an der Lehrhochschule, damit die christlichen Lehrer diesen Lehrgang später an den Schulen lehren konnten.²⁹ Im Jahre 1933 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass das Lernen in Ägypten für obligatorisch erklärte. Obwohl dieses Gesetz für alle Bürger des Landes galt, gab es nur islamischen Religionsunterricht an den Schulen, aber keinen christlichen. Es wurde nichtmuslimischen Schülern nicht gestattet, den islamischen Religionsunterricht zu besuchen. Die Christen emp Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 16 – 22. & al-Bišrī: alMuslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 31– 33.  Feddan ist ein ägyptisches Maß für die Landfläche. 1 Feddan = 0,42 Hektar.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 38 – 39. & Behrens-Abouseif, Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 24– 25.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 43. & Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 97.  Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 97.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 267.  ebd.  ebd., 268.

Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

441

fanden dies als Diskriminierung und verlangten gleiche Behandlung. Die Regierung akzeptierte die Forderung der Christen nicht, woraufhin die Christen die staatlichen Schulen verließen und ihre Kinder in christliche Schulen schickten, was dazu führte, dass die Christen sich von der Gesellschaft isolierten und das Gefühl der Fremde und Ungleichbehandlung hatten. Dieses wurde noch dadurch verstärkt, dass die Christen eine Geldstrafe bezahlen mussten, da ihre Kinder nicht an staatlichen Schulen lernten.³⁰ Die Muslim-Brüder fanden, dass die Lehre des Christentums an den Schulen eine Art der Missionierung des Christentums und Lehre von Unglauben an der Schule sei. Dieses Problem blieb bis zum Jahr 1939, danach wurde von den Kandidaten des Parlaments angeboten, dass das Christentum wieder in allen Schulen gelehrt wird, und auch in der Regierung christliche Prediger eingesetzt werden, die die Kranken und die christlichen Gefangenen betreuten, wie es bei Muslimen bereits der Fall war³¹. Nach der Urabi-Bewegung (aṯ-ṯawra al-ʿurābīya) im Jahr 1879 wurde die erste politische ägyptische Partei gegründet. Sie hieß die völkische patriotische Partei (al-ḥizb al-waṭanī al-ahlī).³² Es wurde betont, dass die Partei eine politische, nicht aber eine religiöse Partei sei. Die Mitglieder gehörten verschiedenen Konfessionen an und es wurde betont, dass jeder Ägypter ihr beitreten solle, da alle Menschen Geschwister seien und die gleichen Rechte und Pflichten haben. Islamische Gelehrte und al-Azhar-Gelehrte, die dieser Partei beigetreten waren, bestätigten dies und erklärten, dass der Islam alle Menschen als gleich betrachte.³³ Infolgedessen enthielt das kommende Parlament im Jahr 1880, das auf der revolutionären Verfassung gegründet wurde, zwei Christen.³⁴ In den ersten zwanzig Jahren des 20. Jahrhunderts wurden zwei Christen als Premierminister eingesetzt, namentlich Boutros Ghali (reg. 1908 – 1910)³⁵ und Jusef Wahba (reg. 1919 – 1920). Bis zum Jahr 1924 gab es auch die Anweisung, dass in jedem Ministerium ein Christ angestellt werden soll.³⁶ Aber Boutros Ghali war nicht der erste christliche Ministerpräsident Ägyptens. Der erste Inhaber dieses Amtes in Ägypten überhaupt war

 al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 169 – 274.  ebd.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 47– 48. & Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 32.  ʿImāra, Muḥammad: al-Aʿmāl al-kāmila lil-imām aš-šayḫ Muḥammad ʿAbduh. Kairo: Dār aššurūq, Bd. 1, 1993, 109 – 110; 404. & Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 32.  ebd., 47– 48.  Tamcke: Christen in der islamischen Welt, 2008, 129. & Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 63 – 66. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 40.  Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 40.

442

Ahmed Ishaq Amer

der Armenier Boghos Nubar Pascha³⁷ (reg. 1878 – 1879/1884– 1888/1894– 1895). Im Laufe seiner Karriere war er dreimal Premierminister. In der ägyptischen Revolution im Jahr 1919 riefen die Muslime und Christen vereint zur und nationalen Einheit gegen die Engländer auf, die wiederum versuchten, die Muslime und Christen zu spalten. Die nationale Einheit stand für sie über den konfessionellen Unterschieden.³⁸ Die Wafd-Partei (ḥizb al-wafd) spielte eine große Rolle in dieser Revolution, und sie hatte viele christliche Mitglieder, die wiederum unter dem Schutz der Partei die Politik des Landes mitbestimmen konnten.³⁹ Nach dem ersten Weltkrieg wurde am 28. Februar im Jahr 1922 anerkannt, dass Ägypten ein unabhängiges Land ist. Unmittelbar danach wurde entschieden, dass der Betreuer des Königs, sollte der König aus irgendwelchen Gründen seinem Amt nicht nachkommen, Ägypter und Muslim sein soll, was die Idee der religiösen Klassifizierung auf den Plan rief.⁴⁰ Daher wurde eine Sitzung einberufen, um eine neue Verfassung zu schreiben. In diesem Gremium gab es fünf Christen und einen Juden.⁴¹ Diese Verfassung betonte, dass alle Ägypter gleichberechtigt sind hinsichtlich der Freiheit,⁴² den zivilen und politischen Rechten, der Arbeit, den religiösen Handlungen und Zeremonien, der Ausbildung und den Pflichten. Es wurde nicht zwischen ihnen aufgrund der Religion oder Sprache unterschieden.⁴³ Alle Teilnehmer des Komitees lehnten ab, dass das Wort „Minderheit“ in der Verfassung benutzt wird. Sie fanden, dass es in Ägypten keine Minderheiten geben soll, da alle Ägypter gleich sind. Es wurde entschieden, dass es keine verpflichtende Anzahl an Repräsentanten von Minderheiten in den Ministerien und dem Parlament geben muss, da die Auswahl allein auf den Fähigkeiten beruhen sollte. Mit einem vorgegebenen Schlüssel für die Repräsentanten, wäre die nationale Einheit untergraben worden. Die Verfassung enthielt keine Differenzierung der Ägypter, mit der Beteuerung der Freiheit des Glaubens, dem Schutz der

 Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 66.  ebd., 89 – 92. & al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 135– 146. & Ibrahim: The Copts of Egypt, 2011, 58 – 67.  Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 90 – 92. & al-Bišrī: alMuslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 149 – 151.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 200.  ebd., 171– 174. & Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 95.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1923. In al-Waqāʾiʿ al-miṣrīya, eine offizielle staatliche Zeitung, Bd. 42. http://www.sis.gov.eg/Newvr/dostorpdf/1923.pdf. Sowie: Tamcke: Christen in der islamischen Welt, 2008, 130.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1923, Artikel Nummer 3. & al-Bišrī: al-Muslimūn wa alaqbāṭ, 1980, 174– 192; 199. & al-Waqāʾiʿ al-miṣrīya. & Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 95. & Tamcke: Christen in der islamischen Welt, 2008, 130.

Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

443

Zeremonien des Landes⁴⁴ und der Gleichberechtigung, ungeachtet der Religion, des Geschlechts und der Sprache.⁴⁵ Es wurde in der Verfassung eine Regel festgesetzt, die besagt, dass der Islam die Religion des Landes und die arabische Sprache die offizielle Sprache ist.⁴⁶ Bei der nächsten Wahl des Parlaments erhielt die Wafd-Partei die meisten Sitze. Ihr wurde später, im Jahr 1929, vorgeworfen, dass die Christen in der Wafd-Partei vorherrschten und Ägypten zu einem christlichen Staat machen wollten und dass die Partei nur für den Nutzen der Christen arbeitete. Die Gegner der Wafd-Partei warfen den Christen Unterstützung der Engländer vor und dass die Aufstellung oder Entlassung der Angestellten religiös motiviert sei. Es ist wichtig zu erklären, dass die Repräsentation der Christen in der Abgeordnetenkammer bei 10 % lag.⁴⁷ Die Anzahl der Christen im Parlament ab dem Jahr 1923 bis zu der ägyptischen Revolution von 1952 sah wie folgt aus: Anzahl Prozent der der Christen Christen Bemerkungen im im Parlament Parlament

Jahr

Anzahl der Parlamentarier







Ca.  %







Ca. . %







Ca.  %







Ca. . %







Ca. . % Wafd-Partei hat die Wahl boykottiert







Ca. . %







Ca. . %

Alle Christen gehören zu Wafd-Partei

Es gab eine Spaltung in der Wafd-Partei, weshalb von ihnen nur  Vertreter Platz nahmen

 Die ägyptische Verfassung des Jahrs 1923, Artikel Nummer 12 und 13. & al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 174– 192; 199. & al-Waqāʾiʿ al-miṣrīya, Bd. 42. Verfassung des Jahres & BehrensAbouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 93 – 95.  al-Bišrī, al-Muslimūn wa al-aqbāṭ: 1980, 174– 192; 199. & Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 95.  Die ägyptische Verfassung des Jahrs 1923, Artikel Nummer 149. & al-Bišrī: al-Muslimūn wa alaqbāṭ 1980, 200 – 201. & al-Waqāʾiʿ al-miṣrīya, Bd. 42. Verfassung des Jahres & Behrens-Abouseif: Die Kopten in der ägyptischen Gesellschaft, 1972, 95.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 202; 211– 215.

444

Ahmed Ishaq Amer

Fortsetzung Anzahl Prozent der der Christen Christen Bemerkungen im im Parlament Parlament

Jahr

Anzahl der Parlamentarier



















Ca. . %

Wafd-Partei bekam die meisten Plätze

Ca. . % Wafd-Partei hat die Wahl boykottiert Ca.  %

In der Tabelle oben wird deutlich, dass es in Zeiten, in der die Wafd-Partei die meisten Sitze in der Volksvertretung innehatte, viele Christen in der Kammer gab und umgekehrt⁴⁸. Die Christen wurden hier als Ägypter gewählt und einige Teilnehmer des Parlaments wurden aus vielen Gebieten gewonnen, in denen alle oder zumindest die meisten Bewohner Muslime waren.⁴⁹ Das Ministerium war ab dem Jahr 1923 bis zum Beginn der ägyptischen Republik im Jahr 1952 wie folgt strukturiert: Anzahl Ministerien mit christlicher Repräsentation Minister der Christen

Jahr

Anzahl der Minister



 Minister +  Minister Premierminister

Außenministerium & Arbeitsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Verkehrsministerium

 Minister +   Minister Premierminister

Bemerkungen

Es gab einen jüdischen Minister im Finanzministerium

Es war ein Änderungsantrag. Es gab eiLandwirtschaftsministerium nen jüdischen Minister im Verkehrsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Finanzministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Außenministerium

 Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 30 – 31. & al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 222– 224.  ebd., 31.

Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

445

Fortsetzung Anzahl Ministerien mit christlicher Repräsentation Minister der Christen

Jahr

Anzahl der Minister



 Minister +  Minister Premierminister

Außerministerium & Verkehrsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Landwirtschaftsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Landwirtschaftsministerium Übergangsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Außenministerium & Finanzministerium

 Minister +   Minister Premierminister

Verkehrsministerium

Bemerkungen

Änderung vorgenommen, in der der Verkehrsminister durch den christlichen Außenminister ersetzt wurde



 Minister +  Minister Premierminister

Kriegsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Außenministerium & Landwirtschaftsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Landwirtschaftsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Außenministerium & Finanzministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Die Minister wurden auf  verringert. Er verließ später Landwirtschaftsministerium dieses Ministerium und vertrat das Ministerium für Handel und Industrie



 Minister +  Minister Premierminister

Ministerium für Handel und Industrie



 Minister +  Minister Premierminister

Versorgungsminister

 Minister +   Minister Premierminister

Ein christlicher Minister hat Posten in zwei Ministerien

Die Minister wurden auf  verringert.

Er verließ später dieses MiMinisterium für Handel und nisterium und vertrat das Industrie Ministerium für Auslandsangelegenheiten

446

Ahmed Ishaq Amer

Fortsetzung Jahr

Anzahl der Minister

Anzahl Ministerien mit christlicher Repräsentation Minister der Christen

Bemerkungen Die Minister wurden auf  erhöht. Der Finanzminister trat ab und ein anderer Christ wurde ins Präventionsministerium gewählt



 Minister +  Minister Premierminister

Finanzministerium & Ministerium für Handel und Industrie



 Minister +  Minister Premierminister

Finanzministerium & Ministerium für Handel und Industrie



 Minister +  Minister Premierminister

Finanzministerium & Ministerium für Handel und Industrie

Die Minister wurden auf  erhöht.



 Minister +  Minister Premierminister

Versorgungsminister & Ministerium für Handel und Industrie

Der christliche Minister vertrat zwei Ministerien



 Minister +  Minister Premierminister

Gesundheitsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Gesundheitsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Gesundheitsministerium



 Minister +  Minister Premierminister

Ministerium für kommunale Er vertrat den Außenund ländliche Angelegenminister in dessen Abheiten wesenheit



 Minister +  Minister Premierminister

Landwirtschaftsministerium

 Minister +   Minister Premierminister

Versorgungsminister & Ministerium für Handel und Industrie & Arbeitsministerium

Zwei christliche Minister in drei Ministerien

Anhand der Tabelle wird deutlich, dass in 12 von 34 Ministerien je zwei christliche Minister im Amt waren, in den restlichen Ministerien jeweils ein Minister.⁵⁰ Die  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 222– 224; 245 – 247. & Ibrahim: The Copts of Egypt, 2011, 186 – 190.

Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

447

sogenannten Beherrschungsministerien waren Innenministerium, Außenministerium, Finanzministerium und Kriegsministerium, und die Christen haben zu vielen Zeiten das Finanzministerium und das Außenministerium repräsentiert. Dagegen waren sie nur einmal im Kriegsministerium tätig. In den letzten Jahren erschienen die Christen nicht oft in Herrschaftsministerien, aber trotzdem sollte in jedem Ministerium ein christlicher Minister eingesetzt werden. Der Richter Ṭā riq al-Bišrī (gest. 2021) sieht den Anlass dazu, dass die Christen niemals das Innenministerium, Kultusministerium oder Justizministerium repräsentiert haben, darin, dass der Justizminister die religiöse Justiz beherrschen und überwachen sollte und der Kultusminister die religiösen islamischen Schulen kontrollierten sollte. Aber das Innenministerium und das Kriegsministerium waren unter der Herrschaft des Königs und der Engländer, weil im Jahr 1925 und 1930 zwei Gesetze verabschiedet worden waren, denen zufolge der König die Einsetzung und Entlassung des Innenministers und des Kriegsministers verfügen sollte.⁵¹ Es ist wichtig zu erklären, dass der Oberste des Königsrats und seine Vertreter Muslime waren, es aber trotzdem darin viele christliche und jüdische Angestellte gab.⁵² Beachtenswert ist, dass die Anzahl der Christen (Ägypter, Ausländer, Auswanderer wegen der Weltkriege, britische Soldaten mit ihren Familien, Regierungsbeauftragte und Untertanen) in dieser Zeit ca. 6.2 % bis 8.3 % der Gesamtbevölkerung ausmachte.⁵³

2.2 Die Republik Nach der ägyptischen Revolution im Jahr 1952 und der Ausrufung zur Republik, wurde die bisher bekannte Struktur Ägyptens verändert. Dies betraf das gesamte Volk, die Gesetze, die Organisation sowie die Christen im Speziellen.⁵⁴ Die ägyptische Republik begründete eine neue Verfassung und Gesetze, die mit internationalen Theorien der Bürgerrechte übereinstimmen sollten. Wie hoch die Anzahl der Christen und ihr Zahlenverhältnis gegenüber den Muslimen in Ägypten ist, um ihre Rechte in Anbetracht ihrer Anzahl genau bestimmen zu können, ist ein sehr heikles Thema: In Ägypten wurde die Bevölkerungsanzahl mit wissenschaftlichen Methoden zum ersten Mal im Jahr 1897

 al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 246 – 247.  ebd., 245.  al-Bišrī, Ṭā riq: al-Ǧamāʿa al-waṭanīya. al-ʿUzla wa al-ʾindimāǧ. Kairo: Dar al-hilāl, 2005, 16 – 24.  Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 77.

448

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ermittelt, danach wurde diese Volkszählung alle 10 Jahre durchgeführt. Die folgende Tabelle zeigt die Anzahl der Christen in Ägypten im 20. Jahrhundert:

Jahr

Anzahl der Ägypter

Anzahl der Prozent Christen

Anzahl der Prozent Bemerkungen Muslime







. %



 %







. % 

. %

  

. % 

. %

Enthält die Kolonialisten mit ihren Familien und alle Ausländer

  

. % 

. %

Enthält die Kolonialisten mit ihren Familien und alle Ausländer

  

. % 

. %

Enthält die Kolonialisten mit ihren Familien und alle Ausländer

  

. % 

. %

  

. % 

. %

  

. % 

. %

       



. %  . % . %  Ca. wie 



Statistik wegen neuer Technik und Revolution verspätet

Sie wurde alle  Jahre durchgeführt

 % Ca. wie Die Regierung hat die Statistik  nicht veröffentlicht⁵⁵

Als die Bevölkerungsanzahl im Jahr 1967 veröffentlicht wurde, bestritten die Christen diese Statistik und behaupteten, dass ihre Anzahl in Wirklichkeit höher sei. Daher wurde ein Gremium einberufen, um die Ergebnisse zu untersuchen. Es stellte sich heraus, dass diese Statistik richtig war, obwohl mehr als 70.000 Personen an dieser Erhebung teilgenommen hatten, darunter zahlreiche Christen. Daneben blieb die Anzahl lange Jahre unverändert, denn in den Jahren 1917, 1927 und 1937 wurden die Engländer mit ihren Soldaten und mit ihren Familien sowie Ausländer, die wegen der Kriege in Europa nach Ägypten ausgewandert waren, mitgezählt. Auch waren die Verantwortlichen der Statistik vor dem Jahr 1947 weder Muslime noch Ägypter, sondern im Jahr 1907 Franzosen und in den Jahren

 al-Bišrī: al-Ǧamāʿa al-waṭanīya, 2005, 16 – 19.

Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

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1917, 1927 und 1937 Engländer und der Leiter der Datenerhebung Christ.⁵⁶ Es gab also scheinbar keine Gründe, die Statistik zu verfälschen. Während die Kirchen verlautbarten, dass die Anzahl der Christen in Ägypten entweder 18 Million oder 16 Millionen⁵⁷ und die Christen nicht weniger als 15 % seien,⁵⁸ schätzte der Vatikan sie auf 4.000.500.⁵⁹ Im Jahr 2009 wurde eine amerikanische Studie veröffentlicht, laut der die Muslime 94.6 % der Ägypter bilden. Am 25.09. 2012 gab der Manager des zentralistischen Amtsapparats der Statistik in Ägypten bekannt, dass die Anzahl der Christen in Ägypten ungefähr 5.000.150 beträgt, das heißt ca. 5.5 % der Gesamtbevölkerung.⁶⁰

2.2.1 Die Verfassungen der ägyptischen Republik Die Armee regierte Ägypten nach der ägyptischen Revolution und schuf die bisher gültige ägyptische Verfassung ab, die im Jahr 1923 anerkannt worden war.⁶¹ Danach wurde entschieden, dass das Militärregime drei Jahre im Status einer Übergangsregierung bleibt.⁶² In einer grundgesetzlichen Veröffentlichung erklärte das Militärregime das Aufstellen der Verwaltung des Landes in diesen drei

 ebd., 19 – 23.  aš-Šurūq, eine ägyptische Zeitung. „Erste offizielle Koptenstatistik führt zu einer Krise zwischen dem Amtsapparats der Statistik und der Kirche“ http://www.shorouknews.com/news/view. aspx?cdate=25092012&id=c021929f-c2dd-4726-9916-9e5a67ed8195 & al-Ǧazīra, ein arabischer Nachrichtensender. „Diskussion über der Anzahl der Kopten in Ägypten“ http://www.aljazeera. net/news/pages/a0f19a22-3054-4058-ab46-9585f5c94409.  Al-Ḥayāh, ein ägyptischer Kanal. Ein Interview mit dem Papst, in dem er bestätigt, dass die Anzahl der Christen 15 % ist. http://www.youtube.com/watch?v=NQy1W0njfyc & al-Ǧazīra ein arabischer Nachrichtensender http://www.aljazeera.net/news/pages/a0f19a22-3054-4058-ab469585f5c94409.  al-Ǧazīra, ein arabischer Nachrichtensender. „Diskussion über der Anzahl der Kopten in Ägypten“ http://www.aljazeera.net/news/pages/a0f19a22-3054-4058-ab46-9585f5c94409.  al-Taḥrīr, ein ägyptischer Kanal. Interview mit dem Manager des zentralistischen Amtsapparats der Statistik, in der veröffentlicht wird, dass sie Anzahl der Christen ungefähr 5 Millionen zählt & aš-Šurūq, eine ägyptische Zeitung. Erste offizielle Koptenstatistik führt zu einer Krise zwischen dem Amtsapparat der Statistik und der Kirche http://www.shorouknews.com/news/ view.aspx?cdate=25092012&id=c021929f-c2dd-4726-9916-9e5a67ed8195 & al-Ǧazīra, ein arabischer Nachrichtensender. Diskussion über der Anzahl der Kopten in Ägypten http://www.alja zeera.net/news/pages/a0f19a22-3054-4058-ab46-9585f5c94409.  aš-Šalaq, Aḥmad: ad-Dasātīr al-miṣrīya. Nuṣūṣ wa waṯāʾiq 1866 – 2011. Kairo: al-Usra Verlag, 2012, 227– 228.  Eine konstitutionelle Veröffentlichung vom 17.01.1953. aš-Šalaq: ad-Dasātīr al-miṣrīya, 2012, 229 – 230.

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Jahren,⁶³ in der alle Bürger gleich sind, auch vor dem Gesetz, und damit gleiche Rechte und gleiche Pflichten haben.⁶⁴ Weiterhin sei die Bekenntnisfreiheit unbeschränkt. Die religiösen Zeremonien und Glauben werden von der Regierung gewährleistet, solange sie die allgemeine Höflichkeit, die Traditionen und die Sitten des Landes nicht verletzen.⁶⁵ Also ist die persönliche Freiheit garantiert⁶⁶ und das Volk ist der Ursprung der Autorität.⁶⁷ Vier Monate danach wurde das Königtum abgeschafft und die ägyptische Republik ausgerufen. Es wurde auch erklärt, dass das Volk entscheidend für die Gestalt der Republik sei. Das Volk sei es auch, das den Präsidenten nach der neuen Verfassung wählt.⁶⁸ Es ist zu bemerken, dass es keine Vorschriften für den nächsten Präsidenten gab. Der Präsident musste demnach kein Muslim sein. Die Wahl des Präsidenten hing also nur von den Stimmen des Volks, egal ob Muslim oder Christ, ab. In der ersten gültigen Verfassung nach der Anerkennung der ägyptischen Republik im Jahr 1956,⁶⁹ aber auch in den nächsten Verfassungen, wie der Übergangsverfassung im Jahr 1958,⁷⁰ der Verfassung im Jahr 1964,⁷¹ und der Verfassung im Jahr 1971⁷² wurde klar anerkannt, dass Ägypten ein demokratisches Land sei.⁷³ Diese Regel war in der Verfassung des Jahres 1956 und blieb in Verfassung des Jahres 1958 bestehen, aber in den Verfassungen des Jahres 1964 und des Jahres 1971 wurde geschrieben, dass Ägypten ein demokratisches sozialistisches Land sei. Später wurde der Passus der

 Eine konstitutionelle Veröffentlichung vom 10.02.1953. al-Waqāʾiʿ al-miṣrīya, eine offizielle staatliche Zeitung, Bd. 12. http://www.sis.gov.eg/Newvr/dostorpdf/1953.pdf & aš-Šalaq: ad-Dasātīr al-miṣrīya, 2012, 231– 232.  ebd., Artikel Nummer 2.  ebd., Artikel Nummer 4.  ebd., Artikel Nummer 3.  ebd., Artikel Nummer 1.  Eine konstitutionelle Veröffentlichung vom 18.06.1953. aš-Šalaq: ad-Dasātīr al-miṣrīya, 2012, 233 – 234.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956 veröffentlicht am 16.01.1956. al-Waqāʾiʿ al-miṣrīya, eine offizielle staatliche Zeitung, Bd. 5. http://www.sis.gov.eg/Newvr/dostorpdf/1956.pdf & ašŠalaq: ad-Dasātīr al-miṣrīya, 2012, 277– 307.  Die befristete Verfassung der Vereinigten Arabischen Republik des Jahres 1958, veröffentlicht am 13.03.1958. Die offizielle ägyptische Zeitung, Bd. 1. http://www.sis.gov.eg/Newvr/dostorpdf/ 1958.pdf & aš-Šalaq: ad-Dasātīr al-miṣrīya, 2012, 311– 321.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1964, veröffentlicht am 24.03.1964. Die offizielle ägyptische Zeitung, Bd. 69 nachfolgend A. http://www.sis.gov.eg/Newvr/dostorpdf/1964.pdf & ašŠalaq, ad-Dasātīr al-miṣrīya, 2012, 331– 358.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1971, veröffentlicht am 12.09.71. Die offizielle ägyptische Zeitung, Bd. 36. http://www.sis.gov.eg/Newvr/dostorpdf/1971.pdf & aš-Šalaq, ad-Dasātīr al-miṣrīya, 2012, 389 – 442.  ebd., Artikel Nummer 1.

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Verfassung des Jahrs 1971 geändert⁷⁴ zu einem „demokratischen Land“, das sich auf die Bürger verlässt⁷⁵ und in dem die Autorität vom Volk ausgeht.⁷⁶ Es wurde geschrieben, dass der Islam die Religion des Landes ist.⁷⁷ Die Freiheit und die Parität sind garantiert.⁷⁸ Die Ägypter seien vor dem Recht gleich, sie haben gleiche Rechte und gleiche Pflichten, und es werde nicht unter den Ägyptern wegen ihrer Rasse, ihrem Stamm, ihrer Sprache, ihrer Religion oder ihrem Dogma unterschieden.⁷⁹ Die Bekenntnisfreiheit sei unbeschränkt. Die religiösen Zeremonien und Glauben werden von der Regierung gewährleistet, solange sie die allgemeine Höflichkeit, die Traditionen und Sitten des Landes nicht verletzen.⁸⁰ Das Lernen sei ein Recht für alle Ägypter. Es sei kostenlos für alle und das Lernen in einer Grundschule Pflicht.⁸¹ Bezüglich der Arbeit garantiere das Land ein Recht auf Arbeitsstellen.⁸² Der Wehrdienst gelte für alle Ägypter.⁸³ Die Wahl sei das Recht  Die Verfassung wurde nach einem Volksbegehren am 26.03. 2007 veröffentlicht und am 31.03. 2007 überarbeitet. http://www.sis.gov.eg/Newvr/dostorpdf/2007.pdf.  Die überarbeitete Verfassung des Jahres 1971, Artikel Nummer 1, in der im Jahr 2007 einige Regeln geändert wurden.  Die ägyptische Verfassung des Jahrs 1956, Artikel Nummer 2. Der Artikel wurde in der Verfassung des Jahres 1958 abgeschafft, 1964 in Artikel Nummer 2 und in der ägyptischen Verfassung des Jahres 1971 im Artikel Nummer 3 wiederaufgenommen.  Die ägyptische Verfassung des Jahrs 1956, Artikel Nummer 3. Der Artikel wurde in der Verfassung des Jahres 1958 abgeschafft, 1964 in Artikel Nummer 5 und in der ägyptischen Verfassung von 1971 in Artikel Nummer 2 wiederaufgenommen. In der Verfassung des Jahres 1971 wurde in Artikel Nummer 2 hinzufügt, dass die Grundlage der islamischen Scharia eine Hauptquelle für das Gesetz ist. Dies wiederum wurde am 22.05.1980 zur „Grundlage der islamischen Scharia als Hauptquelle für das Gesetz“ geändert.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 6. Die ägyptische Verfassung des Jahres 1958, Artikel Nummer 6 und 10. In der ägyptischen Verfassung des Jahres 1964 wurde Parität nur im Artikel Nummer 8 erwähnt. In der Verfassung von 1971, Artikel Nummer 8 und 41.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 31. Die ägyptische Verfassung des Jahres 1958, Artikel Nummer 7. Die ägyptische Verfassung des Jahres 1964, Artikel Nummer 24, und in der ägyptischen Verfassung des Jahres 1971, Artikel Nummer 40.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 43. Der Artikel wurde in der ägyptischen Verfassung des Jahres 1958 abgeschafft, jedoch 1964 erneut in die ägyptische Verfassung in Artikel Nummer 34 sowie in Artikel Nummer 46 der ägyptischen Verfassung des Jahres 1971 aufgenommen.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 49, 50 und 51. Die Artikel wurden in der ägyptischen Verfassung des Jahres 1958 abgeschafft, jedoch in die ägyptische Verfassung des Jahres 1964 in den Artikeln Nummern 38 und 39 sowie in die ägyptische Verfassung des Jahres 1971 in den Artikeln Nummern 18, 20 und 21 wieder aufgenommen.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 52 und 53. Die Artikel wurden in der ägyptischen Verfassung des Jahres 1958 abgeschafft, in die ägyptische Verfassung des Jahres 1964 im Artikel Nummer 40 und in die ägyptische Verfassung des Jahres 1971 im Artikel Nummer 13 wiederaufgenommen.

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aller Ägypter.⁸⁴ Das Parlament werde durch Wahlen gebildet.⁸⁵ Die Bedingungen für die Wahl zum Präsidenten waren, dass er Ägypter und älter als 35 Jahre sei und nicht zu den früheren königlichen Familien gehörte.⁸⁶ Hier lässt sich feststellen, dass die religiösen Bedingungen für den Präsidenten nicht unerlässlich sind. Die Verfassung des Jahres 1964 betonte die nationale Einheit des Volkes.⁸⁷ In der Verfassung des Jahres 1971 wurde erklärt, dass die Religion in der Schule gelehrt werden muss, ohne zwischen Islam oder Christentum zu unterscheiden.⁸⁸ Bezüglich der Einsetzung der Minister durch den Präsidenten gab es keine Voraussetzungen, außer dass sie älter als 30 Jahre sein müssen.⁸⁹ In keiner Regelung der Verfassungen gibt es religiöse Bedingungen, die Beschreibung für die Rechte und Aufgaben ist für alle Ägypter gleich geltend.⁹⁰ Aus den Verfassungen geht deutlich hervor, dass es keine religiöse Differenzierung gab. Die Verfassung sprach also für das gesamte Volk. Die Betonung auf Freiheit, Recht und Autorität des Volkes, Nationalismus und die Bürgerrechte wird in allen Verfassungen hervorgehoben. Nur in der Verfassung des Jahres 1958 wurde dies nicht berücksichtigt, da diese Verfassung für die Vereinigte Arabische Republik Ägypten und Syrien galt. So diente diese Staatsordnung einzig dazu, die Macht des Präsidenten festzulegen. Das einzige religiöse Zeichen in den Verfassungen war der Para-

 Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 58. Die ägyptische Verfassung des Jahres 1958, Artikel Nummer 11. Die ägyptische Verfassung des Jahres 1964, Artikel Nummer 43 und die ägyptische Verfassung des Jahres 1971, Artikel Nummer 58.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 61. Der Artikel wurde in der ägyptischen Verfassung des Jahres 1958 abgeschafft, 1964 im Artikel Nummer 45 und in der ägyptischen Verfassung des Jahres 1971 im Artikel Nummer 62 wiederaufgenommen.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 67. Der Artikel wurde in der Verfassung des Jahres 1985 um das Einsetzen vom Präsidenten in Artikel Nummer 13 geändert. Dann wurde er noch einmal durch die Wahl in die Verfassung des Jahres 1964, Artikel Nummer 49 geändert. In der Verfassung des Jahres 1971, Artikel Nummer 78.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 120. In der Verfassung des Jahres 1958 gab es keinen Punkt in der Verfassung, der die Wahl des Präsidenten thematisierte. In der Verfassung des Jahres 1964 wurde die Wahl in Artikel Nummer 101 und in der Verfassung des Jahres 1971, im Artikel Nummer 75 erforderlich.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1964, Artikel Nummer 3.  ebd., Artikel Nummer 19.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 149. Die Bedingung des Alters wurde abgeschafft. In der ägyptischen Verfassung des Jahres 1958, Artikel Nummer 47. In der ägyptischen Verfassung des Jahres 1964, Artikel Nummer 107 und in der Verfassung des Jahres 1971. In Artikel Nummer 154 wurde die Bedingung des Alters von bis zu 35 Jahren gefordert.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956. al-Waqāʾiʿ al-miṣrīya, eine offizielle staatliche Zeitung, Bd. 5. http://www.sis.gov.eg/Newvr/dostorpdf/1956.pdf & aš-Šalaq: ad-Dasātīr al-miṣrīya, 2012, 277– 307.

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graph, der besagt, dass Ägypten ein islamisches Land sei.⁹¹ Außerdem fügte Präsident As-Sādāt (reg. 1970 – 1981) einen Teil in diesen Paragraphen hinzu, der besagt, dass die Grundlage der islamischen Scharia die Hauptquelle für das Gesetz ist.⁹² Am 21.03. 2007 wurde ein Teil in Artikel Nummer 5 der Verfassung des Jahres 1971 hinzugefügt, der besagt, dass die Bürger das Recht haben, sich in politischen Parteien zu organisieren. Der Artikel besagt auch, dass es verboten ist, eine politische Aktivität durchzuführen oder eine politische Partei zu gründen, die vor einem religiösen Hintergrund oder auf einer religiösen Grundlage gebildet wurde oder die zwischen Geschlecht oder der Herkunft unterscheidet.⁹³ Aber wie wurden diese Gesetze und Regeln durchgeführt und wie lebten die Christen in der ägyptischen Republik?

2.2.2 Die Beziehung zwischen den Christen und der Regierung in der ägyptischen Republik Der erste Präsident der Republik Ägypten war ʿAlī Muḥammad Nağīb (reg. 1953 – 1954). Seine Amtszeit währte jedoch nicht lange genug, um bleibenden Einfluss auf das politische und religiöse Geschehen Ägyptens zu haben. Daher lassen sich auch Angaben über die Beziehung der Regierung zu den Christen in dieser Zeit nicht greifen.

 al-Bišrī, Ṭā riq: ad-Dawla wa al-kanīsa. Kairo: Dar aš-šurūq, 2011, 65 – 72.  Die ägyptische Verfassung des Jahres 1956, Artikel Nummer 3. al-Waqāʾiʿ al-miṣrīya, eine offizielle staatliche Zeitung, Bd. 5. http://www.sis.gov.eg/Newvr/dostorpdf/1956.pdf. Der Artikel wurde in der Verfassung des Jahres 1958 abgeschafft. Die offizielle ägyptische Zeitung, Bd. 1. Die befristete Verfassung der Vereinigten Arabischen Republik des Jahres 1958. http://www.sis.gov. eg/Newvr/dostorpdf/1958.pdf. Artikel Nummer 5 von 1964, http://www.sis.gov.eg/Newvr/do storpdf/1964.pdf wurde in der ägyptischen Verfassung des Jahres 1971 in Artikel Nummer 2 wieder aufgenommen. In der Verfassung des Jahres 1971, Artikel Nummer 2 wurde hinzufügt, dass die Grundlage der islamischen Scharia eine Hauptquelle für das Gesetz ist. Die offizielle ägyptische Zeitung, Bd. 36. Die ägyptische Verfassung des Jahres 1971, http://www.sis.gov.eg/Newvr/do storpdf/1971.pdf. Dies wurde am 22.05.1980 zur Grundlage der islamischen Scharia als „Hauptquelle“ für das Gesetz geändert. Die offizielle ägyptische Zeitung, Bd. 26. Die überarbeitete Verfassung des Jahres 1971, in dem die zweite Regel im Jahr 1980 überarbeitet wurde, http://www.sis. gov.eg/Newvr/dostorpdf/1980.pdf.  Die offizielle ägyptische Zeitung, Bd. 13, Artikel Nummer 5. Die überarbeitete Verfassung des Jahres 1971, in der im Jahr 2007 einige Regeln geändert wurden http://www.sis.gov.eg/Newvr/ dostorpdf/2007.pdf.

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Die Beziehung zwischen den Christen und dem zweiten Präsidenten Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir (reg. 1956 – 1970) war sehr gut.⁹⁴ Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir empfing den Papst bei sich im Haus und nicht im Republikpalast. Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir begleitete den Papst Kirellos VI. (gest. 1971) immer zu seinem Auto, was er nie mit anderen Präsidenten gemacht hat.⁹⁵ So schrieben Historiker, dass die Beziehung zwischen Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir und dem Papst ausgezeichnet war.⁹⁶ Der Papst vermied es, politische Probleme zu beeinflussen und Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir wusste um die Rechte und Wichtigkeit der Christen als ein Teil des Volkes. Ǧamāl ʿabd anNāṣir war der erste Präsident, der den Papst im Jahr 1953 besuchte, und er erlaubte im Jahr 1965, dass die Christen den Verein Christen-Jungen gründeten. Der Papst hieß früher der Patriarch, aber Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir wechselte den Titel in einer Entscheidung in „Papst“, damit der ägyptische Patriarch den gleichen Namen und Rang des römischen Papstes hatte. Er verhinderte, dass ein Buch „Muḥammad ar-risāla wa ar-rasūl“ (Muhammed die Botschaft und der Gesandte) in den Schulen als Lehrmaterial verwendet wird, als die Kirche dies wegen eines vermeintlichen Angriffes auf Jesus und die kirchlichen Zeremonien innerhalb des Buches von ihm verlangte. Als eine Zeitung den Papst öffentlich angriff, befahl er, dass diese Zeitung geschlossen wird und sie musste ihre Arbeit unwiderruflich einstellen. Als er erfuhr, dass der Papst unter einem Verantwortlichen litt, entließ er diesen Funktionär.⁹⁷ Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir befahl, dass den Christen eine neue große Kathedrale in Kairo gebaut wird, und gab ihnen dafür 150.000 ägyptische Pfund. Vor seinem Tod veranlasste er eine Zahlung von 100.000 ägyptischen Pfund an die Christen für eine Baufirma, die nach seinem Tod von seinem Nachfolger Muḥammad Anwar as-Sādāt ausgezahlt wurden. Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir legte den Grundstein der Kathedrale und hielt eine Rede bei der Eröffnung,⁹⁸ in der er die ägyptische nationale Einheit und Gleichheit des Volks betonte und sagte: „dass die Religion für Allah und die Heimat für alle ist“. Die Regierung publizierte eine Briefmarke als Andenken für den Bau der Markuskathedrale und der Rückkehr der sterblichen Überreste des Johannes Markus.⁹⁹  al-Anṭūnī, Anṭūnīūs: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya wa tārīḫahā al-muʿāṣir. Kairo: al-Maḥaba Verlag, Bd. 2, 22002, 53 – 56. & Tamcke: Christen in der islamischen Welt, 2008, 130.  ebd., 53 – 56.  Ibrahim: The Copts of Egypt, 2011, 178. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 83. & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 121.  al-Anṭūnī, Waṭaniyat: al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 121– 123.  Hage: Das orientalische Christentum, 2007, 190. & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 124– 134 & Tamcke: Christen in der islamischen Welt, 2008, 130. & Mayeur, Jean-Marie, Hg.: „Krisen und Erneuerung (1958 – 2000)“. In Die Geschichte des Christentums: Religion, Politik, Kultur. Bd. 13. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 2010, 442.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 124– 134.

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Das Patriarchat brauchte Geld, daher spendete ihnen der Präsident 10.000 ägyptische Pfund. Als die Christen behaupteten, dass Maria über einer Kirche scheine, ging er auch dorthin, damit er Maria mit den Christen sehen kann.¹⁰⁰ Dies macht deutlich, wie nah er den Christen war, was sich auch von der Reaktion der Christen bei der Entlassung und nach dem Tod Ǧamāl ʿabd an-Nāṣirs ablesen lässt.¹⁰¹ Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir beschäftigte sich intensiv mit der nationalen Einheit der Muslime und Christen, deshalb nahm Ägypten in seiner Zeit an vielen internationalen Übereinstimmungen für die Rechte der Bürger, speziell in den Jahren 1960, 1963 und 1966, teil.¹⁰² Die Beziehung zwischen den Christen und dem dritten Präsidenten Muḥammad Anwar as-Sādāt war nicht immer gut. Die Christen finden, dass Muḥammad Anwar as-Sādāt eine Spaltung zwischen den Muslimen und den Christen herbeiführte.¹⁰³ Muḥammad Anwar as-Sādāt nannte sich selbst „der gläubige Präsident“ und seine Zeit „eine Zeit der Wissenschaft und des Glaubens.“¹⁰⁴ Daneben hielt der Präsident seine Rede zum Jahrestag der Revolution von 1952 nicht mehr wie früher am 23 Juli, dem Tag der Revolution, sondern am Geburtstag des Propheten Mohammed. Er gab den islamischen Bewegungen Freiheit und stärkte ihre Macht. Die Möglichkeit zur islamischen Bekehrung war ihnen bislang verwehrt geblieben, da sie während der Amtszeit von Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir getötet und eingesperrt worden wären.¹⁰⁵ Ein großes Problem trat auf, als der Präsident im Jahr 1972 die Regel zur Verfassung hinzufügen wollte, dass die Grundlage der islamischen Scharia Hauptquelle für das Gesetz sei. Die Bedeutung dieser Regel war noch nicht klar, daher erklärten die Christen am 17– 18 Juli in einer Konferenz, dass sie entweder ihre Rechte und das christliche Dogma bekommen, oder bevorzugen würden, als Märtyrer dafür zu sterben.¹⁰⁶ Demzufolge wurde Gesetz Nummer 34 des Jahres 1972 verabschiedet, in dem die Gleichheit in allen Rechten und Aufgaben betont und jeder, der diese nationale Einheit des Volks irgendwie bedrohe, stark bestraft werden sollte.¹⁰⁷ Auf diese Weise sollte die nationale Einheit des Volks gewahrt  ebd., 135.  ebd., 115 – 118.  ebd., 18 – 19.  Ḥannā, Mīlād: Miṣr li kol al-miṣrīyyn. Kairo: Markaz ibn Ḫaldūn, Dar suʿād aṣ-ṣabāḥ Verlag, 1993, 175. & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 254. & Mayeur, Hg.: „Krisen und Erneuerung (1958 – 2000)“. In Die Geschichte des Christentums: Religion, Politik, Kultur. Bd. 13. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 2010, 130.  Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 93.  ebd.  ebd., 94.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 23 – 26.

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bleiben. Das entscheidende Problem war die Spaltung zwischen dem Präsidenten und dem Papst Šinūda III. (gest. 2012), da diesem vorgeworfen wurde, dass er das Land zum Christentum führen wolle.¹⁰⁸ Die Beziehung zwischen dem Präsidenten Muḥammad Anwar as-Sādāt und dem Papst Šinūda III. war zuerst gut, aber nach diversen Begegnungen zwischen beiden von 1972 bis 1981 verschlechterte sich das Verhältnis, was schließlich dazu führte, dass der Präsident im Jahr 1981 Papst Šinūda III. entließ und ihn in ein Kloster einsperren ließ. Die Begründung dafür lautete, der Papst suche mehr als nur seine religiöse Herrschaft, und er wolle die politische Herrschaft für die Christen haben. Weiterhin wurde der Papst bezichtigt, einen christlichen Staat in Südägypten errichten zu wollen. Außerdem bauten die Christen viele Kirchen ohne eine Genehmigung der Regierung, wie der Präsident in dieser Zeit weiter veröffentlichen ließ.¹⁰⁹ Die Begebenheit richtete sich nur gegen den Papst, aber nicht gegen die Christen. So gab es insgesamt keine Spannung zwischen dem Präsidenten und den Christen, sondern das Eingreifen des Präsidenten war als Angriff gegen politische Abweichler zu sehen.¹¹⁰ Der Präsident und das Parlament verabschiedeten im Jahr 1972 das Gesetz der nationalen Einheit, mit dem gleichzeitig das Problem des ungenehmigten Baues der Kirchen gelöst wurde.¹¹¹ In einer Soldatenrede vor dem Krieg im Jahr 1973 verwendete er Verse sowohl aus dem Koran als auch aus dem Evangelium. Der Präsident ehrte die gefallenen Christen als Märtyrer.¹¹² Es wurde ein Denkmal für unbekannte Soldaten gebaut, in dem symbolische Namen der Christen und der Muslime nebeneinander geschrieben wurden.¹¹³ Die Christen erkannten die Toleranz und die guten Taten des Präsidenten an.¹¹⁴ Die Zeit des vierten Präsidenten Muḥammad Ḥusnī Mubārak (reg. 1981– 2011) war eine der besten Zeiten für die Christen, da der Präsident sich intensiv mit ihnen und mit ihren Forderungen beschäftigte, die Spaltung zwischen der Kirche und dem Staat aufhob und während seiner Amtszeit die Bürgerrechte und die Gleichheit von Christen und Muslimen verankert wurde.¹¹⁵ Ausgehend von Aussagen und Briefen und auch der Unterstützung des Papstes und der Christen in

 Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 94– 95.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 265 – 267. & Mayeur: Krisen und Erneuerung (1958 – 2000), Bd. 13, 2010, 442.  ebd., 276.  Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 94.  ebd. 96 – 97. & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 263.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 263.  ebd., 254– 260.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 4, 2004, 33 – 37.

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allen Kandidaturen des Präsidenten,¹¹⁶ lässt sich eine positive Haltung der christlichen Vertreter gegenüber Mubārak feststellen. Ihm sind zahlreiche positive Taten gegenüber den Christen zuzuschreiben: Die erste war, dass er den Papst Šinūda III. im Jahr 1985 noch einmal als Papst einsetzen ließ.¹¹⁷ Der Präsident entschied auch, dass Weihnachten am 07.01. ein Nationales Fest und Feiertag ist. Weiterhin sollten die Feiern und die Gebete der Kirchen an Festtagen live im Fernsehen übertragen werden, anstatt sie am nächsten Tag zu senden. Der Präsident Muḥammad Ḥusnī Mubārak setzte sich für den Bau der Kirchen ein und entschied, dass die Stadtgouverneure die Erlaubnis zum Bau der Kirchen geben können, um den Bau der Kirchen zu erleichtern. Er zeigt großes Interesse an der christlichen Kultur und den heiligen Stätten des Christentums.¹¹⁸

2.2.3 Der Zugang zu höheren öffentlichen Ämtern Hintergrund der Revolution von 1952 war die Forderung nach den gleichen Rechten des Volkes in Studium, Arbeit und im täglichen Leben. Dies war durch die kostenlose Schulbildung für alle Ägypter und durch die Tatsache, dass abhängig von der Note im Abitur jeder die Universität besuchen kann, weitestgehend gegeben. Wenn ein Student sein Studium beendete, konnte er mithilfe des Arbeitsamtes seinen Platz in der Arbeitswelt finden, und auch die Möglichkeit zum beruflichen Aufstieg war durch das Dienstalter der Angestellten in der Arbeit geregelt. So wurden alle Ägypter in Studium und der Arbeit bis zur Mittelstufe der höheren öffentlichen Ämter gleichgestellt.¹¹⁹ Unter den Offizieren, die an der Revolution beteiligt waren, gab es nur einen Christen. Ṭā riq al-Bišrī erklärt, dass die Armee unter der Herrschaft des damaligen Königs war und die Parteien, besonders die Wafd-Partei, keinen Einfluss darauf hatte, daher blieben die meisten höheren Offiziere Muslime. Es gab in dieser Zeit nur einen christlichen Brigadegeneral und zwei christliche Oberste in der Armee. Diese Offiziere beherrschten Ägypten und verließen sich auf den Verwaltungsapparat als einzige politische Institution. Eine unabhängige populäre Partei konnten sie nicht bilden, deshalb beschäftigte sich der Verwaltungsapparat bei der Wahl und Aufstellung der Leiter des Beamtenapparats und ihrer wichtigen

 ebd., 39 – 47.  Hage: Das orientalische Christentum, 2007, 191. & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 4, 2004, 53.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 4, 2004, 53.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 674. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 79. & alAnṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 25.

458

Ahmed Ishaq Amer

Bereiche vornehmlich damit, vertraute Menschen einzusetzen. Das heißt, dass sie entweder die Offiziere auswählten, die aktiv an der Revolution beteiligt waren, oder die Offiziere, die mit ihnen in persönlichem Kontakt standen.¹²⁰ Damit schaffte die Revolution des Jahres 1952 die demokratischen volkstümlichen Institutionen in all ihren Formen ab. Die Verwaltung des Landes konzentrierte sich auf die Autokratie, wodurch die gewählten politischen Anstalten entkräftet wurden. Obwohl bei der Verstaatlichung des Eigentums nicht zwischen den Muslimen und den Christen unterschieden wurde, verschwanden viele bekannte christliche Namen von der nationalen Bildfläche. Also beschränkten sich die höheren öffentlichen Ämter bei der Neuordnung der Angestellten in den verstaatlichten Firmen auf die ihnen vertrauten Offiziere.¹²¹ Bemerkenswert ist, dass die Christen in einigen Behörden dennoch die Mehrzahl der Angestellten bildeten und die meisten höheren öffentlichen Ämter innehatten, wie beispielsweise im Finanzministerium.¹²² Im Jahr 1953 wurden alle Parteien abgeschafft, wodurch die Christen bei der Bewerbung für das Parlament keine Basis bilden konnten. Es konnte nur ein gewählter christlicher Kandidat bei der Parlamentswahl im Jahr 1957 antreten. Für dieses Problem fand Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir eine Lösung, indem er in 10 Wahlkreisen nur Christen gegeneinander antreten ließ. Damit war garantiert, dass es mindesten 10 christliche Vertreter im Parlament gab. Nach dem Misserfolg dieser Methode, suchte Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir eine neue Lösung in der Verfassung, nach der er 10 Personen direkt in das Parlament einsetzen konnte, was gleich nach dem Jahr 1957 durchgeführt wurde. Er verlangte, dass die meisten der einzusetzenden Personen Christen sein mussten.¹²³ Im Jahr 1983, unter der Präsidentschaft Muḥammad Ḥusnī Mubāraks, wurde ein Gesetz erlassen, nach dem die Liste der Kandidaten der Parteien neu angelegt wurde und sie mehr als 8 % der Stimmen aller Wahlbezirke bekommen mussten. Daneben wurden die Wahlkreise auf 48 Wahlbezirke vermehrt, um die 448 Glieder im Parlament zu repräsentieren, was den Christen eine große Möglichkeit bot, im Parlament mehr Plätze bekommen zu können. Die Christen nutzten ihr Wahlrecht

 al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 675. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 78 – 80. & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 29.  al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 675 – 676. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 79.  Baḥr, Samīra: al-Aqbāt fi al-ḥayā as-siyāsīya al-miṣrīya. Kairo: al-Anglo Bibliothek, 1979, 163 – 165.  Baḥr: al-Aqbāt fi al-ḥayā as-siyāsīya, 1979, 168. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 80 – 81. & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 30 – 31.

Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

459

in erster Linie mit einem religiösen Hintergrund, was aus dem Wahlprogramm unter dem Titel Die koptische Stimme deutlich hervorgeht.¹²⁴ Im Jahr 1995 wurde die Konferenz der Vereinten Nationen für die Rechte der Minderheiten veröffentlicht. Als Folge dessen wurden einerseits von Seiten der Gouverneurspartei in der Parlamentswahl des Jahres 1995 keine Christen nominiert. Andererseits nominierten alle anderen Parteien wiederum Christen, woraufhin zum ersten Mal die Anzahl von 57 christlichen Kandidaten erreicht wurde.¹²⁵ Die folgende Tabelle erklärt die Repräsentation der Christen in Parlament ab dem Jahr 1957 bis zum Jahr 2005:

Gewählte

Eingesetzte

Anzahl der Christen im Parlament

Anzahl der Parlamentarier

‒



-



¹²⁶

‒









‒









‒









‒

-







‒









‒









‒









‒







¹²⁷

‒

-







‒







¹²⁸

Das Jahr

Anhand der Tabelle zeigt sich, dass die Repräsentation der Christen in Parlament unter Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir weniger als ca. 3 % betrug, während unter Muḥammad Anwar as-Sādāt diese Prozentzahl auf ca. 3.9 % stieg, aber unter Muḥammad  Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 120 – 122.  ebd., 148 – 153.  al-Kalima (Das Wort), eine christliche Website, die über der Lage der Christen in Ägypten schreibt. „Anzahl der Christen im Parlament“, http://www.alkalema.net/persecuate/perse cuate13.htm.  Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 207.  al-Kalima. „Die Unterdrückung und die Einstellung des Landes“, http://www.alkalema.net/ persecuate/persecuate13.htm.

460

Ahmed Ishaq Amer

Ḥusnī Mubārak wieder auf ca. 2 % absank. Damit ist klar, dass die prozentuale Repräsentation der Christen im Parlament vor der ägyptischen Revolution im Jahr 1952 größer und überwiegend war.¹²⁹ Die Stellvertretung der Christen in Ministerium ab Jahr 1953 bis zum Jahr 2011 wird in nachfolgender Tabelle erfasst:

Das Jahr

Anzahl der Anzahl der Minister christlichen + Minister Premierminister

Das Ministerium, das die Christen verkörperten

Bemerkungen

 



Versorgungsminister

 



Ministerium für kommunale und ländliche Angelegenheiten

 



Ministerium für kommunale und ländliche Angelegenheiten

 



Versorgungsminister¹³⁰

 



Versorgungsminister

 



Versorgungsminister

Minister für Ägypten und Syrien

 



Versorgungsminister

Minister für Ägypten und Syrien

 



Versorgungsminister

Minister für Ägypten und Syrien

 



Versorgungsminister

Minister für Ägypten und Syrien

 



Versorgungsminister¹³¹

 



Versorgungsminister

 



Innen Handel und Versorgungsminister, daneben Stellvertreter des Premierministers

Trat später für das Verkehrsministerium an

 al-Kalima. „Anzahl der Christen im Parlament“, http://www.alkalema.net/persecuate/per secuate13.htm & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 207.  Ibrahim: The Copts of Egypt, 2011, 190. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 206.  Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 206.

Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

461

Fortsetzung

Das Jahr

Anzahl der Anzahl der Minister christlichen + Minister Premierminister

Das Ministerium, das die Christen verkörperten

 



Innen Handel und Versorgungsminister, daneben Stellvertreter des Premierministers

 

-

-

 



Verkehrsministerium

 



Verkehrsministerium¹³²

 



Verkehrsministerium

 



Verkehrsministerium

 



Verkehrsministerium

 



Tourismusministerium

 



Bewässerungsministerium

 



Bewässerungsministerium & Ministerium der Angelegenheiten des Parlaments

 



Tourismusministerium und Zivilflug & Ministerium der Angelegenheiten des Parlaments

 



Tourismusministerium und Zivilflug

 



Tourismusministerium und Zivilflug & Ministerium der Angelegenheiten des Parlaments

 



Tourismusministerium und Zivilflug & Ministerium der Angelegenheiten des Parlaments

 



Tourismusministerium und Zivilflug & Ministerium der Angelegenheiten des Parlaments

Bemerkungen

 al-Kalima. „Die Unterdrückung und die Einstellung des Landes“, http://www.alkalema.net/ persecuate/persecuate9.htm.

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Fortsetzung

Das Jahr

Anzahl der Anzahl der Minister christlichen + Minister Premierminister

Das Ministerium, das die Christen verkörperten

 



Tourismusministerium und Zivilflug & Außenministerium

 



Tourismusministerium und Zivilflug & Außenministerium

 



Stellvertreter des Primärminister für Angelegenheiten des Parlaments & Außenministerium

 



Stellvertreter des Primärminister für Angelegenheiten des Parlaments & Außenministerium

 



Stellvertreter des Primärminister für Angelegenheiten des Parlaments & Außenministerium



Ministerium für Angelegenheiten des Parlaments und des Senats & Staatsministerium für Außenangelegenheiten & Staatsministerium

 



Ministerium für Angelegenheiten des Parlaments und des Senats & Staatsministerium für Außenangelegenheiten & Staatsministerium

 



Staatsministerium für Außenangelegenheiten & die Angelegenheiten der Emigration

 



Staatsministerium für Außenangelegenheiten & die Angelegenheiten der Emigration

 



Staatsministerium für Außenangelegenheiten & die Angelegenheiten der Emigration

 



Staatsministerium für Außenangelegenheiten & die Angelegenheiten der Emigration

 

Bemerkungen

Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

463

Fortsetzung

Das Jahr

Anzahl der Anzahl der Minister christlichen + Minister Premierminister

Das Ministerium, das die Christen verkörperten

 



Staatsministerium für Außenangelegenheiten & die Angelegenheiten der Emigration

 



Wirtschaftsministerium & Staatsministerium für die Umwelt¹³³

 



Staatsministerium für Premierministerium & Staatsministerium für die Wissenschaftliche Erforschung

 



Wirtschaftsministerium & Staatsministerium für die Umwelt

 



Wirtschaftsministerium & Staatsministerium für die Umwelt

 



Außenhandelsministerium & Staatsministerium für die Umwelt

 



Absicherungen- und Finanzministerium & Staatsministerium für die Umwelt¹³⁴

Bemerkungen

Von den Tabellen lässt sich ablesen, dass die Anzahl der Christen in den Ministerien zunächst für 20 Jahre bei einem Minister blieb, sich für zwei Jahre auf 3 Minister und bis zur ägyptischen Revolution im Jahr 2011 auf zwei Minister änderte, unerheblich ob die Gesamtanzahl aller Minister ab- oder zunahm. Es ist anzumerken, dass Christen kein beherrschendes Ministeramt innehatten; sie bekamen selten entscheidende Ministerien zugeteilt.¹³⁵ Eine Ausnahme stellte der Christ Buṭrus Ġālī (gest. 2016) dar: der damalige Staatsminister für Außen-

 al-Kalima. „Die Unterdrückung und die Einstellung des Landes“, http://www.alkalema.net/ persecuate/persecuate9.htm & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 208.  al-Kalima. „Die Unterdrückung und die Einstellung des Landes“, http://www.alkalema.net/ persecuate/persecuate9.htm.  al-Kalima. „Die Unterdrückung und die Einstellung des Landes“, http://www.alkalema.net/ persecuate/persecuate9.htm & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 206; 208.

464

Ahmed Ishaq Amer

angelegenheiten trat am 1. Januar 1992 bis zum Dezember 1996 als Generalsekretär der Vereinten Nationen an. In den Quellen gibt es Widersprüche über die Anzahl der gesamten und christlichen Minister. Daneben gibt es eine Übertreibung von einigen christlichen Quellen. Es existiert keine unabhängige Quelle, die diese Informationen voll bestätigen kann. Nach der Revolution 1952 gab es keine christlichen Botschafter mehr, obwohl zuvor viele Christen Ämter wie Botschafter oder Außenminister innegehabt hatten. Im Jahr 1973 wurden von 50 Botschaftern zwei Christen als Botschafter eingesetzt. Dann wurden 14 von 186 Botschaftern, also etwa 3 % der Stellen, mit Christen besetzt.¹³⁶ Nach dem Jahr 1952 wurde kein Christ Universitätspräsident, und damit auch nur wenige christliche Dekane in den Fakultäten eingesetzt. Die christlichen Professoren in der medizinischen Fakultät machten weniger als 4 % aus, obwohl ihre Anzahl vor der Revolution im Jahr 1952 bei mehr als 40 % lag. Die christlichen Studenten bildeten in der Medizinfakultät noch 40 %.¹³⁷ Kein Christ wurde in den Ermittlungsdienst für Staatssicherheit eingesetzt. In den letzten 60 Jahren wurden nur drei Christen Gouverneure. Der erste und zweite¹³⁸ wurde im Jahr 1978 und 1980 von Muḥammad Anwar as-Sādāt eingesetzt,¹³⁹ der dritte im Jahr 2006 von Muḥammad Ḥusnī Mubārak.¹⁴⁰ Es gibt hier Widersprüche bei der Anzahl der Gouverneure, denn einige christliche Quellen behaupten, dass es keine christlichen Gouverneure gab,¹⁴¹ während andere meinen, dass nur ein Gouverneur existierte,¹⁴² während wieder andere sie als zwei¹⁴³ und andere als drei Gouverneure angeben. Auf der anderen Seite erklärt der islamische Forscher Muḥammad ʿImāra (gest. 2020) in einem statistischen Report, dass die Christen in Ägypten 22.5 % der Firmen innehaben, die von 1974 bis 1995 in Ägypten gegründet wurden. Sie be-

 Baḥr: al-Aqbāt fi al-ḥayā as-siyāsīya, 1979, 166.  ebd., 166 – 167.  Qenshrin, eine christliche Website. „Präsident Mubarak setzt zum ersten Mal seit 30 Jahren einen Christen als Gouverneur ein“, http://www.qenshrin.com/details.php?id=602.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 405 – 406; 409 – 410.  Qenshrin, eine christliche Website. „Präsident Mubarak setzt zum ersten Mal seit 30 Jahren einen Christen als Gouverneur ein“, http://www.qenshrin.com/details.php?id=602 & al-Kalima. „Die Unterdrückung und die Einstellung des Landes“, http://www.alkalema.net/persecuate/per secuate9.htm.  al-Kalima. „Anzahl der Christen im Parlament“, http://www.alkalema.net/persecuate/per secuate13.htm.  al-Kalima. „Die Unterdrückung und die Anstellung des Landes“, http://www.alkalema.net/ persecuate/persecuate9.htm.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 405 – 406; 409 – 410.

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sitzen 20 % der Baufirmen in Ägypten, 50 % der Beratungsbüros, 60 % der Apotheken sowie 45 % der Privatkliniken. Weiterhin repräsentieren Christen 20 % der Geschäftsmänner und 25 % der Christen gehen einer renommierten Tätigkeit nach wie beispielsweise Arzt, Ingenieur, Apotheker oder Jurist.¹⁴⁴

2.2.4 Öffentliche religiöse Ausübungen Die Christen in Ägypten beklagen, dass sie beim Bau oder der Renovierung von Kirchen auf große Schwierigkeiten treffen und beanstanden die mangelnde Freiheit im Vergleich zu den Muslimen. In diesem Zusammenhang ist kommt das hamayounische Dekret arab. „al-ḫaṭ al-hamayūnī“, das einige Regeln für den Bau und Renovierung der Kirchen aufstellte, immer wieder zur Sprache.¹⁴⁵

2.2.4.1 Der Bau der Kirchen und das hamayounische Dekret Viele in Ägypten behaupten, dass die Christen deshalb beim Bau der Kirchen ein Problem haben, da sie die Gesetze vom osmanischen Reich im Jahr 1856 befolgen, was nicht zu den neuen Gesetzen der Bürgerrechte passt.¹⁴⁶ An dieser Stelle sollen zunächst diese Regeln erklärt werden, die als das „hamayounische Dekret“ bezeichnet werden. Das „hamayounische Dekret“ ist ein Gesetz des osmanischen Sultans Abd-alMadschid, (reg. 1839 – 1861) das im Jahr 1856 veröffentlicht wurde. Man kann die Beschlüsse dieses Gesetzes in die folgenden Regeln zusammenfassen: – Alle Bürger im osmanischen Reich sind gleich in allen Rechten und Aufgaben. – Jede Konfession im Christentum wählt ihr Oberhaupt aus. Danach geben sie dem Kalifen nur Bescheid. Die christlichen Oberhäupter bleiben bis zu ihrem Tod in ihren Positionen, niemand kann sie entlassen. Es soll ein Gremium von Klerikern und normalen Christen gebildet werden, die die Angelegenheiten der Konfessionen betrachten. – Nur der Sultan kann die Erlaubnis des Baus und der Renovierung einer Gebetsstätte und der Grüfte der Nichtmuslime geben. – Befreiung der Kirchen von der Steuer. Alle Bürger bekommen den Wehrdienst. – Es soll niemand gezwungen werden, seine Religion zu verlassen.  ʿImāra, Muḥammad: „ʾUkḏūbat al-Iḍṭihād ad-dīnī fi miṣr.“ In Qaḍāyā ʾislāmīya, eine monatliche Zeitschrift für die islamischen Fragen, hg.v. Stiftungsministerium die Höhe, Amt der islamischen Angelegenheiten in Ägypten, Bd. 60, 2000, 42.  al-Anṭūnī:Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 322; Bd. 4, 2004, 455 – 456.  ʿImāra. ʾUkḏūbat al-Iḍṭihād ad-dīnī, 2000, 22.

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– –



Ahmed Ishaq Amer

Alle Wörter einer Religion und Konfession, die den Menschen schaden, sollen abgeschafft werden. Die Arbeit in Ämtern und Anstellungen in Regierung oder Armee sind nur abhängig von den Fähigkeiten und der Qualifizierung des Menschen, unabhängig von ihrer Religion. Die Anklage gegen Muslime und Christen wird in besonderen Gerichten, in denen Muslime und Christen die Richter stellen, untersucht.¹⁴⁷

Dr. Mīlād Ḥannā (gest. 2012) meint, dass diese Regeln gut für die Christen seien. Dieses Gesetz betont die Respektierung aller Konfessionen des Christentums und den Schutz der Kirchen. Daneben wird erklärt, dass es keine Beschränkung für den Bau und die Renovierung der Kirchen gibt, aber die Christen zuerst eine Erlaubnis vom Herrscher bekommen sollten. Diese Erlaubnis sollte abgeschafft werden, da sie nicht der islamischen Regelung in der Verfassung entsprach.¹⁴⁸ Er fährt fort, dass die Ära des osmanischen Reiches zu Ende sei, weshalb es keine Beschränkung für den Bau und die Renovierung der Kirchen geben solle, die der islamischen Regel und den Bürgerrechten in der Verfassung entgegenstünde.¹⁴⁹ Das „hamayounische Dekret“ war ein Gesetz, das Nicht-Muslime den Muslimen in allen Rechten und Aufgaben gleichstellt und die nicht-islamischen Minderheiten schützt.¹⁵⁰ In die Wahrheit sind diese Regeln des hamayounischen Dekret nicht das gültige Gesetz des Bauens und der Renovierung der Kirchen.¹⁵¹ Im Februar 1934 wurde ein Dekret vom Innenministerium erlassen, in dem einige Regeln zum Bau der Kirchen aufgestellt wurden.¹⁵² Diese Regeln bestimmen: – Die Anlage des Bodens, auf dem die Kirche gebaut wird, beispielsweise ob er Ackerland oder anderweitig genutztes Gelände ist. Die Genehmigung des Bewässerungsministeriums ist notwendig, wenn die Kirche in der Nähe von Brücken und Kanälen errichtet werden soll. – Die Entfernung der Kirche zu den Moscheen. – Die Entfernung der Kirche zu anderen Kirchen und den Häusern der Christen. – Das Einverständnis der Muslime zum Bau der Kirche. – Die Anzahl der Anhänger der Konfession im gleichen Gebiet, in dem die Kirche gebaut werden sollte.

 Ḥannā: Miṣr li kol al-miṣrīyyn, 1993, 196 – 203. & ʿImāra: ʾUkḏūbat al-Iḍṭihād ad-dīnī, 2000, 24– 28.  Ḥannā: Miṣr li kol al-miṣrīyyn, 1993, 195.  ebd., 196.  ʿImāra: al-Aʿmāl al-kāmila lil-imām aš-šayḫ Muḥammad ʿAbduh, Bd. 1, 1993, 22– 23.  ebd., 28 – 32.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 444.

Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

– – –

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Die Zustimmung der nationalen Behörde für Eisenbahnen, wenn die Kirche neben Bahnlinien oder Eisenbahngebäuden liegt. Eine Erklärung an die öffentlichen Gebäude neben der Kirche. Eine Konstruktionszeichnung des Baus der Kirche.

Diese Regeln sind unvereinbar mit dem hamayounischen Dekret. Entsprechenden Widerstand gab es daher von Seiten der christlichen Vertreter. Auffällig ist, dass die Wafd-Partei diese Gesetze beschlossen hat, als sie die Regierung im Jahr 1934 antrat, obwohl die Wafd-Partei bekannt dafür war, dass sie sehr tolerant gegenüber den Christen ist. Daneben gab es viele Christen im Parlament, den Ministerien und den Parteien, aber keiner der Liberalisten, Christen oder Muslime hat gegen diese Entscheidung protestiert, obwohl diese Regeln gegen die Verfassung des Jahres 1923 sind. Die Praxis jedoch sah anders aus: Wie William Sulaymān Qīlāda (gest. 1999) in seinem Buch Das Christentum und der Islam in Ägypten erklärt, hat der zentralistische Amtsapparat der Statistik in Ägypten im Jahr 1934 veröffentlicht, dass die Anzahl der Kirchen in Ägypten 1442 beträgt, während offiziell beim Innenministerium nur 500 Kirchen angemeldet waren, was erklärt, dass der Bau der Kirchen auch ohne Erlaubnis von Seiten der Herrscher erfolgte.¹⁵³ Aber das Gesetz selbst stellt ein Problem für die Christen dar, unabhängig davon, ob sie Problemen beim Bau und der Renovierung der Kirchen begegnen oder nicht. Dr. Mīlād Ḥannā erläutert diesbezüglich, dass zwei Mal in der Zeitung geschrieben wurde, der Präsident und der Innerminister hätten ihre Zustimmung gegeben, dass Toilette und Becken renoviert werden. Die Zeitung führte weiter aus, dass die Gebetsstätten der Nichtmuslime nur mit der Erlaubnis des Innenministers gebaut oder renoviert werden.¹⁵⁴ Ḥannā erklärt auch, dass die Priester die Rechtsvorschriften umgehen, indem sie ein Haus kaufen und höhere Mauern darum bauen. Dann werde dieses Haus zu einer Kirche umfunktioniert, damit die Regierung eine gebaute Kirche findet und nichts dagegen unternimmt. Das bringe viele Muslime auf, weil sie die Vorschriften nicht befolgt sehen.¹⁵⁵ Der vierte Präsident Muḥammad Ḥusnī Mubārak befahl in der Entscheidung Nummer 453 für das Jahr 1999, dass die Erlaubnis des Baus und der Renovierung der Gebetsstätten, Moscheen und Kirchen unter dem staatlichen Baugesetz stehe.¹⁵⁶ Im Jahr 2005 wurde unter dem Dekret des Präsidenten Nummer 291 für das Jahr 2005 veröffentlicht, dass die Gouverneure die Erlaubnis zum Bau und der Renovierung der Kirchen    

al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 444. Ḥannā: Miṣr li kol al-miṣrīyyn, 1993, 165. ebd., 167. al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 4, 2004, 37.

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erteilen können. Der Gouverneur soll den Antrag des Baus der Kirche innerhalb von 30 Tagen untersuchen und einen Bescheid erstellen. Er kann die Anfrage nicht ablehnen, außer es spricht wichtiger Grund dagegen, welcher erklärt werden muss. Die Christen wiederum können die Kirchen renovieren oder aufbauen, aber sie müssen der Bezirksregierung einen entsprechenden Bescheid geben.¹⁵⁷ Die Präsidenten in Ägypten haben kein Problem mit dem Bau der Kirchen. Der zweite Präsident Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir im Jahr 1956 wurde gefragt, ob er befohlen habe, dass eine neue Kirche gebaut wird. Er erwiderte: „Nur eine Kirche? Warum nur eine Kirche! Dieses Land ist Land der Ägypter Muslimen und Christen […]“ da wurde er nochmal gefragt: „Heißt das, dass Ihre Politik die Gleichheit zwischen den Muslimen und den Christen ist?“ Da antwortete er klar: „Wir haben keine religiöse Politik, unsere Politik ist ägyptische Politik […].“¹⁵⁸ Im Jahr 1968 schloss die Polizei eine Kirche, aber Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir befahl, dass die Kirche wieder geöffnet wird und sagte: „Die Gebetsstätten sollen verbreitet werden, der Glauben soll alle Herzen berühren und alle sollen Allah¹⁵⁹ kennen.“¹⁶⁰ Präsident Muḥammad Anwar as-Sādāt bezahlte im Jahr 1971 100.000 ägyptische Pfund für eine Baufirma, bei der die Christen Schulden für den Bau der Markuskathedrale in Kairo hatten, die sie nicht tilgen konnten. Er ordnete im Sinai eine religiöse Sammelaktion an, durch die eine Moschee, eine Kirche und eine Synagoge gebaut werden konnten.¹⁶¹ Muḥammad Anwar as-Sādāt befahl, dass die koptische Schule, in der er als Kind gelernt hatte, renoviert werden soll. Daneben wurde dort für Christen eine Kirche errichtet. Im Jahr 1979 gab er 5.000 amerikanische Dollar für den Kauf einer Kirche für die Kopten in Washington, USA, aus.¹⁶² Er befahl, dass in jeder neuen Stadt eine neue Kirche gebaut wird.¹⁶³ Im Jahr 1972 befragte Präsident Muḥammad Anwar as-Sādāt den Papst zu den Problemen der Kirchen. Der Papst erzählte vom Problem des Baus der Kirchen und verlangte, dass die Christen jährlich 40 Kirchen bauen dürfen. Der Präsident versprach, dass er ihm jährlich die Erlaubnis zum Bau von 50 Kirchen erteilen werde.¹⁶⁴ 1977 traf der Präsident die Oberhäupter der Christen. Der Papst erklärte

 U.S. Departement of State, Egypt: International Religious Freedom Report 2008, http://www. state.gov/j/drl/rls/irf/2008/108481.htm.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 122.  Die Christen nennen Gott auf Arabisch auch Allah.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 123.  ebd., 260.  ebd., 259.  ebd., 255 – 256.  ebd., 80 – 81.

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ihm, dass sie anstatt der 50 jährlich erlaubten Kirchen, lediglich 58 in 4 Jahren bauen durften. Daneben wurde der Präsident über die anhaltenden Probleme beim Bau der Kirchen und den Übergriffen auf Gotteshäuser in Kenntnis gesetzt. Daraufhin ordnete der Präsident die Entlassung der Gouverneure an, die die Kirchen nicht schützen konnten oder wollten. Darüber hinaus sagte er, dass er eine kleine Gebetsstätte für Christen auf allen Plätzen bauen wolle, wie es die Muslime taten.¹⁶⁵ Wie weiter oben erläutert, traf der vierte Präsident Muḥammad Ḥusnī Mubārak mehrere Entscheidungen, um die Genehmigung zum Bau und der Renovierung der Kirchen zu erleichtern.¹⁶⁶ Der Präsident selbst sagte in einem Gespräch, welches am 15. August 1997 in der staatlichen Zeitung al-ʾAhrām veröffentlicht wurde, dass er den Christen mehr Genehmigungen zum Bau der Kirchen gegeben habe, als die Christen unter dem alten Präsidenten zusammen bekommen hätten.¹⁶⁷ Er erläuterte auch, dass er niemals eine Genehmigung ablehnte und Muslime ebenso diese Genehmigung erteilt bekommen müssen, um eine Moschee zu bauen.¹⁶⁸ Es wurden im Jahr 1998 ca. 25 Baugenehmigungen von Kirchen in Ägypten gegeben, im Jahr 1999 ca. 39 Zustimmungen und im Jahr 2000 ca. 50 Einwilligungen.¹⁶⁹ Im Jahr 2008 veröffentlichte der Gouverneur der Stadt Asyut, dass er 200 Genehmigungen zum Bau und Renovierung der Kirchen gegeben habe.¹⁷⁰ Der Präsident erteilte in Abwesenheit die Genehmigung Nummer 64 für das Jahr 2010, dass die Christen eine Kirche in einer neuen Stadt namens al-ḫāmis ʿašar min māyū bauen können. Daneben erlaubte der Präsident Muḥammad Ḥusnī Mubārak, dass die Christen Kirchen in allen Gebieten in Ägypten bauen können. So bauten die Christen im Jahr 2005 im Zuge der Entscheidungen Nummer 174 und 175 auch Kirchen in den Oasen in Ägypten. Die Regierung betrachtet Kirchen und die Moscheen als gleichwertig. Es ist nachgewiesen, dass der Präsident staatliche Gelder für den Kirchenbau verwendete. ¹⁷¹ Es gibt in Ägypten keine klare statistische Darstellung für die Anzahl und die Fläche der Kirchen in Ägypten, die als wissenschaftlich sicher dokumentierte

 ebd., 71– 78.  Vgl. 2.2.2 Die Beziehung zwischen den Christen und der Regierung in der ägyptischen Republik.  al-Anṭūnī, Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 4, 2004, 35; 374.  ebd., 374.  ebd., 37.  U.S. Department of State, Egypt: International Religious Freedom Report, http://www.state. gov/j/drl/rls/irf/2008/108481.htm.  al-Anṭūnī, Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 4, 2004, 48.

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Quelle gilt.¹⁷² Die Christen selbst geben keine genauen Informationen darüber. So gibt es viele verschiedene Aussagen über die Anzahl und Fläche der Kirchen in Ägypten. Der Schriftsteller Anwar Muḥammad schrieb in seinem Buch as-Sādāt wa alBaba, dass die Anzahl der Kirchen in Ägypten bei 2.400 liegt. Das heißt, auf 1.250 Christen kommt eine Kirche, während das Verhältnis der Anzahl der Moscheen zur Anzahl der Muslime 1:1.227 ist. Somit hätten die Christen hinsichtlich ihrer Anzahl mehr Kirchen als die Muslime Moscheen.¹⁷³ So gibt es viele Angaben für die Kirchen in Ägypten, jedoch keine klar dokumentierten Daten. Die garantierten Informationen, die als seriös angenommen werden können, sind die Äußerungen, die von der staatlichen ägyptischen Zeitung al-ʾahrām und einigen nationalen ägyptischen Zeitungen unter Berufung auf den früheren Gutachter Dr. Muḥammad ad-Dusūqī im zentralistischen Amtsapparat der Statistik in Ägypten veröffentlicht wurden, dass im Jahr 2006 die Christen 5.8 % der Ägypter bildeten, während es bei den Muslimen 94 % sind und es 2 % gibt, die offiziell keiner Konfession angehören. Anhand einer amerikanischen Studie erklärte er, dass pro 16.000 Christen eine Kirche existiere, während es pro 19.000 Muslime eine Moschee gebe. Demnach hätten die Muslime hinsichtlich ihrer Anzahl weniger Moscheen als die Christen Kirchen.¹⁷⁴

2.2.4.2 Die christlichen Feste und Zeremonien Präsident Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir hat sich eingehend mit den christlichen Festen und Zeremonien beschäftigt. So wurde im Jahr 1953 die Entscheidung getroffen, dass christliche Beamte zu allen christlichen Festen einen Feiertag bekommen. Im Jahr 1967 wurde dieses Dekret auch auf die Christen, die in Firmen arbeiten, ausgeweitet.¹⁷⁵ Dies ist bis zur heutigen Zeit wirksam. Der Bescheid aus dem Jahr 1953 hat die Feste, in denen die Nichtmuslime Feiertage nehmen können, wie folgt präzisiert:

 Als ich persönlich mit dem zentralistischen Amtsapparat der Statistik in Ägypten Kontakt aufnahm um mich dort nach der Anzahl der Kirchen zu erkundigen, wurden mir die Angaben verweigert.  ʿImāra: ʾUkḏūbat al-Iḍṭihād ad-dīnī, 2000, 44.  al-ʾAhrām, eine staatliche ägyptische Zeitung. „Anzahl der Moscheen für die Muslime weniger als Anzahl der Kirchen für die Christen“, http://gate.ahram.org.eg/News/85190.aspx & alYawm al-Sābiʿ, eine ägyptische Zeitung. „Die staatliche Unterstützung des Abkommens mit alAzhar“. In diesem Aufsatz wird die Anzahl der Kirchen für die Christen und die Anzahl der Moscheen für die Muslime erklärt.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 47.

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Orthodoxe Christen müssen an Weihnachten, dem Dreikönigstag, Palmsonntag, Gründonnerstag und an Ostern nicht arbeiten, und sie können zum Nairuz-Fest (das Fest zum Jahresanfang des koptischen Jahres) bis 10 Uhr verspätet in der Arbeit erscheinen. Katholiken und Protestanten müssen an Weihnachten, Silvester und Ostern nicht arbeiten. Juden müssen am hebräischen Neujahrstag, dem Versöhnungstag Jom Kippur und zum Pessach-Fest nicht arbeiten.¹⁷⁶

Im Dezember 2002 entschied Präsident Muḥammad Ḥusnī Mubārak, dass Weihnachten, der 07.01, ein nationales ägyptisches Fest sei, in dem das ganze Land einen Ferientag bekommt.¹⁷⁷ Er entschied, dass die Feiern und die Gebete der Kirchen zum Fest im Fernsehen live übertragen werden. Vorher waren sie am nächsten Tag gesendet worden.¹⁷⁸ Daneben wurden unter dem Präsidenten die Präsenz der Christen verstärkt und die Beschäftigung mit ihnen in allen Medien aufgenommen.¹⁷⁹ Die Christen verlangten mehr Raum in den Medien, da sie ungeachtet von den Festen und Feiern wöchentlich 45 Minuten im staatlichen Fernsehen haben, Muslime jedoch mehr Programme in den Medien haben.¹⁸⁰

2.2.5 Die religiösen Gesetze der Christen Es gibt Beschwerden von einigen Christen und einigen säkularen Muslimen, dass die Christen in ihren persönlichen Angelegenheiten im modernen Ägypten den islamischen Gesetzen unterlägen. Daher sollte man darstellen, nach welchen Gesetzen die Christen beurteilt werden sollen. Als die staatlichen Gerichte im Jahr 1883 gegründet wurden, wurden nur die persönlichen Gelegenheiten in den religiösen Gerichtshöfen untersucht, während andere Beschwerden in nationalen Gerichten unter dem nationalen Gesetz beurteilt wurden.¹⁸¹ Im Jahr 1955 wurden mit dem Gesetz Nummer 462 die kirchli-

 ebd., 48.  Vgl. 2.2.2 Die Beziehung zwischen den Christen und der Regierung in der ägyptischen Republik & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 4, 2004, 50 – 52.  Vgl. 2.2.2 Die Beziehung zwischen den Christen und der Regierung in der ägyptischen Republik & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 4, 2004, 52.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 4, 2004, 38.  ebd., 319.  aš-Šarqāwī, Ǧamīl: al-Aḥwāl aš-šaḫṣīya li-ġayr al-muslimīn, Kairo: Dar an-nahḍa al-ʿarabīya Verlag, 1974, 4.

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chen Gerichte und die islamischen Gerichtshöfe aufgelöst.¹⁸² Alle Beschwerden wurden nur in staatlichen Gerichten behandelt, um Chaos und Paradoxie in juristischen Entscheidungen zu beenden. Damit galten nur ein einziges Gesetz und eine Gerichtsbarkeit für alle Bürger.¹⁸³ Als sich die Kirche über die Entscheidung beklagte, wurde mit Gesetz Nummer 29 des Jahres 1955 eine neue Verordnung veröffentlicht, nach der ein Kleriker in jedem Gerichtsgebäude eingesetzt werden soll, um die Fälle der Heirat und der Scheidung zu entscheiden.¹⁸⁴ Dennoch blieben die Beschwerden in persönlichen Angelegenheiten unter der Gesetzgebung der Religionen. Demnach wird eine Beschwerde, in der früher religiöse Gerichte urteilten, auch nach den religiösen Gesetzen der Beklagten begutachtet.¹⁸⁵ So wurden nur einige wenige Fragen der persönlichen Angelegenheiten aller Religionen und Konfessionen unter einem einzigen Gesetz organisiert. Die Fragen der Bevormundung und der Treuhand werden unter dem Gesetz des Landes Nummer 119 des Jahrs 1952 geführt. Fälle von verschwundenen und verschollenen Menschen und die daraus folgenden Konsequenzen werden von Gesetz Nummer 25 des Jahrs 1929 kontrolliert, und der Artikel wird mit der islamischen Scharia ergänzt. Die Frage der Erbschaft wird unter Gesetz Nummer 77 des Jahrs 1943 geregelt, die Frage des Vermächtnisses wiederum nach Gesetz Nummer 71 des Jahrs 1946. Die Artikel Nummer 875 der Erbschaft und Artikel Nummer 915 des Vermächtnisses erklären, dass diese Gesetze von der islamischen Scharia organisiert werden. Die religiösen Gesetze werden nur in Familienangelegenheiten wie Heirat, Scheidung sowie den Rechten und Pflichten des Ehepaars angewendet.¹⁸⁶ Artikel Nummer 6 des Gesetzes Nummer 462 des Jahres 1955 verdeutlicht, dass Nichtmuslime, die zur selben Konfession gehören und schon ein kirchliches Gericht zur Zeit dieses Gesetzes haben, in ihren persönlichen Beschwerden nach ihren religiösen Gesetzen beurteilt werden. Das heißt, die Beklagten sollen zur gleichen Religion und Kirche gehören; wenn die beklagten Christen zu verschiedenen Glaubensrichtungen gehören, wurde hier auf die islamische Scharia zurückgegriffen, da die christli-

 Iskander, Sameh: Hinkende Ehen zwischen islamischem Recht und europäischem internationalen Privatrecht. Dargestellt am Beispiel Deutschlands und Ägyptens. Hamburg: Verlag Dr. Kovač, 2009, 59. & aš-Šarqāwī: al-Aḥwāl aš-šaḫṣīya, 1974, 4; 6. al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa alqibṭiya, Bd. 2, 2002, 32. & Hage: Das orientalische Christentum, 2007, 189 – 190.  aš-Šarqāwī: al-Aḥwāl aš-šaḫṣīya, 1974, 6. & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 32. & Höpfner, Willi, Hg.: Die Frau bei den Kopten und Moslems in Ägypten. Christentum und Islam. Breklumer Verlag, Bd. 13, 1982, 35 – 38.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 33.  aš-Šarqāwī: al-Aḥwāl aš-šaḫṣīya, 1974, 4; 9.  ebd., 4– 5.

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chen Glaubensbekenntnisse kein Gesetz haben, das unter den verschiedenen Glaubensgemeinschaften urteilt.¹⁸⁷ Das Gesetz setzt voraus, dass die Gesetze der Nichtmuslime der öffentlichen Ordnung des Landes nicht entgegenwirken. Zum Beispiel besagen Artikel Nummer 69 des Jahres 1938 und Artikel Nummer 64 des Jahres 1955 der Vorschriften der orthodoxen Kopten, dass der geschiedene Mann nicht mehr heiraten kann. Da dieses Gesetz aber gegen die menschliche Freiheit verstößt, weil es den Mann daran hindert, eine Familie zu gründen, und auch der Islam diese Beschränkung nicht anerkennt, kann der geschiedene orthodoxe Mann juristisch gesehen problemlos erneut heiraten. Demnach seien diese orthodoxen Gesetze vor der Gesetzgebung des Landes ungültig.¹⁸⁸ Im Jahr 1977 wurde ein Gesetz von al-Azhar vorgeschlagen. Dieses Gesetz heißt qānūn al-ridda, das „Gesetz der Apostasie“, in dem ein Muslim die Todesstrafe bekommen würde, wenn er den Islam verließe. Nach langem Streit und Konferenzen von Christen und Muslimen gab die Regierung bekannt, dass dies nur ein Vorschlag sei, der die Perspektive der Regierung nicht reflektiert und daher von der Staatsmacht abgelehnt wird.¹⁸⁹ Am 21.03.1994, in Klage Nummer 104, entschied ein Richter zugunsten eines Christen, dass er zwei Frauen haben dürfe, weil seine Frau einer anderen Konfession angehörte. Dies sorgte für Aufregung bei allen christlichen Glaubensgemeinschaften des Landes, da keine christliche Glaubensrichtung in Ägypten die Polygamie vertritt. Die Kirche klagte über das Urteil, woraufhin dieses wieder aberkannt wurde, denn laut der islamischen Scharia sollen Christen nach ihrem religiösen Glauben handeln. Im Jahr 1979 versammelten sich Vertreter aller christlichen Glaubensbekenntnisse, um ein einziges Gesetz für persönliche Angelegenheiten der Christen für die Regierung anzubieten.¹⁹⁰ So soll die islamische Scharia angewandt werden, wenn ein Unterschied zwischen den Kirchen besteht, da Artikel Nummer 99 betont, dass die streitenden Parteien nicht geschieden werden können, wenn sie verschiedene Konfessionen haben, außer wenn ihre Kirchen an Ehescheidung glauben und sie anerkennen.¹⁹¹

    

ebd., 15 – 23; 28 – 29. ebd., 23 – 26. al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 29 – 40. ebd., 98 – 120. aš-Šarqāwī: al-Aḥwāl aš-šaḫṣīya, 1974, 16 – 23; 28 – 29.

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2.2.6 Die finanzielle Abgabe und die Stiftung Bezüglich der finanziellen Abgaben und der Stiftungen in Ägypten scheint anhand der Daten deutlich, dass kein Unterschied zwischen den Christen und den Muslimen besteht, sondern auch die Kirche ihre Stiftungen bekommen hat, während Al-Azhar bislang noch erfolglos ihre Stiftungen zu erhalten versucht, wie im Folgenden dargestellt wird. Nach allen ägyptischen Verfassungen ab dem Jahr 1923 sind alle Ägypter, Muslime und Nichtmuslime, in allen Rechten und Abgaben gleich, was auch für die finanzielle Abgabe gilt.¹⁹² Das zeigte sich auch bei der Verstaatlichung des Eigentums. Es wurde nicht zwischen Muslimen und Christen unterschieden.¹⁹³ Diese Verstaatlichung betraf die islamischen und christlichen Stiftungen. Es wurde unter dem Gesetz Nummer 180 des Jahres 1952 entschieden, dass alle Stiftungen, die nicht auf Wohltaten (das betrifft die Stiftung der al-Azhar und der Kirchen) beruhen, aufgelöst werden sollen. Im Jahr 1957 wurde unter dem Gesetz Nummer 152 angeordnet, für Wohltaten gestiftetes Ackerland der Nichtmuslime innerhalb von drei Jahren durch andere Grundstücke zu ersetzen. Im Artikel Nummer 6 des gleichen Gesetzes wurde erklärt, dass es eine Ausnahme von 200 Feddan für jedes Grundstück gibt, die im Besitz der Kirchen bleiben können.¹⁹⁴ Am 19. Juli 1960 wurde ein anderes Gesetz entschieden, um die Wohltätigkeitsstiftungen der Orthodoxen Kirche aufzulösen. Demnach werden 200 Feddan Ackerland und 200 unbebauten Landes von jeder Stiftung der Wohltaten der Patriarchate, der Kirchenprovinzen, der Klöster, Kirchen, christlichen Lehrinstituten der orthodoxen Kopten und aller anderen gemeinnützigen Bereiche von jeder Stiftung ausgenommen, die in der Hand der orthodoxen Kirche bleiben können und nicht ersetzt werden. Daneben soll eine Institution von Christen und dem Papst unter dem Namen „Stiftung der orthodoxen Kopten“ gebildet worden sein, die diese Unternehmung kontrollieren solle.¹⁹⁵ Daraufhin wurden mit der Entscheidung Nummer 1433 des Präsidenten des Jahres 1960 und der Entscheidung Nummer 962 des Präsidenten des Jahres 1966 der Papst und die christlichen Mitglieder der Stiftung der orthodoxen Kopten eingesetzt, denen die volle Verantwortung für alle christlichen Stiftungen übertragen wurde.¹⁹⁶ Demzufolge wurde das Eigentum der Stiftungen aller Kirchen kalkuliert, und es wurden mehr als 100 Stiftungen an die Kirche zurückgegeben. Daneben wurden 200 Feddan     

Vgl. 2.2.1 Die Verfassungen der ägyptischen Republik. al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 26 – 27. ebd., 37. ebd., 37– 39. ebd., 39 – 42.

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Ackerland und 200 Feddan Brachland jeder Stiftung jedes Patriarchats, jeder Kirchenprovinz, jedes Klosters, jeder Kirche und jedes christlichen Lehrinstituts einbehalten und der Rest ersetzt.¹⁹⁷ Die Christen versuchten danach, den Rest ihrer Stiftung von der Regierung zurückzuerhalten. Sie erhielten ein Versprechen von Präsident Muḥammad Anwar as-Sādāt, dass sie ihre Stiftung wiederbekommen, da sie nicht viele Stiftungen hatten. Jedoch wurde er getötet, bevor die Christen den Rest der Stiftungen bekommen konnten.¹⁹⁸ Im Jahr 1996 wurde ein Komitee unter der Nummer (133 A) von 8 Christen und 6 Muslimen gebildet, um das Problem des Rests der christlichen Stiftungen zu untersuchen. Nach diesem hatten die Christen ihre Stiftung bereits erhalten.¹⁹⁹ Auf der anderen Seite wurden im gleichen Gesetz 180 des Jahrs 1952 die Stiftungen der al-Azhar weggenommen, aber mit dem Versprechen, dass die Regierung Gelder für al-Azhar und seinen Bedarf ausgibt. Dies wurde jedoch nicht lange durchgeführt, womit die ökonomische Basis al-Azhars zerstört wurde.²⁰⁰ AlAzhar hat viele Aktivitäten und spielt eine bedeutungstragende Rolle, daher hatte sie zahlreiche Stiftungen. Die Verluste lagen im Milliardenbereich, weil diese Stiftungen der Moschee ein ursprüngliches Jahreseinkommen von 8 Millionen ägyptischen Pfund eingebracht hatten. Da das Jahreseinkommen für al-Azhar nur noch 800.000 ägyptische Pfund betrug, wurde später verlangt, dass die Stiftung der al-Azhar wie die Stiftung der Kirche betrachtet wird.²⁰¹

2.2.7 Die Ausbildung Gleich nach der Revolution im Jahr 1952 wurde entschieden, dass die Schulbildung für alle Ägypter kostenlos sein soll. Nur die Abiturnote ist entscheidend für den Zugang zur Universität. Es wurde ein strenges System festgelegt, in dem die Schüler je nach ihren Noten die passenden Fakultäten besuchen. Es wurde nur ein einziger Lehrgang für alle Schulen in Ägypten bereitgestellt. Die Missionare und ausländischen Schulen wurden unter die Aufsicht des Landes gestellt. Das

 al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 43–45.  ebd., Bd. 3, 2002, 76 – 77.  ebd., Bd. 4, 2004, 37– 38.  Das arabische Netz der Informationen der Menschenrechte. „Die Landkarte der islamischen Bewegungen in Ägypten: Die normale Bewegung, Teil 1 al-Azhar“, http://www.anhri.net/reports/ islamic-map/map/03.shtml.  ebd.

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alles führte zur Gleichheit in der Bildung für alle Ägypter.²⁰² Im März 1978 wurde vom Kultusministerium entschieden, dass die Universität alle Studenten in der islamischen Kultur lehren soll. Die Studenten sollten in diesem Fach eine Prüfung absolvieren. Der Papst beklagte sich darüber, da nur Muslime zur Lehre der islamischen Kultur verpflichtet werden sollen, Christen aber nur die christliche Kultur studieren sollen. Daraufhin wurde diese Regelung nicht durchgeführt.²⁰³ Unter Präsident Muḥammad Ḥusnī Mubārak wurde die christliche Geschichte an den Schulen gelehrt.²⁰⁴ Als Präsident Ǧamāl ʿabd an-Nāṣir die Macht und die Rolle der al-Azhar beschränken und schwächen wollte, erklärte er al-Azhar zu einer normalen Universität, was dazu führte, dass al-Azhar eine Universität wurde, die nur für Muslime gedacht war.²⁰⁵ Die Christen sahen hierin eine Unterscheidung zwischen den Muslimen und Christen und verlangten mehrere Male, wie die Muslime an der alAzhar Universität studieren zu dürfen. Daher veröffentlichte der Großscheich der al-Azhar, Muḥammad Sayyid Ṭanṭāwī, am 16 September 2007 in einem Interview, dass es kein Problem gebe, wenn die Christen in al-Azhar studieren möchten, aber unter der Bedingung, dass sie die islamische Lehre studieren und den Koran auswendig lernen, genau wie die muslimischen Schüler und Studenten.²⁰⁶ Daher scheint die Gleichheit in der Ausbildung für die Muslime und die Christen im modernen Ägypten gegeben, aber nur, wenn beide Seiten die gleichen Vorrausetzungen erfüllen.

Fazit Im modernen Ägypten wurden gesetzlich alle Grenzen zwischen den Muslimen und Christen beseitigt, die Kopfsteuer abgeschafft und die Christen erhielten das Recht zum Wehrdienst. So entstand sukzessive eine Gleichheit zwischen den Christen und der islamischen Mehrheit, welche in den Verfassungen verankert und hervorgehoben wurde. Die Präsidenten und die Regierungen versuchten auch diese Gleichheit zu schützen, über die verschiedenen Prägungen des Landes in

 al-Bišrī: al-Muslimūn wa al-aqbāṭ, 1980, 674. & Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 79. & alAnṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 25.  al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 3, 2002, 252.  ebd., Bd. 4, 2004, 38.  Šafīq: al-Aqbāṭ bayn al-ḥirmān, 1996, 79. & al-Anṭūnī: Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 2, 2002, 25 – 26.  U.S. Departement of State, Egypt: International Religious Freedom Report 2008, http://www. state.gov/j/drl/rls/irf/2008/108481.htm.

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diesen Zeiten von Sozialismus, Liberalismus und Säkularisierung hinweg. Trotzdem haben die Christen in einigen Zeiten nicht die vollen Rechte bekommen, was sich in ihrer geringen Repräsentation in Ministerien und in höheren öffentlichen Stellungen widerspiegelt. Die Christen bemängeln auch, dass es Ungleichheiten in der Gesetzgebung zum Bau der Gebetsstätten gibt. Gleiches gelte für die religiöse Darstellung im staatlichen Fernsehen, da die Muslime mehr Sendungen als sie bekommen. Hier muss jedoch zwischen der Kirche als Institution und den Christen unterschieden werden. Die orthodoxe-Kirche hat die ihnen zugestandenen Rechte genutzt, oft über den legalen Rahmen hinaus. So ist auch zu erklären, weshalb sie keine öffentlich zugänglichen Angaben machen, was die Anzahl und die Größe der Kirchen und Klöster in Ägypten betrifft. Die Kirche spielt die Vermittlerrolle zwischen der Regierung und den Christen, weswegen die Christen ihre vollen Rechte als Bürger des Landes nicht immer in Anspruch nehmen können, sondern sich auf die Vermittlungsinstanz stützen müssen. Nüchtern betrachtet, zielen die Forderungen der Kirche darauf ab, die islamische Identität des Landes zu schwächen, woraus auch kein Hehl gemacht und öffentlich thematisiert wird.²⁰⁷ Viele Forderungen kommen einer Verdrängung bis hin zur Beseitigung der islamischen Wesenseinheit gleich und somit des Islams als Religion. So verlangen einige Christen von den Muslimen, dass Ägypten auf seine islamische Identität verzichtet und bloß ein säkulares, liberales Land sei,²⁰⁸ und keine islamischen Zeichen mehr in Lehre und Medien, wie beispielsweise der Gebetsruf, erscheinen.²⁰⁹ Muslime sollen auf ihre islamischen Sitten, Traditionen und Kleidung verzichten.²¹⁰ Daneben soll die al-Azhar-Universität säkular werden, damit Christen dort studieren können.²¹¹ Einige Christen verlangen eine feste Prozentzahl im Parlament, die sich nicht nur auf die Wahlergebnisse stützt,²¹² was dem Prinzip der Bürgerrechte und der Gleichheit widerspricht.²¹³ Die Christen erwecken mit diesen Forderungen den

 al-Anṭūnī, Waṭaniyat al-kanīsa al-qibṭīya, Bd. 4, 2004, 411– 412; 453; 462; 469; 490 – 491.  ebd., 415 – 416.  ebd., 406 – 411; 461– 468; 470.  ebd., 500 – 516.  ebd., 470.  al-Ḥiwār al-Mutamadin, Das moderne Gespräch. Aufsatz Nr. 1528. „Die Forderungen der Kopten“, http://www.ahewar.org/debat/show.art.asp?aid=62810.  Wehler, Hans-Ulrich: „Die Zielutopie der ‚Bürgerlichen Gesellschaft‘ und die ‚Zivilgesellschaft‘ heute“. In Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums: Eine Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986 – 1997), hg.v. Peter Lundgreen, Bd. 18). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2000 & Guckes, Jochen: „Konstruktionen bürgerlicher Identität. Städtische Selbstbilder

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Eindruck, nicht die Bürgerrechte und die Gleichheit mit den Muslimen zu suchen, sondern eine besondere Stellung haben und ein privilegiertes Volk sein zu wollen.

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Die rechtliche Stellung der Christen im modernen Ägypten (1952 – 2011)

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Textquellen Die ägyptische Verfassung der Jahre 1923, 1956, 1964, 1971, 2012. Die befristete Verfassung der Vereinigten Arabischen Republik des Jahres 1958.

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Name Index Abd al-Madschid, Sultan (1823 – 1861) 465 ʿAbd an-Nāṣir, Ǧamāl (1918 – 1970) 223, 406, 454 f., 458 f., 468, 470, 476 ʿAbd as-šayyid, Mīḫāʾīl (1860 – 1914) 440 ʿAbduh, Muḥammad (1849 – 1905) 3, 6, 22 – 25, 31 f., 35, 37 f., 41 – 44, 47, 54, 70, 72, 74 f., 77, 80, 90, 92, 105 f., 205 f., 208, 211, 222, 245, 298, 319, 353, 380 Abī Sufyān, Muʿāwiya b. (603 – 680) 173 Abī Ṭālib, ʿAlī b. (599 – 661) 173 Abou El Fadl, Khaled (*1963) 328 Abū al-Maǧd, Aḥmad Kamāl (1930 – 2019) 413 Abū Bakr, ʿAbdallāh (Kalif, 573 – 634) 128, 394 Abū Huraira, ʿAbd al-Raḥmān b. Ṣaḫr (603 – 680) 344 Abū Zahra, Muḥammad (1898 – 1974) 134 f. Abū Zaid, Naṣr Ḥāmid (1943 – 2010) 336 Adam 9, 207, 209, 211, 245, 257, 349, 354, 356 – 361, 369, 374 Adlabī, Muḥammad Munīr (*1949) 336, 340, 342 – 346 al-Ǧābirī, Muḥammad ʿĀbid (1935 – 2010) 6, 8, 87, 205, 212 al-Afġānī, Sayyid Ğamāl ad-Dīn (1838 – 1897) 3, 6, 20 – 22, 31 f., 35, 37 f., 41 – 44, 47, 54, 90, 92, 105, 298 al-ʿAlwānī, Ṭāhā Ǧābir (1935 – 2016) 7, 117 – 124, 126 f., 129 – 131, 133 – 135 al-ʿAnsiy, al-Aswad (gest. 632) 345 al-ʿAqqād, Maḥmūd ʿAbbās (1889 – 1964) 105 al-Aṣfahānī, Abū Muslim Muḥammad b. Baḥr (868 – 934) 133 f. al-Azharī (895 – 981) 172 al-Ǧazīrī, ʿAbd al-Rahman (1882 – 1941) 336 f. al-Baihaqī, Abū Bakr Aḥmad ibn Ḥusayn (994 – 1066) 343 al-Bannā, Ḥasan (1906 – 1949) 92, 411 al-Bāqillānī, Abū Bakr (950 – 1013) 128

https://doi.org/10.1515/9783110588590-021

al-Bišrī, Salīm ibn Abī Faraǧ (1867 – 1917) 411 al-Bišrī, Ṭāriq ʿAbd al-Fattāḥ Salīm (1933 – 2021) 10, 401 – 403, 409 f., 412 – 430 al-Būṭī, Muḥammad Saʿīd Ramaḍān (1929 – 2013) 371 al-Fārābī, Abū Naṣr Muḥammad (872 – 950) 38, 88, 107 f., 226 al-Ġazālī, Muḥammad (gest. 1996) 76, 82, 123 f., 127 f., 135, 213, 267, 297, 306 al-Gharbāwī, Mājid (*1954) 9, 313 f., 319 – 329 al-Ghazālī, Abū Ḥāmid (1058 – 1111) 38, 205, 225, 261, 318 al-Ḥaḍramī, Abd ar-Raḥmān ibn Muḥammad ibn Khaldūn (1332 – 1406) 38 al-Ḫūlī, Amīn (1895 – 1966) 10, 57, 69 – 78, 80 – 84, 377, 380, 398 al-Kindī, Abū Yūsuf Yaʿqūb (801 – 873) 88, 107 al-Maʿarrīy, Abū l-ʿAlāʾ Aḥmad b. ʿAbdullāh (973 – 1058) 26 al-Naḫʿīy, Ibrahīm (670 – 715) 343 al-Ṣadr, Muḥammad Bāqir (1935 – 1980) 273, 279, 282, 284, 286 – 288, 290 – 294 al-Subkī, Ibrāhīm (Ägypten, Mitte 19. Jh.) 438 al-Ṯawrīy, Sufīān (gest. 778) 343 al-Ǧundī, Ibrāhīm (Hrsg. v. al-Waṭan) 440 ʿAlī, Muḥammad (1769 – 1839) 18 f. ʿAlī Bāšā, Muḥammad (1769 – 1849) 437, 439 an-Naḥḥās, Abū Ǧaʿfar Muḥammad b. Aḥmad (gest. 950) 117 an-Naʿīm, ʿAbdullāh Aḥmad (*1946) 9, 328 Anṭūn, Faraḥ (1874 – 1922) 105, 319 ar-Rāzī, Faḫr ad-Dīn (1149 – 1209) 78, 123, 133, 381 f., 393 ar-Rīḥānī, Amīn (1876 – 1940) 319 Ardakānī, Rezā Dāwarī (Professor für Philosophie an der Teheraner Universität) 303 Aristoteles (384 – 322 BC) 8, 214, 226, 243, 273, 275, 278, 284

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Name Index

ʾArkūn, Muḥammad (1928 – 2010) 87, 90 as-Sādāt, Anwar Muḥammad (1918 – 1981) 453 – 456, 459, 464, 468, 475 aš-Šāfiʿī, Muḥammad ibn Idrīs (767 – 820) 129 f., 135 as-Serǧanī, Raġib (*1964) 436 as-Suyūṭī, Ğalāl ad-Dīn (849 – 911) 126 f., 129 f., 381 f., 386, 394 Asad, Muḥammad (1900 – 1992) 345, 353 aṭ-Ṭabarī, Ibn Ğarīr (838 – 923) 23 aṭ-Ṭahṭāwī, Rifāʿa (1801 – 1873) 6, 18 – 21 Averroes (Ibn Rušd), Abū l-Walīd Muḥammad (1126 – 1198) 27, 213, 318 f.

Ḥaikal, Muḥammad Ḥusain (1888 – 1956) 105 Ḥanafī, Ḥasan (1935 – 2021) 4, 7, 61 – 63, 87 – 93, 95 – 102, 104 f., 107 – 109, 223 f., 228 Ḥannā, Mīlād (1924 – 2012) 466 f. Häring, Bernhard (1912 – 1998) 360 Haytham, Mannāʿ (*1951) 328 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770 – 1831) 88, 282, 289 f. Hendrich, Geert (*1959) 104, 241 Ḥusain, Ṭāhā (1889 – 1973) 6, 25 f. Huwaidī, Fahmī (*1937) 401, 413

Bauer, Thomas (*1961) 254, 318, 379 Ben Badīs (1889 – 1940) 105 f. Bennabi, Malak (gest. 1973) 353 Brown, Wendy (gest. 1955) 316 Brunschvig, Robert (1901 – 1990) 88

Ibn ʿAbbās, ʿAbdallāh (619 – 688) 382 Ibn al-Ḥaṣṣār, ʿAlī b. Muḥammad al-Anṣārī (gest. 1223) 127 Ibn al-Humām, al-Kamal (1338 – 1457) 342 f. Ibn Bājja, Abū Bakr Muḥammad b. Yaḥya (gest. 1138) 38 Ibn Fāris, Abū al-Ḥusayn Aḥmad (gest. 1004) 172 Ibn Ḥazm, Abū Muḥammad ʿAlī (gest. 737) 345 Ibn Kaṯīr, Abū al-Fida ʿImād ad-Dīn Ismāʿil (gest. 1373) 23 Ibn Khaldūn, Muḥammad al-Ḥaḍramī (1332 – 1449) 6, 39, 47 Ibn Manẓūr, Muḥammad b. Makram (gest. 1233) 187, 322 Ibn Sīnā, Abū ʿAlī al-Ḥussain b. ʿAbdullāh (980 – 1037) 8, 38, 88, 107 f., 214, 273 – 275, 278, 294 Ibn Ṭufayl, Abū Bakr Muḥammad b. ʿAbd alMalik (gest. 1185) 38 ʿImāra, Muḥammad (1931 – 2020) 401, 413, 464 Iqbal, Muḥammad (gest. 1938) 56, 226, 353

Cicero (gest. 43 BC) 314 Cragg, Kenneth (1913 – 2012)

307 f.

Darwin, Charles Robert (1809 – 1882) 281 Derrida, Jacques (1930 – 2004) 27 Descartes, René (1596 – 1650) 273 Durkheim, Émile (1858 – 1917) 201, 301 el-ʿAwwā, Muḥammad Salīm (*1942) 336, 340 – 343 Engels, Friedrich (1820 – 1895) 157, 159 f. Fārūq I (König, 1920 – 1965) 406 Fichte, Johann Gottlieb (1762 – 1814) 88 Forst, Rainer (*1964) 314 f., 318, 323 Foucault, Michel (1926 – 1984) 5, 27 Ğaʿfarī, Muḥammad Taqī (gest. 1998) 303 Ġālī, Buṭrus Buṭrus (1922 – 2016) 404, 463 Gehlen, Arnold (1904 – 1976) 301, 309 Ghali, Boutros Bey (1846 – 1910) 441 Goldziher, Ignaz (1850 – 1921) 25 Ğurğānī, Muḥammad Šarīf (1340 – 1413) 297 Ḥāǧ Ḥamad, Muḥammad Abu al-Qāsim (1941 – 2004) 8, 169 f., 177 f., 180, 184 – 188, 191 – 193

Jamal, Malik (*1956)

351 f.

Kant, Immanuel (1724 – 1804) 83, 88, 203, 234, 237, 310 Kāšif, Saīyda Ismāʿīl (gest. 2018) 436, 439 Khoury, Adel Theodor (* 1930) 337, 367 f. Kīrulus, ʿĀṭif (gest. 2010) 416 f., 419, 426 f.

485

Name Index

Krämer, Gudrun (*1953) 89 Krīma, Aḥmad Maḥmoud (*1951) Locke, John (1632 – 1704)

356

24,

315

Maḥfūẓ, Muḥammad (*1966) 328 Makārīūs III (Patriarch und Papst 1872 – 1945) 405 Malakiyān, Muṣṭafā (*1956) 304 f. Marx, Karl (1818 – 1883) 137, 157 – 160, 166, 282, 289 f. Maudūdī, Abū l-Aʿlā (gest. 1903) 172 Maẕhar, Ismāʿīl (1891 – 1962) 105 Moses 179 – 182, 363 f. Mubārak, Ḥusnī (1928 – 2020) 406, 408, 456, 458, 460, 464, 467, 469, 471, 476 Muġniya, Muḥammad Ğawād (1904 – 1979) 307 – 309, 311 Murtaḍā Muṭahharī (gest. 1979) 311 Murtaza, Muḥammad Sameer (*1981) 352, 358 – 360, 366 – 368 Mūsā, Salāma (1889 – 1958) 105 Mūsawī Lārī, Muǧtabā (1925 – 2013) 309 Nada, Muḥammad Maḥmūd (20. Jh.) 127, 131 Nağīb, ʿAlī Muḥammad (1901 – 1984) 453 Napoleon (1769 – 1821) 103 Niebuhr, Reinhold (gest. 1971) 360 Numayrī, Ğaʿfar Muḥammad (President of Sudan since 1969, 1930 – 2009) 140 Paša, Ismāʿīl (Khedive von 1867 – 1879) 438, 440 Quṭb, Sayyid (1906 – 1966) 325

Riḍā, Muḥammad Rašīd (1865 – 1935) 70, 366 Rušdī, Salmān (*1947) 335

Ṣadrā, Mullā (1572 – 1640) 8, 27 Saʿīd, Ǧaudat (*1931) 9, 353 – 366, 369 – 375 Saʿīd Bāšā, Muḥammad (1822 – 1863) 439 Saʿīd Bāšā, Muḥammad (reg. 1822 – 1863) 438 Šaltūt, Maḥmūd (1893 – 1963) 133 – 135 Sartre, Jean Paul (1905 – 1980) 310 f. Schelling, Friedrich Wilhelm (1775 – 1854) 88 Shabestarī, Moḥammed Mojtahed (*1936) 329 Shīrāzī, Ṣadr ad-Dīn (1572 – 1640) = Mullā Ṣadrā 8, 273, 291 f. Sorūsh, ʿAbdolkarīm (*1945) 9, 326, 328 Šumayyil, Šiblī (1850 – 1917) 105 Ṭabāṭabāʾī, Muḥammad Ḥusayn (1903 – 1981) 9, 273, 279 – 282, 294 Ṭāhā, Maḥmūd Muḥammad (1909/1911 – 1985) 7, 9, 137, 139 – 158, 160 – 166, 209 Ṭālūt (Saul) 182 f. Ṭībī, Bassām (*1944) 89 Tīzīnī, Ṭaiyib (1934 – 2019) 90 Voltaire, Francois-Marie Arouet (1694 – 1778) 321 Wahba, Jusef (1852 – 1934) 441 Wittgenstein, Ludwig (1889 – 1951)

240, 306

92, 172, 222,

Rawfāʾil, Naẓīr Ǧayyid (Patriarch šinūda III, 1923 – 2012) 407 Renan, Ernest (1823 – 1892) 20 Ricœur, Paul (1913 – 2005) 82, 88, 238, 242, 244

Yazdī, Muḥammad Taqī Miṣbāḥ (gest. 2021) 302 Yūʾānnis XIX, Patriarch (gest. 1942) 405 Zaghlūl, Saʿd (1857 – 1927)

410, 440