Suchbild Lateinamerika: Essays über interkulturelle Wahrnehmung. Zu seinem 80. Geburtstag [Reprint 2014 ed.] 9783110924916, 9783484529199

»Identikit for Latin America« is a collection of essays compiled by Gustav Siebenmann on the occasion of his 80th birthd

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German Pages 164 [168] Year 2003

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Ein Pfadfinder und die Suche im Bilderwald
Zu diesem Buch
Über Kultur und Identität
Lateinamerika auf der Suche nach einer Identität
Zur Erforschung mentaler Bilder
Est Nomen Omen? oder Wie Amerika lateinisch wurde
Von der dreifachen Entdeckung Amerikas
Von der Spree zum Orinoco
Die Deutschsprachigen in Lateinamerika – Eine historische Skizze
Spiegelungen I: Zum Lateinamerikabild der Europäer
Spiegelungen II: Zum Europabild der Lateinamerikaner
Wie auch das Bild Lateinamerikas eingeschwärzt wurde – Seine Beeinflussung durch die Schwarze Legende
Zum Lateinamerikabild deutscher Leser
Die Zentenarfeiem der Entdeckung im Vergleich
Gachupines und Cholos oder Wie Spanier und Lateinamerikaner sich mochten
Barbar ist ein Barbar ist ein Barbar ist ein Barbar
Non Liquet. Gibt es Gründe für die Stundung der Zukunft Lateinamerikas?
Drucknachweise
Schriftenverzeichnis von Gustav Siebenmann
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Suchbild Lateinamerika: Essays über interkulturelle Wahrnehmung. Zu seinem 80. Geburtstag [Reprint 2014 ed.]
 9783110924916, 9783484529199

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BEIHEFTE ZUR IBEROROMANIA

Herausgegeben von Dietrich Briesemeister, Rolf Eberenz, Dieter Ingenschay, Volker Noll, Klaus Porti, Michael Rössner, Bernhard Teuber Band 19

Gustav Siebenmann

Suchbild Lateinamerika Essays über interkulturelle Wahrnehmung Zu seinem 80. Geburtstag herausgegeben von Michael Rössner

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2003

Gedruckt mit Unterstützung des Bühler-Reindl-Fonds der Universität St. Gallen

Bibliograrische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografísche Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-52919-9

ISSN 0177-199X

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2003 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Satzbüro Oli Heimburger, Mössingen Druck: Hanf Buch & Mediendnick GmbH, Pfungstadt Einband: Hugo Nädele, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Ein Pfadfinder und die Suche im Bilderwald, von Michael Rössner

VII

Zu diesem Buch

IX

Über Kultur und Identität

1

Lateinamerika auf der Suche nach einer Identität

11

Zur Erforschung mentaler Bilder

23

Est nomen omenl oder Wie Amerika lateinisch wurde

27

Von der dreifachen Entdeckung Amerikas

33

Von der Spree zum Orinoco

45

Die Deutschsprachigen in Lateinamerika - Eine historische Skizze

51

Spiegelungen I: Zum Lateinamerikabild der Europäer

59

Spiegelungen II: Zum Europabild der Lateinamerikaner

67

Wie auch das Bild Lateinamerikas eingeschwärzt wurde

75

Zum Lateinamerikabild deutscher Leser

89

Die Zentenarfeiem der Entdeckung im Vergleich

103

Gachupines und cholos oder Wie Spanier und Lateinamerikaner sich mochten . . .

113

Barbar ist ein Barbar ist ein Barbar ist ein Barbar

127

yVo/ifí^Meí.Gibt es Gründe für die Stundung der Zukunft Lateinamerikas?

133

Drucknachweise

145

Schriftenverzeichnis von Gustav Siebenmann

147

Ein Pfadfinder und die Suche im Bilderwald

Der Versuch, das Fremde zu verstehen, hat etwas mit einer Spurensuche zu tun. Karl-MayLeserti ist das Bild wohl vertraut: Man sieht am Boden nichts oder bestenfalls ein paar geknickte Grashalme, die Pfähle, die den Weg durch die Ebene weisen sollen, sind möglicherweise von arglistigen Räubern falsch gesteckt worden; dann kommt der Scout, meist natürlich Winnetou oder Old Shatterhand in Person, bückt sich kurz und erklärt dann ohne jede Unsicherheit, wann wie viele Indianer welchen Stammes vorübergeritten sind, und in welcher Richtung der rechte Weg zur nächsten Quelle führt. Ein bisschen etwas von solchen Scouts oder Pfadfindern haben Philologen schon an sich. Sie lesen Texte wie Old Shatterhand Fährten im Gras, und in früheren Generationen haben sie mit derselben Sicherheit erklärt, wie die Fährten (sprich: Texte) zu lesen sein und zu welcher Quelle einer Kultur sie führen. So verstanden ist die Philologie eine Bilder prägende Wissenschaft, die natürlich manche Vorurteile aufhebt (auch das tut der erfahrene Pfadfinder gegenüber dem Greenhorn ja gerne), dafür aber sofort neue, noch autoritätsvollere schafft. Gustav Siebenmann, der erfahrene Fährtensucher durch die Welt der Literatur und der Kultur, ist - wie man fast allen seinen Schriften und besonders dem vorliegenden Band entnehmen kann - kein solcher Pfadfinder, der aus der Überheblichkeit des Erfahrenen heraus neue Stereotype schaffen würde: Er beschränkt sich auf das Vorführen (aus dem sehr bald ein Infi-agestellen, ja da und dort sogar Aufheben wird) überkommener Bilder und alter wie neuer Vorurteile. Freilich, ihm als in Lateinamerika aufgewachsenen Schweizer ist das wechselseitige Relativieren der Bilder sozusagen in die Wiege gelegt worden: Die »lateinische« Sensibilität und Begeisterungsfahigkeit lässt ihn die oft überheblich-eurozentrische Perspektive in Frage stellen, der schweizerische Pragmatismus, der nüchterne Sinn für das Wesentliche hindert ihn andererseits daran, sich von der Schwärmerei mancher »Latinos«, noch mehr aber ihrer exotistischen europäischen Fans mitreißen zu lassen. So hat Gustav Siebenmann vor beinahe fünf Jahrzehnten sein Werk als geduldiger Fährtensucher begonnen, in einer Zeit, als man hierzulande die Lateinamerikaner noch kaum zur Kenntnis nahm. Er ist seitdem der skizzierten liebevoll-sensiblen und zugleich nüchternpragmatischen Sehweise treu geblieben - als man die lateinamerikanischen Autoren noch als provinzielle Außenseiter abtat, und ebenso, als man sie uns am Höhepunkt des »Boom« in magisch-realistischer Verpackung als echte Indios verkaufte, die die »kranke« europäische Literatur heilen sollten. Sein Weg hat Gustav Siebenmann neben seinen sensiblen Interpretationen zur Lyrik und Romanliteratur sehr bald zu einer ausgeprägten Interdisziplinarität des theoretischen Ansatzes geführt, die seine Wahl der Imagologie als dominierender Forschungsrichtung der späteren Jahre bestimmt hat. Ohne modische Konzessionen fügt sich damit sein Forschungsansatz in die kulturwissenschaftlich-anthropologische Wende ein, die in den letzten zwanzig Jahren zu einer Neuorientierung der Literaturwissenschaft geführt hat. Bei ihm ist es freilich eine Neuorientierung, die gerade nicht auf Textlektüre und philologische Genauigkeit verzichtet. Deshalb hat Gustav Siebenmann trotz aller theoretischen Innovation nie die »dienende« Arbeit am Text und am Umfeld desselben verschmäht: seine zahlreichen Übersetzungen legen davon ebenso Zeugnis ab wie die unentbehrlich gewordenen Rezeptionsstudien und Bibliographien.

vili Andererseits hat der weltweit anericannte Wissensciiafter Gustav Siebenmann sich jedoch auch nie in den akademischen Elfenbeinturm zurückgezogen: Seine Wortmeldungen in den wichtigsten deutschsprachigen Tageszeitungen, allen voran der Neuen Zürcher Zeitung, haben durch ihn auch einem breiteren Publikum spanische, portugiesische und lateinamerikanische Literatur und das Umfeld derselben ins sonntägliche Wohnzimmer gebracht, mit derselben unaufdringlichen wissenschaftlichen Redlichkeit, mit derselben beinahe paradoxen Mischung aus liebevoller Begeisterung und pragmatischer Nüchternheit, wie sie seine imagologischen Forschungen kennzeichnet, wenn auch vielleicht ohne den vollen Ballast der Theorie. Er hat damit vielen Menschen einerseits die Scheu vor der Auseinandersetzung mit dem Fremden genommen, andererseits sie vor einer allzu schnellen Aburteilung und Einordnung dieser fremden Kultur unter klischeehafte Etiketten, wie sie das deutsche Feuilleton gerne verteilte, zu bewahren verstanden. Nicht zuletzt unter aktiver Mitwirkung Gustav Siebenmanns hat die deutschsprachige Hispanistik und Lateinamerikanistik in den fünf Jahrzehnten seines bisherigen Schaffens einen weiten Weg zurückgelegt - vom »Steckenpferd«-Interesse einzelner Forscher für die »peripheren« Kulturen über die ausschließliche Faszination durch die Boom-Literatur der 60er und 70er Jahre bis zum differenzierten und differenzierenden Blick der Gegenwart, der immer stärker auch die eigene Bedingtheit des Blicks mitreflektiert - eine Entwicklung, bei der Siebenmann immer wieder die Stellung eines Pioniers eingenommen hat, der sich - siehe oben - dennoch nicht zu schade war, seine Erfahrungen auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Der vorliegende Band zeigt diesen »doppelten« Gustav Siebenmann, den Vermittler und den Fährtensucher, »at his best«: Wie er selbst im Vorwort sagt, stammen die einzelnen Abschnitte dieses Bandes aus einem Zeitraum von fast 25 Jahren und wirken doch, als wären sie immer schon auf das Projekt dieses Buches hin komponiert worden. Der fundierte imagologische Ansatz ist »mit leichter Feder« ausgeführt und leitet so den Leser durch eine Reihe von Bildern und Spiegelbildern, die - das entspricht dem Ethos des Lateinamerikakenners Siebenmann - sich nicht zu einem einzigen Bild synthetisieren (und damit auch banalisieren) lassen, sondern die Spannung des Vielfaltigen, der sich wechselseitig relativierenden Ansichten beibehalten und doch fassbar, erfassbar, werden, wenigstens an der Hand eines so unaufdringlichen Pfadfinders wie Gustav Siebenmann, der nicht nur »Finder« ist, sondern zugleich auch Sucher bleibt und damit stets neue Leser und Sucher gewinnt, die ihn auf seinen Streifzügen begleiten. Denn gerade im Jahrhundert der Globalisierung, in dem das Gespür für die Nuance des Anderen verloren zu gehen scheint, ist diese Suche aufregender denn je - und sie ist noch lange nicht zu Ende. München, im März 2003

Michael Rössner

Zu diesem Buch

Diese Essaysammlung ist eine Spätlese aus dem Vorrat meiner Forschungen. Der Wissenszweig Imagologie, die Erforschung mentaler Bilder, hat mich in den vergangenen Jahren am meisten beschäftigt. Mehrere Arbeiten dazu sind in Festschriften erschienen, andere sind noch nie gedruckt worden und einige sind neu. Die einzelnen Texte, hier in eine Reihe gestellt, sollten nun einen Zusammenhang erkennen lassen. Thematisch laufen sie alle konzentrisch auf das Thema des Lateinamerikabildes hin. Da einzelne der früher publizierten und hier überarbeiteten Essays älteren Datums sind - die Streuung geht von 1976 bis 2000 waren Überschneidungen nicht zu vermeiden. Ein gleicher Sachverhalt kommt mehrmals zur Sprache, doch in jeweils anderem Zusammenhang. Ich nehme Wiederholungen in Kauf - der Leser hoffentlich auch - , denn so konnten die Texte die ursprüngliche Diktion beibehalten, als Vortrag, als Rundfunksendung, als Aufsatz, als Buchkapitel. Das Ganze bleibt letztlich ein Suchbild. Meine Leser werden darüber urteilen, ob Lateinamerika und Spanien hier aussehen wie in einem Vexierspiegel oder ob die Tiefenschärfe stimmt. Die Absicht jedenfalls war, mehr Einsicht zu gewinnen und zu vermitteln. Die Texte - gleichviel ob neu oder überarbeitet - wurden diesmal ohne die üblichen akademischen Ansprüche gestaltet. Geschrieben oder überarbeitet habe ich sie mit loserer Feder als sonst. Die Literaturhinweise wurden knapp gehalten. Wer mehr davon braucht, kann sich in der einschlägigen Bibliographie umsehen, die als Beiheft 13 der Iberoromania vorliegt (López de Abiada/Siebenmann 1998). Zu danken habe ich vor allem meinem Kollegen und Freund Michael Rössner für tätige Hilfe bei den Korrekturen und für die Aufnahme in die Reihe der Iberoromania-Beihefte. Dass hiermit ein weiteres meiner Bücher im Max Niemeyer Verlag Tübingen erscheinen kann, ist mir eine besondere Genugtuung. Der Forschungskommission der Universität St. Gallen danke ich für einen Beitrag an die Druckkosten aus dem Bühler-Reindl-Fonds. St. Gallen, 28. Februar 2003

Gustav Siebenmann

über Kultur und Identität

Es wird in diesem Buch über Lateinamerika viel von Kultur die Rede sein. Über andere Belange, über Politik und Wirtschaft, Drogen und Bürgerkriege steht in der Presse täglich so manches, zumal die Hiobsbotschaften. Von Kultur jedoch ist dort auch nicht mehr so oft die Rede wie in den 1980er und 1990er Jahren, als sich die für Europäer »dritte Entdeckung« Amerikas ereignete. Indes, weiss man heute eigentlich noch, was mit dem Wort Kultur gemeint ist? Es ist seit einigen Jahren so häufig in Aller Munde, dass seine Bedeutung diffuser geworden ist denn je. Es tritt in den unterschiedUchsten Zusammenhängen auf: die Wohnund Stadtkultur, die politische Kultur, die Esskultur, die Massenkultur, die Medien- und Fernsehkultur, sogar von Untemehmungskultur ist die Rede oder gar von Popkultur und von alternativen Kulturzentren. Der Begriff scheint neuerdings von allen möghchen gesellschaftlichen Bereichen beansprucht zu werden. Es widerfährt ihm heute eine semantische Ausuferung wie nie zuvor. Kultur ist zu einem gefälhgen oder missfälligen Gebrauchswort, zu einer Worthülse der Alltagssprache geworden. Sein geschichtlicher Kern als ein von der gebildeten Führungsschicht jeweils festgelegter geistiger Wertebegriff ist im Zuge des Abbaus sozialer Hierarchien weitgehend zersetzt worden. Aber auch wissenschaftssystematische Gründe haben zum Bedeutungswandel beigetragen. Grundsätzlich sind wir als einzelne Sprachteilnehmer gegenüber solchen Ausuferungen von Begriffsfeldem machtlos. Aber wir müssen sie auch nicht einfach hinnehmen, denn bekanntermassen sind sie oft nur vorübergehende Modeerscheinungen. Klarstellungen sind in jedem Fall hilfreich. Im Fall Lateinamerika im Besonderen, denn mit einem auf höhere persönliche Bildung eingeengten Kulturbegriff kommen wir dort nicht zu klaren Einsichten.

Kultur in Opposition wozu? Die traditionellen Gegenüberstellungen wie Kultur versus Natur oder Kultur versus Barbarei sind heute nicht mehr diskutabel. Aktuell bleibt hingegen die ebenfalls alte Opposition Kultur versus Zivilisation. Es wird damit die Differenz zwischen einer geistigen und einer materiellen Kultur postuliert. Zur geistigen Kultur gehören die Religion, die Sprachen, die Künste, die Dichtung, die übrigen Geisteswissenschaften, aber auch die Sitten, Rituale und Feste sowie letztlich die kollektiven Wertvorstellungen bis hin zum Wahn. Zur materiellen Kultur gehören die Geräte, die Werkstoffe, die Behausung, die Bekleidung, die Nahrung, die Energiequellen. Seit der frühen Neuzeit sind die Instrumente und die Verfahren für die Naturbeherrschung und für die Energiegewinnung immer schneller vermehrt und verfeinert worden. Wie sehr einst die materielle Kultur, zumal im Europa der Aufklärung, als ein mit der geistigen Kultur gleichwertiges Gut der Menschheit gesehen wurde, das beweist uns eindrücklich die von D'Alembert und Diderot herausgegebene Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, die in 33 Bänden zwischen 1751 und 1772 erschienen ist. Die Wertfrage wurde jedes Mal dann aktuell, wenn es um die Rangordnung der (geistigen) Kultur gegenüber der (materiellen) Zivihsation ging. Es war durchaus verständlich, dass ein Aufklärer wie der Philosoph Kant die Zivihsation damals höher wertete als die Kultur.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist als Folge des unerhörten Fortschritts in den Naturwissenschaften eine neue Rivalität zwischen unterschiedlichen Verständnissen von Kultur entbrannt. Es geht dabei um das Zu- und Gegeneinander von Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften. Lord Snow hat mit seinem Essay Two cultures eine langanhaltende Debatte eingeleitet (Snow 1976). Die einen seien erklärend, die anderen beschreibend; die einen seien hermeneutisch, d. h. auf Auslegung ausgerichtet und auf Plausibilität bedacht, die anderen gingen experimentell vor und suchten mit Beweisen nach Eindeutigkeit; die einen suchten den Sinn und wollten verstehen, die anderen seien exakt und wollten erkennen. Jedenfalls sei die je gefundene »Wahrheit« anders geartet. Heute ist der heftige Streit der beiden Schwestern um den Vorrang im Sozialprestige und damit im Bildungswesen durch die in beiden Wissenschaften eingetretene Entwicklung einigermassen obsolet geworden. Teilweise konvergieren die beiden Kulturen mit ihren Methoden. Aber in der sozialen Praxis ist eine Gegensätzlichkeit allemal wirksam geblieben. Man kann diese Rivalität verkürzen auf die Formel Kultur versus Technik, insofern als letztere die operationalen Folgen der naturwissenschaftlichen, namentlich der physikalischen Erkenntnisse darstellt. Bei näherem Zusehen zeigt sich heute, dass die fortschreitende Technik nicht immer eine Gegenposition zu Kulturellem einnimmt, dass sie vielmehr dem kulturellen Sektor immer wieder neu zudient. Zumal die dritte industrielle Revolution - weniger in der atomaren als in der elektronischen Variante - hat seit dem Zweiten Weltkrieg die Rivalität zwischen Kultur und Technik in eine fruchtbare Symbiose übergeführt. Aus ihr sind eine Kommunikationsrevolution und damit eine unvorhergesehene Informationsgesellschaft hervorgegangen. In ihr nun hat sich die Auffassung von Kultur erheblich verändert, hat der Konflikt sich verlagert. Einerseits erweist sich heute die Kategorie Kultur durch ihre traditionsstiftende Funktion den ins mögliche Kollektivverderben voranstürmenden Technologien als überlegen, andererseits jedoch wird sie durch dieselbe Neuerungswelle zu Tode medialisiert oder bis zum Funktionsverlust verändert. Die Schwierigkeiten, gegen die Kultur heute anzukämpfen hat, sind in der Tat gewisse Folgen einer durch die Technik ermöglichten Massenkommunikation: Kultur muss sich nun gegen eine drohende Vulgarisierung und Trivialisierung sämtlicher geistiger Güter zur Wehr setzen. Eine weiterhin mögliche, ja wahrscheinliche Folge ist der dadurch bewirkte allgemeine Verlust an Orientierung, aus dem die sogenannte Postmoderne eine ironisierende Tugend machen möchte (dazu Raulet/Le Rider 1987). In diesem Orientierungsnotstand hilft allein das Erkennen qualitativer Unterschiede, und diese Fähigkeit kann allein eine adäquate Ausbildung vermitteln.

Kultur gleich Bildung? Wäre demnach Kultur mit Bildung gleichzusetzen und somit allein den Gebildeten vorbehalten? In Wirklichkeit liegt das neue Dilemma darin, dass wir zögern, angesichts der erwähnten beispiellosen Vulgarisation und der entsprechenden Vermassung des Kulturkonsums noch von Kultur im herkömmlichen Sinn zu sprechen. Denn Kultur, namentlich im Teilbereich Kunst, sieht sich durch diesen quantitativen Sprung als solche qualitativ bedroht. Wenn wir nun Kultur nach wie vor verstehen wollen als das Resultat einer breiten Bildung, das heisst als Amalgam von Wissen, Phantasie, Empfindsamkeit und erfahrenem, kritischem Verstand,

so handelt es sich um die Persönlichkeitskultur. Auf dementsprechend kultivierte Individuen, die spezifische qualitative Ansprüche vertreten, kann eine Gesellschaft nicht verzichten. Auch moderne kulturelle Gebilde, um als solche auf mittlere Dauer Bestand zu haben, können nicht ohne eine Besonderheit qualitativer Art zustande kommen und müssen sich einem kritischen Widerstand stellen. Kultur, auch und gerade angesichts des heute dank den Medien so breiten Streubereichs, ist deshalb darauf angewiesen, dass ein Geschmackskanon definiert und hochgehalten wird, und dass er sich durchsetzt. Dazu braucht es - man sollte es ohne Berührungsängste sagen dürfen - nach wie vor eine Elite, und das sind Menschen mit kritischem Verstand. Jürgen Mittelstraß formuliert es bündig: »Bildung kann die Orientierungsschwäche technischer Kulturen überwinden« (Mittelstraß 1988). Deshalb gilt heute wieder vermehrt, dass die Geisteswissenschaften als ein gewichtiger Teilsektor von Kultur anerkannt sind, zumal seit sie sich nach der Annäherung an die Sozialwissenschaften heute als Kulturwissenschaften verstehen. Doch auch so müssen sie sich zunehmend reaktiv verhalten gegenüber den weitgehend unkontrolliert wuchernden Naturwissenschaften (dazu Sitter-Liver 1993). Immerhin kann man beobachten, dass gerade in den modernen Industriegesellschaften dem kulturellen Sektor insgesamt eine öffentliche Bedeutung zuerkannt wird. Dass es sich dabei nicht nur um ein Lippenbekenntnis der Verantwortlichen handelt, kann man heute im politischen und wirtschaftlichen Alltag und in der Medienwelt deutlich wahrnehmen.

Kultur als Verhaltensmuster Indes, trotz diesen Klarstellungen zum Verständnis von Kultur sind wir noch immer nicht in der Lage, das Problem des Kulturvergleichs anzugehen. Und um einen solchen handelt es sich, wenn wir aus Europa die Kulturen Lateinamerikas in den Blick nehmen wollen. Wenn wir Kultur, wie soeben, als Kultiviertheit vieler Einzelner, als deren elitäre Bindung an eine klassische Pesönlichkeitsbildung und damit an den Kanon der Oberschicht einer nationalen Bevölkerung verstehen, so erweist sich der Begriff als zu eng und vor allem als untauglich für die Fragen des Kulturaustausches und des Kulturvergleichs. Ein an die Persönlichkeit gebundener Kulturbegriff ist zudem weitgehend auf entwickelte Gesellschaften bezogen und somit für eine kulturübergreifende Blickweise, wie sie etwa die Ethnologie erfordert, nicht zu gebrauchen. Es zeigt sich, dass die alte und neue Opposition Kultur versus Unbildung nur auf Individuen, allenfalls noch auf einzelne Schichten der Gesellschaft bezogen bleibt. Dass Persönlichkeitsbildung stets auf den Einzelnen bezogen ist, klingt wie eine Tautologie, hat aber seine Richtigkeit. Dabei gilt die Einschränkung, dass selbst wenn der gebildete Einzelne als Exponent eines elitären Konsenses soziale Achtung geniesst, dies wenig besagt über den kulturellen Zustand des Kollektivs, der Gesellschaft, zu der er gehört. Übrigens haben schon die französischen Aufklärer und mit ihnen Herder unterschieden zwischen der subjektiven und der objektiven Kultur. Sie meinten mit subjektiv ein kultiviertes Individuum und mit objektiv die Kultur eines Kollektivs. Dem sei gleich hinzugefügt, dass es in allen Gesellschaften lateinamerikanischer Länder solche subjektive Kulturträger gab und noch heute gibt. An Kongressen und auf meinen Vortragsreisen durch den Kontinent haben mich gewisse Gesprächspartner immer wieder neu in Erstaunen versetzt mit ihrer Belesenheit und ihrem kosmopolitischen Kenntnisstand. Der Argentinier Borges, und er musste es wissen, hat

wohl nicht zu Unrecht einmal gesagt, die Lateinamerikaner seien eigentlich die besseren Europäer. Wir sollten deshalb wohl, zumal in einer Zeit täglicher Kontakte mit fremden Kulturen, unterscheiden zwischen dem Verständnis von Kultur als der Summe und den Produkten gebildeter Individuen einerseits, und einer anderen, der kollektiven Dimension von Kultur. Dazu haben sich zuerst die Verhaltensforscher und die Anthropologen geäussert (z.B. König/ Schmalfuss 1972). Um den Begriff Kultur weiter zu fassen, haben sie ihn als Verhaltensmuster definiert. Kultur entspräche in diesem Sinn gewissermassen einer Folie oder einem Raster, die das Verhalten eines Kollektivs steuern. Man mag einwenden, dass so das Kulturelle zu einseitig auf den Menschen als Sozialwesen, auf seine gesellschaftliche Aktions- und Reaktionsweise reduziert wird und dass der Grad an Differenziertheit kultureller Gebilde, wie er grossen Kulturen eignet, ausser Betracht fiele. Dennoch ist die Kulturanthropologie mit Erfolg von diesem Ansatz ausgegangen. In der Tat ist Kultur heute (und war es eigentlich schon seit Jacob Burckhardt) auch ein anthropologischer Begriff. Dabei fällt zunächst auf, dass wir diesen anderen Kulturbegriff nicht mehr mit einem versus, also mit einer Opposition fassen können, denn eine so verstandene Kultur ist ein umfassender Überbau. Die Kulturanthropologie forscht nach den Faktoren, die das Menschsein konstituieren. In diesem Sinne ist Kultur zu verstehen als Verhaltensmuster eines Kollektivs, als Steuerungsmechanismus für das Agieren und Reagieren, als Movens für gruppenspezifische Verhaltensmuster, eben als Raster oder Grundfolie, durch deren Austausch die Sicht auf die gesellschaftliche Wirklichkeit - und damit auf die Wirklichkeit schlechthin - sich schlagartig verändern kann. Auf einen ganz einfachen Nenner hat Julius Posener den Begriff gebracht; »Kultur ist das, was man wiedererkennen kann«. Dieser sehr weit gefasste Begriff von Kultur kennte als sein Gegenteil nicht etwa die Unkultur, sondern allenfalls das Eremitendasein, das Solitärwesen ausserhalb jeder Gesellschaft. Ebenso wenig ist die Massenkultur ein Gegensatz, denn sie wird zusammen mit der Bildungskultur vom Oberbegriff gleichermassen erfasst. Unbestritten ist jedenfalls die Wirksamkeit jenes Phänomens, das wir nun im anthropologischen Sinn als Kultur bezeichnen. Auch wenn sie als eine Art von black box zu verstehen ist, kann von ihr bekanntlich eine ungeahnte, ja unkontrollierbare Wirkung ausgehen. Die fundamentalistischen Kulturrevolutionen in den islamischen Ländern oder in China sind dafür vielsagende Beispiele. Für unsere Fragestellung, wie es mit der Differenz zwischen den Kulturen bestellt sei, ist die >\lederentdeckung von Kultur als kollektiver Matrix schlicht eine Voraussetzung. Nicht nur scheint sich als Folge der dritten industriellen Revolution abzuzeichnen, dass die frühere Scheidung in die »zwei Kulturen« obsolet geworden ist, dass ferner der Pakt zwischen Kunst und Technik zu einer neuen, einer symbiotischen Situation geführt hat. Vielmehr wird Kultur heute in einer kreativen Gesellschaft zunehmend wieder als eine Gesamtheit erkannt, mit offenen, nicht hierarchisierten Strukturen. Die erwähnten »zwei Kulturen« von Snow sehen sich heute aufgehoben in dem, was Jürgen Mittelstraß die »kulturelle Form« einer Gesellschaft nennt (Mittelstraß 1992: 309 ff.). Daher mein Vorschlag zu einer Definition von Kultur eines Kollektivs: Kultur ist ein Netz von erworbenen Traditionen, Einstellungen und Vorstellungen, das auf das Empfinden, auf die Wahrnehmung, auf das Denken und Urteilen jedes in Gesellschaft lebenden Menschen einwirkt und dessen Handeln bestimmt. Kultur in diesem übergreifenden Verständnis ist demnach nicht allein das Produkt einzelner Menschen, sie

steuert vielmehr ihrerseits das Individuum und hat ihre eigene Gesetzmässigkeit. Zu einem solchen Kulturverständnis haben in letzter Zeit einige Kulturwissenschafter die Vorarbeit geleistet, darunter F. Boas, C. ЮискЬоЬп und M. Mead.

Das Eigene und das Fremde Dass Kulturen in diesem weiten, anthropologischen Sinn völkerspezifisch, das heisst regional unterschiedlich sind, versteht sich von selbst. Die Differenz, und damit die Mobilität zwischen sich fremden Kulturen jedoch - sei es dass der Betrachter reist, sei es dass Kulturelles medial die Grenzen überschreitet - hat, sagen wir seit den grossen Reisenden wie Cook und Murnau, so sehr zugenommen, dass die Kontakte zwischen den Kulturen inzwischen jedes Selbstverständnis beeinflussen. Welcher Art auch die Begegnung zwischen fremden Kulturen sein mag, sie hat in jedem Fall Folgen. Dass diese übrigens beide Parteien, das Eigene wie das Fremde betreffen, das erkennen wir besonders deutlich im Zusammenhang mit 1492, mit der Fahrt des Kolumbus in die Neue Welt. Seit jener Begegnung mit einer radikalen Andersheit hat die Alte Welt begonnen, auch sich selber anders zu sehen. Die alte Sehnsucht nach der Fremde war übrigens unbewusst immer auch gleich eine Reise zu sich selber, oftmals sogar in vermehrtem Masse als eine Reise zu den anderen. Der sogenannte Kulturaustausch, der notwendigerweise einer Begegnung zwischen Fremden folgte, war schon immer problematisch. Für Hegel hatten die Gestaltungen des objektiven Geistes, wir sagten es schon, eine Gültigkeit nur im Bereich eines bestimmten Volkes. Die objektive Kultur einer Region kann deshalb so geartet sein, auch das sah Hegel, dass sie für den Geist eines anderen Volkes verschlossen bleibt. So meinte er etwa, dass eine freiheitliche Verfassung für die Chinesen unverständlich bleiben müsse. Und wir Europäer stehen heute noch verständnislos vor der Tatsache, dass Inder hungern inmitten von heiligen Kühen. Die Kultuφhilosophie leugnet denn auch nicht, dass viele Kulturgüter der Fremde dem Fremden unverständlich bleiben, sie fügt allerdings hinzu, dass dies nur deshalb der Fall ist, weil man zu wenig darüber wisse. Schon Hegel glaubte, im Grunde genommen seien alle Kulturdifferenzen verständlich, wenn man nur über zureichende Elemente für ihre Interpretation verfüge. Und solche Elemente konnte und kann man durch Reisen in fremde Länder entdecken, auch durch geeignete Lektüre oder Unterweisung. Erst mit der Renaissance, nach den wenigen mittelalterlichen Femreisen, begann die wissenschaftliche Erkundung der Erde und der stimulierende Einfluss grosser Reiseberichte, von Montaigne über Casanova bis zu Goethe: Sie brachten dem einheimischen Leser die Faszination einer Andersheit, die langfristig auf das Gesamte einer Landeskultur einen kaum zu überschätzenden Einfluss ausübte. Der zunächst vereinzelte, dann immer häufiger drängende Trieb nach interkultureller Grenzüberschreitung und der Wunsch, wenigstens einer, wenn möglich mehreren fremden Kulturen zu begegnen, wurde - zunächst für die Gebildeten und die Reichen, später für die breite Masse - so etwas wie ein kategorischer Imperativ. Dabei ist zu erkennen, dass zwischen Fremderkenntnis und Selbsterkenntnis ein dialektisches Spiel vor sich geht. Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass diese Erkenntnisvorgänge beiderseits von der jeweiligen kulturellen Identität ausgehen. Diese wird in unserem Zusammenhang zu einem Schlüsselbegriff (dazu Fisher 1988).

6 Was heisst kulturelle Identität? Dieser heute ebenfalls modisch gewordene Terminus hat sich nach und nach eingebürgert, namentlich dank den Schriften von George Herbert Mead (1934). Um diesen leider zerredeten Begriff besser zu verstehen, drängt sich ein Exkurs auf. Es muss zunächst geklärt werden, wie kulturelle Eigenheit oder Identität überhaupt zustande kommt. Aufgrund von Überlegungen zu den Faktoren, mittels derer sich Identität konstituiert, drängt sich mir eine zweifache bzw. dreifache Unterscheidung auf: a) die persönliche Identität des Individuums; b) die kulturelle Identität eines kleinen Kollektivs (Nachbarschaft, Dorf, Юeinstadt, Region, Heimat) und c) die kulturelle Identität einer Grossgruppe (Grossstadt, Provinz, Nation, Kontinent, Rasse, Religion). Diese Unterscheidungen nehmen Rücksicht auf die beschriebene Doppelsemantik des Begriffs Kultur, je nach seinem Bezug auf das Individuum bzw. auf das Kollektiv. Zudem wird unterschieden zwischen Юе1п- und Grossräumen, in denen letzteres angesiedelt ist. Die Differenzierungen lassen sich erklären anhand des Schemas, das (aus typographischen Gründen) im Anhang dieses Kapitels steht. Damit die Kontrastierung deutlich werde, fasse ich hier die Unterschiede zwischen den drei Ebenen zusammen: Auf der Ebene der Person (a) ist die Identität implizit, privat, empfunden, erfühlt, empirisch. Sie kann in gewissen Fällen, die wir dann als psychopathologisch werten, auch imaginär oder illusorisch sein, wie z.B. bei Don Quijote. Erst auf den Ebenen des Kollektivs kann der BegrifiF der kulturellen Identität Sinn machen. Im Falle der föeingruppe (b) ist diese ebenfalls implizit, aber pragmatisch erlebt, wenn auch meistens nicht verbalisiert: das Wir-Gefühl ist schwer zu definieren. Immerhin kommt es vor, dass es sich in der so genannten Regional- oder Heimatliteratur artikuliert. Im Falle der Grossgruppe (c) hingegen ist die kulturelle Identität immer explizit, gewissermassen patriotisch, rhetorisch. Sie ist ein Sekundärphänomen, das nicht spontan entsteht, das vielmehr das Ergebnis darstellt einer kontrastiven Selbstreflexivität, auch eines Erziehungs- und Bewusstmachungsprozesses, den offizielle Instanzen durchführen: die Lehrer, die Pfarrer, die Politiker, die Regierenden.

Gibt es nähere und fremdere Kulturen? Nach den vorangegangenen Klärungen können wir der hier gestellten Frage besser nähertreten. Die Sozialwissenschaften, namentlich die Sozialpsychologie haben inzwischen auf den verschiedensten Wegen versucht, die kulturelle Distanz zwischen fremden Grossgruppen möglichst exakt zu erfassen. In einer Welt von immer grösserer Mobilität, mit zunehmenden Migrationen ist die Verträglichkeit zwischen verschiedenen Kulturen ein erstrebenswertes, ein notwendiges Ziel geworden (Hall/Reed 1989). Daher drängt sich die Frage auf, ob kulturelle Differenz erfassbar oder gar messbar sei. Die bisherigen Versuche waren zunächst dilettantisch. So wurde etwa, meistens anhand gezielter, so genannter repräsentativer Umfragen, untersucht, ob die rassische Bevorzugung eine Rangordnung der Beliebtheit gewisser Kulturen erkennen lässt; oder auch statistisch, ob vielleicht die schlichte Zuweisung von Sympathie und Antipathie etwas aussagt; oder ob vielleicht das Erkennen bestimmter Gemeinsamkeiten zwischen dem »typisch« Eigenen und dem »typisch« Anderen ein Kriterium sein könnte; oder ob sich eventuell anhand der bekannten Maslow'schen Bedürfnis-Pyramide eine Völker-

spezifische Aufgliederung ergebe. Die Ergebnisse sind eher enttäuschend (dazu Karsten 1978). Als überraschend exakt, doch schwerer zu beobachten, ist eine Untersuchung des unterschiedlichen kommunikativen Verhaltens, aus der sich eine Unterscheidung zwischen so genannten low-context- und Aig/i-coníexí-Kulturen ableiten lässt. Sie scheint signifikant zu sein, ist aber nur in langwierigem Verfahren zu erfassen (Hall 1977). Der Sammelband von Knapp-Potthoff (1997) gibt einen Einblick in weitere linguistisch orientierte Arbeiten über die Möglichkeiten interkultureller Kommunikation. Insgesamt sind jedoch die Ergebnisse der einschlägigen Forschungen prekär, die Schlüsse gewagt, die Aussagen partiell. Dies sollte uns nicht überraschen. Denn in der Tat wäre es absurd, in einem so komplexen Bereich wie der kulturellen Identität exakte Ergebnisse einer Differenz-Messung zu erwarten. Jede nationale oder sprachregionale Kultur ist bekanntlich schon in sich selber veränderbar, im Lauf der Zeit erst recht. Das kulturelle Leben eines jeden Landes - es wurde schon angedeutet - schlägt sich in einem spezifischen Kanon nieder, in einer Ansammlung von Meinungen, ästhetischen Bevorzugungen, existenziellen Optionen, wobei das Gesamte weder homogen, noch widerspruchsfrei, noch dauerhaft ist. Diesen Kanon können wir empirisch gut beobachten an der kulturellen Identität eines kleineren Kollektivs, wie sie oben unter b) beschrieben wurde. Und auch die kulturelle Identität einer Grossgruppe, die bekanntlich explizit ist, lässt sich z. B. am Bildungswesen und mannigfach im öffentlichen Sektor ablesen. Die Wirkungsdauer eines solchen Kanons kann sehr verschieden sein. Einerseits kann ein kultureller Kanon - z. B. der abendländische Humanismus mit seinem Kult der Antike - über Jahrhunderte Bestand haben; andererseits kann sich eine kollektive Befindlichkeit, wie etwa die Décadence- und die Fin-de-Siècle-Phânomene um 19(Ю zeigen, nur für die Dauer von vielleicht einer oder zwei Generationen halten. Ein kultureller Kanon kann zäh andauern, kann sozial sinken, bleibt ständig den Neuerungen der heranwachsenden Jahrgänge ausgesetzt und wird durch neue Fremdeinflüsse verändert, vielleicht beschädigt, vielleicht bereichert. Ein kultureller Kanon ist zwar höchst wirksam und ist doch keine feste Grösse; er ist, ähnlich wie etwa der so genannte Zeitgeist, ein soziales Phänomen. Die von ihm gesteuerten Neigungen und Abneigungen sind im Nachhinein möglicherweise erklärbar, vorauszusehen waren und sind sie nicht. Die Wucht der Veränderungskraft eines neuen Kanons - denken wir an die 68er Bewegung - , desgleichen das ihm unter Umständen eigene Beharrungsvermögen sowie auch die Richtung seiner Wandlungen sind nicht vorhersehbar. So ist es auch keiner Autorität auf Dauer vergönnt, einen kulturellen Kanon zu verordnen oder ihn in wünschbare Bahnen zu lenken. Ein Kanon leitet seine Autorität von seiner schieren Existenz her, und diese ist abhängig von der schwellenden oder schwindenden Zustimmung im Kollektiv. Fassbar wird ein kultureller Kanon allerdings anhand gewisser Symptome, in denen sich die mehrheitliche Einstellung einer Gesellschaft öffentlich und institutionell niederschlägt. In unserem Zusammenhang der Nähe oder Ferne von Kulturen zu- oder voneinander gilt deshalb, dass man weniger an einem Kanon insgesamt, vielmehr nur an einzelnen identitätsstiftenden Faktoren des (heimatlichen oder nationalen) Kollektivs ablesen kann, in welchem Verhältnis zwei einander fremde Kulturen zueinander stehen. So führen am ehesten jene Untersuchungen zum Ziel, die anhand bestimmter gemeinsamer Faktoren oder Werthaltungen eine Nähe bzw. eine Distanz zwischen verschiedenen Kulturen feststellen (Kluckhohn/ Strodtbeck 1961). In diesem Fall steckt im Detail nicht der Teufel, sondern im Gegenteil der einzig mögliche Erkenntnisgewinn. Denn, nur falls eine Anzahl von identitätsstiftenden Fak-

toren vor allem des Klein- aber auch des Grosskollektivs übereinstimmen, kann von einer Nähe, von einer Verträglichkeit ausgegangen werden. Und umgekehrt: Kulturellen Identitäten en bloc gegenseitige Nähe oder Ferne zu attestieren scheint aufgrund der bisherigen Forschungen ein unmögliches Unterfangen. Nähe oder Fremdheit zwischen zwei Kulturen kann wohl empfunden, beobachtet und beschrieben werden, jedoch nur anhand von Übereinstimmungen oder Unverträglichkeiten einzelner oder mehrerer der identitätsbildenden Faktoren. Auf deren Kompatibilität kommt es allein an, z. B. auf den Faktor Religion. Goethe wusste dies sehr wohl, als er Gretchen die berühmte Frage an Faust in den Mund legte. Die Rede vom global village ist insofern irreführend, als just auf der Ebene des Dorfes, der Kleingruppe also, von Globalisierung keine Rede sein kann, wenn man von Davos in der Januarwoche absieht, wenn das World Economic Forum dort tagt. Ein Kosmopolitismus stellt sich nur auf der Ebene der grossen Kollektive und ihrer Repräsentanten ein, und zwar allmählich. Er ist ein ganz und gar urbanes Phänomen, kein »dörfliches«. In der Welt der Manager und der Staatsmänner - und allein in dieser Höhenluft - erfolgt die Angleichung der verschiedenen kulturellen Identitäten (bzw. deren progressiver Verlust) so weitgehend, dass wohl ihre Auflösung in einem undifferenzierten Kosmopolitismus abzusehen ist.

Über persönliche und kulturelle Identität Es gilt zu unterscheiden zwischen drei Ebenen: a) persönliche Identität - »Wer bin ich?« b) kulturelle Identität einer Kleingruppe (Dorf, Kleinstadt Region, Heimat) »Wie sind wir?« c) kulturelle Identität einer Grossgruppe (Grossstadt, Nation, Kontinent, Rasse) »Wie wollen/sollen wir sein?« NB: Kulturelle Identität wird nur überindividuell manifest [Ebenen b) u. c)] Identitätsstiftende Faktoren: Für -

a) b) c) gemeinsam: die Autoimagotype (Selbsteinschätzung) die Heteroimagotype (Fremdeinschätzung) die Enkulturierung (Prozess der Assimilation von kulturellen Werten, Mentalitäten, Werthaltungen)

Spezifisch für a): Die Identität ist hier implizit, privat, gefühlsmässig; z.T. auch imaginär oder Einbildung. Persönlichkeit (Körpergestalt, Charakter, Temperament, Erziehung, Idiolekt) Familie ^ Beruf ^ = das soziale Umfeld -»· Sozialisierung Sozialer Umgang J die eigene Geschichte der persönliche Entwurf (Ziele, Ideale, ideologische Einstellungen)

Die Faktoren zu a) erzeugen den Respons des sozialen Umfelds (= social control). Spezifisch für b): Die Identität ist auch hier implizit, erlebt, unausgesprochen; sie wird spürbar in der Regionalliteratur; sie wird virulent im Falle einer unterdrückten Ethnie. Nachbarschaft in der in-gwup kollektive Seinsweise soziale Wertschätzung {social esteem) die einer Volks(klein)gruppe eigenen Traditionen (Brauchtum, Feste, etc.) das übliche Sozialverhalten (kommunikative Konventionen) familiäre bzw. lokale Redeweise, Dialekt der Zusanunenhalt im Quartier, im Pfarrsprengel, in der Sekte Kommunikation von hoher Kontextualität (= hoher Grad von Implizität) Träger: das »Volk«. Spezifisch für c): Die Identität ist explizit »vaterländisch«, rhetorisch, virulent im Fall von Grenzkonflikten u. internationalen Spannungen. Andersheit, d.h. Fremdheitsempfindung gegenüber out-gmups Landeskultur, Bildungskanon Religion und Konfession alles durch Erziehung vermittelt Geschichtsbewusstsein Hochsprache Kommunikation von geringer Kontextualität (= hoher Grad von Explizität) Träger: die Intellektuellen, die gebildete Schicht, die Politiker.

Literaturhinweise Für weitergehende Hinweise zu den in diesem Buch erscheinenden Essays konsultiere man López de Abiada/Siebenmann. 1998. Lateinamerika im deutschen Sprachraum - Eine Auswahlbibliographie. Tübingen: Niemeyer (Beihefte zur Iberoromania; 13). Fisher, G. 1988. Mindsets: The Role of Culture and Perception in International Relations. Yarmouth. Hall, E. T. 1977. Beyond Culture. Garden City (NY). Hall, E. T./M. Reed. 1989. Understanding Cultural Différencies: Germans, French and Americans. Yarmouth (Maine). Karsten, A. (Hg.). 1978. Vorurteil. Darmstadt. Kluckhohn, C./M. Strodtbeck. 1961. Variations in Value Orientations. Evanston (111.). Knapp-Potthoff, A. et al. (Hg.). 1991. Aspekte interkultureller Kommunikationsfähigkeit. München. König. R. H./A. Schmalftjss. 1972. Kulturanthropologie. Düsseldorf. Mead, G. H. 1934 et passim. Mind, Self arul Society. Chicago. Mittelstraß, J. 1992. Leonardo-Welt. Über Wissenschaft, Forschung und Verantwortung. Frankfurt/M. Raulet, G./J. Le Rider (Hg.). 1987. Verabschiedung der (Fost-)Modeme?. Tübingen. Snow, Sir Ch. P. 1967. The Two Cultures and A Second Look. Cambridge; dt. Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Stuttgart, 1964.

Lateinamerika auf der Suche nach einer Identität

Ausgehend von dem soeben vorgetragenen Dreistufenmodell - Individuelle Identität, spontane Identität der Kleingrappe, explizite Identität der Grossgruppe - versteht es sich, dass wir es bei dieser Fragestellung mit einer Grossgruppe zu tun haben. Die Bevölkerung einer so immensen Region mit ihren über zwanzig Ländern, die ihrerseits einer nationalen Identität bedürfen, kann spontan und gefUhlsmässig nur in der vecindad, in der Kleingruppe eine Heimat ñnden. Im Spanischen sagt man dafür, ebenso emotional wie im Deutschen, patria chica, kleines Vaterland. Braucht ein Kontinent überhaupt eine eigene Identität? Haben wir Europäer denn eine und könnten wir sie formulieren? Allein schon die Vielsprachigkeit erschwert solches erheblich, im Gegensatz zum geeint Spanisch sprechenden Amerika. Dennoch bedarf die patria grande, wie schon Bolívar den lateinamerikanischen Kontinent nannte (Massuh 1983), dringender einer spezifischen Identität als Europa, einmal um eine Einheit zu proklamieren und sich einer gemeinsamen Seinsweise zu versichern, vor allem aber zur Abgrenzung gegen aussen. Und ein solcher ideeller gemeinsamer Nenner muss von anerkannten Autoren, Historikern und Schriftstellern gesucht, formuliert und öffentlich vorgetragen werden. Vielleicht wird die vorgeschlagene Lösung dann als zutreffend anerkannt, wenigstens von gewissen Sektoren und vorübergehend. Dauer ist nur wenigen Komponenten vergönnt. Doch ich greife vor. Wir haben es demnach mit Modellen zu tun, die sich temporär an gewissen Zeitströmungen orientieren und erst in konfliktiver Situation eine öffentliche Relevanz bekommen. Doch wann ist Lateinamerika in seiner Geschichte je von inneren oder äusseren Spannungen frei gewesen? Deshalb bestand, aus historischen wie geografischen Gründen, in Lateinamerika seit der Ablösung der Republiken von den Mutterländern, besonders angesichts der im 20. Jahrhundert permanenten Spannungen mit den USA, ein nachhaltiges Bedürfnis nach einer expliziten und für den gesamten Kontinent gültigen Identitätsformel. Die Suche danach hat die Intellektuellen, die Politiker, Essayisten, Philosophen und Literaten dort zu immer neuer geistiger Anstrengung geführt, ihnen aber auch eine grössere öffentliche Bedeutung zukommen lassen als in anderen Gesellschaften. Hier soll nun versucht werden, die erfassbaren Identifikationsmodelle zu systematisieren. Dabei bietet es sich an, von der zeitlichen Aufeinanderfolge vorerst abzusehen, denn bei chronologischer Darstellung entstünde ein schlecht übersehbares Gewirr von Widersprüchen, das einem Überblick hinderlich wäre. Diesen Verstoss gegen die Historie werde ich später dadurch mildem, dass ich die systematische Darstellung der angebotenen Identitätsmodelle einbette zwischen eine Schilderung der Identitätskrise vor 1900 einerseits und eine Skizze der chronologischen Entwicklung andererseits. So ergibt sich für das Weitere die folgende Gliederung: Die Enttäuschungen der kreolischen Provinzen; die Orientierungsmodelle; der diachronische Verlauf.

Die Enttäuschungen der kreolischen Provinzen Die vier von der spanischen Krone auf amerikanischem Territorium errichteten Vizekönigreiche waren keine unabhängigen Staatsgebilde. Ihre zunächst dünne Bevölkerung konnte

12 keine eigene Identität entwickeln und brauchte sie auch gar nicht (dazu Redondo 1978). Die Kreolen - das sind die auf Dauer dort ansässigen Abkömmlinge von Spaniern - und die sozial aufgestiegenen Mestizen konnten sich in den noch jungen Kolonien eingebunden fühlen in das Kollektiv der Hispanität und der katholischen Kirche, während die indigene Bevölkerung mit ihrer Sprache auch ihre Stammesidentitäten noch lange bewahren sollten und zudem in einem zumeist synkretisierten, mit eigenen Ritualen und Vorstellungen gemischten Katholizismus eine religiöse Zuflucht fanden. Volksreligiöse Kulte wie die um die Virgen de Guadalupe in Mexiko, der Patronin der Unabhängigkeitsbewegung in Mexiko, oder um die Virgen de Copacabana am Titicacasee sprechen Bände. Die Bewohner unterschieden sich in der Kolonialzeit weniger durch die Zugehörigkeit zu einem Vizekönigreich als durch die Klimazonen ihres Lebensraums. Noch heute empfindet sich z. B. in Kolumbien García Márquez der Karibik zugehörig und sieht die cachacos im andinen Bogotá als Fremde (Vivir para contarla, 2002). Erst nach und nach sollte sich der einigende Widerstand gegen Spanien zu einem identifizierenden Faktor formieren, doch davon später. Erst das 19. Jahrhundert, das dem Kontinent die politische Unabhängigkeit brachte, wird für unsere Fragestellung interessant. Die Befindlichkeit der Lateinamerikaner war geprägt von einem drastischen emotionalen Gefalle. Bildlich gesprochen erkennen wir im Überblick eine stark gebogene Kurve steil aufschiessender Erwartungen und flach, aber kontinuierlich abfallender Enttäuschungen. An der Wende zum 20. Jahrhundert drängte sich deshalb eine Rückschau auf diesen Prozess auf, zugleich eine Besinnung auf die Zukunft. In den Jahren zwischen 1898 und 1930 sind die Möglichkeiten einer geistigen Bewältigung des eigenen Scheiterns in unterschiedlichen, aber immer heftigen Anläufen durchgespielt worden, und zwar weniger anhand echter Analysen als vielmehr anhand von Retrospektiven und Zukunftsvisionen. Man kann dies heute in mehreren Anthologien von essayistischen Schlüsseltexten nachlesen. Die 21eugen der damals um sich greifenden geistigen Depression sind zahlreich: Wieso sind wir ein »continente enfermo«, ein kranker Kontinent, fi-agt der Venezolaner César Zumeta (1899). Der Bolivianer Alcides Arguedas veröffentlicht 1909 sein Pueblo enfermo und sieht nur »Blut und Dreck« in dessen Geschichte. »Wir sind überhaupt nicht vorangekommen, es geht uns nicht besser, sondern schlechter, wir haben Mittel und Kräfte eingebüsst im Verlauf des langen Jahrhunderts unserer Unabhängigkeit«, so der Mexikaner José de Vasconcelos (Indologia, 1924). Die für das Scheitern angeführten Gründe sind aufschlussreich, denn auf diese wäre ja eine eventuelle Therapie auszurichten. Man kann die angegebenen Ursachen in drei Gruppen zusammenfassen: Als erster Grund für das kollektive Scheitern werden die kontraproduktiven, aus Spanien überkommenen Traditionsmuster angeführt, die »Erbübel« im Bereich des sozialen und wirtschaftlichen Verhaltens, allen voran die Trägheit. Inercia, pereza, desidia, ociosidad sind die Kennwörter. Noch 1928 brandmarkt der peruanische Marxist José Carlos Mariátegui in seinen Siete ensayos als ständige Makel die Abneigung der Lateinamerikaner gegenüber aktiven, wertschöpfenden Berufen und das blosse Streben nach einträglichen Pfründen. Und er sieht vor allem die wirtschaftlichen Folgen. Da gegen eine solche kollektive Einstellung kein Mittel in Sicht ist - Selbstüberwindung war ja durch das zu beseitigende Übel der Trägheit just ausgeschlossen - , macht sich bitterer Fatalismus breit. Der Kolumbianer Carlos Arturo Torres sagt es für viele andere: »Das nationale Übel ist die Niedergeschlagenheit und die Depression« (Idola fori, 1910).

13 Ein zweiter, diesmal Mstorischer Grand wird in den Verfehlungen der Unabhängigkeitsbewegung gesucht. Man empfindet sogar, rand achtzig Jahre danach, eine gewisse Reue und zeigt sich gegenüber den überwundenen Kolonialzuständen wieder versöhnlicher. Sogar den Gedanken an die gemeinsame Hispanität weist man, wie wir sehen werden, nicht mehr grandsätzlich ab. Das grosse Unternehmen von Bolívar und San Martín wertet man nun als Fehlleistung. War es nicht Hybris, ein Territorium von kontinentaler Dimension befreien und einen zu wollen? Zu hohe Erwartungen waren geweckt worden, und auf sie folgte unausweichlich die Enttäuschung. Vasconcelos spricht von »Balkanisierung«, von »fataler Desintegration«, und der Argentinier Manuel Ugarte sieht die Independencia »als einen Unfall, der ein halbes Jahrhundert unserer Anstrengungen fruchtlos werden liess« {El porvenir de la América española, 1910). Der traurige Ausspruch des politisch geschlagenen Bolívar war siebzig Jahre nach seinem Tod noch immer aktuell: »Hemos arado en el mar« (Wir haben auf dem Meer gepflügt). Es fällt auf, dass kaum einer der Intellektuellen damals eine soziologische Erklärang für das Debakel suchte. Desgleichen blieb eine politische Analyse des historischen Prozesses der Independencia weitgehend aus. Drittens wurden dem klimatischen Faktor, namentlich in den tropischen Regionen, immer wieder negative Einflüsse zugeschrieben. Das Argument stammt aus den Klima- und Milieutheorien der Franzosen. Eine Allgemeingültigkeit haben diese der Umwelt angelasteten Begründungen schon deshalb nicht beanspruchen können, weil grosse Zonen Lateinamerikas klimatisch ausgesprochen begünstigt sind. Kurzum, man suchte die Gründe für die allgemeine und namentlich wirtschaftliche Stagnation sowie für das Dekadenzgefühl gegen Ende des 19. Jahrhunderts in nicht veränderbaren Gegebenheiten: in zählebigen traditionellen Verhaltensweisen des Kollektivs, in der Geschichte und in der Geografie. Angesichts des damals in Lateinamerika weitverbreiteten Positivismus und der weltweiten Krise der Latinität waren diese Diagnosen zwar folgerichtig, aber auch folgenlos. Um einen kollektiven Aufbrach aus dem Zustand des generellen Rückstandes gegenüber Europa und Nordamerika in die Wege zu leiten, musste man wissen, wer man war, wer man sein wollte. So entstand um die Jahrhundertwende ein akutes Bedürfnis nach zukunftsträchtigen Identitätsformeln. Sehen wir uns die vorgeschlagenen Orientierangsmodelle näher an.

Orientierangsmodelle Der utopische Entwurf. Eine wichtige Komponente finden wir in dem seit der Entdeckung gepflegten Gedanken, in dieser Neuen Welt könne man völlig neu beginnen. Das Land Amerika wurde, namentlich im 18. Jahrhundert, als jungfräulich und als offenes Feld für einen radikalen Neubeginn gesehen, der zwar von den Erfahrangen der Alten Welt zehren mochte, doch eine mängelfreie gesellschaftliche Konstraktion erlauben könnte. Hegel hat Amerika bekanntlich als den Kontinent der Zukunft betrachtet. Darauf greifen einige idealistische Essayisten nun zurück. Nehmen wir als Beispiel ein Zitat des Dominikaners Pedro Hennquez Ureña aus dem Jahre 1926: »Schütteln wir die Zaghaftigkeit ab und erklären wir uns als Herren über die Zukunft. Eine jungfräuliche Welt, eine eben gewonnene Freiheit, aufkeimende Republiken, in glühender Hingabe an die unsterbliche Utopie: hier mussten neue Künste,

14 neue Poesie entstehen.« Wie sich zeigen wird, hat diese Projektion Lateinamerikas in die Zukunft bis heute nicht nachgelassen. Besonders häufig wird das utopische Schwärmen anhand biologischer Metaphern formuliert. Man hat das Attribut der Neuen beziehungsweise Alten Welt mit den Lebensaltern gleichgesetzt und die Jugendlichkeit im weitesten Sinne auf das gesellschaftliche Geschehen übertragen. Ausdrücke wie juventud oder jóvenes tauchen immer wieder auf. Das brachte beim Argumentieren zwei Vorteile auf einen Schlag: Einerseits waren durch die Unreife der frühen Lebensstufe die Irrtümer gewissermassen entschuldigt. So hat etwa der Uruguayer José Enrique Rodó dem erwähnten Titel Pueblo enfermo (1909) von Alcides Arguedas ein pueblo niño entgegengehalten (ein Volk im Kindesalter), womit die Vorstellung geweckt wurde, die Zeit allein werde einen Reifeprozess herbeiführen. Und andererseits ist aus diesem Biologismus ein Optimismus hervorgegangen: man glaubte an Evolution, und man bemühte sich ernsthaft, im Erziehungssektor ganz besonders, einen Fortschritt herbeizuführen. Latinität. Dieses zweite Orientierungsmodell hat seinen Ursprung in der nicht nur hispanischen, sondern generell mediterranen Einwanderung. So wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts versucht, in der Wesensart der immigrierten lateinischen Europäer ein Orientierungsmodell zu finden. Dies gelang nur insoweit, als man der angeblich pragmatisch und materialistisch gesonnenen Germanität Nordamerikas die mehr auf Ideale und auf kulturelle Werte besonnene Latinität im Süden gegenüberstellte. Dieser Bewegung wurde aufgrund von José Enrique Rodós Buch Ariel (1900) der Name »arielismo« gegeben. Im gleichen Zuge wurden paradoxerweise mit diesem antagonistischen Orientierungsmodell auch die eigenen Schwächen sowie die Inferiorität gegenüber den nördlichen Nachbarn begründet: Die Theorie einer dekadenten Latinität hat bekanntlich gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch den europäischen Mittelmeerraum erfasst und bewirkte wenig später die bekannte bewundernde Zuwendung zum Germanentum, zu Deutschland im Besonderen, für die in Spanien das Beispiel Ortegas steht. Die Ambivalenz des Mythos Latinität wurde in den ersten beiden Jahrzehnten unseres Jahrhunderts überall erkannt. Doch im Lateinamerika der Wende zum 20. Jahrhundert vertraute eine schmale, humanistisch gebildete Schicht nach wie vor auf den höheren Wert der Geistigkeit. Man leitete von dem eigenen wissenschaftlich-technologischen Rückstand eine menschliche Überlegenheit ab, ein Mehr an Humanität. Diese Gedankenakrobatik - um aus der Schwäche eine Stärke zu machen - sollte sich als verhängnisvoll herausstellen. Zwar hat der elitäre Charakter dieses Orientierungsmodells eine Breitenwirkung verhindert, doch im Bildungssektor ist es über Jahrzehnte hin Leitbild geblieben, dem Hochmut der Humanisten in Europa nicht unähnlich. Hispanität. Ein drittes Orientierungsmodell ist die sogenannte »hispanidad«. Es ist ein verschwommener Begriff, der sich leicht zu ideologischen Zwecken zurechtbiegen lässt. Es handelt sich um ein Konglomerat von rückwärtsgewandten, vergangener historischer Grösse nachtrauernden Treuegefühlen, von Stolz auf die eigene Sprache, von strenggläubiger Katholizität, von eigensinniger Wertschätzung der eigenen Seinsweise und Traditionen. Imagologisch gesprochen bedeutet Hispanität vor allem ein kritikloses Hochhalten von Autoimagotypen und eine Abwehr jeglicher fremder Einmischung oder Beurteilung. Ramiro de Maeztu, der Sohn eines Kubaners und einer Engländerin, der immer radikaler denkende Konservative und Katholik, hat seine Defensa de la Hispanidad (1934) zu Beginn des Spanischen Bürgerkriegs mit dem Leben bezahlt. Doch was sollte diese spanische Ideologie in Spanisch-

15 Amerika? Es gab Gründe für eine Revision. Nachdem die schlechten Erfahrungen unübersehbar geworden waren, die die Kreolen nach der Independencia mit sich selber gemacht hatten, milderte sich der antikolonialistische Groll gegen die Spanier, wenigstens teilweise. Man wetterte nicht mehr gegen die Conquista und auch nicht mehr gegen die Colonia, vielmehr besann man sich jetzt wieder auf diesen panhispanischen, historisch vorgegebenen Identitätsfundus: »Wir Spanisch-Amerikaner sind verloren, wenn wir den unterscheidenden [hispanischen] Charakter unserer Persönlichkeit nicht zu bewahren wissen«, meinte der Mexikaner Justo Sierra, und Ugarte fügte hinzu: »Nur keine Vorwürfe gegenüber Spanien. Südamerikaner, die ihre Herkunft leugnen, begehen moralisch Suizid und sind halbwegs Vatermörder.« So wurde selbst in Spanisch-Amerika die Hispanität, jene mythische Synthese der spanischen Wesensart, da und dort wieder zu einem konstitutiven Element der Amerikanität, trotz der imperiahstischen Komponente des Panhispanismus. Im 20. Jahrhundert ist Spanien gegenüber Spanisch-Amerika, zumal in Zeiten der Falange und des Franquismus, wieder unverblümt mit hegemonialem Imponiergehabe aufgetreten. Allerdings erwarteten die amerikanischen »Hispanisten« von damals die Solidarität eines liberalen Spaniens. Umsonst, wie Manuel González Prada erfahren sollte. Um 1900, nach seinem Besuch in der spanischen Metropole, stellt der peruanische Lyriker und Politiker bedauernd fest, dass Spanien »nicht mehr an uns denkt, uns verachtet und vergisst«. In der Tat kümmerte sich Spanien nach dem Debakel in Kuba (1898) und im Zuge der auf die eigene Regeneration bedachten 98er-Bewegung nicht mehr um Lateinamerika. Letzten Endes ist diese ohnehin diffuse Idee der Hispanität in Spanisch-Amerika aufgegangen im Orientierungsmodell der Latinität oder der Frankophilie. So konnte zum Beispiel Zumeta um 1900 in seinem Continente enfermo schreiben: »Rom und Madrid sind für jeden Spanisch-Amerikaner geistige Vaterländer gewesen, doch Frankreich wird in solchem Masse geliebt, dass ein mexikanischer Joumalist unlängst äussern konnte: >Wir haben keine eigene Seele, sondern es vibriert in uns kraftvoll und andauernd eine französische Seele. Guerilla< [sie] als Bezeichnung für den Kleinkrieg, den Partisanenkrieg zurückgeht. Für Lateinamerika beruht das Bild auf den Befreiungskriegen der nachmaligen Republiken gegen die spanische

81 Kolonialmacht, sodann auf den endlosen Bürgerkriegen im 19. Jahrhundert bis hin zu den grausamen ideologischen Guerillakämpfen von gestern und heute. Die Bildbestandteile, die von den deutschsprachigen Söldnern bzw. Siedlern aus der spanischsprachigen Welt nach Hause übermittelt wurden, stammen für Spanien aus der Zeit des Renaissance-Kaiserreichs, während die Rückmeldungen von Auswanderern nach Lateinamerika erst nach den Emigrationswellen gegen Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt haben. Ebenfalls mit Phasenverschiebung ist das Negativbild vom Ursprung venerischer Krankheiten zutage getreten. Zuerst waren Spanien und das spanische Neapel das Sündenland, später wurde die karibische Region dazu auserkoren. Wie man heute weiss: beides zu Unrecht. Femer ist das Bild einer Drittwelt-Zugehörigkeit in Spanien seit dem Zweiten Weltkrieg nach und nach obsolet geworden, während die lateinamerikanischen Republiken sie trotz sorgfaltiger Imagepflege angesichts der Schuldenlasten und unbewältigter demographischer und sozioökonomischer Probleme noch heute hinnehmen müssen, trotz ihres Widerspruchs. Das Bild eines Volkes mit besonders reicher und origineller Folklore geht vor allem auf das im 19. Jahrhundert von den Romantikem entdeckte Spanien zurück, während die Volksbräuche und -trachten Lateinamerikas erst in unserem Jahrhundert in den Blickpunkt gerückt sind. Das gleiche kann man von der Musik und den Tänzen sagen. Der spanische Fandango war früher in Europa als der Tango und der Bolero aus Lateinamerika. Wenn wir nun die dissoziierten Bilder betrachten, die einerseits nur auf Spanien und andererseits nur auf Lateinamerika projiziert wurden, so können wir für die Iberische Halbinsel ein ganze Reihe nennen: Americo Vespucci schrieb in seinen Briefen den Spaniern einen stoischen, den Lateinamerikanern hingegen einen epikuräischen Charakter zu. Die Schwarze Legende als eine innereuropäische Angelegenheit zielte, soweit sie die Intoleranz, den Machthunger und den Autoritarismus anbelangt, ausgesprochen auf das noch mächtige Spanien der Gegenreformation, während man in Europa die auch im südlichen Amerika sich inih regenden Freiheitsbestrebungen warm begrüsste - ein durchaus komplementärer Vorgang. Die Spuren stereotyper Negativeinstellungen zu den Spaniem, die wir in unserer deutschen Sprache vorfinden, sind im Grimmschen Wörterbuch noch sehr zahlreich und als Folge der Schwarzen Legende erkennbar. Sie haben sich inzwischen aber verloren und als einzige Narbe vielleicht noch jene Redewendung hinterlassen, wonach »uns etwas spanisch vorkommt« (dazu Siebenmann 1989). Hingegen sind idiomatische Spuren irgendwelcher Einstellungen gegenüber Amerika im Deutschen aus verständlichen Gründen nicht zu beobachten. Allenfalls kann man im deutschen Sprachgebrauch Nuancen bei den Kontinentalbezeichnungen beobachten. Wir sahen es schon im Kapitel Est nomen omen? In der Tat werden, wenn wir genauer hinhören, >SüdamerikaSüdamerikanersüdamerikanisch< nicht nur geographisch unscharf verwendet - ein Kontinent irgendwo im Süden (wobei man Mexiko und Zentralamerika unbesehen dazurechnet) - , sondern oft mit stereotypem Unterton: eine liebenswerte Region des Unseriösen, auch des Heiteren, Zuflucht für Ganoven, Abenteurer, Hochstapler und Kriegsverbrecher. Ich fahre fort mit den ausschliesslich auf Lateinamerika bezogenen Bildvorstellungen. Auch hier muss die Rede auf Bestandteile der Schwarzen Legende kommen. Das zur Zeit der Gegenreformation verbreitete (und zutreffende) Bild einer besonders schroffen Intoleranz der Spanier in religiösen und politischen Dingen ist als negativer Zug - im Gegensatz zu anderen - nicht nach Amerika weiteφrojiziert worden, vielmehr sah Europa auch die Kolonien Spa-

82 niens als Opfer der Inquisition. Ebenso wenig ist das Feindbild, das die französischen Aufklärer von den Spaniern entwarfen, auf Amerika übertragen worden, im Gegenteil: Sowohl die Toleranz in Sachen Gesinnung und Glauben wie auch die begeisterte Aufnahme, die dort das aufklärerische Gedankengut erfuhr, gehören im 18. und 19. Jahrhundert zu den positivsten Bildern Amerikas, auch des iberischen Teils. Eine letzte Disparität zwischen Spanien und Lateinamerika betrifft eigentiich ein Autoimagotyp, das jedoch seine Wirkung auf die Einstellung gegenüber dem Ausland hatte. Ich meine die klar definierte nationale oder völkische Identität. Die Spanier wussten - wie jedes in Machtkämpfe verstrickte Volk - sehr früh, wer sie sind, während die Lateinamerikaner oder die einzelnen Republiken sich bis heute damit schwer tun, ihre eigene Identität zu finden und zu fassen. Auch davon war in einem fiüheren Kapitel schon die Rede. Und nun zu den Bildern, die ausschliesslich oder vorrangig auf die lateinamerikanische Region projiziert wurden. Hier können wir summarisch die folgenden Makroimagotype erwähnen: Projektion antiker Mythen in die Neue Welt. - Amerika als Ort der Utopie oder der verkehrten Welt. - Amerika als El Dorado, als Fundort unermesslicher Reichtümer. - Amerika als Kontinent der monströsen Wirklichkeit, des Menschenfi-essertums, der Barbarei. Danach, nur scheinbar widersprüchlich, der wichtige Bildkomplex des Edlen Wilden, ein sowohl aus dem gesamten Amerika wie von anderen Naturvölkern hergeleiteter Mythos. Sein Gegenpart betrifft hingegen ausgesprochen die Karibik, den sogenannten Kaliban, den Büsser, Dulder und Sklaven aus dem Dreigespann in Shakespeares Sturm. Auch hier hat sich übrigens in jüngster Zeit eine Übernahme als Autoimagotyp ergeben: Der Kubaner Roberto Fernández Retamar postuliert in seinem Buch Caliban (1971/1988), der lateinamerikanische Mensch müsse solches Sklavenschicksal auf sich nehmen und es durch Rebellion und Trotz umkehren in eine Anti-Prospero- und Anti-Ariel-Haltung, ähnlich dem Sisyphus bei Albert Camus. - Amerika als degradierte Natur, andererseits aber positiv als exotische Region, als unbezähmbarer, von Einsamkeit geprägter Naturraum. - Einen weiteren Bildkomplex stellen die Robinsonaden dar: Die Neue Welt als Freiraum für den tüchtigen Selfmademan, der die Natur zu bewältigen weiss. Davon hergeleitet wurde auch das Bild Amerikas als die Abenteurerregion par excellence. Daraus ist später der Mythos vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten hervorgegangen, vom Kontinent der Zukunft. Unweit davon liegt das Bild wieder einmal auf historischen Tatsachen fussend - , wonach Lateinamerika ein Zufluchtsland (unter anderen) für die Armen und Verfolgten der Alten Welt sei. - In den 1980er und 90er Jahren hat sich eine geistiiche Revolution ereignet, die sogenannte Theologie der Befreiung, die für manche das Bild jenes Kontinentes mitprägt (dazu Bussmann 1996). - Im Bereich der Oekonomie sind besonders langlebige Negativbilder wirksam: Misswirtschaft, Fremdbestimmung, Ausbeutung durch Imperialisten im In- und Ausland, Komplizität der Kreolen, ungelöste Verteilungsprobleme, Massenarmut, Korruption. Die sogenannte Dependenztheorie hat einige Jahrzehnte lang den Subkontinent als Opfer der Entwicklung und des Wirtschaftsimperialismus dargestellt, wobei auch die kulturellen Folgerungen einbezogen wurden. - Spätestens seit 1910, seit dem Beginn der mexikanischen Revolution, gilt Lateinamerika als Kontinent des Aufruhrs, des gewalttätigen sozialen Aufstandes - bis hin zum Mythos der kubanischen Revolution mitsamt Fidel Castro und Che Guevara - und der entsprechenden politischen Instabilität. - Schliesslich haben vor allem die Medien in den letzten Jahren einige leider oft auf tatsächlichen Vorgängen beruhende Negativbilder verbreitet: Die

83 Lateinamerikaner als Produzenten und Verschieber von Drogen, als Folterer, als anarchische Guerilleros. - Ein positiveres Bild hat sich zu Recht spätestens seit Mitte der 60er Jahre verbreitet, auch im deutschen Kulturraum: Lateinamerika als ein zu lange verkannter und nun neu aufblühender Kulturraum, namentlich im Bereich der Literatur und der bildenden Künste. Von dieser »dritten Entdeckung« war schon die Rede. - Der Schlussteil dieses Katalogs lässt deutlich werden, dass die Abkoppelung Lateinamerikas von Spanien sich längst auch im Bereich unserer Vorstellungen vollzogen hat, wenngleich, wie wir sahen, noch immer gemeinsames Bildgut auf beide Regionen projiziert wird.

Ein Test für das Jahr 1638 Die Auswirkungen der Schwarzen Legende auf das Spanienbild und dessen Ausstrahlung nach Spanisch-Amerika können wir an einem konkreten Beispiel erkennen. In den reichen Beständen der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel bin ich auf ein Buch gestossen, das mir schon vom Titel her als imagologische Quelle vielversprechend erschien. Verfasst wurde es von Daniel Meisner und trägt den Titel Libellas Nävus Politicus Emblemáticas Civitatum, deutsch etwa »Neues weltmännisches Emblembüchlein über die Städte«.(Das Buch trägt die IL\B-Signatur 30.7 Geom. Die »spanische« Serie findet man im Kapitel [G]). Erschienen ist diese bibliophile Kostbarkeit in Nürnberg, im Jahr 1638, also in protestantischem Umfeld und kurz nach der stärksten Einwirkung der antispanischen Propaganda in Deutschland. Es handelt sich um einen dicken Band im Querformat mit 800 Ansichten von Städten und Landschaften. Heute würden wir von einer Sammlung von Kupferstichen sprechen, die nach geographischen Gesichtspunkten angeordnet sind, einigermassen konsequent. Jede Civitas wird auf einer Radierung abgebildet. Die Stiche - meistens von Paulus Fürst - sind im Allgemeinen vorzüglich Die Bilder sind, wie in der Emblematik üblich, mit einer Legende versehen, einem Sprichwort oder einem Diktum, zumeist in lateinischer Sprache, im Sinne eines Mottos oder Epigraphs. Darunter steht dann eine zusätzliche Moralität, gelegentlich in Versen. Diese Legenden stehen in einem Zusammenhang mit der bildlichen Darstellung und interessieren die Bildforschung deshalb - sofern ihr Sinn heute noch einsehbar ist - , weil daraus Werturteile hervorgehen. Man weiss, wie intensiv in Europa die Rezeption des Emblematum Uber von Andrea AIciato nach seiner Veröffentlichung im Jahr 1531 war, übrigens auch in Spanien (AIciato 1985). Wir wissen heute auch, in welch hohem Masse die Emblemata Träger von stereotypisierten Urteilen und Wertungen waren. Dementsprechend wollte ich wissen, wie sehr in den Jahren des Erscheinens unseres Libellas die spanienfeindliche Polemik noch virulent war. Es ist, wie man sieht, wenige Jahre nach Verebben dieser politisch geschürten Spanienfeindlichkeit erschienen. Angesichts der Resistenz und Langlebigkeit von Imagotypen war durchaus zu vermuten, dass auch in diesem Emblembuch von 1638, sei es in den Bildern, sei es in den dazu geschriebenen Texten, noch Spuren der leyenda negra zu finden wären. Folglich habe ich aus den 800 Blättern jene Embleme herausgesucht, die einem Ortsnamen auf der Iberischen Halbinsel entsprechen: Es sind 26. Wenn man den Epochenhorizont bedenkt, kann man bei ganzen 16 dieser Serie eine negative oder wenigstens ambivalente Aussage konnotieren. Davon sind 12 deutlich auf spanienfeindliche Imagotype bezogen;

84 zwei weitere sind Klagen über die barbarischen, chaotischen Zeitläufte und eines bekennt sich, wenigstens in der deutschen Legende und auch in der Abbildung, auf ein antisemitisches Imagotyp. Zehn weitere Embleme der »spanischen« Serie beziehen sich auf das Verhalten in Notlagen und empfehlen Selbsthingabe, stoische Hinnahme, Gottergebenheit, Genügsamkeit, Solidarität, Fürsorge. In Anbetracht der noch immer andauernden religiösen Auseinandersetzungen und zumal beim Erscheinungsort, dem protestantischen Nürnberg, ist die festgestellte Tendenz nicht verwunderlich. Wenn wir die negativen Züge, die hier »Spanien« zugeschrieben werden, näher besehen, erkennen wir sogleich einige jener Imagotype, die durch die Schwarze Legende über ganz Europa verbreitet wurden. So prangert beispielsweise Emblem 57 das Grossmaul und den Heuchler an; Nr. 58 übt Kritik am imperialen Grössenwahn und lobt dialektisch die Kleinheit und Bescheidenheit; Nr. 59 denunziert die Bosheit, Nr. 62 den Meineid; Nr. 64 tadelt den Machthunger, Nr. 65 die Ehrsucht, Nr.69 die Habgier, Nr. 72 die Verschlagenheit, Nr. 75 die Wollust, Nr. 78 den Hochmut; und Nr. 83 kann - ironisch verstanden - das tatenlose Schwätzen meinen, wobei auf das lutheranische Gebot Bezug genommen wird, wonach allein die Taten zählen und nicht die hohlen Versprechungen. Nr. 74 kann als Warnung vor einer Schicksalswende gelesen werden, wobei dem Herrscher im Escorial - Philipp IL - bedeutet wird, er möge wie der zweigesichtige Janus bedenken, woher er kommt und wohin er geht. Auch Nr. 81 kann zeitgeschichtlich ausgelegt werden: Der angesichts von Verlusten Trauemde soll resignieren und froh sein, dass er überlebt hat. Eine deutliche Anspielung auf die immer drastischere Einschnürung der Protestanten durch die omnipräsenten Spanier. Man muss das Emblem vor seinem historischen Hintergrund lesen. Von 1580 an war Speyer permanenter Sitz der Reichskammer geworden; die Spanier herrschten in Österreich und in Bayern; die gesamte deutsche Russschifffahrt stand unter spanischer Kontrolle. Deshalb springen die gängigen Imagotype aus der Schwarzen Legende geradezu in die Augen. Das Fazit ist deutlich: selbst bei einem forcierten, ahistorischen Neutralitätswillen ergeben sich im Libellas die folgenden Proportionen: Von den 26 »spanischen« Emblemen zeigen 11 deuthche Einflüsse der leyenda negra-, 3 führen allgemeine Klage über das eherne Zeitalter; 2 bringen Volksweisheiten und 10 entsprechen Präzepten aus der Bibel, aus Fürstenspiegeln oder Moraltraktaten. Wie sind nun auf der anderen Seite jene Embleme im Libellas geprägt, die das damalige Amerika betreffen? Es sind im 8. Kapitel [H] lediglich deren vier aufgeführt. Sie liegen in den überseeischen Besitzungen der Spanier bzw. der Portugiesen: S. Salvator, Clinda de Phemambuco [sie] und St. Sebastian (d. i. Rio de Janeiro), alle in Brasilien, und »Cusco in West Indien«, also Cuzco in den peruanischen Anden. Die Legenden zu den Emblemen besagen: Die besten Gottesgaben, eine liebliche, menschenfreundliche Natur, das Lob der geschickten Naturmenschen. Es sind alles Aussagen von uneingeschränkter Positivität, verbunden mit vier bedeutsamen Orten im südlichen Amerika: Salvador da Baia, die nachmalige Hauptstadt der portugiesischen Kolonie; Olinda bei Recife, das älteste Bistum Brasiliens; Rio de Janeiro, die spätere Hauptstadt Brasiliens; Cuzco, die ehemalige Hauptstadt des Inkareiches. Die drei brasilianischen Städte waren zur Zeit Meisners im Gespräch, weil sie Schauplätze der Kriege mit den Franzosen (1567) und den Holländern (1630-1654) waren, die Salvador da Baia schon 1624 ein erstes Mal besetzt hatten. Olinda war während der Holländerherrschaft in Pernambuco die Residenz Moritz von Nassaus gewesen. Und das inkaische Cuzco war seit Pizarros Eroberungskrieg auch in Europa legendär. Von den oben registrierten

85 auf Lateinamerika bezogenen Imagotypen werden durch diese Embleme das paradiesische Utopia (223) angesprochen und durch das Cuzco-Emblem zusätzlich noch ein Vorgriff auf den Edlen Wilden (228), also ausschliesslich positive Reminiszenzen. Als Fazit kann demnach festgestellt werden, dass um 1638 in den Mentalitäten der ausserspanischen Europäer deutlich unterschieden wurde zwischen dem nahen, omnipräsenten Spanien und dem fernen Lateinamerika. Der Bezug der leyenda negra hatte sich auf Spanien eingeschränkt

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86 bei M. Merian. Es handelt sich um die meistverbreitete Sammlung von Reiseberichten, berühmt durch ihre zahlreichen Kupferstiche], (s. Duviols 1985). 1598 bis 1650 Levinus Hulsius: Sammlung von Sechs und Zwanzig Schiffarten bis in verschiedene fremde Länder [...] aus dem Holländischen ins Deutsche übersetzt unt mit allerhand Anmerkungen versehen. Nürnberg, Frankfurt, Oppenheim und Hannover [sehr erfolgreiche Sammlung von Reiseberichten in 26 Bänden. Die Teile IV, V, VI, XVI, XXII und XXV betreffen das spanische Amerika]. 1631 Johann Ludwig Gottfriedt/Matthäus Merian: Historia antipodum oder Newe Welt... Frankfurt. [Kurzfassung der Historiae Antipodum von Theodore de Bry], 1696 Anton Sepp und Anton Böhm: Reisebeschreibung wie dieselbe aus Hispaniae in Paraquariam [Paraguay] Kommen. Nürnberg: Johann Hoffmann. 1710 Anton Sepp: Continuation oder Fortsetzung der Beschreibung [...], Ingolstatt: Joh. Andreas de la Haye [Deutsche Ausgabe seiner lat. Briefe von 1709]. 1728 bis 1761 Joseph Stöcklein: Der Neue Weltbott mit allerhand Nachrichten der Missionariorum Soc. Jesu [...], Augsburg und Graz: Philipp, Martin und Joh. Veith [Briefsammlung in 8 Teilen]. 1769 Florian Paucke: Hin und Her. Hin süsse und vergnügt. Her bitter und betrübt. Das ist treu gegebene Nachricht [...] mit verschiedenen Kupfern untermenget, in sechs Theile zergliedert. [»Zwettler Codex 420«, erst 1829 in Auszügen gedruckt, 1870 in Regensburg vollumfänglich im Druck erschienener Bericht des Jesuiten über seine Mission in Paraguay]. 1783 bis 1784 Martin Dobrizhoffer: Geschichte der Abiponer, einer berittenen und Kriegerischen Nation in Paraguay [...], 3 Bände, Wien: Joseph Edlen von Kurzbeck.

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Zum Lateinamerikabild deutscher Leser

An der Wirklichkeit, an der Wirksamkeit von Bildern, von Vorstellungen, auch von vorgefassten Meinungen wird der Leser vermutlich nicht den geringsten Zweifel hegen. So nahmen denn auch unsere Vorfahren seit 1493 Amerika in Bildern wahr, gleichviel, ob diese visuell oder mental waren. Die Vorstellungen von Amerika waren in den ersten Jahrzehnten nach der Entdeckung nichts anderes als eine bunte Mischung von Mythen und Gerüchten, von Absonderlichem und allerlei Merkwürdigkeiten, in denen gute oder böse Vorzeichen erkannt wurden. Über Jahrhunderte hin blieben die Entdeckungen begleitet von Erfindungen, die beileibe nicht nur dichterischer Phantasie entsprangen. An den unverdächtigsten Stellen, selbst bei den gelehrtesten Autoren, ist der Einfluss vorgefasster Meinungen aufzuspüren. Erst recht sind literarische Texte für die Verbreitung von Bildern ein wichtiges Medium, denn dort erfüllt das »Bild vom anderen Land« eine ästhetische Funktion und darf deshalb auch eher Mirage als Image der Fremde sein. Bekanntlich geht nicht einmal die Reise- und Abenteuerliteratur immer von der erlebten Realität aus, auch sie ist oft bloss das Produkt der Imagination. Die von der Literatur vermittelten Amerika-Bilder lassen deshalb nicht erkennen, wie die Neue Welt war, sondern wie die Europäer sie sehen konnten, sehen wollten. Hier wie so oft waren es nicht die Fakten, die etwas bewirkten, sondern die Visionen. Da schon im Kapitel Spiegelungen I die Quellen zum grossen Teil aus der Literatur stanmiten und ich hier gezielt dem Suchbild in literarischen Texten nachgehe, sind Überschneidungen unvermeidlich. Allein, wenn ich dort den Bildkonstellationen nachging, frage ich diesmal nach der literarischen Genese und Ausgestaltung. Das erste literarische Zeugnis der Entdeckung einer neuen Welt erschien in deutscher Sprache sehr früh, nur zwei Jahre danach. Es steht im 66. Kapitel von Sebastian Brants Narrenschiff, das 1494 als Druck erschien. Ich habe die vier Verse schon zitiert (in Spiegelungen I). Dort war auch vom Columbusbrief und seiner bildträchtigen Qualität die Rede. Das Schreiben hatte Columbus verfasst, als er sich schon auf der Rückfahrt nach Spanien befand. Vom Kulturschock mit den verheerenden Folgen für die Eingeborenen, der sich erst danach ereignet hat, ist deshalb darin nicht die Rede. Während die Ureinwohner die Prophetie der weissen Götter für gekommen hielten, mussten die Europäer zunächst die Erfahrungen der Andersheit bewältigen. Es fiel ihnen allgemein schwer. Sobald sich die gelehrten Humanisten, die geistige Elite der Renaissancezeit, dem Novum America gegenübersahen, verstellte ihnen der eingeübte Blick zurück in die Antike die Wahrnehmung des Neuen. Was nicht in ihr Weltbild passte, deuteten sie in ihrem Sinne um. Wo Columbus seinen Königen von echtem, metallischem Gold sprach und mit EI Dorado der vergoldete Kazike irgendwo im Hinterland gemeint war, schwärmte der Humanist und offizielle Chronist der Neuen Welt, Pedro Mártir de Angleria, in seinen Décadas del Nuevo Mundo (1511-1516) von der aurea aetas, vom Goldenen Zeitalter im Gegensatz zum Ehernen, von jener glücklichen, paradiesischen Urzeit also, für die Ovid und Vergil das Gold als Symbol gesetzt hatten. Das Paradoxon war perfekt: Dort, wo die Entdecker goldenen Reichtum suchten, lagen für die Humanisten »Goldene Inseln« ganz immaterieller Art, neue Friedensinseln nämlich, wo die Indios den Privatbesitz nicht kannten und ein naturverbundenes, einfaches Leben führten, wo Gold nur als Material für Zierat eine Rolle spielte.

90 Noch andere Schwärmer konnten an Columbus anknüpfen. Dessen Paradies-Visionen wurden 160 Jahre später von Antonio de León Pinelo in seinem Werk El paraíso en el nuevo mundo (1656) aufgegriffen und zum systematischen Nachweis fortgeführt, wonach das biblische Paradies in der Neuen Welt lag: die vier grossen Flüsse und die amerikanische Flora und Fauna waren dem portugiesischen Konvertiten, der im Vizekönigreich Peru gewirkt hatte, dafür Beweis genug. Daneben sorgten in Europa über die nächsten 200 Jahre hin Kuriositäten wie die Menschenfresser, der Vitzliputzli, der Tabak und die weisse Kartoffel, die Kokospalme und die Hängematte für nie versiegenden Gesprächsstoff. Die \^sionen der Neuen Welt wurden im 16. Jahrhundert massgeblich angereichert durch die Reiseberichte. Es sei nochmals erwähnt, dass zwischen 1510 und 1715 85 Ausgaben von original in deutscher Sprache verfassten Texten gedruckt bzw. nachgedruckt und übersetzt worden sind. Stadens Warhafftige Historia (1557) und Ulrich Schmidls Warhafftige und liebliche Beschreibung (1567) stechen daraus deshalb hervor, weil darin auch erzählt wurde, und zwar persönlich Erlebtes, was viel emotionaler wirkte als eine enzyklopädische Beschreibung der neuen Fremde. Allein von Stadens Bericht sind zwischen 1557 und 1715 zwölf Auflagen in deutscher Sprache und ganze zwanzig auf Niederländisch nachzuweisen. Es ist bemerkenswert, dass der gebürtige Hesse auf seiner zweiten Reise nicht als Matrose, Söldner oder Beamter nach Amerika gefahren war, sondern - wohl als einer der ersten - »um Indiam zu besehen«. Auch Ulrich Schmidl aus Straubing hat zehn Jahre später auf seiner Reise zu Wasser und zu Lande die »fuernemen Indianischen Landtschafften vnd Insulen ... mit grosser gefahr erkuendigt« und »von erschrecklicher seltsamer Natur vnd Eygenschafft der Leuthfresser« erzählt. Der Strom von mehr oder weniger phantastischen Informationen über Amerika reisst bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts nicht ab. Entscheidend für die Verbreitung der Kunde von der Neuen Welt war damals, als das Volk noch nicht las, nicht das gedruckte Wort. Vielmehr wurden die Vorstellungen von der unbekannten Fremde von visuellen Bildern vermittelt: Einmal waren da die erwähnten Druckgraphik-Serien von Theodor de Bry {America, 15901630) und von Levinus Hulsius {Schijffahrten, 1598-1650). In grossem Stil sammelten und illustrierten sie ältere wie neuere Berichte über Amerika und nutzten dabei den technischen Vorsprung, den ihnen der deutsche Kulturraum als weltweit führende Druckerregion bot. Medienkundlich gesprochen spielte sich demnach der erste Abschnitt der publizistischen Entdeckung der Neuen Welt im Bereich der Druckgraphik ab. Folglich waren die deutschsprachigen Kupferstecher, Drucker und Verleger die hauptsächlichen Verbreiter der widersprüchlichen Vorstellungen von der Neuen Welt: für Europäer war sie entweder ein Gruselkabinett oder ein fernes Paradies. Zumal Künstler vom Format Albrecht Dürers waren in der glücklichen Lage, das Neue aus der Neuen Welt unbefangen, d. h. ohne ideologische Voreingenommenheit zu erkennen: das Andere war nicht eo ipso barbarisch. Als Dürer im Sommer 1520 den von Kaiser Karl V. in Brüssel zur Schau gestellten Montezuma-Schatz sah, geriet er angesichts von soviel ungeahnter Kunstfertigkeit in einen sprachlosen Begeisterungstaumel. Die erwähnten Reiseberichte haben in der Dichtung des 17. Jahrhunderts keine tieferen Spuren hinterlassen. Es bleibt bei Anspielungen auf die Neue Welt, bei der dichterischen Behandlung des Tabaks und beim Zitat wohlklingender Orts- und Personennamen, übrigens nicht nur aus der Neuen Welt, sondern auch aus Asien. Nachdem der erste Schock des Neuen überwunden war, konnte nur noch Drastischeres die Gemüter bewegen. Dies wurde von

91 geschickten »Literaturagenten« anthologisch genutzt, besonders erfolgreich von Erasmus Francisci in seinem Ost- und Westindischen wie auch Sinesischen Lust- und Stats-Garten (Nürnberg 1668) und ebenso von Eberhard Werner Happel in den zwei Bänden seiner Grössten Denkwürdigkeiten der Welt Oder sogenannten Relationes curiosae (Hamburg 1683 und 1685) sowie in seinem Thesaurus exoticorum (Hamburg 1688). Ich komme noch darauf zurück (dazu Meid 1975). Schon bei ihnen und bei den Italienern wird das Autoimagotyp der Exzellenz Europas sichtbar, das sich vollends im nächsten Jahrhundert durchsetzen sollte. Es gab noch andere Anziehungsgründe als die Fremdheit des Neuen, solche, die entscheidender zu einer negativen Voreingenommenheit gegenüber Amerika führten. Denn Amerika war zunächst nur der von Spaniern und Portugiesen erkundete Teil der Neuen Welt. Diese politische Zugehörigkeit der entdeckten Landstriche zu den iberischen Nationen hat im übrigen Europa die Sicht auf die Neue Welt getrübt. Zur Negativität mancher Amerikabilder der Reformationszeit hat somit ein Faktor beigetragen, der die Neue Welt nur deshalb betraf, weil das katholische Spanien das Entdecker- und Erobererimperium war. Die sogenannte Schwarze Legende - meine Leser wissen es - , die im Prinzip allein Spanien (und nicht Portugal) betraf, warf ihre Schatten noch lange hinüber in dessen Kolonien. Wie man »die Spanier« in Europa sah, so mussten sie auch in der Neuen Welt sein, mitsamt ihren Abkömmlingen, den Kreolen und Mestizen. Die spanische Krone sorgte bewusst für eine solche Ineinsnahme von Mutterland und Kolonien: nach der missglückten Welseruntemehmung im heutigen Venezuela liess der Consejo de Indias keine Ausländer mehr auf spanisches Kolonialterritorium, und die Inquisition gestattete die Einreise nur noch Einzelpersonen und verweigerte sie den Gruppen. Von solchen feindseligen Projektionen blieben von Anfang an - zunächst - als positive Imagotype nur die »paradiesische« Natur Amerikas, das Goldland und die Edlen Wilden verschont. Der Überdruss an dem sich in Religionskriegen zerfleischenden Europa und die Anziehungskraft der noch heilen Welt Amerikas ergaben frühe, utopisch motivierte Auswanderungsversuche. Bekanntlich hatte schon Thomas Morus sein Utopia (1516), dem Namen nach ein »Land Nirgendwo«, an einem nicht näher definierten Ort in Amerika suchen lassen. Auch die Città del Sole (1623) von Tommaso Campanella spielt auf den Sonnenstaat der Inkas an. Dass in Francis Bacons Nova Atlantis (1627) spanisch gesprochen wird, verweist die ideale Gesellschaft ebenfalls auf Inseln im fernen Westen. Und dort gab es - einige wenige reale Paradies-Experimente: Bischof Vasco de Quiroga im mexikanischen Michoacán (nach 1531), der Dominikaner Las Casas in Verapaz (Guatemala, nach 1537) und später die Jesuitenreduktionen in Paraguay waren christliche Versuche, die Idee der Utopie in eine gesellschaftliche Wirklichkeit umzusetzen. Die Jesuiten sollten mit ihrem Gottesstaat am Paraná (1585-1768) erfolgreicher sein als die Hugenotten, die in Florida und in Brasilien vergeblich Zuflucht vor den Verfolgungen im katholischen Europa suchten. In der Tat hatten die Religionskriege in Europa ganz unmittelbare Folgen für die Kolonisierung der Neuen Welt. So wurde Amerika schon früh zum gelobten Land für Verfolgte. Die ganz und gar anderen Gründe für ihre Fahrt über den Atlantik, als sie die Spanier und Portugiesen hatten, führte auch zu einer anderen Sichtweise, insbesondere zu einer anderen Einstellung gegenüber den Eingeborenen. Die Hugenotten haben als erste versucht, der Alten Welt zu entsagen und in der Neuen ihren Frieden zu finden. Besonderen Einfluss auf die frühen europäischen Vorstellungen von Amerika und seinen Ureinwohnern nahm der burgundi-

92 sehe Schuhmacher Jean de Léry mit seiner Histoire d'un voyage faict en la terre du Brésil, autrement dite Amérique (1578, deutsch 1794). Als Theologiestudent war er auf Betreiben Gaspard de Colignys und Calvins nach Brasilien aufgebrochen. Es war die Zeit, als Villegaignon in der Bucht von Rio de Janeiro ein »antarktisches Frankreich« gründen wollte. Nach zehnmonatigem Aufenthalt kehrte Léry 1558 nach Genf zurück und verfasste seine Histoire, die als Pionierleistung ethnographischer Berichterstattung gilt. In Opposition zu dem katholischen Missionseifer bezeichnet er die Eingeborenen schlicht als inconvertibles, als nicht bekehrbar und erklärt, er »würde sich diesem Volk, das wir als die >Wilden< bezeichnen, eher anvertrauen und sich bei ihm sicherer fühlen als unter den unverlässlichen und entarteten Bewohnern mancher Gegend Frankreichs«. Montaignes Überlegungen in dem berühmten Essay Sur les cannibales (1588) gehen auf Jean de Lérys indianerfreundlichen Brasilienbericht zurück. Er fand darin im Keim seine kulturanthropologische These vor, derzufolge den verschiedenen Kulturen ein besonderer Rhythmus eigen sei und Fremdkulturen demnach nicht nach Massstäben beurteilt werden dürften, die man aus dem Zustand europäischer Sitten und Gebräuche herleitet. Jean de Léry bekundete als einer der ersten Europäer wie zunächst schon Columbus, aber mit genaueren Argumenten als dieser - Sympathie für die einfache und naturverbundene Lebensform des archaischen Überseebewohners und verbreitete damit das bis heute nachwirkende Idealbild des Guten Wilden. Allerdings erkannte Léry als Kundschafter für ein künftiges Hugenottenrefugium schon damals - gleichsam im Vorgriff auf Max Webers These von den erfolgreichen Protestanten - die lukrativen Möglichkeiten zur wirtschaftlichen Nutzung überseeischer Gebiete. Er meinte, auch wenn man nicht missionieren wolle, müsse man kolonisieren, schlicht um zu überleben. Wie dieses Gewinnstreben erfolgreich sein konnte, das bewiesen nachhaltig die Jesuiten in Paraguay nach 1609 und die puritanischen Quäker aus England in Nordamerika nach 1620. Auch über das »heilige Experiment« der Jesuiten unter den Guaraníes, den Mochos und Aymarás entstanden später Berichte, die unter den gebildeten Europäern selbst im Zeichen der Jesuitenkontroverse das Bild Südamerikas aufhellten, vor allem dank ihrer wirklichkeitsnahen Sicht und ihrer indianerfreundlichen Einstellung. Zu erwähnen sind Anton T. Sepps Reisebeschreibungen (1698), Florian Pauckes illustrierte Darstellung im sogenannten Zwettler Kodex 420 (1774-1780) und Martin Dobrizhoffers ethnographisch so aufschlussreiche Historia de Abiponibus (1784). Indes, das Europa des Barock und der Klassik spiegelte sich so selbstverliebt in seiner unvergleichlichen Kulturblüte, dass die handfeste und zum Teil recht anschauliche Kunde von den Provinzen in Übersee - meistens aus der Feder und aus dem Stift von literarischen Dilettanten entstanden - vorerst wenig bewirkte. Die Reiseberichte wurden zurückgedrängt von einer erfindungsreicheren Literatur, oder sie wurden gar fiktiv wie im Fall von Johann Bissels Argonauticon Americanorum (1647). Der lateinische Bericht des gebürtigen Schwaben (1601-1677 oder 1682) gilt als das erste grössere Werk dichterischer Phantasie von einem Deutschen, das sich mit literarischem Anspruch ausschliesslich der amerikanischen Szene widmet. Der in Amberg verstorbene Jesuit übersetzt zunächst den (1622 deutsch erschienenen) Bericht des Spaniers Pedro Gobeo de Victoria über seine unglückliche Reise durch den Pazifik nach Lima in ein elegantes Humanistenlatein und erweitert ihn um dreissig Kapitel aus der eigenen Feder. Darin macht er, der nie in Übersee gewesen war, als erster Deutscher Landschaftsbeschreibungen um ihrer selbst willen. Amerika erscheint bei ihm jedoch

93 keineswegs als das gelobte Land. Die Neue Welt hält weder grosse Reichtümer noch exotische Wunder bereit, die die menschlichen Entbehrungen und die Mühsal der Eroberung rechtfertigen würden. Gerade weil Bissel nicht aus eigener Anschauung schreibt, ist sein Urteil für uns interessant, denn es ist allein aus dem barocken Zeitgeist und aus der melancholischen Phantasie des Autors hervorgegangen. Das Wissen um die Neue Welt war - trotz der durch die frühen Reiseberichte vermittelten direkten Wahrnehmung - noch immer ein bloss kulturelles: Es war aus kanonisierten Texten und aus der ungeprüften, ideologiebehafteten Überlieferung erworben. Als gegen Ende des 17. Jahrhunderts die aktive Anwerbung deutscher Kolonisten nach Pennsylvania und North Carolina einsetzte, wurde die Neugier an Fremdländischem neu geweckt. Um sie zu stillen, verfassten - wie erwähnt - Erasmus Francisci (u. a. Neu polirter Geschickt-, Kunst- und Sittenspiegel ausländischer Völcker, 1670) und Eberhard Werner Happel (u. a. Relationes Curiosae, 1683/85) für den »curieusen Liebhaber« populäre und erbauliche Anthologien mit Texten über interessante und aufregende Begebenheiten, aus denen als gemeinsames Merkmal »die Güte der Natur daselbst« hervorgeht. Diese Sicht der Dinge sollte sich bald gründlich ändern. Aus Virginia gelangte zwar im frühen 18. Jahrhundert durch die Siedler zuverlässige Kunde zurück nach Europa, doch literarisch fruchtbar wurden in Deutschland nicht diese Rückmeldungen, sondern vor allem zwei ganz und gar wirklichkeitsferne, dafür um so »empfindsamere« Stoffe: Einmal die Idylle um Inkle und Yariko. Der Stoff hat Furore gemacht. Man kennt Bearbeitungen von Ch. F. Geliert (1746), J. J. Bodmer (1756), S. Gessner (1756), Goethes Plan von 1766; nach Chamforts La jeune Indienne sodann von G. K. Pfeffel (1766), K. Ekhof (1774), Kaffka (1805) und F. L. Schröder (1809); und zweitens die rührende Geschichte von der selbstlosen Liebe der Indianer-Prinzessin Pocahontas zum Weissen John Smith. Auch dieser Stoff war sehr beliebt (C. F. Scheibler 1781/82, J. C. F. Schulz 1800, D. v. Liliencron 1884, neuerdings im Film von Walt Disney). Beide Male handelt es sich um die gleiche Veredelung eines Indianermädchens, das durch seine treue Liebe zu einem treu- oder gar ruchlosen Christenmenschen ins Verderben gestürzt wird. Die Rührgeschichten und -dramen wurden nicht als Allegorien der Schändung der Neuen Welt durch die Alte gelesen, sondern als moralisierende Erbauungsliteratur. Der gelehrte Schweizer Bodmer pries in den Hexametern seiner Colombona (1753) noch immer die Entdeckung Amerikas durch den Zivilisator Columbus, der den Wilden »Religion, Tbgend und Künste des weisen Europa« brachte, und tadelt die spanischen Eroberer, die »mit Adlersaugen nach Gold spähen«. So blieb selbst während der Aufklärung das Lateinamerikabild noch im Kulturwissen verhaftet, fern jeder erfahrenen Wirklichkeit. Und es sollte noch schöner kommen. Philosophen, trunken von der kulturellen Vortrefflichkeit der Alten Welt, gerieten in einen jahrzehntelangen Disput über die angebliche Minderwertigkeit der Neuen (dazu Gerbi 1983). Ausgangspunkt für die Vorstellungen einer Inferiorität alles Amerikanischen waren Ausführungen über die dortige Natur, die Graf Buffon in seiner Histoire naturelle (1749-1804) macht. Als Argumente führt er das Fehlen grosser Wildtiere, die Dekadenz der Haustiere, die Feindseligkeit der Natur, die Unfruchtbarkeit der Wilden, die Feuchtigkeit des Klimas, die Fäulnis und die geologische »Jugend« des Kontinents an. Hinzu kam die Theorie Montesquieus, derzufolge es in einem heissen und milden Ю1та schwierig sei, freiheitliche Institutionen zu erhalten, da die Völker träge und verdorben

94 würden. Auch David Hume hat daraus auf die Minderwertigkeit des Tropenmenschen geschlossen. Und Voltaire bemängelt die fehlende Mähne beim amerikanischen »Löwen«, dem Puma, und deutet sie als Feigheit, so wie er in dem fehlenden Bartwuchs der Indianer ein weiteres Zeichen für deren Schwächlichkeit sah. Die skurrile Debatte hat in Deutschland ein besonderes Echo gefunden. Aus Berlin, wo die Philosophen damals auch französisch sprachen, Hess sich Comeille de Pauw mit seinen Recherches philosophiques sur les Américains vernehmen (1768/69). Ich habe diesen Bildstifter schon früher erwähnt (Spiegelungen I). Interessanter ist der Fall Hegel, denn man hätte diesem scharfen Geist mehr Eigenständigkeit und mehr Abstand gegenüber dem soeben geschilderten Zeitgeist zugetraut. Auch für ihn galten nämlich die Buffon'sehen Klischees: »Physisch und geistig ohnmächtig hat sich Amerika immer gezeigt und zeigt sich noch heute so«; es sei »ein Annexum, das den Überfluss von Europa aufgenommen hat« (1961: 140). Hingegen war das Amerikabild von Herder erstaunlich vielseitig. Der Imagologe Albert R. Schmitt schreibt in seinem Buch (1967) über ihn: Für Herder ist Amerika lediglich ein neuer, fast in jeder Hinsicht primitiver Kontinent, dessen Hauptfunktion darin besteht, Spiegel zu sein, in welchem sich das »allerchristlichste« und kultivierte, dabei aber im Grunde heidnische und degenerierte Europa höchst unvorteilhaft zeigt.

Amerika diente Herder als Bestätigung seiner Europakritik und seines Humanitätsideals, worunter er die völlige Gleichheit aller Menschen als Kinder Gottes verstand. Herder vertieft sich bezüglich Spanisch-Amerika allein beim Thema des Jesuitenstaates in Paraguay. Noch Schopenhauer hat übrigens an die Inferiorität der Tiere und der Wilden Amerikas geglaubt. So viel Unverstand konnte im Zeitalter der Vernunft nicht unwidersprochen bleiben. Der Benediktiner Dom Antoine Joseph Pemety, der 1763 als Kaplan die Expedition Bougainvilles zu den Malvinen begleitet hatte, wurde nach seinem Austritt aus dem Orden von Friedrich II. zum Bibliothekar in der Abtei Bürgel in Thüringen bestellt. Von dort her schreibt er eine scharfe Zurückweisung der Schriften von de Pauw. Allerdings führt er das Beispiel der patagonischen Riesen als Gegenargument gegen die physische Dekadenz der Amerikaner ins Feld, tritt Gerüchten also mit einem anderen Gerücht entgegen. Schon Vespucci hatte tatsächlich von Riesen und Riesinnen gesprochen, desgleichen Pigafetta in seinem Tagebuch von 1520, und auch Padre Acosta hielt diese Riesen für wirklich. Dispute unter Philosophen gehören eigentlich nicht zur Schönen Literatur. Wenden wir uns wieder dieser zu. So gelangen wir schliesslich zu Christoph Martin Wieland. Er hat sich in seinen Bey trägen zur geheimen Geschichte der Menschheit (1774-1811) über so viel Eurozentrismus lustig gemacht: Diese Riesen hätten eine Statur von etwa sechs Fuss. Er folgt dabei dem Philosophen La Douceur, der in seinem Büchlein De l'Amérique et des Amérìquains [...] (1771) ebenfalls de Pauws Degenerationsthese zurückweist. La Douceur war selbst in Amerika gewesen und verteidigt vehement die conditio der Amerikaner: Es handle sich nicht um Entartung der Natur, sondern um deren Kindheitszustand. Wieland, der inmitten der inzwischen durch Rousseaus Zivilisationskritik zusätzlich verschärften Kontroversen seinen gesunden Humor bewahrte, stimmte zu und forderte in seiner köstlichen mexikanischen Geschichte Koxkox und Kikequetzel (1769/70) Verständnis für die Unterschiedlichkeit menschlicher Verhaltensweisen. Er zieht ein ähnlich simples Fazit aus den Kontroversen um den Edlen Wilden und den unschuldigen Naturmenschen wie La Douceur: »Die Unschuld des goldenen Alters, wovon die Dichter aller Völker so reitzende Gemähide machen, ist unsü-eitig eine schöne Sache, aber sie ist im Grunde weder mehr noch weniger als die Unschuld

95 der ersten Kindheit.« So wie bei den allegorischen Darstellungen von 1745 an das Füllhorn als Attribut auch der Figur der America erscheint - es war bis dahin allein der Europa vorbehalten - , so konnte in der Literatur mit dem Neue-Welt-Stofif angesichts der Ebenbürtigkeit der beiden Welten nun auch in Heiterkeit verfahren werden (vgl. Kügelgen 1992) Es ist unschwer zu erkennen, dass diese Debatten um die Neue Welt, soweit sie Spanisch· Amerika betrafen, sich ausschliesslich in den Köpfen dieser Philosophen abspielten, denn weder de Pauw noch Dom Pernety waren je in Mexiko oder Peru gewesen. Die Spanier hatten ja bekanntlich vom späten 16. Jahrhundert an - im Gegensatz zu den Portugiesen und Holländern - den Zugang zu ihren Kolonien für Ausländer sehr erschwert. Der Empirie, der direkten Erkundung durch Wissbegierige blieb diese kontinentale Landmasse über lange Zeit verschlossen. Deshalb stand bis weit ins 19. Jahrhundert hinein das Schrifttum über Amerika im unglücklichen Zeichen der grossen Polemik um die angebliche Inferiorität der Neuen Welt. Im Grunde genommen haben die europäischen Intellektuellen in diesem seit dem 17. Jahrhundert fortgeschleppten Disput weniger über Amerika als über Europa debattiert. Inzwischen hatten zwei Entwicklungen eingesetzt, die den Unwahrheitsgehalt dieser Debatten entlarvten. Zum einen hat der politische und wirtschafdiche Fortschritt im anglofranzösischen Amerika die Europäer inmier stärker beeindruckt, zum anderen vertrieben die vor Ort gewonnenen Erkenntnisse der reisenden Naturforscher den Spuk von Amerikas Dekadenz. Als Herder feststellte, der Nordkontinent sei weiter fortgeschritten als der Südteil, war die Zeit der proamerikanischen Stimmen längst angebrochen. Sie hatte schon vor 1776, dem Jahr der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten, eingesetzt. Der Physiokrat Marquis de Chastellux widerlegte in seinem Traktat De la félicité publique (1772) die Auffassung de Pauws und anderer Amerika-Kritiker nun mit politischen Argumenten. Die Entdeckung Amerikas sei keineswegs die grösste Kalamität der Menschheitsgeschichte gewesen, im Gegenteil: sie habe vielmehr den Handel belebt, habe Reichtum und Wohlstand gebracht und den europäischen Nationen den Widersinn ihres militaristischen Despotismus gezeigt. Ausserhalb der geistreichen Zirkel, in der Lebenswelt der gehobenen Gesellschaften Europas, wurde die Neue Welt seitdem als ein Zufluchtsland für verfolgte Tilgend, für enttäuschten Ehrgeiz, auch für ungesühntes, vielleicht bereutes Verbrechen erkannt und ist es bis heute geblieben. Allerdings, wer fortan Amerika sagte, meinte schlicht den angelsächsischen Nordkontinent, der sich gegenüber dem noch immer kolonialen »lateinischen« Amerika nun immer vorteilhafter abhob, namentlich dank der im Norden errungenen Freiheiten. Als man in Europa erkannte, wie wenig den Idealen der Französischen Revolution nachgelebt wurde, gewannen die Projektionen utopischer Gesellschaften in die Neue Welt neue Aktualität. Höhepunkt dieser Bewegung war Alexis de Tocquevilles De la démocratie en Amérique (1835). Amerika (nur das nördliche natürlich) wurde zur idealisierten Filiale Europas und auch - damals noch - zum Vorbild für die jungen Republiken Lateinamerikas. Dieses andere, ältere Amerika war dadurch in eine gewisse Schattenlage geraten. Die Bilder vom Südkontinent waren noch immer nicht ganz frei vom Einfluss der Schwarzen Legende, auch in der Literatur. Marmontels Roman Les Incas ou la destruction de l'empire du Pérou (1777; deutsch 1783)) entsprach mit seinem antikolonialistischen Tenor allerdings dem liberalen Gedankengut, das mit der Nordamerikaliteratur verbreitet wurde. Die Inka-Sonnenjungfrau Cora aus seinem Werk ergab dankbaren Stoff für Singspiele, Opern, Gedichte und Erzählungen. Der Untergang des Inkareiches wurde auch von August von

96 Kotzebue beklagt in seinem Drama Der Spanier in Peru (1795). Damit begann eine lange Reihe von Bearbeitungen des Cortés- und des Pizarro-Stoffes für die Bühnen, in denen stets Moctezuma bzw. Atahualpa die moralischen Sieger blieben. Friedrich Maximilian von föinger veröffentlichte 1776 seine Tragödie Sturm und Drang, in der er, eingedenk der amerikanischen Revolution, nun für Freiheit auch der Gefühle plädierte. Deshalb gewann das empfindsame Rokoko wie später die Romantik die edle Indianerin besonders lieb, etwa in Schillers »Nadowessiers Todtenlied« (1798), das Goethe so sehr bewunderte. Auch den Seelenadel stoischer Indianer haben die europäischen Dichter gern gestaltet, über alle Grenzen hinweg. J. G. Seumes Gedicht »Der Wilde« (1801) verkörperte für Generationen von Schulbuchlesern jene »ächte reine primitive Menschengüte, die so selten durch unsere höhere Cultur gewinnt«. Die Schelte des Huronen für die »fremden, klugen, weissen Leute« war gewiss verdient, doch bei allen diesen idealisierten Eingeborenen erinnerte nichts mehr an Amerika als der Name. Der Überseestoff war vollends in der Moralliteratur aufgegangen. Eine Wende zum Besseren trat für Mittel- und Südamerika erst ein, als Naturforscher wie Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland 1799 von den Spaniern die Erlaubnis erhielten, in deren Kolonien einzureisen. Über deren Folgen habe ich schon berichtet. Sie und viele andere Naturforscher aus Europa haben ein für allemal Amerika von Buffons Inferioritäts-Topos befreit. Die europäischen Anschauungen Amerikas wurden nun endlich realistischer. Reisen in den Südkontinent wurden im Sog der Forschungsergebnisse Humboldts und anderer nun immer beliebter. Von Naturforschern, Archäologen, Ethnologen und manchen Abenteurern, die eine schlichte Reiselust hinübertrieb, gibt es ein schier unüberschaubares Korpus von Berichten aus dem 19. Jahrhundert. Die gewaltige, auch menschenfeindliche Natur im tropischen Amerika hat seitdem das visuelle wie das mentale Bild von Lateinamerika entscheidend geprägt und damit die Geplänkel der Philosophen, aber auch Themen der Geschichte und der vorcolumbianischen wie der nachmaligen Kunst in den Hintergrund gedrängt. Frei konnte in der Romantik nun mit den vielfältigen Amerika-Vorlagen umgegangen werden. Auf Amerika als Land der Zukunft für Europamüde - so der Titel eines vielgelesenen Romans von Ernst Willkomm (1838) - , aber auch als Zuflucht für Hungernde fällt nun ein neues Licht, auch in der Literatur. August von Platen lässt seinen Columbus zu Napoleon sagen: »Segle westwärts ... /denn nach Westen flieht die Weltgeschichte« (Colombos Geist, 1818). Goethe im vielsagenden Gedicht »Amerika, du hast es besser« (1827), Hegel in seiner Geschichte der Philosophie (1839-1841), Eichendorff in der Meerfahrt (postum 1864) bezeugen diese Hoffnungen. Heine fragt sich in seinem Pariser Exil: Jetzt wohin? - und darin, schon skeptischer: »Manchmal kommt mir in den Sinn/nach Amerika zu segeln,/Nach dem grossen Freiheitsstall,/Der bewohnt von Gleichheitsflegeln/...« (1830). Und Lenau stilisiert die Briefe (1832) über seine fingierte Amerika-Enttäuschung schon ganz im Blick auf die Erwartung der biederen Leser zu Hause. Um zu zeigen, wie frei in der Romantik mit historischen Vorlagen umgegangen wurde, komme ich nochmals auf Eichendorifs Meerfahrt zurück. Der Dichter ist im Klima romantischer Spanienverklärung auf sein Thema gestossen. (Von der Schwarzen Legende finden wir vorübergehend keine Spur mehr). Anselm Maler hat genauer untersucht, auf welche Quellen Eichendorff sich für die Meerfahrt stützte. Einmal war da Campes Jugendbuch über Die Entdeckung von Amerika (1807), als zweites der Kolumbusbrief,

als drittes Washington Irvings

97 vielbeachtete Kolumbusbiographie (1828), sodann als viertes die Passage über die Venusinsel in den Lusiaden des Camôes, schliesslich eine Quelle, die man nicht vermutet hätte, nämlich Alexander von Humboldts Abhandlung Von einigen Tatsachen, die sich auf Christoph Columbus und Amerigo Vespucci beziehen (1836). Was hat nun Eichendorff daraus gemacht? Maler liest die Meerfahrt zunächst als eine abenteuerliche Überformung der Emigrationsidee, die Eichendorff am Ende aber wieder zurücknimmt mit dem Beschluss der Abenteurer, »die Neue Welt vorderhand noch unentdeckt zu lassen und vergnügt in die gute alte wieder heimzukehren«. Eichendorff hat, wie so manche Romantiker, eine emotionale Projektion eigener Wunschträume umgesetzt - hier wieder das Makrobild der Utopie - , hat sie in die Neue Welt gerichtet und dann wieder zurückgenommen. Der sorgsam erarbeitete Stoff wurde völlig individualisiert und in das Erleben der eigenen Persönlichkeit, der eigenen Gefühle hereingenommen. Eichendorffs Meerfahrt stellt sich dar »wie der dichterische Vollzug [seiner] Teilnahme am geschichtsphilosophischen Denken der Romantik« (Maler 1975). Europa und Amerika sind einander im 19. Jahrhundert in jeder Hinsicht näher gekommen. Nach der naturwissenschaftlichen Erkundung kam nun die wirtschaftliche vermehrt ins Spiel. In den Kreisen des Aussenhandels, nicht nur im deutschen Kulturraum, nahm man die Lebenswelt in Übersee längst realistischer wahr, als man im Bereich der Literatur noch immer auf den Reiz der Andersheit baute, in deren positiven wie negativen Aspekten. Im Zuge der massiven Emigrationsbewegungen zog es auch Vertreter der schreibenden Zunft hinaus: Gottfried Duden (Bericht über eine Reise..., 1829), Charles Sealsfield (das ist Karl Posti: Kajütenbuch oder Nationale Charakteristiken, 1841), Ida Pfeiffer (Eine Frauenfahrt um die Welt, 1850), Friedrich Gerstäcker {Nach Amerika, 1855) und namentlich Karl May mit seinem guten Dutzend Amerikaerzählungen (1876-1910), sie alle brachten ein zeitgenössisches, von tüchtigen Weissen und nichtswürdigen Welschen besiedeltes Amerika vor ein breites Leseφublikum. Das Bild vom besseren Amerikaner hatte sich durchgesetzt, betraf aber vor allem den Nordkontinent. Die subtropischen und tropischen Regionen wurden dafür Blickpunkte für eine ebenso bedeutende Neuheit des beginnenden 19. Jahrhunderts, den Exotismus. Ich habe von dieser bilderstiftenden Sehnsucht nach einem anderen Land im Kapitel Spiegelungen I schon gesprochen. Es sind einige wenige Motive, die den literarischen Reiz des nun massenhaft verbreiteten Lesestoffes ausmachen: Weigerung und Aufbruch; abgebrochene Brücken; die Begegnung mit dem Edlen Wilden, dessen Bild nur dann negativ besetzt ist, wenn ihn die Zivilisation verdorben hat; statt El Dorado nun zumeist der Fluch des Goldes; die Abenteuerlandschaft entweder als Paradies oder als schauerliche Wildnis; das Figurenarsenal häufig geprägt von der Überlegenheit deutscher Menschen in welscher Umgebung. Auch der Mythos vom Paradies, von der besseren, wenngleich nun verlorenen Welt, hielt sich weiterhin auch in der hohen Literatur, besonders deutlich zur Zeit der Jahrhundertwende. In Hofinannsthals sogenanntem »Chandos-Brief« (1902) lesen wir ein Zeugnis der europäischen Bewusstseinskrise und in seinen Briefen des Zurückgekehrten (1907) die Projektion seiner Sehnsucht nach echter Menschlichkeit in das lateinische Amerika hinüber: »Muss ich zurück nach Uruguay [... ], um wieder von menschlichen Lippen diesen menschlichen Laut zu hören, der in ein schlichtes Abschiedswort [... ] manchmal das Ganze der menschlichen Natur zu legen vermag?« (dazu Rössner 1988: 55-74). Es wurden auch nochmals geistige Synthesen über Lateinamerika aus philosophischer Sicht versucht: Hermann Graf

98 Keyserlings Südamerikanische Meditationen (1932) und später Ernesto Grassis Reisen ohne anzukommen (1955) zeugen beide - mit teils negativen, teils positiven Verzerrungen - von nachhaltiger Faszination der Verfasser angesichts der Erdhaftigkeit und der Weiten dieses Kontinents. Doch in der zerrissenen Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg kehrt das Utopia-Bild eines Friedlandes wieder, vor allem bei den Expressionisten, etwa in Heinrich Manns Brasilienidylle im 1. Kapitel seines Romans Zwischen den Rassen (1907) oder in Georg Heyms sanftem Gedicht »Columbus« (1911). Auch sozialkritische Menschheitsdämmerung wird gesichtet, zumal im sozial gebeutelten Südkontinent, zum Beispiel in Iwan Gölls Panamakanal (1912/18), wo die technische Zivilisation hereinbricht, die heile Natur zerstört und die Menschen entwürdigt. Bernhard Kellermann hat mit seinem Science-fiction-Bestseller Der Tunnel (1913) die Angleichung der Sozialprobleme beiderseits des Atlantiks geradezu technisch veranschaulicht. Im Denkgebäude der französischen Surrealisten - auch der Deutsche Wolfgang Paalen gehörte in den Kreis - nahm Amerika als ästhetische Erfahrung, als Auseinandersetzung mit dem kulturell Anderen einen wichtigen Platz ein (dazu Klengel 1994). Doch eigentlich war nun längst die Zeit des Sachbuchs angebrochen. Sehen wir uns ein Beispiel näher an. Ein solches ist der Syntheseversuch aus den 20er Jahren von Wilhelm Mann (1927). Obschon über seine Verbreitung nichts Zuverlässiges bekannt ist, muss das Buch in Anbetracht des damals aktuellen Themas stark auf das Lateinamerikabild jener Jahre gewirkt haben. Es ist jedenfalls für dessen Entwicklung aufschlussreich, denn, wie es im Vorwort heisst, »suchen die hier gebotenen Ausführungen [...] das lateinische Amerika in der Hauptsache von der geistigen Seite her zu erfassen« (S. 10). Zwar anerkennt Mann den Altruismus, die Gastfreundschaft und den Familiensinn, die geistige Beweglichkeit der Lateinamerikaner, auch ist er generell auf ein vorsichtiges Urteilen bedacht, und doch ergänzt er die positiven Imagotype im Ton der germanischen Überlegenheit. Er nennt ausdrücklich eine Anzahl negativer Züge und tadelt die Lateinamerikaner wegen ihres wenig tatenfrohen, zu sehr gefühlsbezogenen, aufbrausenden, kindischen, unverantwortlichen, trägen, oft unehrlichen Wesens (S. 102-193). Die negativen Wertungen überwiegen zu stark, um noch von einem Sachbuch reden zu können. Als Zielkontinent deutscher Immigration erhält Amerika nach 1933 eine erneute, diesmal politische Aktualität. Die literarischen Auswirkungen waren beträchtlich, wie ich schon im Kapitel Spiegelungen I ausgeführt habe. Hier möchte ich auf Alfred Döblins Romantñlogie Amazonas (1937-1948) noch etwas näher eingehen. Der erste Band, Das Land ohne Tod mit seinen drei Büchern, ist gleichsam ein Vorspiel zum zweiten. Der blaue Tiger, mit fünf Büchern. Darin schildert der Autor Anfang, Blüte und Ende der Jesuitenreduktionen in Paraguay. Zur Entstehung schreibt Döblin selber im »Epilog« der 1948 erschienenen Festschrift zu seinem 70. Geburtstag, dass er von den Südamerika-Karten in der Bibliothèque Nationale in Paris auf Atlanten und auf bebilderte Ethnographien gestossen sei. Die Südamerikakarten mit dem Amazonenstrom: Was für eine Freude. [...] Nun der Amazonenstrom. Ich vertiefte mich in seinen Charakter, dieses Wunderwesen Strommeer, ein urzeitliches Ding. Seine Ufer, die Tiere und Menschen gehörten zu ihm. - Eines zog das andere nach sich. Ich las von den indianischen Ureinwohnern, stieg in ihre Geschichte und las, wie die Weissen hier eindrangen. [...]. Bald fing ich an zu schreiben, tatsächlich mit der einen Idee: diesem Flussmeer zu geben, was des Flussmeeres war, auch seine Menschen zu zeichnen und die Weissen nicht aufkommen zu lassen. So wurde der erste Band: Das Land ohne Tod. [...] Las Casas' Auftreten am Ende

99 des 1. Bandes machte alles andere zum Vorspiel. [...] Und nun wurde es der grossartige Menschheitsversuch, die Jesuitenrepublik am Paraná. Das Christentum steht im Kampf mit der Natur, und auch im Kampf mit den unzulänglichen Christen. Ein neues Thema, ich wollte dabei lernen und mich erproben. Ich konnte dem Thema nicht ausweichen. Es lief mir nach, es stellte mich, am Schluss des ersten Bandes vom Land ohne Tod als ich so tat, wie wenn ich ihm entronnen wäre. Und dennoch, ich wich ihm aus, ich entzog mich, so gut und so glatt ich konnte. Von da kommt in den Band Der blaue Tiger das Vibrieren und Schillern des Stils, von da auch die Heiterkeit [...] Von da die Anbetung der natürlichen Urmächte. Aber mitten drin steht unbeweglich eine scheue und tiefe Ehrfurcht. Religion steht da und schweigt. - Der Abgesang dieses SüdamerikaWerkes [Derneue Urwald] kann nicht umhin, die furchtbare, brütende Veriorenheit, die nachbleibt, zu zeichnen. Die Ergriffenheit Döblins, der nie in Südamerika gewesen ist (er war nur in Mexiko), ist erstaunlich. Es scheint, als hätte er gerade deshalb seinen Visionen besonders freien Lauf lassen können. Erlebnisraum für sein Schreiben waren die eigene Imagination, angeregt durch Papiere: die Kartengeographie und die Dokumente in der Bibliothèque Nationale. Die Geschichte, die duda indiana mit den völkerrechtlichen Zweifeln der Spanier, die Zwiespältigkeit von Las Casas, der Inquisitor, alles war ihm aus den Lektüren präsent geworden, nur die Natur, die Physis: sie musste Döblin erfmden. Gerade bei so ausgeprägter Fiktionalität ist der Reichtum an Lateinamerikabildem besonders gross und für uns interessant. El Dorado; die Horde der Eroberer (den Deutschen Alfinger nennt Döblin den Grausamsten der Grausamen); die Indianisierung der Weissen (die Mestizierung); das Paradies, das Las Casas bei den Lacandones findet; die Amazonen und die Menschenfresser; die Versklavung der Eingeborenen; dçr »Adel« der Neureichen. Kurzum: das ganze »Schauerkabinett« Lateinamerika (Döblin 1963: 368 ff.). Eine so betörende Mischung aus Hassliebe zu Europa und Sehnsucht nach Ursprünglichkeit in der Neuen Welt gibt es in der deutschen Literatur nur einmal. Wenn wir die Paraguay-Kapitel in Döblins Roman vergleichen mit Fritz Hochwälders Das heilige Experiment (1964), so erkennen wir sogleich, dass in den fünf Aufzügen von Hochwälders Drama Lateinamerika kaum in den Blick kommt. Die Jesuitenmission, einziger Schauplatz der Handlung, liegt zwar in Paraguay und es treten zwei taufwillige Guaraní-Indios auf. Doch sie sprechen natürlich mühelos Deutsch und wirken fast schon wie satirische Figuren. Natur und Kultur dieser Eingeborenen sind aus dem Konflikt völlig ausgespart worden. Es geht bei Hochwälder fast ausschliesslich um europäische Machtpolitik, um Interessenkonflikte zwischen den Jesuiten und den kreolischen Siedlern, um das innere Drama des Provinzials Alfonso Fernández. Es ist ein auch in seiner Bearbeitung als Fernsehspiel sehr eindrückliches Drama, doch es gibt Aufschlüsse nur über das Spanienbild und kaum für das Lateinamerikabild. Der gleiche Paraguaystoff, zwei zeitgenössische deutschsprachige Autoren, Lateinamerika als Schauplatz: im einen Fall ist der Kontinent omnipräsent, im anderen kaum als Kulisse vorhanden. Das Brasilienbuch von Stefan Zweig (1981) verdient hier keine weitere Erwähnung, denn inzwischen hat sich herausgestellt, dass er es gezielt zwecks Gewinnung behördlicher Sympathie geschrieben hatte. Es stellt deshalb für die Bildforschung kein echtes Dokument dar. Doch nun zurück zum Überblick. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind zahlreiche Synthesen erschienen. In Lateinamerika suchte man die veriorene Vergangenheit, während Angloamerika immer mehr als Kontinent der vorweggenommenen Zukunft gesehen wurde (Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen, 1912). Die Schere zwischen Nord und

100 Süd mit der Achse am Rio Grande sollte sich fortan noch weiter öffnen. Der hergebrachte Eurozentrismus begann schon vor dem Zweiten Weltkrieg in vereinzelten Sachbüchern zu schwinden, z. B. bei Kasimir Edschmid: Glanz und Elend Südamerikas (1931), auch in Reportagen, z. B. bei Egon Erwin Kisch: Paradies Amerika (1930) und Entdeckungen in Mexiko (1947). Doch erst seit 1945, dank den Flugverbindungen, den Medien und dem Tourismus, auch dank der Lektüre übersetzter Autoren aus Nord-, später auch aus Südamerika, wurde die nun längst nicht mehr so neue Welt den Europäern vertrauter. Durch die politische Präsenz der USA in der Ersten und der Dritten Welt (inzwischen auch in der Zweiten), rückt fortschreitend der Zustand näher, wo (Nord-)Amerika überall ist, allerdings ein Amerika, dessen Vielfalt »mit einer nie endenden Klischee-Fabrikation überdeckt, uniformiert und fast zum Verschwinden« gebracht wird (Durzak 1979: 12). Der emotionale Widerstand gegen den Koloss wächst wie von selbst und proportional zu dessen Macht, auch in den Vereinigten Staaten selbst. Die Literatur spiegelt diesen Zwiespalt besonders getreu. Im übrigen ist Amerika für die Schriftsteller immer weniger das andere Land, sondern ein gezielt gewählter Schauplatz für die eigene Befindhchkeit, ein Ort für Geschehen und Begegnungen wie ein anderer in der modernen Welt auch. Freilich sind die stereotypen Überlegenheitsposen der Europäer immer wieder wirksam, und zwar auf Gegenseitigkeit: hier der kulturlose Amerikaner und der korrupte Latino, dort der überhebliche Deutsche, der besserwisserische Schweizer, der österreichische Snob. Max Frisch hat überzeugend gegen die Klischees angeschrieben, einmal in seinem Aufsatz »Unsere Arroganz gegenüber Amerika« (1967), dann in dem aufrichtigen Rückblick auf sein Leben, den er von Montauk (1975) aus gewinnt. Auch Lateinamerika dient bei Frisch als Chiffre für seine oder seiner Figuren Befindlichkeit, im Stiller (1954), vor allem im Homo Faber (1957), während der Zürcher andererseits das reale Lateinamerika angesichts des sozialen Elends unerträglich fand (Orchideen und Aasgeier, 1951). Daneben suchten die deutschsprachigen Schriftsteller weiterhin die Andersheit fast nur noch im südlichen Amerika, dessen Entwicklungsrückstand nach 1945 immer deutlicher in die Augen stach. Eine neue Empfindsamkeit, eine Sensibilisierung für die vom Fortschritt allenthalben angerichteten Beschädigungen, lässt kritische Autoren ihren Stoff eher dort als im europanahen Nordamerika suchen. Lateinamerika wurde - zumal von der neuen Linken nun als Kontinent der »offenen Adern« (Galeano, 1973) gesehen, die Erste Welt (und damit auch Europa) als die der Ausbeutenden. Wir begegnen zwar dem Bild Lateinamerikas als Opferkontinent schon in den dreissiger Jahren, in der antikolonialistischen und europakritischen Sicht, mit der Walter Hasenclever und Kurt Tucholsky Christoph Columbus oder Die Entdeckung Amerikas satirisieren (1931/32). Doch nun verschmolzen die historischen Schuldzuweisungen an die Spanier mit der Imperialismuskritik im Umfeld von 1968 und ergaben eine Literatur selbstgerechter Empörung, die jene polemischen Streitgespräche vorwegnimmt, wie sie später im Zeichen der Gedenkfeiern 1492-1992 vor allem in Lateinamerika zu hören waren: eine anachronistische Wiederauferstehung der Schwarzen Legende. Sympathie und Solidarität zu den Indios, oft genug blauäugig, bauen inzwischen die Alteritätsgefühle auch gegenüber dem Südkontinent ab. Ein anderer Zürcher Autor, Hugo Loetscher, hat den gleichen Perspektivenwechsel wie Hasenclever/Tucholsky mit viel Sympathie zu den bolivianischen Hochlandbewohnem gestaltet anhand der »Entdeckung der Schweiz durch die Indios«, einem Kapitel aus seinem Roman Der Immune (1975: 131-145).

101 Loetscher steht hier zugleich als einer der Autoren deutscher Sprache, die das ethnographische Erzählen zeitgemäss erneuert haben. In seiner Wunderwelt. Eine brasilianische Begegnung (1975) vermittelt der einfühlsame und sprachkundige Europäer den weiten Horizont eines beobachtenden Fremdlandverständnisses. So wird die jeweils andere Welt, wenn nicht besser, so doch wenigstens überschaubarer und ein zuverlässigerer Vorrat für literarische Zitate und Motive. Jacob Burckhardt hatte es vorausgesehen, als er meinte, Columbus sei der gewesen, »der es zuerst aussprechen durfte: il mondo è poco, die Erde ist nicht so gross, als man glaubt«.

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Die Zentenarfeiem der Entdeckung im Vergleich

Ein Gedenken an 1492 hat es in den darauffolgenden drei Jahrhunderten nicht gegeben, weder 1592 noch 1692, und 1792 schon gar nicht. Weder die damaligen Eroberer noch die Betroffenen sahen das Datum als Einschnitt oder Gründungsakt. Des 12. Oktobers (des angeblichen Tags der ersten Landnahme der Spanier in der Neuen Welt) war z. B. selbst in den so aufmerksam geführten und auch für Weltliches im deutschen Kulturraum offenen Annalen des Klosters St.Gallen fniher nie gedacht worden. Die Besinnung auf die kalendarische Wiederkehr bestimmter Jahresanlässe ist eine Folge des Historismus im 19. Jahrhundert, mithin eine späte Erscheinung. So sind denn auch erst die beiden letzten Zentenarien der ersten Landnahme in der Neuen Welt durch Columbus im Jahr 1492 zu Grossanlässen geworden, allerdings in sehr unterschiedlicher Weise. Vergleichen wir rückblickend diese beiden Gedenkjahre miteinander, so ergibt sich ein Gefälle, das drastischer nicht sein könnte, ein dramatisches Bild der in diesen hundert Jahren erfolgten Entwicklung und Veränderung der mentalen und affektiven Einstellung gegenüber der Geschichte wie gegenüber der Fremdheit, der anthropologischen wie der kulturellen. Im Folgenden halte ich mich weitgehend an Bernabeu Albert (1987) sowie an dessen Besprechung durch Fernando Ainsa (1990), und an Rojas Mix (1991). 1892 ist der Columbustag erstmals offiziell und feierlich begangen worden. Zwar geschah es auch damals nicht in historischer Unschuld, was besagen will, dass - wie 1992 wieder sowohl Ereignis- wie Mentalitätsgeschichtliches die Einstellungen der kulturell diversen Öffentlichkeiten stark beeinflusst hat. In der Tat wurde 1892 das Datum in Spanien unter dem Namen Dia de la Raza zum Nationalfeiertag deklariert. Gemeint war mit dem in unseren Ohren seltsam klingenden Namen ein Tag der hispanischen Rasse, der spanischsprachigen Völker. Die Bezeichnung blieb bis an das Ende der Franco-Zeit gebräuchlich und erst nach dem Trauma des faschistischen Rassenwahns wurde sie missverständlich. Mit guten Gründen verlegte deshalb König Juan Carlos den Nationalfeiertag auf das Datum der Verfassungsgebung (am 6. Dezember 1978) und bezeichnete den 12. Oktober - im Hinblick auf 1992 als Dia de la Hispanidad. Schon das 1892 gewählte mythische Etikett Dia de la Raza lässt erkennen, dass Spanien in jenem Jahr seine koloniale Grösse nochmals beschwören wollte. Es war höchste Zeit, denn von dem einst gewaltigen Koloniab-eich waren ihm nurmehr Puerto Rico, Kuba und die Philippinen als letzte Überseeterritorien verblieben, noch bis 1898. In der Tat standen die offiziellen Reden und Schriften anlässlich des IV Centenario in Spanien noch immer deutlich im Zeichen der Rachegefühle und des Unmuts angesichts der Unabhängigkeit fast aller ehemaligen spanisch-amerikanischen Kolonien. Wie schlecht die einstige Weltmacht Spanien, die inzwischen in flagranter Dekadenz vegetierte, offiziell die nachhaltige und rasche Dekolonisierung Spanisch-Amerikas hinnahm, das zeigte sich allein schon daran, dass sie an die siebzig Jahre nach der entscheidenden Niederlage bei Ayacucho (1824) diese Schrumpfung auf das spanische Mutterland noch immer für reversibel hielt. Symptomatisch dafür sind allein schon die endlosen Querelen um die Benennung des Kontinents, von denen schon die Rede war. Der chilenische Historiker Rojas Mix (1991: 211) äussert sich unmissverständlich: »Die Feierlichkeiten um das vierte Zentenarium waren geprägt von der Polemik um den Namen.« Es wurden aus diesem nationalistischen Affekt her-

104 aus absurde Vorschläge gemacht: Sollte man nicht vielleicht das traditionelle Indias retten? Oder gar die Columbustat zelebrieren durch eine (illusorische) Neubenennung des Kontinents als Colonida, in Analogie zu Amerika? Geblieben sind, wie gesagt, von den damals vorgeschlagenen Namen nur Iberoamérica und Hispanoamérica, und zwar nur in Spanien, wo dessen Leistung festgeschrieben werden sollte. Die Kehrseite der Medaille war, dass im Zeichen dieser vierten Zentenarfeiem der Entdeckung nun auch in den letzten Kolonialterritorien, namentlich auf Kuba und Puerto Rico, sich die Unabhängigkeitsbestrebungen verschärften. Die in Festakten verkündete Antwort des offiziellen Spaniens auf solche Unruhe war bemerkenswert: Man nahm sich vor, »in die ehemaligen Kolonien neue Säfte einströmen zu lassen, damit ein neues Spanien (lies Grossspanien) auferstehe und eine neue Ära der Triumphe beginne«, so der damalige Tenor. Unter dem Mantel einer spanisch-amerikanischen Brüderlichkeit, die angeblich die »Kränkungen und Ungerechtigkeiten« der Dekolonisierang überwinden sollte, suchten die Regierenden im damaligen Spanien in Übersee noch einmal Einfluss und eine Hegemonialposition zurückzugewinnen. Mehr als eine rhetorische Übung war es nicht. Die Rhetorik spielte auch sonst eine bemerkenswerte Rolle in der politisch motivierten Gedenkstrategie Spaniens. Im Bewusstsein der geistigen Führerrolle, die den Dichtem und Schriftsteilem in der hispanischen Welt traditionell zuerkannt wurde, lud Spanien die damals herausragenden Autoren Spanisch-Amerikas offiziell zu den Feierlichkeiten von 1892 ein und dachte ihnen mit raffinierter Diplomatie eine Mittlerrolle zu in diesem α priori verlorenen Spiel um neue Macht: Es kamen Rubén Darío aus Nicaragua, Ricardo Palma aus Peru, Zorrilla de San Martin aus Uruguay, die Kolumbianerin Soledad Acosta de Samper u.a.m. In ihren Reden lobten die Gäste fast einhellig die Leistung der Entdeckung und Eroberung durch die Spanier und werteten das, was da und dort schon als Völkermord bezeichnet wurde, als eine zivilisatorische Grosstat. Beachtenswert ist, dass einzelne Festredner damals vorschlugen, im Zeichen dieses vierten Zentenariums sei der (europäischen) Amerika-Forschung ein nachhaltiger Impuls zu verleihen, wobei das Augenmerk endlich auf die vorcolumbischen Kulturen zu richten wäre. Auch dies ein verspätetes Postulat, denn seit Alexander von Humboldts Forschungsreise (1799 bis 1804) waren weitere Deutsche, aber auch Franzosen, Schweizer, Engländer, Amerikaner in der regionalen Feldforschung erfolgreich tätig gewesen, vor allem in der Archäologie, der Ethnologie und in den Geowissenschaften. Auch im Bereich der Technik waren die rückständigen Spanier in Übersee längst von Ingenieuren aus anderen Ländern abgelöst worden. Franzosen und Engländer vor allem hatten Bahnen und Häfen gebaut, Deutsche namentlich Brücken und Bergwerke. Ausländer haben dem Kontinent die Infrastruktur erschlossen. Immigranten aus dem deutschsprachigen Raum als Siedler, solche aus Italien und Spanien als Handel- und Gewerbetreibende waren inzwischen vielerorts erfolgreich. Just deshalb richteten die Spanisch-Amerikaner von 1892 einen Appell an das offizielle Spanien: Von dem inzwischen nahezu »kinderlos« gewordenen Mutterland erwarteten sie nun, es müsse sich fortan wenigstens in geistigen und kulturellen Belangen um seine ehemaligen Kolonien kümmern. Indes, mit dem Jahr 1892 wurde keineswegs, wie von einzelnen schüchtern erhofft, der Beginn emsthafter Amerikastudien eingeläutet, in Spanien schon gar nicht. Vielmehr zeigten die Beschwörungen eine konträre Wirkung: Als nämlich Kuba, Puerto Rico und die Philippinen - mit massiver militärischer Einhilfe allerdings der USA - im Jahr

105 1898 ebenfalls von Spanien abfielen und als die geschlagenen spanischen Truppen in den Heimathäfen zerlumpt an Land gingen, war endlich auch dort für jedermann sichtbar, was seit geraumer Zeit der Rest der Welt wusste: Spanien lag politisch am Boden und war zu einer der rückständigsten Nationen Europas verkommen. Die Evidenz des Niedergangs löste nun bei einer Gruppe von spanischen Dichtern und Denkern eine Emeuerungsbewegung aus, die unter der Bezeichnung »Generation von 98« bekannt geworden ist. Das Jahr der tiefsten aussenpolitischen Erniedrigung wurde bewusst zum Symboljahr dieses Regenerationsversuchs erkoren. Er knüpfte an frühere liberale Reformbestrebungen an und verlieh dem Erziehungswesen, der Literatur, auch dem Nationalgefühl wichtige Impulse. Die Bewegung blieb aber langfristig ohne politische Wirkung, weil die sozialen und wirtschaftlichen Probleme nicht ernsthaft und pragmatisch genug angegangen wurden. Zudem regten sich 1892 erstmals die Indios. In Lateinamerika war Juan León Mera (1832-1894), der Autor der ecuadorianischen Landeshymne, einer der ersten, der eine Rehabilitation der Eingeborenenkulturen forderte. Er verstand darunter nicht nur die Hochkulturen der Inkas in den Anden sondern auch die damals ethnologisch noch unerforschten Kulturen der amazonischen Tieflandindianer. In der damals entstehenden indianistischen Literatur Lateinamerikas tauchten edlere Wilde auf denn je. Doch alle Stimmen, die damals den Eingeborenen in Amerika auch ihre Rechte wiedergeben wollten, blieben vorerst Rufe in der Wüste. Schliesslich zeigt sich ein weiterer, ein sonderbarer Unterschied, eine quasi tektonische Verwerfung in der Einschätzung der Columbusfahrt beim Vergleich zwischen dem vierten und dem fünften Zentenarium, zu dem ich hiermit überleite. War die Kolonisation ein Recht oder ein Unrecht, ein Genocid oder ein zivilisatorischer Akt? Hatte die Heidenmission durch die spanischen und portugiesischen Katholiken ihre Berechtigung? Brachte die Kolonialwirtschaft den Beteiligten Fluch oder Segen? Solche Fragen klingen modern, doch sie bewegten die Gemüter schon 1892. Damals allerdings diskutierten vor allem die in der Vergangenheit direkt Betroffenen, also die Spanier diesseits, die Spanisch-Amerikaner jenseits des Atlantiks. So blieb 1892 der völkerrechtliche Problemfall des Umgangs mit den Indigenen und die Frage einer eventuellen historischen Schuld vor allem Spanien selber vorbehalten und wurde im übrigen Europa wenig beachtet. Diesmal jedoch, also 1992, ist die gleiche Debatte und dieselbe Kontroverse mit derselben Aporie, derselben Unmöglichkeit eines rationalen Schiedspruchs neu entbrannt, aber mit ganz anders verteilten Rollen: Diesmal waren es Teile der internationalen Völkergemeinschaft, die im Zeichen der Menschenrechte und der Solidaritätsbewegungen mit der Dritten Welt einen anachronistischen und selbstgerechten Protest vernehmen Hessen, während Spanien sich jetzt weitgehend aus der Polemik heraushielt und weghörte. Hatten nicht seine Historiker und Juristen seit Jahrzehnten, vom Ausland übrigens weitgehend unbeachtet, den Sachverhalt geklärt? War nicht die Grossleistung einer eigentlichen Begründung des Völkerrechts durch die damaligen Rechtsgelehrten Spaniens inzwischen allgemein anerkannt? Zudem ganz schlicht: Wie sollten die Grausamkeiten ferner Vorfahren die heutigen Spanier anfechten, zumal da bekanntlich diese Art des Umgangs mit Unzivilisierten, mit Andersdenkenden, Heiden, Hexen und Ketzem der allgemeine Usus im Europa der Renaissance war, und keineswegs eine nur in Iberien übliche Barbarei? 1992 hat diese Debatte in der Tat eine zentrale Bedeutung erlangt. Doch schauen wir zunächst, was die Spanier diesmal unternommen haben. Im Vorfeld dachten gewisse Kreise an grosse Gedächtnisfeierlichkeiten und entwarfen grossspurige Pläne. Luis Yáñez wurde Präsi-

106 dent der offiziellen Vereinigung für die Feier der Entdeckung, ein Verlagskonsortium lancierte die »Biblioteca V Centenario«. Doch angesichts der wiedererwachten internationalen Polemik und der heftigen Kritik aus Spanisch-Amerika sind die spanischen Projekte deutlich redimensioniert worden (dazu López de Abiada 1993). Stattdessen haben die verantwortlichen Stellen in Spanien das Jahr 1992 geschickt zu einer neuen Selbstdarstellung genutzt. In dem einen Jahr kamen - nebst letzüich eher diskreten Feieriichkeiten zum V Centenario in Sevilla - spektakuläre Grossanlässe zustande: die Weltausstellung ebenda, die Olympischen Spiele in Barcelona, Madrids Glanz als europäische Kulturhauptstadt. Spanien wollte damit der Welt und sich selber vorführen - dies allerdings in einem wirtschaftlich eher ungünstigen Moment - , dass es nicht länger gewillt ist, die historische Altlast der Schwarzen Legende, der Inquisition, des Fanatismus und wirtschaftlichen Rückstands und gar des Völkermords in der Neuen Welt mit sich herumzuschleppen, dass das neue Spanien sich vielmehr zu einer modernen Nation unter anderen gewandelt hat und heute der mediterrane Leader ist in der Europäischen Union. Insgesamt ist jedoch die Befìndlichkeit der Welt, die inzwischen eine Welt geworden war, verglichen mit der Belle Epoque hundert Jahre vorher, eine so kritische, so krisenbehaftete geworden, dass Jubiläen jeglicher Art kaum mehr Anlass zum Jubeln gaben. Die derzeitige Lage in Politik und Wirtschaft in Lateinamerika, die wirtschaftliche Rezession in der ganzen westlichen Welt, die drohenden Konflikte mit dem Islamismus, der Zusammenbruch der kommunistischen Länder Osteuropas, das immer gravierendere Nord-Süd-Gefälle und der Druck von Migrationen, die zunehmend nationalistische Nabelschau der Юeinregionen, die man sich nun leisten zu können glaubte, nachdem man aus dem kalten Krieg ungeschoren entlassen worden war: alle diese Faktoren haben der 500. Jährung der Columbusfahrt von Fall zu Fall, von Land zu Land ein je nach Betroffenheit unterschiedhches, insgesamt aber ein bedenkliches Gepräge verliehen. Von dem expliziten Desinteresse bis zur zänkischen Kontroverse konnte man alle Schattierungen beobachten. Zudem hat das Macht- und Wohlstandsgefálle zwischen dem amerikanischen Nordkontinent und dem am Rio Grande beginnenden »lateinischen« Südteil Amerikas die Motivationen zum Gedenken erheblich auseinanderscheren lassen. In einem kuriosen Rollentausch wurde der in Spanien inzwischen obsolet gewordene Disput über eine historische Schuld gegenüber den Indigenen Alt-Amerikas diesmal von anderer Seite aufgenommen, zudem vehementer denn je. 500 Jahre sei die Neuzeit alt geworden und dabei fehl entwickelt: Columbus hin, Columbus her, für Sozial- wie für Wirtschaftsutopisten war es höchste Zeit für eine kritische Bilanz. So geriet das 5. 2^ntenarium schon im Vorfeld von 1992 linken Intellektuellen, Grünen, Kirchenkreisen und Entwicklungsorganisationen in der westlichen Welt, aber auch der Linksopposition und den selbst ernannten Vertretern der Indios in den Republiken Lateinamerikas zur Stunde ihrer »Wahrheit«. Die skandalösen Zustände schienen ihnen nun zum endgültigen Schiedspruch reif. Aus ethisch achtbaren Motiven, doch in zumeist völlig dilettantischer Weise, d. h. ohne Sicht der Zusammenhänge und unter naiver Projektion heutiger Auffassungen von Menschenrecht auf vergangene Zeiten, haben diese Richter über früheres Weltgeschehen den Fall »Columbus und die Folgen« neu aufgerollt, ihn zugleich emotionalisiert und zu aktualpolitischem Sprengstoff verarbeitet. Gemeint - aus politischer wie humanitärer Sicht wohlgemeint - war eine Solidarität mit den noch heute randständigen cxier unterdrückten Indios, Schwarzen und Armen in den ehemals

107 spanischen, portugiesischen (und französischen) Kolonien. Zielscheibe des Protests müssten logischerweise die kreolischen Oberschichten in jenen Republiken sein, die in den etwa 180 Jahren seit der Dekolonisierung Zeit genug gehabt hätten, um eine gerechtere soziale Ordnung im eigenen Haus herbeizuführen. Doch nachdem auch diese Oligarchien, so besehen, dem imperialistischen System zugedient haben, folgt der Frontverlauf zwischen »Tätern« und »Opfern« längst nicht mehr vertikal den Landes- oder Kontinentalgrenzen, sondern horizontal den sozialen Schichtungen. Es konnte anders nicht sein: Auch die spanienfeindliche Schwarze Legende aus der frühen Neuzeit flackerte ungeschönt wieder auf, »pour remuer les passions«, wie Voltaire zu sagen pflegte. Mit dem selben Irrationalismus, den selben Affekten, der selben Besserwisserei, aber auch mit dem alten Beweisnotstand wurde Schuld zugewiesen, wobei man sich je nach eigener Ideologie den Sündenbock aussuchen konnte. Und all dies mit der wohlfeilen Genugtuung, auf der Seite der Guten zu stehen. Den Spaniern, die nicht ohne Stolz an ein weltbewegendes Ereignis zurückdenken wollten, wurden in einer abenteuerlichen Zeitreise wieder die alten Vergehen vorgehalten. Sie nahmen es, wie gesagt, gelassen hin und verliessen sich bestenfalls auf die solide Aufklärungsarbeit ihrer Forscher. Die anachronistische Projektionswut lässt sich anhand der polemischen Bezeichnungen vorführen, die der Columbusfahrt an ihrem 500. Jahrestag da und dort verliehen wurden: Die Spur der Tränen. 500 Jahre Eroberung Amerikas-, 500 Jahre Europäische Invasion in Amerika-, 500 Jahre Entdekkung, Gerwzid und Ausbeutung-, Entdeckung oder Eindeckung Amerikas?-, Der Griff nach der Neuen Welt-, Amerika, dieses verlorene Paradies-, Die Erfindung Amerikas... Die Lateinamerikaner wollten - genau besehen zu Recht - nichts von einer Entdeckung wissen und sprachen lieber von einer Begegnung{áazu Rojas Mix 1991). Als im Berliner Gropius-Bau die neutral und sachlich benannte Ausstellung Amerika 1492-1992. Neue Welten - Neue Wirklichkeiten eröffnet wurde, schwenkten Demonstranten Transparente mit dem Spruch, 500 Jahre der Ausbeutung sind genug! Der Vergleich zwischen 1892 und 1992 offenbart jedoch einen anderen, in unserem Zusammenhang aufschlussreichen Rollentausch. Hundert Jahren zuvor hatten die Republiken Spanisch-Amerikas wirtschaftlich eine ausgesprochene Blütezeit erlebt. Argentinien, Chile, Peru und Mexiko gehörten damals zu den reichsten Ländern der Welt. Während von 1892 bis 1896 die USA eine arge Rezession durchliefen, genoss der südliche Teilkontinent seine wirtschaftliche Prosperität. Wir haben heute vergessen, dass in der Belle Epoque Frankreich und namentlich England eine ähnliche Schuldenlast gegenüber dem Gläubigerland Argentinien drückte wie heute umgekehrt. 1992 hingegen stecken die Länder Lateinamerikas in der bekannten, schon jahrzehntealten Schulden- und Wirtschaftskrise, zudem mitten in kaum lösbaren Sozialproblemen, zum Teil in heissen Konflikten mit subversiven Guerillas und der Drogenmafia. Aus Angloamerika hingegen ist inzwischen eine Weltmacht geworden. Die derzeitige Zugehörigkeit einzelner Länder Lateinamerikas zur Dritten Welt haben Sympathisanten des Marxismus und der Dependenztheorie bei dem weltweit Aufmerksamkeit versprechenden Anlass des 5. Zentenariums der Columbusfahrt dazu benützt, das alte Kolonialsystem und vor allem den Wirtschaftsimperialismus der Ersten Welt anzuprangern. Es fällt auf, dass diese kritischen Stimmen besonders im deutschen Sprachraum laut geworden sind. Es gibt dort Leute, die sogar fremde Vergangenheiten bewältigen wollen. Die europäische Expansion und das heute klaffende Nord-Süd-Gefälle werden von den erwähnten

108 Kreisen in mittelbaren Zusammenhang mit den Entdeckungsfahrten der Spanier und Portugiesen gebracht. Hierfür ein besonders drastisches Beispiel: In Zusammenarbeit mit einem in Mexiko gegründeten »Forum Emanzipation und lateinamerikanische Identität: 1492-1992« haben Angehörige von Gruppierungen in der Bundesrepublik und in der Schweiz Ende Oktober 1989 - Ironie der Geschichte: wenige Tage vor dem Fall der Beriiner Mauer - in Hamburg einen 1. Bundeskongress durchgeführt. Unter dem mythenstiftenden Titel Das Fünfhundertjährige Reich sind die äusserst polemischen Tagungsbeiträge 1990 als Essay Sammlung erschienen, »mit der Intention, den >500. Jahrestag der Entdeckung Amerikas< in ein kritischemanzipatorisches Diskussions- und Arbeitsforum des adantischen Kolonialismus und Neokolonialismus zu verwandeln« (Höfer 1990). Mit arroganter Geste erfolgt darin, nach kühnem Blindflug über die Wechselfälle der Ereignisgeschichte, eine pauschale Schuldzuweisung für die heutigen Zustände an die »Herrenvölker der Ersten Welt« und ihren eurozentrischen, kolonialistischen und rassistischen Diskurs. Das schlechthinnige Amerika, das im Norden, das ja auch Teil ist der von den Spaniern eröffneten Neuen Welt, gehört zu den Tätern, der Südteil und die übrige Dritte Welt zu den allein gedenkwürdigen Opfern. Die Vereinnahmung des 5. Zentenariums für eine radikale Abrechnung mit dem heutigen Weltelend ist wahrlich ein Novum. Damit wäre das Columbusereignis der Geschichtsforschung entzogen und vollends in das weite Feld der Imagologie übergelaufen. Ein weiterer Vergleich über die letzten 100 Jahre hin ist in ganz anderer Hinsicht aufschlmsreich und zeigt für einmal Ähnlichkeit. Um die letzte Jahrhundertwende herrschte in Spanisch-Amerika Hochkonjunktur auch im kulturellen Bereich. Eine literarische Bewegung, der sogenannte Modernismo, hatte von etwa 1890 an dem ganzen spanischsprachigen Subkontinent eine sensationelle Erneuerung des sprachlichen Ausdrucks, des ästhetischen Empfindens und den Städten ein kosmopolitisches Lebensgefühl gebracht. Seine Leitfigur war der nicaraguanische Dichter Rubén Dario (1867-1916). Erstmals hatte eine die gesamte hispanische Kultur umfassende Neuerungswelle ihren Ursprung in der Neuen Welt und war erst sekundär in das alte Mutterland Spanien herübergelangt. Ähnliches hat sich nun im Verlauf des inzwischen vollendeten 5. Jahrhunderts seit den Entdeckungen nochmals ergeben, wiederum in Lateinamerika: die hier mehrfach erwähnte neuerliche Kulturblüte nämlich. Was insgesamt in der Literatur, in den Bildenden Künsten, in der Musik und im Film in jenen Ländern seit rund fünfzig Jahren geschaffen wurde, lässt erkennen, dass Lateinamerika in kultureller Hinsicht seit langem keine entwicklungsbedürftige Region mehr ist. Die auffallende Diskrepanz zwischen der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verfassung dieser Länder einerseits und dem kulturellen Potenzial in diesen Gesellschaften andererseits macht jedes Pauschalurteil allerdings fragwürdig, erschwert dort übrigens auch die professionelle Tätigkeit von Diplomaten, Forschern, Lehrern, Unternehmern und Entwicklungshelfern. Noch eines darf bei dieser Bilanz nicht vergessen werden: Den entscheidenden Unterschied zwischen 1892 und 1992 stellen vermutlich weder die geschilderte Frontenverschiebung noch die ideologische Umpolung des Gedenkanlasses dar, sondern die inzwischen enorm angewachsenen Erkenntnisse über die Neue Welt, über Lateinamerika im Besonderen. Da waren zunächst die zahllosen Kongresse. Die wohl anspruchsvollste internationale Tagung wurde von der John Carter Brown Library in Providence (Rhode Island, USA) veranstaltet, im Juni 1991. Die auf Americana der frühen Neuzeit spezialisierte Bibliothek wählte das Thema »America in European Consciousness: The Intellectual Consequences of the

109 Discovery of the New World, 1493-1750«. Als Koordinator wirkte der durch seine einschlägigen Publikationen bekannte englische Historiker John H. Elliott. Akten sind leider keine publiziert worden. Von den zahlreichen nationalen Kongressen erwähne ich nur zwei in Deutschland und je einen in der Schweiz und aus Österreich: In Eichstätt hat die ADLAF ein interdisziplinäres Kolloquium veranstaltet, schon im November 1988. Karl Kohut hat die Akten herausgegeben (1991). Hier erwähnt zu werden verdient, obgleich es sich nicht um Kongressakten handelt, das ebenfalls interdisziplinäre, von Walther L. Bernecker edierte Themenheft (1992) rund um die fünfte Zentenarfeier. In Genf hat die Stiftung Simón I. Patiño im November 1992 ein Kolloquium veranstaltet, an dem vier Referate zu den Zentenarien von 1892 und 1992 gehalten wurden (Iñigo Madrigal 1993). In Wien hat das LateinamerikaInstitut zum Anlass des 12. Oktober 1992 ein Symposium organisiert (Kaller/Reinberg 1993). Auf Initiative des damaligen Direktors der Herzog August Bibliothek zu Wolfenbüttel, Paul Raabe, hat sich dort ein wissenschaftliches Programm konstituiert unter dem Namen »Neue Welt/Alte Welt. Begegnungen mit Amerika 1492-1992«. Über die Veranstaltungen und Forschungsvorhaben hat eine Heftreihe informiert, Mundus Nävus, die ebenfalls in Wolfenbüttel ediert wurde. Schliesslich erwähne ich nochmals die im Gropius-Bau zu Berlin veranstaltete Ausstellung, die vom 18. September 1992 bis 31. Januar 1993 eine grosse Besucherzahl anzog. Es ist dazu ein reich bebilderter Katalog in zwei Bänden erschienen (Briesemeister/ Domnick 1992). Wie man aus einem Vergleich zwischen dem 4. und dem 5. Zentenarium unschwer erkennt, ist letzterem eine viel grössere internationale Aufmerksamkeit zuteil geworden. Hier ist vielleicht auch ein Wort angebracht zur Lateinamerikanistik in unseren Ländern. Von Kalenderanlässen ganz abgesehen darf man feststellen, dass die Forschungen in diesem interdisziplinären, auf eine Grossregion bezogenen Fach seit dem Zweiten Weltkrieg einen Aufschwung genommen hat, an dem Humboldt seine Freude gehabt hätte. Von einigen Leistungen und Projekten habe ich schon in einem früheren Kapitel kurz gesprochen. Auch hier muss ein Hinweis auf einschlägige Bibliographien genügen. Die Forschungserträge der deutschsprachigen Lateinamerikanistik werden durch mehrere Publikationen erschlossen. Hervorzuheben sind die Kompendien Siefer 1971; Siebenmann/Herrmann 1978; Ferno/ Grenz 1980; Werz 1992; Drekonja-Komat 1992; Bemecker/López de Abiada 1992; Grenz 1993. In diesen z. T. umfangreichen Handbüchern sind die Institutionen, die Forscher mit ihrem Spezialgebiet und deren jüngste Veröffentlichungen aufgeführt. Unter den wissenschaftlichen Vereinigungen in Deutschland, die bei Anlass des 5. Zentenariums besondere Aktivitäten entfaltet haben, erwähne ich die ADLAF (Arbeitsgemeinschaft Deutscher Lateinamerikaforschung), die zusammen mit Eberhard Schmitt (Bamberg) ein Projekt zur Erforschung der europäischen Expansion und ihrer Folgen in die Wege geleitet hat, unter dem Vorsitz von Hans-Joachim König (Eichstätt). An der Universität Erlangen-Nümberg hat sich im Rahmen eines Zentralinstituts für Allgemeine Regionalforschung eine Sektion Lateinamerika konstitutiert, die seit 1976 in loser Folge die Themenhefte der LateinamerikaStudien herausgibt. Schliesslich wäre noch die für die historische Kartographie relevante Publikation von Kenneth Nebenzahl zu nennen (1990). Daneben haben auch gute Dokumentarfilme im Vorfeld und im Nachgang zu 1992 unser Wissen anschaulich gemehrt und ein breites Publikum erreicht. Ein Beispiel wäre die in internationaler Koproduktion entstandene siebenteilige Fernsehserie Columbus und das Zeitalter der Entdeckungen von Thomas

110 Friedman und Stephen Segaller, die 1991 vom NDR und 1992 von Bayern 3 ausgestrahlt wurde. Natürlich ist auch über Columbus weitergeforscht und gerätselt worden. Die erwähnte John Carter Brown Library in Providence hat 1990 einen umfassenden Forschungsbericht veröffentlicht (Provost 1990), dank dem die schier endlose Publikationsflut überschaubar wird. In Deutschland hat Titus Heydenreich (1992) ein zweibändiges Themenheft mit Beiträgen über Columbus zwischen zwei Welten zusammengestellt Derselbe Erlanger Gelehrte hat in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 29. Februar bis am 12. Oktober 1992 eine Ausstellung organisiert zu »Columbus 1492-1992. Wirklichkeiten und Legenden«. Die Bibliothek hat dazu einen Katalog veröffentlicht. Diese Aufzählung mag zeigen, dass zum Zentenarium von 1992 insgesamt über den transatlantischen Austausch, über die materiellen und geistigen Folgen für die Alte wie für die Neue Welt, auch über den jahrhundertelangen historischen Disput über das bessere oder mindere Amerika weltweit viel nachgedacht und geschrieben worden ist, auch im deutschen Kulturraum. Es sei allerdings zugestanden, dass die öffentliche Meinung wie der Zeitgeist um die Jahrtausendwende sich leider von solchem Wissensfortschritt wenig beeindruckt zeigten. Die bunten Bildmedien haben längst dazu geführt, dass die allein in gedruckten Texten nachvollziehbaren Forschungserträge nurmehr von den Lesenden oder gar im Getto der Fachgelehrsamkeit wahrgenommen werden. Gefragt sind deshalb Tätigkeiten, die zuverlässiges Wissen über die einst Neue Welt umsetzen und in die Breite tragen, um so mit überholten Meinungen aufzuräumen und auch den fatalen Eurozentrismus endlich zu überwinden. Auch fünfhundert Jahre der Selbstüberschätzung in der Alten Welt sind genug. Auf der anderen Seite wird manch einer sich fragen, inwieweit denn dieses forschende und kritische Interesse, das weitgehend der Vergangenheit zugewandt ist, den Lateinamerikanern von heute in ihren Schwierigkeiten geholfen habe. Erkenntnisse führen nicht immer zu Ergebnissen, und auf das Raten folgen selten Taten. Man kann nicht darüber hinwegsehen, dass das politische und wirtschaftliche Umfeld in Lateinamerika - und ausserhalb - für eine vernünftige Besinnung zum 12. Oktober 1992, für eine zukunftsweisende Standortbestimmung zu wolkig und zu düster war. An die Stelle der Euphorie der Feiern von 1892 sind diesmal vielerorts Verlegenheit oder gar Unbehagen getreten. Die ungewisse Zukunft drängt auf andere Prioritäten und die Lektionen aus der Geschichte sind ohnehin fragwürdig. So ist man geneigt anzunehmen, dass im Jahr 2092 nicht mehr viel Aufhebens um den 12. Oktober gemacht werden wird, dass ein Gedenken an die Leistung des visionären Seefahrers vor dann 600 Jahren in der Aufregung noch unbekannter Wirren oder in der Indifferenz einer überforderten Zeitgenossenschaft untergehen dürfte. Die Zeit wird wie jeden Gipfel auch dieses Ereignis einebnen.

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Ill Bemecker, Walther LVJosé Manuel López. 1992. »Lateinamerikaforschung in der Schweiz«. In: Werz 1992: 849-886. Bernecker, Walther L. (Hg.). 1992. En tomo al Quinto Centenario. 1492-1992. Posiciones y controversias. Ibero-Amerikanisches Archiv, NF, Jg. 18 (Berlin 1992), Heft 3-4. Briesemeister, Dietrich/ Heinz Joachim Domnick (Hg.). 1992. Amerika 1492-1992. Neue Welten Neue Wirklichkeiten. Braunschweig: Westermann. Bd. 1 Katalog; Bd. 2 Essaysammlung. Drekonja-Komat, Gerhard. 1992. Lateinamerikaforschung in Österreich. In: Werz 1992: 825-848. Ferno, Renate/Wolfgang Grenz. 1980. Handbuch der deutschen Lateinamerika-Forschung. Institutionen, Wissenschaftler und Experten in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West), Neuere Veröffenüichungen. Hamburg: ADLAF/lnstitut für Iberoamerika-Kunde. Dazu Ergänzung 1981. Grenz, Wolfgang (Hg.). 1993. Deutschsprachige Lateinamerika-Forschung. Institutionen, Wissenschaftler und Experten in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Neuere Veröffentlichungen. Frankfurt/M.: Vervuert. Heydenreich, Titus (Hg.). 1992 Columbus zwischen zwei Welten. Historische und literarische Wertungen aus flinf Jahrhunderten. Frankfurt/M.: Vervuert (Lateinamerika-Studien·, 30, l/ll). Höfer, Brani et al. (Hg.). 1990. Das Fünfhundertjährige Reich. Emanzipation und lateinamerikanische Identität: 1492-1992. Bonn: Pahl-Rugenstein. Das Buch hat im selben Jahr 1990 drei Auflagen erlebt, mit einer Gesamtauflage von 6 5(Ю Exemplaren, deren Rest 1994 verramscht wurde. Iñigo Madrigal, Luis (ed.). 1993. De un centenario a otrolD'un centenaire à l'autre, V Jornadas de literatura hispanoamericana (1992). Genf: Fundación Simón I. Patiño, spanisch und französisch. Kaller, Martina/Stefanie Reinberg. 1993. Doppelheft 44/45 (1993) der Zeitschriftßr LateinamerikaWien. Kohut, Karl (Hg.). 1991. Der eroberte Kontinent. Historische Realität, Rechtfertigung und literarische Darstellung der Kolonisation Amerikas. Frankfurt/M.: Vervuert. López de Abiada, José Manuel. 1993. Voces en tomo a una polémica: Los escritores hispanos frente al V Centenario. In: Iñigo Madrigal 1993: 43-55. Nebenzahl, Kenneth. 1990. Columbusatlas. Braunschweig: Westermann. Provost, Foster. 1990. Columbus: An Annotated Guide to the Study of his Ufe and Writings. 1750 to 1988. Providence: John Carter Brown Library. Rojas Mix, Miguel. 1991. Los doscientos nombres de América. Eso que descubrió Colón. Barcelona: Lumen. Siebenmann, Gustav/André Herrmann. 1978. Verzeichnis der Spanien, Portugal und Lateinamerika betreffenden Schweizer Hochschulschriften auf dem Gebiet der Geistes- und Sozial Wissenschaften. In: Iberoromania-, 8 (Dezember 1978): 118-139. Siefer, Elisabeth (Hg.). 1971. Neuere Deutsche Lateinamerika-Forschung. Institute und Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West). Hamburg: Dokumentationsleitstelle der ADLAF am Institut für Iberoamerika-Kunde. Werz, Nikolaus (Hg.). 1992. Handbuch der deutschsprachigen Lateinamerikakunde. Freiburg i. Br: Amold-Bergstraesser-lnstitut.

Gachupines und Cholos oder Wie Spanier und Lateinamerikaner sich mochten

Unser Suchbild Lateinamerikas bewegt sich, wie der Leser bemerkt hat, auf der Achse Deutschsprachige - Lateinamerikaner. Dennoch mussten - aus einsichtigen, nämhch historischen Gründen - auch die Beziehungen zwischen Spanien und Spanisch-Amerika immer wieder erwähnt werden. Die Verbindung zwischen dem deutschen Kulturraum und Lateinamerika verlief, wie wir sahen, jahrhundertelang über Spanien. Deshalb muss uns auch interessieren, wie Spanien und Lateinamerika zueinander standen. Nun wäre es vermessen, auf einigen wenigen Seiten sämtliche Bilder zu beschreiben, die sich Spanier und Lateinamerikaner voneinander machten, selbst wenn wir uns auf das 20. Jahrhundert beschränken. Andererseits ist bekannt, dass die mentalen Bilder nicht spontan entstehen, sondern immer unter bestimmten Umständen, in ihrer circunstancia, wie Ortega gesagt hätte. Es können dies persönliche Begegnungen auf Reisen sein, aber auch Einstellungen, die aus einem konkreten sozialen Umfeld hervorgehen, sei es die Familie, die Erziehung, der Beruf oder die Emigration, seien es auch nur Einflüsse aus der Lektüre bestimmter Texte. Ich kann mich deshalb dem weiten Thema nur tastend nähern und beschränke mich auf einige wenige Bezugsfelder und auf die Beschreibung exemplarischer Fälle. Auf das ergiebige Feld eines Vergleichs der Zentenarfeiem der Entdeckung bin ich schon vorher eingegangen, desgleichen auf die für mein Thema aufschlussreiche Geschichte der Bezeichnungen Lateinamerikas. So werde ich mich hier auf die folgenden Aspekte beschränken: auf die Erfahrungen mit der transatlantischen Emigration, auf das bürgerkriegsbedingte Exil von Spaniern in Übersee, auf einige Fälle der literarischen Thematisierung Spanisch-Amerikas, auf die Lateinamerikanistik an spanischen Universitäten und schliesslich nochmals auf den literarischen Boom und die damit entstandene kulturelle Rivalität zwischen den beiden Sprachpartnem. Die Massenemigration spanischer Arbeiter und Bauern nach Amerika fand ihren Höhepunkt gegen Ende des 19. und im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Doch es war ein lange anhaltender Strom. Carlos M. Rama (1982) schätzt, dass zwischen 1821 und 1932 etwa fünf Millionen Spanier nach Übersee ausgewandert sind. Dennoch ist, soweit ich sehe, der Einfluss dieser vor allem aus wirtschaftlichen Gründen erfolgten Auswanderung auf das Lateinamerikabild der Spanier bescheiden. Der Hauptgrund dafür liegt in dem banalen Umstand, dass die Rückmeldungen der Emigranten - es waren zum grossen Teil Analphabeten - kaum je schriftlich festgehalten wurden, es sei denn in den selten erhaltenen persönlichen Briefen. Auf Untersuchungen solcher Briefwechsel für das 20. Jahrhundert bin ich nicht gestossen. Hingegen kann man empirisch gewisse Reaktionen auf spanischer Seite beobachten, bei den in der Heimat Verbliebenen. Es keimten bei diesen bestimmte (und verständliche) Gefühle auf: Trauer, Trennungsschmerz, Groll, Selbstmitleid, eigene Minderwertigkeit oder auch Neid. Solche negativen Empfindungen sind dann oft pauschal auf die Ursache »Amerika« projiziert worden. Dieses war schliesslich schuld an dem Leid einer vielleicht lebenslangen Trennung. Es mochte auch Wut entstehen bei mangelndem Erfolg des Emigranten oder Neid auf steinreich zurückkehrende americanos. Es waren Gemütsregungen, die im ländlichen Spanien von damals zum Alltag gehörten.

114 Zumal der letztgenannte Fall gibt Anlass zu einer Anekdote, die sich auch sprachlich niedergeschlagen hat. Der Volksmund erfand als Spottnamen für reiche und protzige Rückwanderer aus Amerika das Wort haiga, und da diese in ihrer Heimatgegend mit teuren Amerikanerautos herumfuhren, galt der Spitzname auch für diese Blechwolken. Bei diesem Wort handelt es sich um eine Satire auf den oft ungebildeten Umgang der Neureichen mit ihrer Sprache: haiga ist eine falsche Beugungsform für den Konjunktiv des Verbs haber, die korrekterweise haya heisst, eine falsche Analogie zum Konjunktiv von traer: traiga. Ich habe selber diesen Spottnamen in meinen frühen Spanienaufenthalten in den Vierziger- und Fünfzigeijahren noch öfters gehört. Inzwischen ist er nicht mehr gebräuchlich, doch das Wort ist immerhin in Moliners Wörterbuch registriert. Kurios ist dabei, dass der Spott von Spaniern auf Spanier gerichtet war, aber auf Rückwanderer, auf sogenannte americanos. Und wenn wir schon bei den sprachlichen Diskriminierungen sind: Für die in Spanisch-Amerika eingewanderten Spanier haben die dort schon länger Ansässigen, die sich selber criollos nennen, den Spottnamen cachupín oder gachupín bereitgehalten, in Argentinien die Variante godos, und sie taten damit ihre Verachtung kund. Nur den nach dem spanischen Bürgerkrieg exilierten Spaniern blieben solche Übernamen erspart. Auf der anderen Seite, in Spanien, hielt man für den physisch als Lateinamerikaner Erkennbaren das rassistisch diskriminierende indio bereit, für den Mestizen das Wort cholo, ein Lehnwort vermutlich aus der AymaráSprache, das sich schon in der Nueva Coránica des Guamán Poma de Ayala findet (um 1613). In den Andenländem kann cholo, vor allem im Diminutiv cholito, cholita, auch sympathisch gemeint sein. Den grossen peruanischen Dichter César Vallejo (1892-1938) nannten seine lateinamerikanischen und spanischen Freunde in seiner Pariser Zeit zärtlich »el cholo Vallejo«. Nicht aus dem spanischen Volksmund stammt hingegen das ergreifende Zeugnis, das der unlängst verstorbene Lyriker José Hierro (1922-2(Ю2) in seinem »Réquiem« festgeschrieben hat. Das Gedicht ist aus einer Umfi-age als das derzeit in Spanien beliebteste hervorgegangen. Selbstmitleid der Spanier angesichts von vergangener Grösse, Erbarmen mit einem tristen Emigrantenschicksal, gelinde Verachtung für ein geschäftstüchtiges Amerika und viel Mitmenschlichkeit sprechen aus diesen Versen, die ich wie folgt übersetzt habe: Requiem Manuel del Río, spanischer Staatsbürger, ist am Samstag, den 11. Mai, an den Folgen eines Unfalls gestorben. Seine Leiche liegt aufgebahrt im D'Agostino Funeral Home. Haskell. New Jersey. Eine gesungene Messe wird zelebriert um 9.30 in St. Francis. Es ist eine Geschichte, die anfängt mit Sonne und Stein und die endet auf einem Tisch im D'Agostino, mit Blumen und elektrischen Kerzen. Es ist eine Geschichte, die anfängt an d e m einen Ufer des Atlantiks.

115 Sie geht weiter in einer Kajüte dritter Юа88е, auf den Wellen - über den Wolken - jenes Landes, das schon vor Plato überflutet war. Sie findet ihr Ende in Amerika mit einem Kran und in einer Юinik, mit einer Todesanzeige und einer gesungenen Messe in der Kirche St. Francis. Letztlich ist es eineriei, wo man stirbt: ob unter Rosmarinduñ, ob in der Stein- oder Schneegruft, ob in petrolverseuchtem Boden. Es ist einerlei, ob ein Körper zu Stein wird, zu Petrol, zu Schnee oder Wohlgeruch. Das Schmerzliche ist nicht, hier oder dort zu sterben... Requiem aetemam, Manuel del Río. Über dem Marmor im D'Agostino weiden die Stiere Spaniens, Manuel, und die Blumen (Begräbnis zweiter Klasse, der Sarg riecht nach Tannen im Winter), vierzig Dollar. Und man hat ein paar künstliche Blumen unter die andern gemischt, die aus dem Garten ... Libera me Domine de morte aetema ... Wenn dann James stirbt oder Jacob, kriegen sie die Blumen, die Giulio oder Manuel bezahlt... Jetzt greifen Adlerfänge nach Deinen Bergen. Dies irae. Was schmerzt, ist nicht Dies illa hier oder dort zu sterben, sondern ohne Ruhm... Deine Ahnen haben den Erdkreis befruchtet, ihn getränkt mit Abenteuer. Fiel ein Spanier, so war die Welt versehrt. Die Totenwache nicht im D'Agostino Funeral Home, sondern zwischen Lagerfeuern, Rossen und Waffen. Helden für immer. Statuen mit verwittertem Gesicht. Noch gekleidet in die Papageifarben von Macht und Phantasie.

116 Er ist nicht so gefallen. Er ist nicht für eine schöne Torheit gestorben. (Längst stirbt der Spanier namenlos und vernünftig oder in herzbrechendem Wahnsinn unter Brüdern: sticht er in Weinschläuche, fliesst Bruderblut). Er kam eines Tages, weil sein Land arm ist. Die Welt Libera me Domine als Heimat. Und nun ist er tot. Er hat keine Städte gegründet. Er gab keinem Meer seinen Namen. Er ist einfach für siebzehn Dollar (er dächte in Peseten) gestorben Requiem aetemam. Und im D'Agostino kommen zu ihm die Polen, die Iren, die Spanier, was da so stirbt an einem Weekend. Requiem aetemam. Endgültig ist alles vorbei. Sein Leichnam hingestreckt im D'Agostino Funeral Home. Haskell. New Jersey. Eine Messe wird gesungen für seine Seele. Ich habe hier bloss über eine Todesanzeige in einer New Yorker Zeitung nachgedacht. Objektiv. Ohne Schwung im Vers. Objektiv. Ein Spanier wie Millionen von Spaniern. Dass mir die Tränen zuvorderst, habe ich keinem gesagt. Aus Cuanto sé de mí, 1957. Trauer und Wut und noch immer Wehmut ob der längst vergangenen Grösse Spaniens, auch leisen Spott über die Amerikaner hören wir heraus. Die Beliebtheit dieses Gedichts sagt einiges aus über die Befindlichkeit der Spanier von heute und ihre Einstellung zu »Amerika«. Die im 20. Jahrhundert folgenreichste Emigration von Spaniern nach Amerika war die von Intellektuellen, Dichtern und Politikern des republikanischen Lagers nach dessen Niederlage im spanischen Bürgerkrieg (1931-1939). Der Fall Mexiko ist dabei besonders aufschlussreich, da dort eine grosse Anzahl spanischer Exilanten Zuñucht gefunden hatten. Mexiko hat damals, vor allem dank den Initiativen des Dichters und Historikers Alfonso Reyes, den Flüchtlingen einen äusserst grosszügigen Empfang bereitet. Die Bestrebungen mündeten in der Gründung einer sogenannten Casa de España, die 1938 auf Initiative von Präsident Lázaro Cárdenas erfolgte. Daraus entstand 1 9 4 0 das n o c h heute r e n o m m i e r t e

117 Colegio de México, eine Kaderschmiede für den akademischen Nachwuchs im Lande. Die unglaubliche intellektuelle Aktivität spanischer Exilanten wird erkennbar aus der Bibliographie, die Julián del Amo y Charmion Shelby (1950) zusammengestellt haben: Zwischen 1936 und 1945 werden über 500 spanische in Amerika weilende Autoren aufgeführt und mit Tausenden von Druckschriften registriert. Die Rückkoppelung dieser Exilproduktion in FrancoSpanien war aus verständlichen Gründen null oder negativ. Das demokratische Spanien hat erst nach Francos Tod (1974) nach und nach über die diplomatischen und kulturellen Institutionen wieder eine Annäherung an die amerikanischen Republiken geschafft. Auf der anderen Seite kann ich aus persönlicher Erinnerung berichten, dass Franco-Spanien schon früh versuchte, sich bei den Spanisch-Amerikanem beliebt zu machen. Im Sommer 1947 wurden von einzelnen Universitäten Spaniens auf Geheiss des Aussenministeriums in Madrid erstmals wieder Kurse für Ausländer angeboten, unter anderen der Ferienkurs im andalusischen La Rábida am Rio Tmto. Ein vierwöchiger Kurs, zu dem gezielt Studenten aus Spanisch-Amerika eingeladen wurden, nebst einigen Stipendiaten der Universität Sevilla. Francisco Márquez Villanueva, heute ein renommierter Harvard-Hispanist, war damals mein Zimmernachbar. Ein Student aus England und ich waren die einzigen Teilnehmer aus dem übrigen Europa. Die Behandlung von uns Ausländem durch den Direktor, Vicente Rodríguez Casado, war damals höchst diplomatisch und geschickt, während die Dozenten, mehrheidich Franco-Anhänger, auf penetrante Weise um die Sympathie zum Diktator buhlten. Jedenfalls war es ein offenkundiger Versuch, die zahlreich teilnehmenden Lateinamerikaner für FrancoSpanien einzunehmen. Wenn ich fortfahre mit dem Thema des spanischen Exils nach dem Bürgerkrieg, gilt es gleich festzustellen, dass die Einstellung der Flüchtlinge gegenüber dem spanisch-amerikanischen Asylland und seinen Einwohnern keineswegs einheitlich war und auch nicht sein konnte. Diese Fälle sind für unser Thema besonders interessant, denn in dem so gegebenen direkten Kontakt mit Spanisch-Amerikanem wurde der eingewanderte Spanier unausweichlich konfi^ontiert mit den mentalen Bildern, die er aus Spanien mitgebracht hatte. Diese waren nun zu verifizieren oder zu falsifizieren. Das Thema war ein beliebter Forschungsgegenstand. Marielena Zelaya Kolker hat in ihrem Buch (1985) drei hauptsächlich zu beobachtende Einstellungen der Exilanten gegenüber dem Gastland festgestellt. Erstens gab es die fiiedfertige und gelassene Einstellung jener, die sich wie zuhause fühlten, vor allem der gemeinsamen Sprache wegen. Ein Extremfall in diesem Sektor ist der Philosoph José Gaos, der frühere Rektor der Zentraluniversität in Madrid. Im mexikanischen Exil suchte er enthusiastisch die Integration aller Spanischsprechenden zu betreiben. Dank der gemeinsamen Sprache sollte sich über die katholische Identität hinaus ein Nationenkollektiv bilden, wo es keine expatriados, sondern nur noch empatriados geben sollte (Kolker 1985: 17). Die Schriftsteller, auch wenn sie sich auch als empatriados empfanden, als Eingebürgerte, waren realistischer als Gaos. Ein exemplarischer und besonders beredter Zeuge dafür war der spätere Nobelpreisträger Juan Ramón Jiménez, der zweiundzwanzig Jahre im Exil verlebt hat. Nach seinem langen Aufenthalt in den USA lebte er für drei Jahre in Argentinien, von 1948 bis 1951, und dort schrieb er einen Text mit dem Titel »Das spanische Wunder«. Dort lesen wir: »Ich bin kein meiner Sprache (deslenguado) noch meines Landes Beraubter {desterrado), sondern ein Einbezogener (conterrado)... Jetzt [in Argentinien] bin ich glücklich, oh Mutterland Spanien, denn jetzt kann ich sprechen und schreiben wie damals, als ich in deinem Schoss und an dei-

118 пег Brust lag (1948: 308). Ein solches Zugehörigkeitsgefühl konnte auch von der rein sprachlichen Gemeinsamkeit absehen und existenzielle Dimensionen annehmen, wie z. B. bei José Moreno Villa. Dieser hatte mit einer Mexikanerin einen Sohn gezeugt und wurde ganz und gar Mexikaner. Auch der Dichter Luis Cernuda hat im Verlaufe seines Exils eine Entwicklung durchgemacht, vom zunächst kühlen Interesse zur Sympathie bis hin zu einer regelrechten Liebe zu Spanisch-Amerika, wie wir seinen »Variaciones sobre un tema mexicano« (1952) entnehmen können. Für die professoralen Dichter wie Jorge Guillén und Pedro Salinas gilt, dass sie sich vor allem dank ihrer akademischen Tätigkeit im Exil sehr schnell zurechtfanden. Salinas hat dem Meer von Puerto Rico in seinem Langgedicht El contemplado (1946) eine ergreifende Hommage gewidmet, und dies mit einer Heiterkeit, die keinen einzigen Klagelaut zulässt über sein Exilantendasein. Zu einem zweiten Typus gehören jene Exilspanier, die an ihrer mentalen Entwurzelung litten. Francisco Ayala ist ein Beispiel dafür. In seinem Exil hat er so traumatisierende Empfindungen hinnehmen müssen, dass nahezu von einer psychischen Instabilität gesprochen werden kann. In seinen luziden Momenten erkannte er, dass die eigentlichen Schranken zwischen Spanien und Spanisch-Amerika aus dem Geist des Nationalismus entstanden waren, und zwar beiderseits, und er fügt in ehrlicher Selbstkritik bei, dass an der Aversion der ausgewanderten Schriftsteller vor allem die hartnäckige Verkennung der Vorzüge des Gastlandes schuld sei. Doch er kann nicht umhin, an der »intrinsischen Überlegenheit seines traurigen Vateriandes [Spaniens]« festzuhalten (1971: 150, 152). Der extremste Fall einer radikalen Abneigung gegen alles Amerikanische ist der Literaturkritiker und Autor Segundo Serrano Poncela. Zunächst schreibt er triste Novellen aus den Tropen der Karibik und Venezuelas mit ihrem für Europäer vernichtenden Klima, dann schreibt er seinen einzigen Roman, Habitación para hombre solo (1963), ein von Hass und Verachtung geprägter Bericht über ein fiktives Mexiko. Der häufigste Typus der Exilierten ist der dritte: Es sind jene, die sich an das Leben in der Neuen Welt schlecht und recht anpassten und doch dem quälenden Heimweh nach Spanien nicht entrinnen konnten. Die psychologische Folge war üblicherweise eine mehr oder weniger deutliche Abweisung gegen alles Spanisch-Amerikanische. So verhielten sich vor allem die Dichter, wenngleich nicht alle. Exemplarische Zeugen dafür sind der Juan Ramón Jiménez des ersten Exils (in den USA, 1936-1948) sowie Rafael Alberti und seine Frau Maria Teresa León, die ein halbes Leben in Argentinien verbrachten. Allein schon der Titel von Albertis Memoirenbuch La arboleda perdida (Der verlorene Hain) spricht von unwiederbringlichem Verlust und von seiner Sehnsucht nach der lichtvollen Bucht von Cádiz. Und Maria Teresa León schreibt in ihrer Memoria de la melancolía - auch dies ein redender Titel: »Ich bin es leid, nicht zu wissen, wo ich sterben werde. Das ist die grösste Trauer eines Emigranten« (1979: 31). Es gab auch ein nicht minder schmerzhaftes Mittelding: die Exilanten, die sich zwischen zwei Neigungen nicht entscheiden konnten, die dem verlorenen Spanien ebenso nachtrauerten wie, nach ihrer Rückkehr, dem verlassenen Gastland. Kronzeuge dafür ist León Felipe, mit seiner endemischen Unentschlossenheit, ob er nach Spanien zurückkehren sollte oder nicht. Zuletzt hat er erst auf der Treppe der Iberia-Maschine in Mexiko noch kehrtgemacht und ist geblieben. Ich möchte noch drei Fälle von Exilspaniem anführen, die wegen ihrer Radikalität Einzelfälle sind und der soeben vorgeführten Trilogie nicht entsprechen. Ramón Sender, der länger

119 in den USA als in einem Spanisch sprechenden Land exiliert war, hat aus seiner Metaphysik der Einsamkeit den Schluss gezogen, soledad sei jedem hispanischen Wesen eingeschrieben und es mache keinen Unterschied, ob sie Stammländer, Amerikaner oder Exilanten seien. Ein zweiter Fall ist Max Aub. In seinem umfangreichen Erzählwerk, obschon dieses zur Hauptsache in Mexiko geschrieben wurde, finden wir kaum Spuren dieses Gasüandes. Mit Ausnahme von El zopilote y otros cuentos mexicanos (1964) spielen seine Romane und Novellen, auch das Theater, wenn sie denn überhaupt einen Ort kennen, in Spanien, und dies ohne Sehnsuchtsempfindung. Es mag sein, dass dieser in Paris geborene Spanier, Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter, ein kultureller Adoptivsohn Spaniens vielleicht, keine Unterschiede wahrnehmen mochte zwischen Spanisch-Amerikanern und Spaniern, denn »es sind alles Spanier unterschiedlicher Clane« (Kolker 1985: 37). Aub empfand ein stärkeres Heimweh nach Mexiko als er zu Besuch in Spanien war als umgekehrt, wie seinem Buch La gallina ciega (1979) zu entnehmen ist. 1969, als er noch ganz und gar ein begeisterter Anhänger der Revolution Fidel Castros auf Kuba war, schrieb er den berühmt gewordenen Satz: »Die [wahren heutigen] Spanier sind für mich die Kubaner« (Enem en Cuba, 1969:54). Der Fall von Juan Larrea (1895-1980) ist so singulär, dass ich ihn hier nicht übergehen darf, obschon er streng genommen und aus imagologischer Sicht - angesichts seiner schwachen Ausstrahlung - für unser Thema nur eine geringe Relevanz hat. Nur soviel in Kürze: Der schon früh nach Frankreich und später nach Spanisch-Amerika ausgewanderte Apotheker aus Bilbao ist als Autor in deutscher Übersetzung nicht vorhanden. Immerhin hat man heute eine Homepage unter seinem Namen eingerichtet (www.epdlp.coni/larrea.html). Den Hispanisten ist er bekannt als surrealistischer Poet (Versión celeste, Mailand 1969 und Barcelona 1970) sowie als engster Freund César Vallejos und als Herausgeber einer Gesamtausgabe seiner Lyrik (Barcelona 1978). Larreas visionäre und apokalyptische Texte hingegen sind weitgehend unbekannt geblieben. »Rendición de espíritu« und »Teleología de la cultura« sind zunächst 1965 in Mexiko erschienen und danach erneut publiziert worden in seiner in Córdoba erscheinenden Zeitschrift Лм/а Vallejo (13 Nummern zwischen 1961 und 1974). In Spanien sind diese Schriften Larreas kaum bekannt geworden, obschon Cristóbal Serra dort eine Auswahl veroffentìicht hat mit dem Titel de visión (Barcelona 1979). Es kann wohl sein, dass die bittere Anklage dieses Altrepublikaners für die Spanier zu fiiih kam, als die Wunden in der spanischen Gesellschaft noch nicht vernarbt waren. Unermüdlich wiederholte er seine Vorwürfe an den spanischen Adel, das Militär und den Юеш$, sie seien die Schuldigen an der Katastrophe von 1936-1939. Was nun Larreas Verhältnis zu Lateinamerika anbelangt, muss man wissen, dass er seine durchaus singuläre »Entdeckung« Amerikas von Frankreich aus machte, wo er seit 1926 wohnte. Im Kreise der Surrealisten war auch er auf die Utopie »Amerika« gestossen. Auf einer Reise nach Peru (1930/31) hat er die Originalität der inkaischen Kunst entdeckt (dazu seine Anthologie Corona incaica, Córdoba, Arg. 1960). Aufgrund dieser ganz persönlichen Erfahrung der Neuen Welt hat er eine durchaus individuelle und originelle Interpretation Spaniens und seiner kulturellen Mission entwickelt. Er bezeichnete sie selber als »apokalyptisch«, und zwar deshalb, weil er aus dem biblischen Buch der Apokalypsis eine schematische Achse ableitet: Von Jerusalem aus führt sie über Rom, Santiago de Compostela, Finisterre in die Neue Welt hinüber, wobei er Santiago und damit Spanien eine besondere Mission zudachte. Er hat seine Theorie vor allem in der erwähnten »Teleología de la cultura« zusammengefasst. Unvergesslich ist mir die Begegnung mit Larrea

120 am 21. August 1971 im argentinischen Córdoba. Nachdem er mich in seinem klapprigen Wagen in das Sterbehaus Manuel de Fallas gefahren hatte und nach einem Abendessen beim Leiter des Goethe-Instituts sind wir bis in die tiefe Nacht hinein auf den Strassen und Plätzen Córdobas umhergewandert. Larrea redete und gestikulierte ununterbrochen und malte seine apokalyptische Vision mit rudernden Armbewegungen aus, hinauf zum Himmelszelt, wo die Milchstrasse - für die Spanier ein Camino de Santiago - den Weg in eine neue, heilere Welt wies. So schmeichelhaft diese Spekulationen im Grunde für die Lateinamerikaner sein mochten, die Universität Córdoba, wo Larrea zunächst ein Instituto del Nuevo Mundo hatte gründen und leiten dürfen, setzte schliesslich solchen pseudo-wissenschaftlichen Tätigkeiten ein Ende. Larrea ist im Exil gestorben, verbittert zwar, doch mit einer unverbrüchlichen Treue zu seinen visionären Theorien. In unserem Kontext stellt der Fall einen Ausnahmefall dar: Es ist immerhin eine panhispanische Vision, wonach die geistige und kulturelle Zukunft Spaniens erst in Amerika ihre Erfüllung fände. Nach diesem Überblick stellt sich die Frage, ob denn die Schlussfolgerung von Norbert Rehrmann (1996) zutrifft, wonach die Franco-Spanier und die Exil-Spanier sich hinsichtlich ihrer Einschätzung von Lateinamerika viel weniger unterschieden, als man annehmen möchte. Dies mag wohl zutreffen, doch aus imagologischer Sicht muss ein gewichtiger Unterschied festgehalten werden. Den Aussagen der Exil-Spanier, die jene Region und ihre Menschen aus eigener Anschauung und eigenem Erleben kannten, kommt mehr Gewicht zu als den Einschätzungen der in Spanien Verbliebenen, die auf die herkömmlichen stereotypen Visionen angewiesen waren. So unterschiedlich und individuell die Reaktion der Exilanten auf den Zusammenprall ihrer Erwartungen und ihrer Erfahrungen sein mochte, sie haben immerhin davon schriftlich Zeugnis abgelegt, so dass es dauerhafte Dokumente geworden sind. Es darf angenommen werden, dass nach der Öffnung von 1962 einiges von diesen Publikationen der Exilspanier in Spanien gelesen und zur Kenntnis genommen wurde. Wahrscheinlich haben auf diese Weise die Publikationen im Exil auch auf die Mentalität der Spanier nach Francos Tod Einfluss genommen, zur Korrektur oder zur Bestätigung des dortigen Lateinamerikabildes. Nehmen wir jetzt noch die Spuren in den Blick, die Spanisch-Amerika im Werk einiger repräsentativer Schriftsteller hinteriassen hat, die jene Region gar nicht oder nur vorübergehend besucht haben. Als ersten erwähne ich Miguel de Unamuno (1864-1936), wohl wissend, dass er nie über den Atiantik gereist ist. Ich tue es deshalb, weil er unbeirrbar davon überzeugt war, dass es zwischen der Iberischen Halbinsel und dem Iberischen Amerika keinen Unterschied gebe. Als Panhispanist beweist er in seinen »Letras hispanoamericanas, 1894-1924« zwar ein überraschend gutes Verständnis für die in Amerika entstandenen Literaturen. Doch die literarische Bewegung des sogenannten modernismo hat er nicht verstanden oder nicht verstehen wollen. Ein Grund mag darin liegen, dass mit dem modernismo erstmals ein literarischer Einfluss aus Amerika in Spanien wirksam wurde. So ist denn dort auch eine deuüiche Gegenbewegung entstanden, die sogenannte Generation von 98. Sie suchten eine Regeneration Spaniens aus der eigenen Tradition heraus, so dass sie die herkömmliche Verachtung der spanischen Traditionshüter für die »dekadenten« Dinge aus Amerika beibehielten (dazu Mainer 1988). Der berühmteste Vertreter der spanischen Literatur im 20. Jahrhundert, der einige Zeit in Spanisch-Amerika weilte und sich mit der Sprache und den Zuständen dort befasst hat, ist

121 Ramón del Valle-Inclán (1866-1936). Dieser extravagante Galicier ist 1892/93 ein erstes Mal nach Mexiko und nach Argentinien gereist und 1922 wieder, nach Mexiko. Aus diesem Aufenthalt ist sein berühmter Roman Tirano Banderas hervorgegangen, mit dem Untertitel »Roman aus einem hitzigen Land« (1926). Mit diesem fíktionalen Erzählwerk hat der Autor die lange Serie der lateinamerikanischen Diktatorenromane eröffnet, und zwar in singulärer Weise. Dem Romancier ist der Kunstgriff gelungen, ein synthetisches und doch realistisches Zerrbild lateinamerikanischer Diktaturen zu entwerfen und gleichzeitig Elemente des amerikanischen Spanisch in seine Landessprache einzuführen. Der Sprachkenner Alonso Zamora Vicente hat den Fall ganz klar beurteilt: »Es gilt jetzt vor allem hervorzuheben, wie sich durch ein breites Tor und für immer dieser gesamte [amerikanische] zuvor verachtete Sprachschatz in das Panorama der edlen Literatur spanischer Sprache eingeführt hat... [Die Amerikanismen] gehören seither zur Hispanität, als eine ihrer besonderen Seinsformen« (1958: 127). Die Aussage verrät zugleich, wie selbst dieser unvoreingenommene liberale Spanier bis dahin das überseeische Spanisch beurteilt hatte. Die kulturelle Bresche, die der galicische Romancier und Dramaturg für das amerikanische Spanisch geschlagen hat, sollte sich nicht mehr schliessen. Ein weiterer bemerkenswerter Fall ist der von José Ortega y Gasset (1983-1955). Er ist dreimal nach Spanisch-Amerika gereist. Das erste Mal 1916 nach Buenos Aires und Montevideo. Hinterher beurteilte er jene Gesellschaften als »ein klares Versprechen« und stimmte so dem Topos zu, dass jenen Ländern eine grosse Zukunft bevorstehe. Indes, als Ortega 1928 in die gleiche Region und dann noch nach Santiago de Chile gereist war, kam er deutlich skeptischer zurück. Er hat später nochmals einige Jahre in der argentinischen Hauptstadt verbracht, von 1939 bis 1942. Es war eine Art Flucht aus dem kriegsversehrten Spanien und aus dem kriegsverseuchten Europa. Er hatte auch gehofft, es würde ihm eine Professur für Metaphysik an der dortigen Universität angeboten, vergeblich. Womöglich schlug er deshalb gegenüber den Argentiniern nun andere Töne an: Er sagte zwar nach wie vor, es handle sich um »junge Völker«, doch dies war nun keineswegs mehr ein Euphemismus. Er meinte damit vielmehr, dass jene Leute unbeherrscht und ihren Leidenschaften ausgeliefert seien, halt eben »Jugendliche«. Er erfand damals, möglicherweise unter Einfluss von Graf Keyserling, jene Formel, die dem Bild Lateinamerikas in Europa so sehr Schaden zugefügt hat: Jener Kontinent sei nämlich nicht Geschichte sondern Natur. Zudem glaubte Ortega zu beobachten, dass in jener Gesellschaft noch immer eine gewisse »koloniale« Situation weiterbestehe. Er meinte damit, dass die Spanisch-Amerikaner ex ante lebten, im Vorgriff also auf Künftiges, wodurch sich angeblich erklären liesse, dass man dort drüben die elementarsten Gesetze der Ökonomie missachtet. Angesichts des argentinischen Desasters von heute war dies leider eine zutreffende Prophezeiung. Ferner spricht Ortega nach dieser dritten Reise davon, er habe eine gewisse Primitivität und einen moralischen Relativismus beobachtet. Er meinte zudem einen Kontrast zwischen Stadt und Land (lies: Pampa) festzustellen, zugunsten letzterer, denn für ihn war der Betrieb in den Faktoreien, in den Unternehmungen, in den Kühlhäusern geprägt von grosser Dreistigkeit, aber auch von Derbheit und Hast. Trotz diesem laus runs, das bei einem Stadtmenschen wie Ortega kaum überrascht, hat er sich für das ländliche Amerika überhaupt nicht interessiert, ebenso wenig für die in den argentinischen Anden lebenden Indios. Dennoch: Ortega fand in Spanien als Leiter der berühmten Revista de Occidente und als vielgelesener Schriftsteller mit seinen schwankenden Ansichten über Spanisch-Amerika eine

122 grosse Audienz. Nicht von Ungefähr sind seine »amerikanistischen« Werke, die in El espectador (1916-1934) versammelt sind, unter Lateinamerikanern sehr zurückhaltend aufgenommen worden, im Gegensatz zu den anderen Schriften des Denkers und Philosophen. Der nächste für uns interessante Fall - das 20. Jahrhundert war schon weiter fortgeschritten - ist Camilo José Cela (1916-2002), spanischer Nobelpreisträger von 1989. Die Regierung Venezuelas hatte den Romancier in der Hoffnung eingeladen, er würde nach einem längeren Aufenthalt im Lande wiederum einen Roman »aus einem hitzigen Land« schreiben. Das Resultat war La catira (1955). Ähnlich wie Valle-Inclán etwa dreissig Jahre früher versucht hier Cela, dem amerikanischen Spanisch näher zu kommen. Indes, der Roman ist ihm zur Satire geraten, aus soziolinguistischen Gründen: Cela hat Sprachgut aus Venezuelas niedrigsten Schichten verwendet, in überreicher Zahl. In der Tat musste er dem Buchtext ein Lexikon mit Hunderten von Amerikanismen anhängen, damit dieser in Spanien überhaupt lesbar würde. Zudem hat er so ausgefallene Personennamen erfunden, dass sie in Venezuela nur als ironisch gelesen werden konnten. Der Autor musste mit diesem karibischen Abenteuer eine schroffe Rückweisung seitens seiner überseeischen Gastgeber hinnehmen. Auf der anderen Seite, auf der Halbinsel, ergab sich ebenfalls grosse Verlegenheit, doch zugleich Bewunderung für sein Sprachvermögen. Sogar Alonso Zamora Vicente, sonst ein vorbehaltloser Bewunderer Celas, meinte bei diesem Anlass: »Was für uns eine wunderbare Flurbereinigung bedeutet, mag auf der anderen Seite des Meers als eine Provinzialisierung erscheinen, als eine Herablassung, vielleicht als Abwertung« (1958: 119). Die Einstellung des stolzen und national-konservativen Cela konnten wir schon im Kapitel über die Namengebung Amerikas feststellen. Er setzte sich hartnäckig gegen ein »lateinisches« Amerika zur Wehr. - Wenn wir nun als Fazit diese Autoren-Fälle in eine Reihe stellen, könnten wir schliessen, dass die jeweilige Einstellung Spaniens gegenüber Spanisch-Amerika eine wachsende Abneigung erkennen lässt, wenn wir vom Sonderfall Larrea absehen. Trügt der Schluss? Besehen wir uns einen weiteren Sektor, an dem wir Mass nehmen können. Aufschlussreich für die Einstellung Spaniens zu Spanisch-Amerika ist die akademische Lateinamerikanistik. Auch hier könnte man weit mehr an Details bringen als hier möglich ist. Es sei deshalb bloss daran erinnert, dass die erste wissenschaftliche auf Lateinamerika spezialisierte Institution das Centro de Estudios de Historia de América war. Es wurde in den Anfängen der spanischen Republik von 1873 in Sevilla gegründet und in die dortige Universität integriert. Das tönt viel versprechend. Für die anderen Fakultäten, zumal für die Sprach- und Literaturforschung sieht es jedoch ganz anders aus. Bis weit in die 1950er Jahre hinein blieb der legendäre Lehrstuhl von Francisco Sánchez Castañer an der Universität Valencia weit und breit der einzige an einer Philosophischen Fakultät. Erst 1984 wurde an der alten Madrider Universität ein Kongress einberufen zum Thema der literarischen Beziehungen zwischen Spanien und Iberoamerika. Es war eine Art Uraufführung, die Luis Sáinz de Medrano zu verdanken ist, dem ersten Ordinarius für Lateinamerikanistik an dieser Universität. Er hat auch die Akten dieses denkwürdigen Treffens herausgegeben (1987). Inzwischen ist einiges anders geworden. Die noch junge Asociación Española de Estudios Literarios Hispanoamericanos hat 1998 ihren dritten Kongress einberufen, auf der Isla de Tabarca vor Alicante. Im Vorwort der Akten (2001) erwähnen die Organisatoren - Carmen Alemany Bay, Remedios Mataix Azuar und José Carlos Rovira - die Einsturzgefahr der Kirchendecke, unter der sich die Teilnehmer versammelten. Sie meinen beiläufig, dass »ein Unfall der spanischen Hispanoameri-

123 kanistik mehr Schaden zufügen könnte als in der Vergangenheit einige Meister und Mitläufer, die wir nicht näher benennen wollen« (2001: 14), eine deutliche Anspielung auf die desolate Lage des Faches in früheren Jahrzehnten. Die spanischen Universitäten sind allerdings nicht der einzige Ort, an dem sich eine positive Neuorientierung nach Lateinamerika erkennen lässt. Einige Verlagshäuser in Spanien haben sich gezielt für diese Region interessiert, auch ausserhalb der traditionellen literarischen Bereiche. Ein Beispiel unter anderen sind die sogenannten Clásicos de la Fundación Histórica Tavera in Madrid. Die Zukunft wird zeigen müssen, ob der spanische Buchmarkt endlich einen Nutzen aus der weltweiten Verbreitung der spanischen Sprache ziehen kann. In der Vergangenheit kennen wir diesbezüglich lauter Pleiten, wie Francisco Caudet in seiner Untersuchung der Verlagsbeziehungen zwischen Spanien und Spanisch-Amerika von 19301943 feststellen musste (in Sáinz de Medrano 1987: 141-149). Damit kommen wir zum letzten Sektor und nochmals zum Verlagswesen zurück. Es geht um den oft erwähnten Boom des lateinamerikanischen Romans. Dem ist vorauszuschicken, dass dieses Phänomen der Nueva Novela ein internationales war und dass es - wie erwähnt ausserhalb Spaniens früher wahrgenommen worden ist als in Spanien. Die chronologische Reihenfolge der Länder, wo diese Novität zuerst erkannt wurde und wo auch die ersten Übersetzungen erfolgten, lautet: Frankreich, Italien, Deutschland und England (Steenmeijer 1990). Spanien kam zuletzt. Hier interessiert uns deshalb die in Spanien zu beobachtende Reaktion auf dieses überraschende Phänomen. Als dieser Boom, der inzwischen Geschichte ist, gegen Ende der 1960er Jahre eine gewisse Virulenz erreichte, zeigten sich einige spanische Autoren bald einmal alarmiert durch den internationalen Erfolg. Es sind damals gleichzeitig zwei Bücher mit Interviews zu diesem Thema erschienen. Von Fernando Tola de Habich/Patricia Grieve: Los españoles y el boom (1971) das eine, das andere von Federico Campbell, mit dem aggressiven Titel Infame turba (»Ruchlose Meute«, 1971/1994). Auch wenn die in den Interviews Befragten ihre persönliche Meinung äusserten, lässt sich insgesamt doch ersehen, dass unter den spanischen Schriftsteilem ein grosses Staunen umging angesichts dieser unerwarteten literarischen Blüte. Zudem sind unterschwellige Anzeichen von xenophobem Neid unüberhörbar, denn der lateinamerikanische Boom war, wie gesagt, in anderen Ländern fniher bemerkt und beschrieben worden, dank einer hellsichtigeren, weniger voreingenommenen Literaturkritik. Ein pikantes Detail dabei ist die Tatsache, dass dieser Boom kommerziell in Spanien, genauer: in Barcelona zustande kam. Denn dort hatten wichtige Exponenten des Booms, Garcia Márquez, Vargas Llosa und einige andere, ihre Bestseller verlegen lassen. Auch hatten sich manche Autoren aus Lateinamerika vorübergehend in Spanien niedergelassen, zum Schreiben und zum Verhandeln. Barcelona, Hauptstadt des lateinamerikanischen Booms, wenn das kein Paradoxon ist. Dort übt auch eine besonders tüchtige Literaturagentin ihre Tätigkeit aus, Carmen Balcells. Die Wertschöpfung aus einem lateinamerikanischen Potenzial erfolgte diesmal in Spanien mit grösserem Erfolg als in Zeiten Karls V. Einzelne Schriftsteller aus Spanisch-Amerika haben dementsprechend reagiert, mit dem herkömmlichen Argumentarium der ehemals Kolonisierten und Ausgebeuteten. Diese Polemik ist heute verschwunden, wenngleich nicht ganz spurlos. Zum Beispiel schreibt Francisco Poirúa, ein Literaturkritiker aus Argentinien und Herausgeber des Briefwechsels von Julio Cortázar, in einem Interview - Monatsausgabe des ABC vom Dezember 2000 - , dass hin-

124 sichtlich des sogenannten Booms die Spanier »gewisse Reaktionen kolonialistischer oder imperialistischer Art« zu erkennen gegeben hätten. Und Porrúa fügt hinzu, ein gewisser Spanier soll sich in El País semanal (vom 24. 12.2000) zur Aussage verstiegen haben, dass »wir nicht zulassen werden, dass sich das mit dem Boom noch einmal wiederholt«. Trotz solcher Entgleisungen, auf beiden Seiten übrigens, hatte der lateinamerikanische Literaturboom in Spanien nebst den erwähnten noch eine andere, wichtigere Folge: das herkömmliche Überlegenheitsgefühl der Spanier gegenüber den Spanisch-Amerikanern, das sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein behauptet hatte, wurde abgebaut. Der Vorgang hat als weitere durchaus erfreuliche Folge eine Art von kultureller Rivalität zwischen Spanien und Lateinamerika hervorgerufen. Seit den 1990er Jahren ist der Boom aus Lateinamerika deutlich abgeflacht, während gewisse Romanciers aus Spanien ihrerseits wenigstens europaweit eine ebenso wenig vorhergesehene Konjunktur erleben. Mit dieser Betrachtung bin ich ans Ende des 20. Jahrhunderts gelangt. Darf ich aus der Analyse so weniger und ausgesuchter Sektoren allgemeingültige Schlüsse ziehen? Vielleicht wenigstens den, dass die unbewusste oder auch offene Feindseligkeit oder gar Verachtung der Spanier gegenüber allem Spanisch-Amerikanischen in der zweiten Jahrhunderthälfte nach und nach einer ausgewogeneren Einstellung hat weichen müssen, bis hin zu einem brüderlichen Schulterschluss, wie ihn vor allem das spanische Königshaus seit 1975 auf allen Ebenen herbeizuführen sucht. Hinzu kommt, dass die wachsende Präsenz von Flüchtlingen und Einwanderern aus lateinamerikanischen Ländern nun wenigstens in den Städten den Spaniern die Möglichkeit bietet, Leute von drüben aus der Nähe kennen zu lernen. Die persönliche Begegnung war schon immer das beste Korrektiv für vorgefasste Meinungen. Dies gilt ganz besonders auf kultureller Ebene. Indes, wir dürfen uns keinen falschen Hoffnungen hingeben. Die erwähnte Präsenz von Asylsuchenden hat neue Aversionen gegen die Fremden geweckt, nicht nur in Spanien. Es tauchen in der Umgangssprache Bezeichnungen auf wie sudacas oder latinochés (Umbral 1983: s.v.). José Luis S. Ponce de León sprach noch 1990 von einer »zweideutigen Beziehung zwischen Spaniern und Spanisch-Amerikanern von heute, und sie ist nicht so ideal wie manche meinen« (Ponce de León 1991: 136). Ich komme zur selben Einschätzung. Was nun andererseits die Volkswirtschaften und den Entwicklungsstand anbetrifft, könnte der Gegensatz zwischen dem Wirtschaftswunder in Spanien nach 1975 und dem endemischen Verharren fast aller lateinamerikanischen Länder in einem Schwellenland-Status grösser nicht sein. Stillschweigend dürfen die Spanier aus dieser ungleichen Entwicklung ein neues Überlegenheitsgefühl ableiten. Dieser Umstand und natürlich auch die alten Imagotype, die mentalen Bilder mit ihrer bekannten Dauerhaftigkeit werden dafür sorgen, dass diese zwiespältigen Einstellungen das kollektive Empfinden beiderseits noch eine Weile beeinflusssen.

Literaturhinweise Alemany Bay, Carmen et al. (Hg.). 2001. La Isla Posible. Actas del III Congreso de la Asociación Española de Estudios Literarios Hispanoamericanos. Murcia: Universidad de Alicante. Amo, Julián/Charmion Shelby. (4951). La obra impresa de los intelectuales españoles en América. 1936-1945. Prólogo de Alfonso Reyes. Stanford (CA): Universiy Press.

125 Ayala, Francisco. 1971. Los ensayos. Teoría y crítica literaria. Madrid: Aguilar. Campbell, Federico. ^1994. Infame turba. Barcelona: Lumen, la ed. 1971. Encuesta de El Ciervo, año XXXVI, № 435 (Barcelona, mayo de 1987). América »Latina«?: 12-16. Hierro, José. 1957. Cuanto sé de mí. Madrid: Ágora. Die deutsche Übersezung ist erscliienen in Siebenmatm, Gustav/José Manuel López (Hg.). Spanische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Stuttgart: Reclam, ^2003. Imaz, José Luis de. 1984. Sobre la identidad iberoamericana. Buenos Aires: Sudamericana. Jiménez, Juan Ramón. 1948. La corriente infinita. Epflogo. Madrid: Aguilar. Kölker, Marielena Zelaya (Hg.). 1985. Testimonios americanos de los escritores españoles transterrados de 1939. Madrid: Instituto de Cooperación Iberoamericana. Lafuente, Fernando R. 1997. La confusa institucionalización de la literatura hispanoamericana en España. In: Klengel, Susanne (Hg.). Contextos, historias y transferencias en los estudios latirwamericanistas europeos. Los casos de Alemania, España y Francia. Frankfurt/M.: Vervuert, 1997, 53 -59. León, María Teresa. 4979. Memoria de la melancolía. Barcelona: Bruguera. la ed. Buenos Aires: Losada, 1970. Mainer, José Carlos. 1988. Un capitulo regeneracionista: el hispanoamericanismo (1892-1923). In: La doma de la quimera. Ensayos sobre nacionalismo y cultura en España. Barcelona: Universidad Autónoma: 83 - 134. Ponce de León, José Luis S. 1991. España e Hispanoamérica. Historia de una ambigüedad. In: Impacto y futuro de la civilización española en el Nuevo Murub. Actas del Encuentro Internacional Quinto Centenario en San Juan de Puerto Rico (17-22 de abril de 1990). Madrid: Siruela: 135-140. Rama, Carlos M. 1982. Historia de las relaciones culturales entre España y la América Latina. México: Siglo XXI. Rehrmann, Norbert. 1996. Lateinamerika aus spanischer Sicht. Exilliteratur und Panhispanismus zwischen Realität und Fiktion (1936-1975). Frankfurt/M.: Vervuert. Rojas Mix, Miguel. 1991. Los doscientos nombres de América. Eso que descubrió Colón. Barcelona: Lumen. Sáinz de Medrano, Luis (Hg.). 1987. Las relaciones literarias entre España e Iberoamérica. Actas del XXUI Congreso del Instituto Internacional de Literatura Iberoamericana (Madrid, 25-29 de junio de 1984). Madrid: Instituto de Cooperación Iberoamericana/Facultad de Filología de la Universidad Complutense. Steenmeijer, Maarten. 1990. El itinerario de la literatura hispanoamericana por el Occidente. In: Iberoromania (Tübingen); 32: 110-118. Tola de Habich, Femando/Patricia Grieve. 1971. Los españoles y el boom. Caracas: Editorial Tiempo Nuevo. Umbral, Francisco. 1983. Diccionario cheli. Barcelona: Grijalbo. Zamora Vicente, Alonso. 1958. Voz de la letra. Madrid: Espasa-Calpe (Colección Austral; 1287).

Barbar ist ein Barbar ist ein Barbar ist ein Barbar Sage mir, wen du für einen Barbaren hältst, und ich sage dir, wer du bist. Amo Borst (1988:19) Nicht allein der rohe, zuchtlose und gar grausame Einzelmensch kann als Barbar bezeichnet werden sondern ganze Stämme und Völker. Wer andere mit diesem krausen Attribut beschimpft, der beansprucht zugleich für sich die Identität eines Gutmenschen, im Falle eines Kollektivs das Gütesiegel von Zivilisiertheit. Wer im Anderen einen Barbaren sieht, wähnt sich selber vor Barbarei gefeit. So geschehen zwischen Griechen und Persern, Romanen und Germanen, Christen und Heiden, Christen und Juden, Katholiken und Protestanten, adligen Städtern und Bauern, Konservativen und Revolutionären, Imperialisten und Kolonisierten, Gebildeten und Analphabeten. Vergeblich hatte das frühe Christentum die Aufhebung der Andersheit in der Brüderlichkeit gesucht, umsonst haben später Humanisten wie Montaigne und Erasmus gezeigt, wie die Werthaltung gegenüber dem Gegenpart dialektisch in ihr Gegenteil umschlagen kann. Es blieb beide Male beim idealistischen Versuch. Die Geschichte aller Individuen und aller Gesellschaften verlief weiterhin dichotomisch, scharf trennend zwischen Ich/Wir und dem/n Anderen. Geringschätzung, Hass und mythisch begründete Kriege waren die Folgen und sind es weiterhin. Im Anfang war das Wort (Joh. 1.1), in der Tat, das griechische Wort >barbaros< nämlich, als verächtliche Bezeichnung für den Fremden, der die Sprache der Athener und lonier nicht verstand. Angeblich ist das Wort im Ursprung eine Lautmalerei, ein Verballhornung nicht verstandener Fremdsprachen. Diesen kommunikativen Notstand sah auch Paulus (Korinther I, 14.11), zudem schon durchaus dialektisch: Wenn ich eines Anderen Sprache nicht verstehe, so ist nicht nur er für mich ein Barbar, sondern ich ebenso für ihn. Die höhere Einsicht setzte sich auch diesmal nicht durch. Als im Zuge grösserer territorialer Expansion, etwa im Römischen Reich oder später im kaiserlichen Spanien, mit der säkularen Macht auch die Dominanz im Sprachlichen zunahm und man dank einer weithin geltenden Koine im Imperium idiomatischer Fremdheit nur mehr in Enklaven oder in Randzonen begegnete, weitete sich der Begriff des Barbarischen aus in das Gefìlde von Sitte und Kultur, wobei das negative Wertungsgefälle weiterhin und unvermindert galt. Nach der Begegnung mit den Aussereuropäem kamen nuancierende Synonyme in Gebrauch, so etwa bei Montaigne: >cannibales< war deutlich pejorativer und zudem exotischer als >barbaressauvages< schon mit der »naifveté originelle« in Verbindung gebracht wurde. Mit Rousseau sollte folgenreich noch die zivilisationsfeindliche Komponente hinzukommen. Doch nicht alle Aufklärer waren einer Meinung. Montesquieu etwa versucht zu differenzieren zwischen »peuples sauvages« und »peuples barbares«. Erstere waren für ihn nomadische Sammler und Jäger, also harmlos; letztere hingegen, wenngleich ebenfalls nomadisierende Hirten, konnten sich beim Erscheinen eines starken Führers periodisch zu aggressiven Horden zusammenrotten und gefährlich werden. Auch so blieb >barbare< semantisch deutlich negativer besetzt als >sauvageBarbarei< deutlich an Terrain gewonnen. Der oder die oder das Fremde, sofern nicht negative Affekte die xenophoben Imagotype ins Spiel bringen, können so zum (nicht immer ungetrübten) Spiegel werden, in dem man das Eigene deutlicher erkennt. In der Neustzeit sind uns die exotischen Fremden mehr und mehr abhanden gekommen. An ihre Stelle ist in Sachen vermuteter Barbarei inzwischen die Andersheit getreten. Symptomatisch für den Begriffstausch ist der Nebentitel des denkwürdigen Buches von Todorov über die Entdeckung Amerikas: La découverte de Vautre, in der deutschen Fassung: Das Problem des Anderen (1985). Alterität ist im Gegensatz zu Barbarei zunächst wertungsfrei. Werden die beiden Begriffe vielleicht einmal zu neutralen Synonymen? Die Spanier und Portugiesen und danach die Angelsachsen haben zur Zeit der Entdeckungen und der Besiedlung in der Neuen Welt zwar noch echte Fremde vorgefunden und mit ihnen ganz besondere, barbarische Erfahrungen gemacht. Was ihnen in dieser so unbekannten Fremde der Karibik zunächst widerfahren ist, war nach den ersten Fehlem im Umgang mit diesen Fremden im schlimmsten Sinne barbarisch: Von den 1492 auf Hispaniola zurückgebliebenen Spaniern - die grosse Karavelle Sta. María musste abgewrackt werden - und von den ersten Quakersiedlern in Neu England - sie konnten auch nicht mehr zurück - hat keiner überlebt. Barbarei war für diese Leute nicht eine Frage des Idioms, sondern lebensbedrohend. Die primitive Rache der Spanier entsprach dem, was in der europäischen Renaissance üblich war: Es erfolgte der sogenannte Genocid, ein weiterer Völkermord, diesmal mit unvorhergesehenen biologischen Waffen (den Epidemien) und mit den geschmiedeten dazu. Schon für Padre Las Casas bestand danach kein Zweifel mehr darüber, welches die eigentlichen Barbaren waren: nicht die Eingeborenen, sondern die Conquistadoren und Encomenderos. Die Kontroverse darüber, ob die Kolonisation ein Recht oder ein Unrecht, ein Völkermord oder ein zivilisatorischer Akt war, ob die Heidenmission durch die spanischen und portugiesischen Katholiken ihre Berechtigung hatte, ob die Kolonialwirtschaft den Beteiligten Fluch oder Segen gebracht hat, sie ist seit 1530 nicht mehr verstummt. 1992 ist sie bekanntlich wieder mit besonderer Heftigkeit entbrannt. Sie hatte die Gemüter schon anlässlich des Zentenariums von 1892 bewegt, wie wir sahen. Doch damals diskutierten vor allem die in der Vergangenheit direkt Betroffenen, also die Spanier diesseits, die Spanisch-Amerikaner jenseits des Atlantiks. Die Indios regten sich damals noch nicht. So blieb 1892 der völkerrechtliche Problemfall des Umgangs mit den Indigenen und die Frage einer eventuellen historischen Schuld weiterhin den Spanien selber vorbehalten. Beides wurde damals ausserhalb Spaniens wenig beachtet. Die Schwarze Legende wirkte nicht mehr im Detail der Amerikagräuel nach. Beim 5. Zentenarium jedoch, also 1992, ist die Kontroverse neu entbrannt, aber mit anders verteilten Rollen. Ich sprach davon im Kapitel über die Zentenarfeiern. Die fremden Indios sah man nun als von der Geschichte bestrafte Menschenkinder, barbarisch waren nun die Anderen, und das waren nun die Schuldigen im anderen ideologischen Lager. Las Casas war wieder aktueller denn je, und dank Enzensbergers und Suhrkamps Spürsinn ist die Brevísima relación in den richtigen Erwartungshorizont geschossen und flugs neu ins Deutsche übersetzt worden (Casas 1981). Spanien, das weiterhin der Barbarei bezichtigt wurde, hielt sich diesmal weitgehend aus der Polemik heraus und hörte

129 weg. Für einmal verliess man sich dort auf die eigenen ^^^issenschafter. In der Tat, hatten nicht spanische und spanisch-amerikanische Historiker seit Jahrzehnten, vom Ausland übrigens weitgehend unbeachtet, den Sachverhalt in die richtige, in eine zeitgenössische Relation gebracht? War nicht die Grossleistung einer eigentlichen Begründung des Völkerrechts durch die damaligen Rechtsgelehrten Spaniens inzwischen allgemein anerkannt? Die neue »weisse« Legende allerdings, mit welcher die spanischen Eroberer von Schuld freigesprochen werden sollten, war nicht weniger einseitig wie die alte, von den ausländischen Spanienkritikern verbreitete »schwarze« Legende. Was die Rechtsgelehrten im 16. Jahrhundert in den berühmten Leyes de Indias zu Papier brachten, hat kaum einem Indio das Leben gerettet. Doch für die Spanier war im Jahr 1992 die Kontroverse obsolet, denn sie fragten sich ganz schlicht, weshalb denn die Grausamkeiten ihrer fernen Vorfahren sie heute anfechten sollten. Kein Land war zur Zeit der Renaissance zimperlich gewesen im Umgang nut Unzivilisierten, mit Andersdenkenden, mit Andersgläubigen, mit Barbaren (dazu Bemecker et al. 1996). Indes, die Zuweisung von Barbarei im historischen Zusanunenhang der Eroberungen in Amerika ging ausserhalb Spaniens munter weiter. In einem kuriosen Rollentausch wurde der in Spanien inzwischen inaktuell gewordene Disput über eine historische Schuld gegenüber den Indigenen Alt-Amerikas diesmal, 1992, von anderer Seite aufgenommen, zudem vehementer denn je. 500 Jahre sei die Neuzeit alt geworden und dabei fehl entwickelt. Columbus hin, Columbus her, für Sozial- wie für Wirtschaftsutopisten war es jetzt höchste Zeit für eine kritische Bilanz. Ich habe schon darüber berichtet, wie schon im Vorfeld von 1992 ganze Scharen von linken Intellektuellen, Grünen, auch evangelische Kirchenkreise und Entwicklungshelfer in der westlichen Welt Anklage erhoben und die Geschichte revidieren wollten. Auch die Linksopposition und die Vertreter der heutigen Indios in den Republiken Lateinamerikas wollten zur Jetzt-Stunde für das an ihren Ahnen begangene Unrecht entschädigt werden. Die Aufregung über die skandalösen Vorkommnisse von damals half anscheinend mit, für die bitteren Zustände im heutigen Lateinamerika endlich auch Schuldige benennen zu können. Aus ethisch achtbaren Motiven, doch naiv und ohne Kenntnis der Zusammenhänge sowie durch anachronistische Projektion heutiger Auffassungen von Menschenrecht auf vergangene Zeiten, haben diese Kämpfer für mehr Gerechtigkeit den Fall »Columbus und die Folgen« neu aufgerollt. Der Protest richtete sich zunächst und vor allem gegen die ausländischen Imperialisten, die multinationalen Konzerne, gegen die Besitzenden und die Erste Welt ganz allgemein, aber nicht nur. Zu Recht wurde auch den kreolischen Oberschichten in jenen Republiken vorgehalten, sie hätten ihr Land, das seit weit über hundert Jahren dekolonisiert und unabhängig war, in eine gerechtere soziale Ordnung führen müssen und sie hätten es aus Eigennutz nicht getan. Wie man sieht, verläuft in diesem verbalen Krieg die Front weniger zwischen den Nationen, also vertikal, sondern zwischen den »Tätern« oben und den »Opfern« unten, also horizontal, den sozialen Schichtungen entlang (dazu Siebenmann in Bemecker et al. 1996). Die Schleusenwärter dieser Umschichtung waren vor allem Marxisten und Dependenztheoretiker. Im internationalen Vergleich fällt auf, dass die kritischen Stimmen von Frantz Fanon (1961/1969) oder Eduardo Galeano (1971/1973) im deutschen Sprachraum ein besonders gutes Gehör fanden. Man erkennt aus diesem Vorgang, dass der Ersatz von Fremdheit durch Andersheit nicht nur ein Abtausch von Wörtern war, sondern reale Folgen hatte. Fremde gab es keine mehr, man unterschied nur noch zwischen den Eigenen und den Anderen, zwischen denen, die gleicher Meinung sind und den Andersdenkenden.

130 Täter wie Opfer sahen einander nun gegenseitig als Barbaren. Unversehens gab es demnach Barbaren ganz gegensätzlicher Art. Dabei wurde übersehen, dass wer den erstbesten Andersdenkenden zum Barbaren stempeh, selber einer wird. Es scheint, als sei das Columbus-Ereignis der Geschichtsforschung entzogen und als sei es in der Entwicklungspolitik aufgegangen. In den Urbanen Zentren des deutschen Sprachraums spielte die gelangweilte Jugend Stadtindianer. Die wenigstens emotionale Solidarität mit den Eingeborenen wurde in Kleidung, Ernährung, in der Wahl von Lektüre und Musik vorgezeigt. Der Rucksacktourismus durch den Kontinent und auch wagemutige, entbehrungsreiche Trecks zu den Indios kamen in Mode. Diese wenigstens öffneten manch einem die Augen für die komplexe Realität. Für die Daheimgebliebenen hingegen gerann z. B. jene Symbiose von Priester, Revolutionär, Dichter und Beschützer der Indios, die der Mönch aus Nicaragua, Emesto Cardenal (1925), wie kein anderer уегк0феЛ, zur Kultfigur. In keinem Land kennen seine Bücher ähnlich hohe Auflagen wie im deutschen Sprachraum. Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels im Jahr 1980 machte den Kult offiziell. Mit der blossen Sympathie- beziehungsweise Aversionskundgabe war anscheinend ein valabler Prüfstein gefunden, um sich selber als guten Menschen und die Anderen als Barbaren zu erkennen. Indes, in Lateinamerika sah man überraschenderweise diese Form von Gratissolidarität ungern. Die Gesten der Sympathie winkten letztüch doch nur den Gesinnungsgenossen in der heimischen Nachbarschaft zu und die Frustrationen nach erfolglosem tätigem Einsatz in der Entwicklungshilfe vor Ort, wenn es denn dazu kam, bereitete dem Spuk meistens ein abruptes Ende. Gibt es einen tauglichen Ausweg? Ich greife diese Frage im letzten Kapitel auf Gewiss ist jedenfalls, dass taugliche, praktikable Rezepte Mangelware sind. Gefragt ist eine nachhaltige Hilfsbereitschaft, darüber hinaus eine stete, wache Anteilnahme am Geschehen drüben und hüben, zudem eine kritische Einflussnahme auf die Meinungsmacher. Die von Zivilisationsüberdruss oft stärker als von Mitmenschlichkeit genährte Zuwendung von Europäern zu den Indios und ihrer Welt findet in Ländern, wo diese kaum als Minderheiten vorkommen, etwa in den La-Plata-Staaten, wenig Verständnis. Das Dilemma der unsicheren Identität der Lateinamerikaner wird mit Solidaritätskundgebungen von aussen eher verschärft denn gelöst. Dies mag zum Schluss ein Gedicht des uruguayischen Dichters Milton Schinca (1926) vorführen. Der Dichter erteilt dem Europäertum der Uruguayer zwar eine Absage, doch zugleich ironisiert er grausam das prekäre, »barbarische« autochthone Erbe. Hier der Text in meiner Übersetzung: Gib mir diesen Ahnen Der Vater meines Vaters meines Vaters und nochmals meines Vaters, war kein Indio. Die Mutter meiner Mutter meiner etcetera hatte gar nichts von einer Wilden, verdammt. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht gern der Ururenkel eines Urureinwohners aus den finstersten w a d e r n des Landes wäre, geboren als Bastard aus Puma und Akazie, oder aus Gürteltier und Mimose vielleicht; oder aufgetaucht als roher Spross

131 aus dem uruguayischen Nichts auf dem Kahn eines Magier-Gottes mit buntem Webband und Federschmuck auf der Stirn. Und wie schön zu sagen: mein Ur Ur Urgrossvater war einer der starb als lodernder Jaguar, der nie den unbändigen Nacken gebeugt, der jeden Kampf bis auf die Knochen durchstand, um eine Welt zu verteidigen, die er sich schuf, der mit Prankenhieben den Angriff abschlug, nie mit dem Eindringling verhandelte, der schallend rief: »Tod ja, Unterwerfung nie«, und danach verstummte, gebrochen, verdutzt, aber ohne Makel vor all seinen Jahrhunderten und seinen Toten. Deshalb, am äussersten Rand dieses zerfransenden Uruguays von heute, sag ich dir, Papa meines Papas meines Papas und nochmals meines Papas: vergib mir, wenn ich dich übergehe in dieser Zeit der Wildtiere, und weiter zurück will, wieder Indianer werde; denn deinem Beispiel eines Urbanen Europäers ziehe ich heute das Fauchen jenes Erbes vor. Aus Milton Schinca: ¡cambiá uruguayJ (1971) Nietzsche war ebenso pessimisstisch. Er sah bekanntlich den »Barbaren in jedem von uns bejaht, auch das wilde Tier«. Arno Borst hingegen beschliesst seine Blitztour durch die Wortgeschichte von >Barbar< mit einer resignierten List: »Erst wenn das Schlagwort nicht mehr irgendein vages Kollektiv der >AnderenFremdsprachiger, der stammeltroher, empfindungsloser Mensch ohne Kultur< (Duden); Barbar (4) dient als Schimpfwort gegenüber jemandem, den der oder die jeweils Sprechende für einen solchen hält.

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Non Liquet. Gibt es Gründe für die Stundung der Zukunft Lateinamerikas? Non liquet ist ein lateinisches Diktum aus der Rechtswissenschaft. Es besagt, ein Sachverhalt sei weder durch Beweise noch durch Gegenbeweise erhellt. Der Sachverhalt, der mich hier interessiert, ist die soziale, wirtschaftliche und politische Stagnation, in der sich Lateinamerika seit Jahrzehnten befindet, ohne Aussicht auf Besserung, ohne Rezept zur Sanierung, ohne Hoffnung für Millionen von Menschen. Über die Ursachen dieses ebenso traurigen wie trägen Sachverhalts wird vielerorts nachgedacht, doch sie konnten bis heute nicht überzeugend geklärt werden. Es bleibt fast immer bei historischen Schuldzuweisungen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sah man es noch anders, aus guten Gründen: Die meisten Länder prosperierten ökonomisch. Buchtitel, die dem Kontinent oder einzelnen Ländern eine grosse Zukunft vorhersagten, waren über Jahre hin üblich. Man findet einige Beispiele unter den Literaturhinweisen. Es gab freilich auch anderslautende Stimmen. Solche, die ein Fragezeichen setzten, wie Borsdorf (1994) oder Sevilla/Ribeiro (1995), auch frühe Verdüsterungen wie in Italiaanders Terra dolomsa (1969). Nach dem »verlorenen Jahrzehnt« der achtziger Jahre wurden die Fragen nach den Gründen immer drängender. Infolge der Sozialexperimente auf Kuba und in Chile konnten die Diskussionen kaum mehr ideologiefrei geführt werden. Ein Kenner der Materie, der Entwicklungsexperte H. C. F. Mansilla schrieb 1987 aus La Paz: »Erst jetzt, nach einer weitgehenden Enttäuschung mit konventionellen Entwicklungsmodellen sowohl privatwirtschaftlicher als auch staatssozialistischer Observanz und einer beginnenden Ernüchterung angesichts ökologischer und demographischer Begrenzungen, beginnt Lateinamerika eine ernsthafte Debatte über die Diskrepanz zwischen überspannten Entwicklungszielen und bescheidenen Ausgangsbedingungen« (Mansilla 1987: 566). Die resignierte Fragestellung lautete: Wie können wir den Mangel am besten bewirtschaften? Wie oft in verzweifelter Situation keimt seither die Selbstironie. So hat etwa der Kolumbianer Plinio Apuleyo Mendoza zusammen mit zwei anderen Autoren - Alvaro Vargas Llosa, Peruaner, Sohn von Mario, und Carlos Alberto Montaner, gebürtiger Kubaner - ein Manual del perfecto idiota latinoamericano veröffentlicht. Dort wird der »perfekte lateinamerikanische Idiot« wie folgt definiert: Er glaubt, dass wir arm sind, weil die anderen reich sind und umgekehrt, dass die Geschichte eine erfolgreiche Verschwörung der Bösen gegen die Guten ist und dass jene immer gewinnen und wir stets verlieren (er selber ist auf jeden Fall unter den armen Opfern und den guten Verlierern). Er hat keine Hemmungen im cyberspace zu surfen, sich online zu fühlen und (ohne den Widersprach zu merken) die Konsumwut zu verurteilen. Und wenn er von Kultur spricht, beteuert er inbrünstig: »Was ich weiss, hab ich im Leben gelernt und nicht in den Büchern, und deshalb ist meine Bildung keine papierene sondem eine vitale«. Wer ist es? Es ist der lateinamerikanische Idiot. (Mendoza 1996). Es ist eine bissige Karikatur, doch auch sie hat einen realen Hintergrund. Das tatenlose Selbstmitleid ist weitverbreitet, ist aber zunächst eine Folge und nicht eine der primären Ursachen der Zustände. Ernsthafter hat über mögliche Gründe der erwähnte Carlos Alberto Montaner (2001) nachgedacht. Wer ist dieser Autor von über zwanzig Büchern? Der 1943 in Havanna gebore-

134 ne Exilkubaner lebt seit 1970 in Madrid, als Journalist und Historiker. Die spanische Zeitschrift cambio 16 verkündet, er sei der zur Zeit am meisten gelesene Kolumnist in spanischer Sprache. Nun hat der historisch bewanderte Autor mit agiler Feder ein Buch geschrieben, das schon im Titel von »krummen Wurzeln« spricht. Er hat dafür viel Lob geerntet, aber auch Kritik. Als überzeugtem Liberalen und Verfechter einer sozialen Marktwirtschaft - er ist Präsident der Kubanischen Liberalen Union in Miami - schlägt ihm aus Castros Kuba und von dessen Freunden viel Hass entgegen. Das Buch, das uns in unserem Zusammenhang interessiert, trägt den Titel Las Raíces torcidas de América Latina. Es ist die Zusammenfassung eines an zahlreichen Universitäten Spanisch-Amerikas und der USA vorgetragenen Zyklus. Montaner geht, und zwar diesmal ausgeprägter als Historiker denn als Journalist, der Frage nach, weshalb Lateinamerika das ärmste und unstabilste Segment des ganzen Westens ist. Jedes der sieben Kapitel beschäftigt sich mit einer der möglichen Ursachen und das letzte trägt den Titel: »Der Ausweg aus dem Labyrinth«. Der Grundtenor sei vorweggenommen: Als Historiker führt Montaner das Scheitern zurück auf die koloniale Vergangenheit Lateinamerikas. Schuld seien die überlieferten Werte, Gewohnheiten und Einstellungen, die auf die Spanier zurückgehen. Sie hätten in der spanischen Neuen Welt die Schaffung neuer Reichtümer, die wissenschaftliche Neugier und ein demokratisches Verhalten auf Dauer verhindert. Sie hätten eine Grundeinstellung mitgebracht, die jedem wissenschaftlichen Erfindergeist und jeglicher technischen Innovation ablehnend gegenüberstand, möglicherweise weil das Ganze auf einem scholastischen Substrat ruhte und als Folge repressiver Mechanismen eine fortschrittsfeindliche Mentalität erzeugte. Damit erfolgt eine deutliche Schuldzuweisung an die Spanier. Die Frage ist nur, weshalb diese Wurzeln in der nun fast 200 Jahre währenden Unabhängigkeit der RepubHken inzwischen nicht behandelt werden konnten. Im Vorwort zu seinem Buch stellt sich Montaner diese Frage selber: »Wenn die Prämisse zutrifft und wir tatsächlich auf geschichtlich krummen Wurzeln leben, sind wir deshalb auf ewig dazu verurteilt, in Unterentwicklung, unter Tyrannen und in kultureller Rückständigkeit zu leben? Oder wird es irgendwann einmal möglich sein, dass auch Lateinamerika zur fortgeschrittenen Vorhut des Westens gehört?« Glücklicherweise, so Montaner, sei die Antwort auf diese Frage optimistisch: »Wenn wir eine Lektion lernen konnten aus dem 20. Jahrhundert, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, so ist es die, dass wirtschaftliche Entwicklung und das Ende von Rückständigkeit und Armut mit Sicherheit erreichbare Ziele sind. Fälle wie Spanien, Portugal, Südkorea, Singapur oder Taiwan beweisen es. Sogar das was heute in Chile geschieht, weist in diese vielversprechende Richtung.« Ich resümiere und diskutiere im Folgenden Montaners Argumente. Er beginnt mit der alten Diskussion um die zweifelhafte Legitimität der spanischen Landnahme und der Christianisierung der Eingeborenen. Er würdigt - in für Lateinamerikaner ungewohnter Weise - die frühen völkerrechtlichen Anstrengungen im Spanien des 16. Jahrhunderts. Die sieben títulos justos, die von spanischen Theologen und Juristen vorgetragenen Thesen, die das Eroberungsuntemehmen in Amerika legitimieren und zugleich den Ureinwohnern gewisse Schutzrechte verleihen sollten, finden ebenso Beachtung wie deren Missachtung vor Ort. Die Dominikaner Francisco de Vitoria und Domingo de Soto traten zwar ebenfalls für die Legitimität der spanischen Souveränität in den eroberten Gebieten ein, doch sie wollten gleichzeitig die Eingeborenen als Rechtssubjekte anerkannt wissen, die nicht einfach unbesehen versklavt werden durften, nur weil sie eine ihnen fremde Religion nicht übernehmen wollten. Vor allem

135 habe es Vitoria gewagt, die theologische Argumentation bei der Legitimierung des kolonialen Unternehmens zu schmälern und statt dessen das Naturrecht und das Völkerrecht einzubringen. Geschickt fasst Montaner die schwierige und politisch heikle Debatte um die sogenannte du¿ia indiana, um den indianischen Zweifelsfall zusammen. Nicht nur die schon 1542 redigierte Brevísima Relación de la destrucción de las Indias von Bartolomé de las Casas wird gewürdigt, sondern auch - was im Zuge der Schwarzen Legende meistens unterschlagen wird - dessen Kontroverse mit Juan Ginés de Sepúlveda, der aus juristischen und theologischen Argumenten Las Casas in seinem Demócrates Primus und Demócrates Secundus widersprach. Es war nicht ein Disput in dünner Höhenluft, vielmehr hatte er unmittelbare politische Konsequenzen, indem Kaiser Karl V. im Sommer 1550 in Valladolid die besten Köpfe aus seinem Reich zusammenrief, damit sie die moralische Rechtfertigung des amerikanischen Unternehmens prüften. Der Dominikaner Domingo de Soto als Berichterstatter dieses Kongresses stand seinem Ordensbruder Las Casas näher als Sepúlveda, so dass nach der Niederschrift dieser Kongressakten feststand, dass Las Casas, der Bischof von Chiapas, fortan als der Verteidiger der Indios dastand und Sepúlveda als das Sprachrohr der Eroberer und Landbesitzer in der Neuen Welt. Zudem hat Las Casas seine erwähnte Brevísima Relación in diesem Zusammenhang auch in Druck gegeben (1552) und damit vor allem in den spanienfeindlich gesinnten Staaten den Anstoss zur Schwarzen Legende gegeben. Wenn Montaner sich nicht, wie heute allgemein üblich, vorbehaltlos auf die Seite von Las Casas stellt und auch seine Widersacher zu Wort kommen lässt, so deshalb, weil er in dieser Debatte einen grundlegenden Schlüssel zum Verständnis Lateinamerikas zu erkennen meint, nämlich die unauflösbare Verflechtung zwischen Katholizismus und Staat, die bekanntlich bis weit in das 19. Jahrhundert hinein andauerte. Dieser Pakt sei in der Neuen Welt in die Brüche gegangen, indem die »Amerikaner«, zumal die Indios, gewissermassen auf der Las Casas-Seite standen. Mit ihren synkretistischen Religionen Hessen sie einerseits die kirchliche Macht gelten, standen aber auf der anderen Seite der staatlichen Macht jeglicher Art (lies Sepúlveda) feindselig gegenüber. »Die erbarmungsvolle Haltung eines von Las Casas beeinflussten Klerus hat dazu geführt, dass das Christentum und die katholische Kirche Teil geworden sind der lateinamerikanischen Identität. Der Staat hingegen sei für sie etwas Fremdes und Fernes geblieben. Die Indios wurden auf ihre Weise - ohne ihren vorkolumbischen Glauben ganz aufzugeben - christianisiert, zutiefst und radikal; aber auf politischem Gebiet - so Montaner - sind sie nie hispanisiert worden. Deshalb hätten sie, als die Zeit [für die Unabhängigkeit] gekommen war, Spanien den Krieg erklärt, aber nicht dem Christentum (28). Es sind Gedankengänge von hoher Plausibilität. Dieser Entlegitimisierung des Staates gilt das zweite Kapitel Montaners. Sie war von Anbeginn auf allen sozialen Ebenen wirksam: bei den erobernden Spaniern, bei den Indios und später bei den criollos. Bei den Konquistadoren traf dies ein, weil sie ihre Unternehmung als eine private verstanden. Beute und Raub waren für diese gewagte Tätigkeit der zunächst einzige greifbare Lohn. Und hatte nicht die Soldateska Karls V. im Sacco di Roma (1527) ein Gleiches getan, und sein Sohn Philipp II. in Antwerpen nochmals (1576)? Wer damals das gewagte Abenteuer einer Expedition in die Neue Welt auf sich nahm, tat es aus wirtschaftlichen Gründen, aus Armut, in der Hoffnung, dereinst reich wieder nach Spanien zurückzukommen. Die Kampftruppen der Eroberung waren keine regulären Truppen, vielmehr bewaffnete Haufen, die sich nach einem Sieg dann privaten Geschäften widmeten, als Farmer,

136 Viehzüchter, Minenbesitzer. Die regulären kaiserlichen Truppen mit ihrer Disziplin blieben jedoch der Krone treu. Daher stellen die Militärs, so Montaner, bis heute ein staatstreues Element in den lateinamerikanischen Staaten dar. Staatstreu allerdings nur solange, als dieser Staat in ihrem Sinne funktionierte. Die Kolonialgeschichte hält noch andere Gründe bereit für die spätere Unbeweglichkeit in diesen Ländern. Trotz des inunensen, mit den damaligen Infrastrukturen in keiner Weise zu verwaltenden Territoriums wollte die spanische Krone dessen Verwaltung nicht den immer selbstbewusster auftretenden Kreolen überlassen. Sie hat 1524 in Sevilla einen Consejo de Indias errichtet, einen Amerika-Rat mit gewaltigen Kompetenzen. Er konnte Gesetze erlassen, Beamte ernennen und absetzen. Recht sprechen, fungierte als Appellationsgericht, konnte strafen und belohnen, Privilegien erteilen und widerrufen, Territorien zusammenfügen oder trennen. Allerdings konnten die unzähligen in Sevilla dekretierten Gesetze und Erlasse über den Atlantik und über so unwegsame Distanzen hin kaum durchgesetzt werden. Deshalb wurden schon damals diese in Spanien beschlossenen Gesetze und Dekrete zwar juristisch korrekt abgehakt, doch ebenso korrekt ad acta gelegt, mit dem berühmt gewordenen Vermerk: »Las leyes se acatan рею по se cumplen« (Die Gesetze in Ehren, doch vollzogen werden sie nicht). Was in Europa Ungehorsam gegen die Obrigkeit wäre, konnte in der Neuen Welt schlicht als Unmöglichkeit des Vollzugs erklärt und damit straffrei werden. Besonders schwer betroffen war durch diese Vorgänge das Rechtswesen. »Es gibt zwei Arten von Prozessen: die, die sich von selber lösen, und die unlösbaren«, so eine zynische Weisheit der Lateinamerikaner. Für sie wie damals übrigens auch für die Spanier in Europa stand fest, dass es unter der Sonne keine Gerechtigkeit gibt. Die Geschichte der gut dreihundert Jahre währenden amerikanischen Kolonialwirtschaft Spaniens resümiert sich in Montaners Darstellung sowohl als heroisches Unterfangen wie als Aberwitz. Für die zunächst vier Vizekönigreiche, die zwischen 1535 und 1813 von den Spaniern errichtet wurden, hat die Krone nacheinander 170 Funktionäre zu Vizekönigen ernannt. Nur vier von ihnen waren in Amerika geboren. Derart seien dort »Staaten zur Unzufriedenheit aller« entstanden. Diese Argumente bestechen, auch wenn sie nicht neu sind. Das bekannte Übel der Rechtsunsicherheit ist bis heute nicht beseitigt. Nur fragen wir uns wiederum: Wäre dafür nicht längst Zeit genug gewesen? Hinzu kam nun, schon in der Kolonialzeit, eine komplizierte soziale Realität. Durch die Arbeitsverhältnisse in Land- und Bergbau entstand eine Trennung der Rassen in Weisse, Mestizen und Indios, zu der dann in den tropischen und subtropischen Regionen noch die schwarzen Sklaven aus Afrika hinzukamen. AMe Montaner im dritten Kapitel darlegt, hat diese Völkermischung den lateinamerikanischen Gesellschaften einen besonders andauernden Rassismus beschert. Erst 1886 hat auch Madrid die Sklaverei abgeschafft. Die Rückschau ergibt eine haarsträubende Statistik dieser Sklavenverteilung. Sie ist zu wenig bekannt. Gemäss Hugh Thomas (1997) waren es etwas über elf Millionen Schwarzafrikaner, die über den Atlantik verschleppt wurden, vier davon landeten im portugiesischen Brasilien, zweieinhalb in spanischen Besitzungen, besonders auf Kuba, zwei in der englischsprachigen Karibik und eine Million und sechshunderttausend in den französischen Besitzungen, eine halbe Million in den holländischen und eine weitere halbe Million in den USA und in Britisch Kanada. Fünf Millionen davon waren den Zuckerplantagen zugedacht, zwei Millionen dem Kaffeeanbau und eine Million wurde in den Minen vergraben, zwei Millionen wurden Hausangestellte,

137 fünfhunderttausend wurden Baumwollpflücker, zweihundertfünfzigtausend schufteten auf Kakaoplantagen. 1804 gelang den Sklaven auf Haiti der Aufstand gegen ihre Halter und sie vollendeten so die Revolution von Toussaint L'Ouverture, der inzwischen schon in einem französischen Kerker verendet war. Für die Schwarzafrikaner im übrigen Lateinamerika war der Aufstand in Haiti ein ermutigendes Zeichen. Die haitianischen Sklaven hatten übrigens keinen Unterschied gemacht zwischen Kreolen und Franzosen: sie gingen auf alle Weissen los. Die Relationen auf dem Kontinent waren unglaublich: Nur etwa 150 ООО Spanier kontrollierten mehrere Millionen Lateinamerikaner, die zudem von den Spaniern diskriminiert wurden, denn diese beanspruchten fast alle wichtigen öffentlichen Ämter. Weit unten in dieser Machtpyramide lagen, übergangen und gedemütigt, die Mestizen, die Indios und zuunterst die Schwarzen. Der erste Rassenkonflikt in Spanisch-Amerika brach 1806 aus, in Buenos Aires. Als die Stadt von den Engländern erobert, dann befreit und wieder erobert wurde, kam das Unternehmen nur deshalb zum Erfolg, weil auch schwarze Sklaven in die kreolischen Streitkräfte einbezogen wurden. Danach hat San Martin sich auch nicht gescheut, Bataillone von Braunen und Schwarzen zu bilden, wie später die Generäle Sucre in Bolivien und Flores in Ecuador. Die Befreier Lateinamerikas, Bolívar, San Martin, Miranda, alles Kreolen, gehörten zwar zu den Befürwortern der Abolition, wollten aber eine totale Befreiung der Schwarzen nicht zulassen. Die jungen Republiken praktizierten nicht eine Politik, die ihr Land zur Heimat der Schwarzen hätte werden lassen, so dass der heigebrachte Rassismus auch weiterhin fortbestand. Montaner spricht hier als Kubaner, ansonsten hätte er nicht nur die Lage der Schwarzen, sondern auch die der Indios erwähnt. Heute, im 21. Jahrhundert sei auf rechtlicher Ebene der Rassismus überwunden. Söhne und Töchter Schwarzafrikas seien weltweit Gegenstand der Bewunderung, wenn sie in der Unterhaltungsmusik oder im Sport zum Stolz einer Nation beitragen. Zweischneidig sei der beachtliche geistliche Einfluss gewisser schwarzafrikanischer Religionen, besonders in Brasilien, Kuba und der Dominikanischen Republik, meint Montaner. Und doch sei dieser Gleichstellungsprozess sehr schwierig und langwierig. Weshalb nur? Montaner greift zur Beantwortung dieser Frage wieder einmal zum historischen Vergleich unter den Nationen. Er weist auf die Tatsache hin, dass die unter englischer Domination lebenden Sklaven, also auf Trinidad, Bahamas und Barbados, z. T. auch auf Jamaika sich wirtschaftlich besser verhalten als die Schwarzen in Ländern ursprünglich spanischer Herrschaft. Es scheinen also weniger genetische, rassische Faktoren zu sein, die hier über die Generationen wirksam blieben, als vielmehr die Kultur. Indes, die auffallende Armut und Rückständigkeit vor allem unter der schwarzen Bevölkerung Lateinamerikas sei noch immer ein ungelöstes Problem, das zur sozialen und politischen Instabilität auf dem Kontinent nach wie vor beiträgt und das die Regierenden in allen betroffenen Ländern noch immer nicht anzupacken wagten. Auf die mentalitätsmässigen Gründe des permanenten, selbst in Brasilien latenten Rassismus geht Montaner nicht weiter ein. Das vierte Kapitel von Montaner ist wohl das schwächste. Unter dem Titel Sex, Sexismus, Geschlechter und Rollen klagt er zu Recht über die ungleiche und schlechte Behandlung der Frau in allen Gesellschaften. Der Hinweis auf einzelne politisch erfolgreiche Frauen tauge nichts, es seien auf einem Kontinent des ungebrochenen machismo gewissermassen nur die Renommier-Feminae. Montaner hält den macho, den arroganten Patriarchen, für einen Archetyp, der in Lateinamerika entstanden sei, nicht in Spanien, wo Don Juan einen filigrane-

138 ren, manchen Interpretationen zugänglichen Typus darstelle. Montaner hält in aller Deutlichkeit fest, dass »auf einem Kontinent, wo die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt, vor allem die Frauen zu den Elendsten und Schutzlosesten zählen, u. a. weil sie weniger gebildet und zudem Opfer verantwortungsloser Vaterschaften sind« (76). Um diesem Phänomen näher auf die Spur zu kommen, greift er nun allerdings über lange Seiten hinweg zurück in die Weltgeschichte der Geschlechterrollen über die Jahrhunderte, von Griechenland über Rom und zum neurotischen Sexualverständnis der katholischen Kirche. Er gelangt zum Horror der Hexenverfolgungen und kommt dann zum Schluss, dass just im 16. Jahrhundert, als die Spanier nach Amerika gelangten, im ganzen Westen ein sexualitätsfeindliches und rassistisches Klima herrschte. Die Spanier, die sich damals auf ein Amerika-Abenteuer einliessen, waren zumeist junge Männer mit einer eher gehobenen Ausbildung, oft militärisch unerfahren. Sie waren eben segundones, Halbadlige ohne Aussicht auf höheren Stand in der spanischen Gesellschaft, so dass sie sich wie Glücksritter verhielten, Abenteuer und Vergnügungen suchten, auch wenn sie streng katholisch waren. Sie zogen fast immer ohne ihre Frauen los, wodurch sie in ihrer Handlungsweise noch ungehemmter und skrupelloser wurden. Nur so könne letztlich erklärt werden, dass die rund 25 ООО Spanier, die zwischen 1492 und 1567 über den Atlantik fuhren, einen Subkontinent zu dominieren in der Lage waren, wo zur Zeit der Entdekkung etwa 25 Millionen Eingeborene lebten: ein Spanier auf 1 ООО Autochthone. Zudem stiessen patriarchale Spanier in Amerika auf ebenfalls patriarchal organisierte Gesellschaften. Baff stand Cortés vor Moctezuma in Mexiko, als er sah, dass hundertfünfzig Frauen gleichzeitig von ihm schwanger waren. Auch dort also war die Frau eine Person geringeren Standes. Frauen wurden, zumindest in Mesoamerika, als Jungfrauen den Göttern geopfert, andere wurden ertränkt, um die Unbill der Witterung zu besänftigen und Missernten zu verhüten. Schon Kolumbus wurden bei seiner ersten Landung von den Tainos und Siboneyes Frauen zum Geschenk angeboten. Fortan sollten die Indiofrauen in Lateinamerika zu nichts anderem da sein, als um den Männern zu dienen und ihnen sexuelle Befriedigung zu vermitteln. Frauenhandel war im vorkolumbischen Amerika ein weit verbreiteter Usus. Frauen waren schon vor den Spaniern die Lasttiere, bis nach und nach die von den Spaniern eingeführten Esel, Pferde und Rinder als Zug- und Tragtiere dienen konnten. Zuvor kannte man in den Anden das nur schwach belastbare Lama als Tragtier. Der Mexikaner José Vasconcelos meinte sogar, der technologische Sprung durch die Spanier - das Rad war im vorkolumbischen Amerika nicht bekannt - habe den Frauen in Lateinamerika so viele Vorteile gebracht, dass sie allein damit alle Schmerzen und Erniedrigungen kompensieren konnten, die sie durch das Trauma der Eroberung erlitten hatten. Das Schlimmste an diesem ganzen Hergang sei es wohl, dass diese Einstellung gegenüber den indianischen und mestizischen Frauen sich nicht nur in der Zeit der Republiken gehalten hat, also nach der Befreiung von Spanien, sondern dass die Verhältnisse inzwischen noch schlimmer wurden. Montaner beklagt diese Zustände, bringt ihnen aber unbewusst ein gewisses Verständnis entgegen, indem er die Minderstellung und Ausbeutung der Frau in allen Teilen der Welt gewissermassen als mildernden Umstand nacherzählt. Kurioserweise geht er mit keinem Wort ein auf die energischen und auch erfolgreichen Emanzipationsbestrebungen der heutigen Lateinamerikanerinnen. Auch der Zusammenhang zwischen Machismo und Unterentwicklung wird nicht deutiich. Im fünften Kapitel kommt Montaner auf ein besonders brisantes Terrain zu sprechen. Unter dem Titel »Die Wirtschaft, die als Krüppel geboren wurde« geht er als liberaler Ver-

139 fechter einer sozialen Marktwirtschaft streng ins Gericht mit der Wirtschaftsmentalität Lateinamerikas. Freilich, difficile est saturam non scribere, doch der Spott bleibt einem im Hals stecken angesichts von soviel andauerndem Elend. Montaner fasst an einer Stelle zusammen, was er insgesamt meint: »Der wirtschaftliche Liberalismus hat in dieser Region nur wenige Befürworter.« Noch immer erwarte die Bevölkerung das Heil von den Regierenden, vom Staat. Fällt uns da nicht ein Widerspruch auf? Während Montaner in wirtschaftlichen Belangen einen verhängnisvollen Etatismus feststellt, hatte er, wie gesagt, in politischer und psychologischer Hinsicht eine althergebrachte, prinzipielle Skepsis gegenüber der staatlichen Macht diagnostiziert. Jedenfalls ist in allen Wirtschaftssektoren und namentlich im Wirtschaftsverhalten der Bevölkerung ein so flagranter Unterschied gegenüber den westlichen Normen festzustellen, dass es nach einer Erklärung ruft. Wenn immer möglich sucht Montaner, wie wir sahen, solche in der langen Geschichte der westlichen Zivilisation, so auch diesmal. Er entwirft eine wirtschaftshistorische Skizze. »Keynes soll einmal gesagt haben, wir seien alle früher einmal dem Einfluss eines obskuren Ökonomen ausgeliefert gewesen, und Ideen, und seien sie noch so alt, haben Folgen« (101). Deshalb greift er zurück auf Hesiod, Plato, Aristoteles, dann auf die Römer Cicero, Seneca, Marc Aurel und stellt fest, dass die beiden antiken Grosskulturen sich hervortaten durch die Verachtung von Handel und Handwerk. Er geht danach den Versuchen nach, das turpe lucrum, also den übertriebenen Gewinn, in gesetzliche Schranken zu bringen, kommt dann zu dessen Verurteilung durch die karolingischen Gesetze. Danach erwähnt er die Haltung der Kirche im Mittelalter. Indem sie mit ethischen Argumenten vor allem dem Wucher zu Leibe rückte, habe sie sich höchst fortschrittlich gezeigt, wie schon in Fragen des (theoretischen) Völkerrechts. Die sogenannte Schule von Salamanca habe wohl als erste den Zusammenhang zwischen Preisniveau und umlaufender Geldmenge erkannt. Francisco Suárez und Juan de Mariana, zwei Jesuiten, die am Symposium über die duda indiana teilgenommen hatten, waren beide überzeugte Verteidiger des Marktes in der \Wrtschaft. Doch die Praxis sah wieder einmal anders aus. Kaiser Karl V. verstand mehr von Kriegführung und Politik als von Wirtschaft. Dass das grosse spanische Imperium nach und nach unterging, liege an seiner Unkenntnis im Bereich der Kostenrechnungen. Im Spanien der Renaissance waren es bestenfalls die Levantiner, Katalanen und Valencianer, die etwas von zeitgenössischer Finanztechnik verstanden. Wer aber international operierte, war seit dem 12. Jahrhundert auf die Genuesen und später auf die deutschen Bankiers angewiesen. Die Juden, die traditionsgemäss von Verwaltung und Geldwesen etwas verstehen, sind 1492 aus Spanien vertrieben worden, mit einem immensen Verlust an »humanem Kapital« für das Land. Indes, reicht das aus um zu erklären, dass die Monarchen des 16. und 17. Jahrhunderts, trotz all den Mengen an Silber und Gold, die aus den amerikanischen Minen nach Spanien gelangten, dieses Land fünfmal in den Bankrott getrieben haben (1595,1607,1627,1647 und 1656)? Montaners schlichte Erklärung dafür: »Die Monarchen und die Verantwortlichen konnten einfach nicht rechnen.« Die Debatte ist heute, Jahrhunderte später, immer noch offen, doch es sind weitere, gute Argumente vorgebracht worden, die Montaner nicht erwähnt. Fernand Braudel (1953) mit seiner umfassenden Wirtschaftsgeschichte des Mittelmeerraums fehlt bezeichnenderweise in Montaners Namenregister. In Anbetracht des herrschenden monetären Chaos schien in Amerika, wie auch auf der Halbinsel, der Besitz von Ländereien, auch wenn sie ungenutzt blieben, eine Garantie für

140 Reichtum und soziales Ansehen. Auch die Kirche machte in dieser Hinsicht das Spiel mit und wurde zu einem der weltweit grössten Grundeigentümer. Die Frage für Montaner ist nun, ob dieses schlechte Beispiel der Kolonialmacht Spanien irgendeine Spur hinterlassen habe in der Psychologie der lateinamerikanischen Unternehmer. Er bejaht sie, wenn auch verhalten. Denn bis heute hat die Formel »Landbesitz = Sozialrang« in den lateinamerikanischen Ländern ihre Gültigkeit bewahrt. Die Folge dieser Mentalität sei, dass seit Jahrhunderten in Lateinamerika die Wirtschaft wenig dynamisch ist, rückständig, kaum wettbewerbsfähig, auf den Export von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Produkten angewiesen. Immerhin habe schon Spanien in drei Sektoren einen Grundstein zur industriellen Produktion in Lateinamerika gelegt: in der Textilindustrie, im Zuckersektor und im Schiffbau. In der Landwirtschaft hat sich die Viehzucht zu einer sehr gewinnbringenden Tätigkeit entwickelt, doch selbst in diesen Sektor haben religiöse Eiferer während der Gegenreformation eingegriffen. Montaner erzählt genüsslich den anekdotischen Fall des Maultiers. Es ist eine bekanntermassen durch seine Leistungskraft sehr geschätzte Kreuzung von Esel und Pferd, doch Maultiere sind in der Regel steril. So haben denn die kirchlichen Autoritäten von deren Zucht abgeraten, aus obskuren theologischen Gründen: diesem zähen \^erbeiner mit seiner ungewissen Abstammung müsse, trotz der Wertschätzung durch Militärs und Getreidehändler, etwas Widernatürliches und sogar Sündiges anhaften. Doch später, in der Aufklärung und danach, müsste Montaner zeigen können, weshalb Lateinamerika noch immer stagnierte. Denn gegen Ende des 18. Jahrhunderts, noch bevor das eigentìich koloniale Zeitalter in Europa sich voll entfaltet hatte, rechneten Ökonomen wie Adam Smith den Regierenden vor, dass den Interessen einer kleinen Gruppe von Personen zuliebe die Gesamtheit der Gesellschaft durch den Besitz von Kolonien geschädigt wird. Auch im Spanien von Carlos III. und Carlos FV., als auch dieses Land sich den Einflüssen der Aufklärung öffnete, begann ein frischer Wind zu wehen: Man senkte die Zölle und Hess in den Kolonien den Handel mit anderen Nationen zu, ein Privileg, das die Spanier bis dahin vehement verteidigt hatten: Nur spanische Schiffe durften in Spanisch-Amerika vor Anker gehen. Doch die Reformen, die von spanischen Aufklärern wie Campomanes, Roridablanca und Jovellanos ausgingen, kamen zu spät. Wirtschaftsmentalität, Handelsgewohnheiten und eine schwer zu reformierende Gesetzgebung hielten Spanien und seine Kolonien weiterhin in grossem Rückstand. Alvaro Flórez Estrada hat 1811 sein Examen imparcial de las discenciones de América con España verfasst, eine scharfe Absage an den traditionellen Kolonialpakt zwischen Spanien und Amerika. Noch heute herrsche dort weit und breit eine merkantilistische Mentalität, die der Entwicklung entgegensteht und der wirtschaftlichen Freizügigkeit misstraut. Das Kuriose ist, so Montaner, dass zu den stärksten Verteidigern dieser Rückständigkeit jetzt nicht mehr die Oligarchien der Besitzenden gehören, die aus diesem Modell ihren Gewinn zogen, sondern ausgerechnet die Armen, die darunter gelitten haben. Es scheint, als läge diesmal die Ursache des Übels im trägen Absinken einer falschen Mentalität in die unteren Gesellschaftsschichten. Und doch regen sich Zweifel an dieser historischen Argumentation Montaners. Unternehmertum, Wirtschaftsführung erfolgen bekanntlich in den oberen Sektoren. Weshalb kommen diese nicht vom Merkantilismus und vom Etatismus weg? Man ist geneigt zu vermuten, dass hier das Beharren mit Eigennutz gleichzusetzen ist. Wem es unter den gegebenen Umständen gut bis sehr gut geht, der drängt kaum auf Veränderung der Zustände. Mir liegt noch immer die Aussage eines emigrierten und arrivierten Deutschen

141 im Ohr: Reich sein sei nirgends so schön wie in einem annen Land. Dies ist eine Kehrseite des Liberalismus. Fehlt der Gedanke an das Gemeinwohl, so verkommt er zum Darwinismus. Im nächsten Kapitel geht Montaner auf den Bildungssektor ein, wiederum mit einem langen Exkurs über die Genese der europäischen Kultur beginnend und mit einem besonderen Lob für die Aufklärung. Spanien und mit ihm die Kolonien hätten bis dahin ganz gut mitgehalten, doch dann sei Panhispanien wieder in den alten Gestus zurückgefallen, den der sonst ruhmreiche Spanier Miguel de Unamuno (1864-1936) hochmütig definiert hat: »Que inventen ellos« - Überlassen wir das Erfinden den Anderen. In den Ländern spanischer Sprache richtete man sich weiterhin ein auf die passive und sekundäre Übernahme fremden Denkens, fremder Praktiken und Erfindungen. Montaner schliesst wie er begonnen hatte, mit der Anrufung des Ökonomen Joseph A. Schumpeter, mit dem Lob des freien Marktes und des aktiven Unternehmertums. Das nächste Kapitel greift ein ebenso dramatisches Thema auf: die Politik. Wiederum trägt die Vergangenheit die ganze Schuld. Napoleon habe den Sturz der spanischen Monarchie viel zu abrupt herbeigeführt, die Kolonien seien auf die plötzlich erkannte Möglichkeit, unabhängig zu werden, geistig gar nicht vorbereitet gewesen. Nach den Siegen der Kreolen über die Spanier kam es deshalb nur zu endlosem Bruderzwist, zu Caudillo-Hochmut und zu aussichtslosem Kampf zwischen Konservativen und Liberalen, »deren Ideen sich verdächtig ähnlich waren«. Am Ende des so vergeudeten 19. Jahrhunderts fand man dafür zwei Hauptgründe: die koloniale Misswirtschaft der Spanier und die Last der fortschrittsfeindlichen Indiobevölkerung, also zwei nicht zu verändernde Faktoren. Nachdem das 20. Jahrhundert zunächst einige Prosperität in die Länder gebracht hatte, erwies sie sich bald als temporär. So fanden denn weite Kreise - seit 1917 war der Marxismus mit seinem subversiven Potenzial auch in Lateinamerika präsent - als Erklärungsmodell die Ausbeutung durch Fremde. Es war bestimmt einer der Gründe, doch nicht der einzige. Es brauchte dazu auch Komplizen im Lande. Über alle politischen Schattierungen hin glaubte man nun, dass - mit oder ohne Berufung auf den Marxismus - ein starker Staat alle Probleme lösen würde. Erst als die 80er Jahre zu Hause »verloren« waren und in der Feme die Erfolge der südasiatischen Tiger-Staaten sowie die Spaniens aufhorchen Hessen, kamen auch daran Zweifel auf. Die Nationalisierungen hatten nicht zu einer gerechteren Einkommensverteilung geführt, sie waren vielmehr ein Freipass für ungezügelte Korruption. Der Fall der Berliner Mauer 1989 und der Einsturz der Zweiten Welt tat ein Übriges zur Desorientierung. So weit das Resümee der ersten sieben Kapitel. Dass Montaner von der kulturellen Blüte im 20. Jahrhundert kein Wort sagt, muss überraschen. In einer Zusammenschau lassen sich die von Montaner angeführten Gründe historisch bündeln. Die altamerikanischen Gesellschaften waren autoritär organisiert, auch wenn die Inkas eine Art von wirtschaftlichem Kollektivismus kannten; die Vielweiberei und die Sklavenhaltung waren verbreitet. Indes, musste das so lange nachwirken? Die Kolonialwirtschaft der Spanier hatte die für das Ursprungsland fruchtlose Ausbeutung der Bodenschätze gebracht, eine Latifundienwirtschaft, dazu eine ineffiziente Verwaltung, hierarchische politische Strukturen, die Abschottung gegen die übrige Welt, Fortschrittsfeindlichkeit im Denken wie in der Technik, ferner ein defizientes, von der Kirche dominiertes Bildungswesen - trotz der fiühen Gründung von drei Universitäten - und vor allem ein schizophrenes Verhältnis zur Macht: zur kirchlichen sagten sie ja, zur staatlichen nein. Danach kam das 19. Jahrhundert

142 mit den Republiken. Sie Hessen ausländischen Imperialismus zu, behielten das Latifundienwesen bei und zerfleischten sich in Brader- oder Guerillakriegen um die Macht, um Territorien. Endlich kam das 20. Jahrhundert. Prosperierten da die Länder Lateinamerikas zu Beginn nicht in erstaunlichem Ausmass? Doch, aber es geschah dank der Ausfuhr in das kriegführende Europa, also auch nur unter verzerrten Handelsbedingungen und auf Zeit. Bis hierher, so könnten wir Montaner zustimmen, waren alle Missstände historisch erklärbar. Es handelt sich in der Tat um »krumme Wurzeln«. Aber diese botanische Metapher ist in gesellschaftlichen Belangen im Grunde wenig tauglich. Weltweit lehrt uns die Geschichte, dass alte Fehlentwicklungen, auch falsche Traditionen, überwunden werden können. Die Lateinamerikaner - und unser Autor Montaner - können sich im 21. Jahrhundert eigentlich nicht mehr auf die vorkolumbische, auf die koloniale oder die republikanische Vergangenheit als Altlasten berufen. Was wir heute noch immer als Grandübel erkennen, das müssen die kommenden Generationen als überwindbar sehen. Die Rechtssicherheit z. B. ist noch in keinem Land zur Gänze Realität geworden. Andernorts konnte sie längst hergestellt werden. Weshalb nicht auch in lateinamerikanischen Ländern? Montaner weiss es auch nicht. Die marxistischen Experimente hatten flüchtige Illusionen geweckt, dabei aber die sozialen Unterschiede nicht beseitigt, dafür des öftem eine arge Verschuldung oder einen Staatsbankrott herbeigeführt. Haben alle die Lektion gelernt? Montaner vertraut auf den Liberalismus in Politik und Wirtschaft. Im Grande weiss er wohl, dass in Gesellschaften, wo die Oligarchien Freiheit stets als Spielraum für Eigennutz verstanden haben, eine Steuerung nötig ist. Wer schafft den Balanceakt? Das Elend der Landbevölkerang führte zu gewaltigen Migrationsströmen, so dass in Lateinamerika die Grossstädte demographisch explodiert sind und zu den weltweit grössten Agglomerationen gehören. Wer wüsste dagegen ein taugliches Rezept? Heute gärt es politisch in vielen Staaten der Region, die ehemalige Paradenation Argentinien, ein Land praktisch ohne indigene Bevölkerang, ist bankrott. Ausser der weitverbreiteten Ausübung oder Hinnahme der Korraption wäre dafür keine historische Ursache zu benennen. Denken wir nochmals an Montaners Baummetapher: die Wurzeln - das Herkommen mögen verkrümmt sein. Doch ihr Zustand steht für Vergangenes. Im Laufe der Generationenfolge wurde manches überwunden oder vergessen. Kann der Rest der Krümmungen nicht noch heute verändert werden? Seltsamerweise scheint man in Lateinamerika - gleichviel ob reich oder arm - geneigt, alle Mängel und Fehlentwicklungen irgendwelchen Fremden ausserhalb oder Anderen innerhalb der Landesgrenzen anzulasten. Auch das hat freilich Tradition. Montaners Rezept, die Einführang nämlich von mehr Wirtschaftsliberalismus, kann nur helfen, wenn der Gemeinsinn hinzukäme, die Kategorie des einsehbaren bien commun, der espíritu cívico. Diese Grösse konmit in der Geschichte Lateinamerikas bislang kaum vor, und deshalb bei Montaner auch nicht. Wenn wir schon an das Gleichnis vom Baum und an das weitere Gedeihen denken, wären es nicht die Äste und die Zweige, die es zu stützen oder zu stutzen gilt, in tätiger Eigeninitiative? Der alte Derwisch in Voltaires Candide kannte die Devise: »II faut cultiver notre jardin«. Allerdings, das sage man Menschen, die realiter ausgebeutet werden oder denen es schamlos gut geht, denen morgen schon ein neues Erdbeben alles nehmen könnte, die im Augenblick der Feste eine Kompensation finden für sonstiges Darben und für die Zukunftssorgen. Deshalb muss man zugeben: Non liquet. Der Fall ist zur Entscheidung nicht reif.

143 Literaturhinweise Buchtitel mit »Zukunft« (chronologisch) Schüler, H. 1912. Brasilien-ein Land der Zukunft. Stuttgart. Behrent, A. 1913. Argentinien, ein Land der Zukunfi. München, 3. Aufl. Sanjinés, G. 1913. Das heutige Bolivien und seine Zukunfi. Hamburg. Mende, T. 1952. Südamerika heute und morgen. Frankfurt a/M. Oven, W. von. 1957. Argentinien. Stern Südamerikas. Zürich. Schmiedehaus, W. 1960. Mexiko. Das Land der Azteken cm der Schwelle zur Zukunfi. München. Faber, G. 1970. Brasilien, Weltmacht von morgen. Tübingen. Grote, B. (Hg.). 1971. América latina. Lateinamerika - der erwachende Riese. Reinbek. Stucki, L. 1971. Kontinent imAußruch. Südamerika auf dem Weg ins 21. Jahrhundert. Bern. Zweig, Stefan. 1981 Brasilien. Ein Land der Zukunfi. Frankfurt/M. Zum Text Binder, Wolfgang (Hg.). 1993. Slavery in the Americas. Würzburg: Königshausen und Neumann. Borsdorf, Axel (Hg.).1994. Lateinamerika - Krise ohne Ende? Innsbruck: Institut für Geographie der Universität (Innsbrucker Geographische Studien; 21). Braudel, Fernand. 1953. El mediterráneo y el mundo mediterráneo en la época de Felipe //. México: Fondo de Cultura Económica. 2 Vols. Französisches Original Paris 1949, definitive Ausg. Paris 1966. Italiaander, Rolf. 1969. Terra dolorosa. Wandlungen in Lateinamerika. Wiesbaden. Mansilla, Héctor С. F. 1987. Evolution in Lateinamerika. In: Universitas. 42. Jg., Nr 493 (Stuttgart, Juni 1987): 558-566. Mendoza, PUnio Apuleyo et al. 1996. Manual del perfecto idiota latinoamericano. Barcelona: Plaza & Janés. Montaner, Carlos Alberto. 2001. Las raíces torcidas de América Latina. Barcelona: Plaza & Janés. Sevilla, R./D. Ribeiro (Hg.) 1995. Brasilien. Land der Zukunft? Unkel am Rhein/Bad Honnef. Thomas, Hugh. 1997. La trata de esclavos. Barcelona: Planeta.

Drucknachweise

über Kultur und Identität. Erstmals in: Emst Brauchlin/J. Hanns Pichler (Hg.). Unternehmer und Unternehmensperspektivenßr Klein- und Mitteluntemehmen. Festschrift für Hans Jobst Pleitner. Berlin: Duncker & Humblot, 2000: 137-147. Hier überarbeitet. Lateinamerika auf der Suche nach einer Identität. Erstmals in: Lateinamerika-Studien; 1 (November 1976): 69-89. Danach passim. Hier überarbeitet. Zur Erkundung mentaler Bilder. Erstmals in: Siebenmann/König (Hg.). Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum. Ein Arbeitsgespräch an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 1992 (Beihefte zur/beroromawa; 8): 1-17. Est nomen omen?odeT Wie Amerika lateinisch wurde. Unveröffentlicht. Von der dreifachen Entdeckung Amerikas. Unveröffentlicht. Von der Spree zum Orinoco. Erstmals als Eröffnungsvortrag bei der Fünfzigjahrfeier des Ibero-Amerikanischen Instituts in Berlin am 13. November 1980 in der Staatsbibliothek zu Beriin. Gedruckt in: Jahrbuch Preussischer Kulturbesitz, 17 (Berlin. 1980): 139-146. Hier überarbeitet. Die Deutschsprachigen in Lateinamerika - eine historische Skizze. Unveröffentlicht. Spiegelungen I: Zum Lateinamerikabild der Euopäer. Rimdfunkbeitrag für die RIAS-Funkuniversität, 116. Sendefolge: »Die Entstehung der Neuen Welt«, gesendet am 9. September 1992. Erstmals in: Schweizer Monatshefte, 72. Jg., H. 12 (Zürich, Dez. 1992): 1001-1014. Hier gekürzt. Spiegelungen II: Zum Europabild der Lateinamerikaner. Rundfunkbeitrag für die RIAS-Funkuniversität, 116. Sendefolge: »Die Entstehung der Neuen Welt«, gesendet am 14. Sept. 1992. Erstmals in: Schweizer Monatshefte, 72. Jg., H. 12 (Zürich, Dez. 1992): 1001-1014. Hier gekürzt. Wie auch das Bild Lateinamerikas eingeschwärzt wurde. Erstmals als »Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum. Seine Beeinflussung durch die Schwarze Legende. (Erweiterte Fassung der Abschiedsvoriesung an der Universität St.Gallen, am 17.Februar 1989), St. Gallen: HSG (Institutsdruck), 1989, 37 S. Femer in: Gustav Siebenmann. 1989. Essays zur spanischen Literatur. Frankfurt/ M.: Vervuert: 55-84. Hier überarbeitet. Zum Lateinamerikabild deutscher Leser. Erstmals als »Vom Zauber der Erfindungen zum Trug der Empfindungen. Amerika im Spiegel der Literatur«, in Amerika 1492-1992. Neue Welten - Neue Wirklichkeiten: Essays. Aus Anlass der Ausstellung Amerika 1492-1992. Neue Welten-Neue Wirklichkeiten der Stiftung Preussischer Kulturbesitz im Martin-Gropius-Bau (Berlin, 19.9.92 - 3.1.93), Braunschweig: Westermann, 1992: 78-87. Hier überarbeitet. Die Zentenarfeiem der Entdeckung im Vergleich. Erstmals in: Graeber, W. et al. (Hg.): Romanistik als vergleichende Literaturwissenschaft. Festschrift für Jürgen v. Stackelberg, Frankfurt/M.: Lang, 1996: 349-359. Hier überarbeitet. Gachupines und cholos. Deutsch unveröffentlicht. Spanische Fassung in: Simson, Ingrid (Hg.): América en España: influencias, intereses, imágenes, Frankfurt/M.: Vervuert, 2003 (im Druck).

146 Barbar ist ein Barbar ist ein Barbar ist ein Barbar. Erstmals in: Mathis-Moser, Ursula et al. (Hg.): Blumen und andere Gewächse des Bösen in der Literatur. Festschrift für Wolfram Krömer zum 65. Geburtstag, Frankfurt/M: Lang, 2000:169-177. Hier überarbeitet. Non liquet. Gibt es Gründe für die Stundung der Zukunft Lateinamerikas? Unveröffentlicht.

Schriftenverzeichnis von Gustav Siebenmann

A. Buchpublikationen Sprache und Stil im Lazarillo de Tormes, Bern: Francke, 1953 (Romanica Helvetica; 43), 113 S. Die moderne Lyrik in Spanien. Ein Beitrag zu ihrer Stilgeschichte, Stuttgart: W. Kohlhammer, 1965, 318 S. (Sprache und Literatur; 22). Hacia una critica científica. Análisis de la problemática relación entre literatura y ciencia, Asunción (Paraguay): Ediciones Diálogo, 1970. Edition V. Pedro Calderón de la Barca: El Gran Duque de Gandía, Salamanca: Biblioteca Anaya; 91, 1970. Die neuere Literatur Lateinamerikas und ihre Rezeption im deutschen Sprachraum. Con un resumen en castellano, Berlin: Colloquium, 1972,91 S. (Bibliotheca Ibero-Americana; 17). (Zusammen mit Rainer Hess und Mireille Frauenrath): Literaturwissenschaftliches Wörterbuchßr Romanisten, Frankfurt/M.: Athenäum, 1972, 241 S. (Schweφunkte Romanistik; 89). Los estilos poéticos en España desde 1900, Madrid: Credos, 1973, 582 S. (Biblioteca Románica Hispánica, Estudios y Ensayos; 183) Herausgeber: Die lateinamerikanische Hacienda/La Hacienda en América latina. Ihre Rolle in der Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft/Su importancia histórica para la economía y la sociedad. Akten des interdisziplinären Kolloquiums in St. Gallen, Juni 1978/Actas del Coloquio interdisciplinario de San Gall, junio de 1978, Diessenhofen: Verlag Rüegger für Rechts- und Wirtschaflsliteratur, 1979, 273 S. (Buchreihe des Lateinamerikanischen Instituts an der Hochschule St. Gallen; 15). Herausgeber und Vorwort zu Pedro Calderón de la Barca: Das grosse Welttheater in der neuen deutschen Übertragung von Hans Gerd Kübel und Wolfgang Franke. Einmalige Sonderausgabe zum 300. Todestag des Dichters, Einsiedeln, 1981. (Zusammen mit Donatella Casetti): Bibliographie der aus dem Spanischen, Portugiesischen und Katalanischen ins Deutsche übersetzten Literatur (1945-1983), Tübingen: Max Niemeyer, 1985,190 S. (Beiheñe zur Iberoromania; 3) (Zusammen mit José Manuel López): Spanische Lyrik des 20. Jahrhunderts, Spanisch/Deutsch, Stuttgart: Ph. Reclam jun., 1985, 528 S. Estado presente de los estudios celestinescos (1956-1974), Separatdrack aus VRom, 34 (1975), 160212. (Bericht über die Celestina-Forxhvmg 1956-74), Bern: Francke, 1975,52 S. Ensayos de literatura hisparwamericana, Madrid: Taurus, 1988, 243 S. (Colección Persiles; 186). Essays zur spanischen Literatur, Frankfurt/M.: Vervuert, 1989, 346 S. (Zusammen mit Rainer Hess, Mireille Frauenrath, Tilbert D. Stegmann): Literaturwissenschaftliches Wörterbuch ßr Romanisten, Tübingen: Francke, 3., völlig neu bearb. u. erw. Aufl., 1989, 490 S. (UTB; 1373). Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum. Seine Beeinflussung durch die Schwarze Legende. (Erweiterte Fassung der Abschiedsvorlesung an der Hochschule St.Gallen, am 17. Februar 1989), St. Gallen: HSG (Institutsdruck), 1989,37 S. Erscheint auch im Essayband von 1989, überarbeitet. Zusammen mit Rainer Hess, Mireille Frauenrath, Tilbert D. Stegmann): Diccionario terminológico de las literaturas románicas, Madrid: Gredos, 1995, 326 S. (Biblioteca Románica Hispánica, V. Diccionarios; 17). (Zusammen mit Hans-Joachim König): Das Bild Lateinamerikas im deutschen Sprachraum. Ein Arbeitsgespräch an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, 15.-17. März 1989, Tübingen: Max Niemeyer, 1992, 249 S. (Beihefte zur Iberoromania; 8).

148 Die lateinamerikanische Lyrik. 1892-1992, Berlin: Erich Schmidt, 1993, 237 S. (Grundlagen der Romanistik; 17). Poesía y poéticas del Siglo XX en la América Hispana y el Brasil. Historia - movimientos - poetas, Madrid: Credos, 1997, 506 pp. (Bibhoteca Románica Hispánica, Manuales; 79). (Zusammen mit Karl Kohut und Dietrich Briesemeister): Deutsche in Lateinamerika - Lateinamerika in Deutschland, Frankfurt/M.: Vervuert, 1996, 449 S. (americana eystettiensia, Serie B; 7). (Zusammen mit Walther L. Bemecker und José Manuel López de Abiada): El peso del pasado: Percepciones de América y V Centenario, Madrid: Verbum, 1996, 166 S. (Zusammen mit José Manuel López de Abiada): Lateinamerika im deutschen Sprachraum - América Latina en el ámbito cultural alemán. Eine Auwahlbibliographie - Selección bibliográfica, Tübingen: Max Niemeyer, 1998, 399 S. (Beihefte zur Iberoromania; 13). »Zur bildlichen Darstellung von Lesenden«, Nachwort und Legenden zu 8 Leserbildern, in Louis Ribaux: Lesen und auslesen. Ein Buchhändler liest. Ein Privatdrack zu Ehren von Louis Ribaux, St. Gallen: VSG Veriagsgemeinschaft, 1999, 27 S. (Zusammen mit Rainer Hess und Tilbert D. Stegmann): Literaturwissenschaftliches Wörterbuch ßr Romanisten, Tübingen: Francke, 4., überarb. u. erw. Auflage, 2(ЮЗ (UTB; 1373) (im Druck). (Zusammen mit José Manuel López de Abiada): Spanische Lyrik des 20. Jahrhunderts, Spanisch/ Deutsch, Stuttgart: Ph. Reclam jun., 2. erw. Aufl., 2003 (RUB; 8035) (im Druck).

B. Beiträge in Festschriften und Sammelbänden »Der lateinamerikanische Roman als Reflex der sozialen Situation«, in: Lateinamerikanisches Institut der Hochschule St. Gallen (Hg.): Kultur in Lateinamerika. Lateinamerika Symposium 1968, St. Gallen 1969,25-44. Dasselbe spanisch: »La novela latinoamericana contemporánea como reflejo de la situación social«, in: IbRom, 3 (München, Oktober 1969), 244-252. Dasselbe portugiesisch: »O romance hispanoamericano como reflexo da situaçâo social«, in: Minas Gérais (Belo Horizonte), 5, 184 (7 de março de 1970), 1-3. »Die wiedergewonnene Allmacht des Erzählers. Baustein zu einem kritischen Verstehen von den años de soledad, dem Meisterroman von Gabriel Garcia Márquez«, in: Karl-Hermann Körner, Klaus Rühl (Hg.): Studia Iberica. Festschrift für Hans Flasche, Bern-München: Francke, 1973, 603-623. »Dichtung und die Methoden ihrer Deutung. Didaktische Überlegungen zur Schrittfolge«, in: Erich Köhler (Hg.): Sprachen der Lyrik. Festschrift für Hugo Friedrich zum 70. Geburtstag, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann, 1975, 831-849. Dasselbe spanisch: »Hacia una renovación metódica del análisis literario. (Consideraciones didácticas)«, in: Lingüística y educación. Actas del IV Congreso Internacional de la ALFAL, Lima, 6-10 de enero de 1975, Lima: Universidad Nacional Mayor de San Marcos, 1978, 42-57. »La identidad de América Latina«, in: Sabine Horl et al. (Hg.): Homenaje a Rudolf Grossmann. Festschrift zu seinem 85. Geburtstag, Frankfurt/M.: Peter Lang, 1977, 35-57. »Wie spanisch kommen uns die Spanier vor? Beobachtungen zur Verwendung dieses Volksnamens im Deutschen«, in: Gerhard Ernst, Amulf Stefenelli (Hg.): Sprache und Mensch in der Romania. Heinrich Kuen zum 80. Geburtstag, Wiesbaden: Franz Steiner Veriag, 1979,152-168. Erscheint auch im Essayband von 1989. Dasselbe spanisch: »¿Cuán griegos son los españoles para los alemanes? Observaciones sobre el uso del gentilicio >español< en el idioma alemán«, in: Cuadernos Hispanoamericanos, 388 (Madrid, octubre de 1982), 1-23. »Modernismen und Avantgarde in der Iberoromania«, in: Theo Elm, Gerd Hemmerich (Hg.): Zur Geschichtlichkeit der Moderne. Festschrift für Ulrich Fülleborn, München: W. Fink, 1982, 233-258. Spanisch: »Modernismos y vanguardia en el mundo ibérico«, in: Anuario de Letras, 20 (México, 1982), 251-286.

149 »Emesto Sàbato y su postulado de una novela metafísica«, in: Homenaje a Alfredo Roggiano. Revista Iberoamericana, 118-119 (1982), 289-302. Erscheint auch in Ensayos 1988. »Die neue Literatur Lateinamerikas: eine neue Weltliteratur?«, in: IbRom (NF), 18 (Dezember 1983), 139-149. (Festgabe für Heinrich Bihler zum 65. Geburtstag). »Visión de España en un viaje emblemático alemán de 1638«, in: Ángel Gómez Moreno et al. (eds.): ARCADIA. Estudios y textos dedicados a Francisco López Estrada, Madrid: Universidad Complutense, 1987 [1990], 321-330. »César Vallejo und die Avantgarde«, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hg.): Akten des Symposiums über die Avantgarden in Europa und Lateinamerika, Berlin, September 1989, Frankfurt/M.: Vervuert, 1991, 337-359. »El lector omnipotente«, in: Nelson Cartagena/Christian Schmitt (eds.): Miscellanea Antverpiensia. Homenaje al vigésimo aniversario del Instituto de Estudios Hispánicos de la Universidad de Amberes, Tübingen: Max Niemeyer, 1992, 257-269. »Mis encuentros con Emesto Sàbato«, in: Irene Andres-Suárez et al. (Hg.): Estudios de Literatura y Lingüística españolas. Miscelánea en honor de Luis López Molina, Lausanne 1992,575-580. Dasselbe in: Homenaje a Ernesto Sàbato en sus 80 años, editado por Néstor Montenegro, Buenos Aires: Editorial Pianeta Argentina, 1991. »La recepción de Borges en Alemania«, in: Gian Battista de Cesare/Silvana Serafín (eds.): El Girador, Studi di letterature iberiche e ibero-americane offerti a Giuseppe Bellini, Roma: Bulzoni, 1993, voi. II, 931-943. »Lob der Dämmerung. Zu einem Gedicht von Claudio Rodríguez«, in: Titus Heydenreich et al. (Hg.): Romanische Lyrik. Dichtung und Poetik. Walter Pabst zu Ehren, Tübingen: Stauffenberg, 1993, 221-232. Dasselbe spanisch: »Otro elogio de la sombra: inteφretación de >La mañana del búhoCuentos de imaginación razonada