Subversive Ästhetik: Regression als Bedingung und Thema von Marcel Prousts Romankunst 9783111593555, 9783484220157


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German Pages 127 [136] Year 1975

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Table of contents :
Inhalt
I. Vorbemerkung
II. Anstösse zu einem veränderten Proust-Bild
III. Das Lächeln der Großmutter und die matriarchalische Traumwelt
IV. Architektur und Psychoanalyse des Glücks
V. Zum Regelprozeß unmöglicher Verständigung und Liebe
VI. Die Welt und Unterwelt der Gesellschaft
VII. Ursprung und Wirkung der subversiven Ästhetik
VIII. Der Totalitätsanspruch eines bürgerlichen Romans
IX. Literaturverzeichnis
X. Register
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Subversive Ästhetik: Regression als Bedingung und Thema von Marcel Prousts Romankunst
 9783111593555, 9783484220157

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Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft

Herausgegeben von Klaus Baumgärtner und Peter von Matt

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Manfred Schneider

Subversive Ästhetik Regression als Bedingung und Thema von Marcel Prousts Romankunst

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975

Herausgeber für Sprachwissenschaft Klaus Baumgärtner (Universität Stuttgart) Herausgeber für Literaturwissenschaft Peter von Matt (Universität Zürich)

ISBN 3-484-22015-5 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975 Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Rothfuchs Dettenhausen

Inhalt

I II III IV V VI VII VIII IX X

Vorbemerkung Anstöße zu einem veränderten Proust-Bild Das Lächeln der Großmutter und die matriarchalische Traumwelt. Architektur und Psychoanalyse des Glücks i . .. . Zum Regelprozeß unmöglicher Verständigung und Liebe Die Welt und Unterwelt der Gesellschaft Ursprung und Wirkung der subversiven Ästhetik Der Totalitätsanspruch eines bürgerlichen Romans Literaturverzeichnis Register

1 10 18 28 49 64 84 114 123 126

I Vorbemerkung

Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Stück Literaturtheorie in Gestalt eines exemplarisch gefaßten interpretierenden Beitrages zum Romanwerk Marcel Prousts. In dieser Art der Darbietung hat sich die methodische Reflexion der Studie bereits dispositionell abgesetzt. Denn der Rahmen ihrer Organisation bestimmt sich von der Überzeugung her, daß alle Methodologie in dem Maße, wie sie sich von dem Gegenstand ihres Interesses entfernt, als Rezeptur oder Technologie des Verstehens zu erstarren droht. Die gegenwärtig zu beobachtende Verdinglichung der wissenschaftlichen Selbstreflektion geht nicht zufällig mit ihrer Vermarktung Hand in Hand. 1 Dieser Gefahr, daß sich Methodologie von der Kybernetik ihres historischen und stofflichen Zusammenhanges löst und, sich selbst regelnd, abtreibt, dieser Gefahr entgeht freilich nur ein Bewußtsein von Wissenschaft, das die Legitimation der eigenen Arbeit zur ständigen Aufgabe erhebt und sich darin kritisch kontrolliert. Eine Literaturwissenschaft, welche die gesellschaftlich verantwortete Selbstbegrüñdung verweigert, diskreditiert sich als ein ebenso chaotisches Verhalten wie jene pseudo-emanzipatorische Praxis, die ihre theoretisch gefaßten Ziele unter Vernachlässigung der sie begründenden Gegenstände erreichen zu können glaubt. Ausführung und Methode wissenschaftlicher Arbeit legitimieren und korrigieren sich wechselseitig. Dennoch darf der Leser erwarten, über den theoretischen Hintergrund, wie er sich erst im Laufe der Darstellung entwickelt und aufhellt, im voraus informiert zu werden. Entwurf und Skizze präjudizieren nicht das Ergebnis, und der Anspruch einer solchen Studie, die in 1

Die Unzahl von Taschenbüchern und Readers zur literaturwissenschaftlichen Methodologie, die den Büchermarkt überflutet haben, sind ihrem Inhalt und'ihrer Warengestalt nach Ausdruck beider Prozesse. Zu Max Horkheimers Kritik der instrumenteilen Vernunft aus dem Jahre 1946 (Neuauflage Frankfurt 1974) wäre ein Zusatzkapitel zu schreiben, worin nicht nur der Verlust der philosophisch reflektierten Totalität der Wissenschaften, sondern auch der Verlust der methodischen Einheit der Geisteswissenschaften historisch hergeleitet würde.

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den Kommunikationsprozeß der Wissenschaft einzutreten begehrt, bewährt sich nur vor der Kritik der Angesprochenen. Marcel Prousts Roman A la recherche du temps perdu erzählt die Geschichte eines individuellen Bewußtseins, analysiert die gesellschaftlichen Umstände, in denen sich dieses Bewußtsein konstituiert, und enthält darin vermittelt die Genese und ästhetische Begründung seiner selbst. Insofern also entfaltet der Roman mit seiner epischen Thematik eine Reihe von Problemkreisen, aus denen sich Grundfragen der aktuellen literaturtheoretischen Diskussion herleiten lassen,und bietet sich damit an zur interpretatorisch abgesicherten Klärung einiger in dieser Diskussion vernachlässigter Aspekte. Allerdings setzen sinnvolle Antworten verständnisvolle Fragen voraus. Und so muß betont werden, daß das Erkenntnisinteresse, das sich hier an Prousts Roman entzündet, nur als ein einheitliches richtig aufgefaßt wird. Die Frage nach dem Verhältnis der individuellen und objektiv-gesellschaftlichen Kräfte, die auf die Entstehung des Kunstwerkes einwirken, und die Frage nach der Art, wie diese in der ästhetischen Struktur ansichtig werden, lassen sich nur gewaltsam aufgliedern. Dennoch erfordert die gegenwärtige Methodendiskussion, bei der vor allem Spezialisten einander befremdlich anschauen, die Sondierung der verschiedenen Ressorts, auf denen diese Untersuchung Kompetenzen beansprucht: Soziologische Frage: Wie haben sich die ökonomischen und gesellschaftlichen Verkehrsformen der Pariser Bourgeoisie um 1900 in Prousts Biographie - der realen und erzählten - niedergeschlagen? Psychoanalytische Frage: Welcher individualpsychologische Vorgang liegt dem Prozeß der „recherche" und dem Erlebnis des „temps retrouvé" zugrunde, und wie läßt er sich verstehen? Ästhetische Frage: Worin liegt die Einheit von Aufbau und Kunstanspruch des Romans begründet? Die Künstlichkeit dieser definitorischen Aufgliederung liest sich bereits daran ab, daß die einzelnen Fragen, deren dialektischer Zusammenhang vorausgesetzt wird, nur terminologisch miteinander verbunden scheinen. Ihre Einheit kann aber durch die inhaltliche Erläuterung eines Leitbegriffes dieser Studie, in dem sich theoretisches und interpretatorisches Erkenntnisinteresse verbinden, wiederhergestellt werden. Es ist der Begriff der Regression. Sigmund Freud widmet der Bestimmung dieses Begriffs die 22. seiner Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.2 Dort schildert er, wie er bei der Analyse der sogenannten „Übertragungsneurosen" auf einen psychischen Konflikt gestoßen ist, der die Ursache dieser rätselhaften Krankheit 2

Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, Frankfurt 4 1966; Bd. XI, S. 354. 2

bildet. Immer wieder konnte er beobachten, wie die (durch verschiedene Ursachen ausgelöste) „Rückkehr zu den ersten von der Libido besetzten Objekten" oder sogar die „Rückkehr der gesamten Sexualorganisation zu früheren Stufen", Vorgänge, die vom bewußten Ich nicht mitvollzogen, sondern verdrängt werden, Symptome hervorrufen, die die neurotischen Erkrankungen kennzeichnen. Seine Beobachtung dieser regressiven Vorgänge führte Freud auch zu einem Verständnis der Perversionen: Sie bilden sich meist dann aus, wenn das Ich sich der Regression nicht entgegensetzt oder seine Verdrängungsarbeit ohne Erfolg bleibt. Neben dieser libidinösen Regression lassen sich, wie Freund am Ende der gleichen Vorlesung andeutet, auch „Ichregressionen" beobachten, die gleichfalls zu neurotischen Erkrankungen führen können. Sie verstehen sich als anomale psychische Vorgänge, bei denen nicht nur die Libido, sondern auch der bewußte Kern der Persönlichkeit auf frühere Stufen der Entwicklung ausweicht. Es bedarf nun keines vertieften psychoanalytischen Beweisaufwandes, um beide Formen der Regression in bestimmter Hinsicht aus Prousts Biographie herauszulesen: Zum einen erweist sich die bekannte Tatsache der Inversion des Schriftstellers als regressive Variation „normaler" Sexualität, weil sie auf einer nie überwundenen Fixierung an die Mutter beruht. Andererseits bedeutet die Lebensform Prousts in den Jahren der Niederschrift des Romans: Asozialität, ständiger Aufenthalt im Bett, Abhängigkeit von der Pflege einer vertrauten Person, völlige Absorption durch die literarische Phantasietätigkeit, eine bewußte, also eine Ich-Regression. Mit dem Erkenntnisinteresse einer strengen Individualpsychologie, die nur nach dem Verbleib und den verschiedenen Besetzungsobjekten der libidinösen Energie fragt, ließen sich die Regressionen in einem einfachen Zusammenhang analysieren: Indem der kleine Marcel zur Lösung des ödipalen Konfliktes den sexuellen Kern seiner Fixierung an die Mutter verdrängt, „regrediert die aufgegebene Objektwahl zur Identifizierung". 3 Diese fuhrt zu einer narzißtischen Haltung, aus der sich sowohl Prousts Inversion als auch sein enormer Drang nach gesellschaftlicher Anerkennung erklären. In der späteren Zeit, anschließend an den Tod der Mutter, wird das narzißtische Ich aufgegeben, und dieses regrediert erneut zugunsten des literarischen Ich. Hier muß allerdings mit Adorno eingewendet werden: „der umstandslose Ansatz beim Individuum ist Ideologie". ' Er entstellt den isolierten Men3 Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, a.a.O. Bd. XV, S. 76. 4 Theodor W. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: Socio-

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sehen zu einem Aggregat von Kräften, deren Herkunftlosigkeit und undurchschaubare Richtungsnahme den Selbstverlust des entfremdeten Individuums nur deterministisch verschieben. Es finden sich vielmehr zahlreiche Ansatzpunkte, um die Regression des Salon-Bourgeois Proust zum Künstler primär als soziales Verhalten zu verstehen. Abgesehen von den Tatsachen, die der Roman selbst verarbeitet und die Gegenstand der Analyse sein werden, beweisen alle bekannten Zeugnisse,5 daß Proust seine psychische und intellektuelle Leistungsfähigkeit unter den Bedingungen der letzten Lebensjahre nicht eingebüßt hat, denn solche Einschränkungen gehören gewöhnlich zu pathologischen, als Ich-Regressionen realistisch aufgefaßten psychischen Zuständen wie Schizophrenie oder Katatonie. Vielmehr bildet die soziale Regression offenbar die äußere und innere Voraussetzung für eine kulturelle Leistung von höchster Qualität, deren sozialer Anspruch wiederum darin ansichtig wird, daß Proust (etwa im Gegensatz zu Kafka) die Publikation seines Romans mit aller Energie betreibt. Läßt sich aber die Ich-Regression in ihrem gesellschaftlichen Charakter richtig und vielleicht konvergierend mit Prousts eigenem Bekenntnis auffassen, so stellt sich zugleich die Frage nach den Ursachen der Libido-Regression, welcher die des Ichs ja nur nachzufolgen scheint. Hier also offenbaren die oben einzeln definierten Fragestellungen ihren Zusammenhang schon klarer, wenn er sich auch aus einer noch zu pathologisch eingefärbten Vorstellung von Regression ergibt. Daß aber mit diesem skizzierten Vorgang weder die Rückkehr auf eine phylogenetische oder ontogenetische Frühstufe noch das Aufwühlen archaischer Phantasien angesprochen wird, dies läßt sich erst durch eine Interpretation der Recherche vollständig erläutern: Formal gesehen, stellt sich der Roman als Prozeß der Selbstanalyse dar. Der Erzähler vermag sich biographisch nicht in der logischen oder chronologischen Ordnung eines Lebensablaufs zu reproduzieren, sondern er kann stets nur verschiedene, nicht identische Fragmente seiner selbst erinnern, wie weit auseinanderliegende heterogene Landschaften. Doch immer wieder treiben die verschiedenen Zeitstücke des Erzähler-Ichs gemeinsame Affekt- und Erlebnisfragmente hervor, deren eigentliche Qualität zwar nicht aufzuhellen ist, die aber den Kern des verlorenen zusammenhängenden Ich zu bilden scheinen. Erst die Kumulation solcher Erlebnisse, so glaubt der Erzähler, hat es ihm am Ende ermöglicht, die an diesen Er-

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logica. Aufsätze, Max Horkheimer zum 60. Geburtstag gewidmet, Frankfurt 1955; S. 1 1 - 4 5 ; S. 22. Eines der neuesten Zeugnisse dafür bilden die Erinnerungen von Prousts Haushälterin Céleste Albaret, Monsieur Proust, München 1974.

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innerungen hängenden Ereignisse wiederzufinden. Verloren waren aber nicht die vergessenen Zeiten und Räume, verloren war die verdrängte Emotionalität der diesen Bereichen zugehörigen Kindheit. Die dank gesellschaftlicher Anpassung gestörte Identität wird somit nicht durch die Konstitution eines neuen Bewußtseins gewonnen, sondern durch die regressive Rekonstitution eines alten. Sie bedeutet die Wiederherstellung eines seelischen Status, der unter den herrschenden Produktions- und Reproduktionsbedingungen nicht zu erhalten war und darum während des Sozialisationsvorganges abgebaut werden mußte. Damit wird allmählich die positive Schicht des Regressionsbegriffs freigelegt, oder besser: sein kritischer Akzent. Es verschlägt dabei nichts, daß von dieser Basis her eine scheinbar asoziale Haltung legitimiert wird. Proust gibt zwar alle gesellschaftlichen Bindungen auf, doch nur zugunsten einer - teilweise unbewußten — alten Bindung, der an die Mutter, aus der sich alle anderen sozialen Beziehungen heraus entfaltet hatten. Diesen innersten Bedeutungskern der „wiedergefundenen Zeit" vermag nur eine psychoanalytische Deutung freizulegen, dem Autor selbst kann das nicht gelingen; statt dessen beschwört er die für den literarischen Wert des Romans sehr viel gewichtigere psychische Realität der zurückgewonnenen Kindheitswelt, d.h. die jener frühen Stufe der Sexual- und Ichentwicklung entsprechenden Erlebnisformen. Tatsächlich quillt hieraus keine literarisch aufgemachte Infantilität, denn die regressive Person verliert nicht ihre gesellschaftliche Erfahrung. In ihr verbinden sich eine hochentwickelte kritische Beobachtungsgabe mit freier unverdorbener Emotionalität. Und so gelingt es Proust, die Gesellschaft seiner Zeit mit aller Schärfe in dem Prozeß der Entfremdung zu porträtieren und zugleich seiner Darstellung die psychische Anteilnahme eines von diesem Prozeß verschonten Ich zu verleihen. Der Begriff der Regression wird auf diesem Wege zur Leitvorstellung eines psychischen, sozialen und ästhetischen Verhaltens.6 Sein negativer Ge6

Die vorstehenden Bemerkungen machen deutlich, daß sich das theoretische Selbstverständnis dieser Studie an den Arbeiten von Herberl Marcuse und Jürgen Habermas ausgebildet hat. Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft (Frankfurt 1971) stellt wohl die klarste und radikalste gesellschaftstheoretische Explikation der Psychoanalyse, d.h. des Freudschen Systems, dar. Sie bildet gewissermaßen den metahermeneutischen Hintergrund der vorliegenden Arbeit. Das heißt: bei der Interpretation von Prousts Roman geht es nicht um die philologische Applikation eines theoretischen Welt- und Gesellschaftsverständnisses, sondern um die hermeneutische Herausarbeitung dieser Theorie und ihrer partiellen Korrektur als eigensten Horizont der Erzählung. Dem Thesenhaft-Utopischen in Marcuses Theorie wird das Praktisch-Empirische einer Art Biographie und ihres ästhetischen Ausdrucks entgegengehalten. Zwar weist Marcuse selbst (a.a.O. S. 229f.) auf den regressiven

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halt geht zu Lasten einer sozialen Wirklichkeit, die die Progression eines differenzierten psychischen Lebens gesellschaftlich und ästhetisch nicht zuläßt. Indem aus dieser Vorstellung ein Beitrag zur Selbsterkenntnis des Menschen, seines historischen, gesellschaftlichen und seelischen Schicksals gewonnen werden kann, ö f f n e t sich der Blick für den weiteren Zusammenhang eines Aufklärungsdenkens, in dem auch das Amalgam von Theorie und Interpretation dieser Arbeit seine Begründung findet. Freuds Satz „Wo Es war, soll Ich werden" aus der 31. der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse läßt sich als Kurzfassung der Fabel der Recherche wie auch des hier entwickelten Verständnisansatzes bestimmen; es skizziert überhaupt das gemeinsame moralische und funktionale Interesse aller Wissenschaft, die sich der Tradition aufklärerischen Denkens verpflichtet sieht: Bedingung und Zukunft des gesellschaftlichen Lebens zu reflektieren. Das gemeinsame Programm einer Psychoanalyse, die über den Charakter des im „temps retrouvé" gefundenen Glückes hin, aber lediglich als Aufbauelement seiner allgemeinen Interpretation der Bewußtseinskonstitution des Menschen unter den sozialen Bedingungen der sogenannten „modernen Industriegesellschaft". In der Begrifflichkeit von Habermas' „Logik allgemeiner Interpretation" (Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968) läßt sich der methodologische Rahmen dieser Arbeit folgendermaßen skizzieren: Prousts Roman wird als „narrative Rekonstruktion der Lebensgeschichte" ihres Autors aufgefaßt. In ihr ist damit als genereller Bezug die hermeneutische Folie der Psychoanalyse und darin wiederum die der allgemeinen Interpretation der gesellschaftlichen Bedingtheit jener biographischen Ereignisse vermittelt, welche durch die Analyse in ihrer seelischen Kausalität verstanden wurden. Dank dieser vorhandenen allgemeinen Interpretationen bedarf es nur einer analytischen Deutung bekannter vorhandener Symptome, um diese immanenten Zusammenhänge und die Generalität des seelischen Schicksals aufzudecken. Darüberhinaus wird aber Prousts Roman auch als individuelle Selbstdokumentation verstanden, worin die allgemeine Geschichte sich in der Form unwiederholbarer Eigenart bekundet und auf diese Weise wiederum das Bild und den Rahmen der allgemeinen Interpretationen verändert bzw. erweitert: Dies bildet die Funktion des ästhetischen Charakters, der als individuelle Perspektive auch das Unverstandene in einen sinnstiftenden Zusammenhang zieht. Bei Proust versteht sich der ästhetische narrative Zusammenhang als das regressiv überwundene Allgemeine, das ja auch einen narrativen Kontext bildete. Um aber den ästhetischen Zusammenhang zu erkennen, bedarf es einer hermeneutisch-explizierenden Verfahrensweise, die* zwar im Horizont der analytischen abläuft, der allgemeinen Interpretation aber eine neue Erkenntnis zuzuschlagen vermag: Nicht nur die Analyse im dialogischen Verhältnis von Analysand und Analytiker, sondern auch die monologische Regression des Ästhetischen ist eine mögliche Form der psychischen Therapie. Diese doppelte Erkenntnis bildet wiederum einen Beitrag zum Verständnis von Umfang und Grenzen literaturwissenschaftlicher Methodologie. Er ist das übergeordnete Ziel dieser Arbeit. 6

Standard biographischer Indiskretionen hinausreichen will, und einer Literaturwissenschaft, die der unverbindlichen spielerischen Ästhetik entwachsen möchte, ließe sich nämlich analog so fassen: Wo Irratio war, soll Ratio werden. Freilich wäre der Begriff dieser Ratio näher zu explizieren. Sie hätte nichts gemein mit jener Rationalität, die sich z u m Funktionär ökonomischer Zweckmäßigkeit herabgesetzt sieht; ihr wäre vielmehr der Hegeische Begriff von Vernunft zu unterlegen, dessen voller Umfang, „Gewißheit, alle Realität zu sein", 7 im historischen Prozeß konstituiert wird, besser: noch kon7

Georg Wilhelm Friedlich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Theorie-Werkausgabe, 20 Bde., Frankfurt 1972; Bd. 3, S. 181. Herbert Marcuse weist auch darauf hin (a.a.O. S. 229), daß der Begriff der Erinnerung im Konstitutionsprozeß des Geistes bei Hegel analog dem der psychoanalytischen Therapie zu sehen ist. Wichtig für diesen Zusammenhang ist auch die Arbeit von Paul Ricoeur, der in seiner großangelegten Studie De ¡'Interpretation. Essai sur Freud (deutsch: Frankfurt 1974) Freud und Hegel auseinander zu explizieren sucht und aus dieser Synopsis einen neuen, auch für die Literaturwissenschaft wichtigen hermeneutischen Ansatz entwickelt. Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Buch Ricoeurs erforderte ein eigenes, und eine partielle indirekte stellt das vorliegende auch dar. Auf folgende Gemeinsamkeiten und Gegensätze sei aber kurz hingewiesen: Ricoeur revidiert den von Freud und seinen Schülern verteidigten Symbolbegriff. Er weist nach, wie bei Freud, Jones, Rank u.a. der Umfang des Bezeichnenden zugunsten des Bezeichneten vernachlässigt wird, und setzt dem eine „Dialektik des überdeterminierten Symbols" entgegen (a.a.O. S. 507ff.). Das Symbol wird als Synthese aufgefaßt, worin die archaischen Phantasien einer prospektiven Interpretation ausgesetzt werden, als Verbindung von Progression und Regression. Die aufklärende Funktion von Kunst bestimmt Ricoeur im Anschluß an seine Interpretation des sophokleischen König Ödipus in folgender Weise: „ . . . weil im Kunstwerk die Entschleierung dominiert, ist es eher ein prospektives Symbol der persönlichen Synthese und der Zukunft des Menschen und nicht nur ein regressives Symptom seiner ungelösten Konflikte. Aus dem gleichen Grunde ist die Lust für uns Laien nicht nur die bloße, wenn auch mit einer Verlockungsprämie ausgestattete Wiederbelebung unserer eigenen Konflikte, sondern die Lust, an der Arbeit der Wahrheit teilzunehmen, die sich durch den Helden hindurch vollzieht". (a.a.O. S. 533) Trotz einer verständnisvollen Einsicht in den seelischen Verarbeitungsprozeß, der die Dialektik von Regression und Progression antreibt, und trotz einer weitgehenden Adaption der Hegeischen Dialektik verschwindet in der Dynamik von Ricoeurs Terminologie die Bewegung der Geschichte, nämlich als konkrete Veränderung der Umstände und der sich an diesen Bedingungen entfaltenden Menschheit. Nicht zufallig mündet seine Untersuchung in eine Betrachtung zur religiösen Symbolik als der zwiespältigen Offenbarung regressiver und progressiver Signale. Denn gerade in den Stereotypen der religiösen Symbole erstarrt die Geschichte zur Omnipräsenz seelischer Selbstoffenbarung einer phantasierenden Menschheit. Mit seinen Darlegungen glaubt Ricoeur Freuds Begriff der Realität „zerrissen", ohne zu sehen, daß die Freudsche Entdeckung des Gegensatzes von Realität und Lust erst die verschiedenen (auch über Freud hinausreichenden) Hermeneutiken

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stituiert werden muß. Denn die Idee einer vernünftigen menschlichen Entwicklung ist immer wieder von der Herrschaft der Menschen, worin sich partielles Bewußtsein als totales und nicht selten als totalitäres ausgab, verdunkelt worden. Nicht zufällig stellt Hegel die Bewegung des zu sich selbst gelangenden Bewußtseins in der dialektischen Beziehung von Herrschaft und Knechtschaft dar; in diesen ganz und gar abstrakt gedachten Kategorien schwingt freilich die Erfahrung der konkreten Dialektik geschichtlicher Vernunftkonstitution mit. Irratio in Ratio verwandeln heißt also: aus dem kollektiven und individuellen Unbewußten nicht das archaische, sondern das geschichtlich entfaltete, aber unterdrückte Wesen des Menschen befreien und dem geschichtlichen Bewußtsein der Gattung zuschlagen. Sigmund Freud selbst hat den individualpsychologischen Vorgang der Inbesitznahme des Es durch das Ich einem kollektiv-kulturellen verglichen, der „Trockenlegung der Zuydersee", 8 und damit selbst die Brücke zu einem gesellschaftstheoretischen Verständnis der Psychoanalyse geschlagen, deren Konvergenz mit dem Marxschen Bild der menschlichen Gattungsgeschichte als erster Jürgen Habermas erkannt hat. 9 Das sich seines Es bemächtigende Ich bildet die abstrahierte Vorstellung eines Patienten, der aus dem Stadium des Leidens heraustritt, indem er die fehlgeleiteten seelischen Antriebe für das soziale Leben freimacht. Dies bedeutet aber nicht unbedingt Anpassung, wie Adorno kritisiert,10 sondern - das Beispiel Proust zeigt es gerade — die Entfaltung der schöpferischen Kräfte zur Kritik und Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die den pathogenen Kontext des früheren Lebens ausmachten. Indem ein Individuum Einblick in seine Leidensgeschichte, d.h. in seinen eigenen Sozialisationsprozeß gewinnt, nimmt es einen Teil seines Wesens in Besitz, der ein gewissermaßen von den Herrschaftsbedürfnissen der Gesellschaft enteigneter personaler Bezirk gewesen ist. Auf die Geschichte projiziert, liest sich der gleiche Vorgang so: Wenn die Wissenschaft dem Irrationalen Neuland abringt, beschleunigt sie den Prozeß, worin die Menschheit das Stadium eines Patienten historischer Vorgänge verläßt und zu deren kollektivem Agenten wird. Und die Literaturwissenschaft hat sich diesem Prozeß so einzugliedern, daß sie ihren Gegenstand nicht deverschiedener Realitäten, ihrer historischen und seelischen Determinanten und ihrer progressiven Überwindung, möglich gemacht hat. Eine ehrliche dialektische Auffassung geistiger und sozialer Sachverhalte wird in ihrer Geschichtlichkeit nie ihr spezifisches Element entdecken, wenn sie nicht zugleich auch wissenschaftliche Demut angesichts der eigenen Geschichtsverfallenheit unter Beweis stellt. 8 Neue Vorlesungen, a.a.O. S. 86. 9 a.a.O. S. 336ff. 10 a.a.O. S. 22.

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terministisch auflöst, sondern ihren doppelten Zusammenhang, den historischrealen und den individuell-psychologischen, in seiner Dialektik begreift und expliziert. Damit öffnet literaturwissenschaftliche Erkenntnis einen Weg, der zur Wiederentdeckung und Inbesitznahme des historisch-gesellschaftlich offenbaren und verborgenen Wesens der Menschen führt. Diese Inbesitznahme erfolgt jedoch nur dann vollständig, wenn sich die Wissenschaftler aufgerufen fühlen, die projektiven Elemente der aufgedeckten regressiven Phantasien zu verstehen und institutionell umzusetzen.

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II Anstösse zu einem veränderten Proust-Bild

Samuel Beckett hat in seinem 1931 veröffentlichten Proust-Essay als einer der ersten Kritiker gesehen, in welchem Maße der Zusammenbruch der menschlichen Beziehungen als Erfahrung und die intellektuelle Apotheose der Einsamkeit als Bedingung die inneren und äußeren Voraussetzungen für den Roman A la recherche du temps perdu bilden. Becketts Verdienst liegt dabei weniger in der Erkenntnis dieser beiden Elemente und noch weniger in der spekulativen Analyse ihres Zusammenhangs als in der Konsequenz, mit der er das Wort des Schriftstellers Proust für die Sache selbst nahm. Ein solches Verfahren hat sich ihm offenbar dadurch angeboten, daß Proust die Historie und den Mythos seines Lebens mit Ansichten verflocht, die den bekannten Daten seiner Biographie mit keineswegs materieller Notwendigkeit entspringen, sondern die eigentlich den bitteren Rückstand an Erfahrung bilden, den sein verflogener Lebenswille hinterließ. Die Seherkraft des Blinden indessen bietet sich entweder kultischer oder ideologischer Ausbeutung an. Und so hat Beckett die zynischen Apophthegmata Prousts über einen mangelnden Lebenssinn außerhalb der Literatur begierig aufgegriffen, weil sie ihm bereits zu Beginn seiner eigenen produktiven Phase Essenz und Lebenswirklichkeit bedeuteten. Sie ließen ihn zu dem Schluß kommen, die „Tragödie" Prousts liege nicht in dem „codified breach of a local arrangement, organised by the knaves for the fools", nämlich dem möglicherweise enttäuschten Verzicht auf die Begegnung und Verständigung mit den Menschen, sondern in der Ursünde, überhaupt geboren zu sein.11 Der Riesenroman der Recherche als Sühne der Ursünde - so liest sich das Aperçu einer spezifisch Beckettschen Deutung, der damit Proust als einen frühen Bewohner seines sich erst allmählich entwickelnden Kosmos von Gestalten, die nichts als ihre Leiblichkeit büßen, registriert. Aber diese Vorstellung findet Belegmaterial, denn Proust hat seinen Roman unter dem nicht völlig unbewußt ablaufenden Prozeß der körperlichen und seelischen Regression verfaßt, und das letzte Stadium dieses sich auflösenden Lebens hat der 11 Samuel Beckett, Proust, in: S.B., Proust. Three Dialogues, London 1965; S. 67.

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Dichter wenige Wochen vor seinem Tod in einem Brief an Gaston Gallimard selbst beschrieben: D'autres que moi, et je m'en réjouis, ont la jouissance de l'univers. Je n'ai plus ni le mouvement, ni la parole, ni la pensée, ni le simple bien-être de ne pas souffrir. Ainsi, expulsé pour ainsi dire de moi-même, je me réfugie dans les tomes que je palpe à défaut de les lire, et j'ai à leur égard, les précautions de la guêpe fouisseuse, sur laquelle Fabre a écrit ses admirables pages citées par Metchnikoff et que vous connaissez certainement. Recroquevillé comme elle et privé de tout, je ne m'occupe plus que de leur fournir à travers le monde des esprits l'expansion qui m'est refusée. 12

Doch es läßt sich auch in diesen bewegenden Bildern eines willenlos dem eigenen Verfall zuschauenden Menschen, der wie einen Fetisch seiner kulturellen Nützlichkeit die selbstverfaßten Bücher betastet, ein Moment der Selbststilisierung entdecken und zugleich damit ein Indiz dafür, daß Proust über die in ihre eigene Körperlichkeit eingesperrten Beckett-Figuren hinausragt. Denn sein Bild des fötal zusammenschnurrenden Leibes verklärt sich durch das Stigma eines physischen und sozialen Opfers an die eigene geistige Person, damit sie umso reiner in das Gefäß der Literatur überfließe: Die Regression des Lebens soll der Befreiung der geistigen Tat dienen, und im Einbruch des Daseins feiert dieser Schriftsteller sein wichtigstes Existentiale. Ist dies aber so selbstverständlich? Proust ist mit seinem Kult des Schmerzes und der Trauer als der notwendigen Nahrung des Schriftstellers immerhin einer populären Vorstellung von einem sich selbst verzehrenden Künstlertum entgegengekommen, welche auch heute noch in weitem Maße sein Bild in der Kritik bestimmt. Der an der Vollendung seines Werkes heroisch zerbrechende Künstler ist jedoch im Zeitalter der Sozialversicherung und der Schriftstellergewerkschaft keine geläufige Erwartung an den Dichter mehr und bildet auch keine Orientierungshilfe fur dessen literarische Selbstdarstellung; doch es wäre ein lohnendes Unternehmen, den geschichtlichen Nährboden und die gesellschaftliche Funktion dieses Mythos zu analysieren, der zwar in Nietzsche seinen ersten Hohenpriester fand, der aber viel allgemeiner die deformierte menschliche Anteilnahmsfähigkeit ausdrückt, die in der Epoche zunehmender Arbeitsteilung auch die Verwaltung des Leids und die Ökonomie des Mitgefühls bei den Dichtern in guten Händen glaubte. Dieses Traktat über Marcel Proust vermag auf die angedeuteten Fragen nur aus einer völlig anderen Sicht zu antworten, denn es hat wenig Sinn, den Leser an den Schutzmauern der ideologischen Selbstbegründung entlangzufuhren, die Proust in unermüdlichem Wiederholungszwang um sich herum aufbaut, 12 Marcel Proust, Choix de lettres, présentées et datées par Philip Kolb, préface de Jacques de Lacretelle, Meaux 1965; S. 280.

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dort also, wo sich gesellschaftliche Erwartung und subjektives Verständnis unauflösbar vermischen; vielmehr richtet sich jenes Erkenntnisinteresse, das dem Verfasser der Recherche gilt, auf die reale ursprüngliche Person, die unter der Schutzschicht der Anpassung, die Deformation und darum auch Leid bedeutet, in bemerkenswerter Schönheit verborgen ist. Nicht für Prousts Zynismus und Pessimismus, der modischen Arbeitskluft eines Intellektuellen, als hätte er im übrigen wie ein Phantom über den Wassern seiner Zeit geschwebt, sondern für das sich in diesen Attitüden gegen die Zeit schützende regressive Glücksverlangen und seine literarische Reproduktion sollen hier zunächst Präliminarien eines Verständnisses ausgebreitet werden. Es erfordert im Grunde nur eine besondere Konzentration, um die Recherche als eine ins Literarische transponierte fanatische Glückssuche und deren Chronik zu begreifen und um hinter den enttäuschten Abkehrformeln die unveränderten Umrisse ganz realer und als real geschilderter Erfüllungserlebnisse zu gewahren; aber es ist auch Skepsis vonnöten gegenüber einem standardisierten Glücksbegriff, der einem bürgerlichen Bewußtsein angehört, das, nach Adornos bekanntem Wort, „die Kunst üppig und das Leben asketisch" wünscht und eine Freiheit der Kunst kultiviert, die es dem Leben beharrlich verweigert. Als Funktionäre dieses Widerspruchs haben die mehr oder minder berufenen Interpreten und Biographen Marcel Prousts ihre Verständnislosigkeit einander getreulich vererbt. Zwar haben viele erkannt, daß die für die Lebenserwartung und den späteren Rückzug vom Leben entscheidenden Erlebnisse des biographischen und erzählenden Marcel in dessen Kindheit zu suchen sind und damit kompositorisch den ersten beiden Romanen der Recherche zugehören - Proust selbst und die an seine Bemerkungen anknüpfende Struktur- und Inhaltsinterpretation haben dies genügend expliziert. Dagegen erheben sich die ersten Zweifel am Wert der gängigen Biographik, wenn diese die besondere Sensibilität und Verletzbarkeit Prousts allein als Folge einer Reihe von pädagogischen Unfällen darstellt, welche noch in einer Deckerinnerung der „mémoire volontaire", nämlich der Gutenachtkußepisode, ihre dramatische Belegstelle haben. 13 Charles Briand gelingt es sogar, aus dieser Erzählung die Andeutungen einer inzestuösen Beziehung zur Mutter herauszulesen.14 Zwar stellt seine Argumentation eher eine epische Talent13 Vgl. Léon Pierre-Quint, Marcel Proust. Sa vie et son oeuvre, Paris 1946; S. 28ff. André Maurois, A la Recherche de Marcel Proust, Paris 1949; S. 14 f. George D. Painter, Marcel Proust. Eine Biographie, Frankfurt/Main 1 9 6 2 - 6 8 (2 Bde.); Bd. I, S. 32. 14 Charles Briand, Le secret de Marcel Proust, Paris 1950; S. 148ff. Briand ist erstaunlicherweise der erste Kritiker, der die im Roman so dicht entwickelte Sexualthematik völlig ernst genommen hat. Freilich mit einem unannehmbaren

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probe dar mit dem forensischen Wert einer Kriminalstory; aber die Art seiner Argumentation hat die Möglichkeit des Inzests auch nicht widerlegt. Allerdings rückt diese Frage in den Hintergrund angesichts der Tatsache, daß in der Biographie und im Roman übereinstimmend die Mutterbindung Marcels den Katalysator seiner Freuden und Enttäuschungen bildet. Wenn die Pädagogen unter den Biographen dies beklagen, so lassen sie trotz ausgeprägter Neigung zu hypothetischem Denken stets die Möglichkeit außer Betracht, daß nämlich die Empfindsamkeit und das starke Liebesbedürfnis Prousts als normal anzusehen wären, dagegen als verhängnisvoll die arbeitsteilige Erziehungsprozedur, die dem Vater den Gelderwerb, die straffreudige Repräsentation der Gesellschaft und die Stabilität ihrer Wertnormen anvertraut, der Mutter hingegen die Stillung der körperlichen Bedürfnisse und die zärtlichen Gesten überläßt. Es gibt nämlich genügend Anhaltspunkte, eine solche Auffassung überzeugend zu entwickeln, denn kaum eine Erfahrung scheint dem RomanIch schmerzvoller als die Polarisierung der Geschlechter, mit welcher die Bourgeoisie und die sich ihr anpassende Aristokratie zu Prousts Zeiten ihre gesellschaftlich-ökonomische Reproduktion sicherte. Die einzig sanktionierte Form der Geschlechtsbeziehung, die Ehe, war in einem von der Recherche moralisierenden Anspruch. So demonstriert er in der Beharrlichkeit, mit der er in Prousts freimütigen Bekenntnissen eine negative Auswahl trifft, nur um ihm Perversität nachzuweisen, und der kaum verdeckten Lüsternheit, mit der er ein Gegenbild angeblicher Normalität skizziert, alle Untugenden einer bürgerlichen Moral, deren Karikatur in der Recherche eigentlich sein Erkenntnisgegenstand ist. Proust vermag alle offenen zärtlichen und sadistischen Formen der Sexualität mit der gleichen Anteilnahme und Ernsthaftigkeit widerzugeben, von seinen eigenen Praktiken der Selbstbefriedigung bis hin zu Charlus' masochistischen Verirrungen. Spott und Kritik mischen sich lediglich in die Schilderungen von bewußter Unaufrichtigkeit und unerkannter Verdrängungssymptome. - Briand beruft sich - in völliger Verkennung ausgerechnet auf Simone de Beauvoirs Le deuxième sexe, um einen (in Racines Frauengestalten beispielsweise real gewordenen) „Mythos" des Weibes zu hypostasieren. Die dieser fixen Idee literarisch zuwiderlaufenden Erscheinungen disqualifiziert er wiederum moralisch, indem er in Anspielung auf Proust und Gide die Gefahr beschwört, die franz. Lit. zu Beginn des 20. Jh. sei im Begriff, eine Literatur von Päderasten zu werden (334f.). Briands Ontologie der männlichen und weiblichen Polarität zehrt allein von der Emphase seiner syntaktischen Anstrengung: „Plus la maîtresse sera et saura être femme, plus l'amant sera et se sentira homme. Cependant aucun des deux ne jouera un rôle : il est Lui et elle est Elle, à jamais distincts non seulement par le sexe mais par cet univers que chacun d'eux porte en soi et qui est, pour l'amant celui de l'homme, pour la maîtresse, celui de la femme" (364). Der Nachdruck, der hier auf die monadologische Einsamkeit der beiden Geschlechter, die im übrigen keinerlei psychologische oder sonstige Konturierung erfahren, gelegt wird, ist einer des Gefühls und nicht durchdacht. Und so ist es auch ein Affekt, der des Widerwillens, der die Inspirationsquelle von Briands Proust-Monographie bildet.

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einläßlich gezeigten Maße verdinglicht; indem sie in erster Linie zur Bewahrung oder Arrondierung des Familienreichtums diente oder zur äußeren Sicherung der berufslosen Frau herabsank, prägte sich dem gesellschaftlichen Bewußtsein das Schisma, von Liebe und Ehe ein, um dann die Institutionalisierung des Kokottenwesens nach sich zu ziehen. Marcels Mißtrauen in die ursprüngliche Möglichkeit jeder menschlichen Beziehung findet hierin eine der gesellschaftlichen Erklärungstatsachen. Je ne fis que vaguement allusion à une possibilité de mariage . . . Malgré moi, toujours poursuivi dans ma jalousie par le souvenir des relations de Saint-Loup avec „Rachel quand du Seigneur" et de Swann avec Odette, j'étais trop porté à croire que, du moment que j'aimais, je ne pouvais pas être aimé et que l'intérêt seul pouvait attacher à moi une femme. Sans doute c'était une folie de juger Albertine d'après Odette et Rachel. Mais ce n'était pas elle, c'était moi; c'étaient les sentiments que je pouvais inspirer que ma jalousie me faisait trop sousestimer (II 1123 f.). 1 5

Es bedarf bei dieser ans Neurotische grenzenden Zwangsvorstellung keiner ausführlichen Analyse, um zu erkennen, daß sich in ihr die Ökonomie der Affekte, wie sie die bürgerliche Ehe lehrte, nur wenig verändert haben. Denn mutatis mutandis verbirgt sich in den Beziehungen Roberts und Rachels, Swanns und Odettes das Verhältnis von Marcels Eltern, von dem allein, und doch belehrend genug, bekannt ist, daß die Mutter zärtlich und spontan und der Vater von demonstrativer Gefühlskälte war. Wenn in dieser Abhandlung Prousts Homosexualität nicht als letztgültiger Erklärungszusammenhang vieler psychologischer Tatsachen seines Romans konstruiert wird, so aufgrund der Überzeugung, daß die Anomalie in der geschlechtlichen Verhaltensweise nicht mit einer mechanischen Betrachtung des individuellen Schicksals verstanden wird, sondern auch als Versuch begriffen werden kann, in einer von sozialen Anomalien geprägten Umwelt die „Natürlichkeit" zu bewahren. Zumal die Recherche den Uranismus selbst analysiert, indem sie die Genese der Homosexualität und das soziale Schicksal ihrer Vertreter darstellt, konvergieren das psychologische Interesse an dem Erzähler und das literaturwissenschaftliche am Erzählten. Dies bedeutet nicht, daß die immanente (Gültigkeit des Romans für die aufgeworfenen Fragen zur überlegenen Autorität erhoben werden soll; vielmehr muß sowohl die subversive Eigenart des gesellschaftlichen Außenseiters Proust erfaßt werden wie auch die darin eingelagerten Spuren der historischen gesellschaftlichen Verkehrsformen. Daß schon die Perspektive des Erzählers keineswegs identisch ist mit der biographischen Prousts, liegt zunächst nicht an der verhüllenden Schamhaftigkeit 15 Alle Zitate folgen der dreibändigen Ausgabe von A la Recherche du Temps perdu in der Bibliothèque de la Pléiade, ed. Pierre Clarac und André Ferré, Paris 1954; Bandzahl in römischer und Seitenzahl in arabischer Ziffer.

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des Autors, sondern ist der formal ausgewiesene Anspruch, der Roman eines Normalen zu sein. Darum bedarf es nicht des philologischen Spürsinns von Justin O'Brien, der die geschlechtliche Ambiguität der Mädchengestalten Prousts nachwies, oder der langatmigen Entrüstung Briands über die angeblich ungenügende epische Abgeschlossenheit der Romangestalten und ihrer Charaktere,16 um die Abweichungen dieser „Normalität" sichtbar zu machen. Zweierlei ist unbestreitbar: Prousts Interesse gilt nicht jenem Ideal ausgereifter und abgerundeter Charaktere, welches Briand, von einem Oberlehrerverständnis der Tragödiengestalten Racines durchdrungen, als gültigen Maßstab betrachtet, sondern der Dynamik der Persönlichkeit im Spannungsfeld ihrer sozialen Beziehungen. Proust verharrt ebensowenig in seiner Anfängerrolle eines klatschsüchtigen Salonreporters, noch wird er zum melancholischen Chronisten der sterbenden und sich verbürgerlichenden Aristokratie, sondern er richtet seinen analytischen und mitfühlenden Blick sowohl auf die Deformation der allgemeinen Geselligkeit als auch auf die in diesem Rahmen erstarrenden Geschlechtsbeziehungen. Daß er bei der Analyse der Ursachen einen Standpunkt außerhalb seiner Zeit einnimmt und den Phantomen der herrschenden Rollenideale — etwa dem Idol des Ewig-Weiblichen — nicht verfällt, sondern den Hintergrund der Entfremdungsprozesse durchschaut, verleiht seinem Roman zusätzlich den Gebrauchswert sozialhistorischer Erkenntnis. Wenn Proust mit unbeirrbarer Konsequenz das Verhältnis zu seiner Mutter, das die Gralshüter der herkömmlichen Familienordnung in die düstere Kategorie der Perversion zu verweisen suchen, als immer wieder sichtbares Ideal der Vertrautheit und spontaner Verständigung in Erinnerung bringt, so ergibt sich damit Anlaß, auch dieses Verhältnis ausfuhrlicher ins Auge zu fassen und seine Aussagekraft in einem Epos der menschlichen Beziehungslosigkeit genau zu wägen. Wenn dabei in der Recherche die Großmutter zum überwiegenden Teil die Rolle der Mutter übernommen hat, so bleibt dies für die Evidenz der Analyse ohne Belang, während es die Gültigkeit von Prousts Anschauung entschieden heraushebt. Denn es handelt sich nicht einfach um die Verschiebung oder Verdrängung einer inzestuösen Beziehung; vielmehr setzt sich der Romancier darin selbst die Grenzen der Subjektivität, und er erhebt damit seine Erzählung in den Rang geschichtlich-gesellschaftlicher Verbindlichkeit: Nicht die Mutter, sondern das Verhältnis zur Mutter, das auch von einer anderen Person getragen werden kann, erhält die 16 Justin O'Brien, Albertine the Ambiguous: Notes on Proust's Transposition of Sexes, in: PLMA 64 (1949), S. 933-952. Briand, a.a.O. 15

Würdigung des Ideals, das auch auf dem langen, von Katastrophen gesäumten Lebensweg des Erzählers nicht verlorengeht. Prousts Roman entfaltet sich aus dieser Perspektive gewissermaßen als episches Sehnsuchtslied nach einer matriarchalischen Welt, gesetzt als Schwanengesang der mit auffälligen matriarchalischen Ordnungselementen ausgestatteten Aristokratie des Faubourg St.-Germain. Soziologisch gesehen, entwickelt sich nämlich im 19. Jahrhundert die Aristokratie von einer sich in ihrem Bewußtsein ökonomisch und kulturell unangefochten wähnenden Elite zu einer im Konkurrenzkampf verbürgerlichten Klasse. Hatte sich in der aristokratischen Salonkultur die politische absolute Männerherrschaft gemildert und in der Frau eine immerhin kulturell taugliche Repräsentantin entdeckt, so bringt auch der Adel unter dem Einfluß der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer wachsenden ökonomischen Macht eine paternalistische Struktur hervor, in der zugleich der schöpferische Geist der Salonkultur verkümmert. Proust, selbst wirtschaftlich unabhängig, interessiert sich vor allem für die Veränderungen, die sich in den Beziehungen der Menschen untereinander abzeichnen, ohne deren wirtschaftliche Ursachen selbst genauestens in sein geschichtliches Bild einzuskizzieren. In geradezu asozialem Maß disponiert zu Sanftheit, Zärtlichkeit und Güte, begegnet er ohne Verständnis einer Welt, die diese Qualitäten zunehmend — aus Selbsterhaltungsgründen — unterdrückt und die Menschen, die sich von diesen sozialen Bezugsformen nicht zu lösen vermögen, in die Unterwelt der ,.Perversionen"17 und zur Subversivität verdammt. Mit Festlegung dieser Perspektiven fällt es leicht, jene Anschauungen zurückzuweisen, die den erzählerischen Ablauf der Recherche als Pathographie eines Asthmatikers, als Bußlitanei eines Invertierten oder gar als „éjaculation verbale" eines krankhaft impotenten Onanisten zu summieren trachten. Ebensowenig läßt sich aus dem gedanklichen Ansatz dieser Abhandlung die Möglichkeit herleiten, den Erlebnis- und Erfahrungsreichtum des Romans mit dem Schnittmuster eines durch die Identifikation mit der Mutter fehlgeleiteten Sozialisationsprozesses einzufassen. Das hieße gerade die Komplexität einer Person, ihre durch die Erziehung hindurchgeretteten individuellen Eigenschaften deterministisch herabzusetzen. Der vergebliche Versuch, das eigene Wesen in einer Gesellschaft zu entfalten, die alle Talente nur als 17 Zum soziologischen Aspekt der matriarchalischen Gesellschaft vgl. Erich Fromm, Die Bedeutung der Mutterrechtstheorie für die Gegenwart; und: Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechtstheorie, in: E.F., Analytische Sozialpsychologie und Gesellschaftstheorie, Frankfurt/Main 1971 (es 425); S. 7 1 - 1 1 4 . Vgl. hierzu auch: Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1971; S. 234ff.

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materiell oder sozial ausgebeutete wahrnimmt, führt notwendig entweder in die Abwege seelischer oder sozialer Anomalien oder auf den rechten Pfad der Anpassung und Resignation. Denn daß die Perversionen, denen Proust so viel erzählerischen Spielraum zubilligt und die, gemessen an der Moral, die sie denunzieren, einen weiter entwickelten Status psychischer Differenziertheit umfassen, daß also diese „entartete" Sexualität mehr Menschliches bewahrt, das kann der Leser an jenen Deformationen ersehen, mit welchen die Praxis der gesellschaftlich sanktionierten „normalen" Geschlechtsbeziehungen aufwartet. Er braucht nicht einmal dieses Ethos der Anomalie zu akzeptieren, um einzusehen, wie sich der literarische Glücksfall einer unbeirrbaren zweiten Weltaneignung nicht im Arbeitsstil steriler bildungsbürgerlicher Intelligenz vollzieht, sondern als Funktion und Ausdruck eines hochentwickelten Talentes zur menschlichen Anteilnahme. Aus dem asozial gewordenen Bewußtsein, daß diese ursprüngliche Bezugsfähigkeit die wichtigste soziale Mitgift seines Lebens war, vermag sich der Erzähler, trotz aller Beschädigungen, welche er erlitten hat, zur Repräsentation eines gesellschaftlich Besseren aufzuschwingen. Die notwendige Bedingung für diese kreative Selbstentfaltung im Roman bildet die soziale Regression.

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III

Das Lächeln der Großmutter und die matriarchalische Traumwelt

In der ersten Hälfte des Romans tritt das Bild von Marcels Großmutter sehr viel deutlicher und lebendiger vor die Augen des Lesers als die Gestalt der Mutter. Die passionierte Sorge der alten Dame, ihre unaufhörliche Bereitschaft, sich selbst für das geliebte Enkelkind zurückzusetzen und sich ganz im Dienste seines Wohls aufzulösen, prägen sehr viel eindringlicher die Züge ihrer Person als die der Mutter, die außer in jener Passage des Gutenachtkußdramas zunächst weitgehend im Hintergrund der Erzählung bleibt. Als Begleiterin Marcels nach Balbec spielt die Großmutter gleichsam den weiblichen Schutzengel der wichtigsten Erlebnisperiode Marcels nach den Combray-Kapiteln. Die Berichte von ihrem Tode und von ihrer Auferstehung rücken sie sogar in den Mittelpunkt der beeindruckendsten Stellen des Romans, und mit ihrer Gegenwart im Raum der Erzählung und in Marcels Erinnerung verbindet sich unübersehbar das Zeichen ihrer großmütterlichen selbstvergessenen Zärtlichkeit: ihr Lächeln. Bereits auf den ersten Seiten des Romans leuchtet es auf wie ein Fixstern auf dem schmalen Horizont von Marcels Glückserlebnissen und erscheint an allen jenen Stellen, wo sich das Ausmaß ihrer rückhaltlosen Hingabe neuerlich erweist: . . . et ma grand'mèie repartait, triste, découragée, souriante pourtant, car elle était si humble de coeur et si douce que sa tendresse pour les autres et le peu de cas qu'elle faisait de sa propre personne et de ses souffrances se conciliaient dans son regard en un sourire où, contrairement à ce qu'on voit dans le visage de beaucoup d'humains, il n'y avait d'ironie que pour elle-même, et pour nous tous comme un baiser de ses yeux qui ne pouvaient voir ceux qu'elle chérissait sans les caresser passionnément du regard. (I 12)

Ein solches, die ursprünglich nachempfundene Zärtlichkeit durch die ganze Hypotaxe rhythmisierendes Porträt ist allein von der Großmutter überliefert, und wo immer das Bild der Mutter schärfere Konturen gewinnt, dort wird sie als Nachfolgerin ihrer eigenen Mutter gesehen, indem sie lediglich in eine vollkommen vorgezeichnete Rolle schlüpft und gleichsam als kostbares Vermächtnis das Lächeln ihrer Vorgängerin übernimmt (II 769). Und selbst die längst gestorbene Großmutter gewinnt in der Erinnerung des Er18

Zählers nur dann wieder jene von Güte durchdrungene Lebendigkeit, wenn sich zu dem Bild ihrer in den letzten Jahren von Krankheit gezeichneten Züge jenes Lächeln mischt, welches ihre sorgenvolle Stirn ein wenig entspannt und den Falten etwas von ihrer unheilvollen Tiefe nimmt. „ . . . estce qu'elle ne me sourira plus jamais? " (II 779), hört sich Marcel selbst im Traum ausrufen, da ihm der Vater deutlich zu machen versucht, daß er die geliebte Frau nie mehr wiedersehen wird. Das Lächeln der Großmutter, das so ganz im Gegensatz zu dem ironischen Lächeln der gesellschaftlichen Überheblichkeit im Kriege aller gegen alle steht (II 942), verwächst derart mit der Erinnerung an sie zum Mythos kindlich-naiver Anhänglichkeit, daß Marcel dieses Attribut später mit dem Bart des lieben Gottes vergleicht, den man diesem in anthropomorpher Zutraulichkeit anzuheften pflegt (III 988). Wie so viele seiner Gestalten, zu denen er in einer engeren Beziehung steht, hat Proust auch seine Großmutter nicht mit einer detaillierten Beschreibung ihres Äußeren oder ihres Wesens eingeführt, die dem Leser das Geleit einer gesicherten Vorstellung auf dem Wege durch den Roman an die Hand gäbe, sondern ihr Bild gewinnt Schärfe und Kontrast allein aus ihrem Verhalten gegenüber anderen Menschen. Ihr Lächeln hat darum auch nicht den Charakter eines mimischen Kürzels oder entlarvenden Tics wie etwa die Hypersekretion der alten Mme de Cambremer, sondern sie bildet das zart verwendete Aufbauelement ihrer ins Allegorische wachsenden Gestalt. Wie häufig lächeln Prousts Salonbesucher! Aber die Liebenswürdigkeit ihrer Blicke und die Grazie ihrer Gebärden tragen nur selten GefüMe nach außen. Die Verhaltensforschung hat den Ursprung dieser Reaktionsbildung erst wieder unter den Deckschichten des kulturellen und gesellschaftlichen Mißbrauchs hervorgraben müssen: Die Gesichtsmimik ist das Instrument zwischenmenschlicher Signalgebung, die eine freundliche oder feindliche Regung anzukündigen hat. Aber selbst Prousts Größen des sozialen Durchschnitts ist daraus eine subtile Form der Tarnung erwachsen, denn die komplizierten Beziehungen, in denen sich die Menschen dieser Gesellschaft befinden, lassen sich auch durch hochtrainierte Pantomimen nicht mehr adäquat darstellen, und so wird das Lächeln zur Komödienlarve der Entfremdung. Im übrigen mündet der enorme Widerspruch in der hohen Pariser Gesellschaft zwischen dem Ethos und dem Zwang, diesem Ethos ständig zuwider zu handeln, so wie er von Proust zum Gegenstand seiner Gesellschaftssatire genommen wurde, folgerichtig in eine Neutralisierung des Gefühls überhaupt. In ihrer routinierten Freundlichkeit beleben die Matadore der Salongeselligkeit nur augenblicksweise die Schreckensleere, die sie gemeinsam umgibt, und maskieren sie nur notdürftig das geisterhafte Schauspiel ihrer seelischen Beziehungslosigkeit. 19

Das Lächeln von Marcels Großmutter ist das Signal und die Briefe der Mme de Sévigné das Requisit ihrer in völliger Wahrheit nach außen gekehrten Liebes- und Zuwendungsfähigkeit. Die Kraft zu dieser seelischen Selbstbehauptung gewinnt sie nach Prousts Analyse aus ihrem mehrfach bezeugten völligen Desinteresse an der Gesellschaft als Organ der Wert- und Meinungsbildung (I 685, 756). In dieser Unabhängigkeit bleibt sie frei, die ganze Ursprünglichkeit ihrer Beziehung zu dem Enkelkind zu bewahren, auch dann noch, als dieses schon von der unheilbaren „ambition mondaine" ergriffen ist. Diese Qualitäten mittelbar sichtbar werden zu lassen, stellt eine psychologische und literarische Errungenschaft von Prousts Kunst dar; und er überragt darin bei weitem seine Vorbilder Mme de Sévigné und Dostojewski, an denen er mehrfach die Fähigkeit der indirekten Darstellung von Sachverhalten - nämlich durch die Gestalt ihrer Wirkung - rühmt. Je regardais ensuite sans me lasser son grand visage découpé comme un beau nuage ardent et calme, derrière lequel on sentait rayonner la tendresse. Et tout ce qui recevait encore, si faiblement que ce fût, un peu de ses sensations, tout ce qui pouvait ainsi être dit encore à elle, en était aussitôt si spiritualisé, si sanctifié que de mes paumes je lissais ses beaux cheveux à peine gris avec autant de respect, de précaution et de douceur que si j'y avais caressé sa bonté. (Γ668)

Die Physiognomik, bei Proust sonst Rätsel- und Dechiffrierkunst, die dennoch allein die unüberbrückbar auseinanderstehenden seelischen und gesellschaftlichen Personen abtastet, steht hier im Dienste einer Offenbarung. Denn der Glanz der „tendresse" ist nur der ahnungsvoll nach außen dringende Schein einer in den hellsten Farben strahlenden Innenwelt. Die Psychoanalyse hat inzwischen deutlich machen können, in welchem Maße das Mutter-Kind-Verhältnis die Beziehungen des Heranwachsenden vorprägt und selbst nach der Ablösung von der Mutter dem Erwachsenen noch in die Richtung und Art seiner Partnerwahl unbewußt eingreift. Es besteht auch wenig Zweifel darüber, daß Prousts Homosexualität auf einem besonders innigen und im Sinne der „normalen" Entwicklung niemals vollständig abgelösten Verhältnis zu seiner Mutter beruhte, das bis zu ihrem Tod kaum eine Trübung erfuhr. Indessen erweist sich dieser psychologische Sachverhalt isoliert als wenig aufschlußreich, denn er hängt aufs engste mit der Frage zusammen, wie diese außermütterliche Welt beschaffen gewesen ist, in welcher der junge Marcel keine selbständige Beziehung zu finden vermochte. Die Biographie des Invertierten hat zahlreiche Voraussetzungen, und sie verläuft nur für Gegner der Analyse aleatorisch. Der Heranwachsende taumelt während der verschiedenen Phasen seiner Libidoentv/icklung keineswegs in einem Labyrinth umher, wo ihn nur Zufälle auf die Irrwege von Neurosen und Psychosen oder durch den erlösenden Aus20

gang der Normalität treiben. Durch die familiären Verhältnisse hindurch sind die Ariadnefaden der Gesellschaft gesponnen, das Filigran ihrer Ethik und das grobe Seil ihrer Herrschaftsregeln. Prousts Vater hatte durch Anpassung und Selbstdisziplin Karriere gemacht und der Familie das Fundament ökonomischer Sicherheit gelegt, welche es der Mutter ermöglichte, ihr Kind mit der größten Zärtlichkeit und aller Nachsicht für seine spontanen Bedürfnisse zu erziehen. Unter diesen Voraussetzungen konnte eine Identifikation mit dem Vater, die zur Herausbildung eines im bürgerlichen Sinne tüchtigen Menschen nötig war, nicht erfolgen. Der Sozialisationseffekt der Schule war für das hochbegabte Kind ebenso gering. Während es dem Bruder Robert Proust gelang (es blieb ihm wohl auch von der durch Marcel völlig absorbierten mütterlichen Zuwendung nicht viel), die imago des Vaters sich zum Vorbild zu erheben, verharrte Marcel in der Identifikation mit der Mutter. Selbst der schwierige Ablösungsvorgang der Libido von der Mutter in der Pubertät erfolgte nicht zugunsten einer Orientierung zum Vater hin, der der Repräsentant der bürgerlich gültigen Form der Beziehungsbildung war; vielmehr blieb die Mutter-imago sowohl in der Praxis der narzißtischen Sexualität als auch beim Experiment der gesellschaftlichen Orientierung dominierend. Läßt sich also für die Biographie Prousts kaum die These entkräften, daß der junge Marcel durch die unbewußte Entscheidung für die Mutter (und damit fast zwangsläufig für die Karriere des Homosexuellen) den Reichtum seiner Person und seine seelische Differenziertheit gegen das Ideal einer bürgerlichen Tüchtigkeit zu bewahren vermochte, so bietet der Roman alle Voraussetzungen, für ein solches analytisches Verständnis des Erzähler-Ichs einen zusätzlichen Interpretationsweg zu erschließen. Indessen tragen die in der psychoanalytischen Literaturwissenschaft immer noch häufig gefeierten Erkenntnistriumphe, daß sich in den fiktionalen Darbietungen eines Autors die Konfliktsituation seiner ödipalen Phase wiederfindet, bereits die Patina der Wissenschaftshistorie. Sie gehören in die frühe Kampfzeit der Psychoanalyse, die diese in Opposition zu einer Gesellschaft setzte, die allen Grund hatte, die Tatsache der kindlichen Sexualität aus ihrem Erziehungskonzept zu verdrängen. Gewicht kann aber heute nur die Frage nach der Bedeutung des ödipalen Konflikts für den Verlauf der individuellen Sozialisation beanspruchen. Denn an den Kristallisationspunkten der Eltern-Kind-Beziehung wird ebenso das Wesen der Person wie die Struktur der das Kind vereinnahmenden Gesellschaft sichtbar, und eine ontologische Psychoanalyse ist fur das geschichtliche Verständnis von Kunst ebensowenig hilfreich wie die Fragestellungen der Ontologie selbst. Eine Literaturwissenschaft, die ihr Interesse am konkreten Verhältnis von Individuum 21

und Gesellschaft hat, findet die Bedeutung ihres Materials, nämlich der bürgerlichen Literatur, an diesem Punkt bestätigt. Aus den Konflikten, die mit der literarischen Anpassungsverweigerung gegenüber dem Bewußtsein der eigenen Klasse entstehen, erneuert sich die kindliche Ödipus-Situation. Damals freilich wurde die Anpassung erzwungen. Die oppositionellen Künstler sind daher immer auf dem Wege, nicht nur die bewußte, sondern auch die unbewußt erfolgte Sozialisation rückgängig zu machen. Zur regressiven Selbstemeuerung beleben sie den in Vergessenheit geratenen Widerstand gegen das väterliche Über-Ich in der Notation künstlerischer Texte. Zwar bleiben auch die aufsässigen Autoren dem geschichtlichen Rahmen bürgerlicher Ideologie verhaftet, aber mit der Subversität gedanklichen und formalen Widerstandes zwingen sie doch stets dazu, das Ritual des kulturellen Ertrags- und Erntedankes in veränderter Weise zu begehen. Die Geschichte dieser Veränderung ist die Geschichte der vernünftigen Emanzipation. In der literarischen Reproduktion seines Lebens, die zwar keine Biographie, sondern einen in großen Zügen fiktionalen Erlebnisbericht darstellt, hat Proust nämlich mit der Gestalt seiner Großmutter, die in keine ÖdipusKonstellation hineinpaßt, eine anschauliche Objektivierung wesentlicher Eigenschaften seiner Mutter geschaffen. Diese Frau und der scharf herausgearbeitete Gegensatz zur Gesellschaft, in dem sie sich bewegt, nötigen den Interpreten, Prousts Entwicklung nicht deterministisch aus den Programmierungen der familiären Beziehungen heraus zu sehen, sondern, gemäß dem Kunstanspruch des Romans, aus dem erlebten und erlittenen Widerspruch zur sozialen Wirklichkeit, in die der junge Marcel ehrgeizig, aber schlecht gerüstet hineinstrebte. Gewiß bilden Selbstverleugnung und spontane unerschöpfliche Güte, die ihre nächste Umgebung gleichsam mit paradiesischen Reminiszenzen verzaubern, in einem Ausmaß die Tugenden der Mutter, daß kaum eine Gesellschaft denkbar erscheint, die dem Verlangen Marcels, ihre elementaren Beziehungen ganz nach diesem Vorbild zu gestalten, nachgeben könnte. Aber der Roman bezieht viele seiner positiven Bilder aus dieser Erfahrung und löst wiederum seine Negative und Karikaturen davon ab, so daß sie zur verbindlichen Realität aufgebaut und als solche durchmessen wird: Die Gesellschaftskarriere, in welche die offenbar unter dem milden Licht der „tendresse rayonnante" geförderte Jugendentwicklung Marcels übergeht, sieht an ihrem Ende lediglich einen in seinem Verhältnis zur Umwelt veränderten Menschen, dessen radikale Introversion in dem gesellschaftlichen und intellektuellen Habitus rücksichtslos-zynischer Selbstabgrenzung nur ein? notdürftige Abstützung findet. Allerdings bleibt die Frage, ob dies nicht die unausbleibliche Folge einer verzärtelten Kindheit bildet, in anderem Sinne offen; lassen sich nicht auch 22

der Ehrgeiz und die Virtuosität, in der Gesellschaft zu arrivieren, als gänzlich äußerlich sehen? Wer sich durch die Landschaft von Marcels Jugend führen läßt, findet keine Kommunikationsfähigkeit unter den vielfarbig entfalteten Talenten des Erzählers. Und die Sphäre der magischen Glücksfälle, wie sie die Tausendundeinenacht-Mäichen bieten, die Marcel als „Überbau" seiner anscheinend problemlosen Kindheit in die Erwachsenenwelt projiziert, hat nichts zu tun mit den gesellschaftlichen Realitäten und liefert kein Material für die Initiation in ihre Konflikte und Rituale, und die idyllischen Romane George Sands, in denen er sich verliert, treiben die Kluft zwischen poetischer Imagination und der Wirklichkeit so weit und tief, daß der Wunsch-Schriftsteller eben nur Literatur als Gegenstück zur erlebten Welt zu gestalten vermag. Doch Marcels Kindheit ist nicht problemlos: Die Gutenachtkußaffaire steht so programmatisch am Beginn des Romans, weil sie den Urkonflikt dieses erlebten und erzählten Lebens bereits offenbart: Liebe und vertrauliche Zärtlichkeit gewinnt und erhält man sich nur im unablässigen Kampf gegen die gesellschaftlichen Notwendigkeiten, deren Mechanismus ewig undurchschaubar bleibt. Unter diesen Voraussetzungen eröffnet sich für den Gegensatz zwischen der Mutterwelt und der entfremdeten bürgerlichen Welt die Perspektive eines Verständnisses, das Proust dem Leser ganz nahe rückt: Die aristokratische und bürgerliche Gesellschaft, die ihre hilfreichen Gesten und Mitleids-Instinkte nicht als ursprüngliche, d.h. in allen Beziehungen primär und spontan wirksame Reaktionen ausleben darf, sondern nur als institutionalisierte und der Empfindung nachgeordnete, damit die chimärische Tugend des klassenbewußten Erwerbsfleißes, dessen wesentlichste Bedingung Egoismus heißt, nicht durch falsche, altruistische Regungen irritiert wird und sich in kritischer Selbstreflektion nicht verfängt, diese Gesellschaft gibt ihrem dennoch unüberwindbaren schlechten Gewissen den notwendigen Spielraum in karitativen Organisationen und Komitees, die von Frauen geleitet werden, oder in Wohltätigkeits-Lotterien, die der kollektiven Gewinnsucht lediglich ein gutes Motiv ankleben. Grundsätzlich stellt Marcel seine „Mütter" im Gegensatz zu diesem Getriebe: Tout près de moi, j'ai eu l'exemple de ma mère que Mme de Cambremer et Mme de Guermantes n'ont jamais pu décider à faire partie d'aucune oeuvre philanthropique, d'aucun patriotique ouvroir, à être jamais vendeuse ou patronesse. Je suis loin de dire qu'elle ait eu raison de n'agir que quand son coeur avait d'abord parlé et de réserver à sa famille, à ses domestiques, aux malheureux que le hasard mit sur son chemin, ses richesses d'amour et de générosité; mais je sais bien que celles-là, comme celles de ma grand'mère, furent inépuisables et dépassèrent de bien loin tout ce que purent et firent jamais Mmes de Guermantes ou de Cambremer. (III 321f.)

Trotz aller Einschränkungen sieht er sich hier selbst als Sohn und Erbe dieser Frauen: 23

Je tenais de ma grand'mère d'être dénué d'amour-propre à un degré qui ferait aisément manquer de dignité. Sans doute je ne m'en rendais guère compte, et à force d'avoir entendu, depuis le collège, les plus estimés de mes camarades ne pas souffrir qu'on leur manquât, ne pas pardonner un mauvais procédé, j'avais fini par montrer dans mes paroles et dans mes actions une seconde nature qui était assez fière. (III 290)

Zwar ist es unmöglich, sich gegen diese zweite Natur, wie sie dem Individuum von der Gesellschaft anerzogen wird, zu wehren, aber die Konformierung des Verhaltens, die notwendig ist, um nicht in den unerträglichsten Gegensatz zu den Freunden zu geraten, sichert auch den Spielraum, um unter der Schutzhülle des übernommenen Verhaltens die wahre Natur zu bewahren: Mais cette absence d'amour-propre et de rancune, si j'avais cessé de l'exprimer jusqu'à en être arrivé à ignorer à peu près complètement qu'elle existât chez moi, n'en était pas moins le milieu vital primitif dans lequel je baignais . . . Pétais au fond de mon coeur tout acquis à celui qui était le plus faible et qui était malheureux. OU 291)

So erwirbt Marcel erst in einem schmerzlichen Lernprozeß die Erkenntnis, daß es verfehlt ist, angesichts spöttischer Affronts von anderen herzlich zu lächeln, und daß er sich selbst das ursprüngliche Bedürfnis zu einer so sanften freundlichen Reaktion verbeißen muß, um nicht den absonderlichsten Mißverständnissen ausgesetzt zu sein; und er durchmißt auch mehrere Stationen enttäuschter Erlebnisse, ehe er die Erfahrung gewonnen hat, daß die Liebe und Zärtlichkeit, die sich im Lächeln der Großmutter wie in einem kostbaren Gefäß verbirgt, nicht der Inhalt jedes beliebigen Lächelns ist. Seine ersten Begegnungen mit Gilberte Swann und Mme de Guermantes bilden jede für sich die mißverstandene Deutung eines solchen scheinbar vertrauten Signals: Gilberte möchte ihm zwar ihre Sympathie bekunden, aber da sie sich beaufsichtigt weiß und Angst hat, bei einer ungeziemenden Gebärde ertappt zu werden, mißrät ihr das freundlich gemeinte Zeichen derart, daß sich Marcel von ihr verachtet fühlt (I 141). Bei der ersten, lange ersehnten Gelegenheit, Mme de Guermantes in der Kirche St. Hilaire in voller Lebendigkeit zu erblicken, glaubt er deren Lächeln, das lediglich völlig diffus herrschaftliche Huld unter die Besucher ausstreuen soll, an sich persönlich gerichtet und freut sich der Gewißheit, von der Herzogin geliebt zu werden (I 177). Und selbst viel später noch vermeint er, in dem Lächeln der Prinzessin von Guermantes, die ihn als völlig Unbekannten grüßt, eine Art „tendresse promise" (II 60) entdecken zu können. Der Kreuzgang Marcels bis zur völligen gesellschaftlichen Desillusion, der hier an einem Nebenmotiv skizziert wurde, ließe sich gewiß eindrucksvoll darstellen. Allerdings zeigt es sich geeignet, den Blick darauf zu richten, daß die Recherche keine Personen und Charaktere wie sorgfaltig gesammeltes Memoiren24

gut ausbreitet, sondern die Beziehungen von literarischen Gestalten, deren dominierende Typologien aus realen Begegnungen mit Personen der Pariser Gesellschaft montiert wurden. Weniger die Unschärferelationen, die sich beim Vergleich von Romangestalten mit ihren angeblichen Urbildern ergeben, als die freie und zum Teil symbolische Gestaltung ihrer Beziehungen erheben die Recherche über das Genre des Schlüsselromans. Die erzählerische und die soziologische Perspektive Prousts läßt sich vorläufig so bestimmen, daß er die Kindheitswelt ursprünglicher und nicht durch das Säurebad eines gesellschaftlichen „milieu vital" zerfaserter Beziehungen aus der Erinnerung eines eben durch dieses milieu hellsichtig gewordenen Menschen vorstellt. In welchem Ausmaß der Erzähler selbst das Verhältnis zu seiner Großmutter bei aller Rührung und Andacht, mit der er es beschwört, aus der Irritation eines diesen erinnerten Erlebnissen Entfremdeten berichtet, wird etwa daran sichtbar, daß er die hingebende Liebe der alten Frau immer wieder als Gesten unangemessener Demut und serviler Peinlichkeit ins Bild bringt. Bereits zu Beginn ist von ihrer „humblesse" (I 12) die Rede, auf dem verjüngten Gesicht der Toten entdeckt er „soumission", Züge, die sich zum Teil verstärkt in dem Traum-Gesicht des zweiten Balbec-Aufenthaltes wiederfinden, wo der Vater von ihrem „air humble, comme une vielle servante chassée" (II 761) spricht und Marcel sich ihres „visage si soumis" erinnert. Eine gänzlich positive Färbung findet die altruistische Güte der Großmutter dagegen in jener Episode des Telephongesprächs, wo ihre Stimme auch ihre „douceur . . . décantée . . . de tout égoïsme" (II 135) offenbart. Als „servante" erscheint die alte Dame Marcel indessen auch dann, wenn sie ihren weißen Baumwollmantel trägt, den sie immer anlegt, sobald es einen Kranken in der Familie zu pflegen gilt (I 667). Es erscheint gewiß nicht als sprachliche Schwäche Prousts, daß ihm diese selbstlos und freudig gewährte Hingabe der Großmutter immer wieder in Kategorien, die dem Tugendkatalog des häuslichen Dienstpersonals zugehören, zur befremdlichen Sache werden. Hier liegt ein Erlebniszusammenhang vor, daß nämlich die Güte und Aufopferung, welche die alte Mme Amédée zeigt, fur Marcel sonst tatsächlich nur noch in einer sozialen Schicht lebendig sind, die Françoise wie ein aus Stein geschnittener Archetypus repräsentiert. Mit dieser in seiner Metaphorik kristallisierten Erfahrung bestätigt Proust einen von ihm sonst kaum zitierten, aber bezeichnenderweise von seiner Großmutter geschätzten (I 39) gesellschaftskritischen Vorläufer, Rousseau, der in seiner Preisschrift über den Ursprung der Ungleichheit die Verstümmelung der sozialen Fähigkeiten wie Mitleid und Hilfsbereitschaft vornehmlich in den oberen Klassen beobachtet und analysiert. Wie tief zudem für Marcel diese Eigenschaften in die gleichfalls ge25

seilschaftsferne Sphäre des Sakralen hineinreichen — die Großmutter als „servante" erscheint ihm auch als Nonne und gewinnt die Statur der Heiligkeit —, wird noch deutlich werden. Aber der aufgewiesene Erlebniszusammenhang macht es bereits im Umriß verständlich, warum Marcels Sehnsucht - die analoge Neigung gilt für Proust selbst - immer wieder einfachen Mädchen gilt, die in so großer Zahl und meist als anonyme Gestalten, teils als Phantome der Landschaften, teils als Traumfiguren seiner Sehnsucht und Phantasie, den Roman bevölkern: Bei den Milchmädchen und Verkäuferinnen, den „servantes", Midinetten und Bäurinnen sucht und erwartet er jene Spontaneität des Gefühls, jene Freiheit von gesellschaftlichen Rücksichten, die Güte und selbstverleugnende Hingabe, die ihm von seiner Großmutter her selbstverständlich vertraut und unverzichtbar sind. Mit solchen Ansprüchen erweist er sich dagegen bei Albertine und Gilberte als unzeitgemäßer Mitgiftjäger, denn sie haben ihm entweder Reichtum oder eine hochentwickelte Virtuosität der Anpassung zu bieten, aber nicht die Kardinaltugenden der Zärtlichkeit und interessenlosen Liebe. Ebensowenig läßt sich die usurpatorische Gewalt, mit der Marcel Albertine bei sich gefangen hält, allein aus der Situation des elterlichen Hauses erklären, wo sich gewiß die Mutter mit grenzenloser Geduld dem Liebesbedürfnis des Sohnes gebeugt hat. Die Kommentatoren, die den absurden Besitzanspruch Marcels lediglich der Irritation zuschreiben, die das „wahre Leben" einem verwöhnten Muttersöhnchen versetzt, übersehen, daß die Proustsche Philosophie der Eifersucht auch ihre konkreten geschichtlichen und sozialen Hintergründe besitzt: Der Besitzfetischismus, von dem Marcel ergriffen wird, ist eine erlaubte regressive Reaktionsform der bürgerlichen Gesellschaft auf alle geistigen und politischen Gefährdungen, und er fällt ihm um so rettungsloser anheim, als er das Kostbarste zu sichern bemüht ist: eine Liebesbeziehung. So kann es nicht verwundern, daß der Erzähler nicht nur die ödipale Situation durch ein gesteigertes Schuldbewußtsein rekonstruiert, sondern auch die Güte und Opferungsfreude der Großmutter nicht als ursprüngliche, aus natürlicher Zuneigung geflossene zärtliche Gesten erinnert, sondern als belohnte Leistung von Menschen aus einer ganz anderen Klasse. Zwar sind es Träume, in denen Marcel seine Großmutter in einem engen Bedienstetenzimmer eingeschlossen glaubt (II 760f.) oder seine Eltern als Mäuse mit einer ekelerregenden Krankheit behaftet in einen Käfig eingesperrt sieht (II 87), aber die Analyse des ersten Traumes wird zeigen, daß sich die psychische Energie sowohl in der Situation, welche die Degradation der geliebten Personen vorführt, die Wunscherfüllung gewährt, als in der an solche Ereignisse sich anschließenden Möglichkeit, die Betroffenen aus ihrer be26

drängten Lage zu befreien bzw. ihre seelische Not zu lindern. Das von Proust mehrfach angesprochene, wenngleich nicht in der skizzierten Form ausgeführte Thema der „mères profanées" ist nämlich nur in seiner sexuellen Qualität von Verdrängung bedroht. Die aus den Versagungen aufquellenden Rachegelüste werden dagegen von einem umfassenden Schuldbewußtsein festgehalten. Es läßt sich sogar zeigen, daß Marcel seine schriftstellerische Tätigkeit als das einzige ihm mögliche — verspätete — Dankopfer an seine Großmutter begreift. Die Suche nach der verlorenen Zeit enthält das kaum bewußte, aber in dem Kontext der literarischen Darbietung stets gegenwärtige Motiv einer Suche nach der verlorenen Großmutter, oder genauer: Die Beschwörung aller Glücksmomente, in denen sich entweder die Erinnerung an die alte Dame mit der Überfülle ihrer Zärtlichkeit verbindet, oder solcher Augenblicke, in welchen sich strukturell, nämlich in der Situationsbildung oder den durch sie assoziativ verknüpften Hoffnungen und Erwartungen, das Erlebnis der mütterlich-großmütterlichen Wohltätigkeit und Liebe erneuert oder vollwertig ersetzt findet. Die Abstraktheit einer solchen Bestimmung erklärt sich aus der Tatsache, daß die Deutung des Proustschen Romans Tatsachen verschiedenster Färbung und Wertigkeit zu einem sinnvollen Ganzen zu verknüpfen hat. Biographische Daten, Fakten der Erzählung und die diesen hinzugefügte Erklärung des Autors bilden bisweilen so heterogene Materialien, daß ihre Mischung in einer sinnvollen Gesamtaussage sich dann recht gewaltsam ausnimmt. Doch wird es sich am Ende überraschend zeigen lassen, wie durch die Glückserfahrungen Marcels, seine geistigen und sexuellen Exaltationen, unbewußt die Regie jener durch die Großmutter bestimmten Erlebnisse und Erinnerungen durchscheint. Die in den Zeitfluß des Romans verwobene Fiktion einer Identitätskonstitution durch die wiedergefundenen Essenzen seines Lebens, die Proust als Deutung seinem Werk beigibt, öffnet sich auf diese Weise einem tiefergreifenden Verständnis. Nicht die mysteriöse „mémoire involontaire" ist das Regulativ dieser Offenbarung, sondern das ins Unbewußte versenkte Bedürfnis nach Zuwendung und zärtlicher Anteilnahme der Mitwelt. In dem Maße, wie die Wirklichkeit dies versagt, zeigt sich die in Vergessenheit geratene mütterliche Liebe an allen jenen Operationen beteiligt, die Marcel selbst stets nur als undurchschaubare Wirkungen seines entfremdeten seelischen Ich faßbar werden. Die Interpretation der wichtigsten zentralen Glücksmomente, die wie das Relief eines künstlerischen und sozialen Paradieses, das sich plötzlich erleuchtet, in die düstere Landschaft des sich intellektualisierenden Ich ragen, wird zeigen, in welchem Maße die „tendresse- rayonnante" der Großmutter die Lichtquelle dieser Illuminationen bildet. 27

IV

Architektur und Psychoanalyse des Glücks

Als Marcels Großmutter, bereits vom Tode gezeichnet und unfähig, überhaupt noch ein Wort zu sprechen, zwischen ihren Kissen liegt, mit am Kopf angesetzten Blutegeln, um ihrem enormen Blutandrang Erleichterung zu verschaffen, vermag sie dem Enkel, dem das Entsetzen vor diesem entstellten Medusenhaupte anzusehen ist, nur durch das vertraute sprachlose Zeichen von ihrem Befinden Mitteilung zu machen: Elle . . . nie fit seulement le don d'un beau sourire pour que je susse qu'elle se sentait mieux, et me pressa légèrement la main. (II 334f.)

Der nach langer Qual eintretende Tod läßt dieses Lächeln versteinern, aber zugleich scheint das Gesicht der Großmutter, aus dem aller Schmerzensausdruck gewichen ist, verjüngt: La vie en se retirant venait d'emporter les désillusions de la vie. Un sourire semblait posé sur les lèvres de ma grand'mère. Sur ce lit funèbre, la mort, comme le sculpteur du Moyen Age, l'avait couchée sous l'apparence d'une jeune fille. (II 345)

Die Fluchtlinien dieses zunächst allein poetischen Vergleichs, der die tote Großmutter wie von einem mittelalterlichen Steinmetzen verschönt beschreibt, weisen in einen Raum, der fiir die Erlebniswelt Prousts und damit für sein episches Ich von überragender Bedeutung ist: Oie Welt der Kirchen und Kathedralen. In seiner Abhandlung En mémoire des églises assassinées18 berichtet Proust von einem Besuch der Kathedrale von Amiens auf den Spuren des verehrten englischen Kunsthistorikers John Ruskin. Am Südportal begegnet er dort der auch von Ruskin liebevoll beschriebenen „Vierge dorée", einer Muttergottes, die ihr Kind, das sie auf den Armen trägt, anlächelt und dieses Lächeln erwidert sieht. Die Faszination auf den Betrachter Proust ist von besonderer Art: 18 Marcel Proust, En mémoire des églises assassinées, in: Pastiches et Mélanges (Oeuvres Complètes de Marcel Proust, tome 8), Paris 1933; S. 9 1 - 2 1 2 ; im folgenden zitiert als PeM.

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Telle qu'elle est, avec son sourire si particulier qui fait non seulement de la Vierge une personne, mais de la statue une oeuvre d'art individuelle, elle semble rejeter ce portail, hors duquel elle se penche, à n'être que le musée où nous devons nous rendre quand nous voulons la voir, comme les étrangers sont obligés d'aller au Louvre pour voir la Joconde . . . Telle qu'elle est, avec son sourire si particulier, combien j'aime la Vierge Dorée, avec son sourire de maîtresse de maison céleste; combien j'aime son accueil à cette porte de la cathédrale . . . (PeM 122)

Kein direkter Hinweis gibt dem Leser zu verstehen, woher die Eindruckskraft dieser Skulptur rührt, die dem Betrachter ein so freies Liebesgeständnis entlockt, sofern er nicht den Erlebniswert einzelner Elemente aus der Kenntnis der Recherche heraus zu erfassen vermag. Das Bildnis innigen Einverständnisses zwischen Mutter und Kind, das besonders im beiderseitigen Lächeln einen symbolischen Ausdruck findet, ist Proust aus seiner eigenen Kindheitssphäre vertraut und hat sich in seinem Roman in ein differenziertes Verständigungsmedium verwandelt: So wie das Lächeln der Mariengestalt den vertrauten Vergleichsbogen zur „maîtresse de maison" zu vollziehen herausfordert, so entwickelt sich zwangsläufig aus dem tödlich versteinerten Lächeln der Großmutter das Assoziationsfeld der mittelalterlichen Skulpturen. Es entspringt also unbewußter Anhänglichkeit an die tote Frau, wenn Proust - nach eigenen Angaben — eine Photographie dieses Bildnisses in seinem Zimmer aufgehängt hat, zusammen mit einer Reproduktion der ebenfalls lächelnden Mona Lisa:. Dans ma chambre une photographie de la Joconde garde seulement la beauté d'un chef-d'oeuvre. Près d'elle une photographie de la Vierge Dorée prend la mélancholie d'un souvenir.(PeM 124)

Die „belle amie", deren Schönheit den unbewußten und aus dieser Schicht heraus von Trauer schattierten Reiz einer Erinnerung an etwas lebendig Geliebtes bewahrt, gewinnt beim Eindringen in den mysteriösen Mechanismus der Erinnerung Prousts eine doppelte Bedeutung. An ihr wird sichtbar, wie stark die Bilder der mütterlichen Güte, an der Schwelle des Bewußtseins steckengeblieben, auch bei - verglichen mit der Prozedur einer dichterischen Textherstellung - rationalen Operationen wie einer Kunstbeschreibung mitbeteiligt sind. In welchem Ausmaß dies zutrifft, kann erst eine ausführliche Argumentation erweisen. Denn zugleich steht die „Vierge Dorée" wie eine symbolische Wächterin am Eingang des sich immer wieder aus dem Zusammenspiel mit der Erinnerung an die Großmutter öffnenden glückserfüllien Bild- und Erlebnisfeldes Marcels, im Torbogen seiner von Kirchen, Mädchen, Blumen und Bäumen belebten Paradieslandschaft. 29

Marcels erste künstlerische Äußerung, das Prosastück „Les clochers de Martinville", das die Erlebnisreihen des Combray-Kapitels abschließt und zusammenfaßt, macht, gemeinsam mit dem Bericht über die „rangée d'arbres" in der Nähe von Balbec, bereits die wichtigsten Züge jener unerklärten, in intermittierenden Abständen erfolgenden Glückserlebnisse, die schließlich in die Offenbarungen der „wiedergefundenen Zeit" münden, sichtbar. 19 Auf dem Wagen des Docteur Percepied sitzend, erblickt Marcel während der abendlichen Heimfahrt plötzlich die beiden Türme der Kirche von Martinville, die sich durch den Wechsel der Perspektive in der Ebene zu bewegen scheinen; der Kirchturm von Vieuxvicq rückt nach einiger Zeit in die gleiche Blickbahn, als wolle er sich den beiden anderen zugesellen. Diese im Schein der Abendsonne sich wie Lebewesen bewegenden Kirchtürme erwecken ein unbegreifliches Glücksgeflihl in Marcel, das ihn dazu drängt, die empfangenen Eindrücke schriftlich festzuhalten. Aber der niedergelegte Text, so eindringlich er die Erfahrung auch wiedergibt, enthält keine Bemerkung über die Ursache der Exaltation — die Episode gehört biographisch in den Raum der Kindheit - und er entzieht sich auch zunächst einem analytischen Zugriff. Es ergeben sich erst aus dem Vergleich mit dem nächsten Erlebnis dieser Art, wenn es auch die ersten Erfahrungen nur unvollkommen wiederbelebt, nähere Aufschlüsse: In der Gegend von Balbec — wiederum auf dem Wege nach Hause, d.h. zum Hotel - fährt Marcel auf dem Wagen der Mme de Villeparisis in einer Alleestraße an einer Reihe von Bäumen vorbei, und von ihnen fühlt er sich in eigenartiger Weise bewegt und traurig zugleich. Die Konstellation gleicht jener, die ihn in der Gegend von Guermantes so erregte, aber es ist nicht das gleiche Glücksgefuhl und auch nicht die Erinnerung an dieses Erlebnis, das den ambivalenten Gefühlstaumel auslöst, sondern offenbar die Erinnerungsspur einer dritten Erfahrung, die bei beiden Exaltationen jeweils ein unbewußtes Substrat bildete. Aber trotz aller Anstrengung vermag der Erzähler in diesen dunklen Bezirk kein Licht zu werfen. Für den Leser ergeben sich zwei auffällige Momente: In beiden Episo19 Die Bedeutung dieses Prosastücks ermißt sich daran, daß es in jeweils anderer Fassung bereits im Figaro vom 9. November 1907 und später zu Beginn der Abhandlung En mémoire des églises assassinées veröffentlicht worden ist. Schließlich wird der Figaro-Artikel auch noch zum Thema im Band Le côté de Guermantes und in La Fugitive. Entscheidend ist dabei, daß ihm dort die Mutter das Exemplar der Zeitung überreicht. Marcel erkennt an der stillschweigenden Geste, daß sie die Botschaft des Artikels verstanden hat, die sonst nicht in Worte zu fassen wäre. Vgl. auch Anm. 28.

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den unterliegen die Elemente der Landschaft einem Prozeß der Animation. Ihre scheinbare Bewegtheit verleiht den Kirchtürmen und den Bäumen eine immer stärkere Lebendigkeit, bis sie sich zu anscheinend menschlichen Gestalten emanzipieren: Haben die Kirchtürme für Marcel zunächst den Ausdruck von Vögeln, so dünken sie ihn wenig später Blumen, und am Ende gar verwandeln sie sich durch ein Gleichnis in drei legendenhafte Mädchengestalten, die sich angesichts der hereinbrechenden Dunkelheit ängstlich zusammendrängen. Das Erlebnis von Balbec bleibt zwar ohne unmittelbare literarische Gestaltung, aber die Gemeinsamkeiten der Situation - Heimfahrt, Abendsonnenschein, anthropomorph verwandelte Landschaftselemente, Gefiihlsambivalenz von Glück und Trauer — bieten dem Leser Anhaltspunkte, zu jener Erleuchtung zu gelangen, die dem Erzähler versagt zu bleiben scheint: Je vis les arbres s'éloigner en agitant leurs bras désespérés, semblant me dire: Ce que tu n'apprends pas de nous aujourd'hui, tu ne le sauras jamais. Si tu nous laisses retomber au fond de ce chemin d'où nous cherchions à nous hisser jusqu'à toi, toute une partie de toi-même que nous t'apportions tombera pour jamais au néant. En effet, si dans la suite je retrouvai le genre de plaisir et d'inquiétude que je venais de sentir encore une fois, et si un soir - trop tard, mais pour toujours - je m'attachai à lui, de ces arbres eux-mêmes, en revanche, je ne sus jamais ce qu'ils avaient voulu m'apporter ni où je les avais vus. Et quand, la voiture ayant bifurqué, je leur tournai le dos et cessai de les voir . . . , j'étais triste comme si je venais de perdre un ami . . . (I 719)

Ein dunkles Gefühl sagt Marcel, daß hinter den Bäumen eine Konstellation seiner eigenen vergessenen Erlebniswelt verborgen ist, daß er in ihnen etwas seiner selbst wiederzufinden vermöchte, was ihm aber nicht willkürlich ins Bewußtsein zurückkehrt, und was - so kann der Interpret fortfahren auch nicht die unbewußte Deutung der literarischen Gestaltung erfährt. Beide Erlebnisse erzählen von der Begegnung mit etwas Vertrautem, und beide gestalten sie das Gefühl des drohenden oder vollzogenen Alleingelassenwerdens, und zwar durch wichtige Bezugspersonen. Handelt es sich einmal um (offenbar elternlose) jeunes filles, die schmerzlicher Einsamkeit ausgesetzt werden, so kristallisiert sich in dem zweiten Erlebnis das Gefühl wie beim Verlust eines Freundes: Die Homologie der sozialen Akzente erlaubt die Behauptung, in den beiden Exaltationsepisoden vermische sich in der Ambivalenz ihrer Stimmung sowohl die magisch erfüllte Sehnsucht nach Zuspruch und geselligem Schutz wie auch die Angst, diese Zuwendung gleich wieder zu verlieren; die Bedenken und Fragen, die sich an eine solche These anschließen, öffnen zugleich den Problemkreis für alle folgenden Überlegungen: Zunächst erinnern ja viele Züge der angeführten Epi-

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soden an das Grunderlebnis des Combray-Kapitels, das sich innerhalb der Rückschau des Erzählers der mémoire volontaire problemlos darbietet, an die allabendlich sich wieder einstellende Trennungsangst nach dem Gutenachtkuß der Mutter. Höchstes Glück, das vor allem mit der Erwartung der Zärtlichkeit verbunden ist, und tiefe Niedergeschlagenheit, wenn sie ausbleibt, wohnen in diesen Erinnerungen nahe beieinander. Daß auch die untergehende Sonne zu dieser Szene gehört, leidet wohl keinen Zweifel. Aber ist es wirklich diese Konstellation, die sich in der Struktur der Exaltationserlebnisse wiederholt? So fehlt das Motiv der Rückkehr und das der. Bäume bzw. Kirchtürme. Tatsächlich ist es diese Szene nicht allein, sondern auch das Vorspiel zu dem häufig verkürzten Gutenachtkußdrama, das regelmäßig vor allem bei Besuchen Swanns oder, wie vom Erzähler auch gleich im Anschluß an die Wiedergabe des Textes Les clochers de Martinville berichtet, nach längeren Spaziergängen, abläuft, welches seine unbewußte psychische Mobilisierung erfährt: Mais quand sur le chemin du retour j'avais aperçu sur la gauche une ferme, assez distante de deux autres qui étaient au contraire très rapprochés, et à partir de laquelle, pour entrer dans Combray, il n'y avait plus qu'à prendre une allée de chênes bordée d'un côté de prés appartenant chacun à un petit clos et plantés à intervalles égaux de pommiers qui y portaient, quand ils étaient éclairés par le soleil couchant, le dessin japonais de leurs ombres, brusquement mon coeur se mettait à battre, je savais qu'avant une demi-heure nous serions rentrés et que, comme c'était de régie les jours où nous étions allés du côté de Guermantes et où le dîner était servi plus tard, on m'enverrait me coucher sitôt ma soupe prise, de sorte que ma mère, retenue à table comme s'il y avait du monde à dîner, ne monterait pas me dire bonsoir \dans mon lit. (I 182f.)

Die Ähnlichkeit der Bedingungen und die Kongruenz der Situation nicken diese Passage ganz in die Nähe der Balbec-Szene; auch hier fungieren Abendsonne und die Baumreihen als nahezu mechanisch ausgelöste Landschaftselemente, die Marcel in höchste Erregung versetzen, obgleich in dieser Passage ein Teil des geheim wirksamen Materials ins Bewußtsein ragt und beinahe erzählerisch ergriffen werden kann. Die seelische Bedeutung der Kirchtürme wird ganz ähnlich in dem Kapitel „Retour à Guermantes" des Bandes Contre Sainte-Beuve gezeichnet, der sich als gestalteter Zettelkasten aller wichtigen Motive und Themen der Recherche versteht. In diesem Entwurf der Jahre 1908-10 findet sich auch eine Skizze der Rückkehrangst Marcels, allerdings nicht in der Kulisse jener sich im Schattenbild verdoppelnden Apfelbaumreihe, sondern vor der Silhouette eines imaginären Combray,20 zu der auch noch die Türme der Kathedrale 20 Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, suivi de Nouveaux Mélanges, préface de Bernard de Fallois, Paris 1954. Zitiert als CSB.

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von Chartres gehören. Diesen „clocher de Chartres" meint der Erzähler, ohne ihn ausdrücklich zu benennen, wenn er, an seine Mutter gewandt, von der optischen Auslösung jener gemischten Kindheitsempfindung berichtet, dem Schrecken der Isolation und der Sehnsucht nach der Mutter: C'est comme cela que je l'avais vu quand je rentrais des promenades du côté de Guermantes et que tu ne devais pas venir me dire bonsoir dans mon lit, comme cela que je le voyais quand nous t'avions mise en chemin de fer et que je sentais que c'était dans une ville où tu ne serais plus qu'il allait falloir vivre. Alors, j'ai eu ce besoin que j'avais alors, ma petite Maman, et que personne ne pouvait entendre, d'être près de toi et de t'embrasser. (CSB 298)

Aus dem weiteren Textzusammenhang dieses Kapitels „Retour à Guermantes", dem das Zitat entnommen ist, ergibt sich auch noch eine weitere Parallele mit dem Balbec-Erlebnis, denn die Rückkehr nach Guermantes, die angesichts der Kirchentürme so schmerzvoll verläuft, erfolgt mit und im Wagen der Mme Villeparisis während des anbrechenden Abends. Es wird also deutlich, daß tatsächlich die beiden angeführten Erlebnisse in der Gegend von Méséglise und in der Nähe Balbecs Variationen einer Ursituation darstellen, die mit einem Gefühls- und Erlebniswert belastet ist, der zwar wiedererweckt, aber nicht immer konkret erinnert werden kann. Um welches Erlebnis handelt es sich aber? Wenn die Homologie der Situationen so deutlich ausfällt, warum ist der emotionale Kern nicht aufzubrechen? Und aus welchem Grund nimmt der Autor selbst diese Übereinstimmungen nicht zum Anlaß einer Ich-Analyse? Eine Antwort kann zunächst nur vermutet werden; freilich wird sich diese Vermutung im Gewände von reichlichem Belegmaterial möglicherweise sehr überzeugend ausnehmen. Läßt sich nämlich erst die literarische Bedeutung dieser anscheinend undurchdringlichen Affektsymbole einheitlich bestimmen, so wird auch der nächste Schritt auf sicherem Boden erfolgen: Es ist ja kaum anzunehmen, daß die Bäume, Blumen, Kirchen nur stellenweise mit den Wurzeln ihrer Symbolbedeutung ins Unbewußte des Autors ragen, sonst aber indifferentes sprachliches Material bilden. Sie stehen in den Bezügen ihrer Funktion und enthüllen sich gegenseitig ihre psychischen Kommissionen. So läßt sich der Komplex „sonnenbeschienene Baumreihe" mit der Betrachtung einer analogen Stelle schon in gewissen Zügen analysieren: In der rasch aufeinanderfolgenden Serie von beglückenden Erlebnissen, die die Illumination des letzten Bandes Le temps retrouvé einleiten, im Hof und im Salon des Hôtel de Guermantes, weckt das Geräusch eines Löffels, mit dem ein Bediensteter gegen einen Teller schlägt, die Erinnerung an den Eisenbahnaufenthalt während der Heimreise tags zuvor: 33

Le soleil éclairait jusqu'à la moitié de leur tronc une ligne d'arbres qui suivait la voie du chemin de fer. „Arbres, pensai-je, vous n'avez plus rien à me dire, mon coeur refroidi ne vous entend plus. Je suis pourtant ici en pleine nature, eh bien, c'est avec froideur, avec ennui que mes yeux constatent la ligne qui sépare votre front lumineux de votre tronc d'ombre. Si j'ai jamais pu me croire poète, je sais maintenant que je ne le suis pas". (III 855)

Die Prozeduren der Anamnese zeigen immer wieder, daß die Deckerinnerungen selbst in mehreren Schichten übereinander lagern und in magischen Verbindungen sich ablösen können. Die sonst so beglückend mit dem Innern des Erzählers kommunizierenden Bäume „schwiegen" dort zunächst. Nur auf dem Umweg über die assoziative Verknüpfung mit der Guermantes-Sphäre finden die Bäume ihre alten Kräfte wieder und werden zu Botschaftern des Glücks. Doch welches Glück? Der Wiederbelebung der dichterischen Berufung? Marcels Überlegungen während des Eisenbahn-Aufenthalts deuten in andere Richtung: Peut-être dans la nouvelle partie de ma vie, si desséchée, qui s'ouvre, les hommes pourraient-ils m'inspirer ce que ne me dit plus la nature. (III 855)

Marcels Sehnsucht richtet sich auf die Menschen. Sie sollen ihm den Teil seines Ich wiederbeleben helfen, der in der Natur die früheren Erleuchtungen nicht mehr erfährt. Die Natur durch Menschen, das Surrogat durch Ersatz ablösen? Der absurde Gedanke klärt sich auf: Die Natur war für Marcel nie etwas anderes als Bild und Symbol für vertraute Geselligkeit. Die Baumreihen brauchten ihre anthropomorphe Umkleidung nicht zu öffnen, um den von Marcel unbewußt realisierten Erlebniswert menschlicher Zuwendung preiszugeben. Tatsächlich ruht in ihnen auch das Geheimnis seiner künstlerischen Berufung; ihre Voraussetzung bildet aber seine endgültige Einsamkeit. Der Leser braucht nur die ersten Kapitel von Du côté de chez Swann durchzublättern, um zu erkennen, daß die Liebe zur Natur fast nie gelöst erscheint von dem „terrible besoin d'un être" (II 733): Mais errer ainsi dans les bois de Roussainville sans une paysanne à embrasser, c'était ne pas connaître de ces bois le trésor caché, la beauté profonde. Cette fille que je ne voyais que criblée de feuillages, elle était elle-même pour moi comme une plante locale d'une espèce plus élevée seulement que les autres et dont la structure permet d'approcher de plus près qu'en elles la saveur profonde du pays. (I 157)

Aus diesen Bemerkungen und aus der Analyse der Sehnsuchtssituation Reise, zu der auch die Erlebnisse in den Wagen des Doktor Percepied und der Mme de Villeparisis gehören, erschließt sich ohne Schwierigkeit der Sinn der Bemerkung des Erzählers, daß seine Liebes- und seine 34

Reisesehnsucht im Grunde aus einem einzigen Kraftquell seines Ich fließen (I 87). Es ist sein Glücksbedürfnis. Die Konturen dieses Glücksbegriffs bei Proust haben sich schon abgezeichnet: Das Lächeln der Großmutter ist eines der Symbole und die Szene des mütterlichen Gutenachtkusses bildet die Allegorie dieses Glücks. Wie aber läßt sich zeigen, daß in diesen erzählerischen Verschlüsselungen das umfassende vielschichtige Bedürfnis Marcels nach Liebe, Freundschaft, Zuspruch mitenthalten ist? Und wie kann gezeigt werden, daß die „Anomalie" von Marcels Mutterbindung gerade die Sozialisationsagentur zur Entfaltung aller geselligen Fähigkeiten, für die Disposition zur Freundschaftsbildung, zur sozialen Anteilnahme, zur authentischen Kommunikation seelischer Akte, gewesen ist? Die Schwierigkeiten der Argumentation ergeben sich aus der bekannten, biographisch belegbaren Erzählsituation Prousts: In der Abwendung von der gesellschaftlichen Welt versucht er in seinem Roman den Zusammenbruch seines Glaubens überhaupt an die Möglichkeit zwischenmenschlicher Verständigung zu dokumentieren. In dem hierauf beruhenden Zwang, die Recherche „gegen den Strich" zu verstehen, also unter Mißachtung all der vielen Passagen, in welchen der Erzähler seine Skepsis und Ablehnung gegenüber den legitimierten Formen des Liebes- und Freundschaftsglücks mit der Schilderung seiner Enttäuschungen verwickelt, liegt auch das Problem des Nachweises begründet, daß Marcels Heimsuchungen durch das Glück, wie immer er sie selbst deutet, unbewußte Erfullungserlebnisse eben jenes geleugneten Liebes- und Geselligkeitsbedürfnisses darstellen. Zu seiner Lösung gilt es, die Aufbauelemente aller jener Exaltationsszenen ins Auge zu fassen, die der Erzähler selbst auf ihren emotionalen Kern, nämlich ihren psychologischen Aussagewert hin nie untersucht. Dabei wird sich bestätigen, daß vor allem Kathedralen, Kirchen und religiöse Kunstdenkmäler das weite Bildfeld für dieses erotische und darüber hinaus soziale Glück ausfüllen; aber zugleich macht der Zusammenhang offenbar, daß diese Kirchen mit ihren aus der Landschaft hervorragenden Türmen zwar männliche Sexualsymbole aufrichten, in ihnen versinnbildlichen sich aber auch jene „weiblichen" und „mütterlichen" Elemente wie Schönheit, Geborgenheit, Zärtlichkeit. Indem die Kirchen wechselweise männliche und weibliche Stereotypen und Erlebnisformen einfassen und sichtbar machen, werden sie zu Anschauungsbildern für die Verschmelzung der historisch-gesellschaftlich ausgeprägten Geschlechterpolaritäten, woraus allein die Grundtugenden menschlicher Beziehungen, Zärtlichkeit, Güte, die ganze Affektskala verständnisvoller Zuwendungsfähigkeit überhaupt, wiedergeboren werden können. Warum diese Qualitäten konkret fast ausschließlich Frauen zugesprochen werden, 35

konnte bereits in Andeutungen begründet werden und soll noch klarer hervorgehoben werden. Nahezu alle Marcel erotisch und gesellschaftlich interessierenden weiblichen Gestalten des Romans stehen in irgendeiner ausführlich explizierten Stelle in Zusammenhang mit Kirchen, der weit über allen Zufall hinausgeht, und umgekehrt gewinnen alle Kirchen im Kontext der Erzählung ihre volle Funktion erst dadurch, daß beinahe gesetzhaft regelmäßig Frauen oder Mädchen in ihrem Umriß auftauchen. Der von der Abendsonne beschienene Kirchturm von Saint-Hilaire, der wie eine Hauptfigur in die Erzählung eingeführt wird21 und geradezu das Zentrum aller Erinnerungen an das Städchen darstellt, ist der Liebling von Marcels Großmutter. In der Art, wie sie ihre Vorliebe begründet, indem sie sich von seiner „figure" entzückt zeigt und sich vorstellt, wie es klänge, wenn er Klavier spielen könnte, bietet sie geradezu ein verfremdetes Selbstporträt, als hätte sie sich ihm physiognomisch angenähert: Et en le regardant, en suivant des yeux la douce tension, l'inclinaison fervente de ses pentes de pierre qui se rapprochaient en s'élevant comme des mains jointes qui prient, elle s'unissait si bien à l'effusion de la flèche, que son regard semblait s'élancer avec elle; et en même temps elle souriait amicalement aux vielles pierres usées dont le couchant n'éclairait plus que le faîte . . . (I 64)

Und die „tendresse rayonnante", die aus ihrem Lächeln hervorleuchtet, scheint sich geradezu in der grauroten Färbung des von der Abendsonne beschienenen Turms zu spiegeln. Aber auch die anderen Kirchtürme, die sich aus der gleichen Fenster-Perspektive, in der Marcel vor allem der geliebte clocher Saint-Hilaire gegenwärtig bleibt, in die Erinnerung drängen, der gotische Fensterbogen aus einem Hotel in Balbec oder die Glocke des Dòme St. Augustin in Paris, sie alle tragen die gleiche rosa, violette oder auch zartrosa Färbung des abendlichen Sonnenlichts, die stets zu dieser Art von Glücksbildern gehört. Ihr mitschwingender sexueller Reizwert fuhrt offenbar das Material einer ähnlichen Reminiszenz herauf: in das Bild der Kirchtürme mischt sich die Erinnerung an den Schloßturm von Roussainville, der durch das Fenster jenes kleinen, nach Iris duftenden „Kabinetts" den ersten Onanie-Experimenten Marcels zusah (I 12, 158) und an den sich der kleine Mann in seiner Sehnsucht nach einem Mädchen bittend wie an einen Gott der Geschlechts- und Liebeslust wandte. 21 Zur kompositionellen Bedeutung dieses Motivs s. Hans Robert Jauss, Zeit und Erinnerung in Marcel Pransts „A la recherche du temps perdu". Ein Beitrag zur Theorie des Romans, Heidelberg 1955 (Heidelberger Forschungen 3. Heft); S. 70f. u. S. 197.

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Der Kreislauf des Narzißmus treibt mit seiner Zentrifugalkraft den Menschen in die Gesellschaft anderer, sofern er noch nicht an der Longe seiner Egozentrik festhaftet. Daß jener Schloßturm tatsächlich für Marcels Bedürfnisse kompetent war, erfahrt dieser erst viele Jahre später: Gilberte gesteht jhm dann, daß diese Ruinen einst den Treffpunkt von Jungen und Mädchen der Gegend gebildet haben, wo sie ihren verbotenen Spielen nachgingen (III 694), und daß auch sie selbst Marcel dort gerne getroffen hätte. In einer Kirche, Saint-Hilaire, begegnet der Erzähler auch zum erstenmal Mme de Guermantes, und die besondere Erregung, die von diesem Raum bereits auf ihn einwirkt, wird noch dadurch verstärkt, daß er sich von dem Lächeln der Herzogin, das ihn wie ein Sonnenstrahl trifft, zutiefst betört fühlt. In seinen frühen sehnsüchtigen Träumen vermutet Marcel Gilberte, die er bis dahin noch nicht einmal gesehen hat, nicht im Schloß türm von Roussainville, sondern er placiert sie vor das Portal von Kathedralen, „m'expliquant la signification des statues, et, avec un sourire qui disait du bien de moi, me présentant comme son ami, à Bergotte" (I 100). Aber die Kulisse, die sich seine zärtlich erfüllte Phantasie jetzt noch fur Gilberte ausmalt, wird wenige Zeit später das Szenario seiner Liebe zu Albertine: Et toujours le charme de toutes les idées que faisaient naître en moi les cathédrales, le charme des coteaux de l'Ile-de-France et des plaines de la Normandie faisait refluer ses reflets sur l'image que je me formais de Mlle Swann: c'était être tout prêt à l'aimer. (I 100)

So scheint ihm Albertine zunächst wie die Inkarnation der vollbusigen Bäuerin (II 367), die ihn als Statuette an der „goldenen" Kirche SaintAndré-des-Champs bereits als Kind beeindruckt hatte (I 184f.). Aber sie verschmilzt noch viel eindringlicher mit der Silhouette von Kirchen. So beobachtet Marcel fasziniert, wie Albertine in Quetteholme Saint-Jean-dela-Haise malt, eine Kirche, stachelig und rot blühend wie eine Rose, und er erklärt sein Glück damit, daß der Wind, der ihn streift, wenig später auch die malende Freundin und die Kirche berühren wird. Gemeinsam stehen sie, wie es Marcels träumerische Sehnsucht projektierte, vor einer ganzen Reihe von sonnenüberströmten Kirchen: In Marcouville l'Orgueilleuse zeigt ihm Albertine lächelnd eine Kirche, die ihr nicht gefallt, weil sie teilweise restauriert worden ist, von der Marcel jedoch beeindruckt scheint, weil das Sonnenlicht auch die modernen Partien wie mit Patina überzieht (II 1013f.). Andererseits gewinnt für Marcel die Kirche SaintMars-le-Vêtu, die ihm zunächst nicht gefiel, in der Erinnerung eine unerwartete Schönheit dadurch, daß er Albertines Bild dem architektonischen Umriß hinzugesellt: 37

. . . le sentiment de sa présence ajoutait tout d'un coup une telle veitu à l'image indifférente de l'église neuve, qu'au moment où la façade ensoleillée venait se poser ainsi d'elle-même dans mon souvenir, c'était comme une grande compresse calmante qu'on eût appliquée à mon coeur. (II 1017)

Diese wenigen Beispiele zu Marcels Synopsis von Kirchen und geliebten Mädchen oder Frauen geben schon einigen Aufschluß über den breiten Bereich seelischer Regungen, der sich mit diesen von seiner Einbildungskraft gelieferten Montagen verknüpft. Während sich das Prestige Gilbertes mit der Ehrfurcht verbindet, die Marcel gegenüber seinem Lieblingsschriftsteller Bergotte empfindet, in den er sich aber auch wieder selbst — als von Frauen verehrten literarischen Erfolgsmenschen — hineinversetzt, fließt aus der Erinnerung an eine Kirche, in die seine Phantasie das Bild Albertines hineinblendet, der Segen einer magischen Beruhigung, wie er früher vom mütterlichen Gutenachtkuß gespendet wurde. Freilich entwickelt der Erzähler in diesen Bildern keine abgeschlossenen Vorstellungen über die Personen, sondern variable Clichés seines Glücks. Tlenn später, nach dem Tod Albertines, rückt Andrée als neuer Abkömmling von Saint-André-des-Champs in die Erlebnissphäre der Kirchen (III 603), ähnlich Odette Swann, die Marcel schon früher wie die Skulptur einer gotischen Kathedrale erschien (I 638). Aber auch die Mutter erstarrt bisweilen im archetypischen Ausdruck der Güte und liebenden Erlösungskraft. Verwandelte sie sich noch im Contre Sainte-Beuve mit ihrem zärtlichen Lächeln in den Goldengel auf dem sonnenüberstrahlten Turm des Markusdoms in Venedig,22 in mehr als nur symbolischer Verwandtschaft mit der lächelnden Vierge-Doree-Großmutter am Südportal der Kathedrale von Amiens, so verbindet sie sich für den Erzähler der Recherche mit dem Baptisterium des Markusdomes. Eben dieser Raum mit seinen ungleichen Mosaiken kehrt Marcel ins Gedächtnis zurück, als er auf dem Hof-Pflaster des Hôtel de Guermantes so folgenreich stolpert. Bei der Suche nach der Erlebnisqualität, die sich hinter dieser erzählerisch so hervorgehobenen Reminiszenz verbirgt, findet der Leser nicht allein die — aus der Verbindung mit den Mosaiken — naheliegende künstlerische Schönheit des Markusdoms oder der Lagunenstadt. Vielmehr ist die Architektur und Kunstsphäre Venedigs in einem solchen Maße gesättigt mit der Erinnerung an die Zärtlichkeit und Güte der Mutter, daß die Analyse der 22 CSB 123. Ein weiteres, nicht in die Recherche aufgenommenes Beispiel für die verschmolzene Erlebnisperspektive Kirche-Mädchen bietet CSB 103f. Dort berichtet der Erzähler, er habe über zwei Jahre regelmäßig die Kathedrale von Chartres besucht, und nachdem er jeweils zunächst allein das Portal besichtigt hatte, war er im Anschluß daran mit der Tochter des Küsters auf den Turm gestiegen.

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Venedig-Illumination im Hofe des Hôtel de Guermantes in die gleiche Richtung fuhren muß. Die Grundlage einer solchen Überlegung bildet die dramatisch zugespitzte Auseinandersetzung zwischen Marcel und seiner Mutter: Diese will abreisen, während Marcel sich von dem Gerücht, die mit der Aureole der Laszivität umgebene Kammerfrau der Mme Putbus werde bald ankommen, zum Bleiben gedrängt fühlt. Die Mutter bricht ohne ihren Sohn auf, aber dieser eilt ihr wenig später hinterher, weil er in den wenigen Minuten des Alleinseins Venedig derart seines Charmes beraubt sah, daß es wie eine fremde Stadt vor ihm lag. Die Erzählung bildet das Resümee der Venedig-Reise und schärft die Aufmerksamkeit für die Beobachtung, daß die Erinnerung an das Baptisterium des Markusdoms nur das Dekor einer seelisch bedeutsameren Reminiszenz liefert: In der eiseskühlen Luft des Kirchenraumes (hatte die Mutter mit fürsorglicher Gebärde Marcel einen Schal um die Schultern gelegt, und daraufhin hat sich ihr Bild, gleich dem der heiligen Ursula Carpaccios, mit den Kunstmosaiken verbunden, so daß Marcel immer glaubt, sie dort wiederfinden zu können. (III 645f.) Es wäre jedoch verfrüht, die Analyse von Marcels Erinnerungsexaltationen abzuschließen, ohne zu zeigen, wie auch die umgekehrte Zusammenschau von Kirche und weiblichen Gestalten erfolgt, wie also nicht nur alle geliebten oder verehrten Frauen des Romans mit der kirchlichen Sphäre, ihrem karitativen und künstlerischen Erlebnisgehalt verschmelzen, sondern wie auch der Anblick von Kirchen augenblicklich Liebessehnsucht hervorruft, oder wie sich Marcels unerfülltes und, wie es scheint, unerfüllbares Zärtlichkeitsbedürfnis in den Schatten von sakralen Monumenten oder ihren symbolischen Ersatz, Türme und Bäume, flüchtet. Wenn der Erzähler bei seinen Spaziergängen durch den „côté de Guermantes" die Landschaft mit seiner ununterbrochenen von der Sehnsucht nach der Herzogin inspirierten Phantasietätigkeit belebt, jener Herzogin, die ihre individuellen Züge aus einem Wandteppich von Saint-Hilaire bezieht, so liest er aus der Gegend von Méséglise - analog der soziologischen Differenzierung der beiden côtés — sein Bedürfnis, einer Bäuerin wie jener Statuette an Saint-André-des-Champs zu begegnen. Beide Passagen bilden gewissermaßen unschuldige Illustrationen des psychologischen Vorganges, daß die in der Pubertät reaktivierten libidinösen Regungen Marcels alle möglichen Bereiche und Objekte besetzen, die in zufälligem oder assoziativem Zusammenhang mit der Mutter-Sphäre stehen (eine Fürstin ist eine Über-Mutter). Und indem diese Objekte sich mit den erotischen Phantasien verbinden, strahlen sie die libidinösen Energien fremd wieder zurück. Marcel glaubt folglich, daß es die Natur, die Bäume des Waldes oder die Kirchtürme von Martinville seien, die ihm seine Sehnsucht eingeben (I 156), 39

und so wendet er sich auch flehend an die Türme und Bäume der Gegend wie an Schutzgötter seiner Wünsche: Hélas, c'était en vain que j'implorais le donjon de Roussainville, que je lui demandais de faire venir auprès de moi quelque enfant de son village, comme au seul confident que j'avais eu de mes premiers désirs, . . . Je pouvais aller jusqu'au porche de Saint-André-des-Champs; jamais ne s'y trouvait la paysanne que je n'eusse pas manqué d'y rencontrer si j'avais été avec mon grand-père . . . Je fixais indéfiniment le tronc d'un arbre lointain, de derrière lequel elle allait surgir et venir à moi; (I 158)

Wenn dem Leser das kontaminierte Sehnsuchtsbild von Kirche und Mädchen im Verlaufe des Romans durch viele Abwandlungen hindurch begegnet, so versteht er sie allein aus ihrem Zusammenhang mit diesen Ursprungsszenen des Bandes Du côté de chez Swann, wo die Kirchen- und aufragenden Schloßtürme ebensosehr die Silhouette der Landschaft wie die Formation von Marcels Psyche bestimmen. Nur vor diesem Hintergrund erscheint es ihm nicht als ehrfurchtslos, daß Marcel sehr viel später an einen höchst enthusiasmierten Bericht von seinem (einsamen) Besuch der Arena-Kapelle in Padua unmittelbar die banale Episode von einer Österreicherin, der er im Hotel nachstellt, anzuknüpfen vermag. Das Kunsterlebnis bindet nicht unwiderruflich alle Kräfte der Person; sie vermögen sich ebensoschnell wieder von den bewunderten Gegenständen zu lösen und dann allein ihre komplexen Triebinteressen zu verfolgen. Diese Labilität seines ästhetischen Sinns, den vor allem ein verdrängter erotischer antreibt, bewirkt es, daß Marcel beim Gedanken an die Jungfrauenstatue der Kirche in Balbec noch vor Freude der Atem stockt (I 385), obgleich er sie bisher nur auf Bildern gesehen hat, während die Begegnung mit der Realität höchst enttäuschend verläuft. Zwar glaubt Proust mit dieser Erzählung wieder seine pessimistische Erfahrung zu bestätigen, nämlich daß die Wirklichkeit niemals alle projektiven Kräfte und Gefühlsenergien aufzusaugen vermag, mit denen sie der Mensch in seiner Phantasie besetzt, aber sie macht ebenso deutlich, wie haarscharf er bisweilen mit seinen desillusionierten Erklärungen an den in seiner Erzählung selbst entwickelten Tatsachen vorbeigreifen kann, um dabei die dichterische Aktivität seines Unbewußten zu dokumentieren: Obgleich die Konstellation angesichts der Kirche von Balbec alle idealen Bedingungen, die den Erzähler sonst in die höchsten Frequenzen der Begeisterung treiben können, vorliegen — er ist allein und die Statue sogar zur Hälfte von der untergehenden Sonne beschienen - , macht sich Enttäuschung breit (I 660), das fern vom Meer gelegene Bauwerk scheint ihm ohne allen Glanz, und selbst die „vierge dorée" dünkt ihn mit ihrem verwitterten Gestein eine alte Frau, deren Runzeln 40

man zählen könnte. Der psychologische Hintergrund dieser Enttäuschung ist in einer Episode, wenige Seiten zuvor, deutlich skizziert. Kurz vor der Ankunft in Balbec, wo er dann eigens ausstieg, um die Kirche zu besichtigen, hatte Marcel ein für seine Gefühlsprojektionen, die in den Kirchen eben doch nur ein Symbol ihrer Sehnsucht finden, ganz reales Objekt entdeckt: Während eines Bahnhofaufenthaltes beobachtete er erregt die Inkarnation seiner Wünsche, eine junge „Bäuerin", die sich mit einem Milchkrug dem Zug näherte, um Milchkaffee an die Fahrgäste auszuschenken (I 657). Es ist die Erinnerung an dieses Gesicht, das er unbedingt wiedersehen möchte, und an die Szenerie des Bahnhofs, welche ihm das Erlebnis der Marienstatue an der Kirche in Balbec verdunkelt. Denn in der runzeligen „vierge dorée" begegnet nicht nur das Mädchen mit seinem wie durch ein Kirchenfenster bestrahlten „teint . . . doré" (I 657) einem parodistischen Zerrbild, sondern auch die ganze bezaubernde Situation erfährt eine travestierte Wiederauferstehung: Die Statue blickt auf das Getriebe einer Autobushaltestelle und auf ein Café! Ohne Irritation seiner Ehrfurcht führt es Marcel auf diese profane Umgebung zurück, daß ihm seine Wiederbegegnung mit dem einst so geliebten Bildnis keine Freude gebracht hat. Dieser Zusammenhang findet seine Spiegelung darin, daß Elstir, der Maler der normannischen Kirchen, Marcel sowohl die Augen für die Schönheit der religiösen Statuen an der Kirche von Balbec wieder öffnet, als auch die Bekanntschaft jener Mädchen mit dem goldfarbenen Teint verschafft, die ihn wiederum so sehr an die sonnenbeschienenen Skulpturen erinnern. Und so tröstet sich später Marcel über die Entzauberung, die Albertine beim näheren Kennenlernen erleidet, damit hinweg, daß er sich an das Erlebnis der Kirche von Balbec erinnert, die auch die Erwartungen, die er in der Phantsie an sie stellte, nicht einzulösen vermochte (I 876). In welchem Maße die Geflihlsassoziationen, die den Bereich des Sakralen mit Marcels Sexualität zusammenschließen, sich zu erzählerischen Erlebnistopoi ausprägen, wird an zwei weiteren Stellen ablesbar: In Carqueville besichtigt der Erzähler die efeuüberrankte Kirche, während seine Großmutter mit der Marquise de Cambremer eine Konditorei aufsucht. Kaum hat er die Kirche verlassen, da begegnet er einer Gruppe von Mädchen, deren offensichtliche Anführerin unwiderstehlich sein Interesse erregt. Sie sitzt auf dem Rand einer Brücke, um zu angeln, und zeigt sich gegen ihre Umgebung, einschließlich Marcels mit seinen begehrlichen Blicken, voller Herablassung, obgleich sie selbst recht ärmlich gekleidet ist. Zwar legt der Erzähler über die Ursache seiner Faszination nicht ausdrücklich Rechenschaft ab, er berichtet viel einläßlicher über seine Versuche, die Attraktion 41

dieses Glücksbildes in seinem Inneren aufzuheben, um nicht auf ewig davon verfolgt zu werden, dennoch scheint in die Szene wie in ein Vexierbild das gesuchte Phantom eingelegt, das sich, wenn das Bild in der rechten Weise betrachtet wird, hinter der im Schatten einer Kirche sitzenden „belle pêcheuse" als erregendes Moment entdecken läßt: Es ist die Sehnsuchtsgestalt der duchesse de Guermantes, der Marcel immer vergeblich am Ufer der Vivonne zu begegnen wünschte. So wird auch seine eigenartige Reaktion verständlicher, daß er sich in den Augen des Mädchens Prestige zu erwerben sucht, indem er sich durch einen Auftrag, den er ihr erteilt, als der Marquise de Villeparisis mit dem zweispännigen Wagen zugehörig ausgibt. Freilich deckt dieser Fund nicht Ursprung und Qualität jener seelischen Energien auf, die bei der Entfaltung der bewußten und unbewußten Projektionen beteiligt sind. 23 Die Verbindungslinien zwischen den Kirchen und Marcels Liebessehnsucht, die auch in dieser Konstellation noch zufällig scheinen mag, wir anläßlich einer Episode in Doncières zum magischen Kreis zusammengeschlossen: Je reprenais mon chemin, et souvent dans la ruelle noire qui passe devant la cathédrale, comme jadis dans le chemin de Méséglise, la force de mon désir m'arrêtait; il me semblait qu'une femme allait surgir pour le satisfaire; si dans l'obscurité je sentais tout d'un coup passer une robe, la violence même du plaisir que j'éprouvais m'empêchait de croire que ce frôlement fût fortuit et j'essayais d'enfermer dans mes bras une passante effrayée. Cette ruelle gothique avait pour moi quelque chose de si réel, que si j'avais pu y lever et y posséder une femme, il m'eût été impossible de ne pas croire que c'était l'antique volupté qui allait nous unir . . . (II 97)

Auffällig deuten die interative Erzählform „souvent" und der Hinweis auf die ursprüngliche Landschaft seiner Sehnsucht, Méséglise, in deren Namen nicht nur das sakrale Reizwort „église" steckt, sondern die Marcel auch in ihrer Farbigkeit bisweilen wie durch ein Kirchenfenster von Saint-Hilaire angestrahlt erscheint, darauf hin, daß auch hier seelische Prozesse lebendig sind, deren Triebkräfte sich nicht in die völlige Helle des Bewußtseins ziehen lassen. Denn nicht nur die Schnittflächen der Konstellationen, in denen sich der Kunstenthusiasmus für Kirchen und das Bedürfnis nach weiblicher Zärtlichkeit verbünden, stimmen überein. Zusätzlich strahlt fast regelmäßig 23 In einem Brief an Louisa Mornand, die die gleiche Kirche zu besichtigen vorhatte, und aus dem hervorgeht, daß ein Teil des erzählerischen Materials dieser Episode einem realen Erlebnis entstammt, wird zugleich von „lächelnden Mädchen", die gegenüber der Kirche aus den Fenstern schauen, gesprochen: Correspondance de Marcel Proust, publiée par Robert Proust et Paul Brach, Paris 1 9 3 0 - 3 6 (6 Bände); V 160. Vgl. auch das Kapitel VIII (S. 114ff.) dieser Studie, wo auf diese Szene näher eingegangen wird.

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goldfarbener Sonnenschein, der die Gebäude und Statuen ebenso übergießt wie die sich ihnen anverwandelnden Frauen- und Mädchengestalten, die an diesen erregenden Erlebnissea und Phantasiebildern beteiligt sind. Das Glück, das aus ihnen auf Marcel überspringt, hat sich trotz aller Unterschiede von der Situationsbildung, an die es schon früher gebunden war, vom Lächeln der Großmutter und dem Gutenachtkuß der Mutter, nicht emanzipiert. Die Fülle der Erlebnisse bleibt stets durchsichtig, und selbst die Poesie des Weißdorns, dessen Stickmuster den ganzen Roman durchzieht, läßt auch in höchster kontemplativer Verfeinerung kaum übersehen, daß diese Blumen Mädchensymbole darstellen. Immer wieder werden sie in die Metapher „fille" gekleidet, damit sich Marcel mit ihnen in ein imaginäres Gespräch versetzen kann. Es scheint sogar eine Art Liebesgeschichte zwischen dem jungen Erzähler und dem Weißdorn zu geben, die natürlich in der Kirche von Combray ihren Anfang nahm und deren Fortsetzung wiederum in einer Kirche in der Nähe von Balbec nur scheinbar darum nicht stattfindet, weil bereits seine Blütezeit vorbei ist (I 922); in Wahrheit liegt die Ursache darin, daß Marcel inzwischen seine Liebe Albertine zugewandt hat. Welche Rolle Kirchen, Bäume, Blumen im Aufbau von Marcels Kindheitslandschaft um Combray herum spielen, hat die Kritik bisher stets klar erkannt; aber daß diese animierten Bewohner seines Garten Eden zugleich die Aufbauelemente einer verschlüsselten Architektur seiner seelischen Prozesse bildeten, ist bisher nur gestreift worden. Denn selbst solche Regungen finden sich dort in Bilder umgesetzt, die darauf hinweisen, daß dieses Paradies auch die Früchte reifen läßt, deren Genuß bald zur Vertreibung fuhren wird. Der kleine Marcel, der wütend darüber, daß seine Bitte den Kirchen und Bäumen nicht mit der gleichen Zauberkraft, die seiner eigenen Phantasie innewohnt, die ersehnten Mädchen zu entlocken vermochte, mit einem Stock in sinnloser Wut auf Blumen und Gesträuch einschlägt, zeigt sich bereits vom Keim des Sadismus befallen, der allerdings Beschädigungen bewirkt, die an einer ganz anderen Person demonstriert werden sollen. Der Sadismus ist das Ausfalltor, durch welches plötzlich die gestauten Versagungen, die die Gesellschaft dem Liebesbedürftigen zumutet und die nicht dem Alltagskonsum an sublimierter Energie anheimfallen, mit schwerer Bewaffnung stürmen. Der Baron Charlus steht im Zentrum des großen Kapitels, das diesen Zusammenhang nicht ohne Entsetzen offenbart. Eine sich freilich nicht jedem öffnende Verwandlungsmöglichkeit für diese Affekte, von der auch der kleine wutentbrannte Marcel von Méséglise bereits zu träumen scheint, bietet die Kunst: Sie ist ein bodenloses Gefäß, in welchem die unverwende43

te Zärtlichkeit entweder verfliegen oder aber sich in einer Form absetzen soll, die verhindert daß sie im Aggregatszustand der „mauvaise humeur" das Subjekt oder seine Welt mit Bosheit oder Zynismus überzieht. Und dies scheint das einfache Geheimnis aller jener Exaltationen, die der Erzähler, alt und resignierend, aber von dem Bewußtsein der dichterischen Sendung durchdrungen, im Haus der Guermantes resümiert wie die zurückerworbenen Schätze seines Lebens. Mit der magischen Kraft, die dem kleinen Marcel fehlte, um seine Sehnsüchte zu erkennen und zu erfüllen, kehren nun durch die Kettenreaktion seiner von keinen zaubermächtigen Gegenkräften mehr gestörten Assoziationen alle jene Erlebnisfelder zurück, deren eigenster Inhalt nicht einfach Düfte, Blumen und Kirchen waren, sondern Düfte, Blumen und Kirchen, an die sich zu ästhetischemotionalen Symbiosen seine Bedürfnisse und Sehnsüchte geheftet hatten. Die beseligende Macht seiner wiedergefundenen Erlebnisse entspringt, einer vordergründigen Psychologie nach, lediglich der Identitätsfindung, nämlich die Einheit des in „moi successifs" aufgelösten Ich erfahren zu haben. Denn über die Ahnung hinaus, daß dieses Einheits-Ich das nach Gefuhlstausch und Erfüllung strebende Element der in die Zeit aufgesplitterten Person ist, wird der Inhalt dieser Erlebnisse nicht bewegt und bleibt vom Bewußtsein undurchdrungen. Aber die psychoanalytische Praxis vermag Herkunft und Qualität eben dieser Empfindungen aufzuhellen. Bereits Freud hat zum Phänomen des „déjà vu" bzw. „déjà entendu" wichtige Bemerkungen gemacht. 24 Aufschlußreicher jedoch sind die von der Psychoanalytikerin Ilse Barande 25 beobachteten Symptome, die in ihrer Rätselhaftigkeit den Erlebnissen Marcels ganz überraschend gleichen. Es handelt sich bei dem von ihr mitgeteilten Material um die Krankheitsgeschichte von Patienten, die in ihrer Geschlechtsidentität gestört waren und die durch die Erklärung und Auflösung dieser Symptome auf den Weg der Identitätsfindung gelangten: . . . möchte ich etwas über das spezifische Identitätserlebnis sagen, das in der psychoanalytischen Behandlung auftreten kann. Es handelt sich um ein Gefühlserlebnis in der Übertragung, von dem alle Inhalte durchtränkt sind; es ist für den Analytiker wie für den Analysanden gleich rätselhaft. Erkennbar wird, daß es 24 Sigmund Freud, Gesammelte Werke Bd. X, London 1949 (,.Über Fausse Reconnaissance (,Déjà Raconté') während der psychoanalytischen Arbeit', S. 116— 123). 25 Es handelt sich um einen Diskussionsbeitrag, den Ilse Barande im Rahmen des 26. Internationalen Psychoanalytischen Kongresses in Rom 1969 zum Genese-Problem der gestörten Geschlechtsidentität lieferte. Der Abdruck dieser Diskussion findet sich in: Psyche, Heft 1 (1972), S. 5 8 - 7 7 . Zitat auf S. 72.

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sich um die Aktualisierung eines Gefühlszustandes handelt, von dem der Patient weiß, daß er ihn schon einmal empfunden hat, der aber nie bearbeitet wurde. Weder in der . . . Zeit seiner ursprünglichen Entstehung, noch später hat dieser Zustand durch Verbalisierung jene Überbesetzung erfahren, die durch die Sprache erfolgt. Allmählich haben sich an die affektive Grundstimmung verstreute Elemente angeheftet; das Gefühl verschwindet, taucht wieder auf, erlaubt gelegentlich eine Deutung des Ablaufs . . . Eines Tages kommt es zu einer erhellenden Assoziation, zur Erinnerung an eine Situation, an einen Namen aus der Vergangenheit. Dieser schöpferische Vorgang führt zu einem Identitätserlebnis des Analysanden . . . Es handelt sich in der Tat um zwei gleichzeitige Erlebnisse: das Verstehen der Übertragung und die Inbesitznahme eines emotionalen Kerns, mit dem der Analysand als Subjekt sich bisher noch niemals identisch gefühlt hatte. Das läßt auf die Unmittelbarkeit der Verdrängung, die Undurchschaubarkeit der Triebabkömmlinge schließen, die die Vorstellung eines solchen „Ich-Selbst" niemals zugelassen hatten, während der dazugehörige Affekt sich auf die uns vertraute Weise darstellte . . . Dem Identitätserlebnis liegen Introjektionen bevorzugter Beziehungen und psychophysischer Identifizierungen mit den Eltern zugrunde.

Der Leser der Recherche wird keine Mühe haben, diese Beobachtungen in jedem Detail auf die Historie der Identitätsfindung Prousts zu übertragen. Für ihn bleibt vielleicht noch die Frage offen, welche Hemmungen es sind, die die Qualität dieser libidinösen Empfindungen nicht ans Licht kommen lassen wollen. Doch der Zusammenhang der Erzählung beantwortet auch diese Frage: es ist die Inzestschranke. Marcel hat nicht ganz erfolgreich den libidinösen Kern seiner Liebe zur Mutter verdrängt. Immer wieder stellen sich Erinnerungen an solche Momente ein, in denen sich die verdrängte Libido in Form von Angst entlud oder aber ein anderes Objekt zur Besetzung fand, und zwar in der Situation, die die verbotenen Wünsche weckte und noch weckt: kurz vor dem Zubettgehen, bei Sonnenuntergang und dem zu erwartenden Gutenachtkuß. Zur Kompensation des verdrängten Wunsches hat Marcel die „erlaubten" Momente seiner Liebe idealisiert; und darum wird sein Maßstab für die Qualität des sozialen Verkehrs mit anderen Menschen so überstreng. Denn auch bei nicht-sexuellen Beziehungen fungiert die im Über-Ich verankerte Moralität der mütterlichen grenzenlosen Offenheit und Hingabe als unerbittliche Richterin über den Wert der anderen. Wenn sich diese Forderungen aber zu erfüllen scheinen, dann stellt sich ein tiefes Glücksgefühl ein, in dem ein kräftiger Anteil Libido abfließt. Die analytische Erkenntnis, daß Marcel durch einen unbewußten Abwehrvorgang daran gehindert wird, Ursache und Zusammenhang seiner Exaltationen zu durchschauen, sie wird dadurch bestätigt, daß die fehlende Übereinstimmung seiner erotischen Erlebnisse mit der mütterlichen Zärtlichkeit durchaus bewußtseinsfähig ist: 45

Ce terrible besoin d'un être, à Combray j'avais appris à le connaître au sujet de ma mère, et jusqu'à vouloir mourir si elle me faisait dire par Françoise qu'elle ne pourrait pas monter. Cet effort de l'ancien sentiment pour se combiner et ne faire qu'un élément unique avec l'autre, plus récent, et qui, lui, n'avait pour voluptueux objet que la surface colorée, la rose carnation d'une fleur de plage, cet effort aboutit souvent à ne faire (au sens chimique) qu'un corps nouveau, qui peut ne durer que quelques instants. Ce soir-là, du moins, et pour longtemps encore, les deux éléments restèrent dissociés. (II 733)

Gewiß steigt die Sehnsucht nach der mütterlichen Zärtlichkeit nicht aus allen Exaltationen ganz offenbar hervor, aber ihre sexuelle Wertigkeit, die, was die Formel „terrible besoin d'un être" anzeigt, wie ein Spektrum die Farben mehrerer sozialer Bezugsmöglichkeiten in sich zusammenfaßt, läßt sich überall sichtbar machen. Bei den Erlebnissen angesichts der Türme von Martinville und der Baumreihen bei Balbec und auf der Reise nach Paris ist dieser Aspekt schon herausgehoben worden. Aber auch jenes Glücksgefühl, das Marcel aus den eigenartigen Düften einer Bedürfnisanstalt auf den Champs-Elysées überfällt (I 492), ohne daß sich ihm seine Ursache sogleich offenbart, gehört in diese Reihe. Der gleiche muffige Geruch, so stellt sich später heraus, herrschte auch in dem einst von Onkel Adolphe bewohnten und später leer stehenden Zimmer in Combray, dem „petit cabinet de repos", in dem er sich bisweilen gerne aufgehalten hatte (I 72). Aber nachdem dann durch Marcels Schuld des Onkels Verhältnis mit Odette de Crécy ruchbar geworden war, hatten die Eltern das Zimmer geschlossen und somit tabuisiert. Nicht zufällig stellt sich die anfänglich unentwirrbare Geruchsreminiszenz während des Spiels mit der geliebten und begehrten Tochter jener Odette ein, der „dame en rose", die ihm beim Onkel so ausnehmend gut gefallen hatte. Und die Hemmung, die es Marcel zunächst verwehrte, die aus dem Unbewußten aufsteigende Erinnerung zu fixieren, fällt natürlich in dem Augenblick, als ihm ein spielerischer Ringkampf mit Gilberte unverhofft einen Orgasmus beschert hat. Eine ähnliche Erinnerung wird durch das Geräusch der Wasserrohre im Hôtel de Guermantes (III 874) wiedererweckt: Jene Aufenthalte in Balbec oder Rivebelle, wo sich in das Abendsonnenlicht Marcels sexuelle Spannung und sein „besoin d'un être" wie auf den Rückwegen aus dem Côté de Guermantes mischte. Die übrigen Exaltationen werden von Erinnerungen an solche Erlebnisse erfüllt, in denen die — mit seinen sexuellen Regungen unbewußt verquickte - mütterliche und großmütterliche Zärtlichkeit das Erinnerungsfeld durchtränkt: Der Geschmack der Madeleines, das zentrale Erlebnis der „Intermittences de coeur", die Empfindung auf den ungleichen Steinen des Hôtel de Guermantes ebenso wie das Gefühl, das ihm die gestärk46

te Serviette (III 868) eingibt, nämlich die Erinnerung an die Morgenatmosphäre in Balbec, als ihn die Großmutter weckte und, die Fenster öffnend, die berauschende Meeresluft ins Zimmer hereinließ; denn ihre Fürsorglichkeit äußerte sich eben darin, daß sie ihre Lieben vor allem mit Frischluft versorgte. Und die Wiederbegegnung mit „François le Champí" — selbst der Titel ist nicht ohne Bezüglichkeit - ruft den glücklichsten Augenblick der Kindheit ins Gedächtnis zurück, da er einmal die Fürsorge der Mutter auch nachts ganz allein für sich beanspruchen durfte. Das zeitlose Ich, das Marcel im Hôtel de Guermantes wiederentdeckt, ist kein transzendentales Ich, sondern jenes von außergewöhnlichem Zärtlichkeits- und Zuwendungsbedürfnis durchdrungene Wesen, das freilich einer auf materielle Selbsterhaltung und Repräsentation von Scheinwerten bedachten Gesellschaft transzendent sein muß. Das Urbild seiner ganz von Ichliebe und Eigensucht reinen und nur dem Egoismus der Menschenliebe verfallenen Großmutter trägt er wie einen Fluch und ein Vermächtnis durch sein Leben und bringt es nur in wenigen exaltierenden Augenblicken mit der Realität zur Deckung. Daß diese Deutung des emotionalen Gehalts seiner Glücksmomente dem Erzähler nicht gelingen kann, ist, obwohl hier nicht die Zensur des Unbewußten einsetzt, verständlich. Die seelische Biographie Prousts hat ihren entscheidenden Augenblick, da der Heranwachsende aus dem ödipalen Konflikt nicht durch die Orientierung zum Vater hin, sondern durch Identifikation mit der Mutter sich herauslöst. Der Prozeß der Sozialisation indessen verlangt unumgänglich den Verzicht auf die Mutter. Daß dieser Verzicht von den libidinösen Regungen nicht einfach hingenommen wird, diese vielmehr, ins Es verdrängt, eine ihrer Intensität entsprechende Aktivität entfalten, das wird eine der Bedingungen dafür, daß dem Erzähler ein Teil seines Ich, seiner psychischen Reaktionen immer rätselhaft bleiben muß. Dies ist der Preis fur die Errettung seiner seelischen Differenziertheit, die für seine vor dem goldenen Kalb berufstüchtiger Virilität tanzende Klasse als weiblich gelten muß, und die ihm die Suche nach seiner sexuellen Identität zu einer lebenslangen Aufgabe werden läßt. Und weil die Gesellschaft seiner Zeit mit dem Reichtum und Zauber von Prousts Person, abgesehen vom konventionellen Salon-Konsum seines Charmes, nichts anzufangen weiß, vermag dieser seine Qualitäten nur in einer qualvollen Selbstverstümmelung in Literatur zu reproduzieren. Wie sollte er diesen Hintergrund selbst aufhellen können? Der Roman vermittelt aber nicht nur das unbewußte Material, sondern in seiner Strukturierung auch die Lösung und den Schlüssel zum Verständnis. Die ästhetische Form gewinnt daheraus eine ganz neue Bedeutung, und nur eine Prosodie des Es vermöchte ihr gerecht zu werden. Hier lassen sich erst die Ansätze dazu entwickeln. 47

Das Symbol der Zeit als Kontinuität, das zugleich das Symbol der Kontinuität des Ich enthält, ist der Kirchturm von Combray,26 Objekt und architektonischer Reflex der Zärtlichkeit und des Schönheitssinnes der Großmutter. Und damit läßt sich die Analyse der Exaltationen und Gefühlszeichen abschließen: Allen voran begegnet Marcel in Kirchen, ihrer künstlerischen Schönheit, aber auch ihrer landschaftsprägenden Silhouette, der Spiegelung und dem Symbol seines Geselligkeits- und Zärtlichkeitsbedürfnisses und den sich mit diesem emotionalen Komplex verbindenden sexuellen Wünschen. Das Symbol der Kirche und das literarische Motiv decken freilich noch breitere Schichten von Marcels Affektsphäre ab, wenn auch in ihnen allen allein das Urbild seines Gefühlslebens beherbergt zu werden scheint: Der immer wieder hervorgehobene Farbreiz der sonnenbestrahlten Türme und Marienstatuetten bildet die metaphorisch umgesetzte Erinnerung an das Signal zärtlicher Einfühlung und verständnisvoller Zuneigung - denn „sourire" und „souriant" sind gerade in diesem Zusammenhang vielverwendete Synonyma von „briller" und „radieux" - , an das Lächeln der Großmutter.27

26 Vgl. hierzu Jauss, a.a.O. 27 Eine andere Bedeutung dieses Lächelns gibt der Artikel Une Grand'mère zu erkennen, den Proust 1907 im Angedenken an die verstorbene Großmutter seines Freundes Robert dp Flers verfaßt hat. Zahlreiche Gedanken und Motive daraus finden sich in den Pass'gen der Recherche, die Marcels Verhältnis zu seiner Großmutter thematisieren, wieder, denn auch hier wird eine vollkommene Beziehung, die sich als vollkommene Verständigung kristallisiert, gewürdigt; die letzte aufschlußreiche Passage lautet folgendermaßen: . . . les êtres qu'on a le plus aimés, on ne pense jamais à eux, au moment où on pleure le plus, sans leur adresser passionnément le plus tendre sourire dont on soit capable. Est-ce pour essayer de les tromper, de les rassurer, de leur dire qu'ils peuvent être tranquilles, que nous aurons du courage, pour leur faire croire que nous ne sommes pas malheureux? Est-ce, plutôt, que ce sourire-là n'est que la forme même de l'interminable baiser que nous leur donnons dans l'Invisible? Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve etc. éd. par Pierre Clarac et Yves Sandre (Bibliothèque de la Pléiade), Paris 1971; S. 548. Über die Quellen zum biographischen Hintergrund von Kunsterlebnissen und Gefühlsexalationen vgl. Painter, a.a.O. Bd. I, S. 413f.

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V

Zum Regelprozeß unmöglicher Verständigung und Liebe

Hatte sich Marcels Liebe zur Großmutter mit den sonnenbeschienenen Kirchen, den sprechenden Baumreihen und Weißdornblüten landschaftliche Scherenschnitte geschaffen, in denen sich seine Leidenschaftlichkeit und Sehnsucht kaum selbst wiederzuerkennen vermochten, und an denen dann seine Mädchenfreundschaften vorbeigleiten konnten, ohne in Konflikt mit der darin verborgenen Architektonik seiner Psyche zu geraten — so ragt in Marcels scheinbar weniger emotional belastete Beziehungen zur Umwelt das Idealbild der Großmutter desto nachdrücklicher hinein. Während seines Besuches bei der Garnison des Freundes Robert de Saint-Loup in Doncières befindet sich der Erzähler - obgleich ohne Begleitung seiner lächelnden Schutzgöttin - in einer auch für seine anfällige und empfindliche Seelenverfassung angenehmen, von Verständnis und Freundschaft erfüllten Umgebung. Der Aufenthalt scheint sich unerwartet auszudehnen, bis ihn ein Telefongespräch mit der alten und kranken Großmutter zu einer überstürzten Abreise veranlaßt. Die Befremdlichkeit dieses Entschlusses weicht nur einem differenzierten Verständnis dieses Gesprächs, das eine der schönsten Episoden des Romans darstellt. Durch die Tücken der noch in ihren Anfängen steckenden Fernsprechtechnik entfaltet sich nur eine unvollständige Begegnung, die gleichzeitig diese neue ingeniöse Einrichtung als Surrogat entlarvt, sich aber auch gegen diesen Ersatz erfolgreich wehrt. Marcel, der sonst, wie er sagt, die Worte seiner Großmutter auf den Zügen ihres Gesichts mitzulesen gewohnt war, entdeckt jetzt in dieser optisch unvermittelten Stimme allein deren spröde Zartheit. Zwar begreift er die Ursache dieser Offenbarung mit untrüglichem Gespür, daß nämlich die Großmutter, durch diese Situation einer unvollkommenen Zwiesprache irritiert, ihre anteilnehmende Besorgnis nicht wie sonst durch erzieherische Rückhalte filtert, sondern unbehindert verströmt. Aber Marcel läßt sich ganz gefangennehmen von diesem Erlebnis, und so stellt sein Bericht von dem Téléphonât allein eine Art musikalischer Analyse der gehörten Stimme dar. Der Gegenstand der Unterhaltung tritt kaum ins Licht:

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. . . je découvris combien cette voix était douce . . . Elle était douce, mais aussi comme elle était triste, d'abord à cause de sa douceur même, presque décantée, plus que peu de voix humaines ont jamais dû l'être, de toute dureté, de tout élément de résistance aux autres, le tout égoïsrr.e ! Fragile à force de délicatesse, elle semblait à tout moment prêt à se briser, à expirer en un pur flot de larmes; . . . . . . aussi, ce que j'avais sous cette petite cloche approchée de mon oreille, c'était débarrasée des pressions opposées qui chaque jour lui avaient fait contrepoids, et dès lors irrésistible, me soulevant tout entier, notre mutuelle tendresse. (II 135)

Diese kurze Passage gibt einen Eindruck von dem Vorgang, der sich auch Marcels anspruchsvollem Begriff der Verständigung fugt: Kommunikation setzt im Grunde schon Verständigung voraus, d.h. das Mitgeteilte, die Information bildet als gesprochener Inhalt lediglich das Trägermaterial für eine viel substantiellere Information, nämlich die Botschaft von der anderen Person. Sie reißt etwas aus ihrer Ontologie heraus und reicht sie als Wahrheit weiter. Was immer die Großmutter sagen mag, für Marcel ist nur die musikalische — oder wenn sie dort unterdrückt wird, die physiognomische - Präsenz ihrer Zärtlichkeit von Bedeutung. Das Ideal der Verständigung, wie sie der Roman aus dem Verhältnis Marcels zur Großmutter heraus entwickelt, ist in Wahrheit der Mitteilungsfunktion der Sprache vorbzw. nachgeordnet. Nur die Tatsache, daß beim Telephongespräch ein Stück ihrer Person aktualisiert wird, nämlich die Stimme der Großmutter, macht auch in diesem Augenblick die Sprache zum brauchbaren Medium; denn sofern sich beide gegenwärtig wissen, genügt ein Lächeln oder ein Händedruck, wie in der Szene auf den Champs-Elysées (II 312) oder im Schlafzimmer der todkranken alten Frau (II 335), um die Gewißheit des Einverständnisses zu besiegeln. Das Telephon dagegen wird in diesem Licht allegorisch zur technischen Errungenschaft der unmöglich gemachten Verständigung. Allein die in jener Zeit schon voraussehbare Kombination von Fernsprech- und Fernsehverbindung, das Bildtelephon, eröffnete für Proust die Möglichkeit, die Entfremdung der lediglich akustischen Kommunikation aufzuheben. Denn dieses Verständigungsmittel der Zukunft erhob er in einem Brief an Jacques Boulanger zum Sinnbild des vollkommenen Stils, der nicht nur einen gleichgültigen Inhalt, sondern auch ein Stück der Persönlichkeit an den Leser weiterleiten soll.28 28 Das Zitat lautet folgendermaßen: Chose plus importante, comme j'ai beaucoup d'affection pour vous -(avant vous je croyais que c'était impossible l'affection sans s'être vu, mais vous avez un style comme les téléphones prédits qui montreront en même temps le visage

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Ein eindrucksvolles Beispiel für die sprachlose, aber nicht inhaltslose Verständigung zwischen der alten Mme Amédée und ihrem Enkel liefert eine Episode aus dem Balbec-Kapitel. Marcel, den bei seiner Ankunft in Balbec nicht nur die allabendliche Angst, sondern zusätzlich noch durch die neue Umgebung hervorgerufene Anfälle von Neurasthenie plagen, hat mit seiner Großmutter, die im Zimmer neben ihm schläft, ein Zeichen verabredet, um ihr jederzeit mitteilen zu können, wann er ihre Gegenwart braucht. Am Morgen klopft Marcel, wie vereinbart, an die Wand, aber ist doch ängstlich, sie könnte sein Zeichen überhört oder für ein fremdes Geräusch gehalten haben. Als er ihr später diese Befürchtung gesteht, sichert sie mit ihrer Antwort sogleich wieder das Ideal des Einverständnisses: Confondre les coups de mon pauvre loup avec d'autres, mais entre mille sa grand'mère les reconnaîtrait! Crois-tu donc qu'il y en ait d'autres au monde qui soient aussi bêtas, aussi fébriles, aussi partagés entre la crainte de me réveiller et de ne pas être compris? (I 669)

Nun ist diese in allen Aktionen mitschwingende Gewißheit des gegenseitigen Verstehens nicht völlig ungefährdet, aber Mißverständnisse nehmen beide wiederum nur aus Rücksichtnahme in Kauf; so Marcel, als er der Großmutter (verständlicherweise!) seine Enttäuschung über die Kirche von Balbec verbirgt, oder die alte Dame, die, als sie sich unbedingt für ihren Enkel photographieren lassen will, sogar den Verdacht schrulliger Eitelkeit auf sich nimmt, um Marcel ihr wahres Motiv - sie weiß sich todkrank - zu verheimlichen. Und erst dieser Tod, der ihm eine reale Stütze zur Lebensbewältigung raubt, rückt sie in eine solche Ferne, die es Marcel ermöglicht, das Verhältnis reflektierend zu rekonstruieren, nämlich als Verlängerung seines Ich: . . . une existence, une tendresse, survivantes en moi telles que je les avais connues, c'est-à-dire faites pour moi, un amour où tout trouvait tellement en moi son complément, son but, sa constante direction, que le génie de grands hommes, tous les génies qui avaient pu exister depuis le commencement du monde n'eussent pas valu pour ma grand'mère un seul de mes défauts. (II 758)

de la personne), je ne peux pas vous dire le plaisir que j'ai eu à lire dans l'Opinion mon nom cité par vous d'une façon si gentille. Correspondance de Marcel Proust, Bd. III, S. 211. Es ist übrigens diese Episode des Telephongesprächs mit der Großmutter, die in der Erstfassung den Gegenstand des Figaro-Artikels bildet, der Marcel morgens von seiner Mutter mit dem Zeichen stillschweigenden Einverständnisses überreicht wird, nämlich in CSB 1 0 5 - 1 1 7 ; erst später wird diese Passage durch die Episode von den Clochers de Martinville ersetzt.

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Diese selbstbewußte Hyperbel gestattet jedoch keinen geruhsamen Konsum des Angedenkens, denn sie verwandelt sich in eine quälende Verpflichtung, einmal nämlich, diesen Genies sich ebenbürtig zu zeigen und zugleich der Großmutter ein Denkmal ihrer Güte zu erstellen, denn war nicht auch er der einzige, der sie verstanden hatte? Les expressions de son visage semblaient écrites dans une langue qui n'était que pour moi; (II 775).

Es scheint ein chimärisches Verlangen zu sein, dieses Ideal der Verständigung in der Welt und Gesellschaft wiederfinden zu wollen. Aber der kurze real gewordene Traum von den aus den Kirchen und der Landschaft hervorspriefiénden blumenartigen Mädchen, dessen Spielplatz Balbec heißt, scheint dieses Ideal getreu zu verwirklichen: Quand je causais avec une de mes amies, je m'apercevais que le tableau original, unique de son individualité, m'était ingénieusement dessiné, tyranniquement imposé, aussi bien par les inflexions de sa voix que par celles de son visage et que c'était deux spectacles qui traduisaient, chacun dans son plan, la même réalité singulière. (I 908)

In dieser naiven Übereinstimmung von Wesen und Ausdruck bei den Mädchen liegt der Erlebnishintergrund für das Stilideal Prousts, dessen Inhalt in dem aperçuhaften technologischen Vergleich mit dem Bildtelephon nicht genügend gesichert ist: Es zielt auf die größtmögliche Gegenwart der Person in ihrem literarischen Ausdruck, ihrer Stimme und ihrer geistigen Physiognomie, deren Übereinstimmung wiederum sein Ethos der Natürlichkeit und Ursprünglichkeit fordert. Denn es zeigt sich, daß Marcel aus den Plaudereien mit seinen Freundinnen nichts gewinnt als das lebendige entzückende Mädchengezwitscher, worin ihm sowohl die Substanz ihrer Jugend als auch die formlose Spontaneität ihres Empfindens in die Hände gleitet, so wie in jenem Téléphonât mit der Großmutter gleichzeitig mit ihrer Stimme auch ihre Zärtlichkeit greifbar war. Die reiche Instrumentation der Mädchenstimmen enthält mehr an personaler Wirklichkeit, als diese je durch verbale Ausdrucksfähigkeit einzufangen und weiterzugeben imstande sein werden. Denn die Sprache ist das nicht mehr austauschbare Rollenkostüm der Sozialisation: Les traits de notre visage ne sont guère que des gestes devenus, par l'habitude, définitifs . . . De même, nos intonations contiennent notre philosophie de la vie, ce que la personne se dit à tout moment sur les choses. (I 909)

Mit diesem Prozeß der sprachlichen Anpassung an das Bewußtsein und die Erfordernisse der Gesellschaft beginnt die Symmetrie von Wesen und Aus52

druck sich zu verschieben, und die überstehenden Ränder müssen durch die Proust so verhaßte Lüge überdeckt werden. So wird jeder Mensch zum widerwilligen Pflichtverteidiger seines gesellschaftlichen Ich, das lediglich das Produkt fremder Phantasietätigkeit darstellt, das wir jedoch nicht im Stich lassen dürfen, weil es bisweilen, in der Katastrophe und im Glück, mit uns identisch werden kann. Dies erfordert eine permanente Geistesgegenwart der Lüge, denn sind die Konturen einer Person erst ins Fließen geraten, um die Geschmeidigkeit zur Konformität zu erlangen, muß sie ihr Bild ständig wandeln. Die gesellige Konversation läßt überdies nur noch die ewigen Koloraturen gelten, die wie angestrengte exorzistische Bemühungen gegen die unüberwindliche Leere des Salons erklingen. Verständigung, die aller Konversation vorausgeht, versucht auch vor dem blanken Geschwätz zu entfliehen. Das Vergnügen, in den Stimmen der Mädchen das lebendige Farbbild ihres Wesens zu betrachten, setzt Marcel ausdrücklich den Gesprächen mit seinem Freund Robert de Saint-Loup entgegen. Um ihn zu begreifen, traut er lieber seinen eigenen dunklen Empfindungen als dessen Worten, aber die Rolle, die ihm die Freundschaft zuweist, macht dies unmöglich: . . . je m'apparaissais comme douillettement préservé de la solitude, noblement désireux de me sacrifier moi-même pour lui, en somme incapable de me réaliser. (I 907)

Wo aber vermöchte Marcel sich zu verwirklichen, da doch Geselligkeit, Liebe, verständnisvolle Zuwendung seine ganz elementaren Bedürfnisse darstellen? In diese Ablehnung sind bereits die Erfahrungen seiner mondänen Karriere eingegangen, daß die gesellschaftlichen Verkehrsformen gerade die konsequente Verschleierung der persönlichen Sphäre erzwingen, zumal die Strategie des „Eingeladenwerdens" darin besteht, durch Auftreten und Lebenswandel die Grenzlinien der Konvention eben um den schwierigen Wert zu überschreiten, der einen noch interessant sein läßt, ohne schon in den Geruch des Skandalösen zu geraten. Ein solches Verhalten, das die Wahrheit einer Person konsequent überspielt, läßt die Isolation als die einzige menschenwürdige Form der Geselligkeit und Verständigung erscheinen. Die Rolle des Beobachters, die Marcel mit Vorliebe einnimmt, stellt eine residuale Lebensform dar. Die Person, die ihr Wesen verhüllen muß, aber dennoch an der konkreten lebendigen Individualität der Menschen in größter Anteilnahme interessiert bleibt, verkümmert zum Voyeur. Die vielen, reichlich unwahrscheinlichen Situationen, in denen Marcel die Wahrheit über das „Laster" von Vinteuils Tochter, über Charlus' Homosexualität und später über dessen masochistische Verirrungen erfährt, stellen Variationen die53

ser anomalen Situation des Erzählers dar und zugleich unbewußte Spiegelungen seines Wunsches, die Wahrheit über sich selbst auch einmal nicht mehr verhüllen zu müssen: Er beobachtet keine „bösen" Wesen, sondern Deformierte und Gequälte wie er selbst. Gesellschaftlich geächtet, wird der Voyeur tolerierbar als Privatier, denn dann akzeptiert er die heiligste der bürgerlichen Spielregeln, die strikte Trennung der öffentlichen und privaten Sphäre. Dabei braucht er nicht von seinem Wahrheitsinteresse zu lassen, wie der Repräsentant dieser Lage, der alte Bergotte, es ihm vorfuhrt. Mit Bewegung vernimmt der Erzähler nämlich, daß dieser in seinen späten Jahren die Gesellschaft mied, um seine Zeit und sein Geld für Frauen und Mädchen aufzuwenden, die ihm stets die produktive Illusion des Glücks einflößten. Dieser Selbstbetrug ist zwar kostspielig, doch er erscheint Marcel als die einzig denkbare Konstellation, bei der ein wenig Wahrheit im Sieb des Goldsuchers hängen bleiben kann: Or dans le monde il n'y a que la conversation. Elle y est stupide, mais a le pouvoir de supprimer les femmes, qui ne sont plus que questions et réponses. Hors du monde les femmes redeviennent ce qui est si reposant pour le vieillard fatigua, un objet de contemplation. (III 183f.)

Kontemplation - ein Zentralbegriff von Prousts Weltaneignung — heißt nicht das hochfahrende Arbeitsprogramm eines mondänen Mystikers, sondern ist der Vollzug jenes Kultus am Mitmenschen, der darauf verzichtet hat, sich selbst mitzuteilen. In den Salons sind die Frauen durch den Warentausch von unpersönlichen Gesprächsinhalten zu Frage und Antwort verdinglicht. Selbst die einst teuren Gesten der Verständigung sind in dieser Gesellschaft zu inhaltslosen Ritualen herabgesunken: Der Händedruck wird als peinlich empfunden - Charlus reicht Marcel bei der ersten Begegnung lediglich Mittel- und Ringfinger - , und das Lächeln dient entweder, als unverbindliches Zeichen, so daß der salonunerfahrene Erzähler das Lächeln der Princesse de Guermantes als Ausdruck ihres Wohlwollens deutet und später erstaunt feststellen muß, daß sie ihn gar nicht gesehen hat; oder es verbraucht sich als Maske der Boshaftigkeit, die im Salon-Markt der gesellschaftlichen Ränge dem Überlegenen wie Unterlegenen nur in der Sublimation der Ironie gestattet bleibt. Albertine wird allein durch Zufall zum Kontemplationsobjekt Marcels, aber sie wird zum exemplarischen Beispiel für die Unmöglichkeit der Verständigung zwischen zwei Menschen, die einander bedürfen und dieses Bedürfnis nur durch Mißbrauch erfüllen können: Combien je souffrais de cette position où nous a réduits l'oubli de la nature qui, en instituant la division des corps, n'a pas songé à rendre possible l'interpénétration des âmes! (III 386)

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So eindrucksvoll diese Klage auch ertönt, sie drängt nicht die wahren Tatsachen beiseite, welche die quälende Fremdheit zwischen den beiden Liebenden Marcel und Albertine zum unüberwindbaren Status verhärten. Er erwartet ein Wesen, das in seinem Desinteresse am eigenen gesellschaftlichen Kurswert und durch sein zärtliches Einfließen in die Daseinssphäre Marcels der Großmutter gleich wird. Albertine entspricht aber diesem Bild in keiner Weise: Sie ist von elementarer Lebenslust und zudem gezwungen, ihre geringe gesellschaftliche Herkunft durch systematische Assimilation an die Denk- und Ausdrucksweise der höheren Bourgeoisie auszugleichen, und so ergibt sich die paradoxe Situation, daß sie zum Objekt von Marcels Kontemplationen wird, der dieses fremde Leben zu durchdringen versucht, das ihm gerade dadurch fremd wird, weil es gesellschaftlich ihm sich anzunähern sucht, und daß er sich umgekehrt dann ihres Daseins am meisten erfreut, wenn alle ihre zur zweiten Natur gewordenen Anpassungsreflexe außer Kraft gesetzt sind, nämlich wenn sie schläft. Die vielen strengen Definitionen, die der Erzähler für die wahre Form der Liebe findet, um daheraus ihre Unmöglichkeit zu postulieren, sind, recht besehen, die bescheidensten Forderungen: On désiie être compris parce qu'on désire être aimé, et on désire être aimé parce qu'on aime. La compréhension des autres est indifférente et leur amour importun. Ma joie d'avoir possédé un peu de l'intelligence d'Albertine et de son coeur ne venait pas de leur valeur intrinsèque, mais de ce que cette possession était un degré de plus dans la possession totale d'Albertine, possession qui avait été mon but et ma chimère depuis le premier jour où je l'avais vue. (III 496)

Diese Besitz-Vorstellung ist vieldeutig, und ein Aspekt ihres Mehrfachsinns erschließt sich aus dem Ausdruckswert jener Allegorie der magischen Geheimnisoffenbarung, die Proust mit Vorliebe direkt oder indirekt gebraucht: „Sesam öffne dich" aus den Erzählungen aus Tausendundeinenacht. Der Märchenton dieser Beschwörung enthält sowohl etwas von der Bezauberung, die Marcel beim Wiederfinden seiner vergangenen Glücksaugenblicke erlebt (III 868), als auch den verschleierten Ausdruck eines Besitztriebes, der als Verhaltensweise wiederum gesellschaftliche Impulse verarbeitet. Die ungemeine Popularität, welche die 1001-Nacht-Erzählungen im 19. Jahrhundert vor allem in Frankreich genossen, ist bisher nicht wirkungsgeschichtlich untersucht worden. Sie fand sogar darin ihren Niederschlag, daß Motive dieser Märchen auf einfaches Kuchengeschirr abgezogen wurden, sofern Marcels mehrfach bezeugte Kindheitserinnerung nicht trügt, daß er einst bei seiner Tante Léonie von Tellern, auf denen man Ali Baba oder Sindbad bei ihren Abenteuern zuschauen konnte, die Madeleines verzehrte (I 18, 57, 904). Es läßt sich ein wenig Licht in das Bewußtsein dieser Leserschaft leiten, 55

wenn Hofmannsthals Märchen der 672. Nacht als ein gültiges zeitgenössisches Wirkungsdokument betrachtet wird. Folgt man der psychologischen Linienführung dieser Novelle, so hat die höhere Gesellschaft durch die üppigen Bilder der Märchensammlung sich selbst und ihre verdinglichte Beziehung zum sinnlosen Luxus ihrer Umgebung in levantinischer Verklärung genossen. Und in den Wundertopoi des Schatzfundes sah sie ihr schlechtes Gewissen über die Bedingungen ihres Reichtums von den Ornamenten exotischer Teppiche überdeckt. Auch Marcel verleiht dem sozialen und ökonomischen Prestige, womit sich das reiche Milieu des Faubourg in seiner Phantasie umrahmt, stets dadurch Ausdruck, daß er die Objekte ihrer Welt mit Bildern von orientalisch-märchenhafter Farbigkeit überzieht. So öffnet sich ihm die „domaine féerique" von Swanns Haus, das ihm lange verschlossen war, wie durch ein Zauberwort; und diese magische Parole fuhrt auch Charlus auf den Lippen, wenn er sich selbst als den „Sésame" bezeichnet, der die verschlossenen Türen zur höchsten Gesellschaft öffnen könnte (II 564), etwa die, welche den „inaccessible palais d'Aladin" der Prinzessin von Guermantes verschließt (II 568). Es ist unschwer zu sehen, wie sich das Acidum eines fetischartigen Besitzerstolzes, der sich in der schillernden Tropik verbirgt, zerstörend in die Beziehung Marcels zu Albertine mischt und auch das Mädchen zu einem verdinglichten Gegenstand werden läßt. Auf dem einsamen Heimweg nach einer Soirée bei den Verdurins, die er allein besucht hat, sieht Marcel von der Straße aus das beleuchtete Fenster des Zimmers, in dem er Albertine gefangen hält, und die Lichtstreifen, die durch die Fensterläden dringen, erregen seine Phantasie wie frühere Lichterscheinungen, wenn auch mit einem anderen Akzent: Certes, ces lumineuses rayures que j'apercevais d'en bas et qui à un autre eussent . semblé toutes superficielles, je leur donnais une consistence, une plénitude, une solidité extrêmes, à cause de toute la signification que je mettais derrière elles, en un trésor insoupçonné des autres, que j'avais caché là et dont émanaient ces rayons horizontaux, mais un trésor en échange duquel j'avais aliéné ma liberté . . . (III 331)

Es ist aber nicht allein die verräterische Besitz-Metapher des „trésor insoupçonné", aus der über die Bildverknüpfung mit dem Märchen vom Ali-BabaSchatz (I 17) die Situation der verdinglichten Beziehung hervorbricht, sondern der Erzähler rückt sie zugleich unmittelbar in den Blick, wenn auch unter der Modalität undurchsichtiger Zwangshaftigkeit: Marcel ist sich bewußt, daß der Besitz des Schatzes den Keil der „aliénation" zwischen Albertine und ihn treibt und daß sich daheraus ihre Beziehung zur „servitude éternelle" versteinern wird, ohne daß ihm je einer hiergegen eine zaubermächtige Erlösungsformel zuflüstern kann. 56

Mag sich zwar in der Form von Marcels panikerfüllter Besitz-Reaktion einmal gesellschaftlicher Zwang durchsetzen und sich zum anderen inhaltlich das Trauma der in der Kindheit erlittenen Trennungsangst verbergen, seine Eifersucht, die wie ein Haremswärter Albertines goldenen Käfig überwacht, hält jedoch auch einen lebendigen Teil seiner selbst hinter Gittern. In der geradezu neurotischen Angst, die jeden seiner Gedanken an eine lesbische Untreue Albertines begleitet, wird Marcel von elementareren Konflikten heimgesucht, als sie ein noch so hochgestochener Besitzfanatismus oder ein allabendlich wiedererwecktes Trauma zu mobilisieren vermöchten. Freilich hat die Angst mehrere Schichtungen: Zunächst entspringt sie einem offenbar unüberwindlichen Mißverständnis der Geschlechtsbeziehungen zwischen ihm und Albertine; denn der in außergewöhnlichem Maße auf Zärtlichkeit und Zuwendung angewiesene Marcel weiß bei den sapphischen Alleingängen Albertines einen wesentlichen Teil seines komplexen Ich mißachtet oder übersehen, nämlich gerade jene „weibliche" Komponente seines Wesens, die zwar in dem gesellschaftlichen Ideal von Männlichkeit keine Aufnahme finden kann, die aber dennoch ein lebendiges, auf Erfüllung angewiesenes und darum auch potentiell frustrationsauslösendes Element der Person bleibt. Diese „weibliche" Bereitschaft zu spontaner Bildung von Beziehungen, seine tiefe Einfühlungsfähigkeit, seine moralischen Stärken, die sich aus dem Erbe der Großmutter erhalten haben, dies alles ist ihm als seine kostbare soziale Mitgift wohl bewußt. Und da er sie in der Gesellschaft nicht aktualisieren kann, wartet er darauf, daß er sie als Schriftsteller umzusetzen berufen wird. Andererseits bleibt ihm die erotische Wertigkeit seiner Tugenden jedoch völlig verschlossen, wie ihm umgekehrt der gesellschaftliche Glücksanspruch in Albertines Triebhaftigkeit entgeht. Marcel ahnt zwar, daß alle Bewegungen seiner Freundin für ihn darum solch quälend ungreifbare Schatten werfen, weil sie die Pantomime seiner eigenen Wünsche vorfuhren; aber er vermag deren Regie nicht so weit zu durchschauen, daß er auch die besondere Qualität seiner Wünsche erkennte:

Comme il n'est de connaissance, on peut presque dire qu'il n'est de jalousie que de soi-même. (III 386)

Wenn sich hier die Grenze der bewußten Selbstanalyse dadurch zieht, daß Marcel die Eifersucht doch nur als Nadelstiche in einen hochgemuten Kavaliersstolz erleidet, so öffnet sich wenige Zeilen später durch die grammatische Lücke eines Anakoluthes der Einblick in den Mechanismus der Verdrängung, der ihm eben eine tiefere Selbsteinsicht verwehrt: 57

Par instants, dans les yeux d'Albertine, dans la brusque inflammation de son teint, je sentais comme un éclair de chaleur passer furtivement dans des régions plus inaccessibles pour moi que le ciel, et où évoluaient les souvenirs, à moi inconnus, d'Albertine. (ΠΙ 386)

Es bedarf keines analytischen Scharfblicks, um das fehlende Objekt dieses Satzes ins Unbewußte des Erzählers verschlagen zu sehen, an die gleiche Stelle, an die auch Albertine ihre eigenen Wünsche zu verbannen gezwungen ist. Und wenn Marcel bisweilen in den unwillkürlichen Reaktionen seiner Freundin Botschaften aus diesen abgelegenen und abgesperrten Regionen liest, so zeigt er durchaus Verständnis für den geheimen Ablauf psychischer Prozesse, vermag sich in der Folge jedoch nicht zum Souverän seines eigenen Unbewußten aufzuschwingen. Indem er aber die unzugänglichen Regionen von Albertines Seele vergleichsweise zum „Himmel" erklärt, verwendet er ein Bild, in das sich sehnsuchtsvoll die Aktivitäten seiner eigenen Seele gemischt haben. Aus dieser Dialektik, die Marcel bei Albertine über die Unterdrückung von Wünschen wachen läßt, die seinen eigenen verdrängten Tendenzen analog sind, entspringt jene Beunruhigung, die trotz des Kleiderwechsels von Angst und Eifersucht die ewig gleiche bleibt. Die Landschaften der unbekannten Albertine haben die gleiche Formation wie die des sich selbst unbekannten Marcel, und nur die Bereitschaft, den geliebten Partner diese Regionen bereisen zu lassen, um sich wiederzuerkennen, könnte die vertrauensvolle Bedingung für eine gemeinsame Beziehung geben, an dessen Ideal Marcel in heiliger Treue zur Großmutter festhält. Dessen Herrschaft ist so unangefochten, daß selbst dem jungen, von mächtigen sexuellen Regungen erfüllten Erzähler sich die ganze Welt zum unbegreifbaren Symbol dieser Sehnsucht verschließt. Alle jene „messages" seiner angebeteten Idole, die ihm durch die Bildhaftigkeit oder die Geräusche seiner Umgebung zugetragen werden, führen den Absender seiner eigenen, ihm längst entfremdeten Wünsche. Und so zeigen die von dem Farbbild seiner geliebten Frauen überfluteten Landschaften Prousts nicht die realen geographischen Maße der Umgebungen von Illiers oder Cabourg sondern ihre Offenheit und Weite spiegeln den Wunsch, das mysteriöse „autrui inconnaissable" möge sich zu einer übersehbaren Topographie aufschließen, damit auch das „moi inconnu" seine Befreiung finden kann. Solange das Mysteriöse an den Männern und Frauen aus Marcels Umgang als Zeichen und Siegel der eigenen Verdrängungen funktioniert, bleibt es wie die geheimen Glückssymbole ein gefahrloses Spielmaterial seiner Phantasie: Als „radelnde Bacchantin" etwa bildete Albertine noch keine Bedrohung, denn auf dem Deich befuhr sie noch den Saum einer von bewußter Geschlechtlichkeit überwachten Landschaft. Erst als sich in ihrem 58

Gebaren und ihren Worten seine verdrängten Seelenregungen begegnen, ohne damit an die Oberfläche des Bewußtseins zu tauchen, zwingen diese ihn, eine Art spiegelverkehrter, aber eben ständig gehemmter Erkenntnis des Ich zu betreiben. Dieser Fall tritt ein, als Albertine auf die homoerotische Landschaft Monjouvains zusteuert: . . . maintenant qu'elle m'avait dit un jour „Mlle Vinteuil", j'aurais voulu non pas arracher sa robe pour voir son corps, mais, à travers son corps, voir tout ce blocnotes de ses souvenirs et de ses prochains et ardents rendez-vous. (III 94)

Die Zwangsläufigkeit, die sich damit in ihre Beziehungen einnistet, vermag zwar begriffen, aber nie durchschaut zu werden; und dieses unverwertbare, aber gleichbleibende Moment an Irrationalität verleitet Marcel dazu, seine Erfahrungen zu einem empirischen Gesetz zu verarbeiten: on n'aime que ce en quoi on poursuit quelque chose d'inaccessible, on n'aime que ce qu'on ne possède pas . . . (III 384)

Das wahre Gesetz, das sich freilich schon bei den ersten Begegnungen zwischen Marcel und Albertine wie ein anonymes Regulationssystem in ihre Gebärden und Empfindungen einschaltete, beruht auf den Normen, die die Gesellschaft für alle Geschlechtsbeziehungen vorschreibt. Albertine darf ihre Neigung, obgleich sie ihr bewußt ist, nicht gestehen, Marcel hat die seine noch nicht aus dem Klammergriff der Verdrängung gelöst. Daß die beiden sich jedoch nicht zu dem Kompromiß einer konventionellen Beziehung verstehen, liegt daran, daß sie noch nicht auf Glück zu verzichten vermögen. Albertine versucht in die Unterwelt des Sapphismus zu entfliehen, während Marcel sein Glücksbild der völligen Offenheit und Aufrichtigkeit, das er von der Großmutter empfangen hat und das auch durch alle Verfinsterungen der Wirklichkeit hindurch nichts von semer Leuchtkraft einbüßte, weiter in Händen behält. Daß Albertine dieses Idol nicht wiederbeleben kann, nährt seine Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit, führt ihn aber nie auf den Weg einer kritischen Selbstbetrachtung. Der Roman enthält zahllose Beispiele, wo Marcel in seiner Phantasie Albertine über die Clichés, die er von den Tugenden seiner Großmutter (oder Mutter) besitzt, gleiten läßt und immer wieder beunruhigt feststellt, wie wenig sie sich von dem Lineament seiner Idole einfassen läßt. 29 Während ständig neue Indizien für Albertines Verflechtung in die Welt des „Lasters" auftauchen, die sich allmählich zum Bild ihrer manifesten bisexuellen Veranlagung zusammenschließen, und diese meist, wie die besonders laute Fehlleistung j'aime bien mieux . . . que j'aille me faire 29 II 733, 1128; III 10, 77, 87, l l l f . , 476, 496, 501, 526, 539f.

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casser (le pot)" (III 338) ungewollt durch die Schutzhülle der Anpassung brechen, wächst in Marcel nicht die Einsicht in seine eigene Veranlagung, sondern allein die Skepsis, ob sein Zärtlichkeitsbedürfnis und seine Liebesfähigkeit überhaupt je Erfüllung finden können: Angesichts eines Partners, der — seiner Ahnung nach — die gleichen Bedürfnisse hat wie er selbst, ohne daß aber eine verständnisgesättigte Verbindung möglich wird, zerbricht in ihm die Hoffnung, in der Beziehung zu einem Menschen ein Höchstmaß an gegenseitiger Durchdringung zu finden und die ganze Tiefe seiner Emotionalität beantwortet und gelöst zu sehen. Die verzweifelte Reaktion, Albertine zur Gefangenen zu machen, gibt unter diesem Blickwinkel alle Merkmale einer ins Pragmatische übersetzten Verdrängung zu erkennen. Die Beruhigung, die Marcel zugleich daraus zieht, gleicht dem Glück, das die Kiembürgerfamilie an ihrem Vogelbauer findet: So wie diese sich ein Symbol ihres gesellschaftlichen Status schafft und ihr Selbstmitleid am fremden Objekt ablädt, hat Marcel in dem gefangenen bunten Paradiesvogel das Abbild seines eigenen coupierten Glücksverlangens. Aber da dieses unbewußt bleibt, verschließt Marcel, wie seine Sehnsucht, auch das Mädchen vor aller Augen und empfindet ungetrübtes Glück nur in der narzißtischen Situation, wenn Albertine schläft und er in ihr das schöne Bild seines unerfüllbaren Glücks in aller Ruhe betrachten kann. Denn Albertine verbirgt in sich eben das Geheimnis, auf dessen Suche sich Marcel nach seinem Selbstverständnis ein Leben lang befand, jene Form des Daseins, die Erfüllung heißen könnte. Aber dieses Glück selbst hat er nie gefunden, sondern immer nur dessen hermetisch verschlossene Zeichen, die sich schließlich unter der Dachvorstellung der „verlorenen Zeit" versammeln. Daß Albertine, die Gefangene, Marcel als „grande déesse du Temps" erscheint (III 387), läßt diesen geheimen Zusammenhang auch auf der Ebene der Metaphorik Gestalt annehmen. In Albertine also ist Marcel auf der Suche nach seinem glückerfüllten Ich (das in der verlorenen Zeit der Jugend gewiß bisweilen existierte) zum ersten Mal fündig geworden, aber über seinen Fund kann er nicht triumphieren, weil ihm sein Wert nicht aufgeht, er kann ihn lediglich zum Fetisch des Glücks erniedrigen. Auf der Jagd nach dem Geheimnis Albertines entwickelt Marcel zwar jene hochverfeinerte Dechiffrierkunst, die ihm jedes von ihr gesprochene Wort in den Varianten ihres Mienenspiels nachzuprüfen hilft, um Bestätigung oder Zweifel zu ernten. Aber hätte sich ihm die gleiche Gelegenheit geboten, die Schnitzler seiner Figur Anatol an die Hand gibt, nämlich auf dem Wege der Hypnose in die unbekannte Seelenregion der Geliebten einzudringen, er hätte den „Sesam", den eine Wissenschaft, deren Bedeutung Proust beharrlich ignorierte, inzwischen geschmiedet hatte, ebensowenig

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angesetzt wie sein literarischer Verwandter, weil nämlich das Geheimnis, dem beide nachforschen, jenem nur im Bereich des Es gültigen Satz vom unaufhebbaren Widerspruch unterliegt, es wissen zu wollen und doch nicht zu können. Die Neugierde Marcels entspringt der Sehnsucht nach einer vollkommenen Beziehung, während die Hemmung, welche die Erfüllung verhindert, von der eben doch unbewußt aufgesogenen Moral der Gesellschaft, der er angehört, überwacht bleibt. Das Tabu der Bisexualität lebt von dem Mythos der naturbedingten Arbeitsteiligkeit der Erziehung dieser Gesellschaft. Hannah Arendt hat in einer Untersuchung zur Herrschaftsstruktur des Faubourg St.-Germain gezeigt, in welchem Maße eine hochentwickelte Gesellschaft sich mit gleichgeschlechtlichen Beziehungen abzufinden vermag, solange diese nicht aus der Maskerade der Selbstverleugnung desertieren. 30 Homosexualität als Variation geschlechtlicher Praxis wird toleriert, nicht aber als Ausdruck und Entfaltung eines differenzierten Charakters. Die Umkehrung des „Normalfalles" erscheint ihr erträglicher als der nachdrückliche Protest gegen die fur ewig gültig erachtete Rollenverteilung der Geschlechter, welcher sich mit einem Bekenntnis zur Bisexualität über jede Zensur hinwegsetzt. Der Gedanke, daß Männer und Frauen die gleichen und nicht nur komplementäre Bedürfnisse und Fähigkeiten haben, ist einem Bewußtsein unerträglich, das in dem sozialen Reglement der Geschlechtsbeziehungen Naturwuchs erblickt, und einem Über-Ich, das in dieser Rollenverteüung die Regie der eigenen, sich selbst erhaltenden Klasse wiedererkennt: So gefallen sich die Väter im Ideallichte der Virilität, entwickeln ihren Nutzungssinn und Vorteüswitz, und diese Repräsentanten des entfremdeten Lebens betrachten wohlgefällig die Frauen, denen sie entweder wirtschaftliche Abhängigkeit und das Recht der Mutterschaft oder aber wirtschaftliche Unabhängigkeit und das Recht der Prostitution zusprechen. Diese Frauen, sanft und zärtlich, finden ihr gesellschaftliches Selbstgefühl höchstens in der amoralischen Spielwelt der Salons. Diese Bemerkungen können nur aphoristisch die Krisenpunkte einfassen, aus denen im Verhältnis Marcels und Albertine die Katastrophe unvermeidlich hervorbricht. Es hieße überdies ihre Interdependenz leugnen, wenn allein die psychologische Seite Geltung gewänne, daß sich Marcel über die sapphischen Neigungen seiner Freundin erregt, weil er sich und seine eigene weibliche Seite um eine ersehnte Ergänzung betrogen sieht. In die Brisanz ihrer Mißverständnisse gehen auch Treibsätze gesellschaftlicher Zwänge ein: Ange30 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/Main 1961; S. 3 5 5 - 3 6 9 ; S. 360.

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sichts ewiger Gefährdung können sich Marcel und Albertine ebensowenig wie Swann und Odette von ihren auf Egoismus gestimmten Reflexen der moralischen und sozialen Selbsterhaltung emanzipieren. Die Frauen brauchen die Männer, um ihren gesellschaftlichen Aufstieg zu erreichen, und die Männer verfallen den Frauen, weil an deren Unabhängigkeit die erlernten Formen der Geschlechtsherrschaft versagen. Aus ähnlichen Ursachen erstickt Marcels Freundschaft zu Robert de Saint-Loup im Ritual der Gewohnheit, obgleich der junge Marquis in seiner Natürlichkeit und freien Emotionalität der Großmutter und ihrem Enkel gleich gut gefällt. Doch so unschuldig das Wort auch klingt: „II fut bien vite convenu entre lui et moi que nous étions devenus de grands amis pour toujours" (I 7 3 5 ) , es ist der Verdammungssatz über ihrer Beziehung. Marcels Ideal der Verständigung erträgt keine programmatische Erörterung der Gefühle, gegenüber dem Freund ebensowenig wie gegenüber einem Mädchen. Zwei Menschen, die sich über ihre Freundschaft einig sind, springen in die Schienen eines Verhaltenskodex, der sie neben- oder hintereinander herfuhrt und damit jedes Zusammentreffen unmöglich macht. Allein die Sternstunde des Zufalls vermag beide auf die Höhe einer Begegnung zu tragen: Dieser Augenblick ist nämlich erst gekommen, als Marcel einmal einen Abend lang vergeblich auf das Diner mit Mlle Stermaria gewartet und sich aus Trauer und Wut über ihre Absage weinend auf die Teppiche des Hauses geworfen hat. Da erscheint der Freund völlig unerwartet: . . . Saint-Loup entrant, ce fut c o m m e une arrivée de bonté, de gaîté, de vie, qui étaient en dehors de moi sans doute, mais s'offraient à moi, ne demandaient qu'à être à moi. (II 3 9 5 )

Bemerkenswert an dieser Szene ist weniger die offensichtliche Ersatzfunktion, in die der Freund hineingleitet, als die Tatsache, daß er durch seine Präsenz die Spuren schmerzlicher Enttäuschung, die eben im Begriffe schienen, sich tief in Marcels Herz einzugraben, nahezu mit einem Schlag auslöschen kann. Dennoch findet er keine feste Stellung auf der weiten leeren Fläche von Marcels Geselligkeitsbedürfnis. Denn nicht zufällig endet die Freundschaft der beiden mit dem Eintritt des Erzählers in den Salon der Mme de Guermantes. Roberts Zögern, ihm den gewünschten Zugang zu verschaffen, scheint von der Ahnung bestimmt, daß Marcel ihn nur zu diesem Zweck benutzt. Der Wunsch, sich gesellschaftliches Ansehen zu verschaffen und andere Menschen zu diesem Zweck an sich zu binden, ist eine der Ursünden von Prousts Gestalten. Marcel begeht sie mehrfach. Aber auch er selbst wird zum Opfer dieses verdinglichten Mißbrauchs: Albertine sucht an ihm ihre Stellung als deklassierte Waise aufzubessern, und Robert sonnt 62

sich vor seinen Freunden und Kameraden im Lichte von Marcels Intelligenz. Hier treten auch in den persönlichen Beziehungen zweier miteinander vertrauter junger Männer alle jene Züge der Entfremdung hervor, die sich in der versteinerten Gesellschaft der Salons über alle Gestalten legen werden wie Kostüme des Untergangs. Angesichts der Fremdheit und Oberflächlichkeit, die in seinen Beziehungen zur menschlichen Umwelt beherrschend bleiben, deren Ursachen der Erzähler allerdings durch seine Philosophie des Egoismus überdeckt, öffnet sich tatsächlich als letzte Zuflucht nur noch der regressive Rückzug des Ich. Er bietet die Möglichkeit zur literarischen Reproduktion der eigenen Person, deren Besonderheit und Komplexität sich den konventionellen Formen des zwischenmenschlichen Verkehrs, ihren lizensierten Vollzugsmöglichkeiten widersetzt. Der Kult am Individuum, sofern er dessen seelische Eigenart und gesellschaftlich unveizerrte Emotionalität hervorhebt, gibt Einblick in das kostbarste, unentwickelte Erbe der menschlichen Gattung. Gewiß, es scheint weniger sicher, ob diese Kunstleistung auch die vollkommene Weise ist, in der eine hochbefähigte Person ihren menschlichen Reichtum in die Gesellschaft einzubringen sucht. Denn Prousts völliger Rückzug nicht nur aus der Welt des mondänen Paris, die Aufgabe aller sozialen Beziehungen, gleicht dem Entschluß, dem langaufgestauten Bedürfnis nach Mitteilung jenseits aller Konversationsübung — dies stellt eine der bemerkenswerten Ventilfunktionen der Literatur dar — für den Rest seines Lebens nachzugehen. Sein Roman sollte ein Dokument seiner selbst sein, und zwar nach der Art jenes einst utopischen Telephons, welches die Stimme und Physiognomie des Sprechenden weiterleitet. Diese authentische Aktualität der Person, wie sie seine Großmutter in allen ihren Taten hervorbrachte, so daß in ihrer Stimme auch ihre Gesichtszüge und in ihrem Mienenspiel auch die Bewegungen ihres Inneren notifizierbar wurden, eine solche ideale Symmetrie von Seelischem und äußerem gesellschaftlichem Habitus war seiner Zeit fremder denn je. Marcels Lebensgeschichte jedoch dokumentiert das Bedürfnis danach und ihren literarischen Vollzug.

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VI

Die Welt und Unterwelt der Gesellschaft

Die große R e i h e v o n Aperçus, m i t d e n e n Proust seine aus vielen E p i s o d e n des R o m a n s h e r v o r w u c h e r n d e n Karikaturen z u allen g e s e l l s c h a f t l i c h e n Vollz u g s m ö g l i c h k e i t e n , die e i n e m h o c h e n t w i c k e l t e n I n d i v i d u u m z u seiner Z e i t a n g e b o t e n w u r d e n , s c h m ü c k t — s o b e z e i c h n e t er den G l a u b e n an die Möglichkeit der F r e u n d s c h a f t m i t e i n e m aus R i m b a u d s Ophélia-Gedicht

entlehn-

ten O x y m o r o n als „ d o u c e f o l i e " (III 8 7 5 ) —, sie b e z i e h e n ihre destruktive Energie o f f e n b a r aus d e m Zerfall des Ideals m e n s c h l i c h e r Ü b e r e i n s t i m m u n g , das seinen N ä h r b o d e n in der B e z i e h u n g Marcels u n d seiner G r o ß m u t t e r geh a b t h a t t e . Allerdings wird s c h o n früh d e u t l i c h , daß dieses Ideal a u c h sein e n literarischen Ursprung h a t u n d n a c h der k u r z e n H y p o s t a s e während der L e b e n s z e i t der G r o ß m u t t e r in Marcels R o m a n w i e d e r u m seinen ursprüngl i c h e n S t a n d o r t zurückgewinnt. D i e G r o ß m u t t e r — Prousts G e s e l l s c h a f t gliedert sich in einer z w e i t e n anarchistischen Hierarchie n a c h d e n R ä n g e n ihrer literarischen K e n n e r s c h a f t 3 1 31 Vgl. hierzu: Gerhard R. Kaisei, Proust. Musil. Joyce. Zum Verhältnis von Literatur und Gesellschaft am Paradigma des Zitats, Frankfurt/Main 1972. Das der Recherche gewidmete Kapitel dieser Studie enthält wichtige Beobachtungen zu Prousts Zitiertechnik, zur strukturellen und integrativen Funktion des Zitats, das freilich methodisch vor allem Herman Meyers Buch „Das Zitat in der Erzählkunst" verpflichtet ist. Die zu Beginn angekündigte Anlehnung an die im Gefolge Hegels und Marx' entwickelte Methodologie Emrichs, Benjamins und Adornos ist im Gesamtansatz kaum zur Wirkung gelangt. Mit den allgemeinen Bemerkungen zur reflexionslosen Traditionsaneignung in der bürgerlichen Zitatkultur, die durch die Büchmann-Auflagen nur beschränkt illustriert werden, ergibt sich noch kein hinreichender Aufschluß über den gesellschaftlichen Hintergrund wie über den sozialen Aussagewert des Zitats bei Proust. Die Vermittlung von Gesellschaftlichem in seinen Zitaten wird mehrfach behauptet, aber nur selten analysiert und dann auch nicht widerspruchsfrei. So werden Saint-Simon-Belege im Munde konservativer Bürgerlicher ¿ewiß richtig bewertet. Wie aber reimt sich das zusammen mit der These, Prousts eigene Rückgriffe auf Saint-Simon bildeten Überblendungen des sozialen Verfalls bestimmter sozialer Gruppen mit dem Verfall des Hof-Adels im 17. Jh.? Und wenn im Hinblick auf die Mémoires die historische Dimension der Zitate bejaht wird, warum nicht auch die der bei Mme de Sévigné oder Racine entlehnten?

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- trägt stets die Briefe der Mme de Sévigné mit sich, um wie aus einem Brevier daraus zu zitieren, und diese Lieblingslektüre der alten Dame offenbart sich im Laufe des Romans immer deutlicher als Kultschrift ihrer Güte und Mütterlichkeit. Wie erstaunt ist sie aber, als in Balbec der offenbar so kalte und snobistische Baron de Charlus aus den Briefen der Sévigné zitiert! Auch seine Vorliebe ist nicht einfach nur literarisch, sondern erfüllt von Bewunderung für ein Dokument unübertrefflicher Mutterliebe. Das sonst so laute Organ des Barons bekommt geradezu den Schmelz einer Altstimme, wenn er hervorhebt, daß die Leidenschaften der Phèdre oder der Andromaque nach Ethos und Gefiihlsaufwand jener in den Briefen dokumentierten Anteilnahme der Mme de Sévigné gegenüber ihrer Tochter sehr viel näher ständen als den banalen Beziehungen, die ihr Sohn zu seinen Mätressen unterhielt. Und Charlus nähert sich sogar der Kunst des lapidaren Epigramms, die die französischen Moralisten entwickelt haben, wenn er behauptet: . . . l'important dans la vie n'est pas ce qu'on aime, . . . c'est d'aimer. . . . Les démarcations trop étroites que nous traçons autour de l'amour viennent seulement de notre grande ignorance de la vie. (I 763)

Der Erzähler begleitet Charlus' Bemerkungen mit der Analyse von dessen Stimme, um aus ihr die Wahrheit dieses Plädoyers für ein vertieftes Verständnis der Liebe zu gewinnen. Und da die Worte des Barons wie die singend versprühte Zärtlichkeit von jungen Mädchen klingen, sichern sie darin ihre Glaubwürdigkeit. Aus dieser Szene und aus wenigen ihr gleichgeordneten läßt sich von Prousts Negativbild, das in scharfen Zügen die Unmöglichkeit der menschlichen Verständigung verzeichnet, ein Positiv mit allen Feinheiten und Konturen abziehen. Die Elemente dieses Bildes, ob konkret oder symbolisch, werden noch zerlegt werden müssen; hier verdient zunächst die Tatsache, daß sich die entgegengesetzten Affekte, Haß und Liebe, Zynismus und Zärtlichkeit, so überraschend und reibungslos ablösen können, Beachtung. Denn darin scheint sich die Polarität jener Affekte verschärft und gleichzeitig aneinander abgeschliffen zu haben, die aus der Gefühlsambivalenz des jugendlichen Erzählers bereits in einem milderen Stadium anschaulich wurden. Indem diese spannungsgeladene Persönlichkeitsstruktur sich in Marcels Bekanntschaften wiederholt, legt sich allmählich ihre soziologische Dimension frei. In den Janusgesichtern der psychischen Disposition spiegelt sich der gespaltene Markt einer gesellschaftlichen Moral, die öffentlich nur der Konformität nachfragt, privat jedoch die Adressen der verruchten Häuser tauscht. Marcel erlebt die Ambivalenz in Charlus' Charakter zunächst an den Wechselbädern von Kälte und Freundlichkeit, die dieser über ihn ausgießt; 65

erst später sieht er schärfer, wie der Baron unter der Maske einer forcierten Virilität eben jene Züge gewahren läßt, die nach den Schemata der Geschlechtspolaritäten, die unverrückbar in die Denk- und Empfindungsweisen eingeschliffen zu sein scheinen, „weiblich" genannt werden müssen. Doch welcher Zwang und auch welche Grausamkeit auf diese Haltung einer von der Konvention geforderten Männlichkeit einwirkt, welcher seelische Aufwand zur Verdrängung der weiblichen Empfindungsfähigkeit mobilisiert wird, das illustriert eine Szene im Salon der Mme de Guermantes (II 507f.). Das Gespräch ist dort auf die Trauerfähigkeit von Männern, die ihre Frau verloren haben, geraten, und die Hausherrin hat bemerkt, daß Charlus, der über lange Zeit seine verstorbene Frau beweint hatte, darin durchaus weibliche Züge an den Tag gelegt habe. Der empörte Widerspruch, den sie beim Herzog findet, bezieht seine Affektkraft aus der seelischen Energie, mit der die ganze saturierte Gesellschaft sowohl den Tod wie auch eine der Konvention widersprechende Männlichkeit verdrängt: Güte und Zärtlichkeit von Seiten der Männer bilden für den Herrschaftsanspruch die gleiche Gefahr wie der Tod selbst. 32 So dokumentiert der Herzog seinen Anspruch auf Männlichkeit durch regelmäßigen Wechsel seiner Mätressen und hält ihn auch für seinen Bruder aufrecht, indem er dessen geschlechtliche Aktivitäten ignoriert. Die peinliche Situation, die durch den vehementen Ausbruch des Herzogs und den Streit der privat entfremdeten Eheleute, die nur um des Salonbetriebes willen zusammenstehen, immer mehr an Spannung gewinnt, wird durch eine Bemerkung der Princesse de Parme entschärft, die ausgerechnet die Bruderliebe des Duc de Guermantes preist, der es nicht dulde, daß ein schlechtes Wort über Charlus geredet werde. Freilich, gegen Ende des Romans brechen die Schranken des Verbots zusammen, und nahezu alle feineren männlichen Gestalten bekennen sich dann zu ihrer Herkunft aus Sodom, Saint-Loup ebenso wie der Prince de Guermantes. Zunächst aber repräsentiert Charlus diese mit so viel aufgewendeter Gewalt verdrängte düstere Welt, deren Glücksideale doch in allen schlummern und sichtbar den Fluchtpunkt ihrer Sehnsuchtsbilder enthält, und er erleidet stellvertretend alle Qual, die die Gesellschaft allen zufügt. Der aus der Hölle von Jupiens „Tempel" gemartert aufsteigenden Baron, der sich vor den entsetzten Augen des versteckten Marcel alle die Strafen zufügt, welche die hohe Gesellschaft über die Invertierten verhängt, erscheint wie der Hei-

32 Das Verhältnis der Pariser Gesellschaft zum Tode hat Germaine Brée, Du Temps perdu au temps retrouvé, Paris 1969, S. 118ff. vorzüglich geschildert. Andere Ergebnisse ihrer Analyse, vor allem die über die Gesellschaft, über Marcels Verhältnis zu seinen Müttern, sind weniger sorgfältig durchgearbeitet.

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land einer Welt, die ihre Sünder zur Selbsterhaltung braucht. Proust hat genug mythologische Erfahrung, um in Prometheus, mit dem er den gefesselten und geschundenen Charlus zweimal vergleicht (III 814, 838), auch den Rebell gegen jene Götter zu sehen, die den Menschen seiner Rechte berauben wollten. Es ist eine Rebellion gegen die Doppelmoral, die die höchsten Götter zum Gesetz erklärt haben. Und der mythologische Zusammenhang, der sich an das prometheische Rebellentum des Barons anschließt, findet darin seinen Abschluß, daß der höchste Repräsentant der gesellschaftlich geforderten Verdrängung, der Herzog von Guermantes, immer wieder als „Jupiter" angesprochen wird. (II 284, 683; III 42, 1020) Der Erzähler begreift aber auch, daß angesichts der Marterszene in Jupiens Unzuchtstempel zugleich die Zauberwelt von Tausendundeinernacht in grausamer Verzerrung versinkt (III 832): Charlus erscheint ihm wie die Frau, die, in einen Hund verwandelt, sich mit Stockschlägen traktieren läßt, um ihre ursprüngliche Gestalt zurückzugewinnen. Die ursprüngliche Gestalt, die der Baron verloren hat, ist nicht die der Normalität, sondern einer Menschlichkeit, die sich noch nicht dem Ableitungszwang des Sadismus gebeugt hat. Proust hat diese Deformation als Sünde der gesamten Gesellschaft gezeichnet, sie reicht von Françoise, die ihr Küchenmädchen quält, bis zu Mme de Guermantes, die ihrem Bediensteten das Rendezvous mit seiner Verlobten unmöglich macht (II 483). Ihre gemeinsame Methode beruht darauf, die akzeptierten Versagungen von Freude und Glück gemessen weiterzureichen, den Besitz aber für sich selbst zu reservieren. Die Dämonie und Düsternis, die über Sodom liegt, entspricht den Schattierungen eines mit Verdrängtem überladenen Unbewußten. Und diese Seelenlandschaft wird von blitzhafter Helle erleuchtet, wenn sich eine Enttäuschung so elementar entlädt, wie die des Baron Charlus, der erkennen mußte, daß Marcel den zarten Hinweis auf seine Sympathie — die Vergißmeinnichtverzierung auf dem Einband eines Bergotte-Werkes, das er ihm zum Geschenk gemacht hatte — nicht verstanden hatte. Der Zorn des Enttäuschten entlädt sich verständlicherweise sogleich in dem Verdacht, Marcel habe schlecht iib¿' ihn geredet, denn wer nicht diese verfeinerten Verständigungsformen V'egreift, gehört der Sphäre des „potain" an, und Marcels gesellschaftlicher Ehrgeiz liefert dafür bedenkliche Indizien. Der Klatsch ist die einzige variable Nahrung der Salonbesucher, denn er besteht aus den immer wechselnden Nachrichten über aie geheimen Feldzüge der Glückssucher, die die Gesellschaft durch eine Moral, die von aller, repräsentiert und von allen unterlaufen wird, zu Lastern gestempelt hat. Nur insofern hat Walter Benjamin recht, wenn er aul der Suche nach einer Kurzformel für Prousts kritisches Anliegen gegenüber dieser Gesellschaft von einer „Phy67

siologie des Geschwätzes" spricht. 33 Ein Gespräch auf der Vertragsbasis der Unaufrichtigkeit ist trostloser als das einsame Geschnatter Winnies in Becketts Happy Days. Und in der Gewohnheit, stets nur fremde Erlebnisse zu verarbeiten, gibt sich eine seelische Konstitution zu erkennen, die nicht nur in ihrer materiellen Basis, sondern auch im Bereich der psychischen Ökonomie parasitär lebt und nicht selbst den Austausch von Gefühlen betreibt, sondern das Rudiment fremder Erfahrungen wiederkäut. Das Mißverständnis zwischen Charlus und Marcel verdient eine genauere Betrachtung. Der Baron hat die feinere Konstitution des hochsensiblen Marcel erkannt, und da er in dem begabten, literaturbeflissenen Jüngling einen möglichen Freund sieht, hat er ihn zu sich eingeladen. Marcel kommt nun von seinem ersten Diner bei Mme de Guermantes und möchte Charlus in einem brennenden Mitteilungsbedürfnis entwickeln, wie sehr er die Leere des Salonrituals durchschaut hat. Aber dieses Bedürfnis erscheint dem Baron gerade als Symptom dafür, daß sein Gast unwiderruflich dieser versteinerten Geselligkeit verfallen ist, während Marcel durch Scharfsinn und Ethos seiner Erkenntnisse im Grunde Charlus' ursprüngliches Auswahlurteil bestätigt. Ihm ist nämlich aufgegangen, in welch geringem Maße das Prestige des Hôtel de Guermantes auf einem tatsächlichen Reichtum der geselligen Fähigkeiten und Bedürfnisse beruht; vielmehr sichert es semen Rang dadurch, daß es mit der Marktstrategie künstlicher Verknappung das Interesse aller auf sich fixiert. Die Manipulation sieht dabei so aus, daß nur diejenigen Zutritt haben, deren eigener, wiederum nach Clanmitgliedschaften zu taxierender sozialer Kurswert den Neid der Außenstehenden und den Andrang der Kandidaten auf Höchstmaß hält. Allerdings ist dies Verfahren auch für Irrtümer anfällig, denn Marcel gelangt durch reinen Zufall in den Genuß einer Einladung in den Salon der Mme de Guermantes, da er sich ohne besondere Absicht (seine Rendezvous sind ihm wichtiger) rar macht und dadurch in den Ruf gerät, ein vielbegehrter Gast zu sein. „Etre difficile à avoir" ist die Kurzformel für höchsten sozialen Schätzwert, während „être peu reçu" als Kainszeichen denjenigen anhaftet, deren gesellschaftliches Ansehen an der Börse der Salons zu niedrig notiert wird. Aus Angebot — der Rarität und dem Rang der Stammgäste und der ihre Runde dekorierenden Künstler — und der Nachfrage — sichtbar in den Demutsgebärden und der Anpassungsartistik der Kandidaten, die zugelassen werden möchten — ermißt sich der Marktwert einer Einladungskarte zum Diner bei der Gräfin. Und hieraus wiederum berechnet sich unmittelbar der Preis und Wiedergebrauchswert

33 Walter Benjamin, Zum Bilde Prousts, in: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt/Main 1961; S. 3 5 5 - 3 6 9 ; S. 360.

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des längst heruntergekommenen „esprit de Guermantes", der in Orianes Kalauern, die als Köstlichkeiten wie die „rillettes de Tours" oder „biscuits de Reims" gehandelt werden, seine letzten produktiven Leistungen feiert. Das Vergnügen an diesen Kalauern übrigens erwächst aus den gleichen seelischen Schichten wie das Interesse am Klatsch: Das Spiel mit der Doppelbödigkeit der sprachlichen Wertbegriffe durchbricht das Reglement einer konservativen Kultur, das als ebenso hinderlich empfunden wird wie das der Moral, das aber die gleiche Funktion hat. Dieser „esprit" ist keine ursprüngliche entwickelte Gabe mehr, sondern das unter den Bedingungen der Luxusgesellschaft einzig brauchbare Substrat, in welchem eine Person, die sich sonst ganz in dem Ritual der Freundlichkeit verflüchtigt, etwas von ihrem Eigenwert weiterzureichen vermag: . . . ce fameux luxe, inconnu aux Courvoisier, dont les Guermantes opulents ou à demi ruinés, excellaient à faire jouir leurs amis, n'était pas qu'un luxe matériel mais, comme je l'avais expérimenté souvent avec Robert de Saint-Loup, était aussi un luxe de paroles charmantes, d'actions gentilles, toute une élégance verbale, alimentée par une véritable richesse intérieure. Mais comme celle-ci, dans l'oisiveté mondaine, reste sans emploi, elle s'épanchait parfois, cherchait un dérivatif en une sorte d'effusion fugitive, d'autant plus anxieuse . . . (II 5 4 5 )

So bedarf Marcel keines Scharfsinns, um zu erkennen, daß die melancholischen und von edler Gemütsart zeugenden Gebärden nur kurze Entladungen eines gestauten Seelenreichtums nach außen tragen, ohne dabei feste Beziehungen begründen zu können. Aber was würde aus dieser in Kasten aufgefalteten Gesellschaft, die sich aus dem hierarchischen Betrieb moralisch und materiell erhält, wenn sich die Menschlichkeit und Verständigungskunst, wie sie bisweilen im Verhalten der Herzogin oder im prometheischen Charlus aufblitzen, zur offen geduldeten Moral würden? Was Marcel Charlus mitzuteilen wünscht, hat er bereits zuvor im Wagen auf dem Weg zu dessen Haus monologisch bedacht. Welches Erlebnis steckt indessen hinter jener Exaltation, die ihn bei dieser Gelegenheit durchströmt und die er mit den Glücksmomenten im Wagen des Docteur Percepied oder dem der Mme de Villeparisis vergleicht? Er glaubt zu erkennen, daß das freudige Gefühl der Erinnerung an die Einzelheiten des Diners entspringt und nicht aus den Tiefen seiner eigenen Seele kommt wie einst, wenn sich das Bild der Landschaft mit dem Cliché einer unbewußten Glücksreminiszenz deckte. Wenn er aber jetzt die Beobachtungen, die er gemacht hat, durch das innere Stereoskop gleiten läßt, so entwickeln sie ihren Reizwert durch einen Zusatz, den er ihnen selbst gibt. Aber weiter reicht die Analyse Marcels nicht. Gewiß schwingt in diesen Momentaufnahmen ein wenig das Triumphgefuhl mit, daß er nun auf dem Kulminationspunkt seines ge69

seilschaftlichen Höhenfluges angelangt ist; aber die bereits aus der kindlichen Phantasie hervorsprühende Sehnsucht, in diese Welt, die eigentlich kaum etwas Mütterliches mehr aufzuweisen hat, einzudringen, zeigt doch ein stärkeres Kolorit seelischer Beteiligung, als es auch fanatischer mondäner Ehrgeiz einem Menschen in die Wangen treiben könnte. Diese Sehnsucht steht offenbar vor dem gleichen psychischen Hintergrund, der, wenn er beleuchtet werden könnte, auch die Ursache der Exaltation nach dem Diner bei Mme de Guermantes durchsichtig werden lassen müßte. Eine erste Erklärung liefert bereits die Metaphorik, mit der der Erzähler die Attraktivität der Salons von Mme Swann oder Mme de Guermantes beschreibt. Neben der Märchenwelt von Tausendundeinenacht bezieht er seine bildlichen Mittel aus dem weiten Bereich des Sakralen, in dem sich bereits seine Faszination gegenüber Frauen und Mädchen Anschaulichkeit wie Affektwerte besorgte, und der im ursprünglichen Sinne die Glückssphäre der Mutterwelt umkleidet. Die Ehrfurcht, mit der Marcel zum erstenmal Swanns Haus betritt, läßt ihn schon im Kleiderständer eine Art siebenarmigen Leuchters erblicken (I 504), das Speisezimmer vermittelt ihm die Aura eines asiatischen Tempels (506), und schließlich erstarrt er in Swanns Bibliothek vor Achtung wie im „Herz des Allerheiligsten" (509). Erscheinen diese Bilder schon von gewagter Preziosität, so dringt aus der Metaphorik, in die sich seine Bezauberung beim Eintritt in den Salon de Guermantes einprägte, eine noch viel tiefere mystische Schicht zum Vorschein. Schon früher barg für ihn diese hohe Gesellschaft ein ähnliches Geheimnis wie die Kirchengemeinden (II 15), und ihre Gegenwart an einer zugänglichen Stelle schien ihm ebenso unbegreiflich wie die Gegenwart Christi in einer Hostie (II 30). Und so beschließt er, sich dieser vom Prestige der Heiligkeit umwehten Versammlung anzuschließen: Je ne devais plus cesser par la suite d'être continuellement invité, fût-ce avec quelques personnes seulement, à ces repas dont je m'étais autrefois figuré les convives comme les Apôtres de la Sainte-Chapelle. Ils se réunissaient là en effet, comme les premiers chrétiens, non pour partager seulement une nourriture matérielle, . . . mais dans une sorte de Cène sociale; (II 512)

Dennoch bleibt Marcel fremd in dieser Gesellschaft, und er fühlt sich von Hemmungen befallen wie ein Profaner, der unzulässig in eine Mysterienfeier eingedrungen ist (II 543), denn der Abschluß des Diners stellt sich ihm so dar, daß die Princesse de Parme allen vor ihr Knienden, außer ihm selbst, den Segen erteilt. Und später noch erscheint Marcel die Gesellschaft um die Princesse de Guermantes wie eine regelmäßig kommunizierende Gemeinde. Gewiß haben sich in diesen Ehrfurchtsformeln Prousts auch die 70

Erfahrungen des Halbjuden abgesetzt, der genau wußte, daß sich der Antisemitismus der französischen Gesellschaft nur widerwillig am Respekt für die jüdische Geldaristokratie abgeschliffen hatte, um während der DreyfusAffáre sich über mehrere Jahre hinweg in patriotischer Heuchelei zu entladen. Wodurch aber hat sich auch in den Augen des Erzählers diese Welt noch jenen Nimbus bewahren können, nachdem er doch rückblickend die Gesellschaft des Faubourg aus ihren Biographien des Verfalls heraus als dem Untergang preisgegeben gesehen hatte? Es wäre auch der Einwand unzutreffend, daß sich der Erzähler in den zitierten Passagen ironisch verhielte, denn der Überblick über den Gebrauch der religiösen Bildsprache bei Proust, den Victor E. Graham bietet, 34 zeigt unabweisbar, daß die sakrale Sphäre, ob direkt oder bildhaft angesprochen, die innersten und wichtigsten Erlebnisbereiche des Erzählers, die kaum je ins Zwielicht des Spotts geraten, instrumentiert. Jenes große Plädoyer Prousts gegen den „Mord an den Kirchen", nämlich gegen die unter den Sozialisten erlassenen „Laiengesetze", die die Trennung von Kirche und Staat institutionell durchsetzten, galt nicht allein den Kulturdenkmälern, sondern auch den religiösen Kultgebräuchen, deren Schönheit freilich unter einem überspitzt ästhetischen Gesichtspunkt hervorgehoben wird: On peut dire qu'une représentation de Wagner à Bayreuth . . . est peu de chose auprès de la célébration de la grand'messe dans la cathédrale de Chartres. (PeM 2 0 8 )

Wenn aber bedacht wird, daß Prousts Liebe zu den Kirchen und Kathedralen Frankreichs sich nicht in seinem eigenartigen Kunstenthusiasmus erschöpft, sondern daß er mit dem Kampf für den Verbleib der Kirchen in der Verantwortlichkeit des Staats gleichzeitig für die Sicherung und Erhaltung eines Erlebnis· und Gefühlskomplexes, nämlich der Sehnsucht nach einer matriarchalisch geordneten Welt, eintrat, die für ihn selbst ein Wunschbild von elementarer Bedeutung blieb, so treten die ersten Linien hervor, die auch das Verständnis von Marcels mit übermäßiger Ehrfurcht besetztem Gesellschaftsinteresse fördern könnten. Denn auch diese Häuser der Verdurin, der Swann und der Guermantes beziehen ihr Prestige und ihren seelischen Reizwert, der Marcel bisweilen in den Taumel des Glücks versetzt und ihm jene Exaltationen beschert — auch „exaltation" hat einen religiösen Akzent —, welche die Wegzeichen seiner Biographie bilden, aus ihrer strukturellen und emotionalen Nähe zu der Sphäre, die unverlierbar die kostbarste für ihn bleibt: Mütterlichkeit und Liebe. Allabendlich erschien dem kleinen Marcel das Gesicht seiner Mutter, das sich über ihn beugte, „comme une hostie" 34 Victor E. Graham, The Imagery of Proust, London 1967; S. 1 6 5 - 1 7 1 .

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(I 13), denn nur sie bot ihm die zum Leben notwendige Speise; an anderer Stelle taucht für diese mütterliche Geste der Zuwendung die Metapher des „Ziboriums" (II 324) auf, und kaum verändert mischt sich diese Erinnerung in das Bild, das Marcel später beim Kuß für Albertines Zunge findet, die er zu seinem „täglichen Brot" (III 10) erhebt. Der Erzähler berichtet gleich zu Beginn des Romans, als verriete er damit den Schlüssel für die Entwicklung und das Verständnis seines ganzen Lebens, wie ihm jener teure Kuß immer dann versagt blieb oder seine Versagung drohte, wenn die Eltern Gäste zum Diner hatten. Zwar findet sich nicht ausdrücklich berichtet, daß Marcel unter den gleichen Ängsten litt, wenn seine Eltern ihrerseits eingeladen waren, weil die Erzählung vom allabendlichen Gutenachtkußdrama mit der Episode von Swanns Besuchen verknüpft wird; aber diese kompositorische Maßnahme bietet Aufschluß in zweierlei Richtung: Denn zunächst deutet sich an, daß Swann für Marcels eifersüchtige Angst gegenüber einem Gast, der ihm das Teuerste raubte, großes Verständnis gehabt hätte, weil er die gleiche Eifersucht gegenüber Odettes Gastgebern gehegt hatte, als seine Geliebte ihre Besuche bei den Verdurins — auch der „petit noyau" wird einmal als „église" bezeichnet (I 188) — selbst dann noch fortsetzte, als Swann bereits bei der Hausherrin in Ungnade gefallen war. Andererseits wird später die Erzählung von Swanns Liebe und seinem quälendem Argwohn für die in fremder Geselligkeit abwesende Odette beleuchtet und seelisch verklammert mit Marcels abendlichen Ängsten und Eifersuchtsqualen, wenn diesem auch im Unterschied zum Erzähler während des Tages keine Erleichterung zuteil wurde (I 295). Und so verhindert es Marcel später bewußt, daß Albertine vor ihm in den Kreis der Verdurins entweicht; vielmehr folgt er allein der Einladung, um die Ursache der Anziehungskraft dieses Salons auf seine Freundin zu erforschen (III 169). Der dem Kind einst verschlossene geheimnisvolle Bannkreis der Gesellschaft vermag seine ans Mystische streifende Attraktion auch darum noch auf den nahezu Erwachsenen auszuüben, weil er seine magische Kraft aus der Projektionstätigkeit des immer noch unbewußt tätigen kindlichen Marcel ständig auffrischen kann, jenes kleinen Mannes, der diese einst unzugänglichen Kultstätten aus dem Leben seiner Mutter, die damals so viel der allein ihm gehörenden Zuwendung entzogen, eben wieder mit den Zauberfarben seiner Phantasie und mit den Affektsymbolen seiner ziellos flottierenden nächtlichen Zärtlichkeit besetzte. Ebenso wie die anderen, im Unbewußten wurzelnden Symbole der Mutter- oder Großmutterbeziehung, die Kirchen, Bäume, Blumen, die Ambivalenz, die der Erinnerung an die Gutenachtkußszenen innewohnte, das Erfüllungs- und Versagungsmoment wiederbeleben, so sind auch das Glück und die Enttäuschung, die Marcels gesell72

schaftlichem Ehrgeiz und dessen Befriedigung beim Eindringen in die exklusive Welt anhaften, in ihrem Ablauf emotional vorprogrammiert. Während Marcel das Vergnügen, das ihn im Salon der Mme de Montmorency durchfließt, mit Erfolg analysiert — es werden dort Reminiszenzen an Combray geweckt (II 750) —, so regt sich in dem triumphalen Bewußtsein, im Strahlbereich der Herzogin von Guermantes gesessen zu haben, nur unbewußt das Befriedigungsgefühl, das sich das Kind so häufig vergeblich ersehnt hatte: Den Abend dort verbringen zu dürfen, wohin sich die Mutter so unverständlicherweise seiner Umarmung entzieht. Diese Analyse über die Quelle des seelischen Hochgefühls, das Marcel nach dem Diner erfaßt, gewinnt ein breiteres Fundament aus einigen zusätzlichen Akzidenzien des episodischen Rahmens, der die Homologie der Situation mit den Kindheitserlebnissen abrundet: Marcel überfallt nämlich die kurze Glücksheimsuchung wieder in einem Wagen, der ihn „nach Hause" bringen soll, also in einer bewährten Konstellation. Und wenn ihm auch die lenkbare Kraft dieses Bewußtseinsaktes wiederum nicht deutlich wird, so zeichnet er doch in wenigen Umrissen die Unterschiede zu den übrigen Exaltationsmomenten: Hatten diese ihm das Zusammenfließen seiner eigenen und der mütterlichen Zärtlichkeit wiederbelebt und damit dem Leser das eigene Ich als Quelle offenbart, so hat er nunmehr den Eindruck, daß ihm im Salon de Guermantes das Glück „von außen" zuströmte. Und dies hat seine Erklärung darin, daß er sich dort die einst an eine fremde Welt verschwendete Güte seiner Mutter als sein rechtmäßiges Eigentum zurückholt. Und wie die anderen verbindet sich auch dieses Erlebnis mit einem unwiderstehlichen Drang nach Artikulation, u m nicht in der unauflösbaren Form der Trauer zu gerinnen. Denn Melancholie ist ein anderer Aggregatzustand des Gesprächsbedürfnisses: 3 5 Nach dem Erlebnis mit den Türmen von Martinville hatte sich Marcel noch die Veräußerungsform einer dichterisch komponierten Erzählung gewählt, um das in drohende Trauer umschlagende Glücksbild zu erhalten. Die Begegnung mit der Baumreihe in Balbec war bereits vom ersten Augenblick an mit dem Keim der melancholischen Erinnerung versetzt und hatte nicht gesprächsweise oder im literarischen Text erhalten werden können. Die Exaltationen restituieren zwar glücksgesättigte Erinnerungsbilder, aber gleichzeitig bilden sie Stimulationen des elementaren Wunsches nach Verständnis und Geselligkeit; diese Bedürfnisse haben sich noch nicht im schriftstellerischen Ehrgeiz verflüchtigt. So ordnen sich auch die Umstände während u n d nach dem Dine/ bei Mme de Guermantes zu einer Perspektive, die Marcels ambivalentes Verhältnis zu den aristokratischen Salons verständlich erschei-

35 Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1972; S. 149.

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nen läßt: In dem Maße, wie sich ihm die Sterilität und Langeweile ihrer Geselligkeit offenbart, wie er erkennt, daß diese unheilige Abendmahlsgesellschaft in materieller Üppigkeit, aber seelischer Verarmung ihren mählichen Untergang zelebriert, in dem Maße gewinnt das Ideal einer ganz in zweiseitiger Verständigung sich vollendenden Beziehung, wie es sein Verhältnis zur Mutter-Großmutter umschloß, und von dessen Glanz ja auch der Nimbus, den die Salonwelt in seinen Augen genoß, profitierte, eine ungefährdete Strahlkraft. Nicht zufällig entwickelt sich im Anschluß an die enttäuschte Gipfelfahrt durch die Salons des Faubourg Saint-Germain das Experiment einer alle gesellschaftlichen Einwirkungen ausschließenden Beziehung, die Liebe und das Zusammenleben mit Albertine, das freilich ebenso katastrophal in ein Mißverständnis mündet wie der vorsichtige Annäherungsversuch des Baron Charlus bei Marcel. Beide begegnen sie von gesellschaftlichem Ehrgeiz verzehrten jungen Wesen, obgleich ihre Konditionen eben das entgegengesetzte Verhalten fordern. Während Charlus einsichtsvoll den Versuch beendet, um später mit Morel das gleiche Fiasko zu erleben wie Swann mit Odette, insofern sich auch von ihm die geliebte Person gewaltsam löst, um sich im Salon der bürgerlich Arrivierten, den Mme Verdurin führt, einzurichten, vermag Marcel seine Freundin vor diesen Versuchungen zu bewahren. Freilich um den Preis, daß er sie in jener Verschlossenheit hält, die eine nur unmäßigere Form der Salon-Privatheit darstellt, eine „vie de salon amoureuse", die später in die völlig vereinsamte „vie de salon mentale" münden wird. Die Parallelen in der Erlebnisweise und der Erwartungshaltung gegenüber der Mitwelt zwischen Charlus und dem Erzähler sind offensichtlich und weittragend. Die aufschlußreichen Unterschiede lassen sich dagegen an der Art und Weise zeigen, wie beide die zahlreichen Enttäuschungen, die ihnen zugefugt werden, verarbeiten oder wie sie die gestauten Affekte abführen. Während Marcel immer wieder sich in einem Tränenstrom Erleichterung verschafft, und damit einen sehr direkten Weg findet, scheinen Charlus die Leiden der Versagung bereits irreversibel in seiner Identität gestört zu haben. Er flüchtet in eine künstliche und leicht zu durchschauende Attitüde überspannter Männlichkeit. Den Wutanfall, den er vor Marcel inszeniert (II 555 f.), sichert er durch zwei Diener, die hinter der Türe wachen, ab, und als Morel ihn zu verlassen droht, versucht er ihn durch ein fingiertes Duell an sich zu binden. Den Zwangscharakter des Zorns indessen enthüllt Charlus selbst, als er Marcel, der bei seinen Wutanfällen einen nahezu fremden Mechanismus in sich wirksam spürt (III 290), so lange mit zynischen und kränkenden Redensarten eindeckt, bis dieser in seiner Wehrlosigkeit nach dem Hut des Barons greift und in sinnloser Wut darauf herumtrampelt. 74

Wenn Proust in solchen Passagen auch eine Soziophysik der Bosheit zu entwerfen bestrebt scheint, indem er das Erhaltungsgesetz der seelischen Gewalt aus der Struktur der Gesellschaft und ihrer Wertethik heraus entwickelt, um das Scheitern fast aller Beziehungen zu erklären, auch die Unmöglichkeit der Freundschaft zwischen Marcel und Charlus, so sieht er doch, wie die grausame Mechanik dieses Gesetzes zu durchbrechen wäre. Gewiß, zunächst entwickelt er nur die soziologischen Kategorien, um die Unmöglichkeit einer Verständigung mit dem Baron zu illustrieren: Charlus kann sich nur als Mentor entfalten, der seinem Schützling ein überlegener geistiger Vater ist, der aber seine Überlegenheit stets mit dem Imponiergehabe seiner sozialen Stellung überzieht. Und Marcel, in seinem Bedürfnis, die seelische und gesellschaftliche Topographie seiner Freunde und Freundin len bis ins einzelne zu durchspüren, stößt auf einen Mann, der seine Attraktivität in affektiertem und sphinxhaftem Gebaren zu vergrößern bemüht ist. Charlus unterliegt nämlich dem Irrtum, daß der Habitus, der seinen gesellschaftlichen Marktwert begründet, auch ein privates Kapital sein könnte. Doch Marcel erkennt zugleich hinter diesem, im sozialen Treibhaus entfremdeter Beziehungen grotest überzüchteten Verhalten die Schönheit einer hochveranlagten Person, und er stößt sich an dem mangelnden Ethos, daß Charlus, obwohl mit einem überwachen Urteilsvermögen und ausgeprägtem Gefühl für künstlerische Qualitäten begabt, nicht die Fähigkeit entwickelt, in schöpferischen Leistungen eine mittelbare Entladung seiner Affekte zu versuchen und seiner Einsicht in die Gewalt der Gesellschaft eine feste Form zu geben, die ihm sonst nur in der Maskerade oder in den Übertragungen der Konversation verfließt (II 567). In der Kunst nämlich werden die Gegenkräfte der Zärtlichkeit und verständnisvollen Einsicht mobilisiert, an denen das Gesetz der Bosheit seinen axiomatischen Wert einbüßt. Durch sein Verhalten macht sich Charlus überdies zum Komplizen einer unglaublichen Degradation der Künstler, welche die Salons mit ihren Alltagsprogrammen vollziehen. Unter Beachtung kultivierterer Manieren zwar, als sie Agenturen gemeinhin aufzubieten pflegen, reichen sie sich die Künstler allenfalls wie Unterhaltungsmarionetten zu. Die höfliche Frage, ob man Lust hätte, mit dem Dichter X, der eine risikolose Berühmtheit darstellt, gemeinsam zum Diner eingeladen zu werden, zeugt von einer verfeinerten Gastlichkeit, die nicht mehr allein mit deliziösen Speisen, die ihre Qualität durch Rarität beweisen, sondern mit hochkarätigen Musensöhnen, deren menschlicher Rang nur noch in ihrem Namen wiederhallt, aufwarten kann. Damit erweist sich das vermeintliche Mäzenatentum als eine — bisweilen weitsichtige — Form der Selbstdekoration, ohne sich gleich den Be75

schwernissen des unmittelbaren künstlerischen Konsums auszusetzen. So wie aus undurchschaubaren Gründen ein Klassikerzitat dem Geübten in der Konversation den Ruf der geistreichen Verfeinerung einträgt, so erhöht sich für einen Salon die Nachfrage nach seinen Einladungskarten mit der Zahl und dem künstlerischen Handelswert der Meister, die er zu rekrutieren vermag. Denn daß sie lediglich als Statisten der aristokratischen Kulturpolitik und nicht als Personen willkommen, d.h. gesellschaftlich akzeptiert sind, das bemerken die Künstler bisweilen schon daran, daß sie ins Haus der Herzogin von Guermantes ihre Frauen nicht mitbringen dürfen, gewiß aber sobald sie sehen, wie die Salongeselligkeit ihnen das Schisma von Person und künstlerischer Tätigkeit aufbürdet. Wenn auch das Verhalten der Mme de Guermantes gegenüber ihren geladenen Künstlern direkt von gesellschaftlichen Regulativen gesteuert wird (nur völlige Anpassung gewährt diesen auch völlige Anerkennung), so zeigt sich in dem Zwang, der sie in der Konversation alle intimen Aspekte der künstlerischen Praxis aussparen läßt, die Moral ihrer Klasse nur vermittelt. Ihre Ausweichmanöver entspringen einem ähnlichen Verdrängungsimpuls wie die Reflexe der Mme Verdurin beim Anhören von Musik. Diese, nach Adornos Typologie eine Repräsentantin des „emotionalen Hörens", 36 weicht zwar dem künstlerischen Erlebnis der Kammermusikabende, die sie selbst veranstaltet, nicht aus, aber, ohne intellektuelle Kennerschaft, schlagen bei ihr die durch Musik erregten, sonst verdrängten Affekte in solch unangenehmen nervösen Reaktionen durch, daß sie sich an ihren Migräne-Tagen unter keinen Umständen den Belastungen des Tristan-Vorspiels (in Klavierfassung) auszusetzen wagt oder daß sie den psychosomatischen Krisen, die gewöhnlich bei ihr das Vinteuil-Septett auslöst, durch rechtzeitige Inhalationen von Rhino-Goménol vorbeugen muß. Die seelische Hemmung, die solche Reaktionen auslöst, scheint jedoch kaum von der reinen Sorge vor den Wirkungen der eigenen Emotionalität eingesetzt, sondern bildet den unbewußten Widerstand gegen jene Form einer affektiven Abfuhr, wie sie von nahezu allen weiblichen Hauptgestalten in Prousts Roman latent oder manifest vorgezogen wird, in der Art der Frauen Gomorrhas. Odette deutet an, daß Mme Verdurin zumindest unbewußte sapphische Neigungen hat (I 361), offen wird dieser Verdacht über Mme de Guermantes geäußert (II 207), deren eigenartiges Verhältnis zur Kunstpraxis diesen Überlegungen den Anlaß gab, aber auch die merkwürdige übermäßige Speichelbildung, unter der Mme de Cambremer zu leiden pflegt, sobald das Gespräch auf ästhetische Gegen-

36 Theodor W. Adorno, Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Hamburg 1968 (rde 292/3), S. 19.

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stände kommt (II 808), bildet ein ausdrucksvolles Indiz für die nur unvollkommen unterdrückte emotionale Abfuhrfunktion, die die Kunst in den Kreisen des höheren Bürgertums und des Adels hat. Und durch diese Beobachtungen angeregt, wird dem Leser auffallen, daß alle Gestalten, bei denen Vinteuils Musik, gleich ob sie an ihrer Reproduktion aktiv oder passiv beteiligt sind, besondere Spuren in ihrer Erlebnissphäre hinterließ oder die in näherer Beziehung zu dem Komponisten stehen, einen großen Teil ihrer seelischen Nahrung aus dem Boden des Proustschen Sodom und Gomorrha saugen: Odette, Albertine und Morel gestanden ihre Beziehungen mehr oder weniger offen ein, ebenso Vinteuils Tochter, aber auch Gilberte scheint ihren Schatten in diese verrufene und verdrängte Welt zu werfen, denn Marcel sah sie einst mit der als Junge verkleideten, sapphisch hocherfahrenen Mlle Lea; und ihr Vater, Swann, ist der erklärte Freund von Charlus, und wie der Baron (II 19) zeigt auch er sich von dem vertraulichen Augenzwinkern Cottards erschreckt (II 202), das eines der Erkennungszeichen der Bürger Sodoms ist. Die aus diesen Bemerkungen in ihrer psychologischen Voraussetzung und Tragweite nur kurz belichtete Aufspaltung des Künstlers in eine produktive Person und einen gesellschaftlichen Rollenträger ist eines der Hauptthemen des Romans. Swann fühlt sich außerstande, Vinteuils Musik, die er zum erstenmal hört, mit dem ihm bekannten Mann gleichen Namens in Zusammenhang zu bringen: Der biedere Bürger und der Schöpfer eines solchen tief bewegenden Wohlklangs leben in Vorstellungsprovinzen, die weit auseinanderliegen. Allerdings spiegelt sich in dieser leichten Komplikation von Swanns Einbildungskraft, die bei aller Verfeinerung nur in den Schemata, über deren Reinheit die Gesellschaft wacht, zu spielen vermag, das reale Leid des Komponisten. Vinteuil ist von akutem Wahnsinn bedroht, und der Name dieser Heimsuchung, „aliénation mentale" (I 214), verbirgt nur unzureichend, daß sich hier die seelischen Folgen der Selbstfremdung einer Person - ihre soziale Rolle und ihre künsterlische Artikulation haben nämlich keine Berührungspunkte mehr — in Form einer Psychose einstellen. Elstir dagegen wird aus dem Salon der Mme Verdurin verbannt, weil sich mit seiner künstlerischen Entwicklung auch eine menschliche Veränderung eingestellt hat, die aus dem kindlichen M. Tiche eine für den auf strenge Solidarität der Beschränktheit verpflichteten Kreis unerträgliche Persönlichkeit werden ließ. Die Gefährdung, die man unbewußt in seiner Kunst registriert, hat dann auch Mme de Guermantes dazu veranlaßt, Elstirs Bilder, die sich in ihrem Besitz befinden, nicht in ihrem Salon, sondern in einem besonderen Kabinett aufzuhängen. Welcher Art diese künsterlische Bedrohung ist, geht andeutungsweise aus einer der Bildbeschreibungen hervor, die Marcel bei der Besichtigung, die ihn völlig ins Träumen geraten läßt, liefert: 77

Je reconnaissais encore un aspect. . . dans quelques aquarelles à sujets mythologiques, datant des débuts d'Elstir et dont était aussi orné ce salon. Les gens du monde „avancés" allaient „jusqu'à" cette manière-là, mais pas plus loin. Ce n'était certes pas ce qu'Elstir avait fait de mieux, mais déjà la sincérité avec laquelle le sujet avait été pensé ôtait à sa froideur. C'est ainsi que, par exemple, les Muses étaient représentées comme le seraient des êtres appartenant à une espèce fossile mais qu'il n'eût pas été rare, aux temps mythologiques, de voir passer le soir, par deux ou par trois, le long de quelque sentier montagneux. Quelquefois un poète, d'une race ayant aussi une individualité particulière pour un zoologiste (caractérisée par une certaine insexualité), se promenait avec une Muse, comme, dans la nature, des créatures d'espèces différentes mais amies et qui vont de compagnie. Dans une de ces aquarelles, on voyait un poète épuisé d'une longue course en montagne, qu'un Centaure, qu'il a rencontré, touché de sa fatigue, prend sur son dos et ramène. (II 421f.)

Welche Kühnheit ist es, die auch die fortgeschrittenen Kunstliebhaber diese Darstellungen als Grenze empfinden läßt und die die Bilder gar in einen Nebenraum des Hôtel de Guermantes verschlägt? Da der Betrachter so detailliert die charakteristischen Züge der Aquarelle beschreibt, wird für den Leser in den mythischen Szenen die Allegorie einer friedlichen Gesellschaft völlig anschaulich. Mag dabei noch die Freundschaft der verschiedenen Tierarten untereinander eine erträgliche Vorstellung abgeben, so bietet doch die Erscheinung des Dichters in dieser Edenlandschaft einer legendär gewordenen Vergangenheit einen Eingeborenen an, der Befremden auslösen muß. Zwar scheint dieser Musensohn angesichts der Tatsache, daß auch die Musen selbst, sonst abgerissene Gestalten in der Spießermythologie des Künstlerwesens, noch in einem phylogenetischen Frühstadium stecken, ein kaum gefährlicher Debütant zu sein, aber seine Geschlechtslosigkeit harmoniert mit der Freundschaft aller in einem höchst beängstigendem Maße. Es ist zudem in diese Bilder einer Paradieslandschaft, unter deren mythischen Einwohnern die Unterschiede aller (Tier-) Klassen und der Geschlechter aufgehoben scheinen, eine Botschaft des Glücks gemischt, die allerdings nur einem weit fortgeschrittenen Bewußtsein kein Unbehagen bereitet. Freilich zeigt die Verfallsgeschichte des Hôtel de Guermantes, die verknüpft ist mit der allmählichen Enthüllung einer sehr viel stabileren Gemeinschaft der Homosexuellen, daß man sich auch dort zunehmend mit den Phantasien Elstirs anfreundet: Jahre später sieht Marcel die einst verbannten Bilder im Salon hängen (III 582f.), wobei nicht deutlich wird, ob die neue Vorliebe, die Mme de Guermantes für diese Bilder zeigt, nur teilweise oder ausschließlich mit deren stark gestiegenem Handelswert zusammenhängt. Auch der dritte Träger der Proustschen Erfahrung von der Degradation des Künstlers unterliegt der qualvollen Aufspaltung in eine repräsentative Person, die die Gesellschaft integriert, und den Träger einer produktiven Botschaft, welchen man seiner subversiven Geisteshaltung wegen unterdrückt. Bergotte 78

wurde in die von Norpois geführte Wiener Botschaft ohne seine Begleiterin eingeladen, weil man ihn lediglich als „Repräsentanten Frankreichs" sehen wollte. Norpois widerspricht diesem Prinzip jedoch in praxi: Sein Urteil über den Schriftsteller ist nämlich nichts als eine modifizierte Verurteilung der gesellschaftlichen Person. Seine Wertbildung liest sich als eine vom Erzähler glanzvoll montierte Parodie auf die literarische Methode Sainte-Beuves, die Proust auch in seinem Essay über den längst verstorbenen Literaturpapst einer scharfsinnigen Kritik unterzogen hatte. Und es ist eine Geistesverwandtschaft in der ästhetischen Anciennität, die Norpois mit Mme de Villeparisis zusammenführt, denn die Naivität ihrer literarischen Geschmacksbildung verbindet sich mit dem bornierten Pragmatismus des Diplomaten zur reinen Synthese der überalterten Salonkultur (I 721 f.). Dagegen gelingt es Marcel, trotz seiner Enttäuschung angesichts des realen Bergotte, der ganz und gar nicht mit seiner Idealvorstellung vom „doux chantre aux cheveux blancs" übereinstimmt, dessen Art Konversation zu machen mit dem überaus bewunderten Stil der Bergotte-Prosa in Einklang zu bringen. Diese Übereinstimmung wird später wiederum als Folge des im Alter entwickelten „asozialen" Lebensstils Bergottes erklärt. Gewiß entfaltet sich mit diesem Thema der Differenz zwischen der gesellschaftlichen Person und dem schöpferischen Geist eine Proustsche Grundübeizeugung, wie E. Köhler hervorhebt. 37 Doch hat sich darin die gesellschaftliche Erfahrung niedergeschlagen, daß sich an dem Gegensatz von sozialem und ästhetischem Wesen eine viel weitergehende und allgemeiner gültige Aufspaltung der Menschen überhaupt darstellen läßt. Denn diese Erfahrung wird mit der Analyse ihrer Ursachen zusammengeblendet: Jene unüberbrückbare Kluft zwischen Künstler und Gesellschaft entsteht zunächst dann, wenn sich die literarische Produktion nicht mehr repräsentativ vollzieht, wenn der Autor die Ideologie der sozialen Klasse, die ihn trägt, seiner ästhetischen Formgebung nicht mehr einverleibt und sich stattdessen kritisch und subversiv gegenüber Herrschaft und Ethik dieser Klasse verhält. Diese wird, ihren kulturellen Usancen zunächst treu, die künstlerischen Produkte noch konsumieren, aber sich ihrem Gehalt gegenüber abweisend verhalten. Freilich treibt auch den Künstler keine nonkonformistische Grille aus seinen sozialen Bezügen, sondern er unterliegt bevorzugt dem Entfremdungsprozeß, den die Gesellschaft unbewußt steuert, indem sie ihre Beziehungen nach den Gesetzen des Marktes „ordnet". Die Dichotomie von Gebrauchs- und Tauschwert der Arbeitsprodukte, wie sie in der Lukàcsschen Theorie der Verdinglichung, 38 im 37 Erich Köhler, Marcel Proust, Göttingen 1958; S. 15f. 38 Georg'Lukacs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Neuwied, Berlin 1970 (Sammlung Luchterhand 11); S. 170ff.

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Anschluß an Marx ihre ökonomische Grundlegung erfährt, findet im Bewußtsein der Menschen ihren Niederschlag als Selbstentfremdung: Sie begegnen in sich einer gesellschaftlichen Wertgröße, die ihren Tauschwert fur Konversation und Einladungshandel begründet, und einer von dieser verdeckten und nur unvollkommen beherrschten realen Person, in der das Selbstwertgefuhl beschlossen liegt. Dieser im Tauschprozeß irrelevante Teil, die wertvolle, aber nicht voll bewußte wesenhafte Subjektivität, blitzt nur bisweilen durch die fadenscheinigen Stellen der gesellschaftlichen Maskierung hindurch. Für die Künstler Prousts wiederholt sich im Sozialisationsvorgang, dem sie die Kulturgesellschaft des Salons unterzieht, eine Erfahrung ihrer psychischen Biographie, nämlich in einen akzeptierten und einen nicht akzeptierten Teil auseinandergerissen zu werden. Vom menschlichen Wesen des Künstlers nehmen die Götter, Heroen und Satyrn der Salons nur das produzierende Ich an, den Hersteller äußerlich vorzeigbarer kultureller Güter. Und von diesem gilt auch nur die realitätsgerechte Repräsentanz, die völlige Abstraktion, die sich im Gespräch ebenso nichtssagend darstellen muß wie alle anderen auch. Dagegen übersehen sie das produzierte Ich, dessen Schönheit und Reichtum sich eigentlich in den Inhalt der ästhetischen Form ergossen hat. Der Schriftsteller, der um 1900 noch glaubte, im Schöße der Bourgeoisie seinen sozialen Nährboden zu finden, sieht sich dort in der gleichen Weise aufgespalten wie durch die Autoritäten der eigenen Familie, als er in einem schmerzlichen Vorgang während der frühen Kindheit lernen mußte, einen Teil seiner selbst als unbrauchbar zurückzuweisen. Und auch damals, so reklamiert er bereits unbewußt, zwang man ihn ebenfalls, seine besten und edelsten Vermögen aus seinem Alltagsschicksal herauszulösen. Jener halbvergessene ödipale Konflikt, der ja nur die Urerfahrung einer langen Reihe von inneren Selbstbeschneidungen bildete, wird im Konflikt des künstlerischen Wesens mit den Rezeptionsinstanzen der eigenen Klasse aktualisiert, und diese Homologie der Erfahrungssituationen, daß stets nur ein äußeres, reduziertes Ich gegenüber einem wahren, umfassenden und zur Entfaltung drängenden Ich bevorzugt wird, bereitet jenes regressive Verhalten vor, das alle bedeutenden Künstler-Gestalten Prousts an den Tag legen: Die Beschwörung der verdrängten kindlichen Erfahrungswelt und ihre Legitimation als das wahre individuelle Realitätsprinzip im äschetischen Produkt. Und je weiter diese Menschen durch Regression aus dem kollektiven Bewußtsein desertieren — hierbei stellen sich auch regressive libidinose Verhaltensweisen ein —, um so weniger symbolisch und um so unbefangener nehmen sich ihre Gestaltungen der verdrängten Kindheitsempfindungen und -phantasien aus: Bergottes, Elstirs und Vinteuils Biographien spiegeln hierin die persönliche Entwicklung Marcel Prousts und beleben den 80

Horizont ihrer historischen Gültigkeit. Wenn das Subjekt die Einheit des gesellschaftlich zerrissenen Wesens nicht mehr zu konstituieren vermag, so gelingt es dem Künstler immerhin, die ästhetische Ahnung davon einzufangen und auf diesem Wege nicht nur den subjektiven, sondern auch den gesellschaftlichen Prozeß einer Reintegration in Gang zu setzen. In welchem Maße der Erzähler selbst in jenen Entfremdungsprozeß hineingetrieben ist und daß er mit seiner Aufspaltung von literarischer Öffentlichkeit und privater Kunstpraxis keineswegs seinem persönlichen Bedürfnis nach Absonderung nur eine äußere Legitimation verpaßte, dies läßt sich daran ablesen, daß sich alle seine wichtigen Bemerkungen zum künstlerischen Schaffen und dessen Rezeption in Bildern und Begriffen gesellschaftlicher Beziehungen kristallisieren. So fühlt sich der Erzähler der Recherche beispielsweise von einer besonderen Glücksempfindung überrascht, als er über der Lektüre seiner gedruckten Figaro-krtikû erkennt, daß er sich damit trotz seiner fortschreitenden Hinfälligkeit ein Medium geschaffen hat, um mit seinen Freunden eine Verbindung aufrechtzuerhalten, „ . . . pour avoir encore par là accès auprès d'eux, pour leur parler entre les lignes, les faire penser à mon gré, leur plaire, être reçu dans leur coeur" (III 571). „Etre reçu" ist die bekannte Formel des gesellschaftlichen Schätzwertes, die in der literarischen Beziehung zu Freunden ihren negativen Akzent verliert. Aber so wie der Schreibende sich hier seinen Freunden lebendig erhält, so begreift Proust in dem Essay Sur la lecture auch das Verhältnis des Lesers zum Schriftsteller grundsätzlich als „Freundschaft": . . . la lecture est une amitié. Mais, du moins, c'est une amitié sincère, et le fait qu'elle s'adresse à un mort, à un absent, lui donne quelque chose de désintéressé, de presque touchant. C'est, de plus, une amitié débarassée de tout ce qui fait la laideur des autres. (PeM 262)

Diese Freundschaft vollzieht sich in der gleichen idealen Atmosphäre des schweigenden Einverständnisses, die Marcels Verhältnis zur Großmutter umgab: „L'atmosphère de cette pure amitié est le silence, plus pur que la parole . . . le silence ne porte pas, comme la parole, la trace de nos défauts, de nos grimaces." (PeM 263), aber diese entscheidende Qualität gewinnt sie allein daraus, daß ihr alle Brüche und Intermittenzen des gesellschaftlichen Getriebes erspart blieben: Entre la pensée le l'auteur et la nôtre il n'interpose pas ces éléments irréductibles, réfractaires à la pensée, de nos égoïsmes différents. Le langage même du livre est pur (si le livre mérite ce nom), rendu transparent par la pensée de l'auteur qui en a retiré tout ce qui n'était pas elle-même jusqu'à le rendre son image fidèle; chaque phrase, au fond, ressemblant aux autres, car toutes sont dites par l'inflexion unique d'une personnalité; de là une sorte de continuité, que les rapports de la

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vie et ce qu'ils mêlent à la pensée d'éléments qui lui sont étrangers excluent, et qui permet très vite de suivre la ligne même de la pensée de l'auteur, les traits de sa Physiognomie qui se reflètent dans ce calme miroir. (PeM 2 6 3 f . )

Jene Einsamkeit, in der sich nach Prousts Ansicht allein die Bewegung des Geistes vollziehen kann (I 907) und der gegenüber alle Konversation als Vollzugsweise der Freundschaft zur „divagation superficielle" herabsinkt, kleidet sich jedoch an anderer Stelle in die Metapher einer „vie de salon mentale" (I 579), und darin treten wieder die Elemente eines Literaturverständnisses zusammen, die Prousts Roman zur Anschauung einer frei kommunizierenden Gesellschaft werden lassen. Die Idealisierung der regressiven Erzählgeselligkeit, welche die Recherche verwirklicht, versteht sich als die dialektisch umgeschlagene rudimentäre Geselligkeit in den Salons des Faubourg. Aus ihrer Anschauung zieht der Verfasser die Kraft zum Verzicht auf alle ihre Möglichkeiten. Freilich bietet die Kunstleistung Prousts kein Dokument eines hochgemuten Idealismus, der sich nur tapfer gegen die Beschädigungen seiner Zeit auflehnte und ein realitätsfremdes Ideal konservierte. Ein Satz aus dem Contre Sainte-Beuve skizziert deutlich d e psychologischen Voraussetzungen dieses dialektischen Umschlags, den die epische „vie de salon mentale" sichtbar macht und reflektiert: . . . un livre est le produit d'un autre moi que celui que nous manifestons dans nos habitudes, dans la société, dans nos vices. (CSB 137)

Der Roman berichtet nämlich auch von einer Welt, die sich innerhalb oder unterhalb dieser in den Marktbeziehunjen zerbrechenden Salongesellschaft entwickelt, einer Welt, auf der zwar der Fluch des „Lasters" und der sozialen Diskriminierung ruht, deren partielle Identität mit der Sphäre der Kunst jedoch in vielen Anzeichen Beweiskraft gewinnt: Sodom und Gomorrha. Die Verbindungen, die Vinteuil mit dieser verruchten Landschaft unterhält, sind vielfach bezeugt, aber ebenso werden Bergotte (I 558) und Elstir (I 202) in der Genossenschaft des „vice" beobachtet. In den Beziehurgen der Bewohner dieser Region mit ihren subversiven Praktiken haben sich jedoch Spuren der ursprünglichen Güte und Liebe erhalten, wie sie einst das Paradies den Menschen beschert hat und wie sie Marcel aus der Zärtlichkeit seiner Mutter-Großmutter als Nektar und ambrosische Alltagsspeise genießen durfte. Die Kommunikationsbahnen, auf denen die Menschen von Sodom und Gomorrha miteinander verkehren, folgen nicht allein den Nebenstraßen ihrer von Verdrängungen und einem deformierten Gewissen geregelten Geschlechtsbeziehungen, deren Geschlechtlichkeit nicht einmal ihr Spezifisches ist, sondern sie verlaufen über die gleichen Trassen, die die geheimen Verständigungssysteme der Kunst in das Gelände der gesellschaftlichen Isolation 82

gezogen haben: Die aktiven und passiven Künstlergestalten halten sämtlich in irgendeiner, sei es auch nur verborgenen oder unterdrückten Weise Verbindung mit dieser Welt. Wenn gegen Ende des Romans auch andere weniger repräsentative Gestalten ihre Zugehörigkeit zur Familie der Uranisten offenbaren — der junge Marquis de Cambremer, der Prince de Foix, M. de Châtellerault, Baron de Vaugoubert, M. d'Argencourt - , so zeigt sich eben darin, daß viele unter der Maske der Wohlanständigkeit „verbotene Pfade" gegangen sind. Es wird zugleich deutlich, unter welchem Lügengespinst und mit welchem Aufwand an Unaufrichtigkeit diese nun zusammengebrochene Gesellschaft ihre Selbsterhaltung betrieben hat. Ihre Sicherheit beruhte auf einem extremen Zwang zur Gefühlsunterdrückung, die wiederum ihre Kompensation suchte. Freilich verschwindet mit dem Alter auch die Fähigkeit zur Verdrängung, sowohl mit dem soziologischen Alter einer Gesellschaft wie mit dem physiologischen Alter ihrer Repräsentanten. Proust hat beide Prozesse ineinander verschlungen. Offenbar wird dies aber erst anläßlich Marcels letztem Besuch im Salon der Mme de Guermantes: Bei allen Gestalten hat sich mit der Zahl der Lebensjahre ein physiognomischer Prozeß verstärkt, der in ihren einst von der Qual der Triebbeherrschung gezeichneten Zügen plötzlich neue Horizonte aufbrechen läßt. Am Beispiel des M. d'Argencourt erkennt der Erzähler: La bonté, la tendresse, jadis impossibles, devenaient possibles avec ces joues-là (III 925).

Denn daß Sodom und Gomorrha eine gespaltene Welt der Zärtlichkeit ist, dies scheint bei allem Zwielicht, das darin herrscht, unbezweifelbar Prousts Botschaft; in ihr ist eine Ahnung von der Wiederkehr aller jener Erlebnisse enthalten, die Marcel in der Kindheits- und Paradieseswelt Combray unverlierbar aus den Händen seiner Mütter gewann: „les vrais paradis sont les paradis qu'on a perdus" (III 870), heißt das resignierte Resümee des Erzählers. Die Strafe, die über Sodom und Gomorrha hereinbrach, steht in Vialogie zur Vertreibung aus dem Paradies. Proust erweitert sie zur Alle?cr>e menschlicher Selbstdeformation; das verlorene Paradies als verlorenes dies nämlich ist sein Sodom und Gomorrha.

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VII Ursprung und Wirkung der subversiven Ästhetik

Aus der bislang erfolgten Argumentation, den Ordnungsakten am Erfahrungsmaterial, das die Handlung der Recherche ausbreitet, der Kritik zur damit verwobenen Botschaft des Erzählers und aus den analytischen Proben zum Intérieur seiner Psyche fügte sich die imago eines Verständnisses für die literarischen Operationen des Romans zusammen, deren Perspektiven wiederum den Blick darauf lenken, daß auch die wichtigen Elemente der Kunstproblematik im Grunde nur versprengte Aufbaustücke zum Kultbild von Marcels Großmutter darstellen. Mit ihrem Lächeln und ihren todesmatten Zügen herrscht sie freilich über einen Komplex, in dem sich zwar kompositorische und kunstphilosophische Fragen zusammendrängen, aber diese zeigen sich ihrerseits abhängig von der psychologischen Fragestellung, wie sich die sichtbaren Triebkräfte mit dem weniger bewußten Hintergrund der künstlerischen Motivation verbinden. Daß sich nämlich das Selbstverständnis des Erzählers und seine unbewußten Motive nur partiell decken und bisweilen weit auseinanderstehen, das zeigt ein Traum (II 760ff.), der in der Rätselhaftigkeit seiner vielen Haupt- und Nebenmotive alle Merkmale eines real vorgefallenen und erinnerten Ereignisses aufweist. Thematisch gehört er in den Rahmen des bereits von Beckett hochgerühmten Kapitels „Les intermittences du coeur", welches das Wiederaufstehen der Großmutter im Bewußtsein Marcels dramatisiert und zugleich alle Winkel seines gequälten Gewissens ausleuchtet, weil er die Erinnerung an die geliebte Frau immer wieder über lange Strecken hinweg verliert. Wenn ihm auch bewußt ist, daß der Mechanismus des Vergessens mit seiner Jagd nach der Liebe anderer Menschen zu tun hat, so bleibt ihm doch die Einsicht verschlossen, daß seine sehnsuchtsvollen Projektionen, mit denen er diese Frauen und Mädchen überzieht, lediglich die Transfusion des großmütterlichen Bildes in eine andere Form versuchen. Mit einer Allegorie des Traumprozesses, der eine tiefe Einsicht in dessen Ökonomie verrät, leitet der Erzähler seinen Bericht ein: Der Träumende durchmißt die geheimnisvoll erleuchteten Gefäße seines Inneren. In dieser Unterwelt bewegt er sich auf den dunklen Fluten des eigenen Blutes wie 84

- auf einem Lethefluß. Und dank der dort aufgehobenen Zufälle des Gedächtnisses begegnet der Träumende bekannten vergessenen Gesichtern, die ihm wie lebendig gewordene Tote erscheinen; welches Gesicht Marcel in der Unterwelt seines Bewußtseins sucht, steht außer Frage: Je cherchai en vain celle de ma grand'mère dès que j'eus abordé sous les porches sombres; je savais pourtant qu'elle existait encore, mais d'une vie diminuée, aussi pâle que celle du souvenir; l'obscurité grandissait, et le vent; mon père n'arrivait pas qui me devait conduire à elle. Tout d'un coup la respiration me manqua, je sentis mon coeur comme durci, je venais de me rappeler que depuis de longues semaines j'avais oublié d'écrire à ma grand'mère. Que devait-elle penser de moi? „Mon Dieu, me disais-je, comme elle doit être malheureuse dans cette petite chambre qu'on a louée pour elle, aussi petite que pour une ancienne domestique, où elle est toute seule avec la garde qu'on a placée pour la soigner et où elle ne peut pas bouger, car elle est toujours un peu paralysée et n'a pas voulu une seule fois se lever! Elle doit croire que je l'oublie depuis qu'elle est morte; comme elle doit se sentir seule et abandonnée! Oh! il faut que je coure la voir, je ne peux pas attendre que mon père arrive; mais où est-ce? comment ai-je pu oublier l'adresse? pourvu qu'elle me reconnaisse encore! Comment ai-je pu l'oublier pendant des mois? Il fait noir, je ne trouverai pas, le vent m'empêche d'avancer . . . (II 760f.)

Eine Deutung des Traumes, von dem hier nur die Ausgangssituation zitiert wird, kann nur im doppelten Kontext des Romans und der Biographie Prousts erfolgen, die einander erklären. Zunächst sind zwei Momente festzuhalten: Der Traum verarbeitet das Material des zweiten Balbec-Aufenthaltes, in dessen Zusammenhang er erzählt wird, nämlich Marcels Skrupel und Trauer darüber, daß die Erinnerung an die Großmutter offenbar inneren Mechanismen unterliegt, die das Bewußtsein nicht zu steuern vermag und die er als Intermittenzen des Herzens, nämlich als physische und psychische Defekte erlebt. Die durch den Traum möglich gewordene Kahnfahrt auf dem Fluß der Vergessens soll auch eine Wiederbegegnung mit der Großmutter ermöglichen, und das Unwahrscheinliche gelingt: Sie wird als lebendig vorgestellt. Andererseits hemmen eine ganze Reihe von Hindernissen seinen Drang, sie zu sehen: Es wird immer dunkler, und der Vater, der ihn zu ihr führen soll, kommt nicht. Zudem hat Marcel die Adresse vergessen, und schließlich erschwert ein Wind jedes Vorwärtskommen. Und als der Vater schließlich erscheint, da läßt er sich nicht überreden, ihm den Besuch bei der Großmutter zu ermöglichen; angeblich hat auch er die Adresse vergessen. Diese Hemmungen des Träumenden und die vom Vater mehrfach, einmal sogar in Anlehnung an Marcels Gedächtnis-Störung, wiederholte Weigerung, den Besuch bei der Großmutter Wirklichkeit werden zu lassen, sie bilden ein so auffälliges zusammenhängendes Motiv, daß eine Deutung hier einsetzen muß: Erblickt man in der Großmutter ein im Traum verschobenes Bild der Mutter, denn ihre Identität in der Seele des Erzählers wird durch das epi85

sehe Motiv einer bis zur Verwechselbarkeit reichenden Ähnlichkeit (II 1129 f.) noch illustriert, so erschließt sich zur Analyse als offensichtliches psychisches Substrat des manifesten Trauminhalts die ödipale Konflikt-Situation. Nicht nur der Vater hindert Marcel daran, zur im Bett liegenden (Groß)Mutter — es ist überdies Abend — zu eilen, sondern auch sein eigenes in der Traumzensur aktives Gewissen. Die Folgen der Unterdrückung dieser libidinösen Bestrebungen zeigen sich im Traum fast unverhüllt: Der sexuelle Kern der Liebe zur Mutter rächt sich durch das Vergessen und durch deren Degradation zur „ancienne domestique" oder zur „vieille servante chassée". Diese Rachegedanken vermischen sich aber wiederum in anderen Elementen mit Gewissensskrupeln: Einmal ist nicht ganz deutlich, ob die Großmutter lebt oder tot ist; in der Projektion des Mutterbildes auf die (real tote) grand'mère erhält der Todeswunsch gegenüber der maman zwar ein flir die Traumzensur passables Gewand, dennoch versucht eine andere Bestrebung dem Vater immer wieder die Bestätigung zu entlocken, daß die Toten nicht wirklich aufgehört haben zu existieren, „ce n'est pas vrai que les morts ne vivent plus". Es bleibt undurchsichtig, ob der Traum nun real eine lebendige oder tote Mutter voraussetzt; daß sie aber in der Gestalt der Großmutter gemeint ist, geht unwiderleglich aus der ganzen Traumsituation hervor, die fast bis in alle Einzelheiten die Gestalt der konvertierten Kindheitsfrustrationen hat, die dem Leser unter dem Kapitel des Gutenachtkußdramas im Band Du côté de chez Swann vertraut sind: Die einsame, nur von einer Aufsichtsperson (= Françoise) betreute (Groß)Mutter ist zu dieser Abendstunde ans Bett gefesselt und wartet vergeblich auf die versprochenen Besuche Marcels und seine Zärtlichkeit. Und auch der Vater spielt die aus der Kindheit vertraute Rolle, da er den gefühlsinspirierten Wunsch, die Tränen des oder der im Bett Liegenden hinwegzutrösten, mit scheinrationalen Argumenten verhindert: Sollte damals Marcel abgehärtet werden, so ist hier die Großmutter zu schwach. Der eigentliche Traumgedanke freilich ist ein anderer: Das Problem des Schuldbewußtseins und die Möglichkeit, sich davon zu befreien. Daß sich dieser Gedanke im Rahmen der Rachephantasien entfaltet, ist eine aufschlußreiche Demonstration der Gefühlsambivalenz. Die darin konkurrierenden Affekte waren indessen so stark, daß sie auch das Bewußtsein Prousts vexierten. Die in den Degradationsgedanken und Todeswünschen aufsteigende düstere Kehrseite seiner Zuneigung und Liebe der Mutter gegenüber bildete fur Proust eine so bedeutsame Gewissensbelastung, daß er den Plan zu skizzieren begann, sich in einen besonderen Kapitel „Les mères profanées" davon Rechenschaft abzulegen. Warum dies nicht geschehen konnte, wird noch zu klären sein. 86

Die Schuldproblematik wird mitsamt der Perspektive der Erlösung davon bereits zu Beginn des Traumes deutlich entfaltet: Das Gewissen hatte sich in Form eines körperlich-seelischen Schocks gemeldet, der die Erlebnisspuren von Prousts Asthmaanfállen zu verarbeiten scheint, denn der Gedanke, daß er der Großmutter lange nicht geschrieben hat, kommt Marcel erst im Gefolge psychosomatischer Krisensymptome: „La respiration me manqua, je sentis mon coeur comme durci . . . " Die Wiederaufnahme und Fortsetzung des Schuldgedankens „Ich habe ihr lange nicht geschrieben", zeigt auch die Lösung. Der Vater erklärt nämlich, wie man die Großmutter über die ausbleibenden Lebenszeichen des Enkels hinweggetröstet hat: On lui a même dit que tu allais faire un livre. Elle a paru contente. Elle a essuyé une larme. (II 761)

Marcel schreibt und wird als Schriftsteller zum Tröster und Tränenstiller der (Groß)Mutter — kristallisiert sich in diesem Traumwunsch ein reales, wenn auch vielleicht unbewußtes Movens von Prousts Romanwerk? Eine solche These gewinnt Glaubwürdigkeit auch aus anderen Äußerungen, die zeigen, daß dieses Motiv doch ein gewisses Stück in das Bewußtsein des Erzählers ragt. Bereits in der Zeit, von der am Beginn des Bandes A l'ombre berichtet wird, setzt sich Marcel bisweilen an die schriftstellerische Arbeit mit der Absicht, der Großmutter zu gefallen: „ . . . ma grand'mère consolée et convaincue" (I 580); dies erscheint um so glaubhafter, als sie das einzige Familienmitglied ist, das Verständnis für Marcels literarische Geburtsschwierigkeiten zeigt. (Doch sein Thema kann sich erst mit dem Tod der Großmutter von ihm lösen: Die Enttäuschung über die Gesellschaft und das darin wiedergefundene Glück der Liebe zur Großmutter.) Und wenn diese sich über seine Unproduktivität enttäuscht zeigte, so verflog sogar der letzte Impetus zur Arbeit. Der Tod der (Groß)Mutter bildete also in doppeltem Sinne die Voraussetzung für den Beginn der Arbeit am Roman: Ihr Bild wird von allen Elementen der Wirklichkeit gereinigt und damit frei für seine Idealisierung; dabei sind der Libido im Aktionsraum der Dichterphantasie keine Grenzen mehr gesetzt. Den anderen Antrieb bildet das im Traum nur unmerklich verschleierte Schuldgefühl, den Tod der Mutter verursacht zu haben. So wie sich in den asthmatischen Anfällen die Ambivalenz der Seelenkonflikte zeigt, nämlich hysterische Abfuhr verdrängter Triebenergien und zugleich zwanghafte Selbstbestrafung, so wird der Roman zum Werk lustvoller Idealisierung und schmerzlicher Selbstreduktion. Der qualvolle Seelenkonflikt kann sich jedoch im Roman nicht adäquat widerspiegeln: Die in den Kindheitsphantasien profanierte Mutter kann nicht mit dem großmütterlichen 87

Idealbild konkurrieren. Dies ist der psychische Hintergrund der nicht ausgeführten „mères profanées"; die Kehrseite bildet das immer stärker hervortretende Schreibmotiv der Sühne. Der nur vom Traum erfüllte Wunsch erfahrt unterm Licht des Bewußtseins im Laufe der Zeit gewisse Abwandlungen. Das Element der Lusterfüllung in der Selbstbestrafung verschwindet. Nach der Peripetie ihres Todes möchte Marcel auf alle Vergnügungen des Lebens verzichten, zugunsten der einen, freilich unerfüllbaren Chance, „de diminuer les douleurs que ma grand'mère avait autrefois ressenties" (II 758) oder um wenigstens dieses Glück in der Erinnerung auf den Zügen der alten Dame wiederzufinden. Aber dieses Motiv, zu schreiben, um sich und die Großmutter zu trösten, wird immer wieder vom Zweifel überzogen, ob er dadurch wirklich eine Sühne für die Herzlosigkeiten leistet, deren er sich schuldig weiß: O puissé-je, en expiation, quand mon oeuvre serait terminée, blessé sans remède, souffrir de longues heures, abandonné de tous, avant de mourir! (III 902)

Volle Überzeugungskraft gewinnen diese Belege freilich erst, wenn gezeigt werden kann, daß sich das psychische Engagement der Motivation auch in der literaturtheoretischen Haltung Prousts niederschlägt und sogar bis in die epische Verfahrensweise hinein Spuren hinterläßt. Tatsächlich findet auch der in die Großmutter projizierte und von ihr praktizierte Begriff von Literatur, der nämlich den aufopferungsvollen Kult an den Mitmenschen fordert, so wie ihn die Briefe der Mme de Sévigné dokumentieren, in Prousts kunstphilosophischer Orientierung an den Schriften Ruskins ihre Bestätigung und Vertiefung. In der Abhandlung En mémoire des églises assassinées gibt Proust eine längere Passage aus Ruskins Schrift The two paths in eigener Übersetzung wieder, die sich auf jene lächelnde „goldene" Madonnenstatue am Südportal der Kathedrale von Amiens bezieht, die in der zugleich herangezogenen Bible of Amiens von Ruskin eine so große Rolle spielt und in der Proust, wie gezeigt, seiner eigenen Großmutter begegnete; diese Stelle lautet: Croyez-le, la première caractéristique universelle de tout grand art est la tendresse, comme la seconde est la vérité. Je trouve ceci chaque jour de plus en plus vrai; un infini de ter dresse est le don par excellence et l'héritage de tous les hommes vraiment grands . . . Je dis que le premier héritage est la tendresse - le second la vérité; parce que la tendresse est dans la nature de la créature, la vérité dans ses habitudes et dans sa connaissance acquise; (PeM 116f. Anm.)

Zärtlichkeit und Wahrheit bilden die moralischen oder seelischen Energie-

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quellen von Prousts Leben und, was hier hervortreten soll, seiner reproduzierten literarischen Existenz. Diese Haltung freilich beweist in einer entfremdeten Gesellschaft allzu großen asozialen Eigensinn, u m nicht bei seinen Biographen kritische Abwehr hervorzurufen. Dabei hat allerdings Jean Fretet vor allem das überaus wohlerzogene Bürschchen Marcel vor Augen gehabt, das zum Entzücken der bürgerlichen Damen so graziös und erwachsen seine Komplimente machen konnte, als er, vom gesellschaftlichen Habitus Prousts ausgehend, dessen einfallsreiche Liebenswürdigkeit und hochempfindliche Rücksichtnahme auf die Umwelt nicht ohne Ironie als Versuch der „rédemption par la b o n t é " 3 9 wertete. Gewiß läßt die erstaunliche Assimilationsfähigkeit, mit der sich der junge Proust den feinen Sitten anverwandelte, auf eine weniger ausgeprägte Ich-Struktur schließen; allerdings ist es nur wenigen Menschen vergönnt, bereits im zarten Alter den eigenen Sozialisierungsprozeß zu unterlaufen. Im übrigen entgeht dem Kritiker, der pauschal Prousts virtuose Anpassungsfähigkeit angreift, das immer stärker werdende parodistische Moment in dessen gesellschaftlichem Habitus: Von einem bestimmten Augenblick an dient dieses Verhalten nicht mehr der überzeugten Konformität, sondern der Tarnung im Dienst der subversiven künstlerischen Praxis. Eine analoge Entwicklung läßt sich auch beim Schriftsteller Proust beobachten, der zunächst fremden — gesellschaftlich anerkannten — Stilvorbildern verfiel und sich später auf dem Weg über die parodistische Angleichung an fremde Artikulationsweisen bemüht, seine unverwechselbare asoziale Individualität zu befreien. So erscheint es ganz selbstverständlich, daß die literarische Transformation der „tendresse" voraussetzt, daß diese sich zunächst gesellschaftlich mißbraucht sieht, und zwar in der Unförmigkeit der erstarrten Verkehrsformen, an denen man den Grad der Kultiviertheit eines Menschen abzulesen pflegt. Aus gleicher Ursache vollzieht Proust seine Auseinandersetzung mit Sainte-Beuves „Methode" auch auf zwei Ebenen zugleich, der literarischen und gesellschaftlichen. Denn Sainte-Beuves kritisches Verfahren beruhte auf seiner Anschauung der Salons im ersten Drittel des 19. Jhs., als die Mehrzahl der bürgerlichen Schriftsteller noch nicht in unüberbrückbaren Gegensatz zu ihrer sich emanzipierenden und die Herrschaft im Staat anstrebenden Klasse geraten war oder wo diese sich durch den Gegensatz zwischen ihren Absichten und der Form ihrer Rezeption nicht schon zu einer revolutionären oder subversiven 39 Jean Freiet, L'aliénation poétique. Rimbaud-Mallarmé Proust, Paris 1946, S. 223. Weniger ironisch als rassistisch jedoch nehmen sich die übrigen Bemerkungen in diesem Zusammenhang aus, auch wenn sie sich in die Scheingestalt eines Zitates kleiden: „Piaire, imiter, tirer profit. Dans ces caractères, quelques critiques ont cru reconnaître le génie juif" (S. 223).

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Kritik beflügelt sahen. Proust allerdings macht aus diesen Gegensätzen, die ihm aus seiner eigenen gesellschaftlichen Erfahrung vertraut wurden, eine ontologische Größe und predigt das unwiderrufliche Schisma zwischen dem „moi intérieur" und dem „moi extérieur" (CSB 137). So hat die „bonté", die in seinem Roman gefeiert wird, kaum mehr etwas zu tun mit guten Manieren oder auch nur jener „finesse d'esprit", die man in den Salons handelt. Hat nun Fretets ironische Bemerkung von der „rédemption par la bonté" doch den Wert einer ernstzunehmenden Erkenntnis, die sich einem Sachverhalt anschmiegt? Die Frage läßt sich zurückstellen, aber ihre Berechtigung erhärtet ein Wort, das Paul Morand von Proust überliefert hat: „On ne peut avoir de talent si l'on n'est pas bon" 4 0 . Allein hierin kristallisiert sich psychologisch die Hemmung, die den jungen, trägen und gesellschaftssüchtigen Marcel nicht zum Schreiben kommen läßt, und tritt zugleich die Triebkraft hervor, welche den hellsichtig aus der Gesellschaft zurückgekehrten Proust an die regressive Einsamkeit seines Schlafzimmers bindet. Denn dort wird er in umgekehrter Realisation jener Schuldvision des Traumes, der die Großmutter in ein kleines Bedienstetenzimmer eingesperrt zeigte, sich selbst in freiwillige Klausur begeben, um der von ihr repräsentierten Welt das an Zärtlichkeiten zurückzugeben, was seine in einer entfremdeten Gesellschaft desorientierte und verschlossene Person nicht in natürlicher Weise hatte aus sich herausfließen lassen können. Proust verwaltet aber auch noch ein anderes Existentiale der Großmutter und stimmt später sein ganzes Lebensgefühl darauf ab: Die Todesahnung und den damit verbundenen brennenden Wunsch, sich im Angedenken der geliebten Menschen zu erhalten. Aber wenn die Großmutter es noch leicht hatte und genau wußte, als sie während der Zeit in Balbec ein Photo von sich anfertigen ließ, welches nur ihre Gesichtszüge erhielt, daß sie Marcel damit gleichzeitig das Erbe ihres ganzen Wesens hinterließ, so ist diesem das Bewußtsein, keine Vertrauten mehr zu haben, zum Zwang erwachsen, das umfassende Bild seiner Person nur in dem reinen „miroir" (PeM 264) eines langen Buches der Nachwelt vermachen zu können. Prousts unermüdliche und unerschöpfliche „bonté", die sein früh entwickelter literarischer Ehrgeiz erst ausbeuten konnte, als er sich von jeder menschlichen Verpflichtung frei wußte, läßt sich auch in dem Roman, in den Aufbaukräften der Komposition und seines Stils, wirksam zeigen, wenn auch nur mit besonderem Scharfblick dafür, wie selbst gleichgültig scheinende Elemente mit persönlich gefärbter psychischer Energie besetzt sind. In ihrer an40 Notes de Paul Morand, in: Hommage à Marcel Proust (Les cahiers de Marcel Proust Nr. 1), Paris (NRF) 1927; S. 82.

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teiligen Herrschaft sichtbar wurden diese Kräfte bereits in den Kirchen, die wie reale Symbole höchster seelischer Erregung, aber auch der Sublimation in die Landschaft des Romans ragen. Freilich verzichtet diese sublimierte Erregung nicht auf ihre Ablösung, aber sie ist so transformiert, daß sie sich in der Gestalt von Zärtlichkeit abfuhren ließe. Dies ist aber nicht das Entscheidende. Auch Bäume können in bestimmten Konstellationen wie die Kirchen den unbewußt gesteuerten Mechanismus der Glücksbilder in Bewegung setzen. Stellen sie auch vergleichsweise primitivere und stärker sexuell eingefärbte Auslösungsbilder dar, so beruht ihre magische Wirkung auf der innigeren Verbindung mit der Erde. Diese stellt zusammen mit dem Meer Proüsts bevorzugten Bildbereich dar, und gemeinsam — nicht selten symbolisch ineinander übergehend — verleihen sie der Traumsphäre der „Mutterwelt" Gestalt. Es ließe sich ganz allgemein zeigen, wie die von der Mutterwelt-Nostalgia durchdrungene Psyche des Erzählers den Hauptaktionär seiner gesamten Metaphorik darstellt. Den biographischen Hintergrund dieser literarischen Auskleidung seiner Sehnsüchte findet der Leser in dem Band Du côté de chez Swann. Der durch die Gegend von Méséglise schweifende Marcel vermag dort seine seelischen Bedürfnisse nicht von seinen sinnlichen Erlebnissen zu trennen. Die Schönheit der Landschaft bleibt fur ihn unvollkommen, weil sie nicht zusammen mit der Liçbe zu einem Mädchen genossen wird; und der umgekehrte Ausdruck dieser Erlebniseinheit lautet dann so: Connaître à Paris une pêcheuse de Balbec ou une paysanne de Méséglise, c'eût été recevoir des coquillages que je n'aurais pas vus sur la plage, une fougère que je n'aurais pas trouvée dans les bois, c'eût été retrancher au plaisir que la femme me donnerait tous ceux au milieu desquels l'avait enveloppée mon imagination. (I 157)

Und die Erfahrungen des Erzählers im Laufe seines Lebens bestätigen diese Projektion seiner kindlichen Seele und erfüllen einige von ihnen: Seine Begierden, Wünsche und Sehnsüchte richten sich fast nie allein auf Frauen, sondern sie verbinden sich stets mit der Liebe zu den Landschaften, deren Formation und Klima sich ihrem Wesen entweder empirisch oder assoziativ zuordnet. Wie Gilberte der Normandie, Vinteuils Tochter Monjouvain, Mme de Guermantes der Graslandschaft entlang der Vivonne das Kolorit von Sehnsuchts- und Erlebnislandschaften geben, so gehören Albertine auf die Dünen von Balbec oder Mlle Stermaria in die Meeres- und Nebelregion der Bretagne, und sie alle empfangen aus dieser Umwelt einen Teil ihres Reizes in den Augen Marcels; zugleich erheben sie sich wie lokale Schutzgöttinnen (III 989) aus den einzelnen Provinzen seiner Biographie. Bezeichnenderweise 91

sind es allein Frauen, die in dieser Weise geheimnisvoll mit der Erde verbunden bleiben; die Männer finden ihren Nährboden in der entfremdeten Gesellschaft, die sie geformt haben und in der sie die Frauen und sich selbst um einen Teil ihrer Identität brachten. Abgesehen von der Welt Sodoms und Gomorrhas, die zwar die zärtliche, subversive Negation der Gesellschaft darstellt, ohne aber die Entfremdung zu überwinden, öffnet der Kosmos Prousts noch eine dritte Region, zu der vor allem die Verehrer Uranias und Sapphos den Zugang zu kennen scheinen: die Kunst. Sie bildet kein zusätzliches Reich im Sinne einer überirdischen Sphäre, in deren Flugschneisen sich nur eingeweihte oder hochstaplerische Piloten aufschwingen können, sondern sie ist eine vielfach mit der Wirklichkeit verschränkte Erlebnisform. Swanns gewiß auf umfassender kunsthistorischer Kennerschaft beruhende Neigung, in den Personen seines Umgangs verlebendigte Gesichter von Gemälden zu entdecken, unterliegt, soweit das sichtbar wird, keineswegs dem Zwang, sein Wissen gesellschaftswirksam anzuwenden, sondern ist Ausweis des Bedürfnisses und der Fähigkeit, die Bezauberung der Kunst in seinen Beziehungen zu anderen Menschen wiederzuerleben. Und daß in diesem, für manche befremdlichen Gebaren kein snobistischer Ästhetizismus aufquillt, sondern im Gegenteil sich der Anspruch durchsetzt, den Kult am Kunstwerk ohne Einschränkung auch auf Menschen zu übertragen, also das sowohl für die Kunst wie für die Menschen bisweilen unerträgliche Schisma von Kunst und Wirklichkeit zu überwinden, das führt seine Liebesgeschichte mit Odette eindrucksvoll vor Augen. Gewiß entpuppt sich Swann in seiner Werbung um die Zippora-Odette als allzu schüchterner und kontemplativer Geist, der die Lebedame beträchtlich verwirrt, aber die anfängliche Zartheit und verliebte Zurückhaltung Swanns, wenn sie auch später in dem Höllenmechanismus der Eifersucht zerbirst, liefert das Bild von der Möglichkeit der Liebe in einem Roman, der von ihrer Unmöglichkeit zu handeln vorgibt. Die Swann fiktiv zugesprochene Leidenschaft, in allen bekannten Personen magisch aus Werken der bildenden Kunst in die Wirklichkeit gestiegene Gestalten zu sehen, entspricht einer von Proust selbst zelebrierten Methode der Charakterisierung. Sie versteht sich zunächst als Hilfsmittel, die sukzessive Veränderung der Menschen durch eine schöpferische Gegenbewegung zu unterlaufen; und tatsächlich gewinnt die zerbrochene und in der Dissoziation wahrgenommene Wirklichkeit aus dieser Bezugssphäre der Kunst eine zweite Ordnung. Nahezu alle wichtigen Gestalten des Romans verdanken einen Teil ihrer Stabilität in dem epischen Prozeß der Veränderung solchen Vergleichen mit Protraits oder Gestalten aus Gruppen-Bildnissen 4 1 , an denen sich ihr ge41 Beispiele liefert Graham a.a.O.

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sellschaftlicher Rang ebenso abliest wie ihr Verhältnis zu dem Erzähler selbst. Denn diese Vergleichsbögen, die die Phantasie des Lesers durch die Galerien umleiten, dienen weniger der Illustration und Animation starrer Physiognomien als zur Veranschaulichung der Beziehung, aus der sie der Erzähler erlebt. Der ausgeführte Kunstvergleich kündet in der Gesellschaft der Fremden von einem Stück verarbeiteter Fremdheit, auch wenn es langer Zeit zur Vollendung bedarf: . . . je me dis que notre vie sociale est, comme un atelier d'artiste, remplie des ébauches délaissées où nous avions cru un moment pouvoir fixer notre besoin d'un grand amour, mais je ne songeai pas que quelquefois, si l'ébauche n'est pas trop ancienne, il peut arriver que nous la reprenions et que nous en fassions une oeuvre toute différente, et peut-être même plus importante que celle que nous avions projetée d'abord. (II 389)

Der Rückgriff auf fremde Bilder, in denen sich ein Teil der erlebten Person spiegelt, bietet dabei eine Erleichterung. Denn so sehr die einzelnen Bilder auch verschiedene Gestalten und Welten wiedergeben und ihre Einzigartigkeit von Stil und Formgebung den konventionell bestimmten künstlerischen Wert ausmachen, so hängen die verarbeiteten Kunstwerke doch, überzogen von Spuren der Aneignung, in dem gleichen Salon des Gedächtnisses. Sie sind dort abrufbar durch die entgegengesetztesten Empfindungen, aber werden doch durch die Art der Aufbewahrung zu Repräsentanten einer Schicht der Personen, in der sich der Reich tum der Erlebnisse zur Befestigung der Identität auszahlt. Kunst, vor Jahrhunderten noch Ausdruck des kulturellen Selbstbewußtseins einer einheitlichen sozialen Gruppe, dient jetzt nur dem isolierten bürgerlichen Individuum als Mittel, um die Menschen einer auseinandergebrochenen Gesellschaft wenigstens noch als einer gemeinsamen Spezies zugehörig zu erleben. Die Vertrautheit mit der Großmutter drückt sich negativ darin aus, daß die Beziehung zu ihr nie in einem Kunstvergleich aufgefaßt und gesichert zu werden braucht; dagegen bieten die Wendungen, in denen Saint-Loup oder Mme de Guermantes nicht nur mit abgebildeten Personen übereinandergleiten, sondern schlechthin als Kunstwerke vorgewiesen werden, metaphorische Kristallisationen des erst erworbenen Vertrauens in die Güte und Schönheit ihrer Charaktere. Und dieses Vertrauen zehrt von dem Erlebnis der Identität — und sei diese auch nur zeitlich begrenzt — von Ethos und Gebaren, von Innen und Außen der Person: Hinter Roberts zartfühlendem und aufmerksamen Benehmen glaubt Marcel die konstituierende Einheit des Freundes gleich der Harmonie eines Kunstwerks zu gewahren (I 767), ebenso wie in der Abschiedsgebärde der Mme de Guermantes Anmut und Güte zur vollendeten Schönheit eines Meisterwerks zusammentreten (II 144f.). Die Vertrautheit mit der

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Großmutter bildet eine so elementare Erfahrung, daß sie auch nicht in deç Auffácherungen einer intensiven Bildsprache erinnert und wiedergefunden zu werden braucht; vielmehr steht das reale Bild dieser Frau in seiner erlebten Farbigkeit im Hintergrund aller jener Attraktionen, deren Künstlichkeit eben nur Abfallformen ihrer Natur sein können. Das lächelnde zärtliche Gesicht der Großmutter wird einfach als „beau" bezeichnet, und darin gibt sich eine der Quellen des Proustschen Schönheitskultes zu erkennen, der sich auch als Ästhetik der menschlichen Beziehungen begreifen läßt. Denn „Schönheit" in diesem Sinne heißt das Ideal einer gegen die Zeit und ihre gesellschaftliche Ausformung projektierten Menschenwelt, ihrer Anthropologie, Psychologie und Soziologie. Schön ist darum nicht ein Prädikat der Kunst oder der Natur, sondern das Wesensmerkmal einer Vollkommenheitsvorstellung von den Menschen und ihren Beziehungen, deren Sinnbilder und anschauliche Analogiefiguren fast allein der Natur und der Kunst zu entnehmen sind. Gewiß kämpft Marcel selbst bisweilen mit seiner eigenen mystischen Neigung, die Naturschönheit als Betäubungsmittel zu konsumieren; so empfindet er in Balbec angesichts eines berauschend schönen Frühlingstages Angst, daß sich dieses Bild über die Erinnerung an die Großmutter legen könnte. Aber der Hinweischarakter aller Naturelemente, ihre Funktion, das thematische Zentrum des Romans — die Beziehungen der Menschen zueinander - aufzubauen, gerät dadurch nicht ins Zwielicht. Nimmt man die verläßlichen Angaben Grahams 42 zur Grundlage, so stellen Bildelemente aus dem Bereich der Natur nach solchen literarischen Ursprungs mit rund einem Viertel die größte Gruppe unter den Tropen dar, während Naturschilderungen thematisch und erzählerisch einen viel geringeren Raum einnehmen. Insgesamt liefern die in dem angedeuteten Sinne miteinander verbundenen Felder Natur, Naturwissenschaft, Literatur und Kunst beinahe dreiviertel des gesamten Bildmaterials im Roman. Der statistische Aspekt öffnet dem Verständnis wichtige Leitlinien: Prousts Stil ist weder lediglich ein „Präzisionsinstrument der Erkenntnis", das Curtius an ihm rühmt' 0 , als wären die Vergleichsmittel in völliger intellektueller Neutralität gewählt, lediglich um den Sachverhalt zu klären und nicht um ihm auch — bewußt oder unbewußt — ein wenig die Färbung des gewählten Analogiemoments beizumischen. Andererseits reicht der Konnex auch nicht so tief, daß eine weitgehende Identifikation zwischen den Vergleichspartnern einträte, wie es die Beckettsche These, Proust erlebe die Menschheit als Flora 4 4 , wahrhaben möchte. Denn einem solchen Bewußtsein erschie42 Graham a.a.O. 43 Ernst Robert Curtius, Marcel Proust, in: Französischer Geist im 20. Jahrhundert, Bern München 3 1965, S. 274-355; S. 311. 44 Beckett a.a.O.

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nen die Repräsentanten der amoralischen, dem Verfall preisgegebenen Gesellschaft in einem Status organischer Schönheit. Ein solches Amalgam, das verschiedenste Elemente, geschichtliche Dialektik und vegetative Geschichlslosigkeit, zusammenschmilzt, ohne daß beide Elemente sich veränderten, wäre doch eine eigenartige Legierung. Die Synopsis von Gesellschaft und Natur, die Assimilation der Gestalten mit ihrem metaphorischen Begleitzug betreffen und verändern beide Bereiche, in ihr tritt die Veränderung des Autors selbst hervor. Prousts literarische Bildführung wird weder in der Analogie zu einem hochentwickelten Werkzeug recht begriffen noch in der zu einem Stereoskop oder zur Laterna magica eines Blumenfreundes. In der Dialektik von Inhalt und Form findet nur ein Antrieb seinen Arbeitsplatz: Die subversive Ästhetik des Romanciers. Tatsächlich verstehen sich Prousts Stil, ihr Duktus und die Observanz bei der Beschreibung der Details, zunächst am einfachsten als seine literarisch umgesetzte subversive Kritik, als Abbild seiner „bonté" und variables Instrument seiner „tendresse". In die Beharrlichkeit seiner Kontemplation ist der ganze Überschuß früherer Affekte sublimiert eingebracht. Schon die erzählerischen Selbstzeugnisse zum eigenen literarischen Verfahren bereiten ein solches Verständnis vor, das sich nur in einer ausführlichen Analyse überzeugend vertiefen ließe. So hat Proust den literarischen Stil nicht als Technik, sondern als Sehweise bestimmt (III 885): Die Wahrheit eines Sachverhalts liegt nicht in dem Maß an Exaktheit, das ihm zur Reproduktion verhilft, sondern in dem Aufwand an subjektiver Seelenkraft, der für seine Wiedergabe mobilisiert wird. Diese Energie mißt sich literarisch an dem Erlebnismaterial, das in die Bildsprache einzieht: Ce que nous appelons la réalité est un certain rapport entre ces sensations et ces souvenirs qui nous entourent simultanément — rapport que supprime une simple vision cinématographique, laquelle s'éloigne par là d'autant plus du vrai qu'elle prétend se borner à lui — rapport unique que l'écrivain doit retrouver pour en enchaîner à jamais dans sa phrase les deux termes différents. (III 889)

Die Metapher, so resümiert Proust, ist das Medium der visionären Wahrheit, und die durch sie gestiftete Beziehung hat auf dem Felde der Kunst den gleichen Notwendigkeitscharakter wie das Gesetz der Kausalität in der Naturwissenschaft. Darum erscheint ihm die Natur als Beginn seiner Kunst, da sie ihm zuerst die Möglichkeit offenbarte, die Schönheit eines Erlebnisses durch die Erfahrung einer ganz anderen Schönheit zu begreifen und zu genießen. Doch ist hinzuzufügen, daß — so indifferent dieser Schönheitsbegriff auch zu sein scheint — bereits der kleine Marcel die Natur nie schlechthin ästhetisch genießend, sondern stets als Spielplatz der affektiven Selbstbegegnung erlebt 95

und sie so von Anfang an wie einen sinnlichen Code zur Verständigung und Auseinandersetzung mit der übrigen Welt benutzt. Aus dieser frühen Erfahrung heraus entwickelt sich der spätere Schönheitsbegriff: aus der zunächst in der Natur gespiegelten Sehnsucht nach einer vollkommenen Beziehung zu den Mädchen und Menschen, in Anlehnung an die Beziehung zur Großmutter, erwächst das sehnsüchtige Verhältnis zur Natur, die sich durch diesen Übertragungsvorgang sein Vertrauen erwirbt, das Bild und die Idee einer vollendeten menschlichen bzw. gesellschaftlichen Verkehrsweise anschaulich zu machen. Nur vor diesem Hintergrund wird es einsichtig, daß Proust in seinem Roman zugleich eine Gesellschaft, nach Ruskins Forderung, „wahr", also aus der Abgrundtiefe ihrer Beziehungslosigkeit, und mit dem Aufwand von „Zärtlichkeit" und „Mitleid" (III 902), nämlich tendenziell reintegriert, zu schildern vermochte. Der Schriftsteller Bergotte ist der Modellfall für dieses subversive Verfahren, das Proust unter dem Begriff des „accent" erläutert: Der lebendige ursprüngliche Kern einer Person gewinnt darin künstlerische (d. h. die einzig mögliche) Existenz, daß er sich aller Äußerung in der Geistergestalt unsichtbarer Güte beigesellt: Cet accent n'est pas noté dans le texte, rien ne l'y indique et pourtant il s'ajoute de lui-même aux phrases, on ne peut pas le dire autrement, il est ce qu'il y avait de plus éphémère et pourtant de plus profond chez l'écrivain, et c'est cela qui portera témoignage sur sa nature, qui dira si, malgré toutes les duretés qu'il a exprimés, il était doux . . . (I 553)

So wie die Natur, als Arsenal aller Vergleichsmomente, die die Sphäre des sozial Unverdorbenen einfassen, durch Analogie und Kontrast die Salongesellschaft tiefenscharf abbildet und die Anomalien ihrer verdinglichten Beziehungen ausleuchtet, so wird durch den literarischen Zusatz des „accent" eine Folie psychischer Anteilnahme in den Bericht von dem sich entfremdenden Menschendasein eingespannt. Diese doppelte integrative Öffnung der Erzählung zu komplementären Bereichen, nämlich zur regressiven Erlebnisweise des Autors und den daraus mobilisierten subversiven Kräften hin und zur Natur, die allerdings auch eine sozial und individuell bestimmte Perspektive enthält, diese in die Chronik hineingetriebenen befremdlichen Keile heben den zwiespältigen Charakter des Vergegenwärtigten deutlich hervor: Natur und „accent" bilden somit Fermente der Zerstörung, denn mit der ästhetischen Wirkung von Ironie und komischem Kontrast entziehen sie dem deformierten Lebendigen jeden Rest an Würde und allen Anspruch auf Bestand. Gleichzeitig entfalten sie Orientierungsbilder zur Überwindung dieser mit den Keimen der Auflösung versetzten Wirklichkeit. Freilich verkleiden solche me-

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taphorischen und landschaftlichen Naturelemente keinen Rousseauschen Slogan; ebensowenig macht sich mit der Theorie und Technik des „accent" ein versprengtes ästhetisches Individuum anheischig, aus seiner kultivierten Innerlichkeit die Pläne einer besseren Welt hervorzuprojizieren: Prousts Natur ist kein romantisches Institut, sondern ein soziales. Ihre wesentlichen Züge entlehnt sie nicht dem zum Klischee verkommenen Gegensatz zur Gesellschaft, sondern ihrer allegorischen Verwandtschaft. Vermischt mit dem verdinglichten Sozialen, beruft sie das Natürliche nicht als Reminiszenz, sondern als Telos. Nicht die Sehnsucht nach dem Änigma in einer rationalisierten Welt schafft das Bunte, Duftende, Weitläufige und Schöne in den Erzählkonnex als vielmehr das elementare Bedürfnis, die sozialen Tatsachen nach dem Vorbild „natürlicher" erfahren und verarbeiten zu können. Zwei dialektisch zusammengehörige Momente konstituieren diese Verwandtschaft. Sie lassen sich veranschaulichen an Prousts virtuoser Kontemplationsgabe. Diese Beobachtungskunst hat bereits — nach mehrfachem Zeugnis45 — das Kind als kompensatorische Fähigkeit entwickelt: Zur Arbeits- und Spieltherapie der Isolation und quälender affektiver Überschüsse. Die kontemplativen Tauschakte, in denen Intellektuelles und Emotionales eine regressive Einheit bilden, vollzogen sich stets an Elementen der Natur, an Blumen und Landschaften, die dem mehrschichtigen kommunikativen Vorgang, der Analyse und der affektiven Besetzung, zwanglos offenstanden. Die Menschen aus dem weiteren kindlichen Erfahrungsbereich hatten sich in eine undurchdringliche Aura des „Erwachsenseins" gehüllt und blieben der spontanen Anschauung unerreichbar. Anschauung und Verstehen erfüllen sich nur — das ist ein Axiom der regressiven Ästhetik Prousts — im Austausch und in der Verschmelzung des Heterogenen. Blumen und Felder zeigten sich dem kleinen Marcel offen und zugänglich, wo die Erwachsenen im Exerzitium ihrer hermetischen Konventionen fremd und unverständlich blieben. Später erfährt der Erzähler diese Offenheit der Natur nicht mehr als elementaren, sondern als akzidentiellen Gegensatz, und das ermöglicht es ihm, gesellschaftliche und „natürliche" Vorgänge so zu montieren, daß Differenz und Integrierbarkeit beider Bereiche anschaulich werden. Prousts „Natur" verliert damit alles Uitümliche und Idyllische, denn sie erweist sich als ein psychisch eingefärbtes und spirituell angeeignetes exemplarisches Anderes: Im erinnerten Zusammenhang der Recherche konstituieren Natur und Landschaft ein unbewußtes Erkenntnisfeld, auf dem der Erzähler seiner verdrängten Emotionalität ahnungsvoll inne wird. Und mit die45 Die neueren Zeugnisse finden sich bei Céleste Albaret, Monsieur Proust, München 1974; S. 43, 147f.

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sen Merkmalen skizziert er sie als Allegorien seiner verlorenen und wiedergefundenen Fähigkeit, spontane Beziehungen mit anderen Menschen zu bilden. Allerdings: auch als Allegorie bleibt die regressive Seelenlandschaft Natur, wiedererworbene, seelisch bearbeitete Natur; denn nicht die Mond- oder Moränenlandschaften entsprechen dem emphatischen Begriff der Natur seit dem 18. Jahrhundert, sondern die Kulturlandschaft. An ihr vollzieht Proust berechtigt die Vergegenständlichung dessen, was ungegenständlich im „accent" hervortritt. Dieses zurückgewonnene, wenn auch literarisch der Düsternis des Unbewußten abgerungene Stück eigene Natur ist subversiv, denn sie kristallisiert sich in ständigen Appellen an die Leser, mit ihr zu konvergieren, durch eigene Initiative den regressiven Vorgang zu steuern, bei dem das Verdrängte und Unterdrückte des Einzelnen und Allgemeinen aus dem Schacht von Erinnerung und Historie heraufzubringen ist. Der mit der Zärtlichkeit des „accent" gespiegelten und vom Ferment der Ironie gestörten Lesergesellschaft wird in dieser hybriden literarischen Gestaltung ihre Selbstentfremdung bewußt gemacht. Sie begegnet der im Realitätsprinzip regierenden Kälte und Formalität, und sie verspürt die Wirkungen verdrängter Zärtlichkeit: Sie sieht sich im Stande der Schuld und Unschuld zugleich. „Natur" chiffriert ästhetisch nicht bloß „Versöhnung" als Prinzip, wie Adorno meint 4 6 , sondern auch als Tätigkeit: Sie ist sinnliche Aufforderung zur Selbstversöhnung des Einzelnen und der Gesellschaft mit sich selbst und fuhrt diese Versöhnung aus. Individualpsychologisch vollzieht sich diese Versöhnung als Regression, wie Proust zeigt; doch setzt damit zugleich jener subversive Prozeß ein, der sich sozial als Fortschritt ausprägen wird. Die literarisch-psychologische Kategorie des „accent" läßt sich auch an Prousts Zitiertechnik veranschaulichen. Zwar handhabt er das Zitat vornehmlich als Instrument seiner virtuosen Charakterisierungskunst, wie Kaiser 47 gezeigt hat und wie es Curtius für die Bildsprache, der sie logisch zugehört, betont. Aber sie bildet zugleich ein Medium der seelischen Anteilnahme, denn Prousts Verhältnis zu aller Kunst ist primär intuitiv, und das Rezipierte stellt geradezu ein assimiliertes Moment der eigenen Person dar, um dabei alle historische Distanz zu vernichten. Wenn Marcels Mütter, die auch darin vorbildlich sind, ihre Erfahrungen oder diskreten Mitteilungen im Kostüm von Sévigné-Zitaten vorbringen, so wird daran ihr persönlicher accent vernehmbar: Die im Zitat vollzogene Verschmelzung des eigenen Denkens mit einem fremden wird allein durch ihre Fähigkeit ermöglicht, die eigene seelische Erre46 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (Gesammelte Schriften Bd. 7), Frankfurt 1970; S. 11 Iff. 47 Kaiser a.a.O.

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gung und Anteilnahme sowohl zu offenbaren wie auch weiterzugeben. Entsprechend illustrieren Prousts Zitate die psychische Disposition zur Aufnahme und völligen Anverwandlung des Fremden, worin sich ein soziales und kein ästhetisierendes Verhalten profiliert. Die Problematik der Subjekt-Objekt-Beziehung in der Kunst, das Verstehensproblem, wird analog in voller Schärfe auf die soziale Subjekt-Objekt-Beziehung geblendet. So wie die intuitive Inbesitznahme eines anderen und geschichtlich entfernten Dichtens zugleich ein Stück der eigenen historischen und personalen Fremdheit aufhebt, so vollzieht sich die Sternstunde einer menschlichen Begegnung und Verständigung: Der Akt, worin der andere kompromißlos angenommen wird, erfährt sich subjektiv als Verschmelzung, nämlich als Integration eines verlorenen Stück des Ich. Gewiß kristallisiert sich nicht in allen Zitaten eine solche Begegnung, doch häufig genug signalisieren sie die Bereitschaft, die Kataster des Ich zu revidieren, Umfang und Festigkeit des Subjektiven im Austausch von Liebe und Freundschaft zu gefährden und zu verändern. Wenn Marcel etwa die liebenswürdige Aufmerksamkeit und ätherische Anmut der Princesse de Guermantes mit einem Malherbe-Vers besingt: „Et pour leur faire honneur les Anges se lever", dann sind in die Zeile mehr Elemente seiner eigenen Emotionalität als Züge der Wirklichkeit eingegangen. Allerdings enthüllt der Alexandriner auch das Pathos der Förmlichkeit in der Begegnung so wie alle anderen mit klassizistischen Zitaten gespiegelten Beziehungen des Romans zugleich im Zeremoniell ihres Scheiterns skandiert werden. Und mehr noch: Wie das antiquarische Interesse eines Swann oder Charlus charakterisiert Prousts Zitat-Gebrauch den Abfluß der ursprünglichen Affekte ir. vorgegebene literarische Gefühlsbilder. Die Identität emotionaler Ausgangslagen mit historisch-künstlerischen illustriert ihre Erstarrung. Doch treten diese Beobachtungen zurück vor der Analyse, wie sich die literarische Umsetzung jener sozialen Gefühlsbereitschaft vollzieht. Und so ließe sich demnach die Wirkung von Prousts „accent" zusammenfassen: Dank der Güte und Zärtlichkeit, die in seine Bildsprache einziehen und im Verfahren des Zitats und der metaphorischen Anteilnahme umgesetzt werden, finden die ihrer ursprünglichen Bezugsfähigkeit beraubten Menschen einen Teil ihrer lebendigen Natur zurück. Denn nicht allein aus den Bildfeldern, sondern auch in zahllosen Episoden und Perspektivierungen — die „jeunes filles en fleurs" machen es sogar thematisch — dringen die Flora und die von ihr und dem Meer aufgelockerten Landschaften begütigend und überhöhend in das Katastrophenfeld der menschlichen Beziehungen ein. Die Allegorie dieser Versöhnung inszeniert Proust im locus amoenus der Entfremdung, dem Salon der Verdurins. Den dramatischen Höhepunkt bildet dabei der Auftritt der Reine de Naples, die zufällig in einen Kreis zurückkehrt, der 99

gerade dem intriganten Geschick der Hausherrin erlegen ist und tatenlos zusieht, wie der Baron de Charlus in eine persönliche und gesellschaftliche Katastrophe gestürzt wird. Unbemerkt ist sie Zeugin, wie der Baron von seinem Freund und Schützling Morel mit Invektiven eingedeckt wird, ohne deren Ursache zu begreifen, während sich das Ehepaar Verdurin zum diskreten Triumph seiner gelungenen Attacke zurückzieht. Als eine Göttin der mütterlichen Güte nimmt die Reine daraufhin den vom Unglück über den Verlust seiner persönlichsten Beziehung wie paralysierten Charlus am Arm und geleitet ihn mit einer symbolischen Gebärde aus diesem Höllenkreis der Bosheit (III 320ff.). Die Subversivität des „accent" läßt sich auch als solche der Komposition begreifen: Denn die Hauptgestalten des Romans, die entweder in Landschaften oder in Sodom wurzeln, dann in die fremde Welt der Gesellschaft wachsen, wo sie eine zweite Natur annehmen, um diese erst in der dritten Sphäre, der der erlösenden Kunst, zugunsten ihrer wahren Natur wieder zu verlieren, sie alle zeichnen auch die Etappen von Marcels literarischer Biographie vor: Die Naturregion von Combray und die Jungmädchenwelt Balbecs versinken zugleich mit dem Tod der Großmutter, ein Datum, das andererseits den Beginn von Marcels gesellschaftlicher Karriere markiert. Mit den Salons, insbesondere dem „côté de Guermantes" treten die Regieräume der Entfremdung ins Licht, und erst die in den letzten Bänden sich entfaltende Kunstthematik biegt den Blick wieder zurück zur Natur, aber nicht so, daß sie als Sujet wieder auferstände, sondern indem sie als Perspektive der Versöhnung bewußt wird, worin das Entfremdete sich erkennt und das Getrennte sich vereint. So leistet Prousts Kunst eine Synthese im doppelten Sinne, indem sie einmal den Zusammenhang des Subjekts mit der Welt zum Aufbauprinzip erhebt und sich zugleich die Verschmelzung der disparaten Elemente dieser Welt zum Ziel nimmt. Prousts Stil und Stiltheorie belegen dieses Prinzip der Synthese zur Genüge, aber in den Passagen, die die Kunst Bergottes, Elstirs und Vinteuils vorführen, gewinnt es einen eigenen thematischen Rahmen. Die unter dem Funktionsaspekt der Synthese sich ergebende Gemeinsamkeit von Literatur und bildender Kunst sieht ihre Grundlage in der erstaunlichen Bezeichnung „Metapher", die Marcel für Eist·rs Bilder anbietet. Hatte sich bereits vor der Reise nach Balbec in seiner Vorstellung von den normannischen Kirchen durch die komplementäre Vision der Meeresfelsen eine elementare Lebendigkeit ausgebreitet (I 385), so erlebt Marcel in Elstirs Gemälden die künstlerisch-technische Realisierung seiner assoziativ gebildeten Phantasie (I 835). Die metaphorische Vereinigung von Felsen und Kirche - Kunst und Landschaft - trägt ebenso programmatischen Charakter wie die Beschrei100

bung jenes Hafenbildes, in welchem die Stadt in die „Terminologie" des Meeres und das Meer in „Begriffe" der Stadt umgesetzt erscheint. Ausdrücklich weist der Erzähler darauf hin, daß gerade jene Eigentümlichkeit in Elstirs Seebildern, die aufgehobenen Demarkationslinien zwischen Land und See, die meisten seiner Anhänger besonders enthusiasmiert. Die Gründe für die sich hierin spiegelnde Faszination des Betrachters erfährt der Leser jedoch erst aus dessen detaillierter Bildbeschreibung: Die Menschen in dem Hafen, Frauen, die Krevetten sammeln, und flanierende Bürger, wandeln offenbar ohne Schwierigkeiten auf dem Meer, und fur Marcels sich so nachhaltig den Vexationen der Komposition ergebende Phantasie erscheinen sie sogar wie amphibische Wesen, die in einer Meeresgrotte hausen. Freilich stellt die teilnahmsvolle Beschreibung besonders hohe Ansprüche an die Einbildungskraft des Lesers, aber der Enthusiasmus des Erzählers verleiht ihr auch eigene schöpferische Impulse. Die willkürlich vermengten heterogenen Elemente und die Menschen, die in dem Spiel mit den Perspektiven in neue Bezugsfelder gerückt sind, bieten keine Parade grotesker Zwittergestalten, sondern sie treten zu einem lebendigen Farbbild genrehafter Friedlichkeit zusammen. Diese aus einem Gemälde aufsteigende Szenerie ungestörten menschlich-maritimen Zusammenlebens erinnert an die erste literarische Beschwörung der Guermantes-Welt in ihren Logen bei einer Matinée in der Opéra-Comique: Die hohe Gesellschaft des Faubourg, an ihrer Spitze die Prinzessin und die Herzogin von Guermantes, erscheinen Marcel, dessen Umweltregistratur bereits ganz von den Glücksaffekten des erwarteten Kunsterlebnisses besetzt scheint, wie eine magisch verwandelte mythische Gemeinschaft von Nymphen, Tritonen und Nereiden in einer abgegrenzten Meereswelt voller Kristallzauber, Korallenbänken und Seerosen. Es ist der Rang, die Schönheit dieser vor Eleganz offenbar leicht dahinschwebenden Wesen und die ganz aus Marcels jugendlicher Phantasie fließende Projektion eines ungetrübten Glücks, was den Zauber der Verwandlung bewirkt. Ohne die Einzelheiten der Charaktere und die Besonderheit in den Beziehungen dieser Menschen zu ignorieren, entwirft Marcel auf wenigen Seiten in der Terminologie einer von Feen und Halbgöttern bevölkerten Meereswelt das Bild einer friedlichen und zauberhaft schönen Menschengesellschaft. Damit gelingt ihm wiederum die literarische Transformation der Elstirschen Technik und „vision". Denn beider Gemälde sind nicht artifizielle Spiegelungen dessen, was ihre Urheber sahen; vielmehr gibt ihnen das von den Künstlern in fremde Bereiche projizierte und schöpferisch umgesetzte Verlangen nach Schönheit und Zärtlichkeit ihre einzigartige Gestalt und das besondere Kolorit. Allerdings fragt sich der Leser, warum auch in Marcels Vision der submarinen Theatergesellschaft die Menschen jenes amphibische Doppelvermögen zeigen wie die über und unter der Meeresoberfläche spa-

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zierenden Männer und Frauen auf dem Bilde Elstirs. Ist hier etwa jener negative Mythos gestaltet, der in Adorno/Horkheimers Dialektik der Aufklärung als „Erfahrungswelt . . . der Lurche" 48 beschworen wird? Dies wäre der Status einer kulturellen Wahrnehmungsfähigkeit, wie er sich unter den Bedingungen einer Regression der Vernunft, worauf die Leitbilder der organisierten Industriegesellschaft hinzielen, ausprägen würde. Aber schwerlich läßt sich eine Konvergenz zwischen diesem Bild einer unter der Herrschaft vernunftlos-mythischer Technokratie regredierenden Menschheit und Prousts Vision der Menschen, die regressiv ihre ursprüngliche Emotionalität freisetzen, konstatieren. Andererseits kann doch das Kunstwerk, wo sich die Gesellschaft als Aquarium und die Menschen als Amphibien wiedererkennen sollen, kaum jenes Ideal synthetischer Schönheit und sozialer Vollendung gestaltet haben, das Proust in seiner Theorie der literarischen Metaphorik und der bildnerischen „vision" zu skizzieren versuchte. Aber dennoch — der Widerspruch läßt sich nicht völlig ausräumen — besteht kein Zweifel, daß Proust sich immer wieder von der Schönheit und Natürlichkeit regressiven Verhaltens fasziniert zeigt und dabei keineswegs den Eindruck zu vermeiden sucht, daß sich solches Menschentreiben in der Nähe animalischer Unbedenklichkeit bewegt: Angesichts des merkwürdigen Werbungsgebarens Jupiens beispielsweise, der wie eine Orchidee seine Attraktivität auf das „Insekt" Charlus auszuüben trachtet, spricht der heimliche Beobachter ausdrücklich von einer „ . . . scène . . . dont la beauté allait croissant" (II 605). Wie aber ist das zu deuten, da Schönheit bei Proust sonst nur als Wirkung besonders geglückter sozialer Kommunikation gedacht und hervorgebracht wird? Sollen die Bildregie und der Kommentar solcher Szenen aus der regressiven Erfahrung die Perspektive einer überwundenen entfremdeten Geselligkeit hervorkehren, oder sollen sie spöttisch das Regressiv-Animalische als die moralisch höherstehende Verhaltensform legitimieren und dieser gegenüber die sonst beobachteten sozial gebräuchlichen Variationen des Sexualverhaltens herabsetzen? Tatsächlich lassen sich die erwähnten metaphorischen Einfärbungen sozialer und psychischer Akte allein als allegorisch verfremdete, aber darin gerade in ihrem Kern kenntlich gemachte regressive Projektionen angemessen verstehen und würdigen: Die animalische tarnt dabei nur unvollkommen die psychische Regression. In den Bildern der lurchenhaften und amphibischen Menschen ist die dunkle Erinnerung an ein vorsoziales Stadium verarbeitet; damals waren die Disposition und das Bedürfnis nach ursprünglichen, von einem diffusen Eros genährten Beziehungen mit den Menschen noch nicht der Zensur des 48 Max Horkheimer/Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt 1971; S. 36.

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Erziehungsvorgangs zum Opfer gefallen oder verstümmelt worden. In vielen Passagen des Romans drängen solche Remiszenzen hervor und verschaffen sich Kostümierungen, daß sich dem Leser das Gefühl, jene frühkindliche Organisation der Affekte sei eine natürliche und glückverheißende, in verführerischen und üppigen Szenen insinuiert. Nur: wie ist ein solcher Reigen halbbewußter Vorstellungen vor der urteilenden Instanz bewußter Vernünftigkeit zu rechtfertigen? Die Apologie der regressiven Gefühlswelt kann nur spekulativ und andeutungsweise geschehen, aber sie findet das Material ihrer argumentatio in der ästhetischen Objektivität von Prousts Roman. Vieles spricht nämlich dafür, daß das Primat der genitalen Sexualorganisation historisch der bürgerlichen Herrschaft zugehört. So überzeugend Freud die Notwendigkeit dieser Entwicklung phylogenetisch und ontogenetisch hervorhebt, auch seine Darstellung gehört in den Horizont bürgerlichen Kulturbewußtseins. Es mehren sich die Stimmen, die dagegen behaupten, daß die Menschheit weder an kultureller noch an sozialer Würde einbüßt, wenn sie sich von dieser Organisation abwendet 4 9 . Im Gegenteil! Die dominierenden sozialen Verhaltensweisen, die sich unter der patriarchalischen Gesellschaftsund Sexualorganisation, welche eben auf dem Primat des Genitalen beruht, ausgebildet haben, sind Egozentrik, Aggressivität, Konkurrenz, Herrschsucht etc.; in dieser Disposition wird Libido stets massiert und explosiv abgeladen. Zärtlichkeit, Güte, Verständnis, Caritas sind die unter dieser Herrschaft ausgebeuteten Qualitäten. Den Gegensatz zur organisierten genitalen Sexualität bildet nicht Regression in die verschiedenen anarchischen Formen frühkindlicher Sexualität, sondern die erzieherische Entwicklung des Primats eines sublimierten Eros, der die unspezifische soziale Zärtlichkeit zum Realitäts-

49 Genannt seien nur so heterogene Arbeiten wie die von Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft, Kate Millet Sexual Politics, die verschiedenen Beiträge in dem Sammelband Maskulin-Feminin (München 1972) oder die Metakritik zu Marcuse von Heide Bemd/Reimut Reiche Die geschichtliche Dimension des Realitätsprinzips (in: Antworten an Herbert Marcuse, hg. von J. Habermas, Frankfurt 1969). Bei dieser Frage handelt es sich offenbar um die Aktualisierung einer schon immer latent vorhandenen Neigung zur Aufhebung des Patriarchates. Antriebe erhielt diese Tendenz wohl durch die beginnende Selbstauflösung der bürgerlichen Gesellschaft und durch die analytische Methode Freuds, die den ökonomischen „Vorteil" dieser Gesellschaftsorganisation aufdeckte. Vorbewußte Kritik an den patriarchalischen Instituten hat sich in der von der Antike bis zur Moderne (Plato, Böhme, Novalis, Musil u.v.a) reichenden spekulativen Androgynen-Philosophie niedergeschlagen. In den bewußten Raum politischer Kritik hat sich der Widerstand gegen die auf dem Patriarchat beruhende Geschlechter-Ordnung bereits im Mutterrecht Bachofens und in Friedrich Engels Arbeit Der Ursprung der Familie, des Privateigentums w.d des Staates erhoben.

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prinzip erklärt, die ihrerseits in die verschiedenen Möglichkeiten zielgerichteter Sexualität zu regredieren vermöchte. Die Vertrautheit mit solchen Überlegungen muß zum Verständnis Prousts vorausgesetzt werden, sofern die Interpretation nicht in platten analytischen Erklärungen stecken bleiben soll. Ein Beispiel hierfür liefert die psychoanalytische Studie Milton L. Millers50 zu Prousts Roman. Bei seinen Betrachtungen zur Dominanz der Meeres- und Wasserbildlichkeit begnügt er sich mit der Feststellung, hier handele es sich um Mutter- und Uterussymbole. Dies ist gewiß nicht falsch, aber in solchen Stereotypien wird gleichsam die schöpferische Macht der regressiven Phantasie genetisch disqualifiziert. Die Qualitäten und Besonderheiten dieser ausgeschrittenen Wirklichkeit eines anderen Realitätsprinzips, auch wenn dieses seine Herrschaft nur fiktiv errichtet hat, werden einfach ignoriert. Für die in dieser interpretatorischen Unterlassung notorische Verdrängung liefert eine Episode der Recherche eine auffällige Parallele: Der Bourgeoisie und dem Adel des Faubourg, die sich doch künstlerisch progressiv geben, sind die Gemälde Elstirs ebenso unheimlich wie dem offenbar so aufgeklärten Psychoanalytiker Miller die subversive Botschaft von Prousts Roman. Was aber schreckt die duchesse und ihre Familie, die Verdurins und die Millers an diesen Phantasien denn ab? Worin konvergieren die Erzählung der Recherche und Elstirs Darstellung einer mythischen Frühwelt, die in einem abgelegenen Zimmer des Hôtel de Guermantes hängt? Die androgynen Musen und der geschlechtslose Dichter auf dem Gemälde haben doch kaum etwas Skandalöses an sich. Und dennoch, unbewußt werden die symbolischen Zeichen verstanden: In den lurchenhaften Figuren, der amphibischen Schönheit und Fähigkeit, in

50 Milton, L. Miller, Nostalgia. A Psychoanalytic Study of Marcel Proust, Port Washington N.Y./London (1969); S. 138/39. Millers Studie deckt sich selbstverständlich in vielen psychoanalytischen Befunden mit den hier vorgetragenen. Auf eine Auseinandersetzung mit den divergierenden Ergebnissen wird jedoch verzichtet, weil die analytischen Erkenntnisse nicht das Ziel dieser Studie bilden, sondern das Material. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung geht über das der Psychoanalyse weit hinaus, indem sie den Befund der regressiven Anomalie historisch-gesellschaftlich aufzuklären sucht und den Status einer ästhetischen Progressivität hermeneutisch expliziert. Miller nimmt Prousts Roman als literarisch ausgefeilte Erinnerungsarbeit und sucht durch Verschränkung biographischen Referates und literarischer Symbolinterpretation zu kontingenten Befunden zu gelangen. Die Problematik dieses Verfahrens, das um keinerlei methodologische Skrupel weiß, braucht nicht mehr ausdrücklich hervorgehoben zu werden. Darüberhinaus verliert Miller, der die Geschichtlichkeit seines Freudianismus ebensowenig reflektiert wie die Gesellschaftlichkeit von Prousts Biographie, seinen Gegenstand im geschichtslosen Purgatorium, nämlich im Mythos psychoanalytischer Aufklärung.

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zwei scheinbar streng voneinander geschiedenen Elementen heimisch zu sein, verbirgt sich die Allegorie des seelischen Hermaphrodismus. Dieser nämlich wäre die Gestalt der Homosexualität, wie sie sich, befreit von aller sozialen Diskriminierung, ausbilden könnte, indem sie sich vom Primat des Genitalen löste und ihre Libido als gesellschaftliche Zärtlichkeit verfügbar machte. Eine solche, wenn auch nur unbewußt wahrgenommene subversive Botschaft durfte selbstverständlich nicht von den Wänden eines Salon agitieren, in dem noch das Zeremoniell bürgerlicher Herrschaft gültig war. Mit dem Zusammenbruch der ökonomischen Grundlagen dieses Patriarchats und mit dem zunehmenden Alter der Salonbewohner zerfiel auch die Herrschaft des Genitalprimates. Der belachte „kindische" Greis ist der Typus des regressiv sich aus der bürgerlichen Konkurrenzsituation entfernenden Menschen. (In anderen Gesellschaftsformen konstituiert gerade diese Voraussetzung das soziale Ansehen der Ältesten.) Dem regressiven Bewußtsein des vergreisten Salon de Guermantes werden schließlich die subversiven Bilder Elstirs erträglich. Was bedeutet es nun wirklich, daß die Wasser-Bildlichkeit nahezu alle wichtigen Erlebnisbereiche des Erzählers 51 säumt und durchtränkt? In welchem Ausmaße Albertine für Marcel die vitale und symbolische Attraktivität des Meeres enthält, läßt der Aufbau zahlreicher Balbec-Passagen, in denen sich die Schatten der jungen Mädchen und das Rauschen des Meeres synästhetisch verbinden, erahnen. Sind diese Mädchen demnach nur von besonders heftigen Uterus-Reminiszenen und -Sehnsüchten in Beschlag genommen? Und wenn sich später noch für Marcel die Atemzüge der schlafenden „Gefangenen" dem Rhythmus der Meereswellen anzugleichen scheinen (III 72), ist dies dann eine besonders manierierte Hypostasis des Mutter-Bildes? Daß hierin eine viel weitergehende ästhetische Botschaft verborgen liegt, läßt sich am eindruckvollsten aus dem Zusammenhang der Musikerlebnisse Swanns und Marcels erläutern: dort führt das Bildfeld von Wasser und Meer geradezu ins Zentrum von Prousts subversiver Ästhetik. Vinteuils Musik und — thematisch hervorstechend — die „petite phrase" bilden das dritte Paradigma von Prousts regressiver Kunstphilosophie, und es steht außer Zweifel, daß der Erzähler diese Musikerlebnisse als höchste Formen der künstlerischen Offenbarung begreift und schildert. Sieben Mal wohnt der Leser mehr oder weniger unmittelbar Vinteuil-Aufführungen bei 52 — bezeichnenderweise keinmal in den Romanen der Entfremdung Le côté de (¡uermantes und Sodom et Gomorrhe —, und stets dominiert in der bildhaften Darbietung von Wesen und Wirkung dieser Musik die „Was51 Graham a.a.O. S. 1 1 9 - 1 2 8 . 5 2 I 2 0 8 - 2 1 0 , 21 l f . , 3 4 5 - 3 5 3 , 5 2 9 - 5 3 4 ; III 158ff., 2 4 8 - 2 6 2 , 3 7 2 - 3 7 6 .

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ser"-Methaphorik. Aber der Leser versinkt nicht in der Bewegung der „ondes" und „flots sonores", worin sich zunächst die emotionale Bewegung und Faszination der Zuhörer Ausdruck verschafft, sondern er sieht sich alsbald auf dem festen Boden anderer Bildfelder, die die Erlebnisbereiche Marcels heraufrufen, umgeben von Symbolen seiner Exaltationen, die alle aufgeboten werden, um dem elementaren Reizwert der Musik alle sprachlichen Äquivalente beizugesellen. Häufig taucht der Tropus „sourire" auf (I 212, 348), aber nicht nur dieser zärtliche Abglanz, sondern die Farbenpracht eines Regenbogens (I 352) und der magische Märchenschein aller Edelsteine aus Tausendundeinenacht umgeben Vinteuils Musik. Marcel fühlt sich von der Zartheit und Schmelzkraft dieser Töne in eine Höhe emporgehoben, daß ihm alle Erlebnisse im Anblick der Glückslandschaften und -konstellationen, der Türme von Martinville oder der Baumreihe von Balbec, eine Fortsetzung zu finden scheinen. Und während Swann die unsagbare Seligkeit, welche die „petite phrase" in ihm auslöst, mit dem Glück seiner Liebe zu Odette identifiziert, fühlt Marcel in die Musik Vinteuils seine Liebe zu Albertine verwoben. Gehören aber nun Swann und der Erzähler auch zu jenen lediglich emotional rezipierenden Musikenthusiasten, so daß sie sich der Leser mit andachtsvoll vor die Augen geschlagenen Händen vorstellen muß wie Mme Verdurin, bewegt von Leidenschaft und den Vorboten der Migräne? Allein, daß Marcel noch einen satirischen Blick auf seine Gastgeberin zu werfen imstande ist, zeigt, daß er nicht völlig absorbiert wird vom Gehörten. Im Gegenteil, er bejaht die seelische Wirkung der Musik und analysiert sie zugleich; denn er hat erkannt, in welchem Maße der musikalische Ausdruck als Dialekt und Transformation verdrängter Affekte und Wünsche dienen kann. Mme de Cambremers Speichelfluß und die Migräne der Wagner-Norne Mme Verdurin sprechen die Seelensprache der Nervösen; aber in den neurotischen und hysterischen Reaktionsweisen spiegelt sich verzerrt die Pantomime eines ungehinderten Glücksaustausches: In Prousts Roman gewinnt die Musik Vinteuils die allegorische Macht, Erfüllung aller jener Wünsche und Sehnsüchte zu sein, die sich im Laufe seines Lebens - unter den gesellschaftlichen Bedingungen seiner Zeit — als unerfüllbar erwiesen haben. Denn das Verdrängte und Unterdrückte — so vermag er zu zeigen — enthält häufig das Edelste und Wertvollste, über das die Menschen im Umgang miteinander verfugen. Die Gesellschaft tabuisiert in unvorstellbarer Grausamkeit gegen ihre Mitglieder deren eigentliches menscliliches Wesen. Vinteuils Musik, ihre „douceur divine" (I 349), ihre „caresses" (I 349, III 375) und „tendresses" (I 349, II 258), sind der volle thematische Ausdruck alles dessen, was bei einem Schriftsteller wie Bergotte nur schwer faß106

bar „accent" sein kann oder in der Malerei Elstirs von den Befremdlichkeiten eines technischen Verfahrens aufgesogen zu werden scheint: . . . de nous montrer quelle richesse, quelle variété, cache à notre insu cette grande nuit impénétrée et décourageante de notre âme que nous prenons pour du vide et pour du néant. (I 350)

Zärtlichkeit und Güte — dies zeigten Marcels Exaltationserlebnisse — bilden einmal unauflösbar ein Amalgam mit seiner Sexualität. Zugleich sind sie die einzige Währung, in der er an dem gesellschaftlichen Tauschprozeß von Gedanken und Gefühlen teilnehmen könnte, u m einen Teil seiner wahren Person in andere Hände gleiten zu lassen. Indem aber diese Affekte unterdrückt werden, binden sie mit ihrem regressiven Potential zugleich alle wesentlichen Eigenschaften des Individuums. Sie bilden vulkanische Residuen unterhalb jener ständig überwachten und mit der Verlogenheit der Ideologie verschnittenen Instanz des Ich, dessen mobilisationsfähige Masse für den intersubjektiven Austausch in offenbarem Gegensatz zum materiellen Reichtum steht, der ihren sozialen Rang begründet. Und die konventionellen Formen der Verständigung sind gesellschaftlich so rituell begrenzt, daß sie sich auch nicht eignen, den Vulkanismus der tieferen Schichten in Bewegung zu bringen: . . . n'est-ce pas que ces éléments, tout ce résidu réel que nous sommes obligés de garder pour nous-mêmes, que la causerie ne peut transmettre même de l'ami à l'ami, du maître au disciple, de l'amant à la maîtresse, cet ineffable qui différencie qualitativement ce que chacun a senti et qu'il est obligé de laisser au seuil des phrases où il ne peut communiquer avec autrui qu'en se limitant à des points extérieurs communs à tous et sans intérêt, l'art, l'art d'un Vinteuil, comme celui d'un Elstir, le fait apparaître, extériorisant dans les couleurs du spectre la composition intime de ces mondes que nous appelons les individus, et que sans l'art nous ne connaîtrions jamais? (III 257 f.)

Dies ist ein unablässig variierter Gedanke; bereits für Swann scheint die Kommunikationsleistung der Musik weit über das hinauszugehen, was jede Art von „langage parlé" vermag, und Marcel dünkt sie das einzige Mittel, dem Ideal seiner erlebten Beziehung zur Großmutter, „réunir diverses individualités" (III 159), Gestalt zu verleihen. Dieser konkrete Inhalt wird sich bei der Analyse jedes Motivs, das die Musik-Allegorie der „communication des âmes" (III 258) belebt, neuerlich offenbaren, sofern es nicht in den Abgrund mystischer Schwärmerei versenkt wird. Das „Paradies" (III 250) beispielsweise, das Vinteuils Musik öffnet oder dessen Hymnus wie von einem Engel Bellinis intoniert klingt, ist kein artifizielles oder nur erträumtes, sondern erlebt und in scharfen Momentaufnahmen festgehalten: Es war wirklich geworden 107

in dem Glück der wortlosen, aber vollkommenen Verständigung mit der Großmutter, das beide in Balbec erfahren haben, als sie sich durch Klopfzeichen durch die Wand gegenseitig riefen und beruhigten: Et je ne demandais rien de plus à Dieu, s'il existe un paradis, que d'y pouvoir frapper contre cette cloison les trois petits coups que ma grand'mère reconnaîtrait entre mille, et auquels elle répondrait par ces autres coups qui voulaient dire: „Ne t'agite pas, petite souris, je comprends que tu es impatient, mais je vais venir", et qu'il me laissât rester avec elle toute l'éternité, qui ne serait pas trop longue pour nous deux. (II 763)

Marcels erträumtes und aus den Landschaften seiner Exaltationen aufgebautes Paradies, der von Glück und Lust erfüllte Garten Eden, hat eine über die literarische Fiktion hinausreichende Realität und Verbindlichkeit. Denn es zeigt keine Berührungspunkte mit den Kleinbürgerträumen einer Schlaraffenwelt, die nur die stupiden Zwecke einer angestrengten ökonomischen Selbsterhaltung mit Märchenbildern überblendet, sondern hier treten die Konturen einer erlebten Beziehung auch an den bis ins Gesellschaftliche ausgezogenen Fluchtlinien hervor. Diese Voraussetzung enthüllt die Banalität aller utopischen Spekulation, die nur von der vagabundierenden Phantasie reflektionslos Unglücklicher hervorgebracht wird. Prousts episch aufgeblättertes Glücksland weist zahlreiche gemeinsame Züge mit jenem „dritten Reich" der Liebe und Freundschaft auf, von dem Siegfried Kracauer in seinem Essay Über die Freundschaft53 berichtet, der etwa zur gleichen Zeit und vor dem Hintergrund der gleichen gesellschaftlichen Erfahrungen entstand wie die letzten Bände der Recherche. Während aber bei Kracauer die Freundschaft eine vollständige intersubjektive Beziehung begründen kann, die innerhalb des sozialen Kontextes wie ein Asyl von der durch die Gesellschaft produzierten Entfremdung verschont bleibt, ist das Paradies Prousts die regressive Verwandlung der gesellschaftlichen Realität in sich selbst. Nur drückt das Regressive daran nicht das Spezifische aus, sondern es färbt lediglich das Negativ des institutionalisierten Lebens ein. Denn die Realisation eines vernünftigen anderen Zustandes verlangt zunächst die radikale Verneinung des Gegebenen. Der unter den Bedingungen der exkommunizierten Spontaneität Leidende findet in seinen verzerrten Beziehungen zu den Menschen die Unvollständigkeit seines individuellen Daseins gespiegelt, und er sucht die Leitvorstellung einer progressiven Überwindung dieser entfremdeten Kommunikation in der regressiven Vervollständigung seines emotionalen Lebens. Das regressive Wesen ist zwar auch als die im Sozialisationsvorgang (scheinbar) stillgelegte natür53 Siegfried Kracauer, Über die Freundschaft, Frankfurt/Main 1971; S. 35.

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liehe Mitgift seinem Umfang nach gesellschaftlich bestimmt. Aber erst durch die Verschmelzung mit der Vernünftigkeit des Ich wird die Voraussetzung zu einer vollständigen sozialen Kommunikation erreicht. Denn nicht einmal der gesamte Kern der bewußten Person ist fur die besondere Handelssituation des Salongesprächs verwendungsfähig: Die Gefilde bürgerlicher Geselligkeit und Kultur öffnen sich ja nicht wie freie Kampfstätten; Rechtsformen und Strategien der ökonomischen Konkurrenz oder Koalition finden sich in der Etikette feiner Manieren veredelt. Aber darin k o m m t die Unwahrhaftigkeit des Reglements erst zum Ausdruck, daß der Gegensatz von öffentlichem und privatem Markt auch eine Spaltung der Moral impliziert, die sich subjektiv in der Spaltung von Ich und Es noch vertieft. Und die Einsicht in die Dichotomie des Sozialen führt gerade beim Künstler, wie gezeigt, zur Einsicht der Dichotomie des Ich. Die Voraussetzung für eine intersubjektive Verständigung, wie sie Prousts Künstler anstreben, wird durch die Re-Konstitution des Subjekts geschaffen. Das therapeutische Institut für sie ist freilich nicht die Arzt-Analyse, sondern die Reflexion, das heißt Erinnerung und Verstehen des Erinnerten. Ohne diesen innersubjektiven Veränderungsprozeß bleibt auch die Sprache das verdinglichte Instrument einer Kommunikation, die weniger ihrer Verzerrung wegen als wegen ihrer Unvollständigkeit 54 das Mißtrauen des Erzählers begründet. Nur durch Schweigen oder durch Rückzug auf eine verdeckte Metaebene der Sprache 5 5 läßt sich unter den gegebenen Bedingungen ein Stück von der personalen Wirklichkeit weitergeben. Daran mißt sich bei Proust der emphatische Begriff der Verständigung: Schweigen, Musik, Symbol- und Farbsprache konstituieren die aus seiner Erfahrung heraus allein legitimierten Medien für eine durch keine Zwecke gestörten Offenbarung. Das subjektive Leben vollzieht sich in seelischen Akten, und in der Mitteilung ihres wahren Umfanges entfaltet sich das gesellschaftliche. 54 Der Begriff der „verzerrten Kommunikation" (Habermas, Erkenntnis und Interesse, S. 342ff.) bezeichnet das System der gesellschaftlichen Produktion und Weitergabe von Wissen und Erkenntnissen, das von Herrschaftsinteressen unfrei gehalten wird. Daß dieses makrokosmische System in das mikrokosmische der privaten Kommunikation hineinreicht, steht wohl außer Frage; allerdings steht hier - im Horizont Prousts - die intersubjektive Verständigung im Vordergrund, und ihre Unwahrhaftigkeit beruht auf der institutionell geforderten Unvollständigkeit. 55 Hier wäre die Gelenkstelle, an der sich die entwickelte Methodologie dieser ProustInterpretation in der Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Psychoanalyse Paul Lacans zu b. währen vermöchte. Auch hier bedürfte es einer sehr einläßlichen Diskussion, die den Umfang der Studie sprengen müßte. Es sei aber darauf hingewiesen, daß die hermeneutische Voraussetzung von Lacans Theorie - nämlich die absolute Verschiedenheit der Instanzen Ich und Es - in scharfem Gegensatz zu der hier vorgenommenen und im Gelände des Proustschen Roman-Ichs bestätigten Hy-

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In der stummen, genießenden Aufnahme und Verarbeitung der regressiven Zeugnisse eines künstlerischen Idividuums regrediert die Gesellschaft selbst vom Status einer beschränkten zu dem einer vollständigen Kommunikation und aktualisiert darin situativ ihr umgeschlagenes Wesen für den Prozeß der Vervollständigung. Gewiß bleibt in dem therapeutischen Rahmen von Marcels Kunst-Paradies eine Grundeinsicht der Marxschen Anthropologie unverarbeitet: Die Selbstkonstitution des Individuums und der Gesellschaft in der Arbeit kann dem Bourgeois nur schwerlich eine vertraute Vorstellung werden. Denn nicht die Arbeit begründet sein Bewußtsein und bildet das Medium seiner Selbsterfahrung, sondern der Reichtum, dessen eigentliche Qualität — fremde Arbeit und fremdes Leben zu verkörpern — in seiner Macht, einen Rang zu bestimmen, verschleiert und vergessen wird. Der Spiegel bürgerlicher Tüchtigkeit ist blind fur das nichtbürgerliche Element in ihm. Doch in Prousts Allegorie der Kunst hat sich, beinahe unbemerkt, jenes in der Ontologie des bürgerlichen Bewußtseins verdrängte Element der Arbeit eingeschlichen, wenn auch nur in allegorischer Verkleidung: Denn so wie die Kunst die Perspektive einer Vervollständigung und natürlichen Integration des zersplitterten bürgerlichen Lebens enthält, so bildet für Proust eine Rezeption dieser Kunst, die nicht nur passiv und regressiv verläuft, sondern die Zukunft ins Auge faßt, die Arbeitstherapie der ihrem eigenen Wesen und ihrer Bestimmung entfremdeten Gesellschaft. Vinteuils Septett, bei dessen Aufführung Marcel die Offenbarung des allegorischen und therapeutischen Charakters aller Kunst erfährt, konnte nur in einer mühsamen Rekonstruktionsarbeit vor dem Vergessen bewahrt werden. Vinteuils Tochter und deren sapphische Freundin haben das Opfer auf sich genommen, die nahezu unleserliche Notation zu entziffern und zu kopieren. Zwar vergilt die Tochter dem toten Vater damit nur dessen aufopferungsvolle Sorge für sie, weil Vinteuil, u m ganz seinen Vaterpflichten zu genügen, die Reinschrift seiner Komposition vernachlässigt hatte (I 159); der Liebesdienst der beiden Mädchen trägt zudem für Marcel die Kennzeichen eines Bußzwanges, als wünschten sie die Profanationsakte, die sie — während der Erzähler sie zufällig bepothese der Vermittelbarkeit, nämlich der (unvollständigen) Inbesitznahme bestimmter Parteien des Es durch das Ich, steht. Daraus ergeben sich natürlich Folgerungen für das literaturtheoretische Konzept einer allgemeinen Interpretation von literarischen Texten. Da die theoretischen Grundsätze dieser Abhandlung dem in der Kritischen Theorie aufgerissenen Horizont eines prospektiven Aufklärungsdenkens angehören, kann auf die Arbeit von Hermann Lang verwiesen werden, der in Parteinahme für Lacan dessen ontologische Sprachphilosophie im Gegensatz zur kritischen Theorie zutreffend herausarbeitet: Die Sprache und das Unbewußte. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Frankfurt 1973.

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obachtete — am Bild des eben verstorbenen Komponisten begangen hatten, zu sühnen. Doch gewinnt in diesem weiteren erzählerischen Zusammenhang der allegorische Charakter der Kunst erst seinen voll ausdeutbaren Zuschnitt: der Kult der Mädchen gilt nicht materiell dem künstlerischen Vermächtnis Vinteuils, sondern sie restaurieren das Beste und Wertvollste seines Wesens, was er angesichts der undankbaren Tochter nicht vollständig aktualisieren konnte, seine in musikalische Harmonien transformierte Güte. Und zugleich mobilisieren die Mädchen in der Arbeit ihr eigenes verdrängtes und verzerrtes menschliches Wesen. Der Künstler der Güte, nach Prousts Denken eigentlich ein Pleonasmus, der „artiste" findet im Sadisten, dem „artiste du mal" (I 164), sein vollständiges paradoxes Negativ; auch er stellt sein regressives Verhalten gegen die Norm der gefühllosen und unvollständigen Kommunikation. Der Sadismus der Proustschen Gestalten wird hergeleitet als mechanisch ablaufende Reaktion eines gesellschaftlich geächteten Zärtlichkeitsbedürfnisses. Vinteuils Tochter und deren Freundin verkörpern aber Prousts Einsicht in die ökonomische Verwandtschaft beider Affekte. Er hat gesehen, wie die Menschen ihren Affekten die sozialisierte Kleidung wohlwollender Anteilnahme geben, aber nicht völlig darauf verzichten können, sie überhaupt in die Welt fließen zu lassen. Die Versagung dieses Bedürfnisses ist die forma formans der Bosheit oder, in den seltenen Fällen, wo die Sublimation gelingt, die der Kunst. Sie ist ein, aber nicht das originale Gefäß, worin eines Menschen Güte Gestalt annehmen kann, auch wenn sie sich als subversiver Appell niederschlägt. Kunst verkommt dabei eben nicht zur therapeutischen Einrichtung, wo die Menschen sich nur von der Diät des Gefühlslebens, die ihnen ihr soziales Dasein aufnötigt, erholen können. Sie ist das Medium einer Veränderung, die sich am Beispiel von Mlle Vinteuil ebenso dokumentieren läßt wie an der Biographie des Erzählers. Prousts literarische Praxis entwickelt sich aus dem engeren Zusammenhang des biographischen Kapitels, das episch nicht ausgeführt wurde und unausführbar war, dem der „mères profanées". Dort stand nicht eine inzestuös profanierte Mutter, wie Briand vermutet, im Mittelpunkt, sondern das aus der Versagung ihres Besitzes hervorgequollene kindliche Haßgefühl. Denn diese Affekte und die damit verbundenen Gewissensskrupel wurden wieder virulent, als Prousts Mutter starb und sich im Unbewußten der Selbstvorwurf entfaltete, diesen Tod verschuldet zu haben. Im Lichte des Bewußtseins nehmen diese Schuldgefühle einen anderen Charakter an: Hier erscheint die Profanation rationalisiert als Vergessen, so wie es der manifeste Traumgedanke ausbreitete. Dieses Vergessen ist Verrat an all der mütterlichen Güte und Zärtlichkeit, die - auf den Tummelplätzen der bürgerlichen Gesellschaft 111

kaum ein Mensch in der reinen Form weiterzugeben vermag, wie er sie erhalten hat. Insofern also ist Prousts Roman selbst ein Dokument büßender Trauer. Ähnlich wie sich Mlle Vinteuil dem Angedenken ihres Vaters verschreibt, indem sie die verblichene Notation seiner Güte auffrischt, begibt sich Marcel mit seinem Werk daran, dem Angedenken seiner Mutter und Großmutter den Rest seines Lebens zu widmen, indem er die Dechiffrierung ihrer Gesichtszüge zu seinem Thema macht. Nun scheint dieser Gedankengang in überraschender Form zu Beckett zurückgekehrt, um dessen These, Prousts Roman verstehe sich als Versuch, die Ursünde zu tilgen, wiederaufzunehmen. Aber Parallelität verbürgt zugleich auf lange Sicht auch die Unvereinbarkeit zweier gedanklicher Linien. Die ontologische Aufsässigkeit, die sich in der Erkenntnis ausdrückte, daß der Mensch zeit seines Lebens nicht seine eigenen, sondern die von der Gesellschaft an ihm begangenen Untaten büßt, gab auch der eingangs skizzierten Kritik an Beckett ihre Schärfe. Indessen sind das individuelle Schuldbewußtsein und die darin verarbeitete oder verdrängte tatsächliche Schuld zweierlei. Marcels belastetes Gewissen ist eine psychologische Tatsache. Aber es wird darum zu einer gesellschaftlichen Allegorie, weil Marcel während des Zirkellaufs seines Lebens keine Entlastung zuteil wurde: Das Bild seiner Großmutter begegnete ihm nirgendwo erneut, Welt und Gesellschaft boten ihm nur Chimären und Schatten ihres Wesens an. Bildlich gesprochen, ist Marcel der Versuch, aus der Kirche der lächelnden Großmutter in die Kathedrale der lächelnden Mme de Guermantes überzuwechseln, mißlungen. Die „Cène sociale" des Faubourg Saint-Germain entpuppt sich als Travestie jener heiligen Gesellschaft, deren Bild ihm aus den Zügen seiner Mütter entgegenkam. Muß Marcel nicht die Desertion aus dem Paradies der Bedienstetenkammer, wo die Großmutter dahingestorben war, hinüber in die TausendundeinenachtWelt der Salons als Entheiligung der wahren Kirche erscheinen? Daß er diese gesellschaftliche Schuld als individuelle büßte, läßt erkennen, wie wenig er mit dem trüben Lauf der Dinge zu treiben vermochte. Als Uranist und Künstler büßte er mit dem Mut und der Widerstandskraft eines Heiligen, den nur eine konstitutionelle Schwäche nicht zum tätigen Widerstand kommen ließ. Stellt Krapp, Becketts Spielfigur aus Krapp 's last tape und nebenbei eine subtile Parodie auf den Proust der Recherche, eben jene Spottgeburt aus Libido und Appetit dar, die dem Analytiker eines wirren gott- und gesellschaftslosen Welttaumels nur noch im Bild einer Sebastiansgestalt, die die Sünden des Geistes am Heisch büßt, verstehbar ist, so stellt der in das Roman-Ich verwandelte Marcel das regressive Gegenbild dar: Um das Ideal einer vollkommenen Beziehung, das bei ihm selbst in Vergessenheit zu geraten droht, weil er sich im Wirklichkeitssinn seiner Klasse zu verwirren beginnt, um die112

ses Ideal im Begriff ties Lebens zu erhalten, nimmt er als Einzelner alle Leiden auf sich, die die Verwirklichung des Ideals allen auferlegen würde. Indem er den Grundwiderspruch seiner Zeit erduldet, muß er ihn auch gestalten. Darum gleicht der Geist seiner Großmutter dialektisch dem Ungeist der Gesellschaft, und die Perspektive des Glücks gewinnt nicht im Niemandsland einer ontologischen Verzweiflung, sondern im Salontheater der Entfremdung Tiefenschärfe.

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VIII

Der Totalitätsanspruch eines bürgerlichen Romans

Der Erzähler berichtet, daß er den Plan gefaßt hat, seinen Roman wie eine Kirche oder Kathedrale (III 1032f.) zu konstruieren, ähnlich den polyphonen Strukturen von Vinteuils Musik, ähnlich Elstirs Malerei, die sich an ihrem vollkommensten Sujet, den normannischen Kirchen, erst zur Kunst entfaltet hatte. Freilich weiß er auch, daß dieses Gebäude mit seinen Fundamenten bis weit in die Tiefe reichen muß, um auch den „Temple de l'Impudeur" zu umfassen, um den Ort von Charlus' masochistischer Buße in eine menschliche Kultstätte zu verwandeln. Denn nur dieses, alle Schichten menschlicher Leidenschaft und Qual umgreifende Gebäude vermag den Schauplatz des Romans abzugeben, der sich als comédie inhumaine des ausgehenden 19. Jahrhunderts abwickeln soll. Diese Form-Allegorie der Kirche verarbeitet aber nicht nur den Großmutter-Kult, wenngleich alle Fluchtlinien der Erzählung auf das Votiv-Bild ihres lächelnden Gesichtes zielen mögen; sie markiert zugleich den Übergang von einer Religion des gemarterten Gottes zu einem Kult des gemarterten Menschen. Indessen bleibt offen, ob die Recherche in ihrer Architektonik auch die gesamte geschichtliche Wirklichkeit der erzählten Zeit, sei es real oder symbolisch, erfaßt, so daß die Marter eines Charlus als Allegorie aller gesellschaftlichen Unterdrückung durchsichtig würde. Unter den hier entwickelten Leitgedanken versteht sich Prousts Roman noch als Privatereignis. Das höhnische Epos auf den Verfall der höheren Gesellschaft trägt die Merkmale einer literarischen Selbsterlösung des Autors, der in sich selbst gewiß das Opfer dieser Klasse sehen kann. Aber indem er die Analyse zu den Ursachen dieses Verfalls ausschließlich an seiner eigenen Person betreibt, vermag er offenbar der Totalität des gesellschaftlichen Prozesses, dessen Leid sich in ihm nur mikroskopisch spiegelt, kaum gerecht zu werden. Allerdings kann auch eine einzelne Person mehr repräsentieren, als die dialektischen Kürzel ihrer Klassenlage und ihres Klassenbewußtseins gemeinhin einfassen. Denn nicht nur die literarischen Revuen über Taten, Tugenden und Laster aller Klassen vermitteln den Grundriß der gesellschaftlichen Totalität, sondern bisweilen auch das individuelle soziale Dasein, sofern der gesamte Komplex seiner psychi114

sehen Realität, die Erlebnis- und Verdrängungsbilder dokumentiert werden können. Die sexuelle Unterdrückung bei Proust liest sich nicht ganz einfach zugleich als Element und Variation der sozialen. Aber wie soll es Zufall sein, daß die Zensur von Marcels Gewissen in jenem Traumbild, wo sich seine Rachewünsche an der Mutter Ausdruck verschafften, die sexuelle „Profanierung" zur sozialen verschoben hat? Die Ökonomie des Traumes erfordert hierzu vielmehr einen engsten Zusammenhang beider Elemente. Und dieser Konnex findet sich mühelos im Alltag vieler großbürgerlicher Biographien: Die höhere Gesellschaft hat ihren „servantes", in deren Gewand die MutterGroßmutter dem Träumenden bekanntlich erscheint, im Rahmen der diesen zugewiesenen Pflichten häufig auch die Erfüllung der sexuellen Wünsche ihrer Söhne übertragen. Die unausbleibliche Folge war, daß sich für einen in dieser Erfahrung großgewordenen Jüngling sein Lebtag lang jede sexuelle Bestrebung mit den Erinnerungen an diese degradierende Praxis verband. Marcel berichtet von einer solchen persönlichen Erfahrung nicht, aber daß sich die Prostituierten in erster Linie aus der Gruppe der von Bürgervätern und -söhnen geschwängerten Dienstmädchen rekrutierten, war eine allseits bekannte und geduldete Tatsache. Und Marcels häufige Besuche in den „maisons de passe" werden ihm nicht zuletzt auch Erkenntnisse über die Biographie der Mädchen vermittelt haben. Marcels Traumzensur, die offenbar nicht wahrhaben will, daß er seine Sehnsüchte nur schwer von der Mutter zu lösen vermag, deckt zugleich einen sozialen Zusammenhang auf: Marcel hätte sich mit seinen aus Rachedurst gespeisten Traumgedanken eher an die Gesellschaft zu wenden, deren geläufiger Mißbrauch der erotischen Bedürftigkeit des Menschen von der Mutter zwar nicht an ihn unmittelbar weitergegeben wurde; aber es konnte nicht ausbleiben, daß er irgendwann die Bekanntschaft mit der Moral seiner Klasse machte und nachträglich fühlte, wie diese auch in den Erziehungsmaßnahmen seiner Eltern durchgeschlagen war. Françoises Sadismus gegenüber dem schwangeren Küchenmädchen (I 80) illustriert diese Moral höchst deutlich. Und wenn dann über den Urheber dieses Zustandes nichts verlautet und wenn die Tatsache, daß Françoise selbst eine Tochter hat, ohne Hinweis auf eine Ehe oder auf einen dazugehörigen Vater berichtet wird, so ist diese Lücke der Erzählung als Verdrängung aufzufassen, und ihr zensierter Kontext kann erst in den Bildern des Traumes und anderen Phantasien wieder rekonstruiert werden: So spiegelt sich in der demütigen „servante chassée" zugleich das zensierte regressive Wesen der Bourgeoisie selbst, die für ihre Herrschaft der „humbles" bedarf, die aber ihr eigenes ursprüngliches „air humble" lediglich noch als geschäftliche Tugend aktualisieren kann. Marcels Großmutter dagegen, die noch über die authentische 115

Fähigkeit zur sozialen Demut verfügt und sie im Alltagsverbrauch von Bescheidenheit und Güte freigebig zeigt, verliert darum in der Degradation des Traumbildes ihre Aktivität und sinkt in die Klasse der „servantes" ab. Der vermeintliche Zufall der aus dem Bild der „servante chassée" hervortretenden Mutter emanzipiert sich zu einem verstehbaren Zusammenhang, wenn die hermeneutischen Signale richtig aufgefaßt werden, die in jener Episode mit der hübschen pêcheuse im Schatten der Kirche von Carqueville verborgen liegen. An diesem Mädchen, das zwar allem Anschein nach der Klasse der „humbles" zugehört, aber deshalb auch wie eine Reinkarnation weiblicher Urspriinglichkeit Stolz und Schönheit auszustrahlen vermag, an ihr wird die Vernichtung dieser Tugenden durch Geld und soziale Degradation gewissermaßen als zwanghafte Zensur des bürgerlichen Über-Ich sichtbar demonstriert. Es handelt sich um einen (später wieder gestrichenen) Zusatz zu der oben (S. 41 f.) beschriebenen Szene im Band A l'hombre: Aus der Kirche kommend, ist der Erzähler durch den Anblick des Mädchens höchst erregt. Diese Erregung rührt offenbar von der bereits durch den Kirchgang emotional vorbereiteten regressiven Phantasie her, die aus dem Zusammenhang Wasser-Fische-Mädchen ihre Nahrung zieht, und ähnelt damit der Beunruhigung, welche die Betrachter der Elstirschen Frühzeit-Bilder erfaßt. Dem Bewußtsein des Erzählers erscheint diese Attraktion jedoch nur als sexuelle, aber er wünscht, sich von seinem, wie er meint, unerfüllbaren Begehren sogleich zu befreien, weil es ihn sonst noch lange zu vexieren verspricht. Die Möglichkeit, die Bekanntschaft des Mädchens zu machen und eine normale, allmählich ins Zärtliche übergehende Kommunikation zu versuchen, wird gar nicht erwogen. Der Reiz der pêcheuse wird als unangenehme Besitznahme eines psychischen Bezirkes erlebt, und dieser behexenden Wirkung kann fur das Gefühl des Erzählers — nur so erfolgversprechend entgegengewirkt werden, daß er seinerseits das eigene Bild dem Mädchen unauslöschlich einprägt. Hierin hat sich das sexuelle Bestreben freilich ein nur allzu durchsichtiges archaisches Gewand übergeworfen. Der gar nicht rein libidinose Wunsch zur sexuellen Begegnung mit dem Mädchen wird in dem Gedanken, sie gewissermaßen sozial zu mißbrauchen, von seinen gefährlichen regressiven Wurzeln abgeschnitten und einer verschobenen Erfüllung zugeführt. Tatsächlich hat der Erzähler dem gutgläubigen, zur spontanen Kommunikation fähigen Mädchen, das hierin seiner Schönheit auch natürlichen Ausdruck verleiht, keine äquivalente Tugend entgegenzusetzen. Zur Kompensation und zugleich, um eine bedingungslose Begegnung auszuschließen, schmückt sich Marcel mit dem Prestige eines Adligen und gibt dem Mädchen einen sinnlosen Auftrag. Der gewünschte Erfolg tritt ein: Beruhigt darüber, daß das Mädchen immer wieder

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gezwungen wird, an den „Marquis" zu denken, fühlt sich Marcel zugleich wie durch einen Kuß von seinem Begehren befreit. Damit schließt der Erzähler die gekürzte Fassung des Erlebnisberichtes. Für den Betrachter ergibt sich zunächst das Verständnis, daß Marcel hier in dem Mißbrauch sozialer Überlegenheit eine Allegorie der geschlechtlichen Herrschaft gestaltet hat und aus dieser Verschiebung dennoch eine Art sexueller Befriedigung zu ziehen vermochte. Die in der Verschiebung wirksame Zensur verbot, eine der seelischen Faszination gemäße Form der Kommunikation zu suchen, sie erlaubte dagegen die in der Erniedrigung fast unverhüllte Abfuhr der geschlechtlichen Erregung. Die Analogie dieser in der Phantasie sich vollziehenden Degradation zur im Traum erfolgten Erniedrigung der Mutter ist offensichtlich. Allerdings ist damit ein vollständiges Verständnis noch nicht erreicht. Der Traum hatte den Wunsch so entstellt, daß sein libidinöses Interesse kaum wahrzunehmen blieb. Die Phantasie hat ihr Material ebenso entstellt, daß in ihr das über die Libidobestrèbung hinausgehende regressive Moment nahezu eliminiert scheint. Der Künstler zeigt sich mit dieser Fassung endlich auch einverstanden. Ursprünglich aber hatte er die Erzählung fortgesetzt und darin einer inneren Regung nachgegeben, welche eine über die sexuelle hinausragende und in der Phantasie nicht verschobene Attraktion des Mädchenbildes erkannte und ablehnte. Welcher Art diese unbewußt wahrgenommene Gefährdung ist, läßt sich gleichsam ex negativo aus der Zusatzepisode herauslesen, die einen zweiten Degradationsakt an dem Mädchen schildert. In dem bereits auf den Fahnen zum Vorabdruck einiger Balbec-Szenen in der NRF 1914 getilgten Zusatz läuft die Situation so fort: Je levai les yeux sur elle et lui donnai la pièce. Alors je vis que ses joues brunes étaient couturées, ses yeux que j'avais cru (sic) dédaigneux et doux m'exprimaient un empressement humble et stupide et pour dire à ses compagnes quelque chose que je n'entendis pas mais qui était de veiller à son pot de poisson (sic) qu'elle leur montra, elle donna à sa bouche une forme grimaçante et vulgaire . . . (I 974)

Der ganze erregende Anblick hat sich in wenigen Momenten in sein völliges Gegenteil verkehrt. Der Erzähler bringt das Mädchen nicht nur um den Reiz seiner Unschuld, durch Mißbrauch in der Phantasie, sondern raubt ihr jetzt auch noch ihre Schönheit, indem er diese Beunruhigung als Projektion seiner Phantasie entlarvt. Nicht nur der Widerspruch, sondern auch die äußere Steigerung der beiden Degradationen ist auffällig: Erst wird die pêcheuse durch einen allegorisch verdeckten Akt der „possession physique" ihres Menschenwertes enteignet und dann wird die häßliche Physiognomie eines dummen, von Besitzangst und Geldgier getriebenen Wesens offenbart. Dies mag man eine vollständige Destruktion nennen. Aber die Wütigkeit, mit der sie durch117

gesetzt wird, und die Blindheit für den sich dabei einstellenden Widerspruch, lassen das Ausmaß der Gefahrdung erkennen, gegen die sich die Reaktionen auflehnen. Denn eines war bereits deutlich: Durch die pêcheuse sind unbewußte Wunschbilder wachgeworden, und diese Wünsche waren in der Verschiebung einer Scheinerfullung zugeführt worden, ihrem ursprünglichen Begehren entfremdet. Nun zeigt sich weiter: Die sexuelle Degradation hat nur einen Teil der in dem Mädchen wirksamen Kräfte vernichtet, nämlich ihre bewußtseinsfähige Attraktion. Die geheime Fähigkeit, unbewußte Wunschbilder zu erwecken, bleibt weiterhin virulent, und es scheint sich die Vermutung zu bestätigen, daß es regressive Phantasien sind, die sich in dem fischenden Geschöpf wie einem Idol begegnen und die von einer inneren Instanz für äußerst gefährlich gehalten werden. Die im zweiten Degradationsvorgang wirksamen Zensureingriffe mobilisieren daher eine doppelte Abwehr: Nicht nur wird die Schönheit des Mädchens aufgehoben, sondern durch den Weg, ihre Häßlichkeit zu offenbaren, wird auch eine Katharsis des Ich erzwungen; es muß erkennen, daß die Attraktion des Geschöpfes der eigenen Projektion entspricht und die lästerliche Quelle der Irritation im eigenen Innern liegt. Die Zensureingriffe verraten jedoch in der Tendenz ihrer Bereinigungsversuche auch ihre spezifische Moralität. Die beiden Passagen offenbaren nur allzu deutlich, was sie behaupten und was sie verbergen wollen: In der ersten wird die Hilfsbereitschaft des Mädchens durch Marcels Selbsterhöhung zur Untertänigkeit manipuliert und damit der Gedanke wirksam: „Es gibt keine freie, spontane, zärtliche Beziehung, sondern nur die von Herr und servante." Die zweite Passage knüpft daran an: Wurde zunächst subjektiv der unmittelbar gefährliche Zauber der pêcheuse durch eine Art Selbstsuggestion aufgehoben, so soll nunmehr auch objektiv ihr immer noch magische Beunruhigung ausstrahlendes Wesen vernichtet werden: Indem die von ihr gezeigte freundliche Dienstbereitschaft mit Geld belohnt wird, tritt auch fur sie eine Dienstbotenbeziehung an die Stelle der spontanen und zerstört die Naivität ihrer Geste. In der Häßlichkeit ihres Äußeren hat sich ihre Selbstentfremdung ästhetisch niedergeschlagen und damit die Botschaft vermittelt: „Schönheit ist nicht der platonische Ausdruck eines vollkommenen Wesens, sondern sie ist der behexende Trick der servantes, ihre Dienste zu verkaufen; ihr wahres Wesen ist gemein und häßlich." Beide Passagen enthalten gerade in der Dichte und allegorischen Fremdheit ihre Aufbaus gewissermaßen die Dialektik bürgerlicher Sozialisation: Zur Abwehr der regressiven Sehnsüchte eines tendenziell sich aus diesem bürgerlichen Verband lösenden Menschen wird zunächst das Verhältnis des Wünschenden zu seinen Projektionen zerstört und auf der anderen Seite im Verhalten der anderen Menschen jede Spur einer Botschaft, die den verdrängten Wünschen ihre Erfüllung verspre118

chen k ö n n t e , getilgt. Das Realitätsprinzip der e n t f r e m d e t e n u n d degradierenden Wunscherfüllung sucht darin seine Herrschaft zu sichern: Die verzerrten Züge und die plötzliche servile Emsigkeit stehen in m a r k a n t e m Gegensatz zur anfänglich so bezaubernden regressiven Schönheit der pêcheuse, u n d sie bilden die Karikatur des bürgerlichen Wesens. Die künstlerische Zensur, welche diese zweite (gleichsam nur illegitim analysierte) Passage herausgenommen hat, erweist sich der inneren moralischen als überlegen. Ihr Eingriff markiert zugleich eine Entwicklung des Künstlers Proust. Der Abwehrphantasie, die im endgültigen T e x t erhalten blieb, entspricht eine Alltagserfahrung, u n d sie bildet einen ökonomischen Verdrängungsvorgang des Ich, das die unerfüllbaren Wünsche gar nicht erst übermächtig werden lassen will. Es ist eine andere Instanz, die im Über-Ich abgesetzte bürgerliche Moralität, welche nicht einmal die im Bild des schönen Mädchens sich spiegelnden u n b e w u ß t e n , nur partiell libidinösen Sehnsüchte gelten lassen will. Mit der Tilgung dieser Passage hat die künstlerische Zensur die Dominanz über einen Teil der u n b e w u ß t e n erlangt. Sie hat sich von d e m Zwang, die Abwehrbegehren des Über-Ich in die Wirklichkeit zu überfuhren, gelöst, und darin wird eine Stufe der Regression des Bürgers Proust z u m Schriftsteller ansichtig. So läßt sich die Vermutung bestätigen, daß in d e m Phantasiebild der degradierten pêcheuse ein u n b e w u ß t e s Daseinsideal des Bürgers zensierten Ausdruck gefunden hat. Aus d e m zensierten läßt sich j e d o c h das ursprüngliche Wunschbild rekonstruieren: Die grinsende, zu Geld gekommene, im Verdienst degradierte pêcheuse illustriert den Wunsch, aus der (physiognomisch sichtbaren) verzerrten, u n w a h r e n K o m m u n i k a t i o n u n d aus der ökonomischen Degradierung regressiv zu entfliehen. Insofern verhält sich die Phantasie der degradierten grinsenden Anglerin k o m p l e m e n t ä r z u m Traumbild der degradierten weinenden G r o ß m u t t e r ; umgekehrt wird die reale platonische Schönheit der Mutter u n d die A t t r a k t i o n der n o c h nicht sozialisierten, n y m p h e n h a f t e n jeunes filles durch die vielen äußerlichen Salonschönheiten, die sich als zweite Natur der in der Marktsituation degradierten Frauen erweisen, ergänzt. Soziale u n d sexuelle Menschenwürde u n d -Schönheit stehen in d e m gleichen unlösbaren Zusammenhang wie soziale u n d sexuelle Erniedrigung. Mit der Entfaltung dieses Zusammenhangs löst Prousts R o m a n in gewiß häufig verdeckter Weise den Anspruch der Totalität ein. Für die Hermeneutik der Spezialisten erschließen sich lediglich Fragmente. Der Ergänzung des Sinns hat sich die Vervollständigung des Zensierten beizugesellen. Wie der vielzitierte T r a u m unterliegt ja die ganze Erzählung einer Zensur des Gewissens, worin aber nicht nur die Moralität der eigenen Klasse, sondern auch das Bewußtsein des zugleich Privilegierten u n d Ausgestoßenen die Sche119

re fuhrt. Zugleich mischt sich die dunkle Ahnung von einer literarisch nicht zu tilgenden Schuld seiner Klasse in die sehnsüchtigen Blicke auf die Spuren regressiver Schönheit und Unschuld der untersten Klassen, die zwar kaum als ausgebeutete, aber um so häufiger als käufliche Sexualobjekte in den Vordergrund treten. Kein Zweifel, daß die idealisierte Großmutter eine in die Bilder des Traums und der Erzählung gefaßte schöne Miniatur des wiedergewonnenen ursprünglichen menschlichen Wesens vorstellt, indem sie die stolze Demut der „servantes" und die freie Zärtlichkeit der emanzipierten bürgerlichen Mutter in sich vereinigt. Der Kult an der Großmutter ist insofern auch ein Kult an der degradierten Menschheit, die noch ein Stück Ursprünglichkeit bewahrt hat. Greift eine solche Behauptung aber nicht doch weit über die nachgewiesene bürgerliche Beschränktheit Prousts hinaus? Oder gibt es etwas an seiner Erscheinung und in seinem Leben, was dies bestätigte? Die Biographen des Romanciers haben stets mit höchst gemischten Formen von Respekt und Mißtrauen den Wandel des angepaßten snobistischen Müßiggängers zum widerspenstigen isolierten fanatischen Schreiber registriert. Weder der Achtstundentag eines Arbeiters noch der Zehnstundentag eines Gelehrten bieten Verständniskategorien für den bisweilen dreißig Stunden währenden Arbeitstag Prousts. Und die bündige Erklärung: schriftstellerische Arbeit sei eben keine entfremdete Arbeit, darum auch in unbegrenztem Umfange zu bewältigen, enthält ein äußerst abstraktes Angebot. Zwar verhindern die Erfolgssysteme der bürgerlichen Gesellschaft das Einfließen und Zurückfließen der Person sowohl in der Fabrikarbeit wie in den meisten „leitenden" Berufen. Dem erfolgreichen Schriftsteller dagegen sind solche Sternstunden bisweilen beschert. Proust jedoch hat den Erfolg seiner Bücher nur sehr mittelbar und sehr begrenzt genossen. Kritikerlob und Publikumsresonanz drangen zwar in sein Zimmer, waren aber später nicht mehr geeignet, ihn aus seiner Isolation zu reißen. Warum nicht? Proust Biographie stellt sich zum Idealtypus einer bürgerlichen Laufbahn wie spiegelbildlich verkehrt dar. Das Schema dieser Karriere führt den Erfolgsmenschen aus der Nachtseite der Entbehrung, der stummen resonanzlosen Arbeit auf den Lichtpunkt der Saturiertheit, wo nicht mehr er, sondern, nach einem hochkarätigen Euphemismus, sein Geld für ihn arbeitet; doch wird ihm innerhalb der müßiggängerischen Geselligkeit, der er sich dann eingliedern darf, nichts von seinem verlorenen Wesen zurückbezahlt. Es ist neben seinem Geld der Neid und die Mühsal all der Erfolglosen, worin er seine Person fremd, verzerrt wiederfindet und illusionär genießt. Pröust hat durch die von seinem Vater garantierte ökonomische Sicherheit und dank seiner perfekten Imitation des aristokratischen Müßigganges bereits in früher

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Jugend den Gipfelpunkt seiner gesellschaftlichen Karriere erreicht. Sein Asthma, hysterisches Symptom für die vermißte mütterliche Zuwendung, wird gleichzeitig das Alibi zum Rückzug aus der Gesellschaft, die erst recht kein Palliativ für seine Anfalle bereithält. Nicht viel anders als die Großmutter im Traum nimmt er eine (gewiß: freiwillige) Degradation vor und schließt sich in ein einziges Zimmer wie in ein Dienstbotenuniversum ein. Krank, so daß ihn fast jeder Besuch über die Maßen anstrengt, schreibt er nun sein Buch, das in zweifachem Sinne ebenso lang wird wie sein Leben: Es erzählt die Zeit seines Lebens, das so lang währt, wie er braucht, um das Wesen dieses Lebens aufzufangen. Prousts schriftstellerische Restexistenz bietet sich dem Betrachter dar, als wollte er die Arbeit seines Lebens nachholen, denn ein Leben, das sich im Müßiggang erschöpft, ist ein Dasein ohne Zeit und Bewußtsein. Es verzehrt seine biologische Mitgift und imitiert im übrigen die Existenz anderer und beutet noch andere aus. Durch diese, Proust mehr oder minder bewußte Erkenntnis hindurch öffnet sich der Blick für die dritte Dimension der „verlorenen Zeit": Der Roman Schilder^ die Suche nach der verflossenen Zeit und zugleich die nach der vergessenen Zeit, aber er repräsentiert insgesamt als Lebenswerk den verzweifelten Versuch, auch die vertane Zeit zurückzugewinnen. Denn daß sich der Erzähler im Roman selbst erschafft, reicht nicht aus für eine glänzende Pointe der Gesamtkonzeption — es ist vielmehr eine anthropologische Banalität. Die ohne Tätigkeit zugebrachte Zeit ist für das Leben unwiderruflich verloren und läßt sich durch keinen geistigen Akt und keinen epischen Trick reproduzieren; höchstens kann sie mit einer verdoppelten Anstrengung in der verbleibenden Zeit kompensiert werden. Das heißt im Grunde: von vorn beginnen. Die Regression Prousts auf die äußere Entwicklungsstufe eines hilflos im Bett liegenden Kindes bietet den sinnfälligen Ausdruck seines Versuches zu einem zweiten Leben. In der Rückbildung des bourgeoisen Salon-Helden vollzieht sich zugleich der Prozeß eine De-Sozialisation. Denn nicht nur aus Erinnerungsfragmenten des Erwachsenen, sondern aus dem Steinbruch des Unbewußten lassen sich die Stücke schlagen, mit denen das Mosaik der kindlichen Empfindungstotalität rekonstruiert werden könnte. Die Kündigung des Kulturvertrages mit der Klasse, die ihn geprägt hat, und die Rückkehr aus dem Ghetto der geschlechtlichen Sonderstellung, sie bedeuten die Wiedereroberung eines Teils der kindlichen Unschuld, aus der heraus potentiell der Umfang der menschlichen Totalität vorgestellt zu werden vermag. Hier schält sich einer der Gründe heraus, warum Proust die Resonanz auf den Roman, das Bild seines zweiten Lebens, aus dem Munde und Wort des Publikums nicht vollständig empfangen mochte. Die Absorption durch den 121

Beifall der literarischen Öffentlichkeit hätte ihn in die gleiche Gesellschaft zurückgeführt, aus der er eben, um eines vollständigen literarischen Daseins willen, geflohen war. Isoliert und alléingelassen, blieb ihm die durch nichts getrübte Illusion, daß sein Buch in die Hände der gesamten Menschheit gelangt sei, deren Bild er hinter allen Deformationen der Klassen, Geschlechter und Rassen immer wahrgenommen hatte. Die Wirkungsgeschichte von Prousts Roman mag den Kritikern als Beleg dafür dienen, daß dies tatsächlich ein illusionärer Kinderglaube gewesen sei. In den individualpsychologischen, formästhetischen und literarhistorischen Untersuchungen zur Recherche gelangte immer wieder das partikulare Interesse randständiger Existenzen zum Ausdruck, und kaum einem Interpreten stand das Ganze als Entwurf von Totalität vor Augen. Doch ist dieser Befund, daß der Roman noch kein ganzheitliches Erkenntnisinteresse gefunden hat, nichts weniger als entmutigend, und wer daraus auf die Unangemessenheit des hier entwickelten kritischen Ansatzes oder gar auf die Verjährung von Prousts Idealismus schlösse, machte sich unzeitgemäßer Resignation schuldig. Wer nämlich den zukunftsweisenden Charakter der Recherche ernst nimmt, der wird auch die Folgerung schlüssig finden, daß das vollständige Verständnis des Romans erst einer zur Vollständigkeit ihrer Fragestellungen vorgedrungenen Literaturwissenschaft möglich sein wird. Denn das ganzheitliche Interesse konstituiert sich nicht aus der Summe der Partikularinteressen, sondern läßt sich allein als das Verhalten denken, das erst dem seiner Natur zurückgegebenen Menschen selbstverständlich sein kann. Dies erst entfaltete den Ausdruck einer „tendresse" welche nicht als Spezialaffekt verliebter oder mütterlicher Instinkte deklassiert wäre, sondern das emotionale Alltagsfluidum in der Verkehrsweise tatsächlich befreiter Menschen bildete. Wie die Literatur selbst muß sich auch die Wissenschaft an diesem Prozeß beteiligen, und sie muß sich von ihm mitreißen lassen. Bisher zeigte die Forschung, die sich mit der Recherche beschäftigte, hierzu noch keine rechte Neigung. Die ästhetische Reaktion der Proust-Literatur ließe sich daher bis heute eher der Hypersekretion der Mme de Cambremer vergleichen als dem Lächeln von Marcels Großmutter.

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X

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„bruit strident d'une conduite d'eau" 46 „clochers de Martinville" 30ff., 46, 50f. (Anm.), 69, 73, 106 „cognement d'un cuiller" 33 „intermittences du coeur" 46, 84ff. „madeleines" 46, 55 „odeur du petit pavillon des ChampsElysées" 46 „pavés inégaux" 38f., 46 „rangée d'arbres" 30ff., 46, 69, 73,

106 „vierge dorée" 28f., 38, 40f. Fretet, Jean 89 f. Freud, Sigmund 2, 6, 7 (Anm.), 8, 103 Fromm, Erich, 16 (Anm.) Graham, Victor E. 71, 94 Habermas, Jürgen 6, 8, 109 (Anm.) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7 f. Hofmannsthal, Hugo von 56 Horkheimer, Max 1, 102 Ich 8, 27 Identität 5, 27, 44f., 74, 93 Inversion (Homosexualität, „Sodom", Uranismus) 3, 14, 20f., 5 8 f „ 61, 66f., 77f., 82f., 92, 100 Inzest 15 Jauss, Hans-Robert 36 (Anm.) Kafka, Franz 4 Kaiser, Gerhard R. 64 (Anm.), 98 Kindheitswelt 5, 25, 29, 83 Köhler, Erich 79 Konstitution des Ich (des Bewußtseins) 2, 3ff., 4 4 f f . Kontemplation 54f., 95, 97 Kracauer, Siegfried 108 Kunst 76, 84, 92, lOOff., 105ff., l l O f . Lacan, Paul 109f. (Anm.)

La fugitive 30 (Anm.) Le côté de Guermatites 30 (Anm.), 100, 105 Lesbismus („Gomorrha", Sapphismus) 57, 59, 61, 76, 82f„ 92 Le temps retrouvé 33f. Lukács, Georg 79f. Mädchen 25f., 31, 40f., 52, 116ff. Marcuse, Herbert 5 f. (Anm.), 7 (Anm.), 16 (Anm.), 103 (Anm.) Marx, Karl 8, 80, 110 Masochismus 67 Matriarchat (Mutterwelt) 16, 18 ff., 71, 91 mères profanées 27, 86f., l l l f . Metapher 95 ff., 100ff. Miller, Milton L. 104 Millet, Kate 103 (Anm.) Morand, Paul 90 Musik 76, 106ff. Musil, Robert 103 (Anm.) Mutterbindung (-fixierung) 3, 12f., 15f., 20f., 36, 47, 74 Narzißmus 3, 21, 37, 60 Neurose 2, 20, 106 Nietzsche, Friedrich 11 Novalis 103 (Anm.) Ödipus-Situation (-Komplex) 3, 21 f., 26, 47, 80, 86

Ontologie 21 Perversionen 3, 15 ff. Piaton 103 (Anm.) Psychose 20, 77 Racine Jean Baptiste 15 Regression 2 ff., 10 ff., 17, 26, 63, 80, lOOff., 114 ff., 121 Ricoeur, Paul 7 (Anm.) Rimbaud, Arthur 64 Rousseau, Jean-Jacques 25, 97 Ruskin, John 88 Sadismus 43, 67, 111, 115 Sakralsphäre 26, 70 ff. Sand, George 23 Schnitzler, Arthur 60 servantes 25, 115 f. Sévigné, Marie marquise de 20, 65, 88, 98 Sodom et Gomorrhe 66f., 82, 105 Sozialisation 5, 8, 21 f, 80, 89, 108, 118 Subversität 14, 89, 92, 95 ff., 100 Sur la lecture 81 f. Erzählungen aus Tausendundeinenacht 23, 55, 67, 70, 106 Traum 26, 37, 84ff., 90, 115 Verkehrsformen, soziale 2, 14, 53, 94, 96, 122

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