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German Pages 294 [296] Year 2021
Jens Petersen Marcel Proust und Tacitus
Jens Petersen
Marcel Proust und Tacitus
Professor Dr. iur. Jens Petersen, Universität Potsdam
ISBN 978-3-11-064703-7 e-ISBN (PDF) 978-3-11-064744-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-064767-9 Library of Congress Control Number: 2021938036 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Herrn Prof. Dr. Bernhard Schlink zugeeignet
Vorwort Die vorliegende Abhandlung ist aus meinem ebenfalls bei de Gruyter erschienenen Buch über das ‚Recht bei Tacitus‘ (2019) hervorgegangen. Im bisherigen Schrifttum hat sich nur – aber immerhin der größte aller Tacitus-Kenner – Ronald Syme in einem auf Vorträgen beruhenden nachgelassenen Aufsatz-Fragment näher mit Tacitus und Proust auseinandergesetzt. Sein Augenmerk galt dem taciteischen Hauptthema des Niedergangs von Dynastien, das er bei Proust am Beispiel der Guermantes verfolgt. Aber Tacitus und Proust verband nicht nur die Faszination für den Abstieg einstmals erlauchter Häuser, sondern auch die Fähigkeit, den Menschen bis auf den Grund ihres Herzens zu schauen und dort gerade bei den vorgeblich Selbstlosen den schalen Rest des Eigennutzes zu erblicken. Ein Bindeglied zwischen beiden könnte die französische Moralistik darstellen, die Tacitus viel verdankt und ihrerseits auf Proust gewirkt hat. Ich habe bei den allfälligen Beispielen, ohne die man mögliche Parallelen nicht darstellen kann, die rechtsrelevanten Stellen betont und die vielen Justizmetaphern Prousts näher betrachtet. Kimberley Czajkowski hat in ihrer gedanken- und perspektivenreichen Besprechung meines oben genannten Buches erstmals ausdrücklich Tacitus in Verbindung mit ‚Law and Literature‘ gebracht (Classical Review 70, 2020, 126). Proust ist von dieser Richtung zwar vereinzelt gewürdigt worden. Die meisten Stellen, an denen er auf Recht und Gerechtigkeit Bezug nimmt, sind allerdings noch unberücksichtigt geblieben. Nicht zuletzt Prousts Vergleiche mit der Rechtswelt bezeugen indes, warum er in seinem Flaubert-Essay jeder gut gewählten Metapher einen Ewigkeitswert zugesprochen hat. Wenn man das Thema Recht und Literatur bei ihm vertiefen möchte, sollte man sich nicht mit den vielfältigen Anspielungen auf die Rechtswelt begnügen, sondern « ces lois inconnues » (P I 248) entscheidend berücksichtigen, von denen im Hinblick auf Bergottes Tod die Rede ist. Denn Proust hat den Begriff des Gesetzes auf die Kunst bezogen und glaubhaft gemacht, dass dieser selbstauferlegte Zwang – diese Tyrannei einer Poetik, wie er es nicht von ungefähr an jener Stelle nennt, an der Tacitus in der Recherche erwähnt wird (P I 263) – für den wahren Künstler grausamer ist, als es jedes äußere Gesetz sein könnte: « la loi cruelle de l’art » (TR II 241). Ich zitiere die Recherche hauptsächlich nach den zwischen 1929 und 1932 im Verlag Gallimard erschienenen ‚Œuvres complètes de Marcel Proust‘. Bei Unvollständigkeiten und markanten Abweichungen, deren wichtigste für die vorliegende Abhandlung allerdings just Prousts Tacitus-Zitat aus Agricola 3.2 (‚grande mortalis aevi spatium‘) betrifft, habe ich zusätzlich die mehrbändige Pléiade-Ausgabe mit ihrem wissenschaftlich profunden Anmerkungs-Apparat https://doi.org/10.1515/9783110647440-001
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Vorwort
zurate gezogen. Durch diesen Vergleich der unterschiedlichen Fassungen unter Berücksichtigung des Frühwerks Jean Santeuil sowie den mannigfaltigen Bezugnahmen auf Tacitus und Victor Hugo in seinen verschiedenen Aufsätzen glaube ich, den Grund dafür gefunden zu haben, warum sich Proust ausgerechnet bei dem von einem Zeitraum handelnden Tacitus-Zitat im Hinblick auf sein zentrales Thema erinnerter Zeit geirrt zu haben scheint, indem er die bei Tacitus genannten fünfzehn Jahre – womöglich allerdings bewusst – mit einem Vierteljahrhundert gleichgesetzt hat. Ich widme das Buch Herrn Prof. Dr. Bernhard Schlink in Dankbarkeit für einen inzwischen rund zwei Jahrzehnte währenden Gedankenaustausch über Recht und Literatur. Potsdam, im Juni 2021
Inhalt I.
« Du côté du Droit et de la Justice »
II.
« Ma phrase à la Tacite »
III.
« Quant aux historiens, aux auteurs dramatiques, au nommé Tacite » 79
IV.
Grande mortalis aevi spatium
V.
« Elle eût écrit comme Tacite »
VI.
« La loi cruelle de l’art »
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Literaturverzeichnis 266 I. Werke von Marcel Proust II. Sekundärliteratur 267 Personenverzeichnis
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I. « Du côté du Droit et de la Justice » Aus Sicht der Jurisprudenz scheint man bei Proust zu keinem tieferen Verständnis gelangen zu können, obwohl oder gerade weil er studierter Jurist wider Willen war.¹ Wenn er von den « jurisprudences d’interpretation » spricht (G I 82), ist das kein Kompliment. Rechtsprinzipien gelten zuweilen eher im familiären Umfeld allumfassend; instinktiv beziehen sich gerade die unzuverlässigeren oder betont aristokratisch gesonnenen Romanfiguren mit Vorliebe „auf die in der Familie herrschenden Rechtsgrundsätze“ (IV 320)² – « se reportant sans doute instinctivement a une jurisprudence familiale » (SG I 313). Samuel Beckett hat dies in seinem Proust-Essay verallgemeinert: „Es gibt kein Recht und Unrecht bei Proust oder in seiner Welt. (Außer vielleicht in den Passagen, die vom Krieg handeln, wenn er für einen Augenblick aufhört, Künstler zu sein, und seine Stimme mit dem Plebs, dem Mob, dem Pöbel, der Kanaille erhebt). In der Tragödie geht es nicht um menschliche Gerechtigkeit.“³ Wie eine Bestätigung wirkt innerhalb der Recherche der Verweis auf die Rehabilitierung eines anscheinend zu Unrecht der Spionage bezichtigten Freundes, die bei Marcel⁴ zugleich einen Rest unbehaglichen Zweifels an dessen Integrität
Luzius Keller, Proust lesen, 1991, S. 13, wonach „Proust sich auf Wunsch des Vaters (…) an der Juristischen Fakultät immatrikuliert, wo er drei Jahre später, im Herbst 1893, sein Lizenziat ablegt.“ Antoine Compagnon, Truth and Justice, in: The Strange M. Proust (Hg. André Benhaim), 2009, S. 112, 114, hat daher lediglich mit seiner wichtigen Folgerung recht, wenn er meint: “Unlike so many bourgeois writers of the nineteenth century, Proust did not study law: he does not believe in in the rule of law.” Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, 1996, S. 137, bemerkt die vielsagenden Auslassungen: « Mais le droit l’ennuie. Aucun juriste ne figure parmi ses amis. Dans la Recherche, on recontre (…) aucun professeur de droit ». Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Samuel Beckett, Proust, 1931 (S. 59 der von Marlis und Paul Pörtner übersetzten und durch Katharina Raabe und Werner Morlang überarbeiteten Ausgabe von 1989). Siehe auch Ignaz Knips, Schweigen in der Sprache. Zu Beckett und Proust, PROUSTIANA XX (1998), 22. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, bezeichnet „das ‚Ich‘ der Proustschen Romane“ als Erzähler (S. 19). Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im Suhrkamp-Verlag (stw 587), S. 247, unterscheidet zwischen dem Erzähler als ‚erinnerndem Ich‘ und ‚Marcel‘ als ‚erinnertem Ich‘. Luzius Keller, Proust lesen, 1991, S. 172, hat am Beispiel des Übergangs vom Jean Santeuil zur Recherche überzeugend herausgearbeitet, wie in letzterer ‚Marcel‘ zu einer Instanz wird: „In der Überlagerung verschiedener Handlungs- und Aussagesubjekte zeigt sich nämlich der Weg, der im Werk Prousts zu jener integrativen Instanz führt, von der aus in À la Recherche du temps perdu Erzählung und Betrachtung, erlebnishafter Bericht und analytische Erklärung, von der aus Diskurse und Perspektiven jeder Art organisiert werden können, zu jener Instanz, die mit Marcel bezeichnet werden kann.“ Auch Karlheinz Stierle, Kunst https://doi.org/10.1515/9783110647440-002
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I. « Du côté du Droit et de la Justice »
hinterlässt, weil die Erinnerung unwillkürlich Gegenwärtiges und Vergangenes so miteinander verknüpft, dass ihm alle Möglichkeiten, vor allem die ihn peinigenden, gleichermaßen einleuchten: „Volle Gerechtigkeit war ihm übrigens von seiten der Militärbehörde damals zuteil geworden. Trotz allem brachte ich diese Erinnerung in Zusammenhang mit dem, was ich jetzt vor mir sah.War dieses Hotel ein Spionagenest?“ (VII 177).⁵ – « Pleine justice lui avait d’ailleurs été rendue par l’autorité militaire. Mais malgré moi je rapprochai ce fait de ce que je voyais. Cet hôtel servait-il de lieu de rendez-vous à des espions? » (TR I 156).⁶ Es geht in der Tat ebensowenig um Recht oder Unrecht wie die Satisfaktion ‚voller Gerechtigkeit‘ als vielmehr um die Sorge, dass man sich selbst seiner vermeintlichen Freunde nie vollends sicher sein kann; übrigens zugleich ein Leitmotiv des Tacitus, der die falschen Freundschaften – fallaces amicitias (ann. 4.33.3) – erwähnt, die unter der den Keim des Misstrauens säenden Diktatur zerbrechen und zum gegenseitigen Verrat führen.⁷ Recht und Unrecht sind für Proust selbst im Sinne eines persönlichen Dafürhaltens keine absoluten und für alle Fälle verallgemeinerbaren, aus Gesetzmäßigkeiten unbedingt berechenbaren oder gleichermaßen geltenden Größen, sondern bestehen immer nur in Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen, die sich ihrerseits aus persönlichen Beziehungen und von den Akteuren empfundenen Zwängen ergeben. Daher kommt der Ausnahme mitunter größere Geltung zu als der Regel, ohne dass man von dieser künftig auf jene verlässlich schließen könnte, weil sich dann auch die persönlichen Konstellationen wieder geändert haben werden: „Robert hatte in jeder Beziehung recht. Doch sind die Umstände häufig so verwickelt, daß, wer hundertmal recht hat, doch einmal im Unrecht sein kann“ (III 234).⁸ – « Robert
und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 9, nennt „das erzählende Ich (…), trotz allem, Marcel.“ Michel Schneider, L’auteur, l’autre. Proust et son double, 2014, S. 42, macht allerdings auf die lediglich drei Nennungen aufmerksam: «Toujours dans La Prisonnière, (…) c’est trois fois que le prénom ‚Marcel‘ apparaît (…)». Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 148 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), lässt sich entnehmen, wie Proust Rechtskenntnisse in eigener Sache zur Verringerung seines Militärdienstes anzuwenden wusste: „Ich war Freiwilliger. Wer sich freiwillig meldete, ehe sein Jahrgang an der Reihe war, der brauchte nur ein Jahr zu dienen. Aber die Abgeordneten hatten gerade ein Gesetz verabschiedet, das den einjährigen Freiwilligendienst aufhob, so daß ich drei Jahre hätte ableisten müssen. Da bin ich dem Gesetz zuvorgekommen, ehe es in Kraft trat“. Näher Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 18. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
I. « Du côté du Droit et de la Justice »
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avait cent fois raison. Mais les circonstances sont toujours si embrouillées que celui qui a cent fois raison peut avoir eu une fois tort » (G I 236). Proust misstraut der Möglichkeit, umfassende Gerechtigkeit zu verwirklichen, ebenso wie Tacitus, der den Begriff der iustitia nur dreimal in seinen Annalen verwendet (ann. 14.20.5), und zwar überwiegend ironisch (ann. 12.11.2; 16.23.1):⁹ „Es muß nun einmal so sein, daß sie, die recht haben, (…) gleichzeitig unrecht haben, damit die Gerechtigkeit nur ja unmöglich bleibt” (IV 247).¹⁰ – « Car il faut que ceux-là même qui ont raison, (…) aient tort aussi, pour faire de la Justice une chose impossible » (SG I 241). Gerechtigkeit und Billigkeit bilden keine Konstanten, sondern hängen maßgeblich von menschlichen Schwächen und Leidenschaften, insbesondere der Eigenliebe und dem Hochmut des Betrachters ab, so dass Françoise beispielsweise im „Ton einer mit Stolz und Herablassung gemischten Gerechtigkeit sprach” (II 81) – « elle parlait avec cette équité mêlée d’orgeuil et de bonhomie » (JF I 80). Gerechtigkeit erscheint unter Prousts entlarvendem Blick, der nicht zuletzt durch die französische Moralistik geschult wurde, nur zu häufig als Selbstgerechtigkeit;¹¹ übrigens gerade bei Françoise (SG I 46), die geschrieben hätte wie Tacitus: « elle eût écrit comme Tacite » (G II 244). Bemerkenswert im Hinblick auf Becketts eingangs erwähnte Annahme ist auch der Satz aus der ‚Prisonnière‘: „Denn die Pflichten und Lasten eines Herrn machen einen Teil seiner Herrschaft aus und beweisen sie ebensogut, wie seine Rechte es tun“ (V 206).¹² – « Car les devoirs et les charges d’un maître font partie de la domination, et le définissent, le prouvent tout autant que ses droits » (P I 207). Das geht ersichtlich über die Frage hinaus, inwieweit Rechte und Pflichten einander bedingen. Schließlich ist auch dieses Zitat Teil einer Metapher, die von vermeintlichen Vorrechten Marcels ausgeht. Ähnlich verhält es sich, wenn er die Launenhaftigkeit eines Menschen als Hindernis einer Bindung mit der Eingehung völkerrechtlicher Verpflichtungen vergleicht: „Gilberte war wie jene gewissen Länder, mit denen man kein Bündnis zu schließen wagt, weil sie allzu oft die Regierung wechseln. Im Grunde aber hat man unrecht damit“ (VII 10/11).¹³ – Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. I, S. 332; Vol. II, S. 755. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zum Umschlagen der Gerechtigkeit in Selbstgerechtigkeit als Grundeinsicht der französischen Moralistik auch Jens Petersen, Recht und Macht in den Fabeln La Fontaines, Festschrift für Otmar Seul, 2014, S. 384. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Werner Hofmann, Recht und Gerechtigkeit in Marcel Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, PROUSTIANA XX (1998), 12– 17, hat bereits eine Reihe von Stellen behandelt, allerdings die meisten der hier behandelten unberücksichtigt gelassen. Zum Verhältnis Recht und Literatur Richard A. Posner, Law and Literature, 3. Auflage 2009; dessen Erwähnungen Prousts (S. 23, 464, 466, 513) indes wenig ergiebig sind und an keiner
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I. « Du côté du Droit et de la Justice »
« Gilberte était comme ces pays avec qui on n’ose pas faire d’alliance parce qu’ils changent trop souvent de governement. Mais au fond c’est un tort » (AD 361). Die Pointe liegt wie so oft bei Proust – und übrigens auch bei Tacitus¹⁴ – in dem zunächst widersinnig erscheinenden Nachsatz. Das Völkerrecht apostrophiert Marcel selbst, wenn er es bereits in ‚Combray‘ ironisch auf den innersten familiären Bereich bezieht, indem es just denen unbekannt ist, die sich doch aufgrund enger verwandtschaftlicher Verbundenheit an Abmachungen und eingeübte Verhaltensweisen am ehesten halten sollten. Diese erscheinen Marcel freilich wie mühsam zustandegekommene diplomatische Noten, deren gedankenloser Bruch umso verstörender ist, wie die durch die Majuskel beim ‚Droit‘ emphatische Hervorhebung des angestammten Rechts ironisch bezeugt: „Meinem Vater kam es nicht darauf an, mir sonst erlaubte Dinge vorzuenthalten, die in den umfassenderen Abkommen, welche meine Mutter und meine Großmutter durchgesetzt hatten, ausdrücklich festgelegt hatten, denn er gab nichts auf ‚Prinzipien‘ und kannte kein ‚Völkerrecht‘“ (I 52).¹⁵ – « Mon père me refusait constamment des permissions qui m’avaient été consenties dans les pactes plus larges octroyés par ma mère et ma grand’mère parce qu’il ne se souciait pas des ‚principes‘ et qu’il n’y avait pas avec lui de ‚Droit des gens‘ » (S I 55).¹⁶ Die ironische Überzeichnung darf
Stelle auf das Werk eingehen. Speziell zu Theodor Storm, aber mit erhellenden Gedanken auch im Verhältnis zu den weiter unten behandelten Bediensteten und Bedienten Bernhard Schlink, Free or a Servant?, Law & Literature 29 (2017), 11. Einen juristisch und literarisch bemerkenswerten Zugang zum Werk des Tacitus schildert Guido Calabresi, Introductory Letter, Yale Journal of Law & Humanities 1 (1988), vii. Allgemein dazu Christian Armbrüster, ‚Law and Literature‘-Movement in den USA – eine Herausforderung von ‚Law and Economics‘?, Juristische Rundschau 1991, 61. Kimberley Czajkowski‚ ‚Law and Literature‘ in Tacitus, Classical Review 70 (2020), 126 – 128 (zu Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019), hat dies erstmals im Hinblick auf Tacitus ausdrücklich herausgestellt. Wichtig auch Jürgen Paul Schwindt, Das Ende der Dinge und der Anfang der Interpretation. Cicero, ‚De legibus‘ 1, 1 ff., in: Lektüre und Geltung. Zur Verstehenspraxis in der Rechtswissenschaft und in der Literaturwissenschaft (Hg. Dieter Grimm/Christoph König), 2020, S. 207. Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 945. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 454, hat die ironische Brechung dieser völkerrechtlichen Konnotation als erster herausgestellt: „Zum Abrücken von seinen Figuren gehört vor allem die ironische Entlarvung durch Übertreibung. Proust gebraucht Wörter wie sein Swann, pointiert, gleichsam zwischen Anführungszeichen (ohne sie wirklich zu setzen), die eine Neuheit, ein Übermaß gleichsam ad absurdum führen. Ein Kind erblickt in den üblichen Zugeständnissen, die ihm seine Eltern machen, eine Art Völkerrecht – ich mildere jetzt bei der Wiedergabe durch „eine Art Völkerrecht“ – Proust spricht wie selbstverständlich vom ‚Völkerrecht‘. Aus der Inkongruenz zwischen dem Anlaß dieser Anspielung und dieser selbst quillt Ironie“.
I. « Du côté du Droit et de la Justice »
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freilich nicht darüber hinwegtäuschen, sondern soll gerade hervorheben, dass es demjenigen, der sich auf diese höchsten Rechte beruft, infolge seiner unentrinnbaren Befangenheit in der conditio humana eben genauso vorkommt. Wir werden noch verschiedentlich sehen, dass Proust die individuelle Handlungswillkür mit Vorliebe unter Berufung auf höchste Rechte zurückführt – hier das Völkerrecht oder an anderen Stellen die unveräußerlichen Menschenrechte (III 392; VII 223). Die Binnenspannung der ersten fünfzig Seiten der Recherche rührt nicht zuletzt daher, dass die Zuwiderhandlungen Marcels in seiner Vorstellung kraft eines Analogieschlusses unter dem Risiko der Verhängung der drohenden Höchststrafe begangen wurden – der Einweisung ins Internat:¹⁷ „Aber in meiner Erziehung war die Rangordnung der Vergehen nicht die gleiche wie in der Erziehung anderer Kinder. (…) Doch ich kannte sie deutlich heraus an der Angst, die ihnen voranging, sowie an der Strenge der darauf folgenden Strafe, und ich wußte genau, daß mein jetziger Verstoß zur gleichen Familie, für die ich streng bestraft worden war, nur weitaus schwerer sei. Wenn ich mich jetzt meiner Mutter in den Weg stellte, in dem Augenblick, wo sie heraufkam, um schlafen zu gehen, und wenn sie sähe, daß ich aufgeblieben war, um ihr auf dem Flur noch einmal gute Nacht zu sagen, so würde man mich nicht mehr im Hause behalten, man würde mich gleich am nächsten Tag in ein Internat stecken, das stand fest“ (I 48/49).¹⁸ – « Mais dans l’éducation qu’on me donnait, l’ordre des fautes n’était pas le même
Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft, 2012, S. 165, schildert ein vergleichbares Beispiel, bei dem sich diese Spannung einer an sich unscheinbaren Begebenheit aus dem inneren Erleben im Zusammenwirken mit einem äußeren ungewissen Ereignis ergibt: „In Paris begegnet der junge Marcel seiner großen Kinderliebe aus den Tagen von Combray wieder, Gilberte, der Tochter Swanns, und es entspinnt sich daraus eine erste Jugendliebe zu der wie das Wetter unvorhersehbaren Gilberte, die Marcel, wenn das Wetter es will, in den Champs-Élysées zu Spiel und kindlichem Wettkampf trifft. Meisterhaft beschreibt Proust das Balkongitter, das zum Orakel von Marcels täglichem Glück oder Unglück wird. Denn aus dem Licht, das auf den Balkon fällt und an dem Schatten, den dann das Gitter wirft, ist ablesbar, ob Marcel der Gang zu den Champs-Élysées erlaubt wird oder ob er die Hoffnung haben kann, ihr dort zu begegnen. Die Unbeständigkeit des Wetters im Fortgang der Jahreszeiten, gespiegelt in den ephemeren Farb- und Schattenspielen, sind selbst ein Spiegelbild von Gilbertes Unbeständigkeit, die erst dem Dargestellten im Pulsieren seiner Erscheinung seine psychische Intensität gibt.“ – Diese scharfsichtige Beobachtung entspricht nicht von ungefähr passgenau dem oben im Text zitierten, völkerrechtlich gefärbten Wort zur Unberechenbarkeit Gilbertes (AD 361). Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 48, ordnet den Rang der Balkongitter-Episode kunst- und musikgeschichtlich ein: „Dieses erstaunliche Stück offenbart Ausdrucksmöglichkeiten, die einen technischen Fortschritt in demselben Sinne darstellen wie die Farbenskala eines Monet oder die Harmonien eines Debussy“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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que dans l’éducation des autres enfants (…). Mais je le reconnaissais bien à l’angoisse qui les précédait comme à la rigeur du châtiment qui les suivait; et je savait que celle que je venais de commetre était de la même famille que d’autres pour lesquelles j’avais été sévèrement puni, quoique inifiniment plus grave. Quand j’irais me mettre sur le chemin de ma mère au moment où elle monterait se coucher, et qu’elle verait que j’etais resté levé pour lui redire bonsoir dans le couloir, on ne me laisserait plus rester à la maison, on me mettrait au collège le lendemain, c’était certain » (S I 51/52). An dieser für die dramaturgische Gestaltung ungemein wichtigen Stelle könnten sich Prousts widerwillig unternommene juristische Studien niedergeschlagen haben. Seine Formulierung der Zugehörigkeit der fraglichen Norm zur selben Familie – ‚de la même famille‘ – ebenso schwerwiegender Zuwiderhandlungen veranschaulicht nämlich eindrucksvoll, warum ein solcher Schluss in der juristischen Methodenlehre so wirkungsvoll sein kann, wenn ihn die Analogiebasis trägt.¹⁹ Die einzige Rechtssicherheit mit der Marcel verlässlich rechnen zu dürfen meinte, war die dem frevelhaften Tabubruch unausweichlich folgende Verbannung aus dem Elternhaus.²⁰ Das erklärt eine ebenfalls juridisch gefärbte Stelle, an welcher er beklagt, dass sein Vater beim abendlichen Zubettgehen weniger Sinn für ‚Vertragstreue‘ zeigte als Mutter und Großmutter: „Und mein Vater, der nicht so gewissenhaft wie meine Großmutter und meine Mutter auf Vertragstreue hielt, erklärte: ‚Ja los, geh schlafen!‘“ (I 41).²¹ – « Et mon père, qui ne gardait pas aussi scrupuleusement que ma grand’mère et que ma mère la foi des traités, dit: ‚Oui, allons, va te coucher‘ » (S I 44). Dieser jähe Imperativ, der vom Erzähler als treuwidriger Verstoß gegen sein heiligstes Gewohnheitsrecht verstanden werden musste, bezieht sich ersichtlich auf den durch die Einhaltung des freiwilligen Ritus’ geprägten Einleitungssatz der Recherche – « Longtemps, je me suis couché de bonne heure » (S I 11)²² – und macht die Schlaflosigkeit schon wegen der treuwidrigen Durchbrechung der Gewohnheit unausweichlich.
Siehe nur Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2. Auflage 2018; S. 253; vgl. auch Claus-Wilhelm Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 1963, S. 78 ff.; Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 3. Auflage 2020, § 2. Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 19, schildert die Zuwiderhandlung in gebührender Dramatik: „jener Augenblick der Katastrophe (…), als Marcel es wagt, sich gegen die verhängte Ordnung aufzulehnen“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Eingehend Roland Barthes, Longtemps, je me suis couché de bonne heure (1982), Œuvres complètes (Hg. Eric Marty), 1995, Vol. III, S. 827; Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin MlynekTheil/Kerstin Küchler), 2016, S. 13, 14 f.
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Von hier verläuft ein gerader Weg zur berühmten Madeleine, die Marcel in den Tee taucht, den er gegen seine Gewohnheit trinkt: „Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Drama des Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertage, an dem ich durchgefroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen“ (I 63).²³ – « Il y avait déjà bien des années que, de Combray, tout ce qui n’était pas le théâtre et le drame de mon coucher n’existait plus pour moi, quand un jour d’hiver, comme je rentrais à la maison, ma mère, voyant que j’avais froid, me proposa de me faire prendre, contre mon habitude, un peu de thé. Je refusai d’abord et, je ne sais pourquoi, je me ravisai » (S I 66/67). Hervorhebung verdienen vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen die unscheinbaren drei Worte: ‚contre mon habitude‘.²⁴ Erst die verstörende Durchbrechung der Gewohnheit nämlich führt zum – allerdings noch nicht hier, sondern erst an späterer Stelle so genannten – « souvenir involontaire » (SG I 214).²⁵ Die Durchbrechung der Gewohnheit ist also eine
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Lewis Hyde, A Primer for Forgetting. Getting Past the Past, 2019, S. 302, betont diese Worte zwar ebenfalls: “No wonder, then, that when Proust’s narrator, Marcel, eats the famous madeleine and finds himself reborn, he pauses to note that he did so ʻcontrary to my habitʼ, and no wonder that the forgetting of habits of mind figures so largely in the many volumes of In Search of Lost Time.” – Aber er scheint das Regel-Ausnahme-Verhältnis anders zu verstehen, leitet er doch den vorangehenden Absatz mit der Feststellung ein: “But on the whole, he (sc. Proust) is a declared enemy of habit.” Wie hier bereits Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 25: „Es ist noch allzuwenig beobachtet worden, daß die grundlegende Zeiterfahrung der Recherche die der habitude ist. Prousts Zeitwelten sind Sedimentierungen des Immergleichen in der Zeit. Daher ist für Marcel jede Erschütterung einer Gewohnheit immer so etwas wie die Vertreibung aus dem Paradies.“ – Hervorhebungen auch dort. Zum genannten ‚souvenir involontaire‘ grundlegend Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im Suhrkamp-Verlag (stw 587), S. 76, der es mit „Wieder-Erinnerung (in dieser Schreibweise)“ bezeichnet (S. 313 Anmerkung 51 f.) und auf frühere Stellen in Prousts Werk verweist. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 26, hat diese Dimension und ihre immanente Grenze in zwei Sätzen verdeutlicht, deren erster auch die erschließende Wirkung zum Ausdruck bringt: „Doch nach der nächtlichen Welt der ‚terreurs enfantines‘ öffnet sich plötzlich die unzugänglich gebliebene Tagwelt von Combray durch den berühmten souvenir involontaire, der sich einstellt, als eines Tages Marcel zufällig wieder eine in Lindenblütentee getauchte Madeleine ißt, wie er sie so oft in Combray bei der im Haus wohnenden Großtante Léonie genossen hatte. Allzu voreilig wäre es aber, in dieser unwillkürlichen Erinnerung den Schlüssel zu Prousts oder Marcels wiedergefundener Zeit erkennen zu wollen.“ Denn dafür bedarf es weiterer Erlebnisse; vgl. ebenda, S. 29 f.,
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notwendige, freilich noch keine hinreichende Bedingung für den zuinnerst aufwühlenden ‚souvenir involontaire‘. Wir werden eine ähnliche, wenngleich deutlich abgeschwächte Wirkung bei der ursprünglichen Nennung des Tacitus-Zitats innerhalb der Œuvres complètes beobachten, dessen ungewohnt verzerrte Wortstellung Marcel schlagartig Swanns Tod in Erinnerung ruft (P I 263). Als Marcel beim ‚Drama meines Schlafengehens‘ – « au drame de mon déshabillage » (S I 65) –, wie er selbst es nennt (I 62),²⁶ einen unverhofften Sieg davonträgt, kommt es ihm vor wie „eine Art Recht auf Tränen“ (I 55)²⁷ – « une sorte (…) d’émancipation des larmes » (S I 58); ein Recht übrigens, das Tiberius den Angehörigen der Opfer seiner Willkür nach Tacitus’ eindringlicher Darstellung nicht zugestand (ann. 6.10.1; 6.19.3).²⁸ Justizmetaphern finden sich auch anderswo, etwa wenn Marcel von „einem ungerechten Scherbengericht“ spricht (III 170):²⁹ « injuste des ostracisme » (G I 172). Und just nachdem er von seiner alten Dienerin Françoise gesagt hat, dass sie, wenn sie denn ihre ebenso entlarvenden wie scharfsichtigen Beobachtungen niedergeschrieben hätte, dann so wie Tacitus (G II 244) –, wirkt sie auf ihn in ironischer Anlehnung an ein Gemälde Prud’hons³⁰ „wie eine Allegorie der ‚Gerechtigkeit, die das Verbrechen erhellt‘“ (III 477).³¹ – « Françoise avait l’air de la ,Justice éclairant le Crimeʻ » (G II 245).³² Derartige Allegorien aus der Kunstgeschichte begegnen auch an anderer Stelle, etwa am Beispiel Giottos Arena-
zum blühenden Weißdornbusch: „Dies ist die erste noch begrifflose Erfahrung dessen, was Marcel erst sehr viel später auf den Begriff des ‚souvenir involontaire‘ bringen wird (IV 220).“ Gerhard Neumann, Liebes- und Gedächtnismahl. Zum Zusammenhang von Ursprung und Eucharistie in Prousts Recherche, in: Ein unerhörtes Glücksgefühl (Hg. Kirsten von Hagen/ Claudia Hoffmann/Volker Roloff), PROUSTIANA XXIV (2006), 176, 178, spricht von „dieser allabendlich sich wiederholenden Urszene des Kampfes um das Ich- und Weltverstehen“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Dazu Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 5. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Eric Karpeles, Paintings in Proust. A Visual Companion to ‚In Search of Lost Time‘, 2008, S. 165, mit Abbildung des offenbar gemeinten Bildes, das im Original « Justice et la Vengeance divine poursuivants le Crime» heißt. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Antoine Compagnon, Truth and Justice, in: The Strange M. Proust (Hg. André Benhaim), 2009, S. 112, der diese Metapher, wie sich aus den nachfolgenden Nachweisen noch ergeben wird, am gründlichsten analysiert hat, ordnet die Stelle ebenso anschaulich wie wertungsmäßig folgerichtig ein: “Justice is rarely brought into question, as justice itself, but frequently by means of comparison, and always in a negative manner. This is the case for instance, when Françoise puts in full view a letter she did not miss or when she spies on the narrator and Albertine. (…) Justice therefore, frequently serves as a reference”.
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Kapelle,³³ und zwar in einer humorvollen Überhöhung und ironischen Verbindung künstlerischer Vollendung der Gerechtigkeitsdarstellung mit den verborgenen Abgründen menschlicher Ungerechtigkeit, die überall lauern, wo sich Gelegenheiten bieten:³⁴ „eine Gerechtigkeit, deren graues, ausdruckslos regelmäßiges Gesicht genau das gleiche war, wie es in Combray gewissen hübschen, frommen und gefühlsarmen Bürgersfrauen eignete, die ich bei der Messe traf und von denen mehrere bereits Anwärterinnen auf einen Platz im Reservecorps der Ungerechtigkeit waren“ (I 112/113).³⁵ – « une Justice, dont le visage grisâtre et mesquinement régulier était celui-là même qui, à Combray, caractérisait certaines jolies bourgeoises pieuses et sèches que je voyais à la messe et dont plusieurs étaient enrôlées d’avance dans les milices de réserve de l’Injustice » (S I 118). In ästhetischer Überhöhung und Parodie von unqualifizierter Kunstkritik und Gerichtsbarkeit befürchtet Marcel, eine von ihm verehrte Schauspielerin könne undankbares und banausenhaftes Verhalten des Publikums zu einer verhängnisvollen Richtungsänderung ihrer künstlerischen Darbietung bewegen, wie er selbst bei der Lektüre eines Prozessberichts den fatalen Gesinnungswandel eines rechtschaffenen Zeugen für möglich hielt:³⁶ „Ich war darüber erschrocken; denn ebenso wie ich, wenn ich in einem Prozeßbericht las, daß ein edler Mann auftreten und seinen Interessen entgegen zugunsten eines Unschuldigen aussagen wolle,
Grundlegend Karlheinz Stierle, Marcel und die Arena-Kapelle, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 179; ders., Proust, Giotto und das Imaginäre, Festschrift für Max Imdahl, 1985, S. 219; Patricia Oster-Stierle, „Allegorisches Substrat und ästhetischer Überschuß. Visibile parlare bei Dante und Giotto (und bei Proust)“, in: Die Oberfläche der Zeichen. Zur Hermeneutik visueller Strukturen in der frühen Neuzeit (Hg. Ulrike Tarnow), 2014, S. 35. Karlheinz Stierle, Proust und Sainte-Beuve, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 58, 71, bezeichnet „die vices et vertus der Arena-Kapelle“ treffend als die große „moralische Weltformel (…), die den Roman bis zu seinem Ende perspektivieren wird,“ sind sie doch „die vollständigste Figur einer allegorischen Ordnung der Welt,“ die „verweist auf jene zeitenthobene christliche Welt des Mittelalters, der auch die Kirche von Combray angehört.“ – Vor diesem Hintergrund kann die folgende Stelle als ironische Anspielung auf diesen Moralismus begriffen werden, der auch Tacitus nicht fremd war. Das wiederum entspricht zumindest mittelbar jener Folgerung Stierles, „daß es fast scheinen könnte, Proust habe Giottos zweideutige, nicht mehr feststellbare Allegorie mit den Augen La Rochefoucaulds gesehen“ (S. 71 f.). Tacitus’ Einfluss auf La Rochefoucauld wurde im Übrigen bereits im Schrifttum festgestellt von Jürgen von Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960, S. 209 ff. Auch in dieser Hinsicht bildet also die französische Moralistik zumindest mittelbar einen Berührungspunkt zwischen Proust und Tacitus. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Siehe auch Albert Gier, La Berma: Raum und Idee des Theaters bei Marcel Proust, in: Marcel Proust. Orte und Räume (Hg. Angelika Corbineau-Hoffmann), 2003, S. 138.
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immer in Ängsten schwebte, daß man vielleicht nicht nett genug zu ihm wäre und und ihm nicht genügend Dankbarkeit bezeigte, ihn nicht reich genug belohnte und er sich daraufhin angewidert auf die Seite der Ungerechtigkeit schlagen könnte, so fürchtete ich hier unter Gleichsetzung von Tugend und Genie, die Berma könnte aus Empörung über die schlechten Manieren eines unerzogenen Publikums (…) ihm ihre Unzufriedenheit und Verachtung durch schlechtes Spiel zu verstehen geben“ (II 30/31).³⁷ – « J’en étais effrayé; car de même que dans le compte rendu d’un procès, quand je lisais qu’un homme de noble cœur allait venir, au mépris de ses intérêts, témoigner en faveur d’un innocent, je cragnais toujour qu’on ne fût pas assez gentil pour lui, qu’on ne lui marquât pas assez de reconaissance, qu’on ne le récompensât pas richement, et, qu’écœuré, il se mît du côté de l’injustice; de même assimilant en cela le génie à la vertu, j’avais peur que la Berma dépitée par les mauvaises façons d’un public aussi mal élevé (…) ne lui exprimât son mécontentement et son dédain en jouant mal » (JF I 29).³⁸ Sünden wider den Geist der Kunst dünken ihn schwerwiegender, gleichsam wie ein Religionsfrevel, als Zuwiderhandlungen gegen die weltliche Gerichtsbarkeit. Kommt beides zusammen, wie bei der Demütigung der Berma durch eine subalterne Person, zeigt sich die wahre Niedertracht im Gewand heuchlerischer Selbstgerechtigkeit und falscher Hochherzigkeit, die das Opfer eher daran erinnert, dass es noch dankbar sein kann weiterzuleben, während die Täterin sich auf der Seite des Rechts weiß und daher nicht unnötig die Hände schmutzig macht: „Man macht gern Opfer, aber doch so, daß man sich nicht selbst ins Unrecht setzt, das heißt, indem man jene am Leben läßt“ (VII 462).³⁹ – « On aime à faire des victimes, mais sans se mettre précisément dans son tort, et en les lassant vivre » (TR II 209).⁴⁰ Zugleich zeigt sich auch hier, dass Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit für Proust nichts ein- für allemal Feststehendes sind, sondern gerechtes Verhalten, wenn es sich nicht hinreichend belohnt sieht, jederzeit in Ungerechtigkeit
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Siehe zur Berma auch Ulrike Sprenger, Stimme und Schrift. Inszenierte Mündlichkeit in Prousts À la recherche du temps perdu, 1995, S. 136. Zur Berma in der Recherche Rainer Warning, Marcel Proust, 2016, S. 80 ff. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Werner Hofmann, Recht und Gerechtigkeit in Marcel Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, PROUSTIANA XX (1998), 12, 16, kommentiert: „Scheinheiligkeit und deren aus purer Feigheit beachtete Spielregeln werden schließlich noch thematisiert beim sogenannten Triumph Rachels über die schon vom Tod gezeichnete Berma.“ Zum Hintergrund dieser Stelle ebenso eindringlich wie erhellend Patricia Oster, Prousts Roman À la recherche du temps perdu und die abgewandte Seite der französischen Klassik, in: Marcel Proust – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patricia Oster/Karlheinz Stierle), 2007, S. 106, 120 f.; dies., Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären, 2002, S. 322.
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umschlagen kann⁴¹ – ein aus der französischen Moralistik geläufiges,⁴² aber ursprünglich taciteisches Motiv.⁴³ Mit einem gewissen Recht lässt Tacitus sogar den ihm eigentlich verhassten Tiberius sich dem Senat gegenüber darüber beklagen, dass von ihm kraft seiner herausgehobenen Stellung ungebührlich mehr verlangt werde und ausgerechnet er vorwurfsvoll behandelt werde, wenn von allen gesündigt wird: ‚maius aliquid et excelsius a principe postulatur; et cum recte factorum sibi quisque gratiam trahant, unius invidia ab omnibus peccatur‘ (ann. 3.53.3). Recht und Poesie bringt Proust, wenn überhaupt, seltsam antithetisch zum Ausdruck, eher wie eine coincidentia oppositorum: „mit dem Stolz eines Rechtsbringers und dem Lustgefühl des Poeten“ (VII 180). – « avec une fierté de justicier et une volupté de poète » (TR I 158). Nicht minder merkwürdig ist, dass Proust das einzige Tacitus-Zitat innerhalb der Recherche ursprünglich in einer nachträglich gestrichenen Wendung einleitet mit:⁴⁴ « ce que le poète appelle » (P I 263). Erscheint hier der Dichter als Fremdkörper, so ist es dort der Verfechter der Gerechtigkeit. Ein Schriftsteller wie Bergotte würde sich auch vor der weltlichen Gerichtsbarkeit ohne Rücksicht auf Verluste und aus einem inneren Drang heraus nicht anders verhalten als vor dem Tribunal der Kunst: „Wenn dieser sich jemals vor einem Tribunal zu verantworten hätte, würde er nicht die Wendungen gebrauchen, die am besten geeignet wären, die Richter zu überzeugen, sondern echt bergottische, die ihm ganz natürlich aus seinem literarischen Temperament zuströmten und die er nun einmal gern benutzte“ (IV 19/20). – « S’il avait jamais à répondre devant un tribunal, il userait non de phrases propres à convaincre les juges, mais de ces phrases bergottesques que sont tempérament littéraire particulier lui suggérait naturellement et lui faisait trouver plaisir à employer » (SG I 19). Bei aller Skepsis gegenüber der Gerechtigkeit im Allgemeinen und den Organen der Rechtspflege im Besonderen bevorzugt Proust Justizmetaphern oder
Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 208, zeigt am Beispiel der Liebe, dass „der ständige Umschlag“ in korrespondierende negative Erscheinungen für Prousts Denken bezeichnend ist. Grundlegend Karlheinz Stierle, Montaigne und die Moralisten. Klassische Moralistik – Moralistische Klassik, 2016. Siehe auch Rainer Warning, Proust und die Moralistik, in: Marcel Proust und die Philosophie (Hg. Ursula Link-Heer/Volker Roloff), 1997, S. 100; Justin O’Brian, Proust as a Moralist, in: The French Literary Horizon, 1967, S. 19 ff. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 358 f.; zur im Folgenden zitierten Stelle bereits ebenda, S. 208. Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703, 1742 Anmerkung a; dort lautet der Klammerzusatz: « Il y a pourtant de cela jusqu’à la mort de Swann ce que le poète appelle à bon droit : grande spatium mortalis aevi. biffé».
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Bilder, die in Hierarchien, Klassen oder Kasten denken (III 311): „Ich stellte in seiner Zurückhaltung ein größeres Gefühl nicht gerade der Gleichheit, denn eine solche wäre für ihn unfaßbar gewesen, wohl aber der Achtung fest, die man einem Tieferstehenden gewähren kann, wie es in allen stark hierarchisch bestimmten Milieus der Fall ist: im Palais de Justice zum Beispiel oder in einer Fakultät, wo ein Staatsanwalt oder ein Dekan, die sich ihrer hohen Funktionen bewußt sind, vielleicht mehr wirkliche Schlichtheit und, wenn man sie besser kennt, mehr Güte, mehr Herzlichkeit hinter der traditionellen Unzugänglichkeit verbergen als ein moderner Gesinnter hinter einer vorgeblichen, wortreichen Kameradschaftlichkeit“ (IV 82/83).⁴⁵ – « Je trouvais dans sa réserve un sentiment plus grand, je ne dirais pas d’égalité, car ce n’eût pas été consevable pour lui, au moins de la considération qu’on peut accorder à un inférieur, comme il dans tous les milieux fortement hiérarchisés, au Palais par exemple, dans une Faculté, où un procureur général ou un ‚doyen‘ conscients de leur haute charge cachent peut-être – plus de simplicité réelle et, quand on les connaît davantage, plus de bonté, de simplicité vraie, de cordialité, dans leur hauteur traditionelle que de plus modernes dans l’affectation de la camaraderie badine » (SG I 80). Dieses Bild des seiner Amts- und Standeswürde durchaus gewissen, jeglicher Kumpanei abholden, aber gleichwohl zugänglichen und die Untergebenen bei aller Distanz achtenden Vorgesetzten findet sich in Tacitus Frühschrift über seinen Schwiegervater Agricola, den er ganz ähnlich charakterisiert: ‚nec illi, quod est rarissimum, aut facilitas autoritatem aut severitas amorem deminuit‘ (Agr. 9.3).⁴⁶ Die Stelle steht nicht von ungefähr im Umfeld mit Agricolas Rolle im von Tacitus hochgeschätzten Militärwesen (Agr. 8.1).⁴⁷ Im Übrigen lässt sich ein ähnliches Rangdenken auch bei Tacitus feststellen, für den die Rechtsgleichheit des Plebejers mit dem römischen Senator schlechterdings unvorstellbar war (ann. 2.33.3).⁴⁸ Beides zusammengenommen erinnert wiederum an Proust: „Man ließ jetzt, um den Generalstab zu ehren, einen plebejischen General den Vortritt
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 419, 519 f., 549, 563, zu dieser Stelle und ihrem Umfeld. Richard Reitzenstein, Bemerkungen zu den kleineren Schriften des Tacitus, Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philosophisch-historische Klasse 1914/1915, S. 173, 255 f. Fußnote 1: „Tacitus, der (…) selbst ganz unmilitärisch, hat die tiefe Sympathie für das Heer sich (…) bewahrt“. Ronald Syme, The Senator as Historian, in: Ten Studies in Tacitus, 1970, S. 1; ders., Human Rights and Social Status at Rome, The Classical Outlook 64 (1986/7), 37, 40; Karl Nipperdey/Georg Andresen, P. Cornelius Tacitus, 11. Auflage 1915, S. 254 f. Fußnote 12 („aristokratische Ansicht“); Mischa Meier, Odium humani generis. Tacitus, Nero und die Christen (zu Tac. ann. XV 44, 4), Mediterraneo antico 15 (2012), 425, 430; Elke Hartmann, Ordnung in Unordnung. Kommunikation, Konsum und Konkurrenz in der stadtrömischen Gesellschaft in der frühen Kaiserzeit, 2016, S. 202.
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vor gewissen Herzögen“ (IV 106). – « On faisait passer maintenant, pour glorifier l’état-major, un général-plébéian avant certain ducs » (SG I 103). Verbreitet im Hochadel der Guermantes ist auch, wie Marcel ironisch vermerkt, „eine gewisse Sicht der Dinge (…), bei der man sich selbst für nichts erachtet, und das ‚Volk‘ für alles, also gerade das Gegenteil vom Hochmut der Plebejer“ (II 428).⁴⁹ – « une manière de concevoir les choses sans laquelle on se compte pour rien, et ‚le peuple‘ pour tout; en somme tout le contraire de l’orgeuil plébéien » (JF II 204). Auch dieses Gespür für dieselben feinen Unterschiede⁵⁰ findet sich in Tacitus’ Dialog über die Redner, dem der Adept zuhören darf und an dessen Ende er vielsagend schildert, wie ‚sie‘, also die berühmten Redner, lachten, während ‚wir‘ auseinandergingen, er somit nicht in das vertrauliche Scherzen einbezogen war und seinen Platz kannte: ‚cum adrisissent, discessimus‘ (dial. 42.2).⁵¹ Marcel bemerkt ebenfalls, dass „die Liebenswürdigkeit, die Behandlung von gleich zu gleich bei der Aristokratie nur eine Komödie war (VI 343).⁵² – « ayant remarqué que l’amabilité, le côté plein-pied, ‚pair à compagnon‘ de l’aristocratie était une comédie » (AD 329/330). In Wirklichkeit ist es mit der Vorstellung einer universellen Rechtsgleichheit nicht weit her, wie er über einen aristokratischen Freund ironisch vermerkt: „ganz und gar auch jener Achtung bar, die wir den Rechten anderer Geschöpfe entgegenzubringen pflegen” (II 401).⁵³ – « dépouillé de ce vague respect qu’on a pour les droits d’autres créatures » (JF II 178). Zudem macht Marcel die Erfahrung, dass der Durchgriff auf Höhergestellte Anstoß erregt und für ihn der Weg durch die Instanzen vorgesehen ist. Als er sich dessen ungeachtet einmal eigenmächtig Zugang zu einem hohen Aristokraten verschafft, den ihm dessen Verwandter – freilich nicht ohne dadurch eine neue Verbindlichkeit zu begründen – hätte vermitteln können, lässt er Marcel mit dem Zweifel und der Feststellung zurück: „War es ein schwerwiegender Fehler oder sogar ein unsühnbares Verbrechen, jedenfalls hatte ich nicht den Instanzenzug befolgt“ (IV 62).⁵⁴ – « Faute grave, crime peut-être inexpiable, je n’avais pas suivi la voie hiérarchique » (SG I 60). Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Pierre Bourdieu, La distinction. Critique sociale du jugement, 1979, zitiert wohl nicht von ungefähr so häufig Proust; in der von Bernd Schwibs und Achim Russer mit ‚Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft‘ übersetzten Suhrkamp-Ausgabe von 1987, S. 44, 99, 120, 125 f., 282 f., 348, 756, 781 f. James Luce, Reading and Response in the Dialogus, in: Tacitus and the Tacitean Tradition (Hg. James Luce/Anthony J. Woodman), 1993, S. 11, 37, betont sinnfällig: “They laughed, we left”. Hervorhebungen auch dort. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Die Unerforschlichkeit der Beweggründe menschlichen Handelns, für die es kein Wahrnehmungsorgan gibt (III 501) – auch dies im Übrigen, wie noch zu zeigen sein wird, ein taciteisches Motiv (Agr. 42.3)⁵⁵ – vergleicht Marcel in der ‚Prisonnière‘ ebenfalls mit Anleihen aus dem Rechtssystem: „Kriminalfälle werden mehr oder weniger durch den Untersuchungsrichter aufgehellt. Aber für die verblüffenden Handlungen von Menschen vermögen wir oft die Beweggründe nicht zu erkennen“ (V 427).⁵⁶ – « Les afffaires criminelles sont plus au moins debrouillées par le juge d’instruction. Mais les actions déconcertantes de nos semblables, nous en découvrons rarement les mobiles » (P II 153). Der Untersuchungsrichter begegnet übrigens noch an anderer Stelle, diesmal mit aphoristischer Bündigkeit: „Ein Priester hat wie ein Irrenarzt immer etwas von einem Untersuchungsrichter“ (III 449/450).⁵⁷ – « Chez le prêtre comme chez l’alieniste, il y a toujours quelque chose du juge d’instruction » (G II 217).⁵⁸ Zugleich erscheint der Untersuchungsrichter als personifiziertes schlechtes Gewissen, durch das verborgene Eitelkeiten aufgedeckt und gerichtet werden: „Ich hatte es mir beinahe mit einer gewissen Befriedigung über meinen Scharfsinn in meiner Verzweiflung gesagt wie ein Mörder, welcher meint, daß er nicht entdeckt werden kann, der aber dennoch Furcht hat und plötzlich den Namen seines Opfers bei dem Untersuchungsrichter, der ihn vorgeladen hat, auf dem Deckel eines Aktenstücks liest“ (VI 23/24).⁵⁹ – « Je me l’étais dit presque avec une satisfaction de perspicacité dans mon désespoir comme un assassin qui sait ne pouvoir être découvert, mais qui a peur et qui tout d’un coup voit le nom de
Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg.Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 3 „eine ernste und tiefe Natur, ein beobachtender und durchdringender Geist wie Tacitus (…) zwar in gereifter Weisheit, aber früh gealtert und mit tiefem Mißtrauen gegen die Motive der menschlichen Handlungen.“ Ähnlich Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II, S. 541: “The senatorial life predisposed an historian to universal suspicion about human motives”. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Antoine Compagnon, Truth and Justice, in: The Strange M. Proust (Hg. André Benhaim), 2009, S. 112, 113, stellt dieses Wort in einen größeren Zusammenhang: “The passage concludes with an unsettling sentences. The figure of the priest who penetrates consciences from behind the bars of his fingers as if behind those of his confessional, summons the two other great inquisitors who are the psychiatrist and the judge, in according with the épistémé exposed by Michel Foucault in ‚Discipline and Punish: The Birth of the Prison‘”. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 134 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux) zufolge dachte Proust selbst offenbar nicht so: „Priester oder Arzt, da besteht eine Ähnlichkeit in bezug auf den Geist der Nächstenliebe“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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sa victime écrit en tête d’un dossier chez le juge d’instruction qui l’a fait mander » (AD 24).⁶⁰ Auch den eitlen und rechthaberischen Sorbonne-Professor Brichot, der zuvor noch Tacitus zitierte (V 262), schildert er „mit düsterer Miene und einer Plötzlichkeit, die an einen Untersuchungsrichter gemahnte, der einen Angeklagten zum Geständnis zwingen will – die aber in Wirklichkeit dem Verlangen des Professors entsprang für scharfsinnig zu gelten“ (V 404).⁶¹ – « avec une brusquerie qui rappelait celle d’un juge d’instruction voulant faire avouer an accusé, mais qui, en réalité, était le résultat du désir qu’avait le professeur de paraître perspicace » (P II 131).⁶² Schließlich ist vom Untersuchungsrichter in einem für die vorliegende Untersuchung aufschlussreichen Zusammenhang mit einem Historiker die Rede:⁶³ „Dennoch, wenn nach dem neuen ungeheuren Sprung nach vorn, den das Leben mich hatte machen lassen, die Wirklichkeit, die sich mir unabweisbar jetzt aufzwang, mir ebenso neu erschien wie diejenige, vor welche die Entdeckungen eines Physikers, die Ermittlungen eines Untersuchungsrichters oder die Forschungsergebnisse eines Historikers, in bezug auf die Hintergründe eines Verbrechens oder einer Revolution uns stellen, so übertraf diese Wirklichkeit zwar
Antoine Compagnon, Truth and Justice, in: The Strange M. Proust (Hg. André Benhaim), 2009, S. 112, 115, bringt dies unter Verwendung des deutschen Wortes ‚Schadenfreude‘ mit Edgar Alan Poe und Dostojewski in Verbindung. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Werner Hofmann, Recht und Gerechtigkeit in Marcel Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, PROUSTIANA XX (1998), 12, 16, bietet nach exemplarischer Untersuchung weitere Erkenntnisse: „Wir sind bisher einer Reihe rechtlicher Motive begegnet: dem Schuldgefühl nach unfair erlangtem Sieg, der durch Sozialmoral begründeten Erblasserbindung, der Selbstjustiz, den Vorbedingungen zur erfolgreichen Erschütterung fundierter Rechtspositionen, den Funktionen des Geständnisses, den Prinzipien der materiellen und formellen Wahrheit, dem Verlust der Urteilskraft im emotional aufgeladenen Umfeld und der Selbststilisierung im Schein des Rechts. Es überwiegen Beiträge zu einer Psychologie des Rechts, wobei auffällt, daß Recht als Instanz im Kampf der Klassen, Geschlechter und Nationen behandelt wird. Gesellschaftlicher Standard ist nicht unbedingt, rechtschaffen zu leben. Freizügigkeit, bis zu einem gewissen Punkt auch in der Moral, wird gestattet. Vermieden werden müssen in der geschilderten Gesellschaft allerdings der offene Bruch mit den formalen Konventionen und das Verdikt des expliziten Unrechts. Dem rechtspsychologischen Blickwinkel entspricht es (…), daß Proust mehr noch als auf das Recht auf das Judiz der Richter und deren Rechtsgefühl setzt.“ – Was jedoch die letztgenannte dieser zunächst scharfsichtig zusammengetragenen Beobachtungen betrifft, so bezieht Hofmann sich auf eine missverstandene Stelle und übersieht die im Text behandelten zahlreichen Nennungen des Untersuchungsrichters, die wohl zu einem anderen Urteil geführt hätten, weil für diesen zwar in der Tat weniger die Rechtsgeltung entscheidend ist, als vielmehr sein übersteigertes Geltungsbedürfnis. Zum Historiker Tacitus und seinem unausgesprochenen Selbstverständnis als Richter ungesühnter Ungerechtigkeiten Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 93 ff.
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die schüchterne Voraussicht meiner zweiten Hypothese, entsprach ihr aber trotz allem ganz und gar“ (VI 12).⁶⁴ – « Mais tout de même, si, après le nouveau bond immense que la vie venait de me faire, la réalité qui s’imposait à moi m’était aussi nouvelle que celle en face de quoi nous mettent la découverte d’un physicien, les enquêtes d’un juge d’instruction ou les trouvailles d’un historien sur les dessous d’un crime ou d’une revolution, cette réalité en dépassant les chétives prévisions de ma deuxième hypothèse n’était pourtant les accomplissait » (AD 12/13).⁶⁵ Das Motiv des inquisitorischen Moments des Untersuchungsrichters, dessen Ermittlungseifer nicht unbedingt und zwangsläufig der Gerechtigkeit zur Durchsetzung verhilft, findet sich auch in den Annalen des Tacitus, wenn Tiberius, der als höchste Instanz an sich in neutraler Weise die Untersuchungsergebnisse der Magistratur abwarten sollte, bei einem das Kaiserhaus – und damit ihn selbst – berührenden, äußerst delikaten Mordfall ohne jede Besorgnis der Befangenheit unversehens selbst ermittelt und den Tatort auf Spurensuche inspiziert: ‚non cunctanter Tiberius pergit in domum, visit cubiculum, in quo reluctantis et impulsae vestigia cernebantur‘ (ann. 4.22.2).⁶⁶ Zwar kommt der Untersuchungsrichter nur ein einziges Mal begrifflich bei Tacitus vor,⁶⁷ um zu verdeutlichen, dass es untragbar sei, dass jemand Mitverschwörer und Untersuchungsrichter in einer Person sein könne: ‚eundem conscium et inquisitorem non tolerabant‘ (ann. 15.66.1). Das zeigt jedoch umso deutlicher, wie ungerecht und grotesk es ist, dass ein hoher Amtsträger unter Nero zugleich Angeklagter und Richter in eigener Sache ist: ‚Burrus quamvis reus inter iudices sententiam dixit‘ (ann. 13.23.2).⁶⁸ Gerechtigkeit wird unter diesen Umständen zur Farce. Untersuchungsrichter, die ihr zur Durchsetzung verhelfen sollen, sind selbst in ihrem Verfolgungseifer befangen und erscheinen bei Proust wie bei Tacitus als von ihren Leidenschaften beherrschte Akteure. Als ebenso verlogenes wie geltungsbedürftiges Triumvirat erscheinen im zweiten Band der Recherche ein Gerichtspräsident, ein Vorsitzender der Anwaltskammer und ein Notar (II 328). Dass
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Antoine Compagnon, Truth and Justice, in: The Strange M. Proust (Hg. André Benhaim), 2009, S. 112, 113, paraphrasiert: “Remarkably, this series associates the physician, the historian, and the juge d’instruction (‚examining magistrate‘), three decipherers of subterranean truth. Human justice is most frequently presented through the role of the juge d’instruction, who is not described in a neutral way as the penal code would have it”. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 119, zum Hintergrund dieser Stelle. Erich Koestermann, Cornelius Tacitus. Annalen, Band IV, 1968, S. 311. Wolfgang Kunkel, Die Funktion des Konsiliums in der magistratischen Strafjustiz und im Kaisergericht, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 85 (1968), 253, 279 Fußnote 67: „Tacitus erwähnt dies, weil sich die Beschuldigungen des Anklägers gegen Burrus richten, dieser also von rechtswegen nicht auf die Richter-, sondern auf die Anklagebank gehört hätte“.
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selbst die alltäglichsten Gegenstände nicht unmissverständlich bezeichnet und auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können, verdeutlicht Proust ebenfalls mit Gegenbeispielen aus der Rechtswelt, die auf eindeutige Beglaubigung setzen: „Aber selbst hinsichtlich der unscheinbarsten Dinge des täglichen Lebens bilden wir keine einheitliche Substanz heraus, die für alle die gleiche ist, so daß jeder nur davon Kenntnis zu nehmen braucht, wie von einem Frachtbrief oder einem Testament; unsere Persönlichkeit innerhalb der Gesellschaft ist eine Schöpfung der anderen“ (I 29).⁶⁹ – « Mais même au point de vue des plus insignificantes choses de la vie, nous ne sommes pas un tout matériellement constitué, identique pour tout le monde et dont chacun n’a qu’à aller prendre connaissance comme d’un cahier de charges ou d’un testament; notre personnalité sociale est une création de la pensée des autres » (S I 32). Ein ungünstiger erster Eindruck, den Marcel hinterlassen zu haben fürchtete, veranlasse den anderen, so hofft er, „sein Urteil über mich reuevoll als Justizirrtum (zu) erkennen und (zu) revidieren“ (II 88).⁷⁰ – « s’il les eût soupçonnés, il ne se fut repenti de son jugement à mon égard comme d’une erreur judiciaire » (JF I 87). Die Reflexion der Möglichkeit eines Justizirrtums lässt ihn die Beliebigkeit weltlicher Gerechtigkeit erkennen, weil Schuld und Unschuld einander je nach der eingenommenen Perspektive des niemals alle relevanten Umstände kennenden und stets in der conditio humana befangenen Richters gegenüberstehen.⁷¹ So erkennt Marcel, „daß es beinahe nie eine gerechte Verurteilung noch einen Justizirrtum gibt, sondern daß eine Art von Harmonie zwischen der falschen Vorstellung, die sich der Richter von einer unschuldigen Handlung macht, und der schuldhaften Verhaltensweise besteht, von der er gar nichts weiß“ (VI 45).⁷² – « qu’il n’y a presque jamais ni condemnation juste, ni erreur judiciaire, mais une
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Marcel Proust, Aux Enfers, in: Le Mystérieux Correspondant et autres nouvelles inédites (Hg. Luc Fraisse), 2019, S. 96, hat bereits in diesem erst kürzlich veröffentlichten Frühwerk eine tiefgreifende Skepsis gegenüber der Gerechtigkeit und ihren mitunter heuchlerischen Vertretern, deren widerlichster in Gestalt eines selbst verbrecherischen Chefs der Sicherheitspolizei übrigens den Ausgangspunkt der zuletzt angestellten Reflexion inerhalb der Recherche bildet (AD 45), herausgestellt: «Ce Maître, qui aime la Justice au point de mourir pour elle, et pour ainsi dire du même coup pour la mettre au monde, tolérait sans mauvaise humeur chez ses amis les plus intimes ces pratiques aujourd’hui surannés.» – Bemerkenswert ist die Majuskel, mit der die ‚Justice‘ in ihrer ganzen Fragwürdigkeit hervorgehoben wird, weil es sich dabei um ein Stilmittel Prousts handelt, das er buchstäblich bis zum Ende der Recherche verwendet (TR II 254). Davon wird noch die Rede sein. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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espèce d’harmonie entre l’idée fausse que se fait le juge d’un acte innocent et les fait coupables qu’il a ignorés » (AD 45/46).⁷³ Selbst die durchdringende Wirkung eines bestimmten Klangs wird unter Umständen metaphorisch durch Herrschaft und Gesetz verdeutlicht: „so erstreckt sie ihre despotische Herrschaft über das ganze Haus, ja ihre Herrschaftsgesetze gelten auch für die Außenwelt“ (III 95).⁷⁴ – « aussitôt son despotisme est obéi par tout la maison, ses lois même s’étendent au dehors » (G I 97). Die despotische Herrschaft, von deren äußerlichem Zwang Tacitus’ nahezu gesamtes überliefertes Werk handelt, weitet sich bei Proust auf die Innenwelt des Erlebens, Fühlens und Erinnerns aus.⁷⁵ Es kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern, dass Proust dort, wo er Tacitus ausdrücklich zitiert, dem Zwang despotischer Herrschaft insbesondere die Bindung an ein selbstauferlegtes poetisches Gesetz an die Seite stellt (G II 244). Eine eigentümliche Reflexion findet sich in der ‚wiedergefundenen Zeit‘ auch zum Verhältnis von Recht und Sprache, wenn es am Beispiel des Diplomaten Norpois heißt, dass er kriegsbedingt seine Sprache geändert habe, indem er bestimmte grammatische Besonderheiten vermieden bzw. favorisiert oder an die Stelle von anderen gesetzt habe, um nicht unversehens auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen: „,Dürfen‘ steht in Norpois’ Artikeln für das Futurum, das heißt, es bezeichnet die Wünsche von Norpois – und im übrigen unser aller Wünsche, setzte er, wenn auch nicht vollkommen aufrichtig, hinzu. Sie verstehen, daß, wenn ‚dürfen‘ nicht das einfache Zeichen des Futurum wäre, man zur Not verstehen würde, daß das Subjekt dieses Verbs etwa ein Land sein könne. Je-
Werner Hofmann, Recht und Gerechtigkeit in Marcel Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, PROUSTIANA XX (1998), 12, 15, erklärt: „Was Proust anspricht, ist die Erkenntnis, daß nur in einem beunruhigend schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit materielle Wahrheit und justizförmige Feststellung kongruent sind. Ungerechtfertigte Verurteilungen und ebensolche Freisprüche und Klageabweisungen sind das Ergebnis von Unschuldvermutungen und Beweislastregeln“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Erich Auerbach, Marcel Proust: Der Roman von der verlorenen Zeit, Die neuen Sprachen 35 (1927), 16, 17, betont eine gewisse Zwanghaftigkeit des Erzählers: „Vielmehr ist alles, was jenes Ich erzählt, eine einzige Zwangsvorstellung, eine einzige Vision, deren empirische Existenz, oder deren wirkliches Gewesensein mit ebensoviel Sicherheit und ebensoviel Autorität behauptet werden kann wie etwa die Wirklichkeit der Hölle in Dantes Gedicht.“ – Es ist interessant, dass die später durch die bahnbrechende Studie von Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, ausgearbeiteten Bezüge zwischen Dante und Proust bereits fünf Jahre nach dessen Tod zumindest für jemanden augenscheinlich waren, der als Dante-Kenner so bedeutend war wie eben Erich Auerbach, Dante als Dichter der irdischen Welt, 1929.
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desmal zum Beispiel, wenn Norpois sagte: ‚Amerika dürfte nicht gleichgültig gegen diese wiederholten Rechtsverletzungen bleiben, die Doppelmonarchie dürfte nicht verfehlen, zu einer Selbstbesinnung zu kommen, so ist klar, daß solche Sätze die Wünsche Norpois’ ausdrücken wie die meinen, wie die Ihrigen, aber hier kann man dem Verb ja trotz allem noch seinen ursprünglichen Sinn unterlegen, denn ein Land kann etwas ‚dürfen‘, sogar die Doppelmonarchie kann ‚dürfen‘ (trotz des ewigen ‚Mangels an Psychologie‘)“ (VII 138/139).⁷⁶ – « ,Savoir‘ dans les articles de Norpois, est le signe du futur, c’est-à-dire le signe des désirs de Norpois et des désirs de nous tous d’ailleurs, ajouta-t-il, peut-être sans une complète sincérité, vous comprenez bienque si ‚savoir‘ n’était pas devenu le simple signe du futur, on comprendrait à la rigeur que le sujet de ce verbe pût être un pays, par exemple chaque fois que Norpois dit: ‚l’Amérique ne saurait rester indifférente à ces violations répétées du droit‘, ‚la monarchie bicéphale ne saurait manquer de venir à résipiscence‘. Il est clair que de telles phrases expriment des désirs de Norpois (comme les siens, comme les vôtres), mais enfin, là le verbe peut encore garder malgré tout son sens ancien, car un pays peut ‚savoir‘, l’Amérique peut ‚savoir‘, la monarchie ‚bicéphale‘ elle-même peut ‚savoir‘ (malgré l’éternel manque de psychologie) » (TR I 119). Sieht man einmal von der durchaus taciteischen Beiläufigkeit ab, mit der verborgene Unredlichkeiten des darüber Berichtenden entlarvt werden, so ist Folgendes ungleich bemerkenswerter. Kaum ein Autor der Weltliteratur – ausgenommen vielleicht Tacitus (dial. 5.7)⁷⁷ – hat ein so seismographisches Gespür dafür, wie nahezu unmerkliche syntaktische Verschiebungen in den sprachlichen Gepflogenheiten einer Person zur Geltung kommen, die gewohnt ist, den Mächtigen zu begegnen, geschmeidig zu agieren, sich sogar nach wechselvollen Fällen der politischen Entwicklung stets treffsicher auf der richtigen Seite wiederzufinden. Aber auch im privaten Bereich durchschaut Marcel seine Freundin Albertine bis in die unfreiwillig rhetorisch-stilistischen Unzulänglichkeiten ihrer Sprache hinein, deren Syntax er zum Auffinden etwaiger Widersprüche und verborgener Unredlichkeiten seziert: „Nicht aus einem Raffinement des Stils heraus, sondern um übereilte Äußerungen ungeschehen zu machen, verwendete sie gewisse Inkonsequenzen der Syntax, die ein wenig dem glichen, was man in der Grammatik als Anakoluth oder dergleichen bezeichnet“ (V 200).⁷⁸ – « Elle usait, non par
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 395, 397 und öfter zum Hintergrund dieser voraussetzungsreichen Stelle. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zu dem im Text genannten und siehe auch bei Tacitus begegnenden Stilmittel des Anakoluth Niels W. Bruun, Der Anakoluth bei Tacitus, Maia 39 (1987), 137. Ein Beispiel aus dem Dialogus de oratoribus gibt Richard Reitzenstein, Aufsätze zu Tacitus,
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raffinement du style, mais pour réparer ses imprudences, de ces brusques sautes de syntaxe ressemblant un peu à ce que le grammairiens appellent anacoluthe ou je ne sais comment » (P I 201). Die Sprache des professionellen Beobachters wird zum Ausdruck seiner politischen Wendigkeit, die in Anbetracht des unkalkulierbaren Geschehensverlaufs und in der eitlen Furcht, seine prophetische Urteilskraft als sein größtes Kapital einzubüßen, auch seine Einschätzungen über die Folgen von Rechtsverletzungen den unsicheren Verhältnissen anzuschmiegen weiß. Deshalb ist er schon im eigenen Interesse gehalten, salvatorische Klauseln in seine Ausführungen einzuweben. Norpois’ Berufung auf Recht und Gerechtigkeit wird dadurch vollends zu einer hohlen Phrase ohne moralischen Mehrwert:⁷⁹ „Immerhin, fährt Norpois dem Sinne nach fort, ist es vollkommen klar, daß einen materiellen Nutzen aus dem Kampf nur die Nationen ziehen werden, die ihren Platz auf der Seite des Rechts und der Gerechtigkeit eingenommen haben“ (VII 140). – « Toutefois, en continuant, dit M. de Norpois, ‚il est bien clair que seules tireront un bénéfice matériel de la lutte les nations qui se seront rangées du côté du Droit et de la Justice‘ » (TR I 120). Wer die Dinge auf diese Weise scheinbar bestimmt in der Schwebe hält, wird immer Recht behalten, weil er sich bald auf die wortwörtliche, bald auf die im übertragenen Sinne zu verstehende Deutung seiner Äußerungen berufen kann. Tacitus porträtiert in Gestalt des weiter unten noch zu behandelnden Großneffen des Sallust einen noch ungleich gewiefteren Gesinnungsakrobaten (ann. 3.30), der nicht zuletzt deswegen geschickter und charakterlich vielschichtiger ist, weil ihm im Unterschied zu Norpois die Eitelkeit fehlt und er daher weiß, wann es am besten ist, nichts nach außen mitzuteilen (ann. 1.6.3).⁸⁰ Norpois versucht dies zwar ebenfalls: „Schweigen und eine Miene der Gleichgültigkeit waren bei Norpois nicht ein Zeichen der Reserve, sondern das übliche Vorspiel
1967, S. 59, wonach das dortige „Anakoluth (…) die Rede lebhaft gestaltet.“ Zum Anakoluth auch Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft, 2012, S. 86. Luzius Keller, Proust lesen, 1991, S. 241, stellt Norpois kein besseres Zeugnis aus: „Für den kleinen Marcel und dessen Eltern ist Norpois eine Respektsperson und eine Autorität in allen Lebensbereichen. Im weiteren Verlauf des Romans wird sich allerdings erweisen, daß er zwar zu allem und jedem seine Meinung äußert, jedoch von nichts etwas versteht – außer eben vom Essen.“ Auffallend ähnlich die von der Beschäftigung mit Tacitus ausgehende stichwortartige Notiz von Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 141: «Vide intellectuel. Norpois». Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 11: „Tacitus ist ein Meister in der Kunst, seine Figuren zu charakterisieren. (…) Skizzen wie des jüngeren Sallust (…), so sparsam er auch die eigentlich charakteristischen Züge anbringt, sind unvergeßlich wie die ausgeführten Charakterschilderungen, die sich durch die Darstellung hindurchziehen und nur allmählich sich zusammenschließen.“ – Das könnte man mutatis mutandis auch über Proust sagen.
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einer sehr intensiven Beschäftigung mit wichtigen Staatsangelegenheiten geblieben“ (VI 305/306).⁸¹ – « Le silence, l’air indifférence étaient restés chez M. de Norpois non la marque de la réserve mais le prélude coutumier d’une immixtion dans des affaires importantes » (AD 295). Aber gerade darin besteht zugleich der markante Unterschied. Denn der mühsam unterdrückte, stechende Ehrgeiz Norpois’ zeigt, wie sehr er dem jüngeren Sallust nachsteht, da das beständig gegenläufige Verhalten vergleichsweise leicht vorhersehbar ist, wenn man die Gesetzmäßigkeit einmal erkannt hat, während der Großneffe des Sallust undurchschaubar bleibt, weil er nichts mehr werden will (ann. 3.30.2). Und doch zeichnen Proust wie Tacitus den jeweiligen Charakter zumindest ähnlich schillernd, wenn man bedenkt, dass dieser den Großneffen Sallusts bei aller Faszination letztlich als sinistre graue Eminenz schildert, und, wie er beiläufig bemerkt, gar als Mitwisser eines Mordes erscheinen lässt (ann. 1.6.1): ‚et interficiendi Postumi Agrippae conscius‘ (ann. 3.30.3). Auch der eingefleischte taciteische Imperialismus, der allenthalben aufleuchtet (hist. 4.74.1; Germania 33.2),⁸² wenn er etwa Tiberius mit unterschwelliger Missbilligung vorwirft, dass er an einer Erweiterung des Reiches nicht interessiert gewesen sei – ‚proferendi imperi incuriosus erat‘ (ann. 4.32.2)⁸³ – findet sich bei Proust metaphorisch und ironisch auf das mondäne Leben gewendet: „Und als vergleiche sie die etwas summarische, rasche und gewaltsame Art, mit der Madame Swann ihre Bekannten eroberte, mit den Praktiken eines Kolonialkriegs setzte Mama noch hinzu: – Jetzt, wo die Tromberts unterworfen sind, werden auch die Nachbarstämme nicht mehr lange zögern, sich gleichfalls zu ergeben“ (II 119).⁸⁴ – « Et comme si elle eût comparé la façon un peu sommaire, rapide et violente dont Mme Swann conquérait ses relations à une guerre coloniale, maman ajoutait : – Maintenant que les Trombert sont soumis, les tribus voisines ne tarderont pas à se rendre » (JF I 119). Letztlich erinnert auch der gesellschaftliche Wettstreit zwischen den neureichen Emporkömmlingen der Verdurins mit den alteingesessenen Aristokraten der Guermantes einem taciteischen Motiv, wenn man bedenkt, dass die aus den Landstädten oder Kolonien oder sogar den Provinzen in den römischen Senat
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Golo Mann, Versuch über Tacitus, Neue Rundschau 87 (1976), 249, 278, bemerkt lapidar: „ein Imperialist.“ Joseph Vogt, Tacitus und die Unparteilichkeit des Historikers, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 39, 58 Fußnote 37, diagnostiziert eine „alle Rechtsfragen und Kulturzwecke abweisende imperialistische Losung des Tacitus.“ Zur Geschichte des römischen Imperialismus grundlegend Ernst Badian, Roman Imperialism in the Late Republic, 1968. Dazu Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 64. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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drängenden reichen Ritter in eine Konkurrenz zu den von ihrer einstigen Blüte absteigenden alten römischen Familien gerieten: ‚simul novi homines, e municipiis et coloniis atque etiam provinciis in senatum crebro adsumpti, domesticam parsimoniam intulerunt (…) verum haec nobis in maiores certamina ex honesto maneant‘ (ann. 3.55.3).⁸⁵ Allerdings zeigt diese Vorstellung eines Kreislaufs der Sitten im Vergleich mit Prousts Schilderung der alles andere als sparsamen Verdurins zugleich einen tiefgreifenden Unterschied zwischen der Ironie des Romanciers und der moralistisch-erzieherischen Vorstellung des Historikers, der im Unterschied zu Proust durchaus Sinn für die aus der Provinz herrührende Sparsamkeit hatte, um deretwillen er etwa Massilia, das heutige Marseille, rühmt: ,provinciali parsimonia‘ (Agr. 4.2).⁸⁶ Die moralische Kehrseite dieser edlen Tugend findet sich bei der vom Lande stammenden Françoise, „in ihrer Auffassung gestärkt durch atavistische Züge provinzieller Raffgier und Gewöhnlichkeit“ (II 618).⁸⁷ « Françoise, au secours de qui venait alors tout un atavisme de rapacité et de vulgarité provincials » (JF III 175). Tacitus würde wohl auch der moralischen Einschätzung zustimmen, „die Hocharistokratie leiste sich Sachen, die den Kleinbürger entsetzen würden“ (VI 339)⁸⁸ – « que la grande aristocratie faisait des choses qui choqueraient de petits bourgeois » (AD 323). Proust unterscheidet Rechtlichkeit und moralisches Gefühl ganz selbstverständlich voneinander, wenn er etwa über den Baron de Charlus sagt: „Er aber wie auch Jupien mußten wohl die Gewohnheit, die Moral von einem großen Teil ihrer Handlungen zu trennen (was im übrigen auch bei vielen amtlichen Funktionen, zuweilen auch bei denen des Richters, manchmal bei denen des Staatsmannes und vielen anderen noch der Fall sein mag) seit so langem schon angenommen haben, daß die Gewohnheit (ohne jemals das moralische Gefühl zu befragen) sich von Tag zu Tag verstärkt hatte (…)“ (VII 217).⁸⁹ – « Mais, chez lui comme chez Jupien, l’habitude de séparer la moralité de tout un ordre d’actions (ce qui, du reste, doit arriver aussi dans beaucoup de fonctions, quelquefois celle de juge, quelquefois celle d’homme d’État et bien d’autres encore) devait être prise depuis si longtemps qu’elle était allée, sans plus jamais demander son opinion au sentiment moral, en s’aggravant de jour en jour (…) » (TR I 193/194). Wie so häufig bei Proust, enthält
Zu dieser Stelle Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II, S. 573; zum alten römischen Adel und seinem Niedergang ders., The Augustan Aristocracy, 1986. Ronald Syme,Who was Tacitus?, Harvard Library Bulletin XI (1957), 185, 195, folgert aus Stellen wie dieser sogar, dass auch die Vorfahren des Tacitus aus Gallia Narbonensis, wozu auch Massilia gehörte, stammten. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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der jeweilige Klammerzusatz die entscheidende Verallgemeinerung. Der zweite ist sogar noch bedeutsamer, weil er der weiter oben gestellten Frage nachgeht, wie sehr sich die „unermessliche Macht der Gewohnheit“ (VI 21)⁹⁰ – im französischen Original nicht von ungefähr mit einer Majuskel hervorgehoben: « la force immense de l’Habitude » (AD 21)⁹¹ – allmählich von den Eingebungen des Gewissens entfremdet (VII 214). Wie tief insbesondere sittliche Anschauungen in Gewohnheiten wurzeln, lernt Marcel von seinen Eltern: „Aber sie wußten aus Instinkt und Erfahrung, daß die Regungen unsres Gefühls wenig über unsere Handlungen und unsere künftige Führung vermögen und daß die Anerkennung sittlicher Verpflichtungen, die Treue gegen Freunde, das Vollenden eines Werkes, die Beobachtung eines Regimes eine zuverlässigere Grundlage in blindlings eingehaltenen Gewohnheiten haben“ (I 126/127).⁹² – « mais il savaient d’instinct ou par expérience que les élans de notre sensibilité ont peu d’empire sur la suite de nos actes et la conduite de notre vie, et que le respect des obligations morales, la fidélité aux amis, l’exécution d’un œuvre, l’observance d’un régime, ont un fondement plus sur dans des habitudes aveugles » (S I 132/133). Beiläufig betrachtet, steht die beispielhafte Aufführung solch scheinbar gegensätzlicher Phänomene wie der Vollendung eines Werkes und der Einhaltung eines Regimes – ‚l’exécution d’un œuvre, l’observance d’un régime‘ – in einem versteckten Verweisungszusammenhang mit jener Stelle, an der Tacitus innerhalb der Recherche ausdrücklich genannt wird, weil sie dort, wie gegen Ende der Untersuchung noch ausführlich zu zeigen sein wird, ebenfalls so vorderhand konträre Erscheinungen, wie die Bindung an die Tyrannei eines Monarchen oder eines poetischen Gesetzes zusammenführt: « ligotés par la tyrannie d’un monarque ou d’une poétique » (G II 244). Der innere Zwang der Vollendung des literarischen
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 144 f. (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), überliefert allerdings ein Wort Prousts, das einen Vorbehalt aufscheinen lässt, wonach nämlich „die Gewohnheit verhindert, daß man die Erinnerung an Menschen und Dinge so empfindet, wie man es sollte“. Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg.Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 25 f., verdeutlicht das Besondere und gänzlich Neue an Prousts Kunst: „Wenn im traditionellen Roman die Beständigkeit des Gewohnten nur den Hintergrund setzt für das im Fokus stehende Neue, die Welt der Ereignisse, so verkehrt Proust diese Relation und macht die Zeit des Gewohnten, der unmerklichen Differenz und der Sicherungen gegen das Hereinbrechen des Ungewohnten zum thematischen Fokus der Darstellung. Das Gewohnte entgleitet der Erinnerung, aber es widersetzt sich auch der Darstellung. Dennoch besitzt die Habitude eine eigene Mächtigkeit, ja Proust macht aus ihr eine jener allegorischen Lebensmächte, in deren Bann Marcel steht“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Werkes wirkt in der Vorstellung Marcels nicht minder bindend als die äußere Tyrannis eines politischen Regimes. Es kann vor diesem Hintergrund kaum verwundern, warum der bedeutendste Tacitus-Kenner den Baron de Charlus mit dem taciterischen Tiberius verglichen hat,⁹³ zumal wenn man bedenkt, wie dieser in ursprünglicher Rechtlichkeit (ann. 4.6.5) mit wachsender Macht und Einsamkeit nurmehr seinen schlechten Gewohnheiten folgte und gewissenlos ein lasterhaftes Leben führte:⁹⁴ ‚postremo in scelera simul ac dedecora prorupit, postquam remoto pudore et metu suo tantum ingenio utebatur‘ (ann. 6.51.3).⁹⁵ Höchst bemerkenswert ist auch, dass man in Prousts Aufzeichnungen aus der Schulzeit eine offenbar durch seine TacitusLektüre inspirierte Charakteristik des Tiberius lesen kann: « Tibère était atteint d’une violente névrose qui se manifestait par un caractère bizzarre, instable, sombre, dissimule, superstitieux, soupconneux, cruel ».⁹⁶ Das ‚dissimule‘ findet sich nahezu wörtlich bei Tacitus, wonach Tiberius die Verstellung liebte: ‚dissimulationem diligebat‘ (ann. 4.71.3). Auch im Übrigen entspricht es einer frühen Charakteristik des taciteischen Tiberius mit seinem, sei es natur- oder gewohnheitsgemäß verfestigten, Hang zu mehrdeutiger und dunkler Sprache, und zwar selbst in Angelegenheiten, die er nicht zu verbergen beabsichtigte: ‚Tiberioque etiam in rebus quas non occuleret, seu natura sive adsuetudine, suspensa semper et obscura verba‘ (ann. 1.11.2).⁹⁷ Prousts Aneinanderreihung der sieben äußerst treffenden
Ronald Syme, History or Biography. The Case of Tiberius Caesar, Historia 23 (1974), 481, 496. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 63, sagt über Proust, was wohl auch zu Tacitus’ Vorstellung der Unveränderlichkeit des Charakters passt, die sich an der im Text zitierten Stelle besonders deutlich niederschlägt: „Jeder unserer Wesenszüge ist das Produkt mannigfach verschiedener Ursachenreihen. Es gibt nichts Einfaches. Alles ist zusammengesetzt. Jedes Geschehnis ist die Resultante ganz heterogener Kräfte“. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 141, dürfte diese Stelle als moralischen Tiefpunkt im Blick gehabt haben, als er stichwortartig notierte: «Tibère se métamorphose, ou plutôt se préfère progressivement de contraintes extérieures, et finit par montrer à nu sa vraie nature (cf. les cinq étapes de sa vie dans Tacite, VI)». Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, 1996, S. 84 mit Fußnote 1, der dies aus den in der Bibliothèque Nationale aufgewahrten Papieren zitiert (allerdings nicht abgedruckt in der Frankfurter Ausgabe I 3, S. 17– 19) und auf eine Prüfungsarbeit zum Brand des Kapitols verweist (Historiae 3.70; dazu Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 96, 267 f.), macht zum einen mit Recht darauf aufmerksam, dass man in der genannten Aufzählung das Wort ‚névrose‘ beachte, zum anderen daran die Tacitus-Kenntnis Prousts ermessen könne: « les devoirs de latin révèlent aussi la connaissance que Proust avait de Tacite». Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 5, verweist auf die diesem Satz vorausgehenden Worte ‚plus in oratione tali dignitatis quam fidei erat‘ (ann. 1.11.2), die in ihrer sarkastischen Geißelung mangelnder Aufrichtigkeit der betont würdevollen Rede in der Tat be-
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Adjektive mit ihrer Verklammerung durch die vielleicht etwas leichthin diagnostizierte Neurose ist vor diesem Hintergrund in ihrer psychologischen Hellsichtigkeit und taciteischen Prägnanz eine eindrucksvolle Schilderung, die einem gereiften Schriftsteller zur Ehre gereichte – um so mehr einem Gymnasiasten. Der genannte Baron de Charlus,⁹⁸ dessen frappierende Ähnlichkeit mit Tiberius nämlich wie erinnerlich nicht nur der bedeutendste Tacitus-Forscher,⁹⁹ sondern – und zwar bemerkenswerterweise unabhängig voneinander, also ohne wechselseitige Zitate – auch der führende Proust-Biograph festgestellt haben,¹⁰⁰ erweist sich nicht zuletzt deswegen als eine so schillernde und zwielichtige Figur, weil er ungeachtet seiner sonstigen moralischen Schlechtigkeit durchaus ein von lauterem Gerechtigkeitssinn getragenes Mitgefühl kennt:¹⁰¹ „Endlich neigte Monsieur de Charlus zum Mitleid; der Gedanke an einen Besiegten tat ihm weh, er war stets für den Schwächeren und las keine Gerichtsakten, damit er nicht sozusagen am eigenen Leib die Ängste des Verurteilten oder die Unmöglichkeit durchleben mußte, den Richter, den Henker und die vom Vollzug der Gerechtigkeit berauschte Menge einfach umzubringen“ (VII 126/127).¹⁰² – « M. de Charlus était pitoyable, l’idée d’un vaincu lui faisait mal, il était toujours pour le faible, il ne lisait pas les croniques judiciaires pour ne pas avoir à souffrir dans sa chair des angoisses du condamné et de l’impossibilité d’assassiner le juge, le bourreau, et la foule ravie de voir que ‚justice est faites‘ » (TR I 110/111).¹⁰³
zeichnend für Tacitus sind. Auch bei Proust finden sich viele derartige Seitenhiebe gegen vergleichbar heuchlerische Verstellungskunst. Zu ihm Thomas E. Schmidt, Unser Onkel Palmède. Prousts Figur des Baron de Charlus und die Genealogie des europäischen Geistesmenschen, Merkur (73) 2019, 42. Ronald Syme, History or Biography. The Case of Tiberius Caesar, Historia 23 (1974), 481, 496: “His (sc. Prousts) Palmède de Charlus is a kind of Tiberius. (…) A keen sense of style and ferocious sarcasm”. Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, 1996, S. 84 mit Fußnote 1, folgert im Hinblick auf Prousts genannte Darstellung des Tiberius ebenso pointiert wie scharfsichtig: « Charlus est de la même famille». Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 107, beschreibt ihn im Hinblick auf die zeitgeschichtliche Dimension des Werkes ebenso prägnant wie treffend: „Der Baron de Charlus ist als eine Zeitgestalt der große, einsame und tragische, aber auch abgründig zweideutige Antagonist der frenetischen Jetztzeit des Krieges.“ Siehe dazu auch Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler), 2016, S. 13. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Werner Hofmann, Recht und Gerechtigkeit in Marcel Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, PROUSTIANA XX (1998), 12, 15 f., macht am Beispiel einer verwandten Stelle etwas geltend, das wohl auch hier gilt: „Daß – ausgerechnet – der von Begierden umgetriebene
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Nahezu deckungsgleich äußert sich Marcel in einer selbstkritischen Reflexion über seine eigene Befangenheit und den Mangel seines Gerechtigkeitsgefühls: „Dazu blieb mir auch das Gefühl der Gerechtigkeit bis zum Fehlen jeden moralischen Sinns unbekannt. Ich war im Grunde meines Herzens von vornherein auf Seiten desjenigen, der der Schwächere und der Unglücklichere war“ (V 390).¹⁰⁴ – « Le sentiment de la justice, jusqu’à une complète absence de sens moral, m’était inconnue. J‘ était au fond de mon cœur tout acquis à celui qui était le plus faible et qui était malheureux » (P II 118).¹⁰⁵ Gerade diese Selbstkritik im Hinblick auf die moralischen Gefühle und seinen Gerechtigkeitssinn gibt ihm jedoch die scharfsinnigsten Beobachtungen ein,¹⁰⁶ wie zum Beispiel jene, die er aus dem sozialen
Baron de Charlus in diesem Kontext zum leidenschaftsfreien Teil der Romanfiguren gehört, trägt nahezu absurde Züge. Es entspricht aber dem Prinzip der Relativität, das die Recherche wie ein roter Faden durchzieht, und bringt die unverwechselbaren Charaktere hervor, die zart fühlen, aber grob handeln und rechtschaffen denken, aber sittenlos wandeln“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zum Vergleich dieser beiden Stellen auch Antoine Compagnon, Truth and Justice, in: The Strange M. Proust (Hg. André Benhaim), 2009, S. 112, 116: “This is, in fact, what the narrator expressly admits shortly before Charlus’s execution at the Verdurins. (…) The narrator recognizes that he is totally lacking ʻmoral senseʼ and therefore any ʻnotion (sentiment) of justiceʼ. Yet, he shares this sense, or rather this absence of a sense of justice, with Charlus, in whom he pinpoints it in identical terms, this time in Le Temps retrouvé.” – Es dürfte sich dabei um dasjenige handeln, was Proust in seinem Flaubert-Aufsatz als ‚le morceau symétrique‘ bezeichnet (NRF XIV, 1920, 72, 89). Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, 1759, zugleich der berühmte Begründer der Nationalökonomie (ders., The Wealth of Nations, 1776; dazu Jens Petersen, Adam Smith als Rechtstheoretiker, 2. Auflage 2017), hat in seinen nachgelassenen ‘Lectures on Rhetoric and Belles Lettres’ (Hg. John C. Bryce, 1983) interessante Beobachtungen über Tacitus angestellt, unter denen die folgende – auch im Vergleich mit Proust – herausragt, weil er vorgibt, den wahren Charakter des Tacitus herauszustellen (S. 112 f.): “We will find that Tacitus has executed his works in a manner most suitable to this design. We shall consider chiefly his annalls as it is in them that the character of Tacitus chiefly appears. We are told that his history was that which appeared first; perhaps he may have chosen to try first how a work would be relished in which his favourite plan was somewhat tempered with the usuall manner of writing (his)tories before he would risk one where he kept in view intirely the notion he had conceived of the beauty of writing History. The events he relates as they are of a private nature, as the intrigues of ministers, the deaths or advancement of particular men, so they are not connected together by any strong tie such as is necessary in the Series of a history of the common sort where the connection of one event with another must be clearly pointed out. But here they are thrown together without any connection unless perhaps that they happened at the same time. The Reflections he makes on the different events are such as we might call observations on the conduct of the men (rather) than any generall maxims deduced from particular instances such as those of (…). In his history he gives us indeed some more insight into the causes of events, and keeps up a continued series of events. But even here he so far neglects connection as to pass over intirely those connecting circumstances that
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Umgang der Dreyfus-Gegner bzw. dessen Verteidigern gewonnen hat und zu einer allgemeinen Maxime erhebt: „Man verzeiht allenfalls persönliche Verbrechen, nicht aber die Teilnahme an einem kollektiven Delikt“ (III 198).¹⁰⁷ – « On pardonne les crimes individuels, mais non la participation à un crime collectif » (G I 200).¹⁰⁸ Eine solchermaßen selbstkritische Verschuldenszurechnung findet sich übrigens ebenfalls bei Tacitus, der nicht vergessen haben dürfte, dass er unter Domitian nicht nur durch ihn gefördert wurde, wie er einräumt (hist. 1.1.3). Vielmehr dürfte er an auch einstimmig gefassten Senatsbeschlüssen beteiligt gewesen sein, in denen über Unschuldige gerichtet wurde: ‚mox nostrae duxere Helvidium in carcerem manus; (…) nos innocenti sanguine Senecio perfudit‘ (Agr. 45.1). Diese dezent verbrämte Selbstanklage ermöglicht immerhin die Lesart, dass selbst Tacitus seine Hände durch entsprechendes Abstimmungsverhalten während der fünfzehnjährigen Schreckensherrschaft befleckt hatte. Allerdings weist er im Proömium desselben Werkes die Alleinverantwortlichkeit Domitian mit der Frage zu, wie fünfzehn Jahre hindurch, ein langer Zeitraum des Lebensalters eines Sterblichen, viele durch zufällige Geschehnisse, gerade die Entschlossensten indes durch das grausame Wüten des Kaisers umgekommen sind: ‚quid, si per
tend to no other purpose. Of this we saw an instance already in the retreat of the Army of Cecina after they had defeated the Germans. The circumstances (of) which intervened betwixt that defeat and the Crossing of the Rhine were probably such as would have afforded no room for those descriptions or affecting narrations in which he thought the chief beauty of writing consisted. Such is the true Character of Tacitus which has been misrepresented by all his commentators from Boccalini down to Gordon.” – Offenbar hat Smith aber Tacitus nur als Geschichtsschreiber, insbesondere als Verfasser der Annalen, gekannt, und nicht als Verfasser des Dialogus de oratoribus, da er dies andernfalls in seinen ‘Lectures on Rhetoric’ gewiss herausgestellt hätte. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Werner Hofmann, Recht und Gerechtigkeit in Marcel Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, PROUSTIANA XX (1998), 12, 13 f., erläutert in einer auch für Tacitus aufschlussreichen Weise, indem er Prousts Rekurs auf die Alte Geschichte einbezieht: „Hintergrund ist die Dreyfus-Affaire, im Vordergrund der Handlung sehen wir den Großvater Marcels das am Gartenzaun vorbeidefilierende Regiment respektvoll grüßen, wodurch er von der Nachbarin Mme Sazerat als Dreyfus-Gegner wahrgenommen wird. Die kleine Szene zeigt die Unversöhnlichkeit des Freund-Feind-Denkens mitten im dörflichen Idyll, den bedrohlichen Einbruch von Ideologien, die das 20. Jahrhundert noch in ungeahntem Ausmaß prägen sollten. Sichtbar wird noch etwas anderes: Proust bemerkt, beim Studium der Alten Geschichte falle auf, daß gutartige Individuen an Massenmorden und Menschenopfern teilgenommen hätten. Wer in zweitausend Jahren die Geschichte unserer Zeit lese, werde ebenso finden, daß Menschen mit zartem und reinem Gewissen zu einem ‚milieu vital‘ gehörten, sich ihm angepaßt hätten, das dereinst als ungeheuerlich gelten werde. Welch visionärer Blick auf die Persönlichkeitsverbiegungen durch die Zwangsherrschaften dieses Jahrhunderts“. Siehe auch Antoine Compagnon, Proust entre deux siècles, 1989.
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quindecim annos, grande mortalis aevi spatium, multi fortuitis casibus, promptissimus quisque saevitia principis interciderunt?‘ (Agr. 3.2).¹⁰⁹ Der Einschub inmitten dieses Satzes – ‚grande mortalis aevi spatium‘ – findet sich in Prousts Recherche und wird dort dem Sorbonne-Professor Brichot in den Mund gelegt (P I 263). Auch Tacitus dürfte angesichts seiner möglichen Mitverantwortlichkeit an verderblichen Senatsabstimmungen, die Unschuldige ins Unglück stürzten, gegenwärtig gewesen sein, was Proust ebenfalls jenen Professor Brichot über selbstzufriedene Historiker und das strenge Urteil der Nachwelt aussprechen lässt:¹¹⁰ „Aber nehmen Sie sich nur in acht, Sie sind vielleicht weniger glücklich als die Historiker, denen die Zukunft post festum recht gegeben hat, Baron, und wenn Sie der Nachwelt das Sittenbild hinterlassen, das Sie uns eben gezeichnet haben, so fände sie es am Ende allzu schlimm. Sie urteilt nur nach sicheren Unterlagen und wird in diesem Fall Einblick in Ihre Akten verlangen. Da aber wahrscheinlich kein Dokument die Echtheit von Kollektivphänomenen gewährleistet, die einzig Eingeweihten aus Eigenliebe nur allzugern in tiefstem Dunkel belassen, gäbe es eine große Empörung im Lager der schönen Seelen, Sie selbst aber würden einfach für einen Verleumder oder Wahnsinnigen
Man muss wohl bis zu Friedrich Carl Wex, Beiträge zur Kritik und Erklärung von Tacitus’ Agricola, 1840, S. 10, zurückgehen, um eine ebenso gedankenreiche wie voraussetzungslose Erläuterung dieses Satzes zu finden, die daher ungeachtet ihrer Ausführlichkeit in größeren Auszügen wiedergegeben sei: „Hier drängen sich zwei Fragen auf: 1) Was soll hier der Zusatz grande mortalis aevi spatium? Wenn von einer Menschenmenge in einer gewissen Zahl von Jahren viele umgekommen sind, was gehört es dann zur Sache, das Verhältnis jener Zahl von Jahren zu der Länge des Menschenlebens zu bestimmen? (…) 2) Was soll der ganze Satz, und wie fügt er sich in die Gedankenreihe ein? (…) Jener erstere Satz ist nicht um seiner selbst willen da, sondern es ist nur eine parenthetische Nebenbemerkung, ein vorbereitender Satz zu dem Hauptgedanken pauci – nostri superstites sumus, und zu diesem Hauptsatz gehören die Worte grande mortalis aevi spatium. Und darum muß das Fragezeichen nach interciderunt getilgt werden. (…) Der Sinn des Tacitus ist: (…) Die Grausamkeit des Domitian hat fünfzehn Jahre, ein bedeutender Zeitraum menschlichen Daseins, auf uns gelastet, so daß wir wenigen, die wir noch übrig geblieben sind, während viele andere durch mancherlei Unfälle, die Rüstigsten durch die Grausamkeit des Fürsten umgekommen sind, inzwischen uns selbst überlebt haben. Man achte darauf, wie das per quindecim annos, dessen Verbindung mit den letzten Worten durch die parenthetische Nebenbemerkung gestört ist, darum noch einmal recapitulirt wird durch die Worte exemptis e media vita tot annis. Nun würde man aber die antike Form der Periode ganz verwischen, wenn man jenen Nebensatz durch Parenthesenzeichen absondern wollte, was schon deshalb nicht zulässig sein würde, weil sich das Übrige an den einmal eingeschobenen Satz ganz eng anschließt, wodurch auch die anfängliche Frageform des Satzes allmählig übergeht in die blos referirende. Letzteres namentlich bei Dichtern häufig.“ – Gerade der Nachsatz bietet eine Beobachtung, auf die in anderem Zusammenhang bei Proust zurückzukommen sein wird, zumal da es in seinem ursprünglichen Tacitus-Zitat heißt: «ce que le poète appelle» (P I 263). Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 444, zur genannten Mitverantwortung.
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erklärt. Nachdem Sie im Wettbewerb der Eleganz den höchsten Preis und die Krone auf dieser Erde erlangt haben, würden Sie die Trübsal einer Ablehnung über das Grab hinaus auf sich nehmen müssen“ (V 400/401).¹¹¹ – « Mais prenez-y garde, moins heureux que ces historiens que l’avenir ratifera, baron, si vouliez présenter à la posterité le tableau que vous nous dites, elle puvait trouver la mauvaise. Elle ne juge que sur pièces et voudrait prendre connaissance de votre dossier. Or aucun document ne venant authentiquer ce genre de phénomènes collectifs que les seuls renseignés sont trop intéressés à laisser dans l’ombre, on s’indignerait fort dans le camps des belles âmes, et vous passeriez tout net pour calomniateur ou pour un fol. Après avoir, au concours des élégances, obtenu le maximum et le principat sur cette terre, vous connaîtriez les tristesses d’un blackboulage d’outre tombe » (P II 127). Wenn man Symes luziden Vergleich des Baron de Charlus mit dem taciteischen Tiberius in Betracht zieht¹¹² und Brichots ebenso elaborierte wie ironisch gefärbte Wortwahl (« le principat sur cette terre ») in Rechnung stellt, dann kommt man schwerlich umhin, den moralistischen Unterton bezüglich derselben Laster zu vernehmen:¹¹³ ‚pudore scelerum et libidinum, quibus adeo indomitis exarserat, ut more regio pubem ingenuam stupris pollueret‘ (ann. 6.1.1).¹¹⁴ In Anbetracht seines Zentralthemas der Zeit verwundert es jedenfalls nicht, dass sich Proust der Arbeit der Historiker – wie soeben gesehen: mitunter ironisch – angenommen hat. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls eine Schulaufgabe Prousts aus seiner Gymnasialzeit hervorzuheben,¹¹⁵ die den Prozess gegen Piso vor dem römischen Senat nach dem offenkundigen Vorbild der wichtigsten Quelle schildert, nämlich der Annalen des Tacitus (ann. 3.10 – 18).¹¹⁶ Es lohnt sich nicht, diese gegenüber Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, History or Biography. The Case of Tiberius Caesar, Historia 23 (1974), 481, 496: “Not only insane and anachronistic pride but aesthetic tastes”. Karlheinz Stierle, Montaigne und die Moralisten. Klassische Moralistik – Moralistische Klassik, 2016, S. 263, spricht im Hinblick auf Sainte-Beuve treffend vom „moralistische(n) Gesellschaftsschriftsteller Proust, der in ‚A la recherche du temps perdu‘ eine ganze Welt der gesellschaftlich verwurzelten Sprachen und Sprachstile evoziert und sie moralistisch seziert“. Manfred Fuhrmann, kommentiert die Stelle in den Anmerkungen der Tusculum-Ausgabe (Hg. Erich Heller), 3. Auflage 1997, S. 839 Anmerkung 10: „Der auch bei Sueton Tib. 43 vorliegende Bericht über die Ausschweifungen des alternden Kaisers enthält doch wohl ein Stück geschichtlicher Wahrheit, wenngleich manches sicherlich aufgebauscht ist“. Abgedruckt in Marcel Proust, Werke. Frankfurter Ausgabe I 3, S. 13 – 17 (Übersetzung Henriette Beese). Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, 1996, S. 82, macht auf wichtige Einzelheiten, wie den mutmaßlichen Gebrauch Prousts von der klassischen Tacitus-Übersetzung von Jean-Louis Burnouf, Traduction des œuvres complètes de Tacite, 1828 – 1833, die sich auch stilistisch niederschlage, aufmerksam: « Il s’agit d’un exercise d’imitation, très poche de Tacite (…); l’élégance et la fermeté
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der taciteischen Vorlage sehr freie und von zahlreichen Stereotypen durchsetzte Schülerarbeit, so bemerkenswert sie auch ist, in allen Einzelheiten der ungemein voraussetzungsreichen Darstellung des Tacitus entgegenzusetzen.¹¹⁷ Jedoch lässt Proust am Ende, nachdem er Tiberius als den wahren Urheber der Ermordung enttarnt sieht, bereits andeutungsweise seine spätere psychologische Genialität erahnen. Man beachte vor allem, wie virtuos er Tiberius aufblitzenden Zorn sprachlich bändigt und in jenen Groll gegen die Senatoren ummünzt, der das beherrschende Grundgefühl der späteren Jahre wird, aber in der taciteischen Darstellung bereits früh aufscheint (ann. 1.12.2; 6.23.1): „Angesichts dieser plötzlichen Enthüllung sieht Tiberius alle seine Pläne vereitelt, sich selbst mit Schande bedeckt, er fühlt sich verhasst. Er weiß wohl, daß niemand ein Zeichen von Verachtung erkennen lassen wird, doch er weiß auch, daß man ihn im Innersten verdammen wird. Sein schon verbitterter und von Galle erfüllter Geist verdunkelt sich noch mehr: Zorn reißt ihn hin, aber nicht jene offenen und überschwenglichen Zornesausbrüche, sondern Zorn, den er im Herzen verschließt; sein Gesicht drückt nicht das geringste Gefühl aus, doch schreckliche Beschlüsse regen sich in ihm, und er gelobt sich, diese Senatoren zu vernichten, deren Schuld es war, sein Geheimnis zu kennen, und diese Agrippina zu entfernen, deren offenes Wesen ihm bereits unerträglich war und der er sich verhasst gemacht hat.“¹¹⁸ – « Devant cette révélation subite, Tibère sent tous ses projets déjoués, il se voit couvert de honte, il se sent détesté. Il sait bien que personne ne laissera percer un seul signe de mépris, mais il sait bien qu’en dedans des cœurs on médira de lui. Son esprit déjà aigri et tout plein de fiel, s’assombrit encore davantage: la colère l’emporte, non pas de ces colères franches et exubérantes, mais une colère qu’il renferme dans son cœur; les muscles de visage n’expriment aucun sentiment, mais de terribles résolutions l’agitent et il se promet de faire périr ces sénateurs, coupables de connaître
de style sont celles de la traduction de Burnouf et montrent déjà le don de Proust pour le pastiche: reproduire avant de produire, recréer avant de créer, c’était le but même de l’enseignement classique autant que la doctrine des ‚anciens‘. » (Hervorhebung nur hier). – Dieser hellsichtige Befund zeigt, wie die (sei es auch teilweise durch eine hervorragende Übersetzung vermittelte) Tacitus-Lektüre Prousts das Frühwerk infiltriert, in dem er übrigens auch bei den eingewobenen Beispielen die Tacitus-Lektüre des Betreffenden vermerkt (Journées de Lecture, 1919, in: Pastiches et Mélanges, Œuvres complètes, Tome VIII, 1933, S. 227, 260, zu Victor Hugo; S. 267, zu Alphonse Daudet). Michel Erman, Marcel Proust. Une biographie, 1994, S. 30, macht darauf aufmerksam, das Proust als Dreizehnjähriger Tacitus intensiv las: «Cette passion pour l’histoire ne le quittera plus. (…) À treize ans, il s’initie à l’histoire romaine dans Tacite ». Marcel Proust, Werke. Frankfurter Ausgabe I 3, S. 14 (Übersetzung Henriette Beese). Siehe auch Gerd Schäfer, „Jugendbildnis des Schriftstellers“. Zu den ersten Bänden der „Frankfurter Ausgabe“ von Marcel Proust, PROUSTIANA VIII/IX (1991), 9.
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son secret, et d’éloigner cette Agrippine dont la nature franche lui était déjà insupportable, et à laquelle il s’est rendu odieux ».¹¹⁹ Insbesondere bezüglich der von Proust geschilderten Reg- und Ausdruckslosigkeit dürfte Tacitus Pate gestanden haben, der über den Schrecken des Angeklagten bezüglich Tiberius’ undurchdringlicher, zorn- und mitleidloser Miene sagt: ‚nullo magis exterritus est quam quod Tiberium sine miseratione, sine ira, obstinatum clausumque vidit, ne quod adfectu perrumperetur‘ (ann. 3.15.2). In einem ebenso kühnen wie schwungvollen Gedanken gelingt es dem Gymnasiasten mit einer von der Vorlage abweichenden freien Dramaturgie, dem uneingestandenen Wunsch der Senatoren nach Gerechtigkeit Ausdruck zu verleihen: „Agrippina betritt die Kurie, und all die alten Senatoren entblößen ihr Haupt vor dieser durch ihr Unglück verehrungswürdigen Frau, und all diese Männer, in denen die Unterwürfigkeit jedes edle Gefühl ausgelöscht hat, spüren, wie in ihren Herzen der unbekannte Wunsch nach Gerechtigkeit entsteht.“¹²⁰ – « Agrippine entre dans la Curie, et tous les vieux sénateurs se découvrent devant cette femme vénérable par son maleur, et tous ces hommes chez lesquels la servilité a éteint tous les nobles sentiments sentent naître dans leur cœur le désir inconnu de la justice. »¹²¹ So wird die affirmative Beschwörung der Gerechtigkeit, von Recht und gerechter Strafe äußerlich zu einem Leitgesichtspunkt der stilisierten Rede Agrippinas vor dem Senatsgericht, während das Augenmerk des Autors bereits unterschwellig auf die Gefühlswelt der Protagonisten, vor allem des in die Ermordung Pisos verstrickten Tiberius gerichtet ist:¹²² „Bedenkt, daß die Gerechtigkeit Roms Stärke ausmacht und zugleich seinen Ruhm! Hättet ihr also den Mut, ohne Urteil zu verurteilen, ohne Berufung zu Strafen?“¹²³ – « Songez que la justice fait la force de Rome en même temps que sa gloire! Auriez-vous donc le courage de condamner
Marcel Proust, Narration. Procès de Pison devant le Sénat romain, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 16 f. Marcel Proust, Werke. Frankfurter Ausgabe I 3, S. 14 (Übersetzung Henriette Beese). Marcel Proust, Narration. Procès de Pison devant le Sénat romain, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 14. William C. Carter, Marcel Proust. A Life, 2000, S. 42 f., zeigt sich ebenfalls beeindruckt: “Marcel also wrote an essay on a proposed theme from Tacitus relating a dramatic event that took place in the Roman senate: Agrippina had accused Gaius Calpurnius Piso of murdering her husband. Such training was the goal of classical education (…). The text that Marcel wrote based on Tacitus showed, yet again, a confidence in expression and an ability to create drama and suspense, as well as an increased sureness of taste and tone. The young scholar must have been proud of his efforts, because he wrote at the top oft he first page Lege, quaeso – Latin for ‚please read‘ – and placed his essay on the table where he knew his mother would find it”. Marcel Proust, Werke. Frankfurter Ausgabe I 3, S. 13 (Übersetzung Henriette Beese).
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sans jugement, de supplicier sans appel ? »¹²⁴ Schon hier geht es Proust – kaum anders übrigens als Tacitus¹²⁵ – weniger um Recht und Gerechtigkeit als vielmehr um eine anhand ihrer zur Geltung gebrachte Verdeutlichung der Abhängigkeit der wahren Herrschaftsverhältnisse, die stärker durch innere Regungen geprägt sind, als die Beteiligten sich eingestehen und letztlich sogar den Herrscher beherrschen. Die Unterwerfung der mitwissenden Senatoren, die in dieser frühen Schularbeit Prousts eindrucksvoll zur Geltung kommt, wird bei Tacitus zu einer vorauseilenden und daher umso entwürdigenderen Selbstversklavung. Tacitus teilt die knechtische Gesinnung der Konsulen, Senatoren und Ritter dem Princeps gegenüber zu Beginn der Annalen mit schneidender Prägnanz mit: ‚At Romae ruere in servitium consules patres eques‘ (ann. 1.7.1).¹²⁶ Auch die dort in anderem Zusammenhang begegnende entlarvende Wirkung einer an Tiberius gerichteten und für ihn vollkommen unvorhergesehenen Frage eines Senators,¹²⁷ die den Princeps in einem für die Sicherung seiner Herrschaft überaus heiklen Moment aus dem Konzept bringt und kurzzeitig sogar verstummen lässt, wird von Tacitus durch eine inmitten stehende Alliteration stilistisch wie dramaturgisch wirkungsvoll und psychologisch tiefsinnig in Szene gesetzt: ‚perculsus improvisa interrogatione paulum reticuit‘ (ann. 1.12.2). ‚Perculsus‘ dürfte von der Intensität der Erschütterung her ungefähr jenem ‚boulversé‘ entsprechen, das Marcel über den Tod Swanns empfinden wird (P I 263), wenn auch bei weitem nicht vergleichbar mit dem « boulversement de toute ma personne » (SG I 212), das die spätere Vergegenwärtigung des Todes seiner Großmutter in der Erinnerung daran in ihm auslöst, oder gar, nach der Flucht Albertines, dem « boulversement de mon
Marcel Proust, Narration. Procès de Pison devant le Sénat romain, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 14 f. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 545 ff. Zu dieser Stelle Mehran A. Nickbakht, Fighting for Liberty, Embracing Slavery: Tacitus, Annals 1.7.1, Museum Helveticum 63 (2006), 39; Joseph Vogt, Tacitus und die Unparteilichkeit des Historikers, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 39, 56: „Wie sollte er auch noch auf die Wiederherstellung der Freiheit hoffen, wenn Konsulen, Senatoren und Ritter in der Knechtseligkeit vorangingen, die besten nur eben noch darin sich bewährten, daß sie mit Anstand zu sterben wußten?“ Vgl. auch Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 6, 255. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. I, S. 380, schildert die Begebenheit hintergründig: “In the further course of the debate Tiberius let drop an incautious suggestion – not the undivided authority but whatsoever portion the Senate might allot to his custody. Whereupon Asinius Gallus broke in with a pointed question – which portion? Gallus tried to gloss over the injection – he meant to show that the power was one and indivisible – and he wound up with praise of Tiberius. Tiberius was not mollified”.
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être » (AD 26). Davon wird weiter unten im Rahmen der Erörterung des TacitusZitats innerhalb der Recherche noch eingehend die Rede sein. Dass Beispiele aus dem Rechtsleben für Proust Anschauungsmaterial für das alles dominierende Thema der Zeit, vor allem der Aufschlüsselung der Vergangenheit bieten, zeigt eine Stelle, die den eigentümlichen Daseinsmodus der Vergangenheit sinnfällig macht: „Die Vergangenheit entflieht nicht, sie bleibt und verharrt bewegungslos. Nicht nur können Monate nach Ausbruch eines Krieges ohne Eile durchgebrachte Gesetze noch nachdrücklich auf ihn Einfluß nehmen, nicht nur kann eine Gerichtsperson noch immer, nachdem ein Verbrechen fünfzehn Jahre lang unaufgeklärt geblieben ist, Elemente aufdecken, die geeignet sind, zu seiner Erhellung zu dienen“ (III 553).¹²⁸ – « Le passer non seulement n’est pas fugace, il reste sur place. Ce n’est pas seulement des mois après le commencement d’une guerre que des lois votées sans hâte peuvent agir efficacement sur elle, ce n’est pas seulement quinze ans après un crime resté obscur qu’un magistrat peut encore trouver les éléments qui serviront à l’éclaircir » (G III 53). Diese fünfzehn Jahre darf man jedoch nicht als versteckte Anspielung auf jene ‚quindecim annos‘ ansehen, die Tacitus in dem von Brichot zitierten ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2) meint, weil Proust diesen Zeitraum, wie weiter unten noch ausführlich darzustellen sein wird, mit einem Vierteljahrhundert bemisst. Eine interessante Justizmetapher findet sich auch im Hinblick auf die Gestalt des vom Erzähler verehrten Schriftstellers Bergotte, dessen Besonderheit es gerade ist, dass er sich nicht den taktischen Zwängen unterordnet, sondern der reinen Kunst lebt :¹²⁹ „Und hätte er sich vor einem Gericht zu verteidigen gehabt, so hätte er unwillkürlich seine Worte nicht danach gewählt, wie sie auf den Richter wirken, sondern nach Maßgabe dieser Bilder, die auf den Richter selbst bestimmt keinen Eindruck machen“ (II 177).¹³⁰ ‒ « Et s’il avait eu à se défendre devant un tribunal, malgré lui il aurait choisi ses paroles non selon l’effet qu’elles pouvaient produire sur le juge mais en vue d’images que le juge n’aurait certainment
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Proust und Sainte-Beuve, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 58, 65, betont den Zusammenhang mit dem Stil, dessen entscheidendes Mittel die Metapher ist: „Für den Marcel, der seine vocation gefunden hat, ist Stil vor allem begründet in einer Kunst der Metapher, die der inneren Erfahrung und ihrem Spiel der Bezugsetzungen zwischen den Sensationen entspringt.“ Auch wenn die im Text zitierte Stelle noch weit vor jener ‚vocation‘ Marcels angesiedelt ist, kann man sie vielleicht bereits als einen Vorgriff bezeichnen, indem Bergottes Kunst für ihn bereits einen Maßstab setzt, der später auch für ihn selbst Geltung beanspruchen soll. Siehe zur ‚vocation als Dichter und Schriftsteller‘ auch Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler), 2016, S. 13 f. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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pas aperçues » (JF I 178). In dieser Absage an den Opportunismus gegenüber weltlicher Gerichtsbarkeit kommt die Einstellung des wahren Künstlers zum Ausdruck, der seine Arbeit vor dem strengeren Gerichtshof der Kunst zu verantworten hat und mit seinem Werk vor der Nachwelt bestehen möchte. Ebenso wie Tacitus als Vertreter der senatorischen Geschichtsschreibung zwar durchaus die Nachwelt vor Augen hatte, zugleich aber für seine senatorischen Standesgenossen schrieb,¹³¹ deren dynastische Verzweigungen und schmeichlerischen Entgleisungen ihrer Vorfahren er nur zu genau kannte und, gewiss zum Verdruss ihrer Abkömmlinge, auch genauestens protokollierte, schrieb Proust ebenfalls einerseits mit Blick auf seinen Platz innerhalb der Weltliteratur, andererseits mit einem Seitenblick namentlich auf die von ihm porträtierten Aristokraten des Faubourg Saint-Germain, deren Stil und Haltung ihm gerade deswegen imponierten, weil sie geistige Größe unbeschadet der sozialen Herkunft zu achten bereit waren:¹³² „Das einzige, worin sein Onkel ihn nicht hätte übertreffen können, war seine vom Faubourg Saint-Germain geprägte Geistesart, die selbst an allen denen haften bleibt, die sich wer weiß wie sehr davon befreit zu haben glauben, während sie doch daraus ihre Hochachtung vor gescheiten Menschen ohne glanzvolle Herkunft entnehmen (eine Hochachtung, die wirklich nur im Adel blüht, weshalb die Revolutionen so ungerecht sind), gemischt allerdings mit törichter Selbstzufriedenheit“ (VII 107/108).¹³³ – « La seule chose où son oncle ne l’eût pas dépassé était cet état d’esprit du fauburg SantGermain dont sont empreints ceux qui croient s’en être le plus détachés et qui leur donne à la fois ce respect des hommes intelligents pas nés (qui ne fleurit vraiment que dans la noblesse et rend les révolutions si injustes), et cette niaise satisfaction de soi » (TR I 92). Auch hier enthält der Klammerzusatz die auf die Gerechtigkeit bezogene, paradox anmutende Pointe, die einem vorwegnehmenden Nachtrauen gegenüber denen nahekommt, die – um es mit dem von Proust so oft zitierten Richard Wagner zu sagen – so stark im Bestehen sich wähnen und in ihrer Unfähigkeit, die Zeichen der Zeit zu erkennen, doch ihrem Untergang zu eilen.¹³⁴ Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg.Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 12, präzisiert und richtet seine Deutung bereits auf Tacitus’ dichterische Fähigkeiten: „Tacitus aber war, wie er sich fühlte, ein Römer alten Schlages; die Poesie erschien ihm, wie er öfter andeutet, nicht als ernsthafte Beschäftigung, die Historie entsprach seiner Würde, und die neue Zeit gestattete wieder das freie Wort: so warf sich das poetische Talent auf die Historie“. Rainer Warning, Marcel Proust, 2016, S. 77 f., spricht treffend von einem „Kaleidoskop des Faubourg Saint-Germain“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 233 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), schildert Prousts diesbezügliches Interesse und seine Arbeitsweise: „Manchmal beim Arbeiten, bat er mich, ihm den Gotha zu geben – sehr selten. Immer geschah es,
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Das entspricht wohl mutatis mutandis auch taciteischem Denken, dessen Faszination für den Niedergang erlauchter Häuser unübersehbar ist: ‚Inlustrium domuum adversa – etenim haud multum distanti tempore Calpurnii Pisonem, Aemilii Lepidam amiserant – solacio adfecit D. Silanus Iuniae familiae redditus‘ (ann. 3.24).¹³⁵ Ebenso wie Proust gehörte Tacitus jedoch nicht zum Geburtsadel, sondern gleichsam zum Geistesadel (hist. 1.1.1), der sich von jenem allerdings um seiner eminenten rhetorischen Fähigkeiten willen durchaus hochgeschätzt sah. Tacitus selbst entstammte nämlich entgegen einer früher vorherrschenden, heute überkommenen Ansicht nicht dem römischen Stadtadel,¹³⁶ sondern war wohl für diesen – in gewissem Sinne wie Proust aus Sicht der von ihm beschriebenen Aristokraten – homo novus.¹³⁷ Als Emporkömmlinge aus Sicht des alten Adels wussten beide nur zu gut, dass neben rhetorischen und geistigen Fähigkeiten vor allem Verbindungen zählten, vermöge derer bei Irritationen aller Art gleichsam der Bündnisfall ausgerufen wurde (ann. 2.34.2): „Alles liegt eben daran, glänzend alliiert zu sein. Da dann der ‚Casus foederis‘ eintritt, versetzt der Tod des kleinen Bürgermädchens sämtliche europäischen Fürstenhäuser in Trauer“ (VI 356). – « Le tout, en effet, est d’avoir une grande alliance. Alors, le ‚casus fœderis‘ venant à jouer, la mort de la petite roturière met en deuil toutes les familles princières de l’Europe » (AD 342). Tacitus wie Proust waren beide, was für ihr Werk nicht unwichtig ist, wirtschaftlich unabhängig und hatten keinen rechten Bezug zu wirklicher Armut, die
um die Wappensprüche zu studieren und die Heiraten nachzuprüfen, um unterscheiden zu können, was die einen im Vergleich zu den anderen boten und was aus den Familien geworden war. Das hatte nichts mit der Neugier eines Lebemanns zu tun. Er verfolgte die Entwicklungen und die Niedergänge.“ Hervorhebung nur hier. Frank Laurence Lucas, Studies French and English, 1934, S. 282, hat bereits insbesondere Tacitus und Proust in dieser Hinsicht zueinander ins Verhältnis gesetzt: “Tacitus, Saint-Simon and Proust – each has left his record of the brutality and beaseness under the magnificence of aristocracy in decline.” Auf diese Stelle macht Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 133, aufmerksam, der ebenfalls diesen Gedanken des Niedergangs der Dynastien – also die julischclaudische auf der einen, die der Guermantes auf der anderen Seite – in den Vordergrund seiner Betrachtung stellt, während in der vorliegenden Abhandlung eher die psychologische Genialität beider Autoren im Mittelpunkt steht. Joseph Vogt, Tacitus als Politiker, 1924, S. 18: „Getragen von der ruhmvollen Tradition der Cornelier stand er aufrecht, während er alles um sich sinken sah. Das wird ihm und seinem Volk immer eine Ehre sein“. Richard Reitzenstein, Aufsätze zu Tacitus, 1967, S. 124: „Man hat früher geglaubt, der adelsstolzeste Römer, den wir kennen, sei selbst Emporkömmling (…)“. Ronald Syme, The Political Opinions of Tacitus, in: Ten Studies in Tacitus, 1970, S. 119, 140: “Cornelius Tacitus is not a descendant of the patrician Cornelii, but a homo novus (…)”; Hervorhebung auch dort.
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jenen förmlich abstieß: ‚foeda paupertas‘ (Germania 46.3).¹³⁸ Das Abgleiten einer in Vermögensverfall geratenen Familie empfand er, auch wenn er vermerkt, wie würdig es von dem betroffenen Aristokraten ertragen wurde, als beschämenswert: ‚pudendam ad inopiam delaberetur‘ (ann. 2.38.5). Beiden waren, wie das weiter oben wiedergegebene Proust-Zitat zeigt (VII 108), Revolutionen suspekt und galten ihnen als ungerecht, weil sie bei aller Erkenntnis der Morbidität des Bestehenden auch das Erhaltungswürdige einzuebnen drohten. Insofern kann man bei beiden einen auch in moralischen Wertungen zum Ausdruck kommenden eingefleischten Konservativismus beobachten (Agr. 4.2), den Marcel in der Recherche freilich humorvoll ironisiert, wo die auf den Anstand zu nehmende Rücksicht idiosynkratisch anmutet (II 15): „Selbst offen zutage tretendes Unrecht bringt solche Naturen, deren Idealtypus meine Großtante verkörperte, von dem, was sie anderen schuldig sind, niemals ab: seit Jahren war sie mit einer Nichte verstritten, so daß sie nie mit ihr sprach, aber, weil sie nun einmal die nächste Verwandte war und weil es sich ‚so gehörte‘, änderte sie deswegen nicht etwa ihr Testament, durch das sie ihrer Nichte ihr ganzes Vermögen vermachte“ (I 127).¹³⁹ – « Nos torts même font difficilement départir de ce qu’elles nous doivent ces natures dont ma grand’tante était le modèle, elle qui, brouillée depuis des années avec une nièce à qui elle ne parlait jamais, ne modifia pas pour cela le testament ou elle lui laissait toute sa fortune, parce que c’était sa plus proche parente et que cela ‚se devait‘ » (S I 133).¹⁴⁰
Zu dieser Stelle, an der sich andererseits zeigt, dass Tacitus den Zugewinn innerer Freiheit bei äußerer Armut zu schätzen wusste, Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 566. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 87, stellt fest, was wohl auch im Hinblick auf Tacitus einschlägig sein dürfte: „Dagegen herrschte ein hierarchischer Konservativismus in allen Lebensformen. (…) Man weiß sich und will sich eingegliedert in eine unüberschreitbare Ordnung. Man ist es sich schuldig, ihre ungeschriebenen altertümlichen Gesetze innezuhalten.“ Schließlich und vor allem S. 117: „Die wiedervergegenwärtigende Rückschau auf den eigenen Lebensgehalt, das Zurücktauchen in die entschwundene Zeit, das Eingesenktsein in die Tradition von Geist und Lebensform, von Milieu und Klasse – in allem diesem zeigt sich ja Prousts Werk gebunden an die Vergangenheit. Es ist eine gewollte Bindung. (…) Sie ist antirevolutionär.“ – Vieles von dem gilt auch für Tacitus, Dialogus de oratoribus, sowie den Geist seiner weiteren Werke. Zu dieser Stelle treffend und mit soziologischer Einordnung unter Berücksichtigung der Testierfreiheit Werner Hofmann, Recht und Gerechtigkeit in Marcel Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, PROUSTIANA XX (1998), 12, 13: „Hier begegnet uns das Recht in fast archaischer Geschlossenheit. Recht und Moral sind aufs engste miteinander verbunden. Dies entspricht der Klassengesellschaft, die am Anfang des vorigen Jahrhunderts in Frankreich ebenso wie in Deutschland (…) bestanden hat. Der einzelne weiß sich eingegliedert in einer fixierten Ordnung und akzeptiert deren Verhaltenskodex. (…) Die im Text dargestellte Kongruenz von Recht und Moral wirkt fast befremdlich, weil wir es inzwischen gewohnt sind, Recht und Moral stark zu differenzieren, die Rechtsnorm nach ihrer Erzwingbarkeit definieren und als ‚ethisches Minimum‘
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Allerdings machen beide von diesem Konservativismus markante Ausnahmen. Ebenso wie Tacitus zugesteht, dass früher nicht alles besser war – ‚nec omnia apud priores meliora‘ (ann. 3.55.5) – ironisiert Proust gewisse Unarten der Konservativen, die zwar vorgeben für Recht und Ordnung einzutreten, dabei aber stets das Gespenst eines ubiquitär um sich greifenden Sozialismus’ wähnen, dessen mutmaßliche Anhänger sie auf der anderen Seite umgarnen, wie dies durch den Botschafter Norpois geschieht:¹⁴¹ „Es versteht sich im übrigen von selbst, daß es an der Regierung ist, Recht zu sprechen und die allzulange Liste der ungeahnten Verbrechen zu schließen, gewiß nicht auf den Druck hin, der von sozialistischen Kreisen oder irgendeiner Soldateska ausgeübt wird, fügte er hinzu, indem er Bloch in die Augen blickte, vielleicht von dem Instinkt aller Konservativen geleitet, sich Unterstützung im feindlichen Lager zu versichern“ (III 324). – « Il va de soi d’ailleurs que c’est au governement qu’il appartient de dire le droit et de clore la liste trop longue des crimes impunis, non, certes, en obéissant aux excitations socialistes ni de je ne sais quelle soldatesque, ajouta-t-il, en regardant Bloch dans les yeux et peut-être avec l’instinct qu’ont tous les conservateurs de se ménager des appuis dans le camp adverse » (G II 91). Norpois’ Konservativismus ist also mit einem gerüttelten Maß an Opportunismus durchmischt, der sich seiner diplomatischen Fähigkeiten nur zu gewiss ist, mehr noch der Tatsache, in Zukunft auf der richtigen Seite zu stehen, wie auch immer das Geschick sich wendet, weil er wendig genug ist, sich notfalls mit dem gegenteiligen Standpunkt zu arrangieren, den er zwar von Grund auf ablehnt, aber in vorausschauender Deutung der Zeichen der Zeit immerhin für so vertretbar hält, dass er ihn zu gegebener Zeit selbst rückwirkend belegbar einnehmen kann, wenn es die Sachlage einmal erfordert. Bei Proust wird das Recht mitunter zu einem Kontrastmittel, welches das Auseinanderfallen von Vorstellung und Wirklichkeit zur Geltung bringt. So stellt sich Marcel die Welt der Guermantes nach Erzählungen seines Freundes, welcher der Familie angehört, zunächst dergestalt vor, dass ihr Stadtpalast ursprünglich „mitten in Paris von seinen Landen umgeben lag, die erb- und eigentümlich dem Haus Guermantes gehörten aufgrund eines alten, in seltsamen Formen noch bestehenden Rechts- und ihrer lehnsherrlichen Gerichtsbarkeit noch untertan“ (III 15).¹⁴² – « au milieu des Paris même, de ses terres, posséde héréditairement, en vertu d’un droit antique bizarrement survivant, et sur lesquelles elle exerçait encore des privileges féodaux » (G I 18). Das erinnert beinahe an Montaignes ‚fondement bestimmen, daß es der Erblasserin freigestellt hätte (sic), zugunsten einer unbotmäßigen oder auch nur unangenehmen Nichte zu testieren, sie auf ein Vermächtnis zu beschränken oder von beidem abzusehen“. Zu ihm Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 141. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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mystique de leur autorité‘,¹⁴³ der freilich in der Realität mitunter ebenfalls oft weniger mystisch ist, als man annimmt, sondern eindeutigen Rechtsverhältnissen folgt, die eben deshalb gelten, weil sie gesetzlich vorgeschrieben oder anderweitig bestimmt sind.¹⁴⁴ Rechtsverhältnisse interessieren Marcel vornehmlich dann, wenn sie altehrwürdiges Herkommen und geschichtlich Gewachsenes verraten oder zumindest versprechen, wie in Balbec „die Darstellung irgendeines alten, nicht mehr bestehenden Brauches oder Feudalrechts“ (I 513). – « la représentation de quelque usage aboli, de quelque droit féodal » (S II 234). Umso enttäuschter registriert er, wenn es sich in Wirklichkeit anders verhält. So ist denn auch das scheinbar in unergründlicher Zeit durch Landnahme begründete Eigentums- bzw. Wohnrecht der Guermantes, das sich vermeintlich auf eigentümliche Weise fortgeschrieben hat und weiterhin mit einer anachronistischen Judikative verbunden sein soll, in Wahrheit entschieden prosaischer Natur, wie die ebenso neugierige wie bodenständige und pragmatische Françoise durch den Dienstbotenklatsch in Erfahrung gebracht hat: „Trotz der ablehnenden Miene des Majordomus der Guermantes, hatte mich Françoise bereits in den ersten Tagen darüber aufklären können, daß ‚die da hinten‘ ihr Palais nicht aufgrund unvordenklicher Rechte bewohnten, sondern kraft eines verhältnismäßig neuen Pachtvertrages“ (III 31).¹⁴⁵ – « Malgré l’air de morgue de leur maître d’hôtel, Françoise avait pu, dès les premiers jours, m’apprendre que les Guermantes n’habitaient pas leur hôtel en vertu d’un droit immémorial mais d’une location assez récente » (G I 34). Diese Stelle findet noch ein entferntes Echo in der ‚wiedergefundenen Zeit‘ wo sie durch eine bemerkenswerte Einsicht eingeleitet wird, in der sich der Blick auf den nicht unverschuldeten Niedergang der Dynastien – das taciteische Grundthema¹⁴⁶ – kondensiert: „Wenn den Angehörigen der großen Welt daran gelegen ist, daß wir an sie glauben, tun sie unrecht, nicht zu begreifen, daß sie dafür zunächst einmal selbst an sich glauben oder zumindest die wesentlichen Elemente respektieren müßten, aus denen unser Glaube an sie sich zusammensetzt. Zu der Zeit, da ich – selbst wenn ich im Grunde das Gegenteil wußte – des Glaubens war, die Guermantes bewohnten ein Stadtschloß kraft eines ererbten Rechts, schien mir das Eindringen in den Palast eines Zauberers, einer Fee, oder die Möglichkeit, daß vor mir die Pforten sich öffneten, die erst nachgeben, wenn man die magische Formel ausgesprochen hat, ebenso schwierig wie das Erlangen Michel de Montaigne, Les Essais, III 13, S. 1119, Bibliothèque de la Pléiade, 2007. Jens Petersen, Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts, 2. Auflage 2019, S. 76. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Sallust, 1964 (zitiert nach der von Udo Scholz übersetzten deutschsprachigen Ausgabe 1975), S. 300 f.
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einer Unterhaltung mit dem Zauberer oder der Fee selbst. Nichts fiel mir leichter als der Glaube, der erst am Vortage eingestellte oder von Potel & Chabot vermittelte Lakai sei der Sohn, der Enkel, ein Nachkomme jedenfalls derjenigen, die der Familie schon vor der Revolution gedient hatten, und ich war von grenzenlosem gutem Willen erfüllt, ein Ahnenbild in dem Porträt zu sehen, das erst vier Wochen zuvor bei Bernheim junior erstanden war“ (VII 243).¹⁴⁷ – « Au temps où je croyais, même si je savais le contraire, que les Guermantes habitaient tel palais en vertu d’un droit héréditaire, pénétrer dans le palais du sorcier ou de la fée, faire souvrir devant moi les portes qui ne cèdent pas tant qu’on n’a pas prononcé la formule magique, me semblait aussi malaisé que d’obtenir un entretien du sorcier ou de la fée eux-mêmes. Rien ne m’était plus facile que de me faire croire a moi-même que le viex domestique engagé de la veille ou fourni par Potel et Chabot était fils, petit-fils, descendant de ceux qui servaient la famille bien avant la Révolution, et j’avais une bonne volonté infinie à appeler portrait d’ancêtre le portrait qui avait été acheté le mois précédent chez Bernheim jeune » (TR I 221). Man kann daraus beispielhaft ersehen, wie äußerlich weit entfernt auseinanderliegende Teile der Recherche von vornherein so konzipiert sind, dass sie gerade infolge des dazwischen vergangenen Zeitraums bruchlos ineinandergreifen; in der Diktion der Proustschen Kunsttheorie wohl als jeweiliges ‚morceau symétrique‘.¹⁴⁸ Marcel erkennt sich in seiner ursprünglichen Leichtgläubigkeit an diesen von Montaigne beschriebenen mystischen Grund der Autorität der Institutionen und wird nicht zuletzt durch die saturierte Trägheit derjenigen eines Besseren belehrt, die mit nur geringfügiger Anstrengung jenen Glauben aufrechterhalten könnten, von dem sie seit alters ihr Ansehen beziehen, und sich selbst überkommen, weil sie die Zeichen der Zeit nicht erkennen oder aus anderen Gründen den ehemaligen Glanz ihrer Familie nicht aufrechterhalten können. Kaum anders verhält es sich bei der römischen Aristokratie, über die Tacitus berichtet.¹⁴⁹ Ein Abkömmling des ursprünglich schwerreichen und berühmten Redners Hortensius musste bei Tiberius regelrecht betteln, um ein Auskommen für sich und seine Kinder zu finden, mit denen er vor den Princeps trat und schnöde abgewiesen wurde. Hier kommt das taciteische Motiv des Niedergangs einer hochangesehenen Familie – ,clarissima familiaʻ (ann. 2.37) – besonders anschaulich zur Geltung. Die demütige Rede des Petenten, Tiberius abkanzelnde Widerrede, die ebenso feige wie opportunistische Reaktion der Mehrheit der Se Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 89. Gabriele Münkel, Redner und Redekunst in den historischen Schriften des Tacitus, 1959, S. 74, macht den „Zeitgeist“ verantwortlich, was im weiteren Sinne dem soeben zu Proust Bemerkten entspricht.
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natoren und schließlich das vornehme Schweigen des Hortensius, lassen diesen ungeachtet seiner entwürdigenden Behandlung noch würdevoller erscheinen (ann. 3.38.5).¹⁵⁰ Wie Proust lässt Tacitus den glanzvollen Namen der niedergegangenen Dynastie umso heller erstrahlen, je drückender die Verbindlichkeiten sind, weil der Abkömmling der in Vermögensverfalls geratenen Familie sich dessenungeachtet ihrer unverbrüchlichen Standeswürde und Anciennität bewusst ist. Auch bei Tacitus fungiert die Darstellung von Gesetzen und Rechtsverhältnissen als Kontrastmittel zur Verdeutlichung anderweitiger Vorgänge (Germania 19.2),¹⁵¹ die dort freilich nicht, wie bei Proust, unmittelbar der Imagination und Gefühlswelt zugehören, sondern zunächst wenigstens handfeste Interessen verschleiern und Machtverhältnisse verbrämen (ann. 3.25.1). Doch besteht auch dort die Gemeinsamkeit darin, dass diese Interessen und Machdemonstrationen letztlich oft in Animositäten und Leidenschaften der Beteiligten wurzeln (ann. 1.12.2), die wiederum auf dem Grund eingebildeter oder tatsächlicher Kränkungen wuchern (ann. 11.3.4), die lange unterdrückt waren (ann. 6.9.3), weil der unsichtbare, aber wirkungsmächtige Neid im Verborgenen blüht: ‚invidia in occulto‘ (hist. 4.4.2).¹⁵² Aus diesem Neid entsteht, ohne dass der Beneidete es – wie häufig auch in Prousts Recherche beim Beneideten bzw. Geliebten der Fall – überhaupt spüren muss, im Laufe der Zeit Hass: ‚odium ex invidia oriebatur‘ (ann. 3.75.2). Gerade der taciteische Tiberius ähnelt in seiner Charakterzeichnung, wie gesehen, bestimmten Figuren Prousts, weil er ebenso intelligent wie sensibel, aber nachtragend und eifersüchtig war. Die Fremdartigkeit seines menschenscheuen Charakters wird von Tacitus bereits früh mit nur vier Worten angedeutet: ‚alia Tiberio morum via‘ (ann. 1.54.2). Ursprünglich glücklich mit Vipsania verheiratet, die von ihm schwanger war, wurde die Ehe auf Geheiß des Augustus geschieden, der ihn anderweitig und sehr unglücklich wiederverheiratete. Den hochmütigen und provokanten Aristokraten (ann. 1.8.3), der seinerseits Tiberius’ ursprüngliche Frau Vipsania heiratete (ann. 1.12.4), verfolgte er in seiner Eifersucht unter dem Vorwand nichtiger Rechtsfragen,¹⁵³ ließ ihn durch vorgeschobene Prozesse immer mehr in die Enge treiben und schließlich buchstäblich verhungern (ann. 6.23.1). Es
Ronald Syme, Tacitus, 1958,Vol. I, S. 325, “expressed with some dignity.” Siehe auch ebenda, Vol. II, S. 747. Näher Karl Christ, Germanendarstellung und Zeitverständnis bei Tacitus, Historia 14 (1965), 62; ders., Tacitus und der Principat, Historia 27 (1978), 449, 473. Zu allen zuvor genannten und folgenden Stellen Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. I, S. 380: “He had good reason already for disliking Asinius Gallus, the husband of his former wife Vipsania (…), a bold ambitious man”.
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war kein anderer als derjenige, der, wie weiter oben berichtet, Tiberius bei der Festigung seiner Herrschaft mit einer verfänglichen Frage in Bedrängis gebracht hatte (ann. 1.12.2). Man begreift vor dem Hintergrund dieser Eifersuchtsgeschichte, warum der größte Tacitus-Kenner und bislang einzige, der Proust und Tacitus in einen näheren Zusammengang zueinander gestellt hat,¹⁵⁴ Tiberius, wie bereits eingangs berichtet, mit Prousts Baron de Charlus verglichen hat.¹⁵⁵ Denn es war, wie erinnerlich, kein Geringerer als Sir Ronald Syme, der als erster die Idee hatte, Tacitus und Proust zueinander ins Verhältnis zu setzen, wovon ein postum veröffentlichtes Fragment zeugt.¹⁵⁶ Golo Mann, als Historiker ebenso anerkannt wie als Tacitus-Kenner zu Unrecht unterschätzt,¹⁵⁷ bemerkt in seinem Nachruf auf Ronald Syme ein in doppelter Hinsicht Aufschlussreiches: „Aber auch Marcel Proust (…) gehörte zu Symes bevorzugten Franzosen. Gelegentlich erzählte er uns von der Idee, in Paris einen Vortrag über Tacitus und Proust zu halten: Die Julio-Claudische Dynastie, endend in Nero, die fürstliche Familie der Guermantes, endend mit dem Baron de Charlus. Ob dies interessante, ein wenig gewagte Projekt ausgeführt wurde, ist Ihrem Redner unbekannt.“¹⁵⁸
Lionel Trilling, Tacitus Now, in: Tacitus (Hg. Rihannon Ash), 2012, S. 435, 436, hat eine zwar vergleichsweise knappe, aber sehr ahnungs- und gehaltvolle Beobachtung angestellt, indem er auf die ähnliche psychologische Scharfsicht beider Autoren verwiesen hat, deren Tendenz auch die vorliegende Abhandlung entspricht, die diesen Gesichtspunkt stärker ausarbeitet, als es Syme unternommen hat, der die andere Gemeinsamkeit – das Interesse beider Autoren am Niedergang von Dynastien – stärker betont hat, als es hier geschieht. Ronald Syme, History or Biography. The Case of Tiberius Caesar, Historia 23 (1974), 481, 496. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 133 (eingeleitet ebenda, S. 128 ff., von Federico Santangelo), konstatiert und fragt mit Recht: «Donc, le problème se pose: est-ce qu’il est souhaitable, est-ce qu’il est possible, de mettre en parallèle le romancier français et l’historien romain? La possibilité même d’une comparaison semble avoir été écartée par la critique littéraire. Les études proustiennes, voilà un océan, ou une jungle. Celui qui vous parle n’émet pas la prétention de s’y être aventuré bien avant. Néanmoins, si l’envie vous prenait de consulter une douzaine de livres parmi les plus marquants, ou les mieux connus, vous chercheriez en vain. On a évité jusqu’au nom de Tacite. Que faut-il en conclure? à une sage défiance de la part de la critique – ou à une carence?». Dazu auch Miriam Griffin, ʻLifting the Maskʼ: Syme on Fictional History, in: History and Fiction. Six Essays celebrating the Centenary of Sir Ronald Syme (Hg. Roger S. O. Tomlin), 2016, S. 16, über ‚Tacite et Proust‘: “the latter being a favorite modern author”. Uwe Walter, Über Tacitus zu sich selbst: Golo Mann und die römische Antike, Antike und Abendland 58 (2012), 1, 13, erkennt hingegen seinen Rang und paraphrasiert umsichtig: „Ronald Syme habe Tacitus einmal mit Proust parallelisiert.“ Hervorhebung nur hier; wichtig dazu ferner Jakub Pigoń, Ein Historiker in der Welt des Absurden. Bemerkungen zu Golo Manns Versuch über Tacitus, Festschrift für Irena Światłowskaja-Prędota, 2009, S. 435; zu Golo Mann, Versuch über Tacitus, Neue Rundschau 87 (1976), 249. Golo Mann, Orden Pour le Mérite, Reden und Gedenkworte Dreiundzwanzigster Band 1990 – 1992, S. 19, 24. Mit den Worten von Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 141: «C’est
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Einer anderen Äußerung Manns ist zu entnehmen, dass Syme darüber tatsächlich öffentlich gesprochen habe: „Ronald Syme, sein (sc. Tacitus’) bester Kenner, hat mir erzählt, er habe in Paris Vorträge über Tacitus und Marcel Proust gehalten; — eine gute Idee, gewiß auch brillant ausgeführt“.¹⁵⁹ Allerdings war Prousts Werk für Symes Begriffe entschieden zu philosophisch geprägt: “Too much of thought might sometimes be a detrimental infusion. A remarkable history of French society was impaired when the author overloaded it with many philosophical disquisitions – I refer to Marcel Proust, regarding him not merely as a novelist”.¹⁶⁰ Dieser Einwand durchzieht wohl unausgesprochen auch sein Aufsatzfragment über Tacitus und Proust.¹⁶¹ In der Tat kann sich diese Sichtweise der Sache nach, selbst wenn Syme es nicht so direkt sagt, auf Tacitus’ altrömischer Denkungsart verpflichtete Skepsis gegenüber einer zu intensiven Beschäftigung mit der Philosophie berufen, die einem römischen Senator nicht anstand: ‚memoria teneo solitum ipsum narrare se prima in iuventa studium philosophiae acrius, ultra quam concessum Romano ac senatori, hausisse‘ (Agr. 4.3). Beachtung verdient daher nicht zuletzt Golo Manns Einschätzung, dass das Vorhaben ‚ein wenig gewagt‘ sei. Die darin aufscheinende Skepsis ist ernst zu nehmen.¹⁶² Man muss sich einerseits vor allzu freien Assoziationen hüten, kommt aber andererseits nicht umhin, möglichst sinnvolle Parallelen zu ziehen. Dabei darf freilich nicht außer Acht gelassen werden, dass sich Prousts Werk ohne Berücksichtigung seiner philosophischen Annahmen schlechterdings nicht erschließen lässt.¹⁶³ Anders als Syme es in seinem Fragment unternommen hat, sollen hier
aussi l’histoire d’une décadence fatale, qui peut s’étudier sous divers aspects. (…) Toute une dynastie aristocratique, celle des Julii et Claudii, de Tibère à Néron, subit une dégénérescence progressive ». Golo Mann, Wir alle sind, was wir gelesen. Aufsätze und Reden zur Literatur, 1989, S. 9. Ronald Syme, Thucydides. Lecture on a Master Mind, Proceedings of the British Academy 48 (1962), 39. Martin Edmond, The Expatriates, 2017, S. 97, kommentiert das Aufsatz-Fragment aus Symes vorgeblicher Sicht: “He thought Proust’s otherwise excellent account of his own times was blurred, or perhaps diluted, by to much philosophical speculation”. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, hat dies natürlich selbst ebenfalls gesehen: « Nommer dans le même souffle l’historien et le romancier, c’est présenter un défi téméraire ou étaler un paradoxe indécent (car on écartera sans doute, dans un milieu comme celui-ci, l’hypothèse d’une ignorance totale et invincible). En effet, saurait-on concevoir de contraste plus marquant, antithèse plus complète ? Tacite et Proust, tout conspire à les mettre en opposition – personnalité et genre de vie, œuvre et style ». Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 16, bemerkt zum philosophischen Gehalt treffend, was durch den Ausgangspunkt
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nicht so sehr die großen Linien gezeichnet und der Fokus auf die Deszendenz der Dynastien gelegt, als vielmehr bestimmte Gedanken der Recherche wörtlich wiedergegeben werden, denen vergleichbare taciteische Themen und Worte an die Seite gestellt werden, um herauszuarbeiten, wo die historischen oder ästhetischen Anschauungen übereinstimmen und in welcher Hinsicht Proust über die wörtlichen Bezugnahmen hinaus taciteischem Gedankengut verpflichtet gewesen sein könnte. Im Unterschied zu Symes Blick auf den Niedergang der Dynastien geht es hier, wie gesagt, um eine andere Gemeinsamkeit von Tacitus und Proust, nämlich die gleichartige Form der psychologischen Innenbetrachtung, insbesondere um den tiefen Blick in die Abgründe der menschlichen Seele, mit dem alle verborgenen Unredlichkeiten der Protagonisten jederzeit erfasst werden.¹⁶⁴ Man ist versucht, bildhaft von einem Röntgenblick zu sprechen, den wohl nicht von ungefähr auch Françoise im Sinn bei der Mutter Marcels zu bemerken meint:¹⁶⁵ „Madame weiß wirklich alles; Madame ist schlimmer damit als die Röntgenstrahlen (…), mit denen man einem direkt ins Herz gucken kann“ (I 75/ 76).¹⁶⁶ – « Madame sait tout; Madame est pire que les rayons X (…) qui voient ce que vous avez dans le cœur » (S I 81).¹⁶⁷ In der vorliegenden Abhandlung wird die Reihenfolge daher bewusst umgekehrt, indem es entgegen der historischen Reihenfolge in erster Linie um Proust geht und der römische Geschichtsschreiber eher als Projektionsfläche erscheint. Allerdings muss man sich der Grenzen der Leistungsfähigkeit einer solchen Zusammenstellung stets bewusst sein, wie es wohl auch Syme war. Denn einen notwendigen und anders gar nicht begreifbaren Zusammenhang zwischen Proust und einem anderen großen Denker oder
des zitierten Wortes eindrucksvoll bestätigt wird, nämlich „daß Prousts Werk aber einen philosophischen Anspruch hat und aus philosophischer Einsicht zur literarischen Form kommt“. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 4 f. mit Fußnote 11, verweist in einer auch für den vorliegenden Zusammenhang weiterführenden Weise zur Veranschaulichung der „Kunst des Tacitus“ auf Werner Jaeger, Paideia I, 1934, S.10, die das „Zusammenwirken des sprachlichen Sinns und des inneren seelischen Vorgangs“ betont. Um diesen Zusammenhang geht es auch Proust. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 495, sieht freilich die anthropologische Verallgemeinerung: „Proust ist ein gelassener, unbarmherziger Menschenzersetzer. Prousts durchbohrender Blick und treffsichere Geißel gilt nicht einzelnen Menschen, sondern dem Menschen.“ Hervorhebung auch dort. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Siehe auch Yuji Murakami, «J’étais comme un chirugien…». Der Erste Weltkrieg und die röntgenologische Metapher in À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und der Erste Weltkrieg (Hg. Wolfram Nitsch/Jürgen Ritte), 2017, S. 68.
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Schriftsteller wird es kaum je geben,¹⁶⁸ es sei denn als Spekulation, die allenfalls annäherungsweise einen neuen Einblick ermöglicht, aber keinen zwingenden Beweis zu erbringen imstande ist.¹⁶⁹ Aber auch wenn dies letztlich nicht gelingen sollte, dann kann die vorliegende Darstellung womöglich zwei Personen der Proustschen Darstellung in einem neuen oder anderen Licht zeigen, eine Hauptdarstellerin und einen Nebendarsteller. Die erste ist die Dienerin Françoise, über die schon so viel geschrieben wurde, dass es kaum möglich zu sein scheint, etwas substantiell Neues zu finden.¹⁷⁰ Indem jedoch das auf sie gemünzte und bisher vergleichsweise wenig oder nur beiläufig beachtete Wort in den Mittelpunkt gestellt wird, wonach sie geschrieben haben würde wie Tacitus – « elle eût ecrit comme Tacite » (G II 244)¹⁷¹ –, erscheint sie vielleicht in einem anderen Licht. Natürlich ist dies, wie so vieles bei Proust, deutlich ironisch gefärbt, aber nicht von ungefähr hebt Marcel „die Hellsichtigkeit ihres Blicks“ hervor (II 295): « la clarté de son regard » (JF II 69). Die andere Person, die hier näher gewürdigt wird, weil Proust ihr sogar ein Tacitus-Zitat in den Mund gelegt hat, ist der Sorbonne-Professor Brichot. Er ist ein klassischer Nebendarsteller, aber einer, der immer wieder unscheinbar auftritt und zitiert wird, weil er eine mitunter mediokre Weltsicht verkörpert,¹⁷² die aber
Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 35, betont mit Recht: „Es mag verlockend sein, zwischen solchen psychologischen Feststellungen und der physikalischen Relativitätstheorie Zusammenhänge zu stiften. In Frankreich haben manche Kritiker die Namen von Proust und Einstein zusammengestellt. Doch dürfte es sich empfehlen, mit solchen Kombinationen vorsichtig zu sein“. Émile Janssens, Stendhal et Tacite, Latomus 5 (1946), 311, bildet einen weiteren Versuch in diese Richtung; dort wird auch auf Proust Bezug genommen, allerdings nur im Hinblick auf Balzac, nicht auf Tacitus: «Parlons d’une influence de Balzac sur Proust, mais ce ne sera pas parce que le baron de Charlus fit des œuvres de Balzac sa lecture préférée, ou pas seulement pour cela. C’est parce que les personnages de Proust sont balzaciens par toute leur évolution, par leur façon d’apparaître, de parler, de vivre enfin. On pourrait retrouver chez Proust d’autres influences; il était en effet, extrêmement sensible à l’influence littéraire. Parfois, même, il lui doit exclusivement l’intérêt qu’il éveille». Astrid Winter, Die Figur der Françoise in Marcel Prousts „À la Recherche du Temps Perdu“, 2003, S. 86 Fußnote 155, geht in ihrer sonst gründlichen Monographie nur beiläufig auf die hier im Mittelpunkt stehende Stelle ein. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 135, zitiert unrichtig «S et G, I, p. 48 ». Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 104, erachtet ihn offenbar auch als paradigmatische Gestalt und spricht von dem „Sorbonne-Professor Brichot, der wie alle anderen (…) des Salons (sc. der Mme Verdurin) zum glühenden Nationalisten geworden ist (…). Marcel nimmt die Veränderung der Sprache wahr, die der Wechsel der politischen Gesinnung bei den mediokren Geistern mit sich bringt (…)“.
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nicht nur interessant und für die Anordnung der Charaktere innerhalb des Gesamtwerks wichtig ist,¹⁷³ sondern vor allem deswegen – und das macht ihn im Hinblick auf Tacitus so bedeutsam –, weil er als Gelehrter die Geschichte reflektiert.¹⁷⁴ Darin spiegelt sich im Übrigen etwas Taciteisches. Denn auch der große Historiker zeigt gerade in den Annalen einen besonderen Sinn für die Dramaturgie der Darstellung, zu der es gehört, dass auch Nebendarsteller für das Verständnis des Ganzen bedeutsam sind.¹⁷⁵ Einer seiner bevorzugten kleineren Charaktere ist beispielsweise der bereits genannte Großneffe gleichen Namens des von Tacitus besonders verehrten Historikers Sallustius Crispus.¹⁷⁶ Ihn zeichnet der sonst so moralisch streng urteilende Historiker ungeachtet seines anfechtbaren Lebenswandels und seiner sinistren Ratschläge in ungewohnt mildem Licht. Er erscheint als überlegen urteilender Geist, der keine hohen Ämter braucht, um machtvoll zu wirken, sondern bei äußerster Effizienz und hellwachem Verstand zum Schein gleichzeitig gelangweilt wirken konnte: ‚suberat tamen vigor animi ingentibus negotiis par, eo acrior, quo somnum et inertiam magis ostentabat‘ (ann. 3.30.3). Diese Größe hat der vergleichsweise pedantische Philologe Brichot fraglos nicht: „Die Vulgarität des Menschen drängte sich überall unter der Pedanterie des Literaturkenners hervor“ (VII 148).¹⁷⁷ – « La vulgarité de l’homme apparaissait à tout instant sous le pédantisme du lettré » (TR I 129). Bereits die ersten Sätze, mit denen Brichot in der Recherche charakterisiert wird, veranschaulichen die Ambivalenz seines Wesens und Strebens: „Er besaß nämlich jene an Aberglauben grenzende Neugier auf das Leben, die, mit einer gewissen Skepsis dem eigenen Studiengebiet gegenüber gepaart, in allen Berufszweigen gewissen der Intelligenz zugehörigen Männern, Medizinern, die nicht Albert Feuillerat, Comment Marcel Proust a composé son roman, Yale romanic studies, 1934, hat bereits die Zwiespältigkeit und Ambivalenz dieser Figur im kompositorischen Prozess und Gefüge der Recherche erkannt und paradigmatisch herausgestellt. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 36 f., hat möglicherweise auch Brichot im Blick, wenn er allgemeingültig feststellt: „Es ist für Proust charakteristisch, daß bei ihm alle großen Lebensmächte erst in ihrer Verflechtung mit dem Spiel der Erinnerung ihren ganzen Bedeutungsinhalt, ihren ganzen Wert anzunehmen scheinen. Das gilt von dem Leben des Geistes, vom Schaffen, von der Natur, von der Liebe. Und es gilt ebenso von Prousts Beziehung zu den Welten der Kunst und der Geschichte. Die Gestalten, die Proust mit besonderer Liebe zeichnet, sind solche, deren Lebensgefühl bereichert ist durch die Erinnerung an die Werke der Kunst oder an irgendeine geschichtlich geprägte Vergangenheit. Diese Erscheinung gehört zu den frappierendsten Eigentümlichkeiten des Proustschen Schaffens.“ – Hervorhebungen nur hier. Clarence W. Mendell, Dramatic Construction of Tacitus’ Annals, Yale Classical Studies 5 (1935), 3, hat dies in überaus feinsinniger Weise herausgearbeitet. Herbert W. Benario, The Annals, in: A Companion to Tacitus (Hg. Victoria E. Pagán), 2012, S. 101, 107: “one of Tacitus’ most important minor characters”. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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an die ärztliche Wissenschaft, Lyzealprofessoren, die nicht an den lateinischen Aufsatz glauben, das Ansehen von großangelegten glänzenden und sogar überlegenen Naturen geben kann“ (I 333).¹⁷⁸ – « Car il avait cette curiosité, cette superstition de la vie, qui unie à un certain scepticisme relatif à l’objet de leurs études, donne dans n’importe quelle profession, à certains hommes intelligents, médecins qui ne croient pas à la médecine, professeurs de lycée qui ne croient pas au thème latin, la réputation d’esprits larges, brillants, et même supérieurs » (S II 51). So also wird jener Mann vorgestellt, der tausende Seiten später vom großen Zeitraum im Leben eines Sterblichen sprechen wird (P I 263): ,grande mortalis aevi spatiumʻ (Agr. 3.2). Aber gerade in seiner auf dem hohen Niveau des Sorbonne-Professors und Mitglieds des Institut de France gleichwohl auf Schritt und Tritt begegnenden Mittelmäßigkeit, in seiner Mischung aus faustischem Streben und Wagners kalkulierter Bildungsbeflissenheit, legt er womöglich im Vergleich zu entsprechenden Figuren bei Tacitus unwillkürlich etwas frei, das in eigentümlicher Weise den Blick auf Größeres enthüllt, das bei Proust wie bei Tacitus in die Mitte ihres Strebens nach Unvergänglichkeit ihres Werkes führt (II 70; ann. 4.61).¹⁷⁹
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 144 Fußnote 43, hat laut der umsichtigen Redaktion durch Federico Santangelo noch einen ‚Epilogue‘ zu seinem Rede- bzw. Aufsatzfragment verfasst, dem man womöglich entnehmen kann, dass er mit dem Gedanken gespielt haben könnte, noch ein weiteres Werk über ‚Tacitus und Proust‘ zu schreiben.Wüsste man nicht, dass er bereits das bedeutendste Buch über Tacitus (Vol. I/II, 1958) geschrieben hatte, dann könnte man die folgenden Zeilen für einen stenographischen Entwurf zu einem erweiterten Tacitus-Buch dieses großen Gelehrten halten: «Si on devait écrire un livre sur Tacite, pourquoi pas exploiter Proust? On prend son bien où on le trouve. Comment procéder? Il serait nécessaire de s’attarder sur le milieu social et le moment politique, avec force détails sur les contemporains. On mettrait l’accent sur l’orateur et le sénateur de rang consulaire; on ne négligerait pas les modèles classiques, Tite-Live et Salluste. Suivant l’évolution de l’écrivain, on analyserait le style dans toutes les variations, et la technique – notamment le retour des personnages (comme chez Balzac), et le dévoilement progressif des caractères et des leit-motivs. Et, à la fin, après l’œuvre, l’écrivain, ses opinions, sa personnalité et son origine – nobilis ou homo novus, Italien ou homme des provinces de l’Ouest. Ainsi terminerait un livre qu’on pourrait intituler À La Recherche de Tacite! ».
II. « Ma phrase à la Tacite » Proust berichtet nicht nur in zwei Briefen mit berechtigtem Stolz, dass Francis Jammes, ein heute fast vergessener, aber seinerzeit bekannter Schriftsteller, ihm brieflich nach der Lektüre des ersten Teils der Recherche « cette phrase à la Tacite » bescheinigt habe.¹⁸⁰ So bemerkenswert diese Beobachtung Jammes’ war und so sehr sie für sein ahnungsvolles Literaturverständnis spricht,¹⁸¹ weil seinerzeit, als der Autor des Swann in weiten Kreisen noch verhältnismäßig unbekannt war,¹⁸² wohl die wenigsten Kenner auf diese Idee verfallen wären, wird sie doch erst dadurch bedeutsam, dass Proust selbst sich offenbar verstanden fühlte, indem er davon berichtete. Dabei betont er in dem ersten der beiden Briefe, dass er Jammes, den er bis dahin nur ein einziges Mal für wenige Minuten gesprochen habe, seit jeher bewundere.¹⁸³ Er erwägt schließlich sogar den recht ungewöhnlichen Schritt, Jammes zu fragen, ob er die Freigabe seines Briefes gegenüber dem Verlag autorisiere, wohl um damit werben zu können, was er dann aber klugerweise unterlassen hat.¹⁸⁴ Von daher erschließt sich, warum er in einem weiteren Brief dem Kritiker Ghéon einschärft, nichts von dem Brief Jammes’ nach außen dringen zu lassen, weil dies Proust kompromittiert und womöglich gar einer Verletzung des Urheberpersönlichkeitsrechts bezichtigt hätte:¹⁸⁵ « Je n’ai pas besoin de vous dire que ce’est à votre discrétion la plus absolue que je confie ces passages de la lettre de M. Francis Jammes. Si vous en publiez, fût-ce une phrase, dans la N.R.F. vous me
Michel Erman, Marcel Proust. Une biographie, 1994, S. 222: «Cette lettre sera la fierté de Proust». Michel Schneider, L’auteur, l’autre. Proust et son double, 2014, S. 203, ist wohl anderer Auffassung, wobei er Francis Jammes im Ausgangspunkt immerhin ein hohes Lob zollt: «Le plus grand écrivain de ce temps a dit que M. Proust lui sempblait offrir le modèle d’une forme sans égale et qu’il ne saurait apparenter qu’à Tacite. Notre avis à cet égard est beaucoup moins favorable. Il est hors de doute que M. Proust naquit doué pour le style ». Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 15: „1913, im selben Jahr wie Apollinaires Alcool, erscheint in Paris auch, von der literarischen Öffentlichkeit so gut wie unbemerkt, der erste Band von Marcel Prousts Zeitkunstwerk (…)“. Hervorhebung nur hier. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 98 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet von einem Zeichen der Wertschätzung Prousts für Jammes, meint aber offenbar ein weiteres Treffen, wenn sie berichtet: „Eines Nachts hatte er darauf bestanden, den Dichter Francis Jammes aufzusuchen, einen der ersten, die sehr lobend über sein Buch ‚In Swanns Welt‘ geschrieben hatten (…)“. Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XIII (1914), Nr. 5, S. 33 ff. Zum Urheberpersönlichkeitsrecht Jens Petersen, Medienrecht, 5. Auflage 2010, S. 212, 250. https://doi.org/10.1515/9783110647440-003
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II. « Ma phrase à la Tacite »
feriez commettre un acte de véritable déloyauté à l’égard d’un homme qui m’a écrit une lettre privée, sans m’avoir donné l’autorisation (que je ne songe d’ailleurs pas à lui demander!). En vous la communiquant à vous seul, je ne crois pas manquer à la délicatesse envers M. Jammes. J’ai seulement le ridicule d’avoir l’air de vous exhiber une référence et un satisfecit ».¹⁸⁶ Letzteres erklärt die Indiskretion angesichts des vorangehenden eindringlichen Tons wohl nicht hinreichend und legt eher die Annahme nahe, dass Proust eine über den Freundeskreis hinausgehende, aber gleichwohl beschränkte Außenwirkung in Richtung der Nouvelle Revue Française erzielen wollte, zu deren Autoren übrigens auch Jammes zählte.¹⁸⁷ Aus dem Gesamtzusammenhang des für die vorliegende Frage ungleich wichtigeren Briefes an Jean-Louis Vaudoyer vom 9. Dezember 1913 ergibt sich, dass es ihm vor allem auf Jammes Vergleich mit Tacitus ankam: « D’autre part, je reçois (cette lettre) de Jammes que je n’ai pas vu qu’une seule fois trois minutes dans ma vie mais pour l’œuvre de qui j’ai l’administration que vous savez. Pensez-vous que je pourrais dans ma réponse à Souday (tout cela pour consoler Grasset qui a téléphoné à mon valet de chambre comme s’il y avait la guerre!) citer des phrases de cette lettre (sans dire naturellement qu’elle est de Jammes) ou au contraire demander à Jammes l’autorisation de la citer en disant son nom. Il est vrai que j’ai reçu beaucoup de lettres semblables mais mon admiration pour Jammes que je place audessus de tous, j’ai dû souvent vous le dire, me rend sa lettre particulièrement importante, et de plus comme Souday a ou prétend avoir cette même admiration pour Jammes, ce seriat une réponse bien amusante que de lui parler de ma phrase à la Tacite ».¹⁸⁸ Proust hat dasjenige, worauf es ihm offenbar entscheidend ankam, nämlich den Vergleich mit Tacitus, wirkungsvoll nachgestellt und sogar mit einem Possessivpronomen so auf sich bezogen, dass er es sich gleichsam zu eigen machte. Denn dass Proust der Brief Jammes’, den er übrigens dem Empfänger im Original beilegte und ihn um Rücksendung bat¹⁸⁹ – er ist leider gleichwohl verschollen –, ausdrücklich als ‚besonders wichtig‘ erachtete, kann dem Sinnzusammenhang nach nur auf das Tacitus betreffende Lob zurückzuführen sein.
Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XIII (1914), Nr. 3, S. 27. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 275 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux). Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XII (1913), Nr. 188, S. 372 f. Der genannte Grasset war Prousts Verleger des Swann, nachdem André Gide das ursprünglich bei Gallimard eingesandte Manuskript abgelehnt hatte. Gide war angesichts des späteren Erfolgs entsprechend zerknirscht. Es gelang Gallimard schließlich durch einen großzügigen Verzicht Grassets, in den Besitz der Rechte an der gesamten Recherche zu gelangen. Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XII (1913), Nr. 188, S. 373: «Vous seriez bien gentil de me renvoyer en tous cas la lettre de Jammes».
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Daher ist es wohl auch mehr als eine nur aus dem Zusammenhang herausgerissene Wendung, die deshalb hier mit dem Possessivpronomen zur Kapitelüberschrift wird: « ma phrase à la Tacite ». In dem bereits oben zitierten Brief von Anfang 1914 an Henri Ghéon, der « Du côté de chez Swann » in rhetorisch leicht verbrämter ironischer Herablassung mit vergiftetem Lob als Werk eines veritablen Müßiggängers besprochen hatte,¹⁹⁰ gibt Proust glücklicherweise den Wortlaut des nicht auf uns gekommenen Briefes wieder, nachdem er den Kritiker zunächst ebenfalls versicherte, Jammes nur ein einziges Mal für zwei Minuten begegnet zu sein, um in einer unwillkürlich taciteischen Tradition Jammes’ Unvoreingenommenheit und Unparteilichkeit sowie seine eigene Unbefangenheit zu betonen: « Je suis tenté, pour vous montrer qu’on peut penser autrement que vous livre (…) de faire une chose bien ridicule, de vous citer un fragment d’une lettre, écrite par l’écrivain contemporain que j’admire le plus, M. Jammes; je ne lai vu dans toute ma vie qu’une seule fois deux minutes, nous ne somme pas en relations, je ne peux donc pas considérer sa lettre comme une lettre de politesse. Vous verrez que M. Francis Jammes dit exactement le contraire de ce que vous dites et précisément sur les mêmes points. Malheureusement je crains bien que sur l’un au moins ce ne soit vous qui ayez raison. Voici un passage de la lettre de M. Francis Jammes: ‚Cette prodigieuse fresque toute fourmillante, qui s’accuse de plus en plus, cet inattendu des caractères, si logique dans son apparent illogisme, cette phrase à la Tacite, savante, subtile, équilibrée, voilà ce génie qui se dessine en teintes maîtresses. L’abîme des cœurs. Vous y fraternisez avec les plus grands, avec Shakespeare, Cervantes, La Bruyère, Molière, Balzac, Paul de Kocq. (…). Qui donc a poussé l’analyse jusque là? En France personne. C’est pourquoi il est regrettable infiniment qu’on ne puisse répandre partout ce livre comme un modèle de forme, la plus savante que je sache, comme un modèle d’analyse sans égale. Ne croyez pas que j’ai choisi les éloges les plus excessifs. D’autres ne le sont pas moins.
Henri Ghéon, Notes Du côté de chez Swann (À la recherche du temps perdu), La Nouvelle Revue Française LXI (1914), 139: «Voilà une œuvre de loisir, dans la plus pleine acception du terme. Je n’en tire pas argument contre elle. Sans doute le loisir est-il la condition essentielle de l’œuvre d’art? Il peut aussi la rendre vaine. – Toute la question est de savoir, si l’excés de loisir n’a pas conduit l’auteur à passer ici la mesure et si quelque plaisir que nous prenions à le suivre toujours. On sent que M. Marcel Proust a devant lui tout le temps qu’il faut pour mûrir, combiner, réussir un ouvrage considérable. Tout le temps est à lui: il en profite à sa façon. Il le considére d’avance comme du temps perdu». Philip Kolb, Correspondance de Marcel Proust, Tome XIII (1914), S. 28 Anmerkung 3, erblickt darin mit Recht einen ironischen Ton, der den gesamten Artikel prägt.
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(Mais c’est moi qui ai souligné les mots, logique, forme, phrase etc. parce que vous aviez justement dit le contraire et souvent, je le crains, avec vérité). »¹⁹¹ Außer dem Wort ‚logique‘ und der ‚forme, la plus savante‘ hat Proust in diesen Zeilen also nach eigenem Bekunden nur ‚phrase‘ hervorgehoben, auch wenn seine nachgestellte Begründung wohl weniger wahrhaftige Aufrichtigkeit als vielmehr versöhnliche Verbindlichkeit verrät.¹⁹² Offenbar hatte Jammes mit diesem Wort der ‚phrase‘ und seiner Bezugnahme auf Tacitus bei Proust einen Nerv getroffen, wenngleich seine Nennung de Kocqs im Gefolge jener Exponenten der Weltliteratur nicht einer komischen Note entbehrt.¹⁹³ Doch gerade diese zeitbedingte Fehleinschätzung lässt Jammes’ Würdigung paradoxerweise glaubwürdig erscheinen,¹⁹⁴ zumal da heute wohl niemand mehr bestreiten würde, was wohl auch Proust insgeheim bewusst war, nämlich dass er in eine Reihe mit den anderen genannten Autoren gehörte.¹⁹⁵ In der Gesamtschau der beiden so heterogenen Briefe – dem freundschaftlich gehaltenen ersten und dem apologetisch ausgerichteten zweiten – erweist sich die ‚phrase à la Tacite‘ als verklammernder und gemeinsamer Gesichtspunkt. Im zweiten Brief ist die gleichrangig hervorgehobene Trias von Logik, Form und ‚phrase‘, um den Begriff einstweilen bewusst unübersetzt zu lassen, bemerkenswert, während im ersten Brief auffällt, dass Proust die Distanz aufgibt und nicht nur in indirekter Rede, sondern sogleich paraphrasierte: « ma phrase à la Tacite ».
Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XIII (1914), Nr. 3; S. 26; Brief an Henri Ghéon vom 2. Januar 1914. Nicola Luckhurst, Science and Structure in Proust’s À la recherche du temps perdu, 2000, S. 14. Michel Erman, Marcel Proust. Une biographie, 1994, S. 191, führt plausible Gründe an, die sich wohl auch speziell auf das Lob bezüglich des taciteischen Stils anwenden lassen: «D’une certaine façon, Jammes est alors un modèle, car tout l’effort de Proust tient dans la volonté de trouver le terme juste, au rebours des qualificatifs rares ou impressionists de la littérature fin des siècle, et d’user d’un style débarrassé des artifices qui noient la pensée». Harold C. Schonberg, Die großen Komponisten, 1983, S. 398, macht beispielsweise darauf aufmerksam, dass Tschaikowsky in seinem Tagebuch – wenn auch vielleicht nicht gerade sine ira et studio – den heute nur noch wenigen Interessierten bekannten Joachim Raff für bedeutsamer hielt als Brahms. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 132 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet, wie Proust ihre Weigerung aufnahm, Tagebuch über ihre Gespräche mit ihm zu führen: „‘Sie haben unrecht, Céleste, und Sie werden es bereuen. Sie können sich nicht vorstellen, wieviel Menschen Sie nach meinem Tode aufsuchen oder Ihnen schreiben werden. Und wie ich Sie kenne, werden Sie denen natürlich nicht antworten.‘ Leider ist das alles wahr“.
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Es ist nicht leicht zu begreifen, was ‚phrase‘ in diesem Sinne genau bedeutet, und wie man es adäquat übersetzen kann.¹⁹⁶ ‚Satzbau‘, wie man gelegentlich liest,¹⁹⁷ klingt in diesem Zusammenhang ebenso hölzern wie konstruktivistisch, weil es nicht um fein gedrechselte Perioden geht, wie eine Bemerkung Marcels nahelegt, der sich selbstkritisch an den Sätzen eines neuen Schriftstellers abarbeitet, gerade dadurch aber den Eindruck schürt, dass ihnen etwas zur künstlerischen Vollkommenheit Erforderliches fehlen könnte: „Nur hatte ich dabei das Gefühl, das nicht der Satz schlecht gebaut war, sondern daß ich selbst nicht kraftvoll und beweglich genug sei, ihn bis ans Ende zu gehen. (…) Wenn ich im übrigen ausnahmsweise einmal dem Schriftsteller bis zum Ende des Satzes folgen konnte, so war das, was ich sah, immer ein amüsanter Scherz, eine Wahrheit, ein Reiz ähnlich denen, die ich früher bei der Lektüre Bergottes empfunden hatte, aber noch weitaus bezaubernder“ (III 433/434).¹⁹⁸ – « Seulement je sentais que ce n’était pas la phrase qui était mal faite, mais moi pas assez fort et agile pour aller jusqu’au bout. (…) Du reste, quand une fois sur mille je pouvais suivre l’écrivain jusqu’au bout de sa phrase, ce que je voyais était toujours d’une drôlerie, d’une vérité, d’un charme, pareils à ceux que j’avais trouvés jadis dans la lecture de Bergotte, mais plus délicieux » (G II 200/201). Vielmehr kommt es Proust auf die klingende Sprache an. Man gebraucht den Begriff der Phrase wohl nicht umsonst in der Musik, wenn es darum geht, dass nicht allein in akademischer Strenge exakt im jeweiligen Takt gespielt, sondern
Grundlegend Jean Mouton, Le style des Proust, 1948; siehe auch Robert Maréchal, La Phrase de Marcel Proust, Le Français moderne XXXI (1963), 13. Jean Milly, La phrase de Proust. Des phrases de Bergotte aux phrases de Vinteuil, 1975, berücksichtigt in seiner tiefdringenden Studie Jammes ‚phrase à la Tacite‘ soweit ersichtlich nicht, was umso bedauerlicher ist, als es von seinem Ansatz her betrachtet besonders aussichtsreich gewesen wäre, zumal da dies wegen der nicht nur thematischen, sondern auch wortlautgetreuen Identität der ‚phrase‘ aufgrund Prousts eigener Einschätzung einen neuen Horizont hätte erschließen können. Weiterführend ist aber jedenfalls seine Folgerung (ebenda, S. 207): «La phrase proustienne (…) n’est certes pas tous le style, mais sa forme principale (…) ». Ronald Hayman, Marcel Proust, Die Geschichte seines Lebens, 2000, S. 482 (Übersetzung Max Looser), mit biographischer Einordnung im Konjunktiv irrealis: „Wenn ihn überhaupt etwas von seiner Trauer über den Verlust Agostinellis hätte ablenken können, dann wäre er sicher sehr glücklich gewesen über den Brief, den er am 19. Dezember von Francis Jammes erhielt: Dieser schätzte ‚die Unberechenbarkeit der Romanfiguren, die in ihrer scheinbaren Unlogik so logisch ist, diesen Satzbau wie bei Tacitus, kunstvoll, subtil, ausgewogen.“ Hervorhebung auch dort. – Interessanter als die drei letzten, vergleichsweise konventionellen Adjektive ist die Beobachtung der Unberechenbarkeit der Romanfiguren, weil gerade in dieser Hinsicht die ‚phrase à la Tacite‘ den Inhalt stilistisch zum Ausdruck bringt. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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eine übergeordnete Sinneinheit zusammengefasst wird,¹⁹⁹ die den kompositorischen Verlauf im Ganzen zur Geltung bringt.²⁰⁰ Ungleich besser trifft es daher der von Ernst Robert Curtius in seinem epochalen Proust-Essay durchgängig verwendete Begriff des ‚Satzrhythmus‘, auch wenn Curtius von der Bemerkung Jammes’ noch nichts wusste.²⁰¹ Nicht um ihm eine weihevolle Autorität zuzusprechen, sondern um des besseren Verständnisses willen und vor allem wegen des inneren Zusammenhanges ist hervorhebenswert, dass Proust mit Curtius in seinem letzten Lebensjahr zwei Briefe wechselte,²⁰² dessen Aufsatz über sein Werk²⁰³ er wegen seiner schlechten Deutschkenntnisse nur in einer teilweisen französischen Übersetzung zur Kenntnis nehmen konnte,²⁰⁴ auf die er hingewirkt hat und die er drei Monate lang ungeduldig erwartete.²⁰⁵ In dem ersten Brief
Claudio Abbado, Das Haus voll Musik (im Original: ‚La Casa dei Suoni‘), 1986, S. 17 zur Phrasierung und S. 18 (jeweils zu Tafel Nummer 6): „Jeder Takt (…) muss am Ende wie ein Wort verstanden werden“. Karlheinz Stierle, Land und Meer in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patricia Oster/Karlheinz Stierle), 2007, S. 25, 39 f., entwickelt einen vergleichbaren, aber ungleich tiefsinnigeren Gedanken: „Doch auch der Satz in seiner festen syntaktischen Gestalt gibt noch immer eine Ahnung der Fluidität der unendlichen Vielseitigkeit der Aspekte, die er abbildet. In jedem Satz Prousts, er mag noch so sehr architektonisch gebaut sein, ist das Rauschen einer Virtualität vernehmbar, die in keiner Verfestigung zur Ruhe kommt“. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 59, 120. Ihm insoweit folgend Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 402, der den Begriff drucktechnisch hervorhebt und am Beispiel einer bestimmten Stelle zu bedenken gibt, „ob nicht das Tastend-Unruhige solcher Sätze durch den Satzrhythmus impressionistisch schildern will, was Proust sonst so gern höchst ausführlich zergliedert: das psychische Entstehen eines Wirklichkeitseindruckes, das Real-Werden, das oft ja so schwer erreichbar ist“. Prousts erster Brief wurde entweder am 7. oder 8. März 1922 geschrieben, der zweite, dem er sogar ein Exemplar des zweiten Bandes von ‚Sodome et Gomorrhe‘ beilegte, datiert entweder vom 17. oder 18. September 1922, wurde also genau zwei Monate vor seinem Tod geschrieben. Curtius antwortete am 16.10.1922. Siehe auch Rainer Moritz, L’éminent Curtius. Marcel Proust und Ernst Robert Curtius im Briefgespräch, in: Cher ami … Votre Marcel Proust. Marcel Proust im Spiegel seiner Korrespondenz (Hg. Jürgen Ritte/Reiner Speck), Briefe und Autographen aus der Bibliotheka Proustiana Reiner Speck, 2009, S. 271. Ernst Robert Curtius, Marcel Proust, Der Neue Merkur, Februar 1922, S. 745 – 761. Erschienen in La Nouvelle Revue Française vom 1.7.1922. Proust schrieb an die Prinzessin Soutzo: «J’ai reçu une longue étude de l’éminent Curtius, de Munich»; Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XXI (1922), Nr. 68. Ronald Hayman, Marcel Proust, Die Geschichte seines Lebens, 2000, S. 613, 766 (Übersetzung Max Looser), S. 766, zitiert einen Brief Prousts an Camille Vettard: „Ich werde Ihnen die abenteuerliche Geschichte der Übersetzung des Artikels von Curtius erzählen, die ich auf Ihre Anregung hin angefordert habe“.
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bedankte Proust sich für Curtius’ Zuschrift,²⁰⁶ der ihn als größten klassischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts bezeichnet hatte – ein Lob, auf das er wohl ebenso stolz war wie jenes von Jammes.²⁰⁷ In dieser beständigen Bezugnahme auf klassische Vorläufer liegt im Übrigen eine Parallele zu Tacitus, dem Livius (Agr. 10.3) und vor allem Sallust als Vorbilder stets gegenwärtig waren (ann. 3.30.2; 4.34.3).²⁰⁸ Jener Curtius also beschreibt in seinem 1925 erstmals erschienenen ProustEssay zunächst seinen Leseeindruck und den Gang des Verstehens: „Man fühlt sich überschüttet von einer scheinbar ungeordneten Fülle eindrängender Stoffmassen, befremdet durch einen umständlichen verwickelten Stil, dessen Bewegungsrhythmus zunächst kein Gesetz erkennen läßt. (…) Und beim Fortschreiten der Lektüre trifft man auf einen zweiten und dritten Satz verwandter Natur. Man spürt in der Wiederkehr solcher Satzgebilde eine geheime Gesetzlichkeit.“²⁰⁹ Von jenem ‚Bewegungsrhythmus‘ des Stils ist es ersichtlich nicht weit zum genannten ‚eigenartigen Satzrhythmus‘, den Curtius am Beispiel einer eindrucksvollen Periode Prousts über die Themen Chopins anschaulich beschrieb: „Der Reiz jenes typischen Satzmodells besteht darin, daß die zur Entladung drängende Spannung immer wieder aufgehalten wird und sich dadurch bis zu einem fast schmerzhaften Grad steigert – bis dann endlich der Schluss des Satzes eine um so wirksamere Lösung gibt. (…) Der ganze Satz schwingt sich auf, wiegt sich, senkt sich ruckweise, um mit lange aufgespeicherter Energie schließlich brutal vorzustoßen und uns ins Herz zu treffen“.²¹⁰ Ein ähnliches Vorgehen lässt sich auch bei Tacitus beobachten, selbst wenn es bei ihm typischerweise nicht in einer einzigen langen Periode zusammenge-
Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XXI (1922), Nr. 47, S. 81. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 98 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), vor allem S. 301: „Lobsprüche schätzte er nur, wenn sie auf Wahrheit beruhten, und vor allem kam es ihm dabei auf die Befähigung der Verfasser an. Als der große deutsche Kritiker Curtius ihm geschrieben hatte, in seinen Augen sei er der größte klassische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, da hat er mir den Brief gezeigt; ich höre ihn noch: ‚Ich bin sehr stolz, ‚klassisch‘, das ist großartig! Vor allem, wenn es ein Mann mit dem Können und der hohen Bildung von Curtius gesagt hat‘“. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 144 Fußnote 43. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 59. Man vergleiche dies mit der treffenden Beschreibung des taciteischen Stils durch Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 946, um die Gemeinsamkeit zu erkennen: „Entsprechendes gilt auf der ‚mittleren‘ Ebene der ‚Textsyntax‘. Hohe Anforderungen an den Leser stellt die Gedankenführung von Satz zu Satz: Häufig knüpft Tacitus an etwas an, das im vorhergehenden Satz nur unausgesprochen mitschwingt“. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 59.
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fasst wird, sondern sich über mehrere in der Schwebe gehaltene Sätze hinzieht. Etwa in der Mitte des ersten Buchs der Annalen schildert er Tiberius’ Zaudern, seine scheinbare innere Unentschiedenheit, die Hauptstadt entweder zu verlassen, um der gefährlichen Meuterei der pannonischen Legionen vor Ort zu begegnen oder im sicheren Rom zu bleiben. Zuvor baut der Autor die Spannung dramaturgisch wirkungsvoll auf, indem in indirekter Rede unterschiedliche Standpunkte laut wurden, vor allem aber jener, die der Ansicht waren, Tiberius hätte mit der Autorität des Kaisers den Aufrührern beherzt entgegengehen müssen. Aber gerade das wollte der in seinem Inneren zum Bleiben entschlossene Princeps um jeden Preis vermeiden, weil ihm klar war, wie wenig vor Ort zu gewinnen war und wie viel er hätte verlieren können (ann. 1.46.1). Tacitus schildert Tiberius’ mangelnde Souveränität und Selbstsicherheit bei gleichzeitiger Verstandesschärfe des Herrschers, den er bei dieser Gelegenheit einmal mehr gegen seinen Vorgänger Augustus ausspielt, und erwähnt bei diesem kunstvoll und scheinbar ergebnisoffen vorgetragenen Für und Wider der Abreise, das freilich längst im letztgenannten Sinne entschieden war, beinahe beiläufig den eigentlichen Grund, die Reise sicherheitshalber zu unterlassen, und zwar mit wenigen entlarvenden Silben, die freilich zu einem geflügelten Wort wurden, weil nämlich größer die Ehrerbietung von weitem sei: ‚maior e longinquo reverentia‘ (ann. 1. 47.2). Selbst in dieser prägnanten Sentenz gelingt es Tacitus, den sicheren geographischen Abstand durch das Hyperbaton zu veranschaulichen, indem die beiden Worte ‚maior reverentia‘ als entscheidender Grund durch den mittleren Einschub gleichsam von einander distanziert werden. Ein ähnlicher Kunstgriff wird uns bei jenem von Brichot in der Recherche zitierten Wort begegnen, bei dem sich der große Zeitraum syntaktisch dadurch zu verlängern scheint, dass der Bezugspunkt des Lebensalters eines Sterblichen dazwischengeschoben wird: ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2).²¹¹ Was Jammes mit ‚une phrase à la Tacite‘ meint, kann man also nur annäherungsweise mit Syntax oder Satzbau, ungleich besser mit ‚Satzrhythmus‘ übersetzen, weil es den Stil im Ganzen betrifft, der dem Gedanken in genauer Entsprechung von Form und Inhalt Ausdruck verleiht.²¹² In einem weiteren Sinne
Jedenfalls in der endgültigen und wohl auch deswegen vorzugswürdigen Fassung der Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703, während in der zunächst von Proust erwogenen Umstellung des Tacitus-Wortes, von der in einem eigenen Kapitel ausführlich zu handeln ist, dieses wirkungsvolle Stilmittel fehlt (P I 263). Um mögliche Vermengungen von Stil und Syntax besser einschätzen zu können, sei wegen der hier häufig zitierten Arbeiten von Spitzer und Curtius verwiesen auf eine wichtige Weichenstellung durch Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft, 2012, S. 86 Fußnote 13: „In den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts war
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meint phrase also auch Stil.²¹³ Sein Verständnis von der Bedeutung des Stils für den Schriftsteller hat Proust selbst am deutlichsten in der ‚wiedergefundenen Zeit‘ dargestellt: „Denn der Stil ist für den Schriftsteller wie die Farbe für den Maler nicht eine Frage der Technik, sondern seine Art zu sehen. Er bedeutet die durch direkte und bewußte Mittel unmöglich zu erlangende Offenbarung der qualitativen Verschiedenheit der Weise, wie uns die Welt erscheint, einer Verschiedenheit, die, wenn es die Kunst nicht gäbe, das ewige Geheimnis jedes einzelnen bliebe“ (VII 297).²¹⁴ – « Car le style, pour l’écrivain aussi bienque pour le peintre, est une question non de technique, mais de vision. Il est la révélation, qui sera impossible par des moyens directs et conscients, de la différence qualitative qu’il y a dans la façon dans nous apparaît le monde, différence qui, s’il n’y avait pas l’art, resterait le secret éternel de chacun » (TR II 47).²¹⁵ Der Stil ist also keine abstrakt-generell erlernbare Fertigkeit, sondern eine je eigene Ausdrucksform des Künstlers, gerade seine Weltsicht zur Darstellung zu bringen.²¹⁶ Auch wenn dieser Standpunkt mit aller Strenge auf Prousts Theorie der Kunst bezogen ist,²¹⁷ schließt dies doch eine Übertragung auf Tacitus nicht aus. Das wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was Marcel an Bergottes Stil bewundert: „die altertümlichen Ausdrücke, aber auch einige andere, ganz einfache und bekannte, für die er durch den Platz, an dem er sie verwendete, eine ihm
die Stilistik ein interdisziplinäres Gebiet, wo Sprach- und Literaturwissenschaft sich begegnen konnten. In der Romanistik gilt dies etwa für Karl Vossler, Leo Spitzer, Ernst Robert Curtius und Erich Auerbach, die unter stilistischen Gesichtspunkten Phänomene der Syntax behandelten. Das Problem dieser stilistischen Annäherung an die Physiognomie der Syntax blieb aber eine gewisse Beliebigkeit in der Ausdeutung der jeweiligen syntaktischen Ausdrucksgebärde.“ – Die vorliegende Arbeit nimmt dieses arbiträre Moment in Kauf, da bedeutsame Analysen des taciteischen Stils aus demselben Zeitraum herrühren, die mutatis mutandis ähnlich ausgerichtet sind, und daher ein für den Vergleich beider Stile förderlicher gemeinsamer Nenner gefunden werden kann. In diesem Sinne zum Stil Prousts auch die grundlegende Studie von Jean Milly, La phrase de Proust. Des phrases de Bergotte aux phrases de Vinteuil, 1975, S. 5: « phrase comme élément composant du style dans À la recherche du temps perdu». Interessanterweise präzisiert er ‚phrase‘ in diesem Sinne folgendermaßen: «Phrase est pris, au départ, dans son sens courant de segment du discours écrit compris entre deux points, encore que Proust soit enclin, on le verra, à franchir ces limites ». Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Gustav Seibt, Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung, 2008, S. 144, zitiert nach Talleyrands Memoiren eine auch für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreiche Bemerkung Napoleons: „Tacitus ist ein geschickter Maler. Er verfügt über eine kühne und geschickte Farbengebung“. Siehe in diesem Zusammenhang auch Karlheinz Stierle, Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, 1997. Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72.
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innewohnende ganz eigene Neigung zu offenbaren schien; endlich an den traurigen Stellen eine gewisse Ungerührtheit, ein beinahe rauher Ton“ (I 129).²¹⁸ – « ces expressions anciennes, quelques autres très simples et connues, mais pour lesquelles la place où il les mettait en lumière semblait révéler de sa part un goût particulier; enfin, dans les passages tristes, une certaine brusquerie, un accent presque rauque » (S I 135). Diese Mischung aus altertümlichem Stil und geradezu gefühlloser Ungerührtheit an traurigen Stellen zeigt sich bei Tacitus, der beispielsweise Tiberius in einer stilisierten Rede das antiquierte ‚duint‘ in den Mund legt (ann. 4.38.3).²¹⁹ In Reinkultur erweist es sich in der Rede des Cassius Longinus,²²⁰ in der er rechtfertigt, dass vierhundert Sklaven eines Haushalts nach alter Sitte zu sterben haben, wenn nur einer von ihnen den Herrn des Hauses getötet hat (ann. 14.42– 44).²²¹ Diese Rede beginnt dementsprechend in altertümlich sallustianischem Duktus: ‚Saepe numero, patres conscripti‘ (ann. 14.43.1).²²² Ohne jede Empathie verlangt der Redner den Strafvollzug und scheut den rauhen Ton nicht, um seine Zuhörer zu überzeugen: ‚decernite hercule inpunitatem‘ (ann. 14.43.3).²²³ Die betonte Anteilnahmslosigkeit an tristen Stellen als bewusstes Stilmittel zeigt sich auch am Beispiel des ersten Mordes, mit dem Neros Herrschaft begann und den Tacitus nüchtern mit ‚mors‘ bezeichnet, um den Leser auf die Alltäglichkeit einzustimmen, indem er zugleich erkennbar auf eine ähnliche, aber leicht kontrastierende Stelle des Beginns der Annalen verweist (ann. 1.6.1):²²⁴ ‚Prima novo principatu mors Iunii Silani‘ (ann. 13.1.1).²²⁵
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, The Political Opinions of Tacitus, in: Ten Studies in Tacitus, 1970, S. 119, 130 Fußnote 3, betont in demselben Sinne das ‚duint‘. Eduard Norden, Die Antike Kunstprosa, Band I, 1915, S. 330 Fußnote 1, hält die Rede des Cassius ebenfalls für repräsentativ: „Eine ungefähre Vorstellung, wie Tacitus geredet haben mag, werden wir uns etwa aus ann. XIV 43 ff. machen dürfen“. Zu den juristischen Fragen dieser vielschichtigen Rede Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 492– 526. Vgl. Sallust, Cat. 52.7: ,Saepenumero, patres conscriptiʻ. Dieter Nörr, C. Cassius Longinus. Der Jurist als Rhetor (Bemerkungen zu Tacitus, Ann. 14.42– 45), Festschrift für Hermann Bengtson, 1983, S. 187, 202: „Die argumentatio beginnt mit dem Inhalt des Rates, der ironisch in die Form gekleidet wird, das Entgegengesetzte zu tun“. Clarence W. Mendell, Dramatic Construction of Tacitus’ Annals, Yale Classical Studies 5 (1935), 3, 11, zu dieser vielzitierten Stelle. Friedrich Klingner, Beobachtungen über Sprache und Stil des Tacitus am Anfang des 13. Annalenbuches, Hermes 83 (1955), 178 (= in: Tacitus, Hg.Viktor Pöschl, 1969, S. 540, 543), hat dies so unnachahmlich suggestiv und zugleich in abgetönter Ausgewogenheit mit subtiler Ironie dargelegt, dass man es in seiner Schlussfolgerung wohl auch auf Prousts Bergotte anwenden kann: „Man erwartet hier vielleicht nicht gerade einen Mord als erstes Ereignis der neuen Re-
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Aber so sehr man versucht ist,Vorbilder des taciteischen Stils, wie namentlich Thukydides und Sallust, auszumachen,²²⁶ so weit geht sein Stil über eine bloße Imitation hinaus, wie Proust Flauberts Stil bei aller Bewunderung seiner Errungenschaften nicht nachahmt:²²⁷ „Ich gestehe, daß ich verblüfft war, einen Mann als wenig begabt zum Schreiben behandelt zu sehen, der durch den vollkommen neuen und persönlichen Gebrauch des passé defini, des passé indefini und des Präsenspartizips sowie mancher Pronomen und Präpositionen unsere Ansicht von den Dingen fast im gleichen Maße erneuert hat wie Kant durch seine Theorien über die Erkenntnis und die Realität der äußeren Welt. Nicht, daß ich Flauberts Bücher über alles liebte oder auch nur Flauberts Stil. Aus Gründen, die zu entwickeln hier zu weit führen würde, glaube ich, daß allein die Metapher dem Stil eine Art Ewigkeitswert verleihen kann, und im ganzen Werk Flauberts gibt es vielleicht keine einzige schöne Metapher.“²²⁸ – « J’ai été stupéfait, je l’avoue, de voir traiter de peu doué pour écrire, un homme qui par l’usage entièrement nouveau et personnel qu’il a fait du passé défini, du passé indéfini, du participe présent, de certains pronoms et de certaines prépositions, a renouvelé presque autant notre vision des choses que Kant, avec ses Catégories, les théories de la Connaissance et de la Réalité du monde extérieur. Ce n’est pas que j’aime entre tous les livres de Flaubert, ni même le style de Flaubert. Pour des raisons qui seraient trop longues à
gierung. Überraschend also folgt mors, jedoch mit schlichter Selbstverständlichkeit des Ausdrucks; mors, nicht caedes oder nex – mors nicht als Teil der Satzaussage, sondern als scheinbar nebensächlicher Teil des Subjekts, als wäre es das Natürlichste von der Welt, daß unter einem Princeps eben gemordet und gestorben wird, und als interessiere es nur noch, wer zuerst betroffen wurde und wer es verursacht hatte: die Kaiserin-Mutter, nicht der Kaiser selbt. Das gespannte Verhältnis zwischen vornehmer, kühler Gelassenheit und erregender Dramatik gehört zum Wesen der Sprache des Tacitus“. Eduard Fraenkel, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 16, 38: „Als vorbildhaft für sich würde er (…) stets Thukydides anerkennen“. Näher René de Chantal, Marcel Proust critique littéraire, 1967; Anne Henry, Marcel Proust, Théories pour une esthétique, 1981. Marcel Proust, Über den »Stil« Flauberts, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 57 f. (Übersetzung Helmut Scheffel). Grundlegend zu Prousts Stil unter Berücksichtigung seines Flaubert-Essays Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 50, stellt allgemeingültig fest: „Die Metaphern sind bei Proust Mittel zur Erzielung eines genauen Anschauungsbildes, sie dienen nicht einer emotionalen Färbung des Vorgangs. Sie sind Werkzeuge der Erkenntnis.“ Siehe auch Rainer Warning, Proust und Flaubert, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 79. Zur „Funktion der Metapher als Wissens- und Wahrnehmungsinstrument“ bei Proust Gerhard Neumann, Selbstversuch, 2018, S. 194.
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développer ici, je crois que la métaphore seule peut donner une sorte d’éternité au style, et il n’y a peut-être pas dans tout Flaubert une seule belle métaphore ».²²⁹ Metaphern finden sich beim römischen Historiker naturgemäß in bescheidenerem Ausmaß oder wenigstens in anderer, nämlich szenischer Ausgestaltung,²³⁰ indem durch bemerkenswerte Zusammenführungen des Geschehens gewaltige Bilder vor dem inneren Auge des Lesers entstehen.²³¹ So spricht er gelegentlich von Trugbildern der Freiheit, die der Princeps nurmehr an Stelle wirklicher Freiheit gewährte: ‚simulacra libertatis‘ (ann. 1.77.3).²³² In ähnlichem Zusammenhang heißt es, dass nur noch ein Scheinbild des Staates bestehe: ‚imago rei publicae‘ (ann. 13.28).²³³ Tacitus vermag durch schneidende Bemerkungen mit Gleichnischarakter niederträchtige Verbrämungen amoralischer Verhaltensweisen zu enttarnen, deren vordergründige Rechtschaffenheit im Wege einer vergleichenden Differenz blitzartig erhellt wird, und zwar ebenso ironisch wie Prousts bereits eingangs behandelte « justice éclairant le crime », mit der er Françoise charakterisiert, nachdem er von ihr sagt: « elle eût écrit comme Tacite » (G II 244/245).²³⁴ So verhält es sich etwa, wenn Tacitus den nur scheinbar gewis-
Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72. Siehe auch Roderich Billermann, Die ‚métaphore‘ bei Marcel Proust. Ihre Wurzeln bei Novalis, Heine und Baudelaire, ihre Theorie und Praxis, 2000. Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 11, fasst es seinerseits geradezu poetisch zusammen: „Unter den Bildern, die Tacitus malt, unter den Momenten der Handlung, die er hinstellt, sind unzählige von einer Schönheit und inneren Gewalt, wie sie nur die Muse verleiht“. Eduard Fraenkel, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 16, 32, verdeutlicht das interessanterweise mit einer französischen Redewendung: „Es gibt eine dichterische Haltung, die dem ursprünglichen Anliegen des Historikers nicht entgegengesetzt ist, ihm vielmehr mit unersetzbarer Stärke zu echter Sinndeutung verhilft. (…) Die taciteische Komposition folgt nicht so sehr der inneren Tektonik des Geschehens, sondern rückt die Dinge zu großartiger mise en scène zurecht; seine Bilder, ungeheuer als einzelne Gestaltungen, enthalten im allgemeinen nicht auch noch einen Bezug auf ein primär Historisches.“ Hervorhebung auch dort. Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 944, bemerkt „Anschaulichkeit und Theatralik der Darstellung bei Tacitus“. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 7, übersetzt sinngemäß mit ‚Schimmer‘. Wichtiger als dieser geringfügige Bedeutungsunterschied ist, was er am Ende seiner Abhandlung zur taciteischen Metaphorik feststellt (S. 34), weil es den inneren Zwang, aus dem sie hervorgegangen ist, auf eine künstlerische Ebene hebt, die derjenigen Prousts nicht fern ist: „Ebenso bleibt Tacitus, wenn wir in seinem Werk den Römer und den antiken Menschen schaffen sehen, dennoch er selber, am eindrucksvollsten da, wo er diese seine eigenste Kunst zu einsamer Höhe führt, die Bildgestaltung aus tiefinnerem Drang“. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 287 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), macht auf einen in diesem Zusammenhang nicht unwichtigen Ausspruch Prousts ihr gegenüber aufmerksam: „Ich bin trotz allem kein ‚Immoralist‘“.
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senhaften Umgang des in seinen Augen schon ganz und gar verdorbenen Tiberius mit der Staatskasse aufs Korn nimmt, die längst zur erweiterten Privatschatulle des habgierig gewordenen Princeps geworden ist, und mit nur zwei beißenden Worten zu verstehen gibt, dass die Bilanz zu Lasten des Fiscus ausfällt, selbst wenn die Konfiskation des unrechtmäßig zusammengerafften Vermögens des Seian in die Staatskasse flossen; als wenn das noch irgendeinen Unterschied machen würde:²³⁵ ‚et bona Seiani ablata aerario ut in fiscum cogerentur, tamquam referret‘ (ann. 6.2.1). Auch Tacitus wusste um den Ewigkeitswert eines treffenden Vergleichsmaßstabs, der die Bilanz der Schlechtigkeit seines Protagonisten pointiert zur Geltung bringen könnte. Proust geht noch darüber hinaus, indem er die grelle Kontrastierung dergestalt zum Stilmittel erhebt, dass er denkbar disparate Materien – wie etwa die Gefühlswelt eines Verliebten zu aktienrechtlichen Finanzierungsinstrumenten – so zueinander in Beziehung setzt, dass durch die betonte Entromantisierung nicht nur ein komischer Effekt erzielt, sondern zwar vorderhand ein Minderwert realisiert wird, dem jedoch ein unverhofftes Surrogat entspricht, das sich in der Gesamtbilanz gleichwohl als günstig darstellt: „In dem Maße, wie ich dem jungen Mädchen näherkam und sie besser kennenlernte, vollzog sich die Bekanntschaft mit ihr durch ein partielles Ersetzen der nur von Verlangen und Phantasie bestimmten Teile ihres Wesens durch eine Vorstellung, die, an sich unendlich viel weniger wert, doch eine Sache enthielt, die im Bereich des Lebens etwa dem entspricht, was Finanzgesellschaften nach Auslosung der Stammaktien ausgeben und was man Genußschein nennt“ (II 587).²³⁶ – « Au fur et à la mésure que je me rapprochais de la jeune fille, et la connaissais advantage, cette connaissance se faisait par soustraction, chaque partie d’imagination et de désir étant remplacée par une notion qui valait infiniment moins, notion à laquelle il est vrai que venait s’ajouter une sorte d’équivalent, dans le domaine de la vie, de ce que les Sociétés financières donnent après le remboursement de l’action primitive, et qu’elles appellant action de jouissance » (S III 144/145). Die Ironie besteht nicht zuletzt darin, dass der vergleichend zurate gezogene ‚Bereich des Lebensʻ – « le domain de la
In diese Richtung die treffende Übersetzung von Erich Heller, Tusculum-Ausgabe, 3. Auflage 1997, S. 393. Übersetzung Eva Rechel-Mertens, die man an dieser heiklen Stelle besonders bewundern muss. Gerade die auf Finanzfragen bezogenen Stellen ihres jeweiligen Werkes verdeutlichen, dass Tacitus ebenso wie Proust Kenntnisse aus ihrer jeweiligen Lebenswelt in ihr Werk haben einfließen lassen: Tacitus, der als römischer Senator und Konsular mit entsprechenden Problemen befasst gewesen ist; Proust durch seine private Vermögensverwaltung, insbesondere seine Wertpapiere und Börsenspekulationen. Zu den genannten Genussscheinen im aktienrechtlichen Sinne Jens Petersen, Der Gläubigerschutz im Umwandlungsrecht, 2001, S. 25 f.
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vie » – derjenige des Rechts- und Wirtschaftslebens ist, dieser aber ausgerechnet einen der Gefühlswelt entlehnten Fachbegriff enthält, der paradoxerweise das auf den Punkt bringt, was die Empfindung des auf diese Weise Begünstigten zur Geltung bringt.²³⁷ Jammes’ Beobachtung über Prousts « phrase à la Tacite » überrascht daher (nur) auf den ersten Blick, gilt doch Proust gemeinhin als Meister langer Sätze, weit ausgreifender Perioden, die durch immer neue Einschübe und Vergleiche ungeahnte Facetten ausdrücken, während Tacitus eine geradezu sprichwörtliche brevitas dicendi zu eigen ist.²³⁸ Sollte in diesem Fall Proust, der – ebenso wie übrigens Tacitus – jeden Hauch von Schmeichelei untrüglich erkannte, hier ausnahmsweise Opfer seiner Eitelkeit geworden sein, die leeres Lob für bare Münze nahm? Das erscheint ausgeschlossen, wenn man bedenkt, wie er den Seltenheitswert desjenigen taxiert, der jeglicher Liebedienerei widersteht: „Die Großen der Welt sind derart gewöhnt, umworben zu werden, daß wer sie meidet, wie ein weißer Rabe Aufmerksamkeit auf sich zieht“ (III 500).²³⁹ – « Les gens du monde ont tellement l’habitude qu’on les recherche que qui les fuit leur semble un phénix et accapare leur attention » (G II 267/268). Auffallend ähnlich urteilt Tacitus über einen hochangesehenen Senator, der offenbar auch sogar vom damals schon vollends willkürlichen Tiberius so geschätzt wurde, dass er eines natürlichen Todes sterben konnte, wie Tacitus eigens vermerkt, und ihn als Urheber keines einzigen unterwürfigen Wortes würdigt: ‚nullius servilis sententiae sponte auctor‘ (ann. 6.10.3).²⁴⁰ Die Unterwürfigkeit feiger Höflinge oder Politiker, die daran zugrundegehen, protokolliert auch Marcel mit beißender Ironie: „Leider sind in der Gesellschaft ebenso wie in der Politik die Opfer so feige, daß man den Henkern nicht lange böse sein kann“²⁴¹ (IV 145). – « Malheureusement dans le monde, comme dans le monde politique, les victimes sont si lâches qu’on ne peut pas en vouloir bien longtemps aux bourreaux »
Karlheinz Stierle, Die Fabel der Welt und das System der schönen Künste. Ovid, Dante, Proust, in: Das lebendige Wort. Begegnungen mit der Antike, 2020, S. 243, 249, zitiert in anderem Zusammenhang eine weitere Stelle, an der die Taxierung der sozialen Position einer Protagonistin infolge der überraschenden Erkenntnis, dass sie der Familie der Guermantes zugehört, mit der ‚Hausse‘ von Aktien und anderweitigen Kursverlusten verglichen wird. Émile Janssens, Stendhal et Tacite, Latomus 5 (1946), 311, 312, hat es in dieser Hinsicht einfacher: «Stendhal écrit comme Tacite. Il a la même breuitas, le même sens de la formule lapidaire et symmétrique » . Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II, S. 750: “he receives a resplendent necrological commemoration”. Zu ihm auch ders., Some Pisones in Tacitus, The Journal of Roman Studies 46 (1956), 17. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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(SG I 141). Die Quintessenz dieser trüben Einsicht spiegelt sich in manchen taciteischen Sentenzen, ja ist wohl sogar in ihrer pessimistischen Bitterkeit und hartkantigen Schärfe selbst ‚une phrase à la Tacite‘. Insofern ist Jammes’ Urteil durchaus hellsichtig, auch wenn es auf den ersten Blick nur die Eitelkeit des Gelobten zu bedienen schien. Übrigens urteilt Proust im Bereich der Realpolitik so hellsichtig, dass man meinen könnte, er habe den Melier-Dialog des Thukydides gekannt, dessen Verfasser wiederum zu den Vorbildern des Tacitus gehörte:²⁴² „Die Diplomaten wissen, daß in der Waage, in der jenes europäische oder sonstige Gleichgewicht hergestellt wird, das man den Frieden nennt, gute Gefühle, schöne Reden und Beteuerungen äußerst wenig bedeuten und daß das eigentliche, entscheidende Gewicht bei anderen Dingen liegt, zum Beispiel in der Möglichkeit, die der Gegner, je nachdem er stark genug ist, hat oder aber nicht hat, auf dem Wege des Tauschs einen Wunsch zu erfüllen“ (III 342).²⁴³ – « Les diplomates savent que, dans la balance qui assure cet équilibre, européen ou autre, qu’on appelle la paix, les bons sentiments, les beaux discours, les supplications pèsent fort peu; et que le poids lourd, le vrai, les déterminations, consiste en autre chose, en la possibilité que l’adversaire a, s’il est assez fort, ou n’a pas, de contenter, par moyen d’échange un désir » (G II 109).²⁴⁴ Man darf wohl annehmen, dass Proust diese subtilen Erkenntnisse seinerseits im Umgang mit Verlegern und möglichen Rezensenten mutatis mutandis anzuwenden wusste, wenn es darum ging, seinem Werk zum Durchbruch zu verhelfen.²⁴⁵ Dessen ungeachtet war für Proust, der seinerseits durchaus zur Lobhudelei neigte, wenn er jemandem gefallen wollte, entscheidend, von wem das jeweilige Lob kam und wie hoch es entsprechend der Kompetenz des Lobenden zu veranschlagen war.²⁴⁶ Jammes schätzte er allerdings auch als Schriftsteller sehr, wie folgende Stelle belegt: « Rien … ne semble d’abord plus près de la nature que le
Ronald Syme, Thucydides. Lecture on a Master Mind, Proceedings of the British Academy 48 (1962), 39. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020, S. 47 f., zur Gerechtigkeit als Tausch unter Berücksichtigung des Machtgleichgewichts nach Thukydides’ Melierdialog. Luzius Keller, Proust lesen, 1991, S. 12. Siehe auch Karin Westerwelle, « Impossible venir, mensonge suit». Aufrichtigkeit und Verstellung in Prousts Briefen, in: Marcel Proust und die Korrespondenz (Hg. Karin Westerwelle/Achim Hölter), 2010, S. 53. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 297 f. (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet anschaulich, wie er den führenden Literaturkritiker, Paul Souday, von dem bereits die Rede war, umgarnte und schließlich für sich einnahm.
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divin jardin de Francis Jammes ».²⁴⁷ Es war also aufrichtige Bewunderung seitens Prousts im Spiel,²⁴⁸ die Jammes’ Urteil für ihn so bedeutsam machte.²⁴⁹ Noch fünf Jahre später, im September 1919, erinnerte sich Proust in einem an François Mauriac gerichteten Brief an Jammes’ Brief: « Votre ami que j’admire entre tous, M. Francis Jammes, m’avait, au milieu de louanges infinies et imméritées, demandé de supprimer du premier volume de l’ouvrage dont je suis si heureux que vous aimiez le titre, un épisode qu’il jugeait choquant. J’aurais voulu pouvoir satisfaire. »²⁵⁰ Denn Jammes hatte durchaus auch kritische Einwände vorgebracht, die auf den Rat hinausliefen, bestimmte Stellen im Rahmen einer Neuauflage entfallen zu lassen, weil sie als anstößig empfunden werden könnten, was Proust allerdings zu keiner Änderung bewog. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Proust noch als Schüler seinem Freund Daniel Halévy eine regelrechte Leseliste anempfohlen hat, in der Tacitus und Shakespeare gleich hintereinander genannt werden: « Jeune homme, lisez Homère, Platon, Lucrèce, Virgile, Tacite, Shakespeare, Shelley, Emerson, Goethe, La Fontaine, Racine, Villo, Théophile, Bossuet, La Bruyère, Descartes, Montesquieu, Rousseau, Diderot, Flaubert, Sainte-Beuve, Baudelaire, Renan, France. »²⁵¹ So altklug dies auch klingen mag, kann man den Grad der Reife des Gymnasiasten des Lycée Condorcet wohl erst ganz ermessen – und damit zugleich auch den Verweis auf Tacitus angemessen würdigen –, wenn man die nachfolgende Begründung des jungen Proust hinzunimmt, die in einer noch rudimentär ausgeprägten Form bereits Andeutungen seiner späteren Kunsttheorie enthält,
Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve, Pastiches et mélanges, Essais et articles, Bibliothèque de la Pléiade (Hg. Pierre Clarac/Yves Sandre), 1971, S. 539. Michel Erman, Marcel Proust. Une biographie, 1994, S. 191, mit beispielhaften Formulierungen. Michel Schneider, L’auteur, l’autre. Proust et son double, 2014, S. 284 f., versieht diesen Grundsatz allerdings mit gewissen Vorbehalten: « Fidèle dans ses admirations, Proust, dans son texte, met une seconde fois en avant Francis Jammes, qui a fait l’éloge de son style – mais un éloge que Proust tempère par des réserves qui n’en sont pas. (…) Proust admire Jammes, car il croit reconnaître en lui une démarche comparable à la sienne. Quant aux éloges que lui prodigue ce dernier, Proust ne les juge pas excessifs. Il est dans la nature des poètes d’amplifier les louanges qu’ils décernent». Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XVIII (1919), S. 404; ähnlich ebenda, S. 464, in einem Brief an Paul Souday; zu beiden Briefen und weiteren Einzelheiten Michel Schneider, L’auteur, l’autre. Proust et son double, 2014, S. 282. Marcel Proust, Écrits de Jeunesse 1887– 1895 (Textes rassemblés, établis, présentés et annotés par Anne Borel), S. 81 f. – Das Kapitel trägt die vielsagende Überschrift «Marcel Proust, professeur de style ». Siehe auch Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, 1996, S. 115.
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sofern die rigorosen Bedingungen berücksichtigt werden:²⁵² « Vous apprendrez que si votre esprit est original et puissant, vos œuvres ne le seront que si vous êtes d’une sincérité absolue et que le pastiche, le sacrifice à une forme, qui vous plaît, le désir d’être original sont autant de formes un peu cachées, d’autant plus dangereuses, de l’insincérité – puis mais c’est secondaire, que la simplicité a des élégances infinies, le naturel des charmes ineffables… ».²⁵³ Denn diese Bedingungen stehen gleichsam hinter der Klammer und setzen voraus, dass jeder der zuvor genannten Schriftsteller und damit auch Tacitus, diesen Anspruch höchster Kunst, diese bedingungslose Opferbereitschaft und Aufrichtigkeit in ihrem jeweiligen Werk glaubhaft einlösten. Aufschlussreich ist übrigens die ebenfalls von Francis Jammes festgestellte Nähe zu Shakespeare,²⁵⁴ wenn man bedenkt, dass Tacitus in bestimmter Hinsicht, vor allem, was die dramatischen Steigerungen und die Verdichtung des Verhängnisses betrifft,²⁵⁵ mit Shakespeare verglichen worden ist.²⁵⁶ Dass Jammes ihn insbesondere mit Tacitus, Shakespeare, Cervantes, Molière, Balzac und La Bruyère verglichen hat, die allesamt Spuren in Prousts Werk hinterlassen haben, konnte ihm nur recht sein.²⁵⁷ Auffallend ist aber, dass Jammes in der Aufzählung dieser Großen der Weltliteratur innerhalb seiner Briefstelle alle neuzeitlichen kommentarlos aneinandergereiht hat, wohingegen er vorab allein Prousts Ge-
Daniel Halévy, Pays parisiens, 1932, S. 116 f., an den diese Leselist adressiert war, notierte später: « L’un de nous avait compris: c’était Marcel Proust. Notre maître, notre professeur de goût dans ce lycée encombré de fonctionnaires, je crois bien que ce fut lui ». Marcel Proust, Écrits de Jeunesse 1887– 1895 (Textes rassemblés, établis, présentés et annotés par Anne Borel), S. 167. Marcel Proust, Les plaisir et les jours, enthält bereits viele Shakespeare-Zitate an den jeweiligen Kapitelanfängen. Dazu auch Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft, 2012, S. 164. Siehe auch Johann Faerber, Proust à la plage. La recherche du temps perdu dans un transat, 2018, Chapitre VI. – Zum Stil des Frühwerks Germaine Brée, Une étude du style de Proust dans ‚Les plaisirs et les jours‘, The French Review 15 (1941/42), 401. Clarence W. Mendell, Dramatic Construction of Tacitus’ Annals, Yale Classical Studies 5 (1935), 3 ff. Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 944: „Tacitus, der ‚Shakespeare‘ unter den römischen Historikern, besticht durch szenische Suggestivkraft.“ Zu Shakespeare grundlegend Stephen Greenblatt, Will in the World. How Shakespeare Became Shakespeare, 2004. Roger Francillon, Proust und La Bruyère, in: Marcel Proust. Bezüge und Strukturen. Studien zu ‚Les plaisirs et les jours‘ (Hg. Luzius Keller), 1987, S. 52; siehe dazu nur TR II 46.
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meinsamkeit mit Tacitus substantiiert begründet, und zwar mit « cette phrase à la Tacite ».²⁵⁸ Die vermeintliche Kürze taciteischer Sätze und die berühmte Länge derjenigen Prousts markiert jedoch eher bei vordergründiger Betrachtung einen Unterschied.²⁵⁹ Gewiss zeigt sich Tacitus’ Meisterschaft gerade dann, wenn er auf knappstem Raum mit buchstäblich drei Worten einen gleichermaßen tief- wie abgründigen Zusammenhang so scharfkantig zusammenfasst, dass es den Leser erschaudern lässt, etwa wenn ein vom Autor mitleiderregend und hinfällig geschilderter Greis sich mit einem Mal als Strippenzieher erweist, der über Leben und Tod entscheidet und Gnade vor Unrecht ergehen lässt, indem er sich damit begnügt, dass ein aufrecht Denkender, der ihm zu nahe kam, lediglich mit dem lebenslänglichen Exil bestraft wurde: ‚hactenus Vitellius voluerat‘ (ann. 12.42.3).²⁶⁰ Zusammenfassungen von aphoristischer Kürze findet man jedoch auch bei Proust:²⁶¹ „So groß ist die Feigheit der Weltleute“ (IV 75).²⁶² – « Telle est la lâcheté des gens du monde » (SG I 73). Die Menschen der mondänen Kreise sind ohnehin oft Gegenstand seiner verallgemeinernden Verdikte: „Weltleute neigen zur Kurzsichtigkeit“ (II 1 126).²⁶³ – « Les gens du monde sont fort myopés » (JF I 125). Es ist ein Motiv, das auch vorher schon begegnet (III 326). Die französische Moralistik Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XIII (1914), Nr. 3; S. 26; Brief an Henri Ghéon vom 2. Januar 1914. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 135 ff., hat dies bereits umsichtig herausgearbeitet: «Voilà quelque chose d’acquis. Entrons en matière. Le difficile commence. D’abord, le style. Le contraste est frappant. L’un est rapide, alerte, âpre et concentré. L’autre, l’inverse. Je m’abstiens d’une analyse, pour de bonnes raisons (ce serait superflu, et la tâche me dépasse). Mais, phénomène à signaler, ils ont quand-même quelque chose en commun. Ils optent, tous les deux, pour une manière nettement non-contemporaine. (…) Dans la courbe de l’évolution qui le conduit des Histoires aux Annales, Tacite devient plus dru et plus dense. Proust, par contre, plus diffus, plus prolixe. L’œuvre elle-même s’élargit et s’alourdit. L’auteur se prélasse et divague, il déverse le trop-plein des ses opinions personnelles. (…) Or, Proust, à la recherche d’un style nouveau et individuel, se reporte à l’époque classique, au XVIIème siècle (le XVIIIème ne lui dit rien). Avant tout, à Saint-Simon. Le style l’attire – et la matière est appropriée. Évidemment, il y a bien d’autres éléments dans son style – et c’est un virtuose (comme Tacite). Il sait manier le discours, dans toutes les variations. (…) Le langage trahit. Donc, un des leit-motivs de la Recherche du Temps perdu.» Siehe zu Prousts Stil auch Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 12. Zu den dämonischen Hintergründen dieser Stelle Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 363. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 472, betont dementsprechend „das Ironisch-Überlegene und Klassisch-Gestraffte der Proust’schen Erzählungsweise“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
II. « Ma phrase à la Tacite »
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erweist sich auch hier als eine Art Verbindungsglied zwischen Proust und Tacitus, den viele der Moralisten gelesen haben. An La Rochefoucaulds Maximen, die ihrerseits von Tacitus beeinflusst sind, erinnert ein anderes Wort mit juristischer Konnotation:²⁶⁴ „In einem Kriminalfall, wo Gefahr für den Schuldigen besteht, diktiert dessen Interesse seine Geständnisse. Bei Vergehen, auf welche keine Strafe folgt, tut es die Eigenliebe“ (V 318).²⁶⁵ – « En matière de crime, là où il y a danger pour le coupable, c’est l’intérêt qui dict les aveux. Pour les fautes sans sanctions, c’est l’amour propre » (P II 49).²⁶⁶ Doch wird die wirksamste Strafe bei Proust ohnehin durch den inneren Gerichtshof verfügt, wie er in äußerster Bündigkeit wissen lässt: „Doch es gibt eben Strafen, die sich im Inneren vollziehen“ (II 268).²⁶⁷ – « Mais il en est d’internes » (JF II 44). Es wäre also zu einfach, die Länge der Perioden Prousts der taciteischen Kürze entgegenzusetzen.²⁶⁸ Vielmehr besticht die Gemeinsamkeit pointierter Zuspitzung und überraschender Wendungen mit paradox anmutenden Schlüssen, die man sowohl bei Proust als auch bei Tacitus findet und die den jeweiligen Satzrhythmus nicht zuletzt im Hinblick darauf bestimmen, dass sich darin innere Beweggründe offenbaren.²⁶⁹ In gewisser Hinsicht zeigt das der jeweilige Anfangssatz der Hauptwerke. Inhaltlich hat der Eingangssatz der Annalen, wonach die Könige die Stadt Rom am Anfang beherrscht haben – ‚urbem Romam a principio reges habuere‘ (ann. 1.1.1) – denkbar wenig gemein mit dem berühmten Anfangssatz Marcels, dass er sich lange Zeit früh schlafen gelegt habe: « Longtemps, je me suis couché de bonne heure » (S I 11). Aber obwohl es einer der
Jürgen von Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960, S. 209 ff., zu Tacitus Einfluss auf La Rochefoucauld. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Werner Hofmann, Recht und Gerechtigkeit in Marcel Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, PROUSTIANA XX (1998), 12, 14 f., kommentiert nüchtern: „Die gleichsam feingewebliche Untersuchung der Motivationsstrukturen ergibt das Primärmotiv, ‚die eigene Haut zu retten‘. Ist diese Gefahr gebannt, sind die Äußerungen des Beschuldigten nach ihrer Relevanz für Geltungsbedürfnis und Medieninteresse zu werten. Auf die objektive Wahrheit kommt es in keiner Alternative besonders an. Solche Einblicke in Prozeßhandlungen eröffnet Proust“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Rainer Warning, Marcel Proust, 2016, S. 15, spricht von „dem die Komplexität der langen Perioden liebenden Französisch Prousts“. Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 945 f.: „Der Überraschungsstil des Tacitus dient der Denkbelebung des Hörers, lädt den Leser durch Rätsel zum Verweilen ein. Wenn bei solchem Streben nach Abwechslung Wiederholungen auftreten, sind sie bedeutsam. (…) Freilich steht der Periodenbau bei Tacitus ‚gezielt’ im Dienste der Aufdeckung der Motivation.“ – Das könnte man mutatis mutandis ebensogut über Prousts Stil sagen.
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kürzesten Sätze der Recherche ist,²⁷⁰ weiß man, wie sehr Proust an ihm gefeilt hat.²⁷¹ Denn natürlich ist es kein Zufall, dass dieses große Werk über die Zeit mit einer adverbialen Bestimmung der Zeit beginnt, die sie und ihre Dauer buchstäblich in sich trägt, zumal da das Werk über viertausend Seiten später unter vorheriger Verwendung des Wortes ‚longtemps‘ mit dem – nicht von ungefähr groß geschriebenen – Wort Temps ausklingt (TR II 254).²⁷² Damit sind Anfang und Ende ebenso wie in Dantes Commedia aufeinander bezogen,²⁷³ deren Einfluss auf Proust im Übrigen nicht überschätzt werden kann.²⁷⁴
Etwas kürzer ist – angesichts seiner Zweifel gegenüber der Medizin wenig überraschend – die apodiktische Feststellung: «La médecine n’est pas une science exacte» (SG I 63). Einen interessanten Widerhall findet die Stelle im zweiten Brief Prousts an Ernst Robert Curtius (Correspondance, Hg. Philip Kolb, Tome XXI, 1922, Nr. 324, S. 479), den er wohl nicht von ungefähr mit der Zusendung von SG II verbindet und mit dem vielsagenden Fragezeichen womöglich auf SG I 63 anspielt: « Maintenant comme la médecine est vraiment une science (?)» Allgemein zu diesem Thema Reiner Speck, Proust und die Medizin, in: Marcel Proust. Werk und Wirkung (Hg. Ders.), 1982, S. 28. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 11, 20, arbeitet dies besonders eindringlich heraus: „‘Longtempsʼ, ‚Lange Zeit‘ beginnt, in programmatischer Absetzung gegen das hektische ‚Jetzt‘ der Futuristen, der erste Satz der Recherche, der zugleich ihr kürzester und in seiner Unscheinbarkeit einer der bedeutungsreichsten ist. (…) Dies ist zugleich die erste Zeitgestalt des Werks, das mit longtemps beginnt und dessen letztes Wort, in Majuskel hervorgehoben, ‚le Temps‘ heißt. Dazwischen entfaltet sich, auf Tausenden von Seiten, das Zeitkunstwerk als literarische Antwort auf Augustins Frage: ‚Was also ist die Zeit?‘ (…) Der erste Satz, durch das Perfekt auf ein unbestimmtes Jetzt, das Jetzt des Schreibakts bezogen, führt uns in die Ursituation von Marcels wiederholender Begegnung mit der versunkenen und dennoch nicht verlorenen Zeit“. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 282, verfolgt den Gedanken der Distanz am Ende seiner bahnbrechenden Monographie in einer etwas anderen, nämlich erzähltechnisch ausgerichteten, aber wegen der Offenbarungsmöglichkeit der Kunst auch für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreichen Weise: „So kann sich die Suche nach der verlorenen Zeit (…) im Licht der retrospektiven Fabel als Roman des Romans darstellen, der die Möglichkeit beschreibt, mit der Distanz der Erinnerung ineins die epische Distanz (die in der Zeitenferne des erzählenden Ichs noch über dem Anfang der Erzählung schwebt) derart aufzuheben, daß sich der Kreis vom ‚nunc terminal‘ zum ‚nunc initial‘ in der Immanenz der Erzählung vollendet und ein ‚univers particulier‘ umschließt, das allein die Kunst offenbaren kann: die ‚Welt‘ des Einzelnen im Spiegel der Zeit“. Hervorhebung auch dort. Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg.Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, knüpft im Grunde genommen genau dort an. Hugo Friedrich, Die Rechtsmetaphysik in der Göttlichen Komödie, 1942, S. 2; Jens Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2. Auflage 2016, S. 132.
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Nicht minder beziehungsreich verhält es sich bei der so harmlos wirkenden taciteischen Zeitbestimmung ‚a principio‘. Denn sie kann nicht nur ‚anfangs‘ oder ‚am Anfang‘ bedeuten, sondern auch ‚von Anfang an‘.²⁷⁵ Letzteres lässt jedoch die subversive Lesart zu, dass im Moment der Niederschrift immer noch die in Rom seit jeher so verhassten Könige herrschten, nämlich in Gestalt der aus seiner Sicht zeitgenössischen Kaiser Nerva und Trajan,²⁷⁶ denen Tacitus im Proömium des Agricola wiederholt in einer für ihn ungewohnten Weise huldigt, (Agr. 44.5):²⁷⁷ ‚sed quamquam primo statim beatissimi saeculi ortu Nerva Caesar res olim dissociabilis miscuerit, principatum ac libertatem, augeatque quotidie felicitatem temporum Nerva Traianus‘ (Agr. 3.1).²⁷⁸ Aus diesen lobenden Worten kann man im Übrigen ersehen, dass auch der Verächter jeglicher Schmeichelei ebenso geschmeidig zu formulieren verstand wie Proust, wenn es darum ging, einen Zuwachs an innerer Freiheit zu erlangen, der nicht zuletzt der Vollendung des eigenen Werkes zugute kommen würde. Die soeben zitierte Tacitus-Stelle steht beiläufig nicht nur in einem äußeren Umfeld, sondern vor allem in einem inneren Zusammenhang mit jener Stelle, die Proust zitiert (G II 244) und von der noch eingehend die Rede sein wird: ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2).
Karlheinz Stierle, Das große Meer des Sinns. Hermenautische Erkundungen in Dantes „Commedia“, 2007, S. 419 ff. Ders., Die Fabel der Welt und das System der schönen Künste. Ovid, Dante, Proust, in: Das lebendige Wort. Begegnungen mit der Antike, 2020, S. 243, 267, bringt die eigentümliche consecutio temporum auf den Punkt, aus der sich die grammatikalisch gewähte Zeitform erschließt: „Wie bei Dante, aus der Außerzeitlichkeit seiner Weltenwanderung in die Zeit zurückstürzt und sein Werk beginnt, ist auch bei Proust der Triumph der Zeit nicht das letzte Wort. Die Fabel der Welt, die in sich die Außerzeitlichkeit der Erinnerung und ihr Bild, die Außerzeitlichkeit des Werks, vereinigt, triumphiert über diese. Marcel, im Wettlauf gegen die Zeit, wird mit dem Werk beginnen. Er wird schreiben: «Longtemps, je me suis couché de bonne heure»“. Mary Beard, Confronting the Classics. Traditions, Adventures and Innovations, 2014, S. 164: “A principio can mean both ‘in the beginning’ and ‘from the beginning’, and the double meaning is significant. Is Tacitus’ meaning simply that ‘in the beginning’ Rome was ruled by kings (Romulus and co)? Or is he also encouraging us to wonder if autocracy and the city of Rome have actually gone hand in hand ‘from the start’?”. Rhihannon Ash, Tacitus, 2006, S. 82, fragt vielsagend: “Is even Trajan in some sense a king?”. Dieter Timpe, Die Germanen als Gegenbild zur römischen Dekadenz? Die Germania des Tacitus, in: Antidoron: Studi in onore di Barbara Scardigli Forster, 2007, S. 419, 434, sieht dies „mit einer geschmackssicher dosierten Prise feinerer adulatio angereichert“. Zu dieser und der folgenden Stelle Mason Hammond, Res olim dissociabiles: Principatus ac Libertas, Harvard Studies in Classical Philology 67 (1963), 93; Stephen P. Oakley, Res olim dissociabiles: emperors, senators and liberty, in: The Cambridge Companion to Tacitus (Hg. Anthony J. Woodman), 2009, S. 184; Thomas E. Strunk, History after Liberty. Tacitus on Tyrants, Sycophants, and Republicans, 2016, S. 28.
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Zudem man darf beim Vergleich des vorderhand so unterschiedlichen Stils nicht übersehen, dass gerade in den Annalen, in denen Tacitus’ Stil immer kürzer wird, weitausgreifende Perioden von einem halben Dutzend Zeilen Länge keine Seltenheit sind. Sie sind allerdings – und hier kommt die Nähe zu Proust ins Spiel²⁷⁹ – kaum je voraussehbar und symmetrisch angeordnet, wie dies bei langen Perioden Caesars und Ciceros üblich ist. In diesem wortreichen Sinne spricht wohl auch Proust an einer Stelle von ‚ciceronianischen Reden‘ (III 111):²⁸⁰ « des discours ciceroniens » (G I 113). Vielmehr zeichnen taciteische Sätze sich durch ungeahnte Wendungen und überraschende Pointen aus, die eine Binnenspannung schaffen, an deren Ende selten eine Auflösung steht, sondern mitunter erst eine in dieser Form nicht für möglich gehaltene neue Einsicht oder aphoristische Zuspitzung, die etwas genuin Neues überraschend zutage fördert. Besonders dramatisch gestaltet zeigt sich dies am Ende der Würdigung des Kaisers Galba, wonach dieser nach allgemeiner Ansicht fähig zur Herrschaft gewesen wäre – wenn er nur nicht geherrscht hätte: ‚omnium consensu capax imperii nisi imperasset‘ (hist. 1.49.4).²⁸¹ Mit Recht bemerkt der große Tacitus-Kenner Friedrich Klingner, dass „taciteische Sätze nicht symmetrisch und im voraus berechenbar angelegt sind, son-
Bernd Spillner, Symmetrisches und asymmetrisches Prinzip in der Syntax Marcel Prousts, 1971. Grundlegend auch insoweit Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 120: „In jenem gewundenen, die Entscheidung immer wieder hinausschiebenden, die Erwartung immer schmerzhafter spannenden und schließlich wie mit einem Hammerschlag, einem Beilhieb treffenden Satzrhythmus, den wir für Proust charakteristisch fanden“ (ebenda, S. 120). – Das passt, auch wenn er noch so kurz ist, zu dem weiter oben im Text zitierten Tacitus-Satz, zumal da die innere Dramaturgie des Vorausgehenden ganz ähnlich ist: ‚hactenus Vitellius voluerat‘ (ann. 12.42.3). Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 945, hat das am Beispiel des vielzitierten Wortes vielleicht am deutlichsten auf den Punkt gebracht: „Bei der Gewichtsverlagerung vom eigentlichen Satz auf den Nachtrag (…) herrscht eine ähnliche Tendenz wie bei der Veränderung der Wortstellung: In den Nachträgen steht oft das Wichtigste (…) und zwar oft im Widerspruch zu der zuvor aufgebauten Erwartung des Lesers.“ – Das könnte man ebenso über Prousts Satzrhythmus sagen, auch wenn Leo Spitzer (Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 380) die – in der Modalität freilich nur ungefähr ausgedrückte – erlösende Wirkung betont: „Allen diesen Typen (Explosions-, Schichtungs-, Bogentyp) ist gemeinsam, daß die weit über die Normaldauer eines menschlichen Atemzugs hinaus lange Ausdehnung der Periode der Satzschluß irgendwie als Erlösung oder daß, anders gesprochen, der erlösende Schluß um so definitiver wirkt.“ Zu der zitierten Tacitus-Stelle auch Ronald Syme, Approaching the Roman Revolution, 2016, S. 21 mit Fußnote 34; Ronald Mellor, Tacitus, 1993, S. 135. – Bezogen auf das ‚nisi imperasset‘ (hist. 1.49.4) ist auch das oben zitierte, auf Proust gemünzte Curtius-Wort von ‚einem Hammerschlag, einem Beilhieb‘ (Proust, S. 120) passend für den taciteischen Stil.
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dern von Wort zu Wort dramatisch Unerwartetes auftreten lassen.“²⁸² Wenn etwa Tiberius die Senatoren langatmig bittet, zugunsten des noch ganz jungen Nero einen Dispens von dem gesetzlichen Mindestalter gutzuheißen, dann bildet Tacitus dies durch einen vergleichsweise langen Satz beziehungsreich ab. Aber es war jedem der Zuhörenden unmissverständlich klar, dass es sich ungeachtet der gewundenen Formulierung der Bitte um einen Befehl handelt, den Tacitus am Ende durch den litotischen Hinweis kommentiert, dass dies nicht ohne Lachen der Zuhörer quittiert wurde – die äußerste Form der Meinungsbekundung, die gerade noch möglich war: ‚Per idem tempus Neronem e liberis Germanici, iam ingressum iuventam, commendavit patribus, utque munere capessendi vigintiviratus solveretur et quinquennio maturius quam per leges quaesturam peteret, non sine inrisu audientium postulavit‘ (ann. 3.29.1).²⁸³ Gerade diese letzten Worte bringen stilistisch etwas zur Geltung, das unmittelbar auf den Inhalt ausstrahlt und in den scheinbar unvoreingenommenen Bericht einen beißenden Kommentar des Historikers einwebt, wie man ihn auch bei Proust in Anbetracht des Verhaltens bestimmter Personen mitunter beobachten kann. In der ‚Entflohenen‘ zeigt sich diese von Klingner bei Tacitus beobachtete scheinbare Asymmetrie, die unberechenbare Anlage und Steigerung der Dramatik, in der sich die Binnenspannung in einem pointierenden Schlusswort entlädt, auf das im Vorhinein – und wohl auch schon vom Anbeginn der ersten Seiten der Recherche her – alles kunstvoll hingeordnet war, an einer der berühmtesten, voraussetzungsvollsten und erhabensten Stellen des gesamten Werkes über ein plötzliches Innewerden im Baptisterium von San Marco in Venedig:²⁸⁴ „Für mich aber schlug einmal die Stunde, da es mir, wenn ich mich daran erinnere, wie ich
Friedrich Klingner, Tacitus über Augustus und Tiberius. Interpretationen zum Eingang der Annalen, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1953, Heft 7, S. 45. Zu dieser Stelle Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 280, 380. Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 10 ff., würdigt und deutet den folgenden Satz ebenso stilsicher wie kulturgeschichtlich tiefdringend, vor allem aber auch im werkimmanenten Zusammenhang weiterführend: „Der Satz ist der schönste vielleicht der ganzen Recherche. (…) Der Erinnerungsort, den Marcel hier der Mutter stiftet, ist mehrfach auratisiert: durch die religiöse Aura des Baptisteriums wie durch das auratische Kunstwerk, das Mosaik, das den Gründungsakt der Taufe, die Taufe Christi durch Johannes, gegenwärtig hält (…), und schließlich die Aura Venedigs selbst, in der sich religiöse und ästhetische Aura vereinigen. Die Setzung des auratischen Erinnerungsorts muß aber erst durch die subjektive Auratisierung des ‚souvenir involotaire‘ hindurchgegangen sein, ehe er in der syntaktischen Einheit eines in sich geschlossenen Erinnerungsmedaillons oder sprachlichen Erinnerungsorts seine ‚résurrection‘ erfahren kann“.
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damals im Baptisterium vor den Fluten des Jordan stand, in die der heilige Johannes Jesus eintaucht, während die Gondel uns an der Piazetta erwartete, nicht gleichgültig ist, daß in dem kühlen Halbschatten neben mir eine Frau stand, die sich in ihre Trauer mit der verehrungsvoll enthusiastischen Glut jener Matrone hüllte, die man in Venedig in Gestalt der heiligen Ursula von Carpaccio sehen kann, und daß diese Frau mit den roten Wangen und den traurigen Augen in ihren schwarzen Schleiern – eine Frau, die keine Macht der Welt für mich von dem von sanftem Licht durchfluteten Heiligtum von San Marco je wieder wird trennen können, in dem ich vielmehr sicher bin, sie immer wiederzufinden, weil sie dort wie ein Mosaik ihren für sie ausgesparten unverrückbaren Platz hat – meine Mutter ist“ (VI 321/322).²⁸⁵ – « Une heure est venue pour moi où quand je me rapelle le baptistère, devant les flots du Jourdain où saint Jean immerge le Christ tandis que la gondola nous atteindait devant la Piazetta il ne m’est pas indifférent que dans cette fraîche pénombre, à côté de moi il y eût une femme drapée dans son deuil avec la ferveur respectueuse et enthousiaste de la femme âgée qu’on voit à Venise dans la Sainte Ursule de Carpaccio, et que cette femme aux joues rouges, aux yeux tristes, dans ses voiles noires, et que rien ne pourra plus jamais faire sortir pour moi de ce sanctuaire doucement éclairé de Saint-Marc où je suis sûr de la retrouver parce qu’elle y a sa place réservée et immutable comme une mosaîque, ce soit ma mère ».²⁸⁶ Francis Jammes konnte diese gewaltige Periode noch nicht kennen, als er Proust « cette phrase à la Tacite » bescheinigte, aber womöglich ist der Satz ungeachtet seines denkbar unterschiedlichen Inhalts von den Darstellungen des römischen Historikers im Hinblick auf den Satzrhythmus genau dies. Sucht man im taciteischen Werk nach einer entsprechenden Periode, in der gleichsam das Allerheiligste für den heidnischen Autor berührt ist, so wäre dies wohl am ehesten jener weitausgreifende auf mehrere Satzteile verteilte Gedanke, der aber ungeachtet der Interpunktion durch seine Aufzählung der Schrecknisse als ein ganzes Satzgebilde begriffen werden kann, aus dem Proömium der Historien, in dem Tacitus sein Vorhaben umreißt und ein Panorama des Verfalls altrömischer Sitten zeichnet, an deren Ende das für einen Römer schier Undenkbare steht, nämlich das von Bürgerhand angezündete Kapitol:²⁸⁷ ‚Opus ad-
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. In den hier ansonsten zitierten Œuvres complètes ist er merkwürdigerweise nicht zu finden und wird daher hier ausnahmsweise aus der Bibliothèque de la Pléiade (Tome IV, 1989, S. 225) zitiert. Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, 1996, S. 84 mit Fußnote 1, macht, wie weiter oben dargestellt, aus den in der Bibliothèque Nationale aufbewahrten Papieren Prousts auf eine Prüfungsarbeit zum Brand des Kapitols aufmerksam, die wohl allerdings weniger auf das Proömium der Historien als vielmehr auf hist. 3.70 bezogen ist, wo freilich die im Proömium angedeutete Begebenheit
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gredior opimum casibus, atrox proeliis, discors seditionibus, ipsa etiam pace saevum. Quattuor principes ferro interempti: trina bella civilia, plura externa ac plerumque permixta: prosperae in Oriente, adversae in Occidente res: turbatum Illyricum, Galliae nutantes, perdomita Britannia et statim omissa: coortae in nos Sarmatarum ac Sueborum gentes, nobilitatus cladibus mutuis Dacus, mota prope novis cladibus vel post longam saeculorum seriem repetitis adflicta. Haustae aut obrutae urbes, fecudissima Campaniae ora; et urbs incendiis vastata, consumptis antiquissimis delubris, ipso Capitolio civium manibus incenso‘ (hist. 1.2). Proust setzt nicht selten verallgemeinernde Einsichten in Klammern, die betont beiläufig wirken, aber klassische Sentenzen enthalten,²⁸⁸ für die auch Tacitus berühmt ist.²⁸⁹ In der wiedergefundenen Zeit ist es eine unscheinbare Begründung: „Denn die anderen wissen oft über unser Leben besser Bescheid, als wir glauben“ (VII 31).²⁹⁰ – « Car les autres sont souvent plus renseignés sur notre vie que nous ne croyons » (TR I 19). Tacitus muss diese Einsicht schon über eintausendachthundert Jahre zuvor verinnerlicht haben. Denn im Proömium der Historien gestand er, wie bereits angedeutet, vorsichtshalber zu, von drei darin behandelten Kaisern in seiner Standeswürde befördert worden zu sein: ‚dignitatem nostram a Vespasiano inchoatam, a Tito auctam, a Domitiano longius provectam non abnuerim‘ (hist. 1.1.3).²⁹¹ Dass er dies nicht leugnen wolle, ist eine überaus geschickte
näher ausgeführt wird. Immerhin legt dies nahe, dass Proust die taciteische Darstellung von früh auf geläufig gewesen sein dürfte. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 392, beobachtet treffend: „Diese Gnomen haben für Proust offenbar keinen Eigenwert, losgelöst vom Strom des Erlebens, aus dem sie stammen und dessen Talsohle sie gleichsam bilden.“ Wichtig ist auch eine an späterer Stelle (ebenda, S. 465) angestellte Beobachtung Spitzers, die mutatis mutandis wohl auch auf den zuletzt ausführlich zitierten Tacitus-Satz zutrifft: „Besonders gern steht diese impressionistische Inversion im Nebensatz: ich nehme an, das Subjekt mit seinen Nebenbestimmungen kann so in seiner Endstellung eindrucksvoller wirken, wenn der Satz nicht sangund klanglos endet, zugleich können diese Nebenbestimmungen (falls z. B. Sätze oder Partizipia) leichter angeschlossen werden, besonders dann, wenn die bekannten ‚Vorreiter‘-Konstruktionen sie ankündigen“. Roderich Kirchner, Sentenzen im Werk des Tacitus, 2001. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 135, umreißt mit wenigen prägnanten Federstrichen den Aufstieg, insbesondere unter Domitian und lässt darin auch jene fünfzehn Jahre aufscheinen, die Tacitus selbst zu jenem ‚grande mortalis aevi spatium‘ erhebt (Agr. 3.2), das Proust wiederum in der Recherche zitiert: «Quant à Tacite, il y a sans doute ces fameux quinze ans de silence que lui aurait imposés la tyrannie de Domitien (voir la préface de son œuvre de débutant, l’Agricola). Est-ce que cette expérience l’a marqué pour la vie? L’idée est recevablereçue même et consacrée. On conçoit des soupçons. Tacite a fait une belle carrière sous Domitien. Consul ensuite sous Nerva (en 97, peut-être déjà désigné avant la mort de Domitien), il parvient
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Formulierung, die vorausschauend naheliegende Einwände entkräftet, wie Golo Mann auf den Punkt bringt: „Leugnen würde ihm auch wenig geholfen haben, denn seine Standesgenossen, für die er schrieb, wußten das alles recht genau.“²⁹² Ebenso wie in Prousts Faubourg Saint-Germain jeder Aristokrat über jeden anderen – häufig Verwandte – Bescheid wusste und insbesondere deren moralische Verirrungen genüsslich registrierte, war die römische Senatsaristokratie unter dem Prinzipat über ihresgleichen bestens im Bilde; nicht zuletzt, um im Falle des Falles Denunziationen – gerade auch unter Freunden (ann. 4.33.3) – mit belastendem Material zuvorkommen zu können (ann. 15.56.4). Besonders pikant ist Tacitus’ Eingeständnis der Förderung durch den verhassten Domitian zu Zeiten seines Terrorregimes. Denn neuere Forschungen halten es für möglich, dass er unter ihm Quaestor Augusti war, wie die dem Tacitus zugeschriebene fragmentarisch erhaltene Grabplatte nahelegt.²⁹³ Die QuaestorenStellung allein wäre nämlich viel zu unbedeutend auf einer solchen Platte verzeichnet zu werden, wenn der Verstorbene später höchste Ämter bekleidet hatte, wie Tacitus das Konsulat. Als Quaestor Augusti dagegen wäre er eine Art Privatsekretär des Kaisers mit Zugang zu den innersten Geheimnissen der Herrschaft, von denen er in den Annalen den Großneffen des Sallust der Witwe des Augustus raten lassen wird, dass die Geheimnisse des Kaiserhauses besser nicht an die Öffentlichkeit geraten: ‚ne arcana domus, ne consilia amicorum, ministeria militum vulgarentur‘ (ann. 1.6.3). Sollte er also diese mächtige Vertrauensstellung noch unter Domitian innegehabt haben, dann wäre er womöglich Mitwisser von dessen Todeslisten gewesen. Ob dies so war, lässt sich nicht mehr erweisen; aber wenn es so war, dann gilt auch dafür das von Golo Mann Gesagte, nämlich das Tacitus’ Senatoren-Kollegen um seine mögliche Verstrickung nur zu gut wussten. Für Tacitus und Proust gleichermaßen bezeichnend ist, wie wir bereits gesehen haben und vor allem bereits Ronald Syme herausgearbeitet hat,²⁹⁴ das Interesse am Niedergang von Adelsdynastien und dem Aufstieg von reichen Rittern bzw. Bürgern.²⁹⁵ Bei beiden findet sich ein dementsprechend ausgeprägter sous Trajan au faîte des honneurs publics. » – Syme selbst war, wie verschiedentlich bemerkt, der Erste, der erkannt hat, dass der von Tacitus in Agr. 3.2. vorausgesetzte Zeitraum nicht genau mit jenem übereinstimmt, den Proust voraussetzt – ohne freilich eine Begründung dafür zu geben, weil er es für einen schlichten Fehler Prousts hielt. Golo Mann, Versuch über Tacitus, Neue Rundschau 87 (1976), 249, 252. Grundlegend hier und im Folgenden Geza Alföldy, Bricht der Schweigsame sein Schweigen? Eine Grabinschrift aus Rom, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Römische Abteilung 102 (1995), 251, 267. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 88: „Ein besonderer Reiz, eine der vielen Doppelperspektiven von Prousts Roman beruht nun freilich gerade darin, daß dieses Milieu der
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Verfallsgedanke mit Anklängen an zyklische Entwicklungsformen eines Auf- und Ablebens innerhalb der Geschichte (ann. 3.55.5):²⁹⁶ „Denn der Wert eines Adelstitels steigt wie ein Börsenpapier, wenn er gefragt ist, und sinkt, sobald er angeboten wird. Alles, was uns unvergänglich erscheint, strebt dem Untergang zu; eine gesellschaftliche Situation wird wie alles übrige nicht für alle Zeiten geschaffen, sondern entsteht ebenso wie die Macht einer Herrschaft jeden Augenblick neu durch etwas wie einen nie endenden Schöpfungsakt, woraus sich die offensichtlichen Anomalien der Gesellschaftsgeschichte wie der politische Lauf eines halben Jahrhunderts hinlänglich erklären“ (VI 353).²⁹⁷ – « Car la valeur d’un titre de noblesse, aussi bien que de bourse, monte quand on le demande et baisse quand on l’offre. Tout ce qui nous semble impérissable tend à la destruction; une situation mondaine, tout comme autre chose, n’est pas créée une fois pour toutes mais, aussi bien que la puissance d’un empire, se reconstruit à chaque instant par une sorte de création perpétuellement continue, ce qui explique les anomalies apparente de l’histoire mondaine ou politique au cours d’un demi-siècle » (AD 339). Mit ihrem Interesse an Dynastien haben Tacitus und Proust einen gleichermaßen fein austarierten Sinn für Hierarchie und Herablassung, vor allem aber für Adelsdünkel, der sich oft anders gibt, als es den Anschein hat. Tacitus spricht gleich zu Beginn der Annalen mit einer vielsagend prägnanten Wendung vom alten und tiefeingewurzelten Hochmut der claudischen Familie: ‚vetere atque insita Claudiae familiae superbia‘ (ann. 1.4.3). Mehr musste er nicht sagen, weil dies in Rom ohnehin jeder wusste und die Arroganz der Claudier sprichwörtlich war.²⁹⁸ Durchaus ähnlich verhält es sich bei Prousts Herzog von Guermantes, denn er spricht „in geheuchelter Bescheidenheit, im Grunde aber aus so tief eingewurzeltem Hochmut, daß sein Mund wider Willen lächelt und seine Augen den Anwesenden vor Vergnügen funkelnde Blicke zuwarfen“ (III 313).²⁹⁹ – « avec une vanité si profonde que sa bouche ne pouvait s’empêcher de sourire et ses yeux de jeter à l’assistence des regards petillants de joie » (G II 79).
großen Bourgeoisie sich mit dem des exklusivsten Hochadels schneidet.“ – Bei Tacitus könnte man als Parallele den Exkurs über die Luxusgesetzgebung heranziehen, anhand dessen sichtbar wird, wie die immer reicher werdenden Ritter aus der Provinz den römischen Adel allmählich übertrumpfen, so dass dieser allmählich finanziell nicht mehr mithalten kann (ann. 3.54). Frank R. D. Goodyear, Cyclic Development in History: A Note of Tacitus Ann. 3.55.5, Bulletin of the Institue of Classical Studies 17 (1970), 101. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Theodor Mommsen, Die patricischen Claudier, Römische Forschungen, Band I, 2. Auflage 1864, S. 285, zur Herkunft und Geschichte. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Und ebenso wie Tacitus die hochadelige Herkunft einer gefallenen Person durch ihre illustren Vorfahren anklingen lässt – ‚Lepida, cui super Aemiliorum decus L. Sulla et Cn. Pompeius proavi erant‘ (ann. 3.22.1) – und sie in dem nach ihrem Ahnen Pompeius benannten Theater wirkungsvoll vom gemeinen Volk als kollektives Mitleid empfindender Kulisse abhebt (ann. 3.23.1), folgt bei Proust die hochadelige Familie der Guermantes in bewusster Abgrenzung ihren Gewohnheiten statt den gesellschaftlichen Gepflogenheiten, woraus sich bestimmte Verhaltensweisen erklären: „auf Grund einer Eigenart der Guermantes, die anstatt sich dem Leben der Gesellschaft anzupassen, es nach ihren persönlichen Gewohnheiten abänderten (welche sie nicht für mondän und folglich nicht für würdig hielten, daß man zu ihren Gunsten etwas so Wertloses wie ‚das Gesellschaftliche vernachlässigte…)“ (IV 8). – « Car avec cette singularité des Guermantes qui, au lieu de se conformer à la vie mondaine, la modifiaient » (SG I 9). Tacitus bemerkt gleich zu Beginn der Annalen, durch eine vierfache Alliteration gebührend hervorgehoben, wie die kaiserlichen Prinzen schon in hohe Ränge befördert werden sollten, obgleich sie die Knabentoga noch nicht abgelegt hatten:³⁰⁰ ‚posita puerili praetexta principes iuventutis‘ (ann. 1.3.2).³⁰¹ Dementsprechend nimmt Marcel in der Recherche an, „daß eine gewisse aristokratische Schicht von Kindheit an dazu erzogen wird, ihren Namen als ein angeborenes Prestige zu betrachten, das niemand ihr rauben kann“ (II 14).³⁰² – « C’est d’abord parce qu’une certaine aristocratie, élevée des enfance à considérer son nom comme un avantage intérieur que rien ne peut lui enlever » (JF I 12). Mit der ihm eigenen Ironie und einer wiederum bemerkenswerten Anleihe aus der Rechtswelt veranschaulicht Proust, wie grotesk die Rücksicht auf einstmalige Privilegien den gegenwärtigen Status prägt und die Abkömmlinge früherer Landesherrn sie über ihresgleichen erhebt, nur weil die Vorfahren jener vordem als Zeichen ihrer Macht Geld prägen durften, während diese es immer noch im Überfluss haben: „Ein Herzog, der beinahe Milliardär war und alle Vorteile auf sich zu vereinigen schien, rangierte hinter ihnen, weil sie selbst als Chef ihres Hauses vormals souveräne Fürsten irgendeines kleinen Landes gewesen waren, in denen sie das Recht hatten, Münzen schlagen zu lassen oder aus ähnlichen Gründen…“ (III 536). – « Un duc prèsque milliardaire et qui semblait tout réunir en soi passait après eux parce
Manfred Fuhrmann, Anmerkungen und Einführung zur Tusculum-Ausgabe der Annalen (Hg. Erich Heller), 3. Auflage 1997, S. 19 sowie S. 821 Anmerkung 10, wonach allerdings „der Titel (sc. princeps iuventutis, also kaiserlicher Prinz) weniger rechtliche als religionspolitische Bedeutung hatte“. Zu den zitierten Annalen-Stellen auch Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 188, 200. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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que, chef de famille, il était anciennement prince souverains d’un petit pays ou ils avaient le droit de battre monnaie, etc. » (G III 36). Selbst die allenthalben in christlicher Demut gezeichnete Verwandte der Guermantes, die von ihresgleichen beinahe als Heilige verehrt wird, weil sie sich entschieden hat, in einfachstem Gewande einherzuschreiten, entlarvt Marcel, indem er in beinahe biblischer Diktion nach Art eines Gebots mit beißender Ironie die Scheinheiligkeit und Heuchelei offenlegt, mit denen eingefleischtes Rangdenken camoufliert wird, das einem Gottesgnadentum entspringt und in paternalistischer Fürsorge abstandwahrende Almosen zu einem Akt der Verwirklichung göttlicher Gerechtigkeit durch menschliche Mildtätigkeit zu verklären sucht: „Laß denen, welche tiefer als dich zu stellen die himmlische Güte dir die Gnade erwiesen hat, zukommen, was du ihnen zuteil werden lassen kannst, ohne deinem Rang etwas zu vergeben, das heißt geldliche Beihilfe und selbst Krankenpflege. Aber natürlich nie eine Einladung zu einer deiner Abendgesellschaften, was ihnen gar nicht gut täte, wohl aber durch Verminderung deines Prestiges deinen Wohltaten etwas von ihrer Wirkung benähme“ (III 566).³⁰³ – « Fournis à tous ceux que la bonté céleste t’a fait la grâce de placer au-dessous de toi ce que tu peux leur donner sans déchoir de ton rang, c’est-à-dire des secours en argent, même des soins d’infirmière, mais bien entendu jamais d’invitations à tes soirées, ce qui ne leur ferait aucun bien, mais, en diminuant ton prestige, ôterait de son efficacité à ton action bienfaisante » (G III 66). Dass die Scheinheiligkeit alle sozialen Ebenen durchdringt, beweist wieder einmal Françoise, auch wenn sie geschrieben hätte wie Tacitus (G II 244): „Aber fuhr sie scheinheilig fort, wenn ich vor meiner eigenen Tür gekehrt habe, kümmere ich mich nicht darum, was vor den anderen liegt. Auf alle Fälle christlich ist das nicht“ (III 26).³⁰⁴ – « Mais, ajouta-t-elle sans sincérité, du moment que je sais ce qui cuit dans ma marmite, je ne m’occupe pas de celle des autres. En tout cas ça n’est pas catholique » (G I 28). Allerdings war wohl auch Tacitus nicht ganz frei von
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 466 f., hat am Beispiel einer anderen Stelle und verschiedenen Beispielen die normative Komponente des Proustschen Stils herausgearbeitet, die mitunter wie ein Akt der Gesetzgebung anmutet: „Die Nuance des Unwiderruflichen scheint mir überhaupt leicht von dieser Wortstellung ausgedrückt zu werden (offenbar unter dem Einfluß der bei Regeln und Gesetzen üblichen Inversion: Est défendu… Ne sont pas admis…): etwas Legislatives spüre ich etwa in den folgenden Beispielen.“ – In diesen hellsichtigen Beobachtungen schwingt avant la lettre einiges von dem mit, das später unter dem Gesichtspunkt von ‚Law & Literature‘ untersucht wurde, wenngleich ohne Berücksichtigung Prousts. Nicht zuletzt das soll hier nachgeholt werden, und es ist nicht ohne Interesse, dass die anspruchsvolle Sekundärliteratur, für die Spitzers grundlegende Studie pars pro toto steht, diesen Gesichtspunkt gleichsam vorweggenommen hat.
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Selbstgerechtigkeit. Das zeigt eine unscheinbare Stelle, die im Schatten seiner vielleicht berühmtesten Worte steht, die alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Just nachdem er beteuert, ‚sine ira et studio‘ zu berichten, fügt er mit größtmöglicher Distanz (‚procul‘) gegenüber solch niedrigen Beweggründen hinzu, dass sie ihm fernlägen: ‚quorum causas procul habeo‘ (ann. 1.1.3). Berücksichtigt man seine im bereits im Proömium der Historien zugestandenen Karrierefortschritte unter Vespasian, Titus und vor allem dem ihm verhassten Domitian, dann ist nicht ganz sicher, ob ihm solche Gründe wirklich so fernlagen. Marcel richtet freilich auch den Herzog von Guermantes mit seinem unverblümten Adelsdünkel, indem er auf einen von der sozialen Herkunft unabhängigen Adel des Geistes verweist: „Aber wenn seine Eigenliebe dazu neigte, ihm die Überlegenheit des Titels eines Herzogs von Guermantes eher zu übertreiben, lag es vielleicht weniger an den Regeln des guten Geschmacks, als an den Grenzen der Einbildungskraft, daß er sich auch wieder verkleinerte. (…) Ein Herzog kann Spießerromane schreiben, selbst wenn sie das Leben der großen Welt zum Gegenstand haben, da hier alte Pergamente von keinem Nutzen sind; das Beiwort ‚aristokratisch‘ kann andererseits von Schriften eines Plebejers gelten“ (III 310/ 311).³⁰⁵ – « Mais si son amour-propre avait des tendances a s’exagérer plutôt la supériorité du titre de duc de Guermantes, ce n’était peut-être pas tant de règles du bon goût que les lois de l’imagination qui le poussaient à le minimer. (…) Un duc peut écrire des romans d’épicier, même sur les mœurs du grand monde, les parchemins n’étant là de nul secours, et l’épithète d’aristocratique être méritée par les écrits d’un plébéien » (G II 77). Nicht umsonst erwähnt Tacitus, der von den Plebejern sonst wenig hält, ausgerechnet am Beispiel des von ihm besonders geschätzten hochadligen Juristen Cassius Longinus, die plebejischen Ursprünge seiner Familie:³⁰⁶ ‚Cassius plebeii Romae generis, verum antiqui honoratique, et severa patris disciplina eductus‘ (ann. 6.15.1). Als homo novus, der er selbst wohl war,³⁰⁷ wusste Tacitus ebenso wie Proust, der seiner Herkunft nach ebenfalls überaus privilegiert aufwuchs, aber ebenso wenig dem Adel entstammte, dass dasjenige, was den Schriftsteller adelt und langfristig über alle anderen Arbeiten erhebt, ja wahrhaft
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Matthias Gelzer, Die Nobilität der Kaiserzeit, Hermes 50 (1915), 395. Ferner Ronald Syme, Lawyers in Government: the Case of Ulpian, in: Roman Papers (Hg. Anthony R. Birley), Vol. III, 1984, S. 863: “Though an aristocrat might still be a master of jurisprudence, such as Cassius Longinus in the age of Claudius and Nero, though senators and consuls figure on the list as leaders in the profession”. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II, S. 566 ff.
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bleibend wirkt, nichts anderes ist als seine Sprache und sein Stil (ann. 4.61).³⁰⁸ Von dieser Gemeinsamkeit zwischen Tacitus und Proust wird im letzten Abschnitt der Abhandlung noch eingehend die Rede sein. Diese ihrer selbst durchaus bewusste Meisterschaft der Sprach- und Stilbeherrschung kommt bei Proust im zuletzt zitierten Passus innerhalb des dort Weggelassenen zum Ausdruck: „Denn die allgemeinen Gesetze, welche die Perspektive der Einbildungskraft bestimmen, gelten für Herzöge so gut wie für andere Menschen; nicht sogar nur der Einbildungskraft, sondern auch der Sprache. Hier aber kamen das eine oder andere von zwei Gesetzen der Sprache in Frage, von denen das eine will, daß man jeweils wie die Menschen der gleichen geistigen Klasse sich ausdrückt und nicht wie die der gleichen Ursprungskaste“ (III 310/ 311).³⁰⁹ – « Car les lois générales qui règlent la perspective dans l’imagination s’appliquent aussi bien aux ducs qu’aux autres hommes, mais celles du langage. Or, l’une ou l’autre de deux lois du langage pouvaient s’appliquer ici, l’une veut qu’on s’exprime comme les gens de sa classe mentale et non pas de sa caste d’origine » (G II 77). Es ist interessant zu sehen, dass Proust diese die Kunst betreffenden Gesetzmäßigkeiten in juristischer Sprache abhandelt. Auch dieser Gesichtspunkt wird am Ende der vorliegenden Schrift nochmals aufgegriffen. Immerhin vor den strengen Gesetzen der Kunst sind alle Menschen gleich und dürfen, bei entsprechendem Talent und mit literarischem Stilvermögen ausgestattet, auch aus bescheidensten Anfängen auf Unsterblichkeit hoffen:³¹⁰ „Die Klassen des Geistes nehmen keinerlei Rücksicht auf die Geburt“ (VII 68). – « Les classes de l’esprit n’ont pas égard à la naissance » (TR I 58). Denn dass Proust sich den größten Schriftstellern Frankreichs, ja womöglich in der Geschichte der französischen Literatur ungeachtet seines erst aufkeimenden Ruhms ebenbürtig sah, legt eine Bemerkung in der Recherche über das Verhältnis der eigentümlichen Abfolge literarischer Ausnahmeerscheinungen nahe, die eine Gesetzmäßigkeit beobachtet, in der es wohl wegen des kompetitiven und rivalisierenden Moments nicht von ungefähr im übertragenen Sinne um eine Herrschaft geht, wie an jener Stelle der hypothetischen Gleichsetzung Françoises mit Tacitus, von der noch eingehend die Rede sein wird (G II 244): „Ein Werk ist selten schon ganz verstanden und allgemein durchgesetzt, ohne daß das
Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143 f. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 15: „Der große Schriftsteller ist der, der neue Aspekte der Gesamtwirklichkeit erlebt und sie so zwingend und fordernd erlebt, daß sie für ihn einen Ewigkeitsgehalt annehmen.“ Hervorhebung nur hier. An späterer Stelle spricht er vom „Ewigkeitshauch der geistigen Schönheit“ und erkennt bei Proust eine „ewigkeitshaltige Harmonie“ (S. 132).
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eines anderen, einstweilen noch unbekannten Schriftstellers bereits begonnen hat, bei einigen besonders empfänglichen Geistern einen neuen Kult an die Stelle dessen zu setzen, dessen Herrschaft erst beinahe fest begründet ist“ (III 432).³¹¹ – « Une œuvre est rarement tout à fait comprise et victoreuse, sans que celle d’un autre écrivain, obscure encore, n’ait commencé, auprès de quelques esprits plus difficile, de substituer un nouveau culte à celui qui a presque fini de s’imposer » (G II 199). Zu den ‚besonders empfänglichen Geistern‘ könnte aus Prousts Sicht durchaus jener Francis Jammes gehören, der dem seinerzeit noch wenig bekannten oder zumindest tendenziell unterschätzen Proust schon jene sprachliche Altersreife zuerkannte, die dieser selbstzufrieden paraphrasierte als « une phrase à la Tacite ». In gewissem Sinne bildet Francis Jammes’ tiefblickende Formulierung einen Beleg für eine bemerkenswerte Stelle der Recherche, welche den hellsichtigen Zeitgenossen zur Nachwelt in Beziehung setzt und zugleich eine Selbstverpflichtung begründet: „Wenn also das Werk etwas zurückgehalten und erst der Nachwelt bekanntgegeben würde, so wäre diese für das Werk nicht eine eigentliche Nachwelt, sondern eine Versammlung von Zeitgenossen, die inzwischen nur um fünfzig Jahre älter geworden sind. Daher muß der Künstler (…) wenn er will, daß sein Werk seinen Weg macht, es da, wo er genügend Tiefe vermutet, aussetzen und in eine ferne, reicher erfüllte Zukunft hinüberschiffen lassen. Und doch ist es auch mit dieser Zukunft so, daß, wenn auch falsche Beurteiler eben darin irren, daß sie ihr nicht Rechnung tragen, es doch bei den guten zu einer gefährlichen Hemmung werden kann, wenn sie es zu sehr tun“ (II 140/141).³¹² – « Si donc l’œuvre était tenue en réserve, n’était connue que de la postérité, celle-ci, pour cette œuvre, ne serait pas la postérité mais une assemblée de contemporains ayant simplement vécu cinquante ans plus tard. Aussi faut-il que l’artiste (…) s’il veut que son œuvre puisse suivre sa route, la lance, là où il y a assez de profondeur, en plein et lontain avenir. Et pourtant ce temps à venir, vraie perspective des chefs-d’œuvre, si n’en pas tenir compte est l’erreur des mauvais juges, en tenir compte est parfois le dangereux scrupule des bons » (JF I 141). Wie sehr diese Einschätzung taciteischem Gedankengut entspricht, wird sich am Ende der vorliegenden Untersuchung zeigen, wenn eine im Hinblick auf die Nachwelt tendenziell übereinstimmende Bemerkung vertieft wird: ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61).³¹³
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Grundlegend Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143 f.
III. « Quant aux historiens, aux auteurs dramatiques, au nommé Tacite » Die erste und lediglich beiläufige Erwähnung des Tacitus in Prousts literarischem Werk findet sich im unvollendet gebliebenen ‚Jean Santeuil‘ (JS 480/481). Zuvor allerdings hat Proust in einem Aufsatz aus seiner Gymnasialzeit im Rahmen des Französischunterrichts ein weiteres Mal Tacitus zitiert. Neben einigen Anspielungen auf französische Klassiker, wie Corneille und Racine,³¹⁴ nennt er ihn am Schluss ausdrücklich beim Namen und folgert: „Tacitus hat gesagt, es sei der menschlichen Natur eigen, denjenigen zu hassen, den man verletzt hat.“³¹⁵ – « Tacite a dit qu’il est dans le propre de la nature humaine de haïr celui que l’on a offensé ».³¹⁶ Im Original lautet das aus dem Agricola stammende Wort:³¹⁷ ‚pro-
Zu ihm aufschlussreich Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im Suhrkamp-Verlag (stw 587), S. 87: „Er glaubt, sie etwa bei Racine in der Kühnheit familiärer Wendungen zu entdecken, die die ebendige Syntax des 17. Jahrhunderts widerspiegeln.“ Hervorhebung nur hier. Marcel Proust, Werke. Frankfurter Ausgabe I 3, S. 13 (Übersetzung Henriette Beese). Hervorhebung verdient in diesem Zusammenhang eine wichtige Begriffsprägung von Karlheinz Stierle, Proust und Sainte-Beuve, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 58, 71, wonach Sainte-Beuve „als erster einen Blick für das hatte, was man die negative Anthropologie der französischen Klassik nennen könnte, eine Kunst des Fragens nach dem Menschen, die der Undurchsichtigkeit der menschlichen Natur Rechnung zu tragen sucht.“ Hervorhebung nur hier. Stierles Folgerung, dass „Proust diese[r] Einsicht Sainte-Beuves vielleicht seine tiefste, ihm selbst wohl verborgenste Anregung verdankt,“ ist besonders wichtig, weil sie wohl auf einen in dieser Hinsicht von früh auf besonders wahrnehmungsempfänglichen Geist traf, wie die von Proust zitierte Tacitus-Stelle aus Agr. 42.3 zeigt. Denn diese zielt durchaus ebenso ins Schwarze der menschlichen Natur, wie es nach Nietzsche bezeichnend für La Rochefoucauld war (Menschliches Allzumenschliches, I 36; dazu auch Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020) – eine Beobachtung, die nicht von ungefähr eine wesentliche Rolle spielt für die nähere Ausarbeitung der Theorie von Karlheinz Stierle, Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil, in: Französische Klassik. Theorie, Literatur, Malerei (Hg. Fritz Nies/Karlheinz Stierle), Romanistisches Kolloquium III, 1985, S. 81. Gerade die Zielrichtung ins Schwarze der menschlichen Seele, deren sichtbarer Ausdruck die zitierte Agricola-Stelle ist, macht die taciteische Anthropologie aus. Näher Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 564. Marcel Proust, Devoir de français, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 11. Unzutrefffend die Frankfurter Ausgabe (I 3, S. 536 Anmerkung 4): „Zitat nach Tacitus, Dialogus de oratoribus (Dialog über die Redner), Kap. XLII“. https://doi.org/10.1515/9783110647440-004
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III. « Quant aux historiens, aux auteurs dramatiques, au nommé Tacite »
prium humani ingenii est, odisse quem laeseris‘ (Agr. 42.3).³¹⁸ In der Recherche wird die demgegenüber naheliegende Einsicht vergleichsweise vordergründig mitgeteilt und die Pointe weggelassen: „Der Traum, den jeder am glühendsten hegt, ist der, den Menschen zu demütigen, der ihn beleidigt hat“ (II 59).³¹⁹ – « Votre rêve le plus ardent est d’humilier l’homme qui vous a offensé » (JF I 58). Das Agricola-Wort ist auf Domitian gemünzt, der Tacitus’ Schwiegervater um seine militärischen Erfolge beneidete, womöglich sogar vergiften ließ, wie Tacitus geschickt insinuiert (Agr. 43.2). Es ist jenes Werk, in dem auch das im nächsten Kapitel zu behandelnde und die Diktaturerfahrung unter Domitian reflektierende ‚grande mortalis aevi spatium‘ seinen Platz hat (Agr. 3.2). Das spricht dafür, dass Proust im Lateinunterricht den Agricola übersetzt hat; möglicherweise nicht von Anfang bis Ende, aber wahrscheinlich wenigstens das Proömium und die Schlusskapitel. Bemerkenswert ist aber vor allem, welche durchaus eigenständige Richtung der Gymnasiast dem Tacitus-Zitat gegeben hat: „Er hat ihn nicht verletzt, doch seine Eigenliebe war durch ihn verwundet worden.“³²⁰ – « Il ne l’avait pas offensé, mais son amour-propre en avait été blessé. »³²¹ Das ist zumindest eine Analogie zu dem taciteischen Gedanken, und zwar eine durchaus tragfähige, wie der Sinnzusammenhang beweist, in dem die Stelle innerhalb des Agricola angesiedelt ist (Agr. 42.3). Denn Domitians Hass auf Agricola nimmt seinen Ursprung in dessen Unterwerfung Brittaniens, während jener außer einem armseligen, weil fingierten ‚Triumph‘ gegen die Chatten nichts vorzuweisen hatte, der noch dazu künstlich aufgebauscht wurde, indem Statisten mit Perücken scheinbar Unterworfene spielen mussten.³²² Eine durch den konzessiven Einschub mit seiner Antithese ungleich subtilere Fortführung des zitierten Wortes aus der Gymnasialzeit findet sich in der Recherche: „Und da selbst bei Menschen höherer Artung, auch wenn sie über den Dingen zu stehen scheinen, die Eigenliebe kleinlich bleibt, war er daraufhin mir gegenüber verstimmt“ (II 181).³²³ – « Et comme même chez les êtres supérieurs, au moment où ils semblent planer avec vous
Dazu Ronald Syme, Tacitus, 1958,Vol. II, S. 541: “The senatorial life predisposed an historian to universal suspicion about human motives”. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Marcel Proust, Werke. Frankfurter Ausgabe I 3, S. 13 (Übersetzung Henriette Beese). Marcel Proust, Devoir de français, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 11. Dieter Timpe, Die Germanen als Gegenbild zur römischen Dekadenz? Die Germania des Tacitus, in: Antidoron: Studi in onore di Barbara Scardigli Forster, 2007, S. 419, 437, wonach „auf seinen (sc. Domitians) Chattentriumph in Wirklichkeit der Vorwurf anspielt, irreale Siege gefeiert zu haben“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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au-dessus de la vie, l’amour-propre reste mesquin, il fut pris d’une mauvaise humeur contre moi » (JF I 183). Das Interessanteste an Prousts frühem Tacitus-Zitat ist also sein bereits früh aufscheinendes psychologisches Einfühlungsvermögen und sein Sinn für diese auf den ersten Blick kontraintuitive Einsicht,³²⁴ die Tacitus anthropologischen Pessimismus zur Geltung bringt.³²⁵ Denn unter allen Sentenzen des taciteischen Frühwerks ist die von Proust zitierte wohl diejenige, welche die größte Ähnlichkeit mit den Maximen La Rochefoucaulds aufweist; nicht zuletzt mit der Tendenz der verletzten Eigenliebe, für die Proust hier eine entsprechende Geltung des TacitusWortes annimmt. Dass zur Schau getragene Bescheidenheit mitunter die höchste Form der Eitelkeit und Eigenliebe darstellt, verdeutlicht Proust am Beispiel Françoises: „sie, die so demutsvoll, so bescheiden und freundlich war, solange man ihrer Eigenliebe schmeichelte“ (II 616).³²⁶ – « Elle humble, elle modeste et charmante, quand son amour-propre était flatté » (JF III 174). Von hier ist es nicht weit zur anmaßenden Bescheidenheit, mit der Tiberius auf eine Ehrung des Augustus verzichtet, die er im Interesse der eigenen Machtentfaltung verhindern wollte, wie Tacitus durch ein Oxymoron verdeutlicht: ‚adroganti moderatione‘ (ann. 1.8.5).³²⁷ Hieran erkennt man beispielhaft die Nähe gewisser taciteischer Sentenzen zur französischen Moralistik, in der Herrschaftsverhältnisse und das Recht des Stärkeren zum Ausdruck kommen, wenn man nur an die Fabeln La
Jean Cousin, Rhétorique et psychologie chez Tacite, Revue des Études Latines 29 (1951), 228; deutsche Übersetzung von Wynfrid Stiefel: Rhetorik und Psychologie bei Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 104, wonach „es das Hauptanliegen der taciteischen Rhetorik ist, die geheimen Kräfte der Menschlichen Seele ans Licht zu bringen“. Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 388 Fußnote 208, erblickt in dieser Stelle mit Recht ein Beispiel für den Pessimissmus des Senators, „dessen tiefem Blick in die Abgründe der menschlichen Bosheit kein Früherer gleichgekommen ist.“ – Die Richtigkeit dieser Einschätzung zeigt die zeitlich vorangehende Beobachtung von Seneca, De ira 2. 33. 1: ‚quos laeserunt, et oderunt‘. Ihr fehlt die schneidende Schärfe des Historikers. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Manfred Fuhrmann, kommentiert die beiden Worte in den Anmerkungen der TusculumAusgabe (Hg. Erich Heller), 3. Auflage 1997, S. 823 Anmerkung 28: „Die Anmaßung sieht T darin, daß Tiberius durch seinen Verzicht auf die Augustus zugedachte Ehrung den Anspruch, eine solche selbst anzuordnen, deutlich macht und gleichzeitig in dem Antrag eine persönliche Ehrung für sich sehen will.“ – Aus der Erforderlichkeit dieser ungeachtet ihrer scheinbaren Umständlichkeit präzisen Erläuterung der beiden taciteischen Worte lässt sich ersehen, wie voraussetzungsvoll gerade die ersten Kapitel der Annalen sind und wie dicht der Stil des Tacitus ist. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 301 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet, wie weiter unten noch zu zeigen ist, wie sehr auch Proust daran gelegen war, dass sein Werk als ‚dicht‘ verstanden werde.
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Fontaines denkt,³²⁸ der ja, wie erinnerlich, neben Tacitus zu jenen Autoren gehörte, deren Lektüre Proust einem Mitschüler anempfohlen hatte.³²⁹ Eine bestimmte Form der Menschenbeobachtung und Seelenschau, durch die äußerlich unsichtbare Abhängigkeiten sichtbar werden, hat Proust offenbar von früh auf verinnerlicht und später vollendet ausgeformt. Auch die Aufnahme solcher paradox anmutender Sentenzen, wie der im Frühwerk zitierten aus dem Agricola (42.3), prägten offenbar seine von Francis Jammes beobachtete ‚phrase à la Tacite‘. Gewiss darf diese Schülerarbeit, die somit eher eine Stilübung darstellt, nicht überbewertet werden. Sie veranschaulicht freilich neben der grundsätzlichen Vertrautheit zumindest mit dem taciteischen Frühwerk paradigmatisch, welche Art von Sentenzen des Tacitus in seinem Inneren eine gewisse Resonanz entfalten. So lässt sich festhalten, dass ein ernst zu nehmender werkimmanenter Hinweis auf Tacitus erst im Jean Santeuil erfolgt. Dieser trifft einen gewissen Rustinlor, seinen alten Studienaufseher aus der Gymnasialzeit, eines Tages zufällig wieder. Bereits zu dieser Zeit hatte sich Rustinlor, der sich damals noch als Dichter sah, Jean Santeuil gegenüber herablassend und unqualifiziert über die lateinischen Klassiker geäußert: „Der Dichter Rustinlor, Studienaufseher im HenriQuattre, und sein Lehrer Xelnor vermochten gemeinsam Jean zu überzeugen, daß seine Skrupel jeder Grundlage der Vernunft entbehrten und daß es klüger sei, schöne Gedichte zu lesen oder sogar – so setzte Monsieur Rustinlor mit breitem Lachen und jedes einzelne Wort betonend hinzu – in horizontaler Lage auf einer Bank das göttliche Nirwana zu genießen, als Ovid und Horaz zu interpretieren, die doch ‚eher arme Tröpfe‘ seien“ (JS I 114).³³⁰ – « Le poète Rustinlor, maître d’études au lycée Henri-IV, parvint à persuader à Jean ques es scupules n’étaient pas raisonnables et qu’il était plus intelligent de lire de beaux vers, ou même, ajoutait-il avec un rire énorme en détachant les mots, ‚de goûter horizontalement sur un banc
Grundlegend Patricia Oster-Stierle, Poesie als Vollendung der Moralistik. Die Fabeln La Fontaines, in: Moralistik. Exploration und Perspektiven (Hg. Rudolf Behrens/Maria Moog-Grünewald), 2010, S. 223; dies., „,La région fluviatileʻ de la mémoire“ und ihre filmische Transposition, in: Marcel Proust, Bewegendes und Bewegtes (Hg. Matei Chihaia/Katharina Münchberg), 2013, S. 81, 82, zu «Le Loup et l’agneau » (zu dieser Fabel aus juristischer Sicht Jens Petersen, Recht und Macht in den Fabeln La Fontaines, Festschrift für Otmar Seul, 2014, S. 384); Karlheinz Stierle, Poesie des Unpoetischen. Über La Fontaines Umgang mit der Fabel, Poetica 1 (1967), 508 (= Montaigne und die Moralisten. Klassische Moralistik – Moralistische Klassik, 2016, S. 207). Marcel Proust, Écrits de Jeunesse 1887– 1895 (Textes rassemblés, établis, présentés et annotés par Anne Borel), S. 81 f. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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le nirvâna divin‘ que d’expliquer Ovide ou Horace qui étaient‚ ,d’assez pauvres cocos‘ » (JS 237).³³¹ Man muss dies vorausschicken, um im Hinblick auf Jean Santeuil ermessen zu können, inwieweit seine Bestimmung zum Künstler zumindest auch von den Eindrücken abhängt, die er von seiner Außenwelt empfängt und an denen sich sein Künstlertum bildet. Dann nämlich lässt sich ersehen, warum die im Folgenden zu behandelnde, scheinbar ganz beiläufige Erwähnung des Tacitus neben anderen Schriftstellern in Jean Santeuils Innenwelt etwas auslöst, das für seinen künstlerischen Werdegang bestimmend wird. Es geht um eine Entgegensetzung von vita activa und vita contemplativa, deren letztere Proust wohl nicht von ungefähr am Beispiel von Victor Hugos ‚Contemplations‘ verdeutlichen, die Jean Santeuil erfolglos durch seine Mutter nahegebracht werden sollten:³³² „In ihrem Bemühen, ihrem Sohn Liebe zu den ‚Contemplations‘ von Victor Hugo oder zu Corneilles ‚Horace‘ einzupflanzen, erlitt Madame Santeuil vollkommen Schiffbruch“ (JS I 68).³³³ – « Mme Santeuil échoua complétement dans ses efforts pour faire aimer à son fils Les Contemplations de Victor Hugo et Horace de Corneille » (JS 247). Von den ‚Contemplations‘ wird weiter unten noch zu handeln sein, weil sie im Vorwort auf Tacitus’ grande mortalis aevi spatium Bezug nehmen. Wir werden dort feststellen, dass just der den Zeitraum eines vermeintlichen Vierteljahrhunderts betreffende inhaltliche Fehler, der Proust in der ‚Prisonnière‘ unterlaufen zu sein scheint, auf das Vorwort der ‚Contemplations‘ Victor Hugos zurückgehen dürfte. Selbst wenn also die zuletzt zitierte Bemerkung aus dem ‚Jean Santeuil‘
Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 40, zeigt am Beispiel der Recherche in einer wohl nicht von ungefähr an Martin Heidegger, Sein und Zeit, 1927, erinnernden Diktion, dass Ovids Einfluss auf Proust kaum überschätzt werden kann: „Die mythische Zeit der Namen weicht der alltäglichen Zeit, in der die Namen zu Worten verblaßt sind. Dies ist eine Grundfigur von Marcels Erfahrung in die Geworfenheit in die Zeit. In ihr kehrt eine poetische Grundvorstellung zurück, die sich in aller Klarheit wohl erstmals in Ovids Metamorphosen findet. Fast alle Metamorphosenerzählungen Ovids bewegen sich an der dramatischen Stelle des Umschlags von mythischem Namen in das alltägliche Wort oder in anderer Richtung.“ Hervorhebung nur hier. Dementsprechend kann das RustinlorZitat ebenso wie dessen Geringschätzung des Tacitus gerade nicht als Auffassung Jean Santeuils oder gar Prousts missverstanden werden. Siehe auch Jürgen Paul Schwindt, Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft.Vorspiel: Die Jagd des Aktaion (Ovid, Metamorphosen 3, 131– 259), 2016; Melanie Möller, Ovid, 2016; Vittorio Hösle, Ovids Enzyklopädie der Liebe, 2020. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 70, bemerkt im Hinblick auf Proust etwas, das sich womöglich in diesem unvollendeten Frühwerk ansatzweise ankündigt, auch wenn man sich vor einer schablonenhaften Übertragung hüten muss: „Die ‚Poiesis‘ wurzelt bei ihm in der vita contemplativa. Das tätige Leben erscheint als störend, ja als minderwertig.“ Hervorhebung auch dort. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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autobiographisch gefärbt sein sollte und Proust selbst bei aller Bewunderung Hugos gewisse Vorbehalte gegenüber seinen ‚Contemplations‘ gehabt haben sollte, so würde dies nichts gegen die tiefgreifende Wirkung besagen, die ihre Lektüre auf ihn ausübte, auch wenn er sich, wie gegen Ende der vorliegenden Abhandlung noch zu zeigen sein wird, am Schluss der Recherche in einer wesentlichen Frage seiner Kunsttheorie gegen Hugos ‚Contemplations‘ stellt (TR II 241). Beim zufälligen Wiedersehen nach langen Jahren fragt Jean Santeuil, der ihn immer noch für einen passionierten Dichter hält, woran er arbeite. Rustinlor nimmt dies zum Anlass, seinen zwischenzeitlichen Gesinnungswandel mit fast zelotischem Eifer zu offenbaren und erklärt nun nicht weniger verächtlich:³³⁴ „Er sagte, er schreibe keine Gedichte mehr, sondern beschäftige sich mit unendlich viel wichtigeren und passionierenderen Dingen, und setzte dann in lebhaftem Ton, lachend und die noch immer lächelnde Stirn runzelnd, mit einer wohlwollenden, aber scherzhaft grimmigen Miene und den Finger hebend hinzu: ‚Nämlich mit Politik, Lebensgenuß und Radfahren!‘ Seiner Meinung nach war das – und nicht die ‚Literatur‘– etwas Wirkliches, da die Literatur ja nur versuche, das nachzubilden, was diese Dinge einem tatsächlich schenkten, nämlich wahrhaft erregende Erlebnisse. ‚Sicher liebe ich noch immer den alten Victor Hugo, sagte er zu Jean, aber es liegt mehr Poesie darin, in flottem Tempo durch die Wälder von Vincennes zu fahren, wofern man nur einigermaßen in Form ist oder das Lager einer gewissen Dame zu teilen, die hinter der Trinité wohnt, als Werke wie die ‚Contemplations‘ oder die ‚Feuille d’Automne‘ zu lesen. Und was die Historiker und Dramenschreiber betrifft, den sattsam bekannten Tacitus oder einen gewissen Shakespeare oder auch den Herrn Balzac, so haben sie niemals etwas dargestellt, was so eindrucksvoll wäre wie das, was sich in diesem Augenblick zuträgt. Gehen Sie nur ins Palais de Justice, mein Lieber, in die Kammer, und betrachten Sie dort Esterhazy, studieren Sie einmal diese ganze Geschichte mit Lemercier-Picard. Wenn Sie das Treiben der Menschheit kennenlernen wollen, so garantiere ich Ihnen, daß Sie es dort finden, und zwar, wie es wirklich ist, und dazu Leidenschaft, Leidenschaften – kurz alles, was Sie suchen‘“ (JS I 374).³³⁵
Milton Hindus, A Reader’s Guide to Marcel Proust, 1962, S. 208, beschreibt die Art Rustinlors treffend und übersetzt anschaulich: “It is Rustinlor who first brings up the subject of the Dreyfus Case when he says to Jean in his characteristically affected manner: ‚As to the historians and the dramatists, that fellow Tacitus, that chap called Shakespeare, or Messire Balzac, they never printed anything half so thrilling as what is happening in this moment.” Hervorhebung nur hier. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 201 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet über Prousts persönliche Anteilnahme: „Ein Ereignis, das sehr viel Spuren bei ihm hinterlassen hat, war die Affäre
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– « Il dit qu’il ne faisait plus de vers, qu’il s’occupait de choses infiniment plus réelles et passionantes, et d’un ton sentencieux, en riant et en fronçant ses sourcils rieurs d’un air débonnaire et plaisamment féroce, il ajouta en levant le doigt: ‚À savoir la politique, la débauche, et la bicyclette.‘ D’après lui, c’était cela, et non la littérature, ce qu’il y a de réel, puisqu’elle essaye seulement d’imiter ce que ces choses-là donnent, les vraies émotions de la vie. ‚Sans doute j’aime toujours le père Hugo, dit-il à Jean, mais il y a plus de poésie à traverser en bonne allure le bois de Vincennes par un temps potable, pour peu qu’on soit un peu en forme, ou dans la couche de certaine damoiselle qui habit derrière la Trinité, que dans toutes Les Contemplations et Les Feuille d’automne. Et quant aux historiens, aux auteurs dramatiques, au nommé Tacite ou à un certain Shakespeare ou au sieur Balzac, ils n’ont jamais rien peint de si fort que ce qui se passe en ce moment. Allez au Palais de Justice, mon cher, à la Chambre, regardez Esterhazy, étudiez toute cette histoire (Mercier)-Picquart. S’il vous faut de l’humanité, je vous réponds que vous en trouverez là, et de la vraie, et de la passion, et des passions, et tout ce que vous voudrezʻ » (JS 480/481). Wenn man einmal davon absieht, dass der Sprecher durch die schnöde Überheblichkeit charakterisiert wird, mit der er drei der größten Schriftsteller aller Zeiten abkanzelt, dann bleiben gleichwohl einige Denkwürdigkeiten bestehen, die sich in dieser Aussage spiegeln. Es ist wohl kein Zufall, dass anlässlich der diesem Wort immanenten Zusammenführung von Tatsachenberichten des Historikers und fiktionalen Stoffen der Dramatiker und Romanciers gerade diese drei beispielhaft genannt werden.³³⁶ Balzacs Einfluss ist in der Recherche ohnehin allenthalben zu spüren.³³⁷ Dass Tacitus – obgleich Historiker, aber eben kein nur
Dreyfus. Gerade von ihm hätte man annehmen können, daß er diese Kämpfe fürchten und sich von ihnen fernhalten würde. Aber wie er mir erzählte, hat er sich mit aller Macht in sie hineingestürzt und an allen Gerichtsverhandlungen teilgenommen. Er rühmte den Mut von Émile Zola und allen Verteidigern von Dreyfus. ‚Denken Sie mal, Céleste, ich bin ins Gefängnis Cherche-Midi gegangen und habe Bücher für Oberst Picquart abgegeben, den man dort eingesperrt hatte wegen seiner Hartnäckigkeit, die Wahrheit über die Affäre herauszubringen und Dreyfus’ Unschuld feststellen zu lassen.‘ Nach dem, was er mir sagte, empörte ihn wie immer am meisten, daß er sofort Lüge und Ungerechtigkeit bei dem Prozeß und der Verurteilung erkannt hatte“. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 10, verdeutlicht das im historischen Vergleich mit anderen Geschichtsschreibern bezogen auf Tacitus so: „Hat durch solche Züge (sc. ‚Retouche der geschichtlichen Wahrheit – angebracht um der historischen Wirkung willen‘) bei manchem der anderen antiken Historiker, mit denen sie Tacitus teilt, die Geschichtsschreibung romanhaftes Gepräge erhalten, so hat man für seine Kunst nicht ohne Grund das Dramatische in Anspruch genommen“. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 140, belegt dies mit Beispielen: «L’œuvre de Proust, c’est une espèce de Comédie humaine. Qui le conteste? L’auteur lui-même en est
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die Tatsachen trocken aneinanderreihender Annalist³³⁸ – beispielhaft genannt wird, dürfte, wie weiter oben bereits angedeutet, an seiner dramatischen Kraft liegen, die mit Shakespeare verglichen worden ist.³³⁹ In rhetorischer Hinsicht ist es wohl die betonte Gleichgültigkeit gegenüber dem genannten Dreigestirn, die verdeutlichen soll, warum beispielsweise der Dreyfus-Fall seinesgleichen sucht.³⁴⁰ Auf diesen Fall spielt Rustinlor mit seinem Imperativ an, ins Palais de Justice zu gehen. Allerdings erschließt sich nicht ohne weiteres, warum Rustinlor in seiner hochfahrenden Rede zunächst die Historiker im Allgemeinen nennt (‚aux historiens‘), dann die Dramatiker (‚aux auteurs dramatiques‘), und die daraufhin, gleichsam pars pro toto, personalisiert: Tacitus als Historiker und Shakespeare als Dramatiker.³⁴¹ Der Grund hierfür und überhaupt für die ausdrückliche Nennung des Tacitus in diesem Zusammenhang, insbesondere in Verbindung mit Shakespeare und Balzac, dürfte in einer darstellerischen Besonderheit liegen, die, wie so oft bei Proust, auf einem Parallelismus in Verbindung mit einem Paradoxon gründet. Denn man könnte bei unvoreingenommener Betrachtung annehmen, dass gerade im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre einer der größten antiken Historiker deswegen aufgerufen wird, weil er für strenge Objektivität und Unparteilichkeit steht.³⁴² Dann hätte es näher gelegen, beihautement conscient. Prédilections balzaciennes de plusieurs de ses personnages: le duc de Guermantes Gilberte lit La fille aux yeux d’ or Charlus: ‘la mort de Lucien ès Rubempré dans Splendeurs et misères’ (S. et G., III, p. 127), une clé.» Stichwortartig fährt er an späterer Stelle fort: «Avec Balzac, on fait naturellement appel à Saint-Simon. Proust est le peintre de la société, – c’est peut-être le côté le plus durable de son œuvre … Rôle des salons des Guermantes (chez le nouveau Saint-Simon).» Hervorhebungen auch dort. – Bemerkenswert ist, dass auch Syme, der als weltweit führender Tacitus-Kenner die Vergleiche der Darstellung des Historikers mit der Malerei natürlich genauestens gekannt hat, diese Metapher seinerseits auf Proust anwandte. Paradoxerweise gilt daher wohl auch für ihn dasjenige, was Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 391, über Proust sagt: „Proust gibt Gesichte, Schauungen, aber er will sie abgehoben vom Sehenden, er schildert wie der Historiker (nicht der Annalist), der eine weit hinter ihm zurückliegende Materie behandelt“. Hervorhebung nur hier. Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 13 f., paraphrasiert eine tragische Entwicklung innerhalb der Annalen und resümiert: „Dann folgt das fürchterliche Ende des einsam Gewaltigen, kurz und abrollend, wie der fünfte Akt einer shakespearschen Historie“. Hugo Friedrich, Das antiromantische Denken im modernen Frankreich, 1935, zeigt, wie dieser Fall bis ins zwanzigste Jahrhundert fortwirkt. Stephen Greenblatt, Der Tyrann. Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert, 2018, veranschaulicht dies eindrucksvoll. – In diesem untrüglichen Gespür für die vielfältigen Mechanismen und Erscheinungsformen der Macht bis in den emotionalen Bereich könnte übrigens auch eine Entwicklungslinie zu sehen sein, die Tacitus, Shakespeare und Proust verbindet. Joseph Vogt, Tacitus und die Unparteilichkeit des Historikers, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 39, zu dieser Frage, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird.
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spielsweise Thukydides zu nennen.³⁴³ Aber darum ging es dem Sprecher – und möglicherweise Proust selbst – gar nicht primär. Dass Tacitus im ‚Jean Santeuil‘ das einleitende Attribut des beispielhaft Bekannten zugewiesen wird, wenngleich mit einem mokanten Unterton (‚au nommé Taciteʻ), veranschaulicht nämlich das zumindest eingebildete Wissen um die mangelnde Objektivität dieses Historikers, aber eben auch, wie die Gleichsetzung mit Shakespeare offenbart, seine herausragende Fähigkeit, historisch wichtige und weltanschaulich aufgeladene Gegenstände mit einer solchen dramatischen Intensität darzustellen, dass sie eine Sogkraft entfalten, der sich der Leser bzw. Zuschauer schlechterdings nicht entziehen kann.³⁴⁴ Vielleicht ging es Proust – und womöglich dokumentiert gerade die Nennung des Tacitus im Frühwerk dies – weniger um die historische Wahrheit und die objektive Gerechtigkeit, die man Dreyfus widerfahren lässt oder verweigert, als vielmehr um ein zeitgeschichtliches Paradigma und Politikum, in dem sich die unterschiedlichen Wertungen und Weltanschauungen bestmöglich spiegeln, zumal da Ressentiments und Diskriminierungen aller Art wiederauflebten. Das legen vor allem die vielen Stellen innerhalb der Recherche zu Dreyfus nahe, der zum paradigmatischen Fall für die gesellschaftlichen Anschauungen wird:³⁴⁵ „Die Dreyfus-Affäre führte kurz nach der Zeit, als ich angefangen hatte, zu Madame Swann zu gehen, einen neuen derartigen Wandel herauf, und das Kaleidoskop wirbelte noch einmal seine
Zu ihm Ronald Syme, Thucydides. Lecture on a Master Mind, Proceedings of the British Academy 48 (1962), 39. Clarence W. Mendell, Dramatic Construction of Tacitus’ Annals, Yale Classical Studies 5 (1935), 3 ff., hat dies in überaus feinsinniger Weise herausgearbeitet, indem er akribisch veranschaulicht, auf welche Weise eine gewisse Gruppe von Senatoren in den Anfangskapiteln nacheinander mehr oder weniger kurze Auftritte haben, sich gleichsam dem Leser vorstellen, um dann an späterer Stelle immer wieder kunstvoll szenisch ins Blickfeld gerückt zu werden. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 262, veranschaulicht am Beispiel des Dreyfus-Falles den sozialen Wandel innerhalb der Recherche und den unmerklichen Annäherungsprozess der Weltanschauungen ihrer Protagonisten, so dass sich in diesem spektakulären Fall schließlich die Amalgamierung der einstmals auseinanderklaffenden Gesellschaftsklassen spiegelt: „Dreyfusards und Antidreyfusards stehen sich so fremd gegenüber, als lebten sie in getrennten Hemissphären (G. I. 184– 186). (…) Mit der Wendung im Dreyfusprozeß (…) wird aber auch schon der Riß im sozialen Gefüge sichtbar, der seine überalterte Ordnung ins Wanken bringen und die Vereinigung des scheinbar Unvereinbaren mit herbeiführen wird.“ Bei der Matinée der Guermantes schließlich lösen sich die Unterschiede schließlich nahezu auf, wie Jauß zeigt (S. 264): „In der Gesellschaft, die sich hier ein letztes Mal zusammenfindet und längst vergessen hat, daß und wieso sie einst der Dreyfusprozeß in zwei feindliche Lager spaltete (TR. II. 121), ist die Disjunktion all jener Welten und Weltordnungen zunichte geworden (…)“.
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kleinen bunten Rauten durcheinander“ (II 121/122).³⁴⁶ – « L’affaire Dreyfus en amena un nouveau, à une époque un peu postérieure à celle où je commençais à aller chez Mme Swann, et le kaléidoscope renversa une fois de plus ses petits losanges colorés » (JF I 121).³⁴⁷ Da die um diesen Fall rankenden Ansichten dort in ausgereifter Form erscheinen, seien einige herausgegriffen, bevor sich die Untersuchung wieder auf Tacitus’ Erwähnung im ‚Jean Santeuil‘ beschränkt: „Allerdings war das gesellschaftliche Kaleidoskop damals gerade auf Grund der Dreyfus-Affäre in einer Drehung begriffen, durch die die Juden auf den letzten Platz der sozialen Stufenleiter geschleudert wurden“ (III 248).³⁴⁸ – « Il est vrai que le kaléidoscope social était en train de tourner et que l’affaire Dreyfus allait précipiter les Juifs au dernier rang de l’échelle sociale » (G II 15).³⁴⁹ Dann wäre der jeweilige Standpunkt einer Person zu Dreyfus vor allem ein Mittel, diese zu charakterisieren, ihre Vorurteile und Überzeugungen zur Geltung zu bringen, die nicht um objektive Wahrheit oder historische Gerechtigkeit ringen, sondern im Gegenteil ihrerseits sorgsam gepflegt und für vernunftmäßig diktiert gehalten werden (III 431):³⁵⁰ „Wenn philosophische Systeme, die einen hohen Grad von Wahrheit enthalten, ihren Urhebern letzten Endes durch gefühlsmäßige Impulse diktiert werden, wie sollte man dann vermuten, daß in der Dreyfus-Affäre nicht Gründe dieser Art, den Argumentierenden unbewußt, der Vernunft gebieten?“ (III 392).³⁵¹ – « Quand les systèmes philosophiques qui contiennent les plus de vérités sont dictés à leurs auteurs, en
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zur Dreyfus-Affäre etwa Joseph Jurt, Politisches Handeln und ästhetische Transposition. Proust und die Dreyfus-Affäre, in: Marcel Proust. Lesen und Schreiben (Hg. Edgar Mass/Volker Roloff), 1983, S. 85; Joachim Kalka, Im Allgemeinen oder im Besonderen? Proust und die Affäre Dreyfus, PROUSTIANA XXX (2017), 134. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 188, macht allerdings darauf aufmerksam, dass auch der Erste Weltkrieg „sich in der Perspektivik der Erinnerung als radikalste Drehung des Kaleidoskops der Geschichte darstellt, in der sich alle Positionen des gesellschaftlichen Gefüges in absurder Weise verändern“. Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler), 2016, S. 13, 15 f., verdeutlicht dies in anschaulicher Zeitform am Beispiel des hier in besonderer Weise interessierenden Brichot und dessen Wetterwendigkeit: „Für den gelehrten Sorbonne-Professor Brichot ist die Affäre Dreyfus, bei der er selbst ein Anhänger des zu Unrecht beschuldigten Hauptmanns gewesen war, eine prähistorische Zeit“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 16, betont mit Recht den „philosophischen Anspruch von Prousts Werk“.
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dernière analyse, par une raison de sentiment, comment supposer que, dans une simple affaire politique comme l’affaire Dreyfus, des raisons de ce genre ne puissent, à l’insu du raisonneur, gouverner sa raison? » (G II 158).³⁵² Auch wenn Tacitus von philosophischen Systemen als konservativer Römer wenig hielt (Agr. 4.3),³⁵³ ähnelt die Auffassung einer seiner wenigen persönlich gefärbten Einsichten, die er im Zusammenhang mit dem Prozess gegen Piso formuliert, der es im Hinblick auf die Undurchschaubarkeit und Vielschichtigkeit der historischen Zusammenhänge mit der Dreyfus-Affäre aufnehmen kann, zumal da weltanschauliche Gesichtspunkte mitwirken:³⁵⁴ ‚mihi, quanto plura recentium seu veterum revolvo, tanto magis ludibria omnium mortalium cunctis in negotiis‘ (ann. 3.18.4).³⁵⁵ Entschieden lohnender als die Verfolgung des Dreyfus-Falles im ,Jean Santeuilʻ ist, wie die beiden letzten Proust-Zitate zeigen, daher seine durchgängige Präsenz in der Recherche, die hier zwar nicht erschöpfend behandelt werden kann, aber doch insoweit von Interesse ist, als darin Wertungen zum Ausdruck kommen, die man mit denen des Tacitus abgleichen kann. Seine Erwähnung im ‚Jean Santueil‘ fungiert mithin als werkimmanent verbindendes Element, das den Blick auf die Recherche freigibt und lenkt. Der Dreyfus-Fall, also jener Rechtsfall, der die damalige französische Gesellschaft gespalten hat wie kaum ein anderer und zu Émile Zolas berühmtem ‚J’accuse‘ geführt hatte (III 531), wird nicht zuletzt deswegen zum paradigmatischen Rechtsfall, weil sich in ihm nicht nur Gerechtigkeit oder Unrecht des Angeklagten spiegeln,³⁵⁶ sondern die für Proust nicht minder interessanten Weltanschauungen der unterschiedlichen Charaktere, aber auch die Bedeutung der öffentlichen Meinung und aller erdenklichen Vorurteile, die sich in entspre-
Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 201 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet, wie der Fall Proust persönlich belastete, weil der Riss auch durch seine Familie verlief: „,Es war entsetzlich‘, sagte er. ‚Ganz Frankreich war in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite die große Mehrheit derjenigen, die an die Lüge glauben wollten, und auf der anderen Seite eine Handvoll Menschen, die kämpfte, Madame Strauss war ebenso leidenschaftlich für Dreyfus wie ich; aber ich habe mich mit Freunden entzweit. Sogar Papa war gegen Dreyfus; wir haben uns gestritten; acht Tage lang habe ich kein Wort an ihn gerichtet‘“. Ronald Syme, The Political Opinions of Tacitus, in: Ten Studies in Tacitus, 1970, S. 119: “Philosophy was foreign and greek”. Robert von Pöhlmann, Die Weltanschauung des Tacitus, 2. Auflage 1913, S. 12, auch zum im Folgenden zitierten Dictum. Ronald Syme, Obituaries in Tacitus, The American Journal of Philology 79 (1958), 18, 26, erklärt: “The longer a man went on living, the more he was struck by the paradox of fame and survival, the operations of fate or hazard, the ludibria rerum mortalium cunctis in negotiis”. Dazu Antoine Compagnon, Truth and Justice, in: The Strange M. Proust (Hg. André Benhaim), 2009, S. 112.
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chenden Gerüchten unklarer Provenienz niederschlagen (III 431): „In diesem letzteren Punkt war auf alle Fälle der Ruf des Obersten als eines Dreyfus-Gegners schlecht fundiert, so wie es mit allen Gerüchten geht, die, aus unbekannter Quelle entstanden, sich um jeden großen Rechtsfall ranken“ (III 138/139).³⁵⁷ – « Sur ce dernier point, en tout cas le bruit de dreyfusisme relatif du colonel était mal fondé comme tout les bruits venu on ne sait d’où qui se produisent autour de toute grande affaire » (G I 141). Das wusste niemand besser als Tacitus, der das Gewicht der öffentlichen Meinung bei aller Geringschätzung des niederen Volkes durchaus richtig einschätzte (hist. 4.51.2; 2.96.2).³⁵⁸ Schlecht unterdrückte Gerüchte verbreiten sich um so stärker: ‚et male coercitam famam supprimentes augebant‘ (hist. 1.17.2). Die Kraft der öffentlichen Meinung hat Proust ebenfalls, und zwar noch auf andere, freilich mit dem soeben Bedachten in einem inneren Verweisungszusammenhang stehende Weise soziologisch klar erkannt und – für das Verhältnis zum Historiker Tacitus nicht unwichtig – mit der Geschichtsschreibung in Verbindung gebracht, wenn er über einen Aristokraten aus der Welt der Guermantes sagt, was im Ausgangspunkt nicht von ungefähr die sich immerfort selbstbestätigende Macht der Gewohnheit thematisiert:³⁵⁹ „Tatsächlich hatte er die Gewohnheit, stets das, was er hörte oder las, mit einem gewissen, bereits bekannten Text zu vergleichen, und seine Bewunderung war dann groß, wenn er zwischen beiden keinen Unterschied fand. Diese Geistesverfassung ist nicht uninteressant, denn, auf politische Unterhaltungen oder auf die Lektüre von Zeitungen angewendet, ist sie die Basis der politischen Meinungsbildung und bringt auf diese Weise große Begebenheiten in Fluß. (…) Wenn die Historiker mit einem gewissen Recht aufgegeben haben, die Taten der Völker und Könige zu erklären, so müssen sie die psychologische Verfassung des mittelmäßigen Individuums an dessen Stelle setzen“ (III 538).³⁶⁰ – « En effet, il avait l’habitude de comparer toujours ce qu’il entendait ou lisait à un certain texte déjà connu, et sentait s’éveiller son admiration s’il ne voyait pas de différences. Cet état d’esprit n’est pas négligeable car, appliqué aux conversations politiques, à la lecture des journeaux, il forme l’opinion
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Israel Shatzman, Tacitean Rumours, Latomus 33 (1974), 549. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 133, beobachtet am Beispiel zweier zentraler Figuren mit Recht, was sich auch an der folgenden Stelle im Hinblick auf Marcel zeigt, nämlich dass auch Proust der Tätigkeit der Historiker beträchtliches Interesse entgegenbringt: «Histoire et roman; l’œuvre elle-même de Proust offre des perspectives. M. de Charlus avait un goût prononcé pour l’histoire, de même Charles Swann (au moins, avant d’avoir fait la connaissance d’Odette)». Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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politique et par là rend possibles les grands événements. (…) Les historians, s’ils n’ont pas eu tort de renoncer à expliquer les actes des peuples par la volonté des rois doivent la remplacer par la psychologie de l’individu médiocre » (G III 37/38).³⁶¹ Auch wenn man meinen könnte, dass Tacitus für diese ‚psychologische Verfassung des mittelmäßigen Individuums‘ aufgrund seines Standesdünkels weniger Verständnis aufzubringen vermocht hätte,³⁶² bemerkt er doch gleich zu Beginn der Historien soziologisch hellsichtig, dass die von ihm äußerst herablassend so genannte plebs sordida Nero nachtrauere, obwohl oder gerade weil seine Verkommenheit mit Händen zu greifen war (hist. 1.4.3).³⁶³ Proust gibt eine in der conditio humana wurzelnde Begründung für derart fortwirkende gesellschaftliche Anschauungen: „Denn die Menschen wandeln sich nicht von heute auf morgen, sondern suchen in einem neuen Regime die Fortsetzung des alten, freilich in einer anderen Form, durch die man sich täuschen läßt und meint, es sei nicht mehr die alte Gesellschaft von vor der Krise“ (II 125).³⁶⁴ – « Car les hommes, ne changeant pas du jour au lendement, cherchent dans un nouveau régime la continuation de l’ancien, mais en le cherchant sous une forme différente qui permît d’être dupe et de croire que ce n’était plus la société d’avant la crise » (JF I 125). Abgesehen davon, dass danach selbst ein Prinz von Geblüt seinem geistigen Habitus entsprechend zu den von Proust sogenannten mediokren Individuen gehören kann (II 126), ist diese Stelle auch vom historiographischen Standpunkt des Tacitus aus betrachtet von besonderem Interesse, weil sie auf eine bisher wohl so noch nicht gesehene Weise einem überaus bedeutenden Selbstbekenntnis des römischen Historikers entspricht. An einer markanten Stelle seines Hauptwerkes Samuel Beckett, Proust, 1931 (S. 15 der von Marlis und Paul Pörtner übersetzten und durch Katharina Raabe und Werner Morlang überarbeiteten Ausgabe von 1989), beobachtet zutreffend: „Erinnerung und Gewohnheit sind Attribute des Krebses Zeit. Sie beherrschen noch die einfachste Proustsche Episode, und das Verständnis ihres Mechanismus muß jeder speziellen Analyse ihrer Anwendung vorangehen.“ Ebenso Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 25. Jean Cousin, Rhétorique et psychologie chez Tacite, Revue des Études Latines 29 (1951), 228; deutsche Übersetzung von Wynfrid Stiefel: Rhetorik und Psychologie bei Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 104, verweist allerdings auf das „besondere Augenmerk, das er auf den Gesichtsausdruck, auf die geheimen Empfindungen und Eingebungen des Unterbewußtseins richtet“. Friedrich Klingner, Die Geschichte Kaiser Othos bei Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 388, 396, erklärt: „Die ehemaligen Neronianer sind es, die auf Otho blicken, weil er wie Nero ist.“ Paul Ammann, Der künstlerische Aufbau von Tacictus, Historien I 12 – II 51, 1931, hat in seiner Berner Dissertation bereits die kunstvolle Architektonik weiter Teile der ersten beiden Historien-Bücher herausgearbeitet. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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hält er inne und gibt zu verstehen, dass ihm nur zu bewusst sei, dass das Meiste, das er bislang berichtet habe und noch berichten werde, vielleicht geringfügig und nicht erinnerungswürdig zu sein scheinen möge: ‚Pleraque eorum quae rettuli quaeque referam parva forsitan et levia memoratu videri non nescius‘ (ann. 4.32.1). Nach einem demgegenüber vielzitierten Satz, in dem Tacitus unter anderem sein Werk annales nostros nennt, was den heute gebräuchlichen Titel Annales mitgeprägt hat,³⁶⁵ gibt er in einer weiteren Litotes zu bedenken, dass es gleichwohl nicht nutzlos sein werde, jene beim ersten Hinsehen geringfügigen Dinge näher in den Blick zu nehmen, aus denen oft die Beweggründe großer Geschehnisse hervorgehen: ‚non tamen sine uso fuerit introspicere illa primo aspectu levia, ex quis magnarum saepe rerum motus oriuntur‘ (ann. 4.32.2).³⁶⁶ Nimmt man hinzu, dass Tacitus in der hier nicht zitierten Stelle, die zwischen den beiden wörtlich wiedergegebenen Aussagen liegt, unter anderem von in der Schlacht besiegten und gefangenen Königen handelt, also großen historischen Ereignissen mit ‚großen Männern‘, auf die sich Tacitus jedenfalls nicht ausschließlich konzentrieren zu wollen vorgibt, weil eben auch die scheinbar unbedeutenden Dinge den Lauf der Dinge maßgeblich änderten, dann entspricht dies nahezu passgenau dem, was Proust feststellt. Freilich setzt dieser Standpunkt etwas voraus, worüber Tacitus und Proust gleichermaßen verfügten, nämlich einen Scharfblick auf in die verborgenen unscheinbarsten Regungen der mehr oder minder wichtigen Handelnden. Diese Scharfsicht zeigt sich auch an dem berühmtesten Wort des zuletzt zitierten Kapitels der Annalen, in dem der Autor in einem seiner äußerst spärlichen Selbstzeugnisse über seine selbstauferlegte Ar Beatus Rhenanus in seiner Baseler Tacitus-Ausgabe (1519), der sich daneben auf annalium reor (ann. 3.65.1) bezieht. Entsprechendes dürfte gelten für ann. 13.31.1. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 25, nimmt die erstgenannte Stelle in Verbindung mit ann. 4.33 zum Ausgangspunkt einer Folgerung, die für den vorliegenden Zusammenhang von Interesse ist: „Gegen die eigentlich schon entschiedene Überwindung des alten Erziehungszieles durch die Leidenschaft dämonischer Bildgestaltung wird an beiden Stellen noch einmal angegangen, aber mit so viel Zugeständnis, daß wir unschwer erkennen, nach welcher Seite sich in der Geschichtsschreibung des Tacitus die Waage neigt: der künstlerische Drang hat über die erzieherische Absicht gesiegt.“ Hervorhebung auch dort. – Wir werden am Ende der vorliegenden Abhandlung sehen, auf welche Weise dieser ‚künstlerische Drang‘ bei Tacitus wie bei Proust letztlich die Oberhand behält. Jean Cousin, Rhétorique et psychologie chez Tacite, Revue des Études Latines 29 (1951), 228; deutsche Übersetzung von Wynfrid Stiefel: Rhetorik und Psychologie bei Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 104, 108, betont das rhetorische und psychologische Moment dieser Aussage, indem er mit gutem Grund das ‚introspicere‘ betont. – Auch wenn er Proust nicht berücksichtigt (dafür aber auf S. 111 Oscar Wilde), lässt sich dies doch auf ihn beziehen, weil Prousts besonderes Augenmerk gerade in jener Innenschau besteht, der im Lateinischen wohl am besten das ‚introspicere‘ entspricht.
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beit bemerkt, dass sie in einem eng bemessenen Bereich besteht und ruhmlos ist:³⁶⁷ ‚nobis in arto et ingloriosus labor‘ (ann. 4.32.2).³⁶⁸ Auch wenn diese Klage gewiss rhetorisch stilisiert ist und der schon als Redner hochgerühmte Verfasser entgegen dem ‚ingloriosus‘ sich seines bleibenden Nachruhms gewiss gewesen sein dürfte,³⁶⁹ schwingt vielleicht doch etwas von dem mit, was Proust für die Schöpfer großer Werke herausgearbeitet hat, obwohl es im Ausgangspunkt auch auf ihn selbst gar nicht zutraf, aber schließlich dennoch autobiographisch gemeint gewesen sein könnte, weil es den Kraftakt einer inneren Sammlung voraussetzt, die zum alles andere verdrängenden Werk ansetzt: „Ebenso sind diejenigen, die geniale Werke hervorbringen, nicht Menschen, die in dem feinsinnigsten Milieu leben, in der Unterhaltung glänzen, über die breiteste Kultur verfügen, sondern die, welche die Kraft gefunden haben, von einem gewissen Augenblick an nicht länger für sich zu leben, sondern ihre Persönlichkeit zu einem Spiegel zu machen, der ihr Dasein, mag es auch gesellschaftlich und in gewissem Sinne geistig betrachtet noch so mittelmäßig sein, reflektiert; denn das Genie besteht in solcher Kraft des Zurückstrahlens und nicht in der Qualität, die dem widergespiegelten Geschehen von sich aus innewohnt“ (II 170/171).³⁷⁰ – « De même ceux qui produisent des œuvres géniales ne sont pas ceux qui vivent dans le milieu le plus délicat, qui ont eu le pouvoir, cessant brusquement de vivre pour eux-mêmes, de rendre leur personnalité pareille à un miroir, de telle sorte que leur vie, si médiocre d’ailleurs qu’elle pouvait être mondainement et même, dans un certain sens, intellectuellement parlant, s’y reflète, le génie consistant dans le pouvoir réfléchissant et non dans la qualité intrinsèque du spectacle reflété » (JF I 171/172). Am Ende der vorliegenden Untersuchung soll sich zeigen, dass eben diese Reflexion und diese ingeniöse Kraft der gedanklichen Durchdringung der historischen Geschehnisse der Sache nach gemeint sind,
Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. I, S. 337, 320: “Tacitus in a strain of melancholy calls up for witness the annals of Republic Rome, with themes of splendor and wide horizon”. Katherine Clarke, In arto et ingloriosus labor: Tacitus’ Anti-history, Proceedings of the British Academy 114 (2002), 83. Zu dieser Stelle auch Eduard Norden, Die Antike Kunstprosa, Band I, 1915, S. 331. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 132, gibt zu bedenken, dass man über Tacitus’ Innenleben – mit der kuriosen Ausnahme seiner durch Plinius (Epistulae 1,6; 9,10) überlieferten Leidenschaft für die Wildschweinjagd – so gut wie nichts weiß: «On peut déduire (ou construire) les opinions politiques de Cornelius Tacitus, sénateur et consul, bien entendu. Que sait-on de sa vie intérieure – ou de son train de vie? Il n’y a qu’un détail qui ait surnagé. D’après son ami Pline le Jeune, Tacite aimait passionnément la chasse au sanglier. Qui l’aurait deviné?». John Anthony Crook, Legal Advocacy in the Roman World, 1995, S. 185 mit Fußnote 66, bringt die Stelle mit Tacitus’ Dialogus de oratoribus in Verbindung. Dazu auch Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 8. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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wenn Tacitus an einem nicht unmittelbar auf sich selbst bezogenen Beispiel scheinbar beiläufig kommentiert: ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (4.61).³⁷¹ Zum Verhältnis von Recht und Sitte, vor allem der Angst vor Neuerungen durch Gesetze, gibt es bei Proust im Zusammenhang mit der Dreyfus-Affäre eine weitere aufschlussreiche Stelle:³⁷² „Da Monsieur Bontemps aber einer der Urheber dieses Gesetzes war, erwies er sich als Patriot. In der Gesellschaft (und dieses soziale Phänomen ist im übrigen nur ein Einzelfall eines weit allgemeineren psychologischen Gesetzes) erregen Neuerungen, ob sie bedenklich sind, oder nicht, Grauen nur so lange, wie sie noch nicht assimiliert und in beruhigende Elemente eingebettet erscheinen. Für die Dreyfus-Gesinnung galt das gleiche wie für die Heirat Saint Loups mit der Tochter Odettes, eine Heirat, über die man sich zunächst gewaltig aufgeregt hatte“ (VII 59).³⁷³ – « M. Bontemps était, au contraire, un des auteurs de cette lois, c’était donc un patriote. Dans le monde (et ce phénomène social n’est d’allieurs, qu’une application d’une lois psychologique bien plus général), les nouveautés coupables ou non n’excitent l’horreur que tant qu’elles ne sont pas assimilées et entourées d’éléments rassurants. Il en était du dreyfusisme comme du mariage de Saint-Loup avec la fille d’Odette, mariage qui avait d’abord fait crier » (TR I 50). Dieser Gedanke findet eine aufschlussreiche Entsprechung in der bei Tacitus überlieferten Rede des Kaisers Claudius über die Verleihung des Bürgerrechts an bevorrechtigte Barbaren.³⁷⁴ Der historisch durchaus gebildete Claudius, der sich sonst mitunter außerordentlich täppisch aufführte, stellte in einer für seine Verhältnisse abgeklärten Weise dar, dass alles Alte einmal neu war. Auch dieses neue Gesetz werde einmal alt sein, und was man heute als vorbildliche Beispiele Grundlegend Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler), 2016, S. 13, 19 f., fasst einen kriegsbedingten und damit völkerrechtlich konnotierten Gedanken Marcels in einer für das Verhältnis von Recht und Unrecht aufschlussreichen Weise so zielführend zusammen, dass sich eine Reihe elementarer rechtsphilosophischer Fragen stellen: „Sind nicht auch Nationen Individuen, die sich in einer ‚querelle amoureuse‘, von Leidenschaft getrieben, kämpferisch konfrontieren? Kann dann aber der Einzelne, der dem Ganzen der Nation wie eine Zelle dem Körper zugehört, über Recht und Unrecht unbefangen urteilen? Muss hier die Parteilichkeit des Patriotismus nicht das letzte Wort bleiben, wie auch Marcel selbst in seinem Urteil über das gerechte Frankreich und das ungerechte Deutschland parteilich bleibt?“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Grundlegend dazu Friedrich Leo, Die staatsrechtlichen Exkurse in Tacitus’ Annalen, Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-historische Klasse, Heft 2/1896, S. 191. – Übrigens sind Exkurse und Einschübe nicht nur für das taciteische Werk typisch (Eleonore Hahn, Die Exkurse in den Annalen des Tacitus, 1933), sondern auch für dasjenige Prousts; vgl. Pierre Bayard, Le Hors-Sujet. Proust et la digression, 1996.
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schütze, werde einst ebenfalls unter den nachahmenswerten Beispielen sein: ‚omnia, patres conscripti, quae nunc vetustissima creduntur, nova fuere: plebei magistratus post patricios, Latini post plebeios, ceterarum Italiae gentium post Latinos. Inveterascet hoc quoque, et quod hodie exemplis tuemur, inter exempla eritʻ (ann. 11.24.7).³⁷⁵ Was Tacitus in historischer Hinsicht aufzeigt und auf eine allmähliche Transformation von Sitten in Gesetze hinausläuft, erhebt Proust zu einem allgemeinen gesellschaftlichen Gesetz. Es scheint als setze Proust bei Tacitus’ Einsicht an und führe sie in einem noch tiefer dringenden Gedanken über in ein allgemeines psychologisches Gesetz.³⁷⁶ Denn wie so häufig bei Proust, findet sich die entscheidende Verallgemeinerung auch an der zuletzt zitierten Stelle der Recherche in dem Klammerzusatz, der ähnlich, wie es bei taciteischen Sentenzen der Fall ist, das Konkrete in das Allgemeine überträgt und eine universelle Gesetzmäßigkeit aufstellt.³⁷⁷ Dieses psychologische Gesetz weist eine Allgemeingültigkeit auf, die kein juristisches je haben könnte.³⁷⁸ Das zeigt sich bereits an früherer Stelle, an der Proust feststellt, dass „psychologische Gesetze gleich den physikalischen eine gewisse Allgemeingültigkeit haben“ (III 298).³⁷⁹ « mais les lois psychologiques ont comme les lois physiques une certaine généralité » (G II 65). Der eigentliche Syllogismus, wenn man von einem solchen in juridischer Färbung überhaupt sprechen darf, findet
Siehe dazu auch Ronald Syme, Claudius’ Speech in Tacitus, in: The Provincial at Rome and Rome and the Balkans 80BC-AD14 (Hg. Anthony R. Birley), 1999, S. 90 ff. Lionel Trilling, Tacitus Now, in: Tacitus (Hg. Rihannon Ash), 2012, 435, 436, bemerkt hellsichtig zu Tacitus: “His power of mind is not like that of Thucydides: it is not really political and certainly not military. It is, on a grand scale, psychological. We are irresistibly reminded of Proust when Tacitus sets about creating the wonderful figure of Tiberius and, using a hundred uncertainties and contradictions, tries to solve this great enigma of a man, yet always avoids the solution because the enigma is the character.” Dies ist eine jener ganz wenigen Stellen im Schrifttum, an denen Tacitus zu Proust ins Verhältnis gesetzt wird. Mit Recht anerkennend Federico Santangelo, Histos 7 (2013), 128, 133, 139 Fußnote 28, in seiner Einleitung zum nachgelassenen Aufsatz von Syme über Tacitus und Proust: “brilliant remark”. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 65: „Man sollte indes nicht übersehen, daß Prousts Stil mittels derselben logistischen Exaktheit, die ihm seine vielgliedrigen Aufzählungen und Disjunktionen aufdrängt, auch ganz andere Wirkungen erzielen kann: die kurze, nervige Antithese und die scharfkantige Sentenz.“ Er weist zudem auf die Ähnlichkeit mit der französischen Moralistik hin. Zur ihr grundlegend Karlheinz Stierle, Montaigne und die Moralisten. Klassische Moralistik – Moralistische Klassik, 2016. – Daran zeigt sich im Übrigen wiederum, dass die französische Moralistik ein bedeutsames Bindeglied zwischen Tacitus und Proust darstellt. Jean Cousin, Rhétorique et psychologie chez Tacite, Revue des Études Latines 29 (1951), 228; deutsche Übersetzung von Wynfrid Stiefel: Rhetorik und Psychologie bei Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 104. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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sich denn auch in dem abschließenden Vergleich der Dreyfus-Gesinnung (nicht der Affäre selbst) mit einem zunächst aufsehenerregenden, skandalisierten gesellschaftlichen Umstand. Auf diesen Vergleich läuft der Gedanke zu, der nochmals die zentrale Bedeutung des scheinbar beiläufigen Klammerzusatzes enthüllt (TR I 50). Ebenso wie in der Tacitus-Stelle ist bei Proust das Gesetz nur äußerlicher Anlass, um einen Bewusstseinswandel darzustellen, der sich bei dem Historiker im Makrokosmus des historischen Urteils, bei Proust im Mikrokosmus der gesellschaftlichen Anschauungen und vor allem des individuellen Bewusstseins vollzieht. Gerade die unterschiedlichen Auffassungen der Protagonisten im Hinblick auf die vorgebliche Schuld von Dreyfus bergen aufschlussreiche juristische Gedanken: „Es gelang Bloch nicht, das Gespräch auf die Frage nach Dreyfus’ Schuld zu bringen, noch von Monsieur de Norpois eine Prognose über den Ausgang des gegenwärtig zur Verhandlung stehenden Zivilprozesses zu erlangen. Dafür aber schien Monsieur de Norpois mit einem gewissen Vergnügen bei den Folgen dieses Urteilsspruches zu verweilen. – Wenn es zu einer Verurteilung kommt, sagte er, wird sie wahrscheinlich kassiert, denn selten nur kommt es bei Prozessen mit so vielen Zeugenaussagen nicht zu irgendwelchen Formfehlern, auf die die Verteidiger sich berufen können“ (III 320).³⁸⁰ – « Bloch ne put arriver à le faire parler de la question de la culpabilité de Dreyfus ni donne un pronostic sur le jugement qui interviendrait dans l’affaire civil actuellement en cours. En revanche M. de Norpois parut prendre plaisir à donner des détails sur les suites de ce jugement. – Si c’est une condamnation, dit-il, elle sera probablement cassée, car il est rare que, dans un procès où les dépositions de témoins sont aussi nombreuses, il n’y ait pas de vices de forme que les avocats puissent invoquer » (G II 87). Doch auch Bloch muss man nicht bedauern, weil Marcel den Wandel seiner Persönlichkeit gegen Ende der Recherche ebenfalls mit einer Rechtsmetapher erklärt, die erkennen lässt, dass uns der Gerechtigkeitssinn zu unserem Vorteil und unserer Seelenruhe zu täuschen vermag, freilich nur unter einer Bedingung: „Die Güte, ein einfaches Reifungsprodukt, das schließlich vordem säuerliche Naturen wie die eines Blochs hinlänglich mit Zucker versetzt, ist ebenso verbreitet wie das Gerechtigkeitsgefühl, dank dem wir für den Fall, daß unsere Sache eine gute Sache ist, einen ungünstig voreingenommenen Richter ebensowenig zu fürchten haben wie einen befreundeten“ (VII 398).³⁸¹ – « La bonté, simple maturation qui a fini par sucre des natures plus primitivement acides que celle de Bloch, Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zu Prousts Begriff der Metapher auch Angelika CorbineauHoffmann, Beschreibung als Verfahren. Die Ästhetik des Objekts im Werk Marcel Prousts, 1980, S. 53.
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est aussi répandue que ce sentiment de la justice qui fait que si notre cause est bonne, nous ne devons pas plus redouter un juge prévenue qu’un juge ami » (TR II 149).³⁸² Auch hier vertraut Marcel weniger auf das Recht als solches, sondern eher auf bestimmte Voraussetzungen in der conditio humana. Wir werden an späterer Stelle noch sehen, dass Proust ebenso wie Tacitus zwar grundsätzlich einem anthropologischen Pessimismus zuneigt, beide aber um so dankbarer Ausnahmen vermerken, in denen sich die unerwartete Güte einzelner zeigt. Wenn Marcels Gleichung stimmt, dann lässt sie für die Verbreitung des Gerechtigkeitsgefühls hoffen: „Sicherlich ist nicht der gesunde Menschenverstand die ,verbreitetste Sache von der Weltʻ, sondern die Güte“ (II 415).³⁸³ – « Sans dout ce n’est pas le bon sens qui est ‘la chose du monde la plus répandue’, c’est la bonté » (JF II 192). Der aalglatte Botschafter und mutmaßliche Dreyfus-Gegner Norpois (III 307), der jede voreilige inhaltliche Festlegung scheut, sondern sein Urteil in der Schwebe hält und aus gewachsener Erfahrung auf formaljuristische Findigkeit vertraut, ist demgegenüber auch in anderer Hinsicht ein Muster an diplomatischer Wendigkeit. In floskelhafter Anspielung an den Rechtsstreit zwischen Friedrich dem Großen und dem Müller von Sanssouci,³⁸⁴ mehr noch aber mit einer unverhohlenen Chauvinismus übertünchenden polyglotten Betrachtung und aufgesetztem Gerechtigkeitssinn tritt er für einen Justizgewährungsanspruch ein und verlangt wohltönend: „Man muß Dreyfuß Richter geben. Das wird auch ganz einfach sein, denn obwohl man in unserem lieben Frankreich, wo man so gern sich selbst schlechter macht, als man ist, die Gewohnheit angenommen hat zu Werner Hofmann, Recht und Gerechtigkeit in Marcel Prousts Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, PROUSTIANA XX (1998), 12, 16 f., ist allerdings nur unter dem Vorbehalt einer bei Proust stets mitzuberücksichtigenden Doppelbödigkeit zuzustimmen, unter deren Oberfläche sich jederzeit menschliche Abgründe auftun können: „Gerechtigkeit, das Leitbild, an dem Recht und Rechtsfindung ausgerichtet sein sollen, wird im Schlußteil der Wiedergefundenen Zeit unvermutet als beruhigend-stabile Größe gezeigt, wie dies schon Blaise Pascal mit seiner Kritik an der feudalstaatlichen Basis des Rechts gefordert hatte: ‚Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluß begrenzt! Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum.‘ Die versöhnlich stimmende Metapher, die zum Vertrauen in die Justiz einlädt, lautet: (sc. es folgt das im Text genannte Zitat).“ – So sehr man wünschen möchte, dass dies ungebrochen zutrifft, ist sowohl bei Proust, dessen Ironie allenthalben zu bedenken ist, als auch bei Pascal im Grundsatz mitunter das Gegenteil der Fall; zu dem zitierten Pascal-Wort, das auf Montaigne zurückgeht und von Hofmann wohl missverstanden wurde, da das Recht bei Pascal gerade keine „beruhigend-stabile Größe“ darstellt, näher Jens Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016, S. 9 ff. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Max Ring, „Es giebt noch Richter in Berlin“, in: Die Gartenlaube 10 (1866), 155, 157, zitiert ein Gespräch zwischen den beiden Rechtsphilosophen Eduard Gans sowie Jeremy Bentham, in dem die berühmte Anekdote geschildert wird.
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meinen, man müsse, um Worte der Wahrheit und Gerechtigkeit zu hören, den Ärmelkanal überschreiten – was oft nur ein verkapptes Mittel ist, sich an die Spree zu begeben – gibt es doch Richter nicht nur in Berlin“ (III 323).³⁸⁵ – « Il faudra donner des juges à Dreyfus. Et ce sera chose facile car, quoique l’on ait pris l’habitude dans notre douce France, où on l’aime à se calomnier soi-même, de croire ou de laisser croire que pour faire entendre les mots de vérité et de justice il est indispensable de traverser la Manche, ce qui n’est bien souvent qu’un moyen détourné de rejoindre la Sprée, il n’y a pas de juges qu’à Berlin » (G II 90).³⁸⁶ So trägt die beißend ironische Charakterisierung Norpois’ stellenweise fast parodistische Züge, weil er sich mit seinen inhaltsleeren Wortgirlanden mitunter selbst karikiert. Proust veranschaulicht am Beispiel der Dreyfus-Affäre aber nicht nur das Recht, vor allem das für ihn leitmotivartig aufscheinende Phänomen des Justizirrtums, sondern auch die gesellschaftlichen Missstände, allen voran den Antisemitismus: „Die Politiker hatten nicht unrecht gehabt mit ihrer Annahme, die Aufdeckung des bewußten Justizirrtums werde dem Antisemitismus einen bedeutsamen Schlag versetzen. Für den Augenblick aber wurde dadurch ein zum mindesten gesellschaftlicher Antisemitismus im Gegenteil gesteigert und auf die Spitze getrieben“ (VI 222).³⁸⁷ – « Les politiciens n’avaient pas eu tort en pensant que la découverte de l’erreur judiciaire porterait un coup à l’antisémitisme. Mais, provisoirement au moins, un antisémitisme moderne s’en trouvait au contraire accru et exaspéré » (AD 216). Immerhin zweifelt erstaunlicherweise der Prinz von Guermantes an Dreyfus’ Schuld und damit an der Gerechtigkeit insgesamt, indem er zugleich seiner Voreingenommenheit gewahr wird: „Aber von der Vorstellung eines möglichen Verstoßes gegen das Recht verfolgt, begann ich zu studieren, was ich bislang nicht einmal hatte lesen wollen, und mich suchten nun Zweifel nicht nur über die Legalität des Verfahrens, sondern auch wegen der Schuld des An-
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Samuel Beckett, Proust, 1931 (S. 16 der von Marlis und Paul Pörtner übersetzten und durch Katharina Raabe und Werner Morlang überarbeiteten Ausgabe von 1989), hat die Bedeutung der Gewohnheit für das Verständnis der Recherche in einer seinerseits das Recht bemühenden Weise verdeutlicht: „Gewohnheit ist also der allgemeine Ausdruck für die zahllosen Verträge, die zwischen den zahllosen Subjekten, die das Individuum konstituieren, und ihren zahllosen korrelierenden Objekten geschlossen werden.“ – Es ist bemerkenswert, dass ein großer Schriftsteller wie Beckett, der an späterer Stelle, wie eingangs dargestellt, hervorgehoben hat, dass es „kein Recht und Unrecht bei Proust oder in seiner Welt gibt“ (ebenda, S. 59), nun seinerseits mit einer Rechtsmetapher die Wirkungsweise der Gewohnheit für das Verständnis der Erinnerung bei Proust verdeutlicht; widersinnig ist es freilich mitnichten, weil ja auch Proust ungeachtet seiner Aversion gegen die Rechtswelt und die Juristen, wie mehrfach gesehen, Rechts- und Justizmetaphern mit einer gewissen Vorliebe verwendet. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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geklagten heim“ (IV 155).³⁸⁸ – « Mais par cette idée de l’illégalité, je me mis à étudier ce que je n’avais pas voulu lire, et voici que des doutes, cette fois non plus sur l’illégalité mais sur l’innocence, vinrent me hanter » (SG I 150). Dass seine Frau ebenso zweifelt wie er, wird ihm erst dadurch gewahr, dass sie unabhängig voneinander Messen für Dreyfus haben lesen lassen (IV 158) – ein rührendes Einverständnis, das in einem synkretistischen Missverständnis von Recht und Religion begründet ist und zugleich Prousts Ironie veranschaulicht. Aber auch dort, wo es auf die Wirkungsweise schierer Macht ankommt, erweist sich die Dreyfus-Affäre als Kontrastmittel der Verdeutlichung von Macht und Recht.³⁸⁹ So geht es dem ehemaligen Botschafter Norpois weniger um die Durchsetzung des Rechts durch eine unabhängige Justiz, als er vorgibt, sondern vielmehr eine Ordnung – schlimmstenfalls Neuordnung – der Machtverhältnisse, die sich in Gerichtsentscheidungen allenfalls spiegeln, auf die man aber mit feinem Sensorium reagieren muss, sobald sich ein Umbruch ankündigt, der freilich mit der Idee der Gerechtigkeit wenig zu tun hat,³⁹⁰ wie Norpois in seinen nach wie vor auf die Dreyfus-Affäre gemünzten Ausführungen zu dozieren fortfährt, indem er seinem opponierenden Gegenüber mit geheuchelter Ernsthaftigkeit den Eindruck vermittelt, sein in diesem Teil der Gesellschaft einsamer Kampf für die Gerechtigkeit könne in irgendeiner Weise kausal werden für das Handeln der Regierung:³⁹¹ „Die Regierung darf nicht etwa so tun, als träte sie nur in äußerster Notwehr aus ihrer Passivität heraus, wenn sie schließlich und endlich das Recht ausübt, das ihr ihrem Wesen nach zusteht, nämlich die Dame Justitia in Bewegung zu setzen. Die Regierung wird auf alles hören, was Sie ihr nahelegen. Wenn Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‘À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 173, 176, anhand beispielhafter Szenen. Antoine Compagnon, Truth and Justice, in: The Strange M. Proust (Hg. André Benhaim), 2009, S. 112, 116, stellt – wenn auch nicht im Hinblick auf den im Text genannten Disput, der die Problematik der Gerechtigkeit bei Proust aber noch schöner veranschaulicht als die von ihm genannten Stellen – mit Recht die rhetorisch anmutende Frage: “Could this negative image of justice be linked to the experience of the Dreyfus-Affair?” Insofern sind auch seine zusammenfassenden Überlegungen (ebenda, S. 116) weiterführend, wenngleich diese nicht mehr nur auf die DreyfusAffäre gemünzt sind: “Human justice always happens at the wrong time. Once again, justice arises as a comparison. (…) But the message is unmistakable, that crime is merely the visible facet of a deeper vice, making human justice vain and absurd, rather than providential and harmonious”. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 137, verdeutlicht dessen karrieristisches Bestreben bereits an dem Stil, den Proust ihm zuweist, und lässt darin durch die Anspielung an Wagners Leitmotivtechnik ein durchgängiges Kompositionsprinzip aufscheinen: «Et que dire de M. de Norpois? Il livre tout le répertoire des vieilles rengaines de la ‘carrière.’ (…) Le langage trahit. Donc, un des leit-motivs de la Recherche du Temps perdu ».
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eindeutig feststeht, daß ein Justizirrtum vorgekommen ist, wird sie eine erdrückende Mehrheit für sich haben, die ihr freie Hand verschafft“ (III 325).³⁹² – « Et il ne doit pas se donner l’air de sortir de sa passivité à son corps défendant quand il exercera le droit qui est essentiellement le sien, j’entends de mettre en mouvement Dame Justice. Le gouvernement acceptera toutes vos suggestions. S’il est avéré qu’il y ait eu erreur judiciaire, il sera assuré d’une majorité écrasante qui lui permettrait de se donne du champ » (G II 92). Bei näherem Hinsehen sind diese wohltönenden Ausführungen aber nicht gerade ein Bekenntnis zu einer von Montesquieus Geist der Gesetze beseelten Idee der Gewaltenteilung, sondern Ausdruck des Verlangens nach einer starken Exekutive, welche die Geschicke ebenso diskret wie effektiv leitet, so dass die Justiz zu den von der Regierung gewünschten Ergebnissen gelangt.³⁹³ Proust verdeutlicht das mit der affirmativen und verdächtig pleonastischen Formulierung, wonach es die durchsetzungsstarke Regierung ist, die ‚schließlich und endlich das Recht ausübt, das ihr ihrem Wesen nach zusteht, nämlich die Dame Justitia in Bewegung zu setzen‘. Die mit einem verräterisch nebulösen Wesensargument verbrämte Rechtsbehauptung ist die deutlichste Durchkreuzung der Gewaltenteilung. Nicht anders verfährt Tiberius bei Tacitus, wenn er im Zusammenhang mit der Begründung der Rechtsgrundlagen für die später so verhängnisvollen Majestätsprozesse dem Senat gegenüber leutselig, in Wahrheit aber jede – ohnehin nur noch als Trugbild der Freiheit wahrnehmbare (ann. 1.77.3) – Gewaltenteilung aufhebend, verkündet, dass Gesetze nun einmal anzuwenden seien: ‚exercendas leges esse respondit‘ (ann. 1.72.4).³⁹⁴ Kommen wir vor diesem Hintergrund zurück zu Tacitus im ‚Jean Santeuil‘. Nicht zuletzt die realpolitisch geprägten Stellungnahmen mit ihrer wohltönenden Verbrämung etwaiger Gerechtigkeitsdefizite veranschaulichen, wie schwärmerisch umgekehrt Rustinlors Annahme ist, im Palais de Justice das wirkliche Leben oder gar die wahre Gerechtigkeit vorzufinden. Andererseits hat er keineswegs unrecht, wenn er Jean Santeuil auffordert, „die ganze Geschichte mit LemercierPicard zu studieren und ins Palais de Justice zu gehen, um Esterhazy zu betrachten“ (JS I 374): – « Allez au Palais de Justice, mon cher, à la Chambre, regardez Esterhazy, étudiez toute cette histoire (Mercier)-Picquart » (JS 481). Denn gerade die Geschehnisse um diese Schlüsselfiguren der Dreyfus-Affäre, insbesondere die
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, 1996, S. 138, sieht es wohl mit Recht als bezeichnend für Prousts Ablehnung der Rechtsphilosophie an, dass er ungeachtet seiner eminenten Kenntnis der gesamten französischen Literatur Montesquieus Hauptwerk an keiner Stelle erwähnt: « Parmie les grandes œuvres classiques, Proust évoquera jamais L’esprit des lois». Zu dieser Stelle Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 301.
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Hintergründe des Freitodes von Lemercier-Picard könnte kaum ein Romancier besser und konfliktreicher ersinnen.³⁹⁵ Insofern ist es durchaus nicht übertrieben, wenn Rustinlor ungeachtet der etwas holzschnittartigen Charakterisierung, die er in dieser Passage durch den vergleichsweise frühen Proust erfahren hat, seinem Gesprächspartner Jean Santeuil garantiert, dass er dort – also im Dreyfuß-Fall allgemein und insbesondere im Palais de Justice das ‚Treiben der Menschheit‘ finde, „und zwar so, wie es wirklich ist, und dazu Leidenschaft, Leidenschaften – kurz alles, was Sie suchen“ (JS I 374):³⁹⁶ « S’il vous faut de l’humanité, je vous réponds que vous en trouverez là, et de la vraie, et de la passion, et des passions, et tout ce que vous voudrez » (JS 480/481). Namentlich Tacitus hat gerade solche Fälle mit besonderer Vorliebe behandelt, wie beispielsweise der Prozess gegen Piso zeigt (ann. 3.10 – 18), zu dem Proust wohl nicht von ungefähr eine Schülerarbeit verfasst hatte.³⁹⁷ Allerdings rückt Tacitus den Piso-Prozess in das für ihn typische Halbdunkel,³⁹⁸ aus dem heraus sich die historischen Fakten nicht zweifelsfrei und erschöpfend ermitteln lassen, wohl aber die mitwirkenden Leidenschaften, von denen Rustinlor spricht.³⁹⁹ Denn gerade der Blick in die Abgründe der menschlichen Seele, für den die von Rustinlor – freilich etwas zu abschätzig – genannten Tacitus, Shakespeare und Balzac berühmt sind, lässt sich wohl in der Tat am Beispiel der Dreyfus-Affäre studieren. Dessen wurde Proust wohl spätestens zur Zeit der Niederschrift der Recherche gewahr, auch wenn er den Dreyfus-Fall dort eher reflexhaft behandelt, indem er vornehmlich die Weltanschauungen seiner Protagonisten darin spiegelt: „Die Angehörigen der Gesellschaft aber waren in der Mehrzahl derart gegen eine
Curt Riess, Prozesse, die unsere Welt bewegten.Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert, 2016, schildert die Einzelheiten anschaulich und macht mit seinem Rückgriff bis in die Antike deutlich, dass es sich auch beim Dreyfus-Fall um ein Paradigma weltgeschichtlichen Ausmaßes handelt. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Abgedruckt in Marcel Proust, Werke. Frankfurter Ausgabe I 3, S. 13 – 17 (Übersetzung Henriette Beese). Golo Mann, Versuch über Tacitus, Neue Rundschau 87 (1976), 249, hat dies in seinem bereits mehrfach ztierten Aufsatz am deutlichsten herausgearbeitet; er nennt es „das Halbdunkel, das schwefelfarbene Licht“. Edmond Courbaud, Les Procédées d’Art de Tacite dans les Histoires, 1918, hat eine regelrechte Maltechnik des Tacitus ausgemacht. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 2, nennt den ‚Le Tableuax‘ genannten Abschnitt bei Courbaud, S. 121 ff., allerdings anerkennend „ein gründliches Kapitel.“ – Das Werk von Courbaud könnte Proust zwar zeitlich noch gekannt haben, doch ist dies eher unwahrscheinlich; jedenfalls fehlen diesbezügliche Belege. Zum Prozess gegen Piso, der auch durch eine vor wenigen Jahrzehnten aufgefundenen Bronzetafel nicht restlos aufgeklärt werden kann, näher Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 130 ff.
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Revision eingenommen, daß ein dreyfusfreundlicher Salon etwas ebenso Unmögliches schien wie in einer anderen Epoche ein kommunistischer“ (IV 202). – « Mais les gens du monde étaient pour la plupart tellement antirévisionnistes qu’un salon dreyfusien semblait quelque chose d’aussi impossible qu’ à une autre époque un salon communard » (SG I 197). Insofern hat Proust selbst in der Recherche einen Mittelweg gefunden, der den im ,Jean Santeuil‘ skizzierten Dualismus zwischen wirklichem Leben und reiner Kunst auflöst. Auf welche Weise er zu diesem Weg fand, lässt sich ersehen, wenn man sich die Reflexion und Standortbestimmung sowie den darin angedeuteten latenten Bewusstseinswandel vergegenwärtigt, den Rustinlors Worte bei Jean Santeuil ausgelöst haben: „Während Jean ihm zuhörte, wurde er sich undeutlich bewußt, daß das, was an der Literatur wirklich ist, in dem Resultat einer ganz und gar geistigen Arbeit besteht, wie stofflich auch das äußere Motiv sein möge (…), in einer Art von Entdeckung auf spiritualer oder sentimentaler Ebene, die dem Geist gelingt, so daß der Wert der Literatur keineswegs in dem Stoff zu suchen ist, den der Schriftsteller vor sich ausbreitet, sondern in dem schöpferischen Akt, mit dem sein Geist sich dieses Stoffes annimmt“ (JS I 374).⁴⁰⁰ – « Tout en écoutant, Jean percevait confusément que ce qu’il y a de réel dans la littérature, c’est le résultat d’un travail tout spirituel, quelque matérielle que puisse en être l’occasion (…), une sorte de découverte dans l’ordre spirituel ou sentimental que l’esprit fait, de sorte que la valeur de la littérature n’est nullement dans la matière déroullée devant l’écrivain, mais dans la nature du travail que son esprit opère sur elle » (JS 481).⁴⁰¹ Diese noch etwas tastende und im Ungefähren gehaltene Erwägung steht bei weitem nicht auf der Höhe der künstlerischen Selbstvergewisserung am Ende der ‚wiedergefundenden Zeit‘, kann aber vielleicht schon als eine Art Vorstudie begriffen werden, die freilich noch etwas bleiern wirkt, zumal da ihr die ironische Brechung fehlt. In der Recherche wird Proust nämlich mit feiner Ironie gleichsam den advocatus diaboli in Gestalt des wendigen Botschafters Norpois auftreten lassen, der freilich am Ende eine nachdenkenswerte Einsicht bereit hält: „Ich weiß, daß ich damit eine schwere Lästerung gegen die unantastbare Schule des L’Art pour l’Art ausspreche, aber in unserem Zeitalter gibt es dringendere Aufgaben, als Worte in
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. An diesem Beispiel zeigt sich die Richtigkeit der Beobachtung von Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im Suhrkamp-Verlag (stw 587), S. 61: „Prousts Jean Santeuil kann als Schulbeispiel dafür gelten, wie ein erster Versuch allererst durch sein Mißlingen für seinen Autor Bedeutung und für den Betrachter seines Gesamtwerks Interesse zu gewinnen vermag“.
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möglichst harmonischem Rhythmus aneinanderzureihen. (…) Aber so dicht gesät sind nun einmal die Meisterwerke nicht“ (II 64/65).⁴⁰² – « Je sais c’est blasphémer contre la Sacro-Sainte École de ce que ces messieurs appellent l’Art pour l’Art, mais à notre époque, il y a des tâches plus urgentes que d’agencer des mots d’une façon harmonieuse. (…) Les chefs-d’œuvres ne sont pas si fréquents que cela » (JF I 63/ 64).⁴⁰³ Es ist bezeichnend für Prousts Charakterzeichnung, dass er auch eine Person, die ungeachtet aller diplomatischen Fähigkeiten eine gewisse geistige Leere und Blasiertheit verkörpert, eine Wahrheit aussprechen lässt, die zwar aus ihrem Munde floskelhaft anmutet, zugleich aber durch den Hinweis, dass es nur eine begrenzte Zahl wirklicher Meisterwerke gibt, wohl auch Prousts eigenem Standpunkt entspricht. Die zitierte Einsicht aus dem ‚Jean Santeuil‘ (JS 481) wirkt demgegenüber auf den ersten Blick so, als habe sie nichts mit Tacitus gemein. Aber wenn er die Erkenntnis der Wirklichkeit der Literatur – und damit ihres möglichen Fortwirkens über das Ableben des Autors hinaus – im Bestand ‚einer ganz und gar geistigen Arbeit‘ sieht, dann entspricht das in letzter Konsequenz und sogar beinahe wörtlich dem taciteischen ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61).⁴⁰⁴ Doch muss man dies einstweilen mit einem Vorbehalt versehen, weil die zuletzt zitierte Stelle aus dem ‚Jean Santeuil‘ in ihrer etwas starren Gegenüberstellung eben noch nicht die einsame Meisterschaft Prousts verrät. Daher muss man die eingeschobenen Ausführungen zum Dreyfus-Fall aus der Recherche noch abschließend abgleichen mit der durch die Tacitus-Erwähnung veranschaulichten Besonderheit der Dreyfus-Affäre im ‚Jean Santeuil‘, die ihrerseits wiederum Rustinlor zum Vorwand gereichte, sich von der reinen Literatur loszusagen. Seine Gegenargumente bestanden ja, wie eingangs dargestellt, in der Weltfremdheit reiner Kunst, die im Vergleich zum wahren Leben blutarm wirkt, während rundherum die augenfälligen moralischen Herausforderungen auf den Schriftsteller warten, wie es beispielsweise die ominösen Begebenheiten im Zuge der Dreyfus-Affäre sind, deren Hintergründe der Aufklärung durch den Schriftsteller harrten, wenn er nur endlich dazu käme, sie zu erhellen und künstlerisch zu verarbeiten (JS I 374).
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 17, stellt zutreffend fest, dass „weder Nietzschescher Vitalismus noch Formanbetung noch irgendeine Abwandlung des l’art pour l’art in der geistigen Welt Prousts Geltung beanspruchen können; erst recht nicht können sie ihr gerecht werden“. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143, hat auf dieses Tacitus-Wort, wie noch weiter unten wiederholt darzustellen sein wird, im Hinblick auf Proust erstmals aufmerksam gemacht, die Erwähnung des Tacitus im ‚Jean Santeuil‘ allerdings nicht berücksichtigt.
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In der ‚wiedergefundenen Zeit‘ behandelt Proust genau diese Problematik erneut; gleich als ob er auf die Gegenargumente Rustinlors und aller gleichgearteten selbsternannten Schriftsteller, die dennoch nicht schreiben, von Neuem antworten wolle – diesmal freilich nicht mehr mit der inneren Unentschiedenheit und Nachdenklichkeit Jean Santeuils, sondern in geschliffener Schärfe dessen, der sich seiner Berufung sicher ist und nurmehr Verachtung für diejenigen übrig hat, die unter Vorwänden untätig moralisieren, um nicht schreiben zu müssen, während sie vorgeben, aus Verantwortungsgefühl um wichtigerer Dinge willen der Literatur enthoben zu sein. Das gilt insbesondere für den Vorwand, durch tatkräftiges Engagement im Zuge der Dreyfus-Affäre dem Recht zum Sieg verhelfen zu wollen. Man beachte beim folgenden Zitat aus der ‚wiedergefundenen Zeit‘ die durch die anaphorischen Ausrufe zum Ausdruck kommende stilistische Meisterschaft, die parataktische Prägnanz, das bedeutungsvoll abgetönte Pathos, die sententiöse Einsicht über Instinkt und Verstand, die aphoristische Zuspitzung, die den in eitler Selbststilisierung postulierten Siegeszug des Rechts zum wohlfeilen Vorwand erhebt und zugleich als Ausweis zum Künstlertum unfähiger Geltungssucht entlarvt, vor allem aber die Steigerung zum wahren Jüngsten Gericht, gegen das sich die vorgebliche Apologie der Rechtsdurchsetzung noch kümmerlicher ausnimmt – mit einem Wort ‚cette phrase à la Tacite‘: „Wie viele wenden sich daher denn auch vom Schreiben ab! Wie viele Verpflichtungen nimmt man nicht auf sich, um gerade dieser einen zu entrinnen! Jedes Ereignis, ob Dreyfus-Affäre, ob Krieg, hatte den Schriftstellern andere Entschuldigungen geliefert, um nur jenes Buch nicht entziffern zu müssen; sie wollten dem Recht zum Siege verhelfen, die moralische Einheit der Nation neu erschaffen, sie hatten keine Zeit, an Literatur zu denken. Aber das waren nur Ausflüchte, weil sie nicht oder nicht mehr über Genie, das heißt Instinkt verfügen. Der Instinkt diktiert die Pflicht, der Verstand aber liefert die Vorwände, um sich ihr zu entziehen. Nur gelten in der Kunst keine Entschuldigungen, Absichten zählen in ihr nicht; in jedem Augenblick muß der Künstler auf seinen Instinkt lauschen, daher aber nun ist die Kunst das Wirklichste, was es gibt, die strengste Schule des Lebens und das wahre Jüngste Gericht“ (VII 275).⁴⁰⁵ – « Aussi combien se
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 145 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), stellte nach eigenen Angaben Proust einmal gleichsam die Gretchenfrage, die aber eher in einen eschatologischen Dialog mündet: „Monsieur, ich bin Ihnen so zugetan, daß ich oft glaube, wir alle werden uns, wie behauptet wird, beim Jüngsten Gericht im Josaphat-Tal wiedersehen. Wie glücklich wäre ich, Glauben Sie daran? – Ich weiß es nicht, Céleste, aber ich möchte es eigentlich gern glauben. Eins kann ich Ihnen nur sagen, wenn ich sicher wäre, meine Mutter im Josaphat-Tal oder sonstwo wiederzusehen, dann würde ich gern sofort sterben.“ – Diese mit feinem Takt und ohne jede
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détournent de l’écrire, que de tâches n’assume-t-on pas pour éviter celle-là. Chaque événement, que ce fût l’affaire Dreyfus, que ce fût la guerre, avait fourni d’autres excuses aux écrivains pour ne pas faire déchiffrer ce livre-là; ils voulaient assurer le triomphe du droit, refaire l’unité morale de la nation, n’avaient pas le temps de penser à la littérature. Mais ce n’étaient que des excuses parce-qu’ils n’avaient pas ou plus de génie, c’est-à-dire d’instinct. Car l’instinct dicte le devoir et l’intelligence fournit les prétextes pour l’éluder. Seulement les excuses ne figurent point dans l’art, des intentions n’y sont pas comptées, à tout moment l’artiste doit écouter son instinct, ce qui fait que l’art est ce qu’il y a de plus réel, la plus austère école de la vie, et le vrai Jugement dernier » (TR II 25).⁴⁰⁶ Die bedingungslose Entschiedenheit, mit welcher Marcel sich dem Diktat der Kunst unterwirft, folgt keinem äußeren Zwang, sondern einem selbstauferlegten Gesetz, das umso stärkere Bindung entfaltet. Es ist in letzter Konsequenz eine Ausprägung jener Tyrannei einer Poetik, von welcher Marcel im Zusammenhang mit der Ähnlichkeit zwischen Françoise und Tacitus spricht (G II 244). Davon wird im übernächsten Abschnitt ausführlich die Rede sein. So deutet sich bereits im Frühwerk an, was im nächsten Kapitel am Beispiel eines Tacitus-Wortes innerhalb der Recherche noch deutlicher wird, nämlich auf welche Weise die Nennung oder Zitierung des römischen Geschichtsschreibers geeignet ist, bei Jean Santeuil ebenso wie beim Erzähler Marcel ein Nachdenken in Gang zu setzen, das jenen bestärkt und diesen in der Erinnerung an den Tod erschüttern, ihm aber dessen ungeachtet einen Weg weisen wird, wie er durch strenge Bindung an die selbstauferlegten Maßstäbe der Kunst zu einer fortdauernden Wirkung seines Werks finden kann, wie sie auch für Tacitus bestimmend war (ann. 4.61).⁴⁰⁷
Sentimentalität vorgetragene ernste Antwort, die im Hinblick auf den eingangs behandelten Beginn der Recherche aufschlussreich ist, lässt keinerlei intellektuelle Überheblichkeit erkennen und straft wohl auch all jene Lügen, die in Albaret unausgesprochen nur die Einfalt vom Lande sehen wollen. Zu dieser Stelle, auf die am Ende der Untersuchung zurückzukommen sein wird, auch Bernhard Heinser, Marcel Prousts Selbstfindung oder Die Überwindung der Mediocrité. Versuch einer Deutung des Sainte-Beuve-Essai, 1992, S. 89; Rüdiger Landfester, Kulturgeschichte und aufklärerisches Projekt, 2017, S. 404; Michael Rother, Marcel Proust – Auf der Suche nach der Identität: in: Französische Literatur in Einzeldarstellungen, Band 3, Von Proust bis Robbe-Grillet (Hg. Peter Brockmeier/Hermann H. Wetzel), 2016, S. 7, 60. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143.
IV. Grande mortalis aevi spatium Die nachwirkenden Schrecken des Domitianerlebnisses, also des allgegenwärtigen Terrors unter dem Kaiser, von dem Tacitus zwar nach eigener Aussage gefördert wurde (hist. 1.1.3), den er jedoch wie alle anderen fürchten musste, weil jederzeit Ungnade, Sturz und Tod drohten, hat er im Agricola-Proömium eindrücklich dargestellt. Erst allmählich, mit rauher und ungeschlachter Stimme – ‚incondita ac rudi voce‘ (Agr. 3.2) –, finde man nach dem erzwungenen Schweigen unter der Terror-Diktatur wieder Worte. Nicht ohne Hadern protokolliert Tacitus, dass ihm und seinen Zeitgenossen fünfzehn Jahre geraubt seien, ein großer Zeitraum der Lebenszeit eines Sterblichen: ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2). Es ist wohl keine ungebührlich vordergründige Sichtweise, sondern eher eine nüchterne Beschreibung, wenn man in diesem Wort einen Inbegriff verlorener Zeit sieht.⁴⁰⁸ Insofern liegt es durchaus nahe, dass es auch für Proust selbst zu einem literarisch verklausulierten, aber vergleichsweise leicht zu entschlüsselnden Sinnbild verlorener Zeit – du temps perdu – wurde. Es handelt sich um das Innewerden einer beträchtlichen Spanne unwiderruflich abgelaufener Zeit. Sieht man einmal ab von Senecas Schrift über die Kürze der Lebenszeit⁴⁰⁹ sowie der von Augustinus gestellten Frage nach der Zeit,⁴¹⁰ die jedoch jeweils in
Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 144, kommt sogar zu dem weitergehenden Schluss: «Les Annales, c’est une ‘recherche du temps perdu ». – Aber wenn man Prousts Grundidee vor dem Hintergrund von Agr. 3.2 auf Tacitus übertragen wollte, müsste man wohl eher die nicht auf uns gekommenen Domitian-Bücher innerhalb der Historien als Tacitus’ Suche nach der verlorenen Zeit in Betracht ziehen. Überlieferte Spuren finden sich neben den hier untersuchten Agricola-Stellen in hist. 4.2.1 sowie hist. 4.40.2; 86.2, wo Tacitus entsprechend seiner dramaturgischen Technik den noch jungen Domitian bereits wegen seiner Verstellungskunst überaus skeptisch beurteilt. Bereits früh regististriert Tacitus Exzesse Domitians (hist. 4.51.2). Seneca, De brevitate vitae. Augustinus, Confessiones 11.14: ‚Quid est ergo temps?‘ Eingehend Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 11 und vor allem S. 251 mit der luziden Zusammenführung: „Das Staunen über die Zeit, dem Augustinus in den großen Betrachtungen seiner Confessiones zuerst eine Stimme gegeben hatte, steht in der Mitte von Dantes und Prousts Werk und ist die Voraussetzung ihrer Konstellation. Unfassbarer aber noch als die Zeit ist die Ewigkeit, die als ein Jenseits der Zeit inmitten der Zeit aufleuchtet. Quid est tempus? Quid est aeternitas?“ Zum Verhältnis des Zeitbegriffs Prousts zu jenem des Augustinus am Beispiel der ‚Gedächtnishöhle‘ und ihrer unausgesprochenen Anspielung auf die MadeleineEpisode bereits Walter Jens, Statt einer Literaturgeschichte, 1957, S. 29: „Das Bild der von Schächten durchzogenen Höhle kehrt in Prousts Beschreibung der inneren Landschaft wieder: was Augustin verallgemeinernd dargestellt hatte – das Kommen und Gehen der Erinnerung – wird https://doi.org/10.1515/9783110647440-005
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einer mehr oder minder ausführlichen philosophischen Darlegung das Wesen der Zeit ergründen, dann gibt es wohl in der gesamten antiken Literatur keine knappere Vergegenwärtigung eines vergleichsweise langen Zeitraums verlorener Zeit, die rhetorisch-stilistisch – also im Sinne einer « phrase à la Tacite » – so wirkungsvoll wie ein vernehmliches Seufzen angeordnet ist.⁴¹¹ Wann Proust das Wort zum ersten Mal vernommen hat – möglicherweise in einer der oberen Klassen des Lycée Condorcet,⁴¹² in denen wohl eine eingehende Beschäftigung mit Tacitus stattgefunden hat,⁴¹³ – lässt sich nicht verlässlich sagen.⁴¹⁴ Seine Zeugnisse in den alten Sprachen sowie im Fach Geschichte waren erfreulich, so dass auch die diesbezüglichen Stellen in seinem frühen Roman ‚Jean Santeuil‘ entsprechend verheißungsvoll beginnen: „Jeden Tag hatte er eine Aufgabe erledigt, und an diesem Morgen verfaßte er fröhlich eine lateinische Übersetzung und sah schon das glückliche Gesicht seiner Mutter bei der Preisverleihung am Ende des Jahres vor sich“ (JS I 108).⁴¹⁵ – « Chaque jour il avait fait un devoir de plus, et ce matin-là il achevait joyeusement une version latine, apercevant déjà au bout de l’année la figure heureuse de sa mère à la distribution des prix » (JS 234). Die freudigen Erwartungen werden jedoch jäh durch die Aussicht getrübt, auf das von Jean Santeuil gefürchtete Gymnasium Henri-Quattre gehen zu müssen (JS I 111).
von Proust an einem Beispiel analysiert und durch die Vorstellung der automatischen Erinnerung, die sich wie von selbst aus der Tiefe an die Oberfläche des Bewußseins emporarbeitet, erweitert“. Selbst Ciceros berühmtes ‚quo usque tamen abuteris nostra patientia‘ (Cat. I 1) ist ungeachtet seiner Emphase weniger bedeutungsschwer. Cynthia J. Gamble, Proust as Interpreter of Ruskin. The Seven Lamps of Interpretation, 2002, S. 16, rekonstruiert, welche Fremdsprachen Proust wann am Lycée Condorcet lernte. Lateinunterricht hatte er demnach ab der ersten Gymnasialklasse, allerdings wohl nicht mehr im letzten Jahr. Im Alter von 13 Jahren wurde ihm offenbar ein vierter Preis für seine Übersetzungen vom Französischen ins Lateinische zugesprochen. Aufschlussreich insoweit Luzius Keller (Hg.), Marcel-Proust-Enzyklopädie – Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung, 2009, Eintrag Tacitus, S. 843: „Daß Proust sich intensiv mit Tacitus befassen mußte, geht aus den Lehrprogrammen des klassischen Gymnasiums, insbesondere der ‚année de Rhétoriqueʻ, hervor“. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 134: «Elève du Lycée Condorcet, Proust a dû se plier à la discipline des études gréco-latines. L’empreinte a été peu durable – on ne le conçoit pas par la suite se reportant avec amour à la lecture des œuvres classiques, cette lecture qui avait nourri et formé sa jeunesse. Au moins, on constate dans son roman un manque presque total de citations.» – Diese letzte Aussage trifft wohl nicht ganz zu; so wird etwa in ,Sodom und Gomorrhaʻ – erneut von Brichot – Horaz (Carmen 1.1) zitiert (IV 483): ‚Maecenas atavis edite regibus‘. Dazu näher weiter unten. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Tacitus war, wie erinnerlich,⁴¹⁶ unter den Autoren, die Proust in einer sehr frühen Erzählung aus seiner Gymnasialzeit zitierte (Agr. 42.3).⁴¹⁷ Dass sich allerdings ausgerechnet das andere Agricola-Wort über den langen Zeitraum im Leben eines Menschen (Agr. 3.2) bei ihm festsetzte und in seiner Erinnerung haften blieb, ist nicht unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass ihn das Thema der Zeit und insbesondere der Lebenszeit wohl schon früh künstlerisch beschäftigte. Die krankheitsbedingte Begrenztheit der eigenen Lebenszeit, innerhalb derer die von Tacitus angesprochenen fünfzehn Jahre eine beträchtliche Spanne ausmachen, die im Übrigen ungefähr so breit ist wie die gesamte Arbeit an der Recherche,⁴¹⁸ wurde für Proust gerade in seinem letzten Lebensjahr zum beherrschenden Thema, weil die Fertigstellung des in sich abgerundeten Werkes davon abhing.⁴¹⁹ Man muss jedoch bereits im Ausgangspunkt auf eine, wie sich zeigen wird, für die Interpretation bedeutsame Divergenz hinsichtlich der unterschiedlichen Übersetzungen sowie der hier vorrangig zugrundegelegten Œuvres complètes mit der Pléiade-Ausgabe gerade bezüglich des vorliegenden Tacitus-Wortes aufmerksam machen. In den Œuvres complètes lautet es: « Comment, vous connaissez ces vieilles histoires? me dit-il. Il y a pourtant de cela jusqu’à la mort de Swann ce que le poète appelle à bon droit grande spatium mortalis aevi » (P I 263).⁴²⁰ Dementsprechend übersetzt Eva Rechel-Mertens: „Ich antwortete ihm, ich sei recht neugierig, den Salon zu sehen, in dem Swann früher allabendlich Odette getroffen habe. ‚Wie? Sie kennen diese alten Geschichten?ʻ Sagte er zu mir. Es ist immerhin seither eine Zeit verstrichen, die der Dichter mit Recht als ‚grande
Marcel Proust, Werke. Frankfurter Ausgabe I 3, S. 13 (Übersetzung Henriette Beese). Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, 1996, S. 82: «On a publié une première narration, dont le genre appartient en effet à la classe de quatrième, comme à la troisième; elle ne porte aucune correction. Le court récit réaliste, à la manière de Maupassant, d’un maçon qui se sacrifie pour sauver un camarade n’est pas seulement une histoire sentimentale. Le narrateuer intervient dans le récit de manière ironique; il relève les poncifs de sa propre description et multiplie les citations d’auteurs classique, de Corneille à Tacite » . Luzius Keller, Proust lesen, 1991, S. 16: „Nach einem Jahr völliger Apathie (1906) beginnt Proust wieder zu arbeiten, und was jetzt an Projekten und Texten entsteht, weist mit immer größerer Deutlichkeit auf À la recherche du temps perdu hin“. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 323 f. (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet von einer Unterhaltung aus dem Sterbejahr, in der Proust gesagt habe: „Schon seit meiner Kindheit haben die Asthma-Anfälle meine Gesundheit ruiniert. (…) Ich bin ein sehr alter Mann, Céleste … alt wie meine alten Bronchen und mein altes Herz. Ich werde nicht mehr lange leben“. Ronald Syme, Domitian: The Last Years, Chiron 13 (1983), 121 (= Roman Papers, Hg. Anthony R. Birley, Vol. IV, 1988, S. 252), hat bereits früher auf Prousts Agricola-Zitat (Agr. 3.2) hingewiesen.
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spatium mortalis aevi‘ bezeichnet.“ (V 262).⁴²¹ Die Pléiade-Ausgabe, der die Frankfurter-Ausgabe folgt, enthält das Tacitus-Zitat hingegen nur an späterer Stelle, nämlich beim Verlassen der Gesellschaft bei den Verdurins, und zwar unter Verweis auf die Streichung an der soeben genannten Stelle von Prousts Hand:⁴²² « Tenez, voyez-vous ce fond de salon, cela du moins peut, à la rigueur, vous donner l’idée de la Rue Montalivet il y a vingt-cinq ans, grande mortalis aevi spatium. »⁴²³ Wenn man der hier zitierten Übersetzung der Recherche glauben darf, dann lässt Proust Brichot das Tacitus-Wort beim gemeinsamen Verlassen der Abendgesellschaft mit Marcel erneut aussprechen,⁴²⁴ obwohl Prousts Originalfassung davon nichts weiß, und zudem diesmal zwar syntaktisch richtig, aber, wie sich zeigen wird, inhaltlich falsch: „Sehen Sie, dort, der Hintergrund dieses Salons kann Ihnen zur Not eine Vorstellung davon geben, wie die Rue Montalivet vor fünfundzwanzig Jahren, grande mortalis aevi spatium ausgesehen hat“ (V 380).⁴²⁵ Die Besonderheit der Divergenz der beiden Fassungen, der Darstellung in den Œuvres complètes einerseits und der Pléiade-Ausgabe andererseits, besteht also darin, dass innerhalb der ersteren das Tacitus-Zitat auf dem Weg zur Abendgesellschaft bei den Verdurins fällt, im letzteren Fall beim Weggehen, wobei beide Situationen die über hundert Seiten sich erstreckende Soirée gleichsam einrahmen, zu welcher der biedere und sparsame Professor Brichot mit dem Omnibus vorfährt, Marcel sich hingegen mit einem Wagen vorfahren lässt. In einer gleichermaßen meisterhaft charakterisierenden sowie dramaturgisch sinnvollen Eingebung, lädt Marcel den kurzsichtigen Professor, den er zuvor noch insgeheim und annähernd zoologisch darob betrachtet hatte, mit feinstem Takt ein, ihn auf dem Rückweg im Wagen mitzunehmen (V 266). Auf überaus elegante Weise ist dadurch unverfänglich gewährleistet, dass beide die Abendgesellschaft gemein-
Die Reclam-Ausgabe (Übersetzung Bernd-Jürgen Fischer) übersetzt offenbar (wahrscheinlich wegen der zwischenzeitlichen urheberrechtlichen Gemeinfreiheit, die sich nicht auf die mit entsprechenden Leistungsschutzrechten versehene neuere Bibliothèque de la Pléiade-Ausgabe erstreckt) ebenfalls aus den hier zitierten Œuvres complètes: „,Wie, Sie kennen diese alten Geschichten‘ fragte er mich. Zwischen denen und dem Tod Swanns liegen ja doch, was der Dichter so richtig grande spatium mortalis aevi nennt“. Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703, 1742, Anmerkung a: « Le paragraphe précédent s’achève ainsi, demeurant inachevé: me dit-il. (Il y a pourtant de cela ce que le poète appelle à bon droit: grande spatium mortalis aevi. biffé)». Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703. Francisco Garcia Jurado, El encuentro complejo entre Proust y Properzio. Literatura latina y estéticas de la modernidad, in: Marcel Proust: écriture, réécriture. Dynamiques de l’échange esthétique (Hg. Lourdes Carriedo/Luisa Guerreoro), 2010, S. 95 ff., findet offenbar in der von ihm verwendeten spanischen Übersetzung eine ebensolche Doppelung vor. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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sam erreichen und wieder verlassen. Mit dieser Umrahmung wird jedoch das entweder vor der Ankunft oder nach dem Weggang von Brichot zitierte TacitusWort jeweils unversehens zu einer Wegmarke, zumal da es in jeder der beiden Fassungen eine tiefgreifende Reflexion auslöst: in den Œuvres complètes über den Tod Swanns, in der Pléiade-Ausgabe über die Erinnerung an bestimmte Gegenstände, Menschen und Räume in einem Abstand von einem Vierteljahrhundert. Man kommt daher nicht umhin, beide Möglichkeiten mit ihren jeweiligen Assoziationen von Grund auf zu durchdenken. Das führt freilich zu einem Folgeproblem, weil dieser von Proust vorausgesetzte Zeitraum nicht zu dem im Umfeld des im Zitat vorausgesetzten von fünfzehn Jahren – ,quindecim annosʻ (Agr. 3.2) – passt und somit schon insoweit, darüber hinaus aber noch in anderer Hinsicht fehlerhaft ist. Der erste Fehler ist formaler, der zweite inhaltlicher Art. Auf beide hat bereits Ronald Syme hingewiesen, ohne sie freilich erschöpfend zu erklären.⁴²⁶ Zunächst betrifft dies die falsche Wortstellung in den Œuvres complètes: Statt des taciteischen grande mortalis aevi spatium zitiert Brichot ‚grande spatium mortalis aevi‘ (P I 263). Gewiss kann dies für sich betrachtet eine handwerkliche Ungenauigkeit Prousts, also ein bloßer, letztlich unbeachtlicher, Zitierfehler sein. Dieser Annahme neigt der große Althistoriker Syme zu.⁴²⁷ In der Tat muss man die Möglichkeit eines unbewussten Fehlers Prousts zunächst in Betracht ziehen, weil sich auch dafür, also für ein Zitieren aus dem Gedächtnis, Belege finden lassen. So schrieb Proust in einem Brief an Ernst Robert Curtius vom September 1922 kurz vor seinem Tode sinngemäß: „Ich meine das etwa im Sinne von Pascal, den ich ungenau zitiere, weil ich keine Bücher zur Hand habe.“⁴²⁸ – « C’est un peu le mot de Pascal que je cite à faux n’ayant [pas] de livres ici. »⁴²⁹ Auch in seinem Essay über den Stil Flauberts bekennt Proust an einer Stelle, dass er aus dem Gedächtnis zitiere.⁴³⁰
Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 134: «Il y a, bien entendu, le vieil humaniste, le professeur Brichot. Faisant allusion aux longues années qui se sont écoulées entre la rencontre de Swann avec Odette et la mort de Swann, Brichot se targue d’une phrase latine: ‘ce que le poète appelle à bon droit grande spatium mortalis aevi.’ – Le professeur mérite un blâme. La phrase est (…) citée de travers: en effet, elle provient de Tacite, Vie d’Agricola (et elle tombe à propos: Tacite parle des quinze ans du despotisme). Que faudrait-il en conclure? Malice voulue de l’auteur, qui se moquerait de la suffisance du pédant – ou lapsus de l’auteur lui-même? On est tenté de pencher vers la seconde solution». Ronald Hayman, Marcel Proust, Die Geschichte seines Lebens, 2000, S. 613, 766 (Übersetzung Max Looser). Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XXI (1922), Nr. 324, S. 479. Marcel Proust, Über den »Stil« Flauberts, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 57, 64 (Übersetzung Helmut Scheffel).
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In diesem Zusammenhang verdient Erwähnung, dass Proust in seiner ‚Journée de Lecture‘ innerhalb der ‚Pastiches et Mélanges‘ auch die Lese- und Zitiergewohnheiten anderer großer Schriftsteller vergleicht und über Alphonse Daudet bemerkenswerterweise festhält, dass er insbesondere Pascal und Tacitus unaufhörlich las, zitierte und kommentierte: „Alphonse Daudet, der am wenigsten ‚buchgelehrsame‘ Schriftsteller, dessen Werk ganz Modernität und Leben ist und der jedes klassische Erbe abgeworfen zu haben scheint, las, zitierte und kommentierte unaufhörlich Pascal, Montaigne, Diderot und Tacitus.“⁴³¹ – « Alphonse Daudet, le moins livres que des écrivains, dont l’œuvre toute de modernité et de vie semble avoir rejeté tout héritage classique, lisait, citait, commentait sans cesse Pascal, Montaigne, Diderot, Tacite » (Pastiches et Mélanges 267). Auch diese Aufzählung belegt, dass Proust Tacitus weitaus häufiger nennt, als man bisher berücksichtigt hat. Vor allem aber zeigt der Sinnzusammenhang dieser Stelle, dass Proust das Studium der Klassiker, insbesondere der lateinischen, für unabdingbar hielt, wenn man als Schriftsteller ernst genommen werden oder gar – wie der Verweis auf Victor Hugo zeigt, von dem Proust kurz zuvor mitteilt, dass er insbesondere beständig über Horaz und Ovid sprach, hauptsächlich aber Tacitus auswendig konnte – in den illustren Bezirk der Weltliteratur vordringen will. Wichtiger als philologische Richtigkeit ist ihm aber wohl das intuitive Verstehen durch Andeutungen, wie sich etwa daran zeigt, dass er an einer Stelle vom ‚Abgrund Pascals‘ (VII 16) spricht:⁴³² « l’abîme de Pascal » (AD 367).⁴³³ Dessen Stil übrigens ahmte er in den Briefen an Reynaldo Hahn eine Zeitlang in parodistischer Absicht nach,⁴³⁴ wie es überhaupt ein Merkmal großer Schriftsteller ist, dass Marcel Proust, Tage des Lesens, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 7, 49 (Übersetzung Helmut Scheffel). Erschöpfend zusammengetragen werden die Erwähnungen Pascals von Anni Barnes, Proust lecteur de Pascal, Bulletin de la société des amis de Marcel Proust et des amis de Combray 27 (1977), 392. Vgl. auch Jens Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016. Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler) 2016, S. 13, 27, hat eine ebenso bedeutsame wie beziehungsreiche Anspielung Prousts an Pascals berühmte anthropologische Bestimmung des ‚roseau pensant‘ (Fragment 347) herausgearbeitet. Rainer Warning, Proust und die Moralistik, in: Marcel Proust und die Philosophie (Hg. Ursula Link-Heer/Volker Roloff), 1997, S. 100, 104, untersucht die Bedeutung Pascals eingehend und diagnostiziert die Infektion „vom Pessimismus moralistischer Abgründigkeit“ (= Proust-Studien, 2000, S. 35, 39). Ronald Hayman, Marcel Proust, Die Geschichte seines Lebens, 2000, S. 341 (Übersetzung Max Looser). Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 147 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet, dass Proust stolz darauf war, dass unter anderen Léon Brunschvicg sein Mitschüler am Lycée Condorçet war, der später ein bedeutender Pascal-Forscher wurde und eine nach ihm benannte Edition der Pensées herausgab.
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ihnen verschiedene Stile zu Gebote stehen.⁴³⁵ Auch Tacitus schrieb seinen Dialogus de oratoribus in einem von den übrigen Werken so gänzlich unterschiedlichen, ciceronischen Stil,⁴³⁶ dass sogar an seiner Urheberschaft gezweifelt worden ist.⁴³⁷ Jean-Yves Tadié gibt mit gutem Grund zu bedenken, dass auch für Proust eine Forderung des taciteischen Dialogs maßgeblich gewesen sein dürfte, wonach der gute Redner die übrigen Wissenschaften und Künste gleichsam inwendig kennen sollte, weil deren Beherrschung ihn an denjenigen Stellen der Darstellung schmücke und auszeichne, wo man mit anderem beschäftigt ist und es gar nicht für möglich hält:⁴³⁸ ‚deinde ipsa multarum artium scientia etiam aliud agentes nos ornat atque ubi minime credas eminet et excellit‘ (dial. 33.1). In der Tat dürfte die eminente Vertrautheit Prousts mit der Geschichte der Literatur und der Kunst von diesem taciteischen Gedanken getragen sein, selbst wenn Proust ihn, soweit ersichtlich, nicht auf diese Stelle bezog und es auch in seinem übrigen Werk keinen Hinweis darauf gibt, dass er den taciteischen Dialog kannte.⁴³⁹ Dass Proust bisweilen aus dem Gedächtnis zitierte, womit ihm minimale Ungenauigkeiten wie die veränderte Wortstellung beim Tacitus-Zitat in den Œuvres complètes hätten unterlaufen können, ist also nicht ausgeschlossen, wie er in seinem Essay über Baudelaire der Umstände halber bekennt: „Als ich diesen Brief an Jacques Rivière schrieb, hatte ich neben meinem Krankenbett kein einziges Buch. Man wird deshalb die mögliche Ungenauigkeit mancher Zitate, die
Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 7. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 138, präzisiert: «Avant d’aborder l’histoire, Tacite avait été un des maîtres du barreau romain. L’homme aspirant à l’éloquence se formait par une étude approfondie des orateurs du passé. Il en résultait une souplesse à toute épreuve. Ainsi, quand Tacite entreprend d’écrire un Dialogus de Oratoribus, il a recours (comme le genre l’exigeait) à un style néo-cicéronien. Uniforme et unique à première vue, l’idiome de l’historien comporte bien des divergences, selon les cas». Vittorio Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, 2018, S. 258 Fußnote 245, hält „die Verfasserschaft des Tacitus (…) für sehr wahrscheinlich trotz des von demjenigen seiner historischen Schriften so abstechenden Stils“. Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, 1996, S. 422. Fälschlicherweise ordnet die Frankfurter Ausgabe, wie bereits weiter oben berichtet, ein frühes Tacitus-Zitat, das in Wirklichkeit aus dessen Frühwerk Agricola (42.3) stammt, in einem Schulaufsatz Prousts (Frankfurter Ausgabe I 3, S. 13 ff.) im Anmerkungsteil dem Dialogus de oratoribus zu (I 3, S. 536 Anmerkung 4). Dieser Fehler könnte aus einem Missverständnis der zuletzt zitierten Stelle Tadiés, ebenda, S. 422, entstanden sein, der sich jedoch im Hinblick auf den Ursprung des Tacitus-Zitats mit Bedacht nicht festlegt, sondern – insoweit durchaus zutreffend – zu bedenken gibt, dass die von ihm angeführte Stelle (dial. 33.1) in die Richtung der Kunsttheorie Prousts weist.
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leicht zu berichtigen ist, entschuldigen.“⁴⁴⁰ – « Quand j’écrivis cette lettre à Jacques Rivière, je n’avais pas auprès de mon lit de malade un seul livre. On excusera donc l’inexactitude possible, et facile à rectifier, de certaines citations. »⁴⁴¹ Jedoch ist ein Brief oder ein noch so tiefdringender Essay, mag er auch keinem Geringeren als Baudelaire gegolten haben, etwas anderes als das literarische Hauptwerk, auf das über Jahre hinweg seine gesamte gedankliche Anspannung gerichtet war und bei dem sich Proust stets gegen die Annahme wehrte, dass es nur von zusammenhanglosen, assoziativen Erinnerungen handele.Vielmehr gab er allenthalben zu bedenken, dass es im Gegenteil mit äußerster gedanklicher Strenge in jedem noch so unscheinbaren Detail so ausgearbeitet sei, dass es eben nur auf diese Weise bestehen könne.⁴⁴² Ein sorglos hingeworfenes Zitat eines Großen der Weltliteratur, wie es Tacitus ist, würde dazu schwerlich passen. Zudem betrifft die falsche Wortstellung im Wortsinne und in Anlehnung an das, was Proust selbst zitiert hat ‚une phrase de Tacite.‘ Die veränderte Wortstellung ändert eben auch den Satzrhythmus und gibt ihm damit ein durchaus unterschiedliches Gepräge, ja beleidigt womöglich das römische Ohr, wie wohl niemand besser beurteilen konnte als Ronald Syme.⁴⁴³ Durch die Umkehrung, mit der Brichot das Wort entstellt hat, geht das Majestätische, die eigentümliche Feierlichkeit des taciteischen Stils verloren.⁴⁴⁴ Wie gut Proust auch immer das Lateinische beherrschte, wäre ihm eine die Melodie der kurzen Phrase entstellende Wortumstellung gewiss ohne weiteres aufgefallen, weil sie die Erhabenheit des großen Wortes unmittelbar berührt. Die Annahme eines handwerklichen Fehlers Prousts muss man daher zurückweisen. Wie genau Proust die lateinischen Klassiker kannte und wie bissig er auf inkompetente Beckmesserei reagieren konnte, veranschaulicht im Übrigen ein Brief, den er seinem bereits wiederholt genannten Kritiker Souday schrieb,⁴⁴⁵ der
Marcel Proust, Über Baudelaire, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 78, 109 (Übersetzung Helmut Scheffel). Marcel Proust, À propos de Baudelaire, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 334. Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 89. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 134: « La phrase est rebelle aux règles de la poésie latine, elle est citée de travers». Zur Feierlichkeit des taciteischen Stils Einar Löfstedt, Über den Stil bei Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 89, 94; speziell zu den Annalen Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. I, S. 298: “The whole work is infused with majesty and power”. Michel Erman, Marcel Proust. Une biographie, 1994, S. 222 f., zeichnet nach, dass es jener Brief war, indem Proust ursprünglich erwogen hatte, Souday von Jammes’ Lob zu berichten, er verfüge über ‘une phrase à la Tacite’, dann aber davon absah, um Jammes nicht zu komprommitieren.Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, dass sich gerade in diesem Brief die sogleich im
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ihn der Begehung französischer Grammatikfehler geziehen hatte und ihm unter Verweis auf das vermeintliche Horaz-Wort⁴⁴⁶ ‚materiam suberabat opus‘, das jedoch, wie Proust besser wusste, von Ovid stammt,⁴⁴⁷ die Anstellung eines alten Universitätsprofessors empfahl, der seine Werke vor der Publikation auf grammatikalische Unrichtigkeiten durchsehen solle. Proust legte zudem nahe, womit ein solcher Professor, wie ihn ihm Souday zur Behebung seiner Französischfehler vorschlug, angesichts seiner zu gewärtigenden Muße beschäftigen könne, nämlich mit dem Fehler Soudays, dessen Zitat überdies das akkurate Gegenteil des von ihm Angenommenen besage: « Croyez-moi Monsieur si le vieil universitaire que vous proposez d’ajouter aux maisons d’éditition et aux rédactions de journaux n’a à corriger que mes fautes de français, il lui restera beaucoup de loisirs. Peut-être pourrait-il en employer une partie à la revision de vos citations latines. Il n’eût pas manqué de vous dire, j’en suis sûr, que ‚Materiam superabat opus‘ n’est pas d’Horace comme vous le prétendez, mais d’Ovide, lequel d’ailleurs veut exprimer par la une pensée exactement contraire à la vôtre. »⁴⁴⁸ Proust war auf diese ebenso scharfzüngige wie geistreiche Antwort so stolz, dass er sie seinem Freund Antoine Bibesco in einem weiteren Brief nicht vorenthielt.⁴⁴⁹ Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass Proust – gleich als ob er hätte zeigen wollen, zu welcher Beherrschung Text wiedergegebene Schärfe Prousts im Hinblick auf die Kenntnis der lateinischen Klassiker entzündete. Horaz, Carmen 1.1: ‚Maecenas atavis, edite regibus‘ wird von Brichot, wie bereits weiter oben angedeutet, in ‚Sodom und Gomorra‘ zitiert (IV 483). Charlus gibt bei den Verdurins eine Kostprobe seines kaustischen Witzes, indem er zu dessen vernehmlichem Behagen bemerkt: „Ich glaube, Mäzen war so etwas wie der Verdurin des Altertums“ (484), womit er den Hausherrn als neureichen Emporkömmling geißelt. Maecenas wird übrigens auch bei Tacitus wiederholt genannt (ann. 1.54.2; 6.11.2); zur erstgenannten Stelle Hartmut Leppin, Tacitus und die Anfänge des kaiserzeitlichen Pantomimus, Rheinisches Museum 139 (1996), 33, 35; zur zweiten Shannon Byrne, Pointed Allusions: Maecenas and Sallustius in the „Annals“ of Tacitus, Rheinisches Museum 142 (1999), 339. Ovid, Metamorphosen 2.5: ‚materiam superabat opus‘. Grundlegend zu ihm Jürgen Paul Schwindt, Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Vorspiel: Die Jagd des Aktaion (Ovid, Metamorphosen 3, 131– 259), 2016. Siehe auch das folgende Wort aus ‚Sodom und Gomorra‘: „Aber immerhin, die ‚Comédie humaine‘ – die übrigens wenig menschlich ist – steht doch gar zu sehr in Gegensatz zu den Werken, in denen die Form dem Inhalt vorangeht, wie der alte Esel Ovid bemerkt“ (IV 618). Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XII (1913), S. 380 – 383. William C. Carter, Marcel Proust. A Life, 2000, S. 559, berichtet, dass sich auf die Kritik Soudays hin unverhofft in Gestalt von Gabriel Astruc ein begeisterter Leser des ‚Swann‘ fand, der als ehemals professioneller Korrekturleser darin fast tausend Flüchtigkeitsfehler fand und Proust diese Liste durch Vermittlung des gemeinsamen Freundes Reynaldo Hahns zur Verbesserung der Neuauflage bereitwillig zukommen ließ. Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XIII (1914), Nr. 11, S. 49.
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der französischen Grammatik er imstande war⁴⁵⁰ – die Absurdität auch stilistisch in einer selbst für literarische Briefe anspruchsvollen Formulierung dargestellt hat durch das « il n’eût pas manqué », dessen subjonctif plusque parfait mit seiner so aussagekräftigen, wenngleich hypothetischen Annahme des Irrealen übrigens erinnert an das noch ausführlich zu behandelnde « elle eût écrit comme Tacite » (G II 244). Eine andere Möglichkeit, das Fehlzitat des ‚grande spatium mortalis aevi‘ zu erklären, besteht darin, dass Proust das Halbwissen, die Halbbildung des Sorbonne-Professeur Brichot charakterisieren wollte, zumal da Marcel ihn in der Recherche mitunter beiläufig als blasiert, eitel, desinteressiert und wenig weltgewandt erscheinen lässt: „Ein Mann mit ausrasiertem Kinn und Wangen mit Koteletten wie ein Oberkellner gibt in herablassendem Ton Scherze nach Art eines Professors von sich, der die besten seiner Klasse für die Aufnahme in das Lycée Charlemagne vorbereitet; es ist Brichot von der Sorbonne. Als Verdurin meinen Namen nennt, verrät dieser Brichot mit keinem Wort, daß er Kenntnis von meinen Büchern hat; da regt sich bei mir wieder jener zornige Unmut, den immer die von der Sorbonne gegen uns ins Werk gesetzte Verschwörung in meinem Innern weckt“ (VII 37).⁴⁵¹ – « Un homme au menton et aux lèvres rasés, aux favoris de maître d’hôtel, débitant sur un ton de condescendance des plaisanteries de professeur de seconde qui fraye avec les premiers de sa classe pour la Saint-Charlemagne, et c’est Brichot, l’universitaire. A mon nom prononcé par Verdurin, il n’a pas une parole qui marque qu’il connaisse nos livres, et c’est en moi un découragement colère éveillé par cette conspiration qu’organise contre nous la Sorbonne, apportant, jusque dans laimable logis où je suis fêté, la contradiction, l’hostilité d’un silence voulu » (TR 26). Hier spricht Marcel aus unverhohlener Eitelkeit und eingestandenermaßen seinerseits nicht ganz ‚sine ira et studio‘ (ann. 1.1.3). So wird er ihm ebensowenig gerecht, wie später Madame Verdurin Brichot ungerechterweise verübelt, dass er seine Weisheiten nicht mehr exklusiv ihrem kleinen Kreis gegenüber preisgibt, sondern zu ihrem Verdruss der ganzen Stadt, ja dem ganzen Lande über die
Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 416 f., bemerkt treffend zu den „bei Proust angeblich so häufigen ‚fautes de français‘. Es ist leider das Schicksal des französischen Sprachneuerers, nicht genügender Französischbeherrschung bezichtigt zu werden (man denke nur an die Sprachschnitzer Balzacs, Flauberts). Der Franzose nimmt eher an, daß sein Schriftsteller ‚ne sait pas écrire‘ als daß er so habe schreiben wollen (in Deutschland geht es umgekehrt!).“ Hervorhebung auch dort. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Zeitungen zuteil werden lässt.⁴⁵² Indem Marcel den himmelweiten geistigen Abstand zwischen Madame Verdurin und Professor Brichot betont, erscheint jene als dümmlich, dieser als Geist mittlerer Höhe, der sich zwar auch dort, wo er gelobt wird, verborgene Spitzen gefallen lassen muss, aber ungeachtet aller Eitelkeiten immerhin weiß, wovon er spricht: „Trotz der Sorbonne, trotz des Institut de France war bis zum Kriege sein Ruhm über die Grenzen des Salon Verdurin nicht hinausgedrungen. Aber als er begann, fast täglich Artikel zu schreiben, die mit jener falschen Brillanz geschmückt waren, welche er früher so oft, wie man gesehen hat, gratis an die Getreuen verschwendete, in denen aber andererseits eine höchst reale Gelehrsamkeit steckte, die er als echter ‚Sorbonnier‘ nicht gerade zu verbergen suchte, wenn er sie auch mit allerlei spielerischen Floskeln umgab, war die ‚große Welt‘ buchstäblich geblendet von ihm. Endlich einmal schenkte sie ihre Gunst jemandem, der weit davon entfernt war, eine Null zu sein und die Aufmerksamkeit durch die Fruchtbarkeit seiner Intelligenz und die Hilfsquellen seines Gedächtnisses dauernd zu fesseln vermochte“ (VII 147).⁴⁵³ – « Malgré la Sorbonne, malgré l’Institut, sa notoriété n’avait pas jusqu’à la guerre dépassé les limites du Salon Verdurin. Mais quand il se mit à écrire, presque quotidiennement, des articles parés de ce faux brillant qu’on l’a vue si souvent dépenser sans compter pour les fidèles, riches, d’autre part, d’une érudition fort réelle, et qu’en vrai sorbonien il ne cherchait pas à dissimuler de quelques formes plaisantes qu’il l’entourât ‚le grand monde‘ fut littéralement ébloui. Pour une fois, d’ailleurs, il donnait sa faveur à quelqu’un qui était loin d’être une nullité et qui pouvait retenir l’attention par la fertilité de son intelligence et les ressources de sa mémoire » (TR I 128).⁴⁵⁴ Hier wird ungeachtet des leicht vergifteten Lobs deutlich, wer von beiden, Brichot oder Madame Verdurin, in den Augen Marcels eine
Jean Mouton, Le style des Proust, 1948, S. 17 f., skizziert im Anschluss an Albert Feuillerat, Comment Marcel Proust a composé son roman, Yale romanic studies, 1934, S. 172 f., die Janusköpfigkeit Brichots: « D’un côté, il y a l’universitaire brillant, toujours à la recherche d’effets destinés aussi bien à un public mondain qu’à ses étudiants, aimant, lorsqu’il parle d’histoire, à prendre ses comparisons dans l’actualité la plus immédiate. De l’autre, c’est le philologue plein de science, conservant dans sa mémoire tout un dictionnaire d’etymologies. (…) Pour parler exactement de Brichot, il faut envisager la vie du professeur dans son ensemble. De même pour le style; on peut l’étudier comme le resultat d’une seule venue, si l’on se place à une certaine distance du texte ». Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Marcel Proust, Tage und Freuden (Les plaisirs et les jours; Übersetzung Ernst Weiß, 1965), S. 39, verwendet bereits das Motiv der Menschen der großen Welt mit pejorativem Unterton: „Die Menschen in der großen Welt waren so mittelmäßig, daß Violante bloß da sein mußte, um sie fast alle in ihr Nichts zurückzustoßen. Die exklusivsten Aristokraten, die ungebärdigsten Künstler folgten ihrer Schleppe und brachten ihr ihre Huldigung entgegen“.
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geistige Null – ‚une nullité‘– ist. Zu beachten sind Brichots ‚Hilfsquellen des Gedächtnisses‘ – « les ressources de sa mémoire ». Im Unterschied zum ‚souvenir‘ bedeutet ‚mémoire‘ zwar bei Proust das reine Faktengedächtnis.⁴⁵⁵ Doch ist dies bei Brichot immerhin so stark ausgeprägt, dass die Verwechslung der Wortstellung innerhalb eines lateinischen Zitats ausgeschlossen erscheint. Für die Annahme eines absichtsvollen Falschzitats spricht auch eine Stelle innerhalb der ‚wiedergefundenen Zeit‘, an welcher Marcel bildhaft verdeutlicht, auf welche Weise und an welchen Details weltgewandte und gleichermaßen feinsinnige Menschen einander erkennen. Denn das Vergleichsbeispiel ist, was es für den vorliegenden Zusammenhang besonders nahelegt, ebenfalls dem Bereich der lateinischen Klassiker entlehnt: „Würden zwei Männer der Gesellschaft als einzige Überlebende auf einer öden Insel zurückbleiben, auf der sie niemandem gegenüber durch gute Manieren sich auszuweisen hätten, würden sie einander doch an solchen Spuren guter Erziehung erkennen, ebenso wie zwei Latinisten am korrekten Zitieren Virgils“ (VII 78/79).⁴⁵⁶ – « Deux hommes du monde restant seuls vivants dans une île déserte, où ils n’auraient à faire preuve de bonnes façons pour personne, se reconnaîtraient à ces traces d’éducation, comme deux latinistes citeraient correctement du Virgile » (TR I 68). Bezieht man das auf Brichot, so liegt zunächst nahe, dass Marcel ihn gerade nicht als Mann von Welt erachtet.⁴⁵⁷ Das Bild ist aber auch deswegen vielsagend, weil gute Umgangsformen für Proust eben nicht nur etwas Akzidentelles darstellen, das um des gesellschaftlichen Erfolges willen vervollkommnet wird, sondern gleichsam essentiell für die innere Haltung eines Menschen sind, indem sie eine Vornehmheit ausstrahlen, die keinen bloßen Benimmregeln entspricht,⁴⁵⁸ sondern Ausdruck einer materialen Ethik sind.⁴⁵⁹ Brichots Fehlzitat steht demnach in einem empfindlichen Kontrast, einer herben Dissonanz oder, mit einem taciteischen Lieblingsstilmittel gesprochen,
Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 30 f.; dazu noch weiter unten. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 96, spricht in anderem Zusammenhang von einer „Inspirationsquelle einer Literatur, die in den verschiedensten Mischungsverhältnissen Poetisches und Praktisches, Lob und Lehre, Lyrik und Gärtnerregeln verbindet; einer Literatur, die in Virgil ihren Ursprung zugleich und ihre Vollendung hat.“ – Vor diesem Hintergrund könnte auch die zuvor zitierte beispielhafte Erwähnung Vergils hier kein Zufall sein. Asfa Wossen-Asserate, Manieren, 2003, S. 77, 100 f., 108 f., 197, 231, 357 f., 369, bietet wohl nicht von ungefähr zahlreiche Beispiele aus Prousts Recherche. John Henry Newman, The Idea of a University, 1873, kann man wohl in diese Richtung verstehen; ebenso mit Bezug auf ihn Martin Scherer, Der Gentleman. Plädoyer für eine Lebenskunst, 2003, S. 134 Fußnote 23; vgl. auch Jens Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016, S. 147.
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einer deutlichen Inkonzinnität zu der zuletzt zitierten Stelle,⁴⁶⁰ an der es nicht von ungefähr um das korrekte Zitieren geht. Zwar ist Brichot kein Latinist, wie dort vorausgesetzt, sondern Gräzist (VII 80). Aber auch damit dürfte er als klassischer Philologe durchaus die erforderliche Vorbildung für das fehlerfreie Zitieren des Lateinischen haben. Brichot erscheint so als jemand, dem die feinen Unterschiede nicht geläufig sind, als eitler Professor, der mit seiner Bildung prunken möchte und bei jeder Gelegenheit mehr oder minder passende Zitate anbringt: „Er hatte tatsächlich die Gewohnheit, unaufhörlich per ich zu schreiben, zunächst weil er sich einfach aus seiner professoralen Gewohnheit heraus ständig solcher Ausdrücke bediente wie: (…) ‚In meiner heute sehr selten gewordenen kleinen Broschüre (habent sua fata libelli) warnte ich bereits davor‘, und so war er endlich bei dieser Gewohnheit geblieben“ (VII 150/151).⁴⁶¹ – « Et il avait, en effet, l’habitude de l’écrire continuellement, d’abord parce que, par habitude de professeur, il se servait constamment d’espressions comme: (…)‚‘j’ai averti dans ma petite brochure aujourd’hui rarissime (habent sua fata libelli)‘ » (TR I 131). Die selbstverliebte Eitelkeit des Gelehrten wirkt gerade durch das lateinische Zitat karikaturhaft.⁴⁶² Doch dieses Schicksal teilt er immerhin mit dem Herzog von Guermantes, nachdem dieser ein vergleichsweise inhaltsleeres lateinisches Zitat aufgesagt hat, wie Marcel ironisch erkennen lässt: „Die Befriedigung, im rechten Augenblick in seinem Gedächtnis ein so passendes Zitat gefunden zu haben, trug einen Lichtblick stolzen Lächelns in die Melancholie des getäuschten großen Herrn hin“ (IV116).⁴⁶³ – « La satisfaction d’avoir trouvé à point nommé, dans sa mémoire, une citation si opportune éclaira seul d’un orgueilleux sourire la
Eduard Norden, Die Antike Kunstprosa, Band I, 1915, S. 333, diagnostiziert in Tacitus Werk „ein beständiges Abnehmen des konzinnen Ausdrucks.“ Ferner ebenda, S. 335: „berufene Inkonzinnität im Ausdruck (…) als eine – quantitative und qualitative – Steigerung dessen, was wir schon bei Sallust beobachten können“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Terentianus Maurus, De litteris, de syllabis, de metris, Vers 1286, lautet: ‚Pro captu lectoris habent sua fata libelli‘. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 466 f., hat am Beispiel einer anderen Stelle und verschiedenen Beispielen die normative Komponente des Proustschen Stils herausgearbeitet, die mitunter wie ein Akt der Gesetzgebung anmutet: „Die Nuance des Unwiderruflichen scheint mir überhaupt leicht von dieser Wortstellung ausgedrückt zu werden (offenbar unter dem Einfluß der bei Regeln und Gesetzen üblichen Inversion: Est défendu… Ne sont pas admis…): etwas Legislatives spüre ich etwa in den folgenden Beispielen.“ – In diesen hellsichtigen Beobachtungen schwingt avant la lettre einiges von dem mit, was später unter dem Gesichtspunkt von ‚Law & Literature‘ untersucht wurde, wenngleich ohne zureichende Berücksichtigung Prousts (so etwa Richard A. Posner, Law and Literature, 3. Auflage 2009; und dessen Erwähnungen Prousts auf S. 23, 464, 466, 513).
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mélancolie du grand seigneur trahi » (SG I 113). Mit beißender Ironie antwortet Marcel in der für Prousts Stil bezeichnenden Weise wenig später darauf mit einer « phrase à la Tacite », indem er eine Ahnenreihe großer Geister aufzählt, deren Gedanken Brichot bemüht, und damit unausgesprochen zu bedenken gibt, dass der Gelehrte, der sich diesen Autoren nicht in wissenschaftlicher Gründlichkeit und Hingabe zur Vollendung eines großen Werkes widmet, sondern sie nur als wohlfeilen Bildungsflitter in den Dienst nimmt, mit der ebenso raschen wie verdienten Vergessenheit rechnen muss: „Kurz, allein mit dem Hinweis auf alles, was er nicht sagen würde, und der Erinnerung an von ihm selbst vor einigen Jahren Gesagtes und an das, was Clausewitz, Jomini, Ovid und Apollonius von Tyana vor mehreren Jahrhunderten behauptet hatten, hätte Brichot leicht den Stoff für einen umfänglichen Band zusammentragen können. Es ist bedauerlich, daß er ihn nicht herausgebracht hat, denn jene stofflich so reichhaltigen Artikel sind jetzt schwer aufzutreiben“ (VII 151).⁴⁶⁴ – « Bref, rien qu’à énoncer tout ce qu’il ne dirait pas, à rappeler tout ce qu’il avait dit il y avait quelques années, et ce que Clausewitz, Ovide, Apollonius de Tyane avaient dit il y avait plus ou moins de siècles, Brichot aurait pu constituer aisément la matière d’un fort volume. Il est à regretter qu’il n’en ait pas publié, car ses articles si nourris sont maintenant difficiles à retrouver » (TR I 132). Es ist gleichsam die auf die Wissenschaft übertragene Kurzlebigkeit, die Marcel bei den Schriftstellern feststellt, die sich lieber in aktuellen Debatten profilieren, als dass sie die entbehrungsreiche Arbeit an ihrem Kunstwerk aufnehmen und in jahre- oder gar jahrzehntelanger Arbeit zu Ende führen.⁴⁶⁵ Ebenso wie der Künstler hat für Proust auch der Geisteswissenschaftler die Wahl zwischen flüchtigem Tageswerk, mit dem er seinen gegenwärtigen Bekanntheitsgrad steigern, dabei zugleich seiner Ruhmredigkeit frönen kann, und der anstrengenden Arbeit an einem gehaltvollen, langwierigen, aber womöglich längerlebigen opus magnum. Wir werden diesen Grundgedanken im letzten Kapitel weiterverfolgen anhand des taciteischen ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61).⁴⁶⁶ Aber so einfach liegen die Dinge jedenfalls nicht hinsichtlich des von Brichot ungenau zitierten ‚grande spatium mortalis aevi‘ (P I 263). Denn wenn es nur um ein Beispiel für peinlichen Bildungsprunk gehen würde, dann hätte sich Proust wohl kaum für diese vergleichsweise wenig bekannte Stelle aus dem AgricolaProömium entschieden. Man würde der immer wieder genannten Person des Professors Brichot Unrecht tun, wenn man ihn ungeachtet seiner wenig einneh Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 101, beobachtet seine Sprache feinsinnig: „Der Akademiker Brichot hat die Spezialität journalistischer Modernismen“. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143.
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menden Darstellung durch Marcel für ungebildet halten würde. Brichot, immerhin Professor an der Sorbonne und Mitglied des Institut de France (VII 37), erscheint zwar als engstirniger Nationalist (VII 61), kleinbürgerlich, selbst wenn er mit Herzoginnen diniert (VII 69) und wenig einnehmend, wiewohl man ihm eine gewisse Achtung schwerlich versagen kann:⁴⁶⁷ „Natürlicherweise richtete sich unsere Vorliebe instinktiv nicht auf Leute wie Cottard oder Brichot, aber schließlich hatten wir doch eine gewisse Hochachtung vor gründlichen Kenntnissen im Griechischen oder in der Medizin und vor jenen, die sich nicht berechtigt glaubten, aufgrund dieser Kenntnisse wie Marktschreier aufzutreten“ (VII 80).⁴⁶⁸ – « Naturellement notre prédilection n’allait pas d’instinct aux Cottard ou aux Brichot, mais enfin nous avion une certaine considération pour les gens qui savaient à fond le grec ou la médecine et ne se croyaient pas autorisés pour cela à faire les charlatans » (TR I 70). Hier schwingt im Lob für den Gräzisten⁴⁶⁹ eine Spitze gegen seine Eitelkeit und seinen universellen historischen Welterklärungsanspruch mit, vermöge dessen er in den Zeitungen und in Vorträgen die politische Lage erklärt (VII 127/ 130). Und doch äußert sich selbst der scharfzüngig-maliziöse Baron de Charlus, der im aristokratischen Selbstbewusstsein seiner Abstammung aus ältestem französischen Adel durchaus Respekt vor geistiger Größe hat und daher immerhin Brichots Vorlesungen an der Sorbonne hört (V 391), ansatzweise anerkennend über ihn, wenngleich das etwas herablassende Lob letztlich vergiftet ist, weil es Brichot als kleinlichen Schulfuchser und weniger als wirkungsmächtigen Intellektuellen denn als wissenschaftlichen Sonderling dastehen lässt:⁴⁷⁰ „Mein lieber Herr, Sie wissen ebensogut wie ich, was an Brichot ist, den ich wirklich sehr gern Albert Feuillerat, Comment Marcel Proust a composé son roman, Yale romanic studies, 1934, S. 173, hat die beiden Seiten Brichots aus der unterschiedlichen kompositorischen Anlage der Recherche ergründet, die ohne den Ersten Weltkrieg seines Erachtens fundamental anders ausgefallen wäre: « C’est, comme espèce universitaire, le contre-pied du premier Brichot; les deux espèces, chacun le sait, furent successives et restent incompatibles, et même quelque peu ennemies». Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Im Hinblick auf die dort vorausgesetzte Hochachtung vor gründlichen Griechischkenntnissen ist ein Klammerzusatz aus dem ersten Brief bemerkenswert, den Proust an Ernst Robert Curtius geschrieben hat (Correspondance, Hg. Philip Kolb, Tome XXI, 1922, Nr. 47, S. 81): « J’ai une grande admiration pour la littérature et la philosophie allemande mais votre langue m’est pas si familière (bien que je la mette à côte du grec parmi les langues les plus riches)». Vittorio Hösle, Mein Onkel der Latinist und Weltrevolutionär. Ein Nachruf auf Mario Geymonat, 2013, S. 58, beschreibt einen Grundzug des Tacitus überaus treffend; es ist sein „aristokratischer Ekel an der Welt“ (…) der „seinen Widerwillen gegen die Menschheit mit nicht mehr steigerbarer Prägnanz und Schlagkraft auszudrücken vermochte.“ – Diese Haltung erinnert unwillkürlich an Prousts Baron de Charlus.
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mag, selbst seit dem Schisma noch, das mich von seiner kleinen Gemeinde trennt, weswegen ich ihn sehr viel weniger sehe. Aber schließlich hege ich doch eine gewisse Hochachtung für diesen Schulpotentaten, der ein Meister des Wortes und höchst gebildet ist, und ich finde auch ganz rührend, daß er bei seinem Alter und geschwächt wie er ist – denn das ist er spürbar seit mehreren Jahren schon – sich wieder, wie er sagt, zum ‚Dienst‘ gemeldet hat. Letzten Endes ist aber die gute Absicht eine Sache für sich, das Talent eine andere, und Brichot hat niemals Talent gehabt. Ich gebe zu, daß ich seine Bewunderung für gewisse Seiten des gegenwärtigen Krieges teile,⁴⁷¹ die nicht ohne Größe sind. Gleichwohl ist es seltsam, daß ein blinder Parteigänger der Antike, wie Brichot, der nicht genügend Sarkasmen gegen Zola finden konnte, wenn dieser in einem Arbeiterhaushalt oder einem Bergwerk mehr Poesie zu entdecken meint als in historischen Palästen, oder auch für Goncourt, der Diderot über Homer und Watteau über Raffael stellt, uns jetzt unaufhörlich wiederholt, daß die Termopylen oder sogar Austerlitz nichts neben Vauquois seien“ (VII 132).⁴⁷² – « Mon cher Monsieur, vous savez aussi bien que moi ce que vaut Brichot, que j’aime beaucoup, même depuis le schisme qui m’a séparé de sa petite église, a cause de quoi je le vois beaucoup moins. Mais enfin j’ai une certaine considération pour ce régent de collège, beau parleur et bien instruit, et j’avoue que c’est fort touchant qu’à son âge, et diminué comme il est, car il l’est très sensiblement depuis quelques années, il se soit remis, comme il dit, à servir. Mais enfin la bonne intention est une chose, le talent en est une autre, et Brichot n’a jamais eu de talent. J’avoue que je partage son admiration pour certaines grandeurs de la guerre actuelle. Tout au plus est-il étrange qu’un partisan aveugle de l’Antiquité comme Brichot, qui n’avait pas assez de sarcasmes pour Zola trouvant plus de poésie dans un ménage d’ouvriers, dans la mine, que dans les palais historiques, ou pour Goncourt mettant Diderot audessus d’Homère, et Watteau au-dessus de Raphaël, ne cesse de nous répéter que les Thermopyles, qu’Austerlitz même, ce n’était rien à côté de Vauquais » (TR I 115/ 116).
Siehe dazu auch Karl Heinz Bohrer, Poetische Erinnerung und der Krieg, in: Marcel Proust und der Erste Weltkrieg (Hg. Wolfram Nitsch/Jürgen Ritte), 2017, S. 11; Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler), 2016, S. 13; Patricia Oster-Stierle, Der Erste Weltkrieg in der französischen Literatur damals und heute: Volker Schlöndorff, Marcel Proust und Jean Echenoz, in: Erkundungen zwischen Krieg und Frieden (Hg. Manfred Leber/Sikander Singh), 2017, S. 175; dies., Der Krieg in der filmischen Transposition von Le Temps retrouvé. Mediale Selbstreflexion“, in: Proust und der Krieg. Die wiedergefundene Zeit von 1914 (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler), 2016, S. 193. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Brichots Neigung, die Bemerkungen und Anschauungen des Baron de Charlus mit klassischem Bildungsgut zu garnieren, kommt bereits früher zum Ausdruck, weil er „bei passender Gelegenheit den griechischen Philosophen, den lateinischen Dichtern, den orientalischen Erzählern Textstellen entnahm, mit denen er die Neigungen des Barons wie mit einer fremdartig bezaubernden Blumengirlande umkränzte“ (V 388) – « mais cueillait à propos dans les philosophes grecs, les poètes latins, les conteurs orientaux, des textes qui décoraient le goût du baron d’un florilège étrange et charmant » (P II 116). Diese Bemühungen Brichots verfehlen ihr Ziel, die Wertschätzung des Aristokraten zu erlangen, zwar nicht, sind aber andererseits für sich betrachtet schwerlich hinreichend, um sie dauerhaft zu erhalten, weil noch etwas hinzukommen muss. Es ist die prinzipielle Wertschätzung des elitären Aristokraten für den Mann des Geistes,⁴⁷³ der sich jedoch alles in allem als nicht durchgängig urteilskräftig erweist, auch wenn ihm diese Intelligenz beweisende Gabe durchaus nicht abgesprochen, sondern sie nur immer wieder relativiert wird durch die Darbietung schlichter Gemeinplätze: „Aber mit dem allem vermischt, wieviel Wissen, wieviel Einsicht, wieviel richtige Urteilskraft!“⁴⁷⁴ (VII 149). – « Mais, mêlés à tout cela, tant de savoir, tant d’intelligence, de si justes raisonnements » (TR I 129). Die Relativierungen ergeben sich – wie so häufig bei Proust – aus dem jeweiligen Verhältnis, in das sie zu bestimmten anderen Personen gesetzt werden. In ihrem rhetorisch kunstvoll angeordneten Für und Wider erinnert Charlus’ Rede über Brichot zwar nicht gerade an das taciteische Totengericht über Augustus (ann. 1.9/10),⁴⁷⁵ weil dem pedantischen Professor dafür das Format fehlt, wohl aber einem jener taciteischen Nachrufe, in denen jemand letztlich nicht den ei Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 88 f., beobachtet im Hinblick auf Swann und Marcel hellsichtig, was – abzüglich des Charmes und der Lebensart – in gewissem Sinne auch für Brichot gelten dürfte: „Aber diese Kreuzung zweier Welten ist eben deswegen so anziehend, weil sie sich gegen jene scharfe Differenzierung der Klassen durchsetzt. Sie setzt sich durch kraft des Rechts der Intelligenz. (…) Aber der Charme und die Originalität ihrer Geistigkeit machen sie begehrenswert in dem Kreise der Guermantes.“ Hervorhebung nur hier. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg.Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 13, hält das Totengericht – für den vorliegenden Zusammenhang nicht uninteressant – für „eine Erfindung, die nur einem Dichter kommen konnte.“ Näher dazu ferner Bernd Manuwald, Cassius Dio und das ‚Totengericht‘ über Augustus bei Tacitus, Hermes 101 (1973), 352; Karl Christ, Tacitus und der Principat, Historia 27 (1978), 449, 450; Erich Koestermann, Der Eingang der Annalen des Tacitus, Historia 10 (1961), 330, 340, 346; Dieter Timpe, Geschichtsschreibung und Prinzipatsopposition, in: Antike Geschichtsschreibung. Studien zur Historiographie (Hg. Uwe Walter), 2007, S. 237, 240; David C. A. Shotter, The Debate on Augustus (Tacitus, Annals I 9 – 10), Mnemosyne 20 (1967), 171; Mischa Meier, Das Ende des Cremutius Cordus und die Bedingungen für Historiographie in augusteischer und tiberischer Zeit, Tyche 18 (2003), 91, 109.
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genen oder von anderer Seite an ihn gerichteten Ansprüchen gerecht wird.⁴⁷⁶ Als besonders sinnfälliges Beispiel ist der Nachruf des Quintus Haterius zu nennen, der zeit seines Lebens als Redner gefeiert war, aber gleichwohl der Vergessenheit anheim fiel, weil er zwar mitreißend sprach, es jedoch an der nötigen Sorgfalt fehlen ließ; und wie das mühevolle Nachdenken anderer in die Nachwelt wirkt, so ist der hervorströmende Klang der Rede des Haterius zugleich mit ihm selbst ausgelöscht worden: ‚utque aliorum meditatio et labor in posterum valescit, sic Haterii canorum illud et profluens cum ipso simul exstinctum est‘ (ann. 4.61).⁴⁷⁷ Mit diesem Verdikt, das wohl auch auf Brichot zutreffen würde, wird bewusst auf das Schlusskapitel der vorliegenden Abhandlung vorgegriffen. Jedoch findet sich bei Proust eine fast deckungsgleiche Einschätzung wie jene, die Tacitus über den wortseligen Haterius abgibt:⁴⁷⁸ „Denn die Gewohnheit formt ebensogut den Stil des Schriftstellers wie den Charakter des Menschen, und der Autor, der sich mehrmals damit begnügt hat, im Ausdruck seiner Gedanken ein gewisses Maß an Gefälligkeit zu erreichen, legt damit für alle Zeiten die Grenzen seines Talents fest, so wie man dadurch, daß man oft dem Vergnügen, der Trägheit, der Angst vor Schmerzen nachgibt, einem Charakter, der schließlich unabänderlich wird, die Züge seiner Laster und das Maß seiner Tugend aufprägt“ (II 173).⁴⁷⁹ – « Car l’habitude fait aussi bien le style de l’écrivain que le caractère de l’homme, et l’auteur qui s’est plusieurs fois contenté d’atteindre dans l’expression de sa pensée à un certain agrément, pose ainsi pour toujours les bornes de son talent, comme en cedant souvent au plaisir, à la paresse, à la peur de souffrir on dessine soi-même, sur un caractère où la retouche finit par n’être plus possible, la figure de ses vices et les limites de sa vertu » (JF I 174).⁴⁸⁰ Das Gewicht dieses Wortes liegt Ronald Syme, Obituaries in Tacitus, The American Journal of Philology 79 (1958), 18. Grundlegend Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Karlheinz Stierle, Proust und Sainte-Beuve, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 58, 60, erkennt in der folgenden Wahrnehmung Marcels „Bergottes Geheimnis, den verborgenen Zusammenhang zwischen seinem Leben und seinem Schreiben“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Hier könnte Schopenhauers Lehre von der Unabänderlichkeit des Charakters Pate gestanden haben, mit der er seine Theorie mangelnder Willensfreiheit begründet (dazu Jens Petersen, Schopenhauers Gerechtigkeitsvorstellung, 2017, S. 110). Proust hätte diese Idee dann dahingehend abgewandelt, dass die einmalige Richtungsänderung des Künstlers, das Sichgehenlassen und Nachgeben zu einer gewohnheitsmäßigen Deformierung des künstlerischen Charakters führt, die dann zwangsläufig irreversibel wird und zu einer negativen Vorherbestimmung der literarischen Qualität führt. Samuel Beckett, Proust, 1931 (S. 16 der von Marlis und Paul Pörtner übersetzten und durch Katharina Raabe und Werner Morlang überarbeiteten Ausgabe von 1989), meint womöglich einen ähnlichen Gesichtspunkt, wenn er die Bedeutung der Gewohnheit auf eine Weise veranschaulicht, die man auch auf Abstriche hinsichtlich der literarischen Qualität anwenden kann: „Ge-
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wohl nicht von ungefähr auf dem die Nachwelt in Betracht ziehenden ‚für alle Zeiten‘. Die Tonstelle des taciteischen Textes hingegen ruht im scheinbar nebensächlichen ‚meditatio et labor in posterum valescit‘, dessen Tragweite für das taciteische Werk Ronald Syme herausgearbeitet⁴⁸¹ und auf das Verhältnis von Tacitus und Proust fruchtbar gemacht hat.⁴⁸² Betrachtet man jedoch den näheren Zusammenhang, in dem das AgricolaWort in den Œuvres complètes steht, und vor allem das, was die Nennung des wortverkehrten ‚grande spatium mortalis aevi‘ (P I 263) auslöst, so ergibt sich Erstaunliches. Das Wort wird dort zu einem erinnerungauslösenden Moment, ähnlich, wenngleich bei weitem nicht in derselben Dimension, wie es bei der in Lindenblütentee getauchten Madeleine der Fall ist (S I 66),⁴⁸³ die zu einem Glücksgefühl der Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod führt und deren Bedeutung sich erst gegen Ende der Recherche durch den von Proust in seinem FlaubertAufsatz sogenannte ‚morceau symétrique‘ vollends entfaltet,⁴⁸⁴ weil mit der unbewußten Wiedererkennung ihres Geschmackes eine Zeitenthobenheit⁴⁸⁵ und damit nicht weniger als die Überwindung der Todesangst einhergeht (VII 266):⁴⁸⁶ „Dadurch erklärte sich, daß meine Sorgen um meinen Tod in dem Moment ein Ende gefunden hatten, in dem ich unbewußt den Geschmack der kleinen Madeleine wiedererkannte, weil in diesem Augenblick das Wesen, das ich zuvor gewesen war, außerzeitlich wurde und daher den Wechselfällen der Zukunft unbesorgt gegenüberstand“ (VII 263).⁴⁸⁷ – « Cela expliquait que mes inquiétudes au sujet de ma mort eussent cessé au moment où j’avais reconnue, inconsciemment, le goût de la petite Madeleine, puisqu’à ce moment-là l’être que j’avais été était un être extra-temporelle, par conséquent insoucieux des vicissitudes de l’avenir » (TR II 14).
wohnheit ist ein Kompromiß, geschlossen zwischen dem Individuum und seiner Umgebung oder zwischen dem Individuum und seinen eigenen organischen Überspanntheiten (…)“. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II, S. 624 Fußnote 3. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Siehe dazu nur Serge Doubrowsky, La place de la Madeleine. Écriture et phantasme chez Proust, 1974; Klaus Dürrschmidt, Zur Sensorik von Madeleines und Tee, PROUSTIANA XXIV (2006), 76. Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 89. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 247 zur ‚Zeitenthobenheit‘. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 130, der den letzten Teil der Recherche im Zeitpunkt der Niederschaft seines Essays noch nicht kennen konnte, bringt es ohne ausdrückliche Nennung der Madeleine-Episode ahnungsvoll auf die Formel: „Die Erinnerung an die entschwundene Zeit erweist sich als Hindeutung auf eine überzeitliche Existenz“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Eine solch existenzielle Wirkung entfaltet das ‚grande mortalis aevi spatium‘ auf Marcel schon deswegen nicht, weil es in der Folge dessen, wovon unmittelbar nach dem Tacitus-Wort in der ursprünglichen Fassung innerhalb der Œuvres complètes die Rede ist (P I 263), nicht um den eigenen Tod – « au sujet de ma mort » –, sondern um jenen Swanns geht. Doch ist dies zunächst nicht mehr als ein vordergründiger Gesichtspunkt. Denn wenn man einmal annimmt, dass Marcel das zitierte Tacitus-Wort durchaus geläufig ist, wofür neben dem stillschweigenden Einvernehmen Brichots und der Selbstverständlichkeit, mit der er es Marcel gegenüber ausspricht, auch dessen vielfältige Bezugnahmen auf die lateinischen und griechischen Klassiker sprechen, darüber hinaus eine noch zu behandelnde Stelle, an der er allein dadurch innerlich aus dem Gleichgewicht gebracht wird, dass er sich an eine einzelne Silbe eines Verses der Phädra nicht genau erinnern kann (G I 47/48), dann könnte gerade die Durchbrechung der gewohnten Wortfolge für die nachfolgende erinnernde Reflexion mitursächlich sein. Schließlich darf auch bei der Madeleine-Episode, mit der die vorliegende Stelle zur Vermeidung von Missverständnissen, wie gesagt, nicht auf eine Stufe gestellt werden darf, ein vorderhand unscheinbares Detail nicht übersehen werden. Diese wesentliche Besonderheit besteht nämlich darin, dass Marcel nach anfänglicher Ablehnung und für ihn selbst überraschender Neubesinnung dem Vorschlag seiner Mutter folgte, ‚entgegen seiner Gewohnheit‘ Tee zu trinken:⁴⁸⁸ „Viele Jahre lang hatte von Combray außer dem, was der Schauplatz und das Drama des Zubettgehens war, nichts für mich existiert, als meine Mutter an einem Wintertage, an dem ich durchgefroren nach Hause kam, mir vorschlug, ich solle entgegen meiner Gewohnheit eine Tasse Tee zu mir nehmen. Ich lehnte erst ab, besann mich dann aber, ich weiß nicht warum, eines anderen“ (I 63).⁴⁸⁹ – « Il y avait déjà bien des années que, de Combray, tout ce qui n’était pas le théâtre et le drame de mon couché n’existait plus pour moi, quand un jour d’hiver, comme je rentrais à la maison, ma mère, voyant que j’avais froid, me proposa de me faire prendre, contre mon habitude, un peu de thé. Je refusai d’abord et, je ne sais
Luzius Keller, Les avant-textes de l’épisode de la madeleine dans les cahiers de brouillon de Marcel Proust, 1978 (hier zitiert in der deutschen Übersetzung in: Luzius Keller, Proust lesen, 1991, S. 196 f.), lässt dies in seiner chronologischen Paraphrase, die dadurch zu selbstverständlich und zu beiläufig gerät, sub (6) außer Betracht: „Marcel kommt an einem Winterabend durchgefroren nach Hause; seine Mutter bietet ihm eine Tasse Tee an und schickt nach Sandtörtchen (‚madeleines‘).“ – Das bedeutungsvolle ‚contre mon habitude‘ wird dort innerhalb der vergleichsweise kleinschrittigen Untergliederung der Madeleine-Episode in ein immerhin elf-aktiges Geschehen nicht eigens berücksichtigt. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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pourquoi, je me ravisai » (S I 66/67).⁴⁹⁰ Im französischen Original ist das entscheidende ‚contre mon habitude‘ durch Kommata abgetrennt und steht damit schon durch die Interpunktion herausgehoben für sich.⁴⁹¹ Erst im Anschluss an dieses Detail ist von der Madeleine die Rede. Wenn sich Marcel selbst seinen Gesinnungswandel nicht erklären kann, muss man die zeitlich vorrangige Durchbrechung der Gewohnheit in Rechnung stellen.⁴⁹² Proust entwickelt eine regelrechte Genealogie der Gesetze, denen Gedächtnis und Gewohnheit gehorchen: „Nun aber bilden die Erinnerungen der Liebe keine Ausnahme von den allgemeinen Regeln des Gedächtnisses, die ihrerseits von den noch allgemeineren der Gewohnheit diktiert werden. (…) Wenn demgemäß die Wirkungen der Gewohnheit widerspruchsvoll erscheinen, so deshalb, weil diese vielfältigen Gesetzen gehorcht“ (II 286/287). – « Or les souvenirs d’amour ne font pas exception aux lois générales de la mémoire, elles-mêmes régies par les lois plus générales de l’habitude. (…) Et si ces effets de l’Habitude semblent contradictoires, c’est qu’elle obéit á des lois multiples » (JF II 60/1). Ohne die Abkehr vom Habituellen fehlte eben auch bei der in Lindenblütentee getauchten Madeleine ein entscheidendes Element für die außergewöhnliche Wahrnehmung. Nicht von ungefähr sagt Marcel in der ‚wiedergefundenen Zeit‘ vom Menschen, dass er „nichts als eine Verdichtung seiner gegenwärtigen Gewohnheiten ist“ (VII 393).⁴⁹³
Zum ,contre mon habitudeʻ, wie bereits eingangs erwähnt, auch Lewis Hyde, A Primer for Forgetting. Getting Past the Past, 2019, S. 302. Anders beispielsweise an vergleichbarer, nämlich ebenfalls entscheidender Stelle im ‚Contre Sainte-Beuve‘ (S. 119), wo das ‚contre mon habitude‘ ohne Aufmerksamkeit heischende Kommata, gleichsam fließend in den Text eingewoben ist: « Maman me quitte, mais je repense à mon article et tout d’un coup j’ai l’idée d’un prochain: Contre Sainte-Beuve. Dernièrement, je l’ai relu, j’ai pris contre mon habitude des quantités de petites notes que j’ai là dans un tiroir, et j’ai des choses importantes à dire là-dessus.» Siehe dazu vor allem Karlheinz Stierle, Proust und Sainte-Beuve, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 58, 60: „Indem Proust sich hier die Poetik der Erinnerung zu eigen macht, zu der Sainte-Beuve keinen Zugang fand, wird mit der Initialzündung des in den Tee getauchten pain grillé (aus dem in der Recherche die madeleine wird) und der Erinnerung an eine Venedig-Reise, die die Unebenheit eines gepflasterten Innenhofs plötzlich freisetzt, schon der Grundriß zu dem großen Erinnerungswerk der Recherche du temps perdu, das aus der kritischen Auseinandersetzung mit dem kritischen Werk Sainte-Beuves herauswächst und in dem Proust seiner eigenen Poetik der Erinnerung eine schließlich weit über alle Anregungen hinausführende Gestalt gibt.“ Hervorhebungen nur hier. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 44, hat diesen Mechanismus bereits in anderem Zusammenhang beobachtet: „Mit der Reise nach Balbec und der Durchbrechung der Gewohnheit mehren sich die plötzlichen Erinnerungen an Gilberte, aber gerade durch ihre Intensität für kurze Zeit verzehrt sie schließlich endgültig.“ Hervorhebung nur hier. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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– « un homme qui n’est que la condensation de ces habitudes actuelles » (TR II 144). Denn sobald sich die Gewohnheit einnistet, verliert sich die ursprüngliche Empfindsamkeit, die das Glücksgefühl ermöglicht:⁴⁹⁴ „Als die Sonate von Vinteuil mir ihr verborgenstes Inneres entdeckte, begann, von der Gewohnheit schon aus dem Bereich meiner Empfänglichkeit entrückt, was ich zuerst daran mit Bewußtsein gleichsam bevorzugt festgestellt hatte, mir bereits zu entschwinden, zu entfliehen“ (II 139).⁴⁹⁵ – « Quand ce qui est le plus caché dans la Sonate de Vinteuil se découvrit à moi, déjà entraîne par l’habitude hors des prises de ma sensibilité, ce que j’avais distingué, préféré tout d’abord, commençait à m’áchapper, à me fuir » (JF I 139).⁴⁹⁶ Überträgt man dies – gleichsam a maiore ad minus – auf die vorliegende Stelle des wortverkehrten Tacitus-Zitats in den Œuvres complètes (P I 263), so könnte ebenfalls die Durchbrechung der gewohnten Bahnen, sei es auch nur in der Wortfolge eines vertrauten Zitats, eine das erinnernde Nachdenken über den Tod Swanns erschließende Wirkung gehabt haben. Wie ein ‚Sesam, öffne Dich‘ bewirkt die Nennung unvermittelt eine tiefgreifende Reflexion in der Erinnerung an versunkende Zeiten. Die hier als ‚Sesam‘ bezeichnete erschließende Wirkung einer bestimmten Wortfolge entspricht übrigens auch Prousts an anderer Stelle zum Ausdruck kommender Anschauung:⁴⁹⁷ „Doch die Worte: ‚Diese Freundin ist Mademoiselle Vinteuil‘ waren zu einem ‚Sesam-öffne-dich‘ geworden, das ich unmöglich selbst hätte entdecken können“, mit dessen Hilfe aber Albertine in die Tiefen meines zerrissenen Herzens vorzudringen vermocht hatte“ (IV 718). – « Mais les mots: ‚Cette amie, c’est Mlle Vinteuil‘ avaient été le Sésame, que j’eusse été incapable de trouver moi-même, qui avait fait entrer Albertine dans la profon-
Samuel Beckett, Proust, 1931 (S. 16 der von Marlis und Paul Pörtner übersetzten und durch Katharina Raabe und Werner Morlang überarbeiteten Ausgabe von 1989), erkennt die Interdependenz: „Die Gesetze der Erinnerung sind den allgemeineren Gesetzen der Gewohnheit unterworfen“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 323 Anmerkung 52, wonach „die habitude (…) alles Leiden allmählich erträglich und die fremde Umwelt heimisch macht“. Karlheinz Stierle, Land und Meer in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patricia Oster/Karlheinz Stierle), 2007, S. 25, macht dies für die Madeleine-Erfahrung fruchtbar: „Am Eingang zur wiedererweckten Kindheitswelt von Combray steht die berühmte unwillkürliche Erinnerung, die der Genuß einer in Lindenblütentee eingetauchten ‚Madeleine‘ auslöst, wie sie das Kind einst bei der Tante erhielt. Das Sesam-öffne-dich der Erinnerung ist ein diskretes, kunstvolles Emblem der Verschlingung von Meer- und Landassoziationen in der Form eines Chiasmus der Vorstellung“.
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deur de mon cœur déchiré » (SG 357 II). Angesichts der Zentralität der erinnerungsauslösenden Wirkung für die Recherche würde dem unscheinbaren TacitusWort, wenn diese Vermutung zutrifft, eine Bedeutung zukommen, die weit über den engeren Zusammenhang innerhalb der ‚Prisonnière‘ hinausweist. Dabei könnte sich zeigen, dass gerade die letztgenannte Frage zu ganz grundsätzlichen Überlegungen führt, nämlich über Swanns Tod und damit natürlich über den Tod im Allgemeinen – so wie am Ende der Recherche die Auflösung der MadeleineEpisode durch ihr symmetrisches Seitenstück zur Erkenntnis der Überwindung der Todesfurcht führt. Es ist also an der Zeit, das jeweilige Umfeld der Nennung des Tacitus-Wortes so unter die Lupe zu nehmen, wie Marcel den Professor Brichot in Augenschein nimmt, als er ihn beim Aussteigen aus der Straßenbahn betrachtet und dessen Kurzsichtigkeit in wenig schmeichelhafter Weise geradezu naturwissenschaftlich seziert. Da dies beinahe unmittelbar vor dem Tacitus-Wort angeordnet ist, sei es hier ausführlich wiedergegeben, zumal da es den in seiner kargen Behelfsmäßigkeit und Sonderlichkeit eher kleinbürgerlichen Professor Brichot mit seinem für großbürgerliche Gesellschaften eher unzulänglichen (V 266), aber durchaus liebenswürdigen Habitus detailreich charakterisiert und dabei seine Brille und ihren Träger in einer fast kafkaesken Weise beschreibt:⁴⁹⁸ „Als mein Wagen, am
Man denke an Franz Kafka, Die Verwandlung, 1915, in: Erzählungen (Hg. Max Brod, S. Fischer-Ausgabe 1986, Band 4, S. 57), wenn man das Folgende liest. Antoine Compagnon, Truth and Justice, in: The Strange M. Proust (Hg. André Benhaim), 2009, S. 112, 115, hat das Thema der Gerechtigkeit im Hinblick auf Proust und Kafka so anschaulich eingeordnet, dass dies auch für das Verständnis von ‚law and literature‘ von Bedeutung sein kann: “We are not yet in Kafka, but justice is no less menacing and malicious. It is not there to protect me, but to incriminate me, attack me, and torment me. There is a nightmare of justice, often represented in La recherche. (…) Justice gives nightmares. In La Recherche there is a continous dread of justice. (…) Is justice there to defend me or to condemn me? Spontaneously, the narrator identifies with those it punishes, and all comparisons project him toward the condemned guilty of an unknown but incontestable crime.” Siehe auch Georg Sterzenbach, Die Erschütterlichkeit der Logik. Marcel Proust und Franz Kafka – verborgene Zusammenhänge, PROUSTIANA XXI (2001), 107. Im Hinblick auf Franz Kafka, Vor dem Gesetz, 1915 (dazu Christoph Bezemek, Hg. „Vor dem Gesetz“. Rechtswissenschaftliche Perspektiven, 2019), ist noch folgende Stelle der Recherche aufschlussreich, die das bei Kafka aussichts- und trostlose Motiv gleichsam ins Verheißungsvolle wendet: „In dem Augenblick aber, in dem uns alles verloren scheint, erreicht uns zuweilen die Stimme, die uns retten kann; man hat an alle Pforten geklopft, die auf gar nichts führen, vor der einzigen aber, durch die man eintreten kann, und die man vergeblich hundert Jahre lang hätte suchen können, steht man, ohne es zu wissen, und sie tut sich auf“. (VII 256). – «Mais c’est quelquefois au moment où tout nous semble perdu que l’avertissement arrive qui peut nous sauver: on a frapper à toutes les portes qui ne donnent sur rien, et la seule par où on peut entrer et qu’on aurait cherchée en vain pendant cent ans, on y heurte sans le savoir et elle s’ouvre» (TR I 233). Es ist folgerichtig, dass die Œuvres complètes
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Quai entlangfahrend, dem Hause der Verdurins schon nahe war, ließ ich noch einmal halten. Ich hatte nämlich an der Ecke der Rue Bonaparte Brichot aus der Straßenbahn steigen, seine Schuhe mit einer alten Zeitung abwischen und perlgraue Handschuhe anziehen sehen. Ich ging auf ihn zu. Da seit einiger Zeit sein Augenleiden sich verschlimmert hatte, war er – in opulenter Weise wie ein Laboratorium – mit neuen Gläsern ausgestattet worden: von machtvoller Stärke und kompliziert wie astronomische Instrumente schienen sie auf seine Augen aufgeschraubt zu sein; er stellte ihr unerhört starkes Feuer auf mich ein und erkannte mich.⁴⁹⁹ Die Instrumente waren in ganz wundervoller Verfassung. Hinter ihnen aber bemerkte ich, winzig klein, blass, zuckend, erlöschend, einen fernen Blick, der unter diesem machtvollen Apparat lag, wie in Laboratorien, die im Verhältnis zu den Aufgaben, denen sie dienen, überreich subventioniert werden, ein unbedeutendes Tierchen im Todeskampf unter Instrumenten von unerhörter Vollkommenheit. Ich bot dem Halberblindeten meinen Arm, damit er sicherer gehe. ‚Diesmal treffen wir uns hier nicht mehr in der Nähe des großen Cherbourg, sagte er zu mir, sondern in der Nachbarschaft des kleinen Dünnkirchen‘ – ein Satz, der mich eher verdroß, denn ich verstand nicht, was er besagen sollte; doch wagte ich Brichot nicht danach zu fragen, weniger aus Furcht vor seiner Verachtung als vor seinen Erklärungen. Ich antwortete ihm, ich sei recht neugierig, den Salon zu sehen, in dem Swann früher allabendlich Odette getroffen habe. ‚Wie? Sie kennen diese alten Geschichten?ʻ Sagte er zu mir. Es ist immerhin seither eine Zeit verstrichen, die der Dichter mit Recht als ‚grande spatium mortalis aevi‘ bezeichnet“ (V 262).⁵⁰⁰ – « Comme ma voiture, longeant le quai, approchait de chez les Verdurins, je la fis arrêter. Je venais en effet de voir Brichot descendre de tramway au coin dela rue
mit diesen Sätzen den ersten Halbband beschließen, so dass zu Beginn des zweiten das Geheimnis der Madeleine gelüftet werden kann (TR II 8). Gerhard Neumann, Liebes- und Gedächtnismahl. Zum Zusammenhang von Ursprung und Eucharistie in Prousts Recherche, in: Ein unerhörtes Glücksgefühl (Hg. Kirsten von Hagen/Claudia Hoffmann/Volker Roloff), PROUSTIANA XXIV (2006), 176, 177, verdeutlicht den auch aus der hier interessierenden Perspektive fundamentalen Unterschied: „Dabei geht es Kafka um die Orientierung in einer fremden, bürokratisierten Welt und um das Sich-Hineinfinden des Subjekts in eine gegebene Rechts- und Sozialordnung“. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 496, stellt abstrakt generell fest, was hier womöglich konkret individuell gilt: „Wir kennen beide Schattierungen von Proust her, nur, daß dessen Vermischung von ‚petitesse et grandeur‘ auf einer Weltsicht, die beide nivelliert und relativiert, beruht. Das Mißverhältnis zwischen Ausdrucksfülle und Gegenstand stammt von den Vergrößerungsgläsern her, mit denen nur im Zorn Saint-Simon, überhaupt stets Proust die Welt betrachtet“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Bonaparte, essuyer ses souliers avec un vieux journal, et passer des gants gris-perl. J’allai à lui. Depuis quelque temps, son affection de la vue ayant empiré, il avait été doté – aussi richement qu’un observatoire – de lunettes nouvelles puissantes et compliquées qui, des instruments astronomiques, sembaient vissées à ses yeux,⁵⁰¹ il braqua sur moi leurs feux excessifs et me reconnut. Elles étaient en merveilleux état. Mais derrière elles j’apperçus, minuscule, pâle, convulsif, expirant, un regard lointain placé sous ce puissant appareil, comme dans les laboratoires trop richement subventionées pour les besognes que l’on y fait, on place une signifiante bestiole agonisante sous les appareils les plus perfectionées. J’offris mon bras au demiaveugle pour assurer sa marche, ‚Ce n’est pas cette fois près du grand Cherbourg que nous nous sommes rencontrons, me dit-il, mais à côté du petit Dunkerque‘, phrase qui me parait fort ennuyeuse, car je ne compris pas ce qu’elle voulait dire; et cependant je n’osai pas le demander à Brichot, par crainte moins encore de son mépris que de ses explications. Je lui répondis que j’étais assez curieux de voir le salon où Swann rencontrais jadis tous les soirs Odette. ‚Comment, vous connaissez ces vieilles histoires?ʻ me dit-il. Il y a pourtant de cela jusqu’à la mort de Swann ce que le poète appelle à bon droit grande spatium mortalis aevi » (P I 263). Liest man diesen letzten Satz unbefangen, so erstaunt am meisten, dass der Altphilologe Brichot das Zitat nicht direkt Tacitus oder wenigstens ‚dem Historiker‘ zuordnet, sondern ausgerechnet er, der so viele zitiert und teils namentlich erwähnt, von Tacitus als ‚Dichterʻ spricht: « Il y a pourtant de cela jusqu’à la mort de Swann ce que le poète appelle à bon droit grande spatium mortalis aevi » (P I 263). Man würde von einem Altphilologen am wenigsten erwarten, dass er von Tacitus als ‚le poète‘ spricht. In der Recherche werden so viele wahre Dichter ohne diesen bestimmenden Zusatz genannt, dass er im Zusammenhang mit Tacitus eher als Fremdkörper erscheint. Hätte eine weniger gelehrte Person in diesem Zusammenhang von Tacitus als ‚poète‘ gesprochen, würde man ohne weiteres an eine Zuordnungsverwirrung, bloßes Halbwissen oder schlichte Unkenntnis glauben. Hier jedoch bewegte sich der Gräzist Brichot in einem weiteren Sinne der Altphilologie noch innerhalb seiner Domäne. Das führt zu der Frage, ob Proust damit nicht vielleicht zum Ausdruck bringen wollte, dass auch er Tacitus, jedenfalls in gewisser Hinsicht, als Dichter begriff. Diese Frage wird im Schlussteil der vorliegenden Abhandlung nochmal vor einem anderen Hintergrund gestellt werden. Tacitus selbst hat sich gewiss nicht als Dichter gesehen, wie eine entlegene Stelle im Dialogus de oratoribus mit leicht Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 51, macht auf ein anderes Beispiel aufmerksam, in dem Brillengläser eine Rolle spielen: „Die Beseelung des Unbelebten ist ein künstlerisches Verfahren, das Proust bevorzugt. (…) Brillengläser nehmen an der psychischen Spannung ihres Trägers teil“.
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ironischer Färbung nahelegt: ‚etiam poeticus decor‘ (dial. 20.5). Andererseits lässt er dort seinen bevorzugten Protagonisten Maternus die Dichtkunst verteidigen: ‚ego, cui desidiam advocationum obicis, cotidianum hoc patrocini defendendae adversus te poeticae exerceo‘ (dial. 4.1).⁵⁰² Einen elitären Standpunkt, der wohl auch Proust eingeleuchtet hätte, wenn man nur bedenkt, dass er etwa von einem „in der Durchschnittlichkeit eines in gutem Mittelmaß sich bewegenden Talents“ spricht (III 60)⁵⁰³ – « dans la banalité d’un talent » (G I 62) –, und davon ausgeht (II 374), dass „ein mittelmäßiger Schriftsteller, auch wenn er in einer Epoche lebt, die wie ein einziges Epos verläuft, ein mittelmäßiger Schriftsteller bleibt“ (VII 329),⁵⁰⁴ – « qu’un écrivain médiocre vivant dans une époque équipe restera un tout aussi médiocre écrivain » (TR II 79) – lässt Tacitus im Dialog einen der Redner einnehmen; demzufolge kennt niemand die mittelmäßigen Dichter, nur wenige die guten: ‚quoniam mediocris poetas nemo novit, bonos pauci‘ (dial. 10.1).⁵⁰⁵ Aber auch diese heiter-ironisch gefärbten Stellen können nicht darüber hinwegsehen lassen, dass der zunächst als Redner gefeierte Senator Tacitus sich spätestens während der Niederschrift der Historien als Geschichtsschreiber sah.⁵⁰⁶ Andererseits ist das bereits wiederholt zitierte ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61), von dem am Ende der Abhandlung noch ausführlich die Rede sein wird, deutlicher Ausweis gewachsenen Stilempfindens eines großen Schriftstellers.⁵⁰⁷ Dieses ist gewiss nicht auf Dichtung im eigentlichen Sinne gerichtet; der schon zitierte Anfangssatz der Annalen – ‚urbem Romam a principio reges habuere‘ (ann. 1.1.1) – ist zwar ein Hexameter,⁵⁰⁸ aber ein durchaus um-
Dazu Justin Zaremby, Silent Dissent? Tacitus Against the Lawyers, Yale Journal of Law & Humanities 20 (2008), 277, 283, paraphrasiert den Standpunkt des Maternus: “Poetry is a way of celebrating glorious deeds and condemning evil ones”. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Rhihannon Ash, Tacitus and the Poets: In Nemora et Lucos … Secedendum est (Dialogus 9.6)?, in: Wordplay and Powerplay in Latin Poetry (Hg. Phillip Mitsis/Ioannis Ziogas), 2016, S. 13, hat diesen Zusammenhang am gründlichsten analysiert. Eduard Fraenkel, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 16, 35, macht allerdings auf eine sogleich im Text noch zu vertiefende Einschränkung aufmerksam, denn „die Wahl des überhaupt zu Erzählenden aber wird weit mehr von den Möglichkeiten schriftstellerischer Wirkung als von dem historischen Rang der Ereignisse bestimmt“. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II, S. 624 Fußnote 3. Ablehnend Friedrich Leo, Die staatsrechtlichen Exkurse in Tacitus’ Annalen, Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Philologisch-historische Klasse, Heft 2/1896, S. 191 Fußnote 1, wonach „diese Worte für Tacitus und seine Zeit kein Hexameter sind, und, wenn sie ein solcher sein sollten drei metrische Fehler haben würden“.
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strittener.⁵⁰⁹ Bereits Lichtenberg hat Tacitus als großen Schriftsteller anerkannt: „Es gibt kein sichereres Kriterion von einem großen Schriftsteller, als wenn sich aus seinen Anmerkungen en passant Bücher machen lassen. Tacitus und Sterne sind jeder in seiner Art Muster hiervon“.⁵¹⁰ Das belegt übrigens das vorliegende Zitat (Agr. 3.2). Auch das einschlägige Schrifttum zu Tacitus hebt hervor, dass er den Römern stets als Schriftsteller vorgekommen ist.⁵¹¹ Noch entschiedener fasst es der bereits mehrfach zitierte Ronald Syme zusammen, der ihn in seiner monumentalen Monographie sogar sprachlich ganz ähnlich wie Brichot würdigt: “Tacitus is a poet and a dramatist, not different in that from other historians (…), but better”.⁵¹² Fasst man diese Urteile, ein jedes für sich aus berufenem Mund, zusammen, dann wird deutlich, dass Brichot keineswegs übertreibt, wenn er Tacitus als Dichter begreift. Nimmt man hinzu, dass Proust sich zutiefst verstanden fühlte, als Francis Jammes „cette phrase à la Tacite“ rühmte, so spricht dies dafür, dass er selbst der Auffassung gewesen ist, dass Tacitus nicht nur Historiker gewesen ist, sondern durchaus auch poète. Verfolgen wir vor diesem Hintergrund die im Ausgangspunkt aufgestellte These, dass das im Original, wenngleich mit veränderter Wortstellung zitierte Tacitus-Wort ein erinnerungsauslösendes Moment, eine Art Tor ist, durch das Marcel unwillkürlich einen Erinnerungsraum betritt,⁵¹³ so ergibt sich etwas buchstäblich unmittelbar Interessantes, das womöglich geeignet ist, die falsche Wortstellung zu erklären. Geht man zunächst von den Œuvres complètes aus, so ist der Bezugspunkt des Zeitraums zu beachten. Es ist dort nichts Geringeres als der Tod Swanns, von dem die folgende Reflexion ausgeht: « Il y a pourtant de cela jusqu’à la mort de Swann ce que le poète appelle à bon droit grande spatium mortalis aevi » (P I 263). Unmittelbar darauf folgend, nur
Erich Koestermann, Cornelius Tacitus. Annalen, Band I, 1963, S. 56 („ein – schlechter – Hexameter“). Georg Christian Lichtenberg, Aphorismen (Hg. Max Rychner), 7. Auflage 1986, S. 326. Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 11: „Tacitus erschien seinem Volke von Anfang an als ein großer Schriftsteller“. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II, S. 546. Ähnlich bereits Richard Reitzenstein, Tacitus und sein Werk, Neue Wege zur Antike IV (1926), 3, 16 (= Aufsätze zu Tacitus, 1967, S. 121, 134). Zum Begriff des Erinnerungsraums im Hinblick auf das erste Wort der Recherche, von dem bereits die Rede war, erhellend Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler), 2016, S. 13: „Dabei bleibt der Erinnerungsraum des ‚longtemps‘ selbst ohne zeitliche und örtliche Lokalisierung und damit ebenso unbestimmt wie der Zeitraum selbst, der kein Vorher und kein Nachher zu haben scheint. Ebenso unbestimmt bleibt das Jetzt der Erzählung, das durch die Zeitform des Perfekt mit dem vergangenen ‚longtemps‘ noch immer in einem besonderen Zusammenhang zu stehen scheint“.
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durch einen wie ein erschrockenes Innehalten wirkenden Absatz getrennt, die aufwühlenden Worte: „Swanns Tod hatte mich zu seiner Zeit sehr aus dem Gleichgewicht gebracht. Swanns Tod!“ (V 263).⁵¹⁴ – « La mort de Swann m’avait à l’époque boulversé. La mort de Swann! » (P I 263). Das Tacitus-Wort führt Marcel gleichsam in die versunkene Epoche der damaligen Zeit. Hier hallt der Tod Swanns hörbar nach. Die bis ins Mark erschütternde Wirkung lässt sich nur im französischen Original nachvollziehen: ‚boulversé‘. Das erinnert in seiner Intensität nicht von ungefähr sprachlich an eine der – neben der bereits im selben Zusammenhang behandelten Madeleine-Episode – berühmtesten Stellen der Recherche, nämlich jenen Moment, an dem Marcel unversehens innewird, dass er den Tod seiner Großmutter seinerzeit zu wenig betrauert hat. Er wird dessen in einer existenziellen Erfahrung gewahr, die jener gleicht, als er von der in Tee getauchten Madeleine gekostet hat. Bereits der einleitende Satz verdeutlicht das grundstürzende Ereignis mit demselben Wortstamm wie er bei der Reflexion von Swanns Tod verwendet wird:⁵¹⁵ „Ein tiefgreifender Umsturz vollzog sich nun in meiner ganzen Person“ (IV 218).⁵¹⁶ – « Bouleversement de toute ma personne » (SG I 212). Was nach Swanns Tod im Partizip Perfekt am Ende eines gemessenen Satzes steht – ‚boulversé‘ –,⁵¹⁷ tritt im Nominalstil mit ungleich größerer Wucht zutage, die durch kein Verb gebremst wird; eine beinahe taciteische Ellipse. Die Erinnerung an den Schlaganfall der Großmutter und ihr anschließendes Leiden bis zum Tode führt zu einem ungleich größeren, ja die gesamte Existenz ergreifenden Umsturz – ‚boulversement de toute ma personne‘ – als der Marcel vergleichsweise peripher treffende Tod Swanns, dessen er sich im Anschluss an das von Brichot ausgesprochene ‚grande spatium mortalis aevi‘ erinnert. Die Zentralität der Stelle zeigt sich bereits daran,
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft, 2012, S. 95 f., verallgemeinert Feststellungen über den Satzbau in einer so tiefsinnigen und illustrativen Weise, dass man seine ungemein dicht auf den Punkt gebrachten Erkenntnisse wohl auch auf den vorliegenden Zusammenhang anwenden kann: „Bei Marcel Proust ist der Satz als kompliziertes hypotaktisches Gefüge das Äquivalent eines dem Leser angesonnenen Inneseins, das bis an die Grenzen des vom Bewußtsein Leistbaren führt und in dem sich wie in einem Palimpsest histoire und discours so überlagern, daß sich in ihm eine Vielzahl von Zeitmomenten zur Zeitfigur des Eingedenkens zusammenschließt.“ Zum im Zitat genannten Palimpsest George Poulet, L’espace proustien, 1963; Gérard Genette, Proust palimpseste, in: Figures I (Hg. Ders.), 1966, S. 39. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Beiläufig betrachtet, findet sich dieses Wort der Erschütterung auch im Jean Santeuil: «Jean devait donc sonner pour se faire ouvrir, et se sentait trop bouleversé pour affronter le regard pénétrant d’Augustin» (JS 235).
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dass kurz nach dem ‚Bouleversement de toute ma personne‘ ein Satz folgt, der gleichsam das buchstäbliche Herzstück,⁵¹⁸ die ‚Intermittences du cœur‘ auf den Begriff bringt (SG I 206 – 246), die als ursprünglicher Titel der Recherche gedacht waren:⁵¹⁹ „Denn mit den Störungen des Gedächtnisses ist eine Intermittenz, ein Versagen auch des Herzens verbunden“ (III 219). – « Car aux troubles de la mémoire sont liées les intermittences du cœur » (SG I 213).⁵²⁰ Ein mit dem Tod seiner Großmutter vergleichbares ‚boulversement‘ wird Marcel erst wieder nach der Flucht Albertines erleben: „Ich sah in meinen Gedanken überhaupt nicht das Bild jener Albertine vor mir, die dennoch die Ursache eines so großen Umsturzes in meinem Innern war“ (VI 25).⁵²¹ – « Je ne voyais même pas devant ma pensée l’image de cette Albertine, cause pourtant d’un tel boulversement de mon être » (AD 26). Es ist ganz gewiss kein Zufall, dass demgegenüber das ‚boulversement de toute ma personne‘ bei der Erinnerung an den Tod der Großmutter auf eine Stelle folgt, in der sich jemand zwar sprachlich ungeschickt ausdrückt, aber im französischen Original – wenngleich in einer beschwichtigenden Verneinung und mit einer ungeachtet der Situationskomik sinnigen Verwechslung – die Worte ‚perdre temps‘ aufscheinen: « ,Cela ne m’a fait perdre qu’un temps infini‘ (pour infime). Du reste nous étions arrivés » (SG I 213). Entsprechend dem weiter oben zur Madeleine Gesagten, bei der das ‚contre mon habitude‘ die Erinnerung auslöste (S I 66/67), dürfte es das die Gewohnheit durchbrechende Missverständnis des Sprechers – ,infini‘ (pour infime) – gewesen sein, das zum mitauslösenden Moment wird, wenn auch hier wie dort nur als notwendige und noch nicht als hinreichende Bedingung. So könnte man wahrscheinlich alle Stellen der Recherche, in denen es um einen ‚souvenir involotaire‘ im weiteren Sinne geht, erfolgreich daraufhin untersuchen, ob sich nicht unmittelbar zuvor etwas gegen die Gewohnheit Gerichtetes, Unerwartetes ereignete, durch das Marcel gleichsam aus dem Tritt gerät; am deutlichsten schließlich durch die unebene Bodenschwelle im Hof der Guermantes, als er sich an das Baptisterium von San Marco in Venedig erinnert.⁵²² Christian Rößner, Kardiokapriolen. Prousts Phänomenologie der „Intermittences du cœur“, in: Marcel Proust: Bewegendes und Bewegtes (Hg. Katharina Münchberg/Matei Chihaia), 2013, S. 241, bezeichnet den Teil bereits als „Herz-Stück“, den Proust unter dem genannten Titel in La Nouvelle Revue Française XVII (1921), 385, publiziert hat. Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XI (1912), S. 257, erklärt den Titel: «qui fait allusion dans le monde moral à une maladie du corps ». Siehe dazu nur Angela Moorjani, A Cryptanalysis of Proust’s ʻLes intermittences du cœurʼ, Modern Language Notes 105 (1990), 875. Rainer Warning, Marcel Proust, 2016, S. 83 ff., über die „wiederauferstandene Großmutter“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Siehe zu dieser schlechthin zentralen Stelle der Recherche auch Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste
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Das ist für das Verständnis des Folgenden nicht unwichtig, weil erst diese – und nicht bereits die thematisch verwandte Madeleine-Episode – Begebenheit des Innewerdens des Todes seiner Großmutter zum ausdrücklich genannten ‚souvenir involonaire‘ innerhalb der Recherche führt:⁵²³ „In meiner Erinnerung fand ich, in meiner Ermattung über mich geneigt, das zärtliche, das besorgte, das enttäuschte Antlitz meiner Großmutter wieder, so wie sie an jenem ersten Ankunftsabend gewesen war; das Gesicht meiner Großmutter, nicht derjenigen, die ich – wie ich mit Staunen und Reue festgestellt – so wenig betrauert hatte und die von jener nur den Namen hatte, sondern meiner wirklichen Großmutter, deren lebendige Realität sich zum ersten Mal seit jenem Tag in den Champs-Élysées, an dem der Schlag sie getroffen hatte, in einer unwillkürlichen und vollständigen Erinnerung wiederfand“ (IV 218).⁵²⁴ – « Je venais d’apercevoir, dans ma mémoire, penché sur ma fatigue, le visage tendre, préoccupé et déçu de ma grand’mère, telle qu’elle avait été ce premier soir d’arrivée, le visage de ma grand’mère, non pas de celle que je m’étais étonné et reproché de si peu regretter et qui n’avait d’elle que le nom, mais de ma grand’mère véritable dont, pour la première fois depuis les Champs-Élysées où elle avait eu son attaque, je retrouvais dans un souvenir involontaire et complet la réalité vivante » (SG I 213/214).⁵²⁵ Der existentiellen Dimension dieses Erlebnisses entspricht angesichts der durch die Erinnerung buchstäblich wie ausgetauschten Betrauerten das einleitende « boulversement de toute ma personne ». Man kann den Bogen zum Tacitus-Zitat Brichots auch an dieser Stelle –wie schon weiter oben am Beispiel der Madeleine⁵²⁶ – nur mit der Maßgabe spannen,
(Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 9 f., der den Zusammenhang mit den unebenen Pflastersteinen im Hof der Guermantes durch eine auch hier verschiedentlich angesprochene Metapher verdeutlicht: „Das Flüchtige oder besser: die kontingente Korrespondenz zwischen zwei Kontingenzen ist zum Sesam-öffne-dich der Erinnerung, des ‚souvenir involontaire‘, geworden. Aber die Schatzkammer, die das flüchtige Paßwort öffnet, wäre leer ohne die zeitbindende Kraft der Kunst“. Wichtig zur Unterscheidung Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 30 f.: „Prousts Schaffen ruht auf der Unterscheidung zweier Formen des Gedächtnisses: der vom Willen gelenkten mémoire, die nur totes Tatsachenmaterial registriert, und des spontanen, der bewußten Anstrengung unzugänglichen souvenir, welches den Gefühltston des Erlebnisses in ursprünglicher Frische reproduziert.“ Hervorhebungen auch dort. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zu dieser Stelle eingehend Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 62 f. Vgl. auch Karlheinz Stierle, Text als Handlung. Grundlegung einer systematischen Literaturwissenschaft, 2012, S. 262: „Auch die fragmentarische, plötzlich aufblitzende Erinnerung des souvenir involontaire strebt danach, wenn sie im Gedächtnis verankert und mitteilbar gemacht werden soll, eine Erzählform zu gewinnen. So wird in Prousts À la recherche du temps perdu der souvenir involontaire von Tee und Madeleine-Gebäck zum Teil der erinnerten Geschichte der
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dass diese beiden epochalen Ausprägungen des souvenir involontaire bei der durch das Tacitus-Zitat mitausgelösten Erinnerung an den Tod Swanns nur einen vergleichsweise schwachen Anklang und verhaltenen Widerhall finden; graduell ebenso schwach wie sich « La mort de Swann m’avait à l’époque boulversé » verhält zum « bouleversement de toute ma personne ». Es geht also eher um ein Prinzip, das Marcel selbst erst zu begreifen lernt und als für seine Person verallgemeinerungsfähig erachtet, wenn er in der ‚Entflohenen‘ mit unausgesprochener, doch durch den gleichen Wortlaut überdeutlicher Bezugnahme auf die zuletzt zitierte Stelle, nun aber diesen Auslöser konsequenterweise im Plural als ‚unwillkürliche Erinnerungen‘ – ‚des souvenirs involontaires‘ – bezeichnend und die phasenverschobene Wirkung feststellt, die sich für ihn überraschenderweise auch auf gegenläufige Weise ereignen kann: „Da trug sich nun in umgekehrter Richtung das gleiche zu, was mir mit meiner Großmutter widerfahren war: Als ich wußte, daß meine Großmutter tot war, hatte ich im ersten Augenblick keinen Schmerz verspürt. Tatsächlich litt ich unter ihrem Tode erst, als unwillkürliche Erinnerungen sie für mich wieder lebendig machten“ (VI 315).⁵²⁷ – « Alors il se passa, d’une façon inverse, la même chose que pour ma grand’mère: quans j’avais appris en fait que ma grand’mère était morte, je n’avais d’abord eu aucun chagrin. Et je n’avais souffert effectivement de sa mort que quand des souvenirs involontaires l’avaient rendue vivante pour moi » (AD 303). Kurz darauf erscheint nicht von ungefähr die Wendung ‘plus boulversé’ (AD 305). Proust spricht in seinem Aufsatz über den Stil Flauberts vom Missverständnis derer, die meinen, „daß mein Roman eine Art Sammlung von Erinnerungen sei, die sich nach den zufälligen Gesetzen der Ideenassoziation miteinander verknüpfen. Sie zitieren zur Unterstützung dieser Gegenwahrheit Seiten, wo ein paar Krümel einer in Tee getauchten ‚Madeleine‘ mir (oder doch wenigstens Marcel, der ‚ichʻ sagt, der ich aber nicht immer bin)⁵²⁸ eine ganze Zeit meines Lebens ins
Suche nach der verlorenen Zeit.“ Aus juristischer Sicht Michael Stolleis, Vom Umgang mit veralteten Büchern, oder: Mit der Toten sprechen, Freundesgabe für Bernhard Schlink, 2014, S. 15: „Wer Literatur liest, nimmt die Welt anders wahr, bereichert die eigene Sprache, macht beglückende Beobachtungen und schärft die Sinne. Eine Madeleine zergeht anders auf der Zunge, wenn man Proust gelesen hat! Juristen mögen dies mit einem gewissen Neid vernehmen; denn ihre Arbeitsund Erfahrungswelt ist anders, obwohl auch sie ständig lesen und schreiben“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 127, erläutert in diesem Sinne: „Sein ‚Ich‘ ist nicht autobiographisch, es ist die Funktion seines Werks, und doch ist es zugleich eine Projektionsfläche für den Autor Proust, der in seiner eigenen Gestalt der Zeit Gestalt gibt und sie so erst in eine poetische Faßlichkeit bringt.“ Rhetorisch wirkungsvoll ders., Die Fabel der Welt und das System der schönen Künste. Ovid,
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Gedächtnis rufen, die im ersten Teil des Werks vergessen ist. Ohne nun im Augenblick von dem Wert zu sprechen, den ich solchen unbewußten Wiedererinnerungen beimesse, auf die ich im letzten – noch nicht veröffentlichten – Band meines Werks meine ganze Kunsttheorie stütze, und wenn ich mich einmal nur an den Gesichtspunkt der Komposition halte, so habe ich lediglich um von einer Ebene auf die andere zu überwechseln, nicht eine Tatsache benutzt, sondern etwas, was ich als Verbindung reiner und kostbarer gefunden hatte, nämlich ein Phänomen des Gedächtnisses.“⁵²⁹ – « que mon roman était une sorte de recueil de souvenirs, s’enchaînant selon les lois fortuites de l’association des idées. Elles citèrent à l’appui de cette contre-vérité, des pages où quelques miettes de “madeleine”, trempées dans une infusion, me rappellent (ou du moins rappellent au narrateur qui dit “je” et qui n’est pas toujours moi) tout un temps de ma vie, oublié dans la première partie de l’ouvrage. Or, sans parler en ce moment de la valeur que je trouve à ces ressouvenirs inconscients sur lequels j’asseois, dans le dernier volume – non encore publié – de mon œuvre, toute ma théorie de l’art, et pour m’en tenir au point de vue de la composition, j’avais simplement pour passer d’un plan à un autre plan, usé non d’un fait, mais de ce que j’avais trouvé plus pur, plus précieux comme jointure, un phénomène de mémoire. »⁵³⁰ Diese letzten vier bedeutsamen Worte finden sich übrigens wortgleich gegen Ende der Recherche (VII 393; TR II 144). Auch der Satz über den Tod Swanns mit seiner anschließenden Verstärkung – ‚La mort de Swann!‘ – wirkt wie ein Nachhall des Erstaunens, mit dem Brichot die Erinnerung Marcels an den Salon wachruft, in dem Swann vor einem Vierteljahrhundert, wie sich erst später herausstellen sollte, allabendlich Odette getroffen hatte. Dazwischen – scheinbar beiläufig und mit schülerhafter Satzstellung, die das Hyperbaton schuldig bleibt⁵³¹ – eingeschoben nur das ‚grande
Dante, Proust, in: Das lebendige Wort. Begegnungen mit der Antike, 2020, S. 243, 258: „Proust, oder vielmehr Marcel, der sich auf die Suche nach der verlorenen Zeit begibt“. Marcel Proust, Über den »Stil« Flauberts, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 57, 76 (Übersetzung Helmut Scheffel). Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 89. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 409, verweist am Beispiel eines Horaz-Zitats auf eine eigenartige Entsprechung der Sprachmittel Prousts, die der anspruchsvollen lateinischen Syntax ähnelt und vielleicht auch für den vorliegenden Zusammenhang fruchtbar gemacht werden kann: „Da ist zuerst die Vorausnahme der grammatischen Übereinstimmung: ein Adjektiv, Partizip, Pronom ist in Geschlecht und Zahl auf ein Substantiv bezogen, das erst nachfolgt. Es ist dies so recht eine aus der synthetischen Satzform geborene Notwendigkeit (das Lateinische kennt sie auch: aequam memento rebus in arduis servare mentem): das übereingestimmte Wort wirkt wie eine Art Vortrab oder Ankündigung des Beziehungsworts.“ – Spitzer hätte ebensogut ‚grande mortalis aevi spatium‘ als Beispiel anführen können; man kann daraus im Einklang mit dem im Text Dargestellten folgern, dass die taciteische
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spatium mortalis aevi‘. Indem Proust jedoch die Sperrung auflöst, verrückt er zugleich unmerklich die Tonstelle: das Gewicht verlagert sich vom gravitätisch anmutenden ‚grande … spatium‘, das Tacitus mit Bedacht möglichst weit durch das eingeschobene ‚mortalis aevi‘ auseinander gestreckt hat, um die Länge des Zeitraums von fünfzehn langen Jahren der Knechtschaft stilistisch zu untermalen. Es ist eine buchstäblich weiträumige Disposition, für die Tacitus ohnehin berühmt ist.⁵³² Zugleich bringt das taciteische Hyperbaton eine gewisse Feierlichkeit im Ausdruck mit sich, die Tacitus von seinem Vorbild Sallust übernommen hat.⁵³³ Diese Feierlichkeit ist übrigens ebenfalls eine Besonderheit des Proustschen Stils, die Leo Spitzer auf den sinnfälligen Begriff des ‚Festzugs-Stils‘ gebracht hat.⁵³⁴ Tacitus’ Wortstellung ist also zur Veranschaulichung der Unfreiheit im Verhältnis zur Lebenszeit gerade in stilistisch-syntaktischer Hinsicht entsprechend getragen. Das erklärt im Übrigen, warum Tacitus sinngemäß von einem langen Zeitraum im Leben eines Sterblichen spricht und nicht nüchtern ‚grande hominis aevi spatium‘. Gewiss bevorzugt er das ‚mortalis‘, wie eines seiner berühmtesten Worte bezeugt: ‚ludibria omnium mortalium cunctis in negotiis‘ (ann. 3.18.4).⁵³⁵ Aber gerade in der Anspielung auf die Terrorherrschaft Domitians, in der ein jeder vom einen auf den anderen Moment durch eine willkürliche Anklage zum Todgeweihten werden konnte, lag die Betonung der Sterblichkeit durch das ‚grande mortalis‘ auch inhaltlich noch näher. Wenn nun Proust durch eine scheinbar minimale Verrückung der Worte diesen majestätisch anmutenden Duktus bewusst – und nicht etwa versehentlich
Wortstellung Prousts Satzrhythmus eher entspricht und jede Durchbrechung dessen für Marcel hochgradig ungewohnt ist. Erich Koestermann, Die Majestätsprozesse unter Tiberius, Historia 4 (1955), 72, 85 Fußnote 31, nennt es in anderem Zusammenhang die „großräumige Komposition, die Tacitus bevorzugt“. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. I, S. 299 Fußnote 1. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 465: „Wir haben den bei Proust so häufigen ‚Festzugs-Stil‘ (gleichgültig, ob der Triumphzug eines Wortes oder einer Persönlichkeit geschildert wird: durch die Inversion erscheint die Länge und Feierlichkeit des Zuges gesteigert.“ Dazu Pia Claudia Doering, Pathos und Festzugsstil. Die rhetorische Bewegung im „Drame du coucher“, in: Marcel Proust, Bewegendes und Bewegtes (Hg. Matei Chihaia/Katharina Münchberg), 2013, S. 129. Siehe auch Bernd Spillner, Prousts Stil zwischen Tradition und Kreation, in: Marcel Proust. Lesen und Schreiben (Hg. Edgar Mass/Volker Roloff), 1983, S. 108. Ronald Syme, Sallust, 1964 (zitiert nach der von Udo Scholz übersetzten deutschsprachigen Ausgabe 1975), S. 213, der Tacitus’ Werk wie kein anderer – dem Vernehmen seiner Schüler nach: stellenweise auswendig – kannte, zitiert hier ausnahmsweise (aber im Hinblick auf das soeben im Text Gesagte aufschlussreich) ungenau: “As another senatorial historian with solemnity avowed, the more a man reflects on things ancient or recent, the more is he impressed by the ‚ludibria rerum humanarum (sic) cunctis in negotiis‘”.
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– unterbricht, dann liegt die Tonstelle mit einem Mal auf dem ‚mortalis‘, das im französischen Original noch sinnfälliger wirkt im Hinblick auf das ‚la mort de Swann‘. Denn auf diese – grammatikalisch wohl noch angängige, wenngleich sprachlich unästhetische⁵³⁶ – Weise wird das ‚mortalis‘ wirkungsvoll nach hinten, wenn auch nicht ans Ende gestellt. Obwohl grundsätzlich die Zeit das entscheidende Thema der Recherche ist, erhält in diesem Zusammenhang die schiere Sterblichkeit ein Eigengewicht, das Proust auf diese Weise durch einen scheinbaren Fehler (mit dem er Brichot gleichwohl noch zusätzlich unterschwellig charakterisieren kann) kunstvoll in den Blickpunkt rückt, womit zugleich der Zusammenhang von Zeit und Endlichkeit offenbar wird. Dass solche unscheinbaren Verrückungen und Signalworte, sei es auch nur durch eine einzige Silbe, bei Proust eine erinnerungsauslösende Wirkung entfalten können, belegt mutatis mutandis eine Stelle aus der ‚Entflohenen‘: „Im übrigen braucht ein Wort nicht einmal, wie das Wort ‚Chaumont‘, sich auf einen Argwohn zu beziehen (und sogar eine zwei Substantiven gemeinsame Silbe reichte für mein Gedächtnis aus – wie ein Elektriker sich mit dem geringfügigsten Körper begnügt, wofern er ein ‚guter Leiter‘ ist – um den Kontakt zwischen Albertine und meinem Herzen herzustellen), damit es bei mir zum Stichwort, zum magischen Sesam-öffne-dich wurde, das mir einen Spaltbreit die Tür zu einer Vergangenheit öffnete, von der ich mir nicht mehr Rechenschaft ab, weil, wenn man genug davon gesehen hat, man sie im wahrsten Sinne des Wortes sie nicht mehr eigentlich besitzt“ (VI 170).⁵³⁷ – « D’ailleurs un mot n’avait même pas besoin, comme Chaumont, de se rapporter à un soupçon (même une syllable commune à deux noms différents suffisait à ma mémoire – comme à un électricien qui se contente de moindre corps bon conducteur – pour rétablir le contact entre Albertine et mon cœur) pour qu’il réveillât ce soupçon, pour être le mot de passe, le magique sésame entr’ouvrant la porte d’un passé dont on ne tenait plus compte parce que, ayant assez de le voir, à la lettre on ne le possédais plus » (AD 166/167).⁵³⁸
Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 134. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 13, betont in anderem Zusammenhang das die Erinnerung auslösende ‚Sesam‘ im Hinblick auf Albertine und stellt den Bezug zu einem für die Recherche zentralen Kunstwerk her: „Das aber, was Marcel, als sich ihm im Hof der Guermantes plötzlich das Tor zu dem vergessenen Venedig öffnet, zuerst vor Augen tritt und was zuerst in der erinnerten Welt zum Sesam-öffne-dich der Erinnerung wurde, ist das ‚bleu sombre‘, das tiefe Blau, des Giottoschen Himmels, dem die ganze Aufmerksamkeit des Eintretenden gilt, der fortan von der ihn ansprechenden Stimme seiner Erinnerung so gebannt ist, daß er die Mutter mit keinem Wort mehr erwähnt“.
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Ebenso könnte es sich infolge der unmerklichen Veränderung der Wortstellung des Tacitus-Zitats im Hinblick auf die einschneidende Erinnerung an Swanns Tod verhalten haben. Wer die hier angenommene sprachliche Bedeutung dieser minimalen Verrückung als übertrieben intrikat oder zu absichtsvoll überinterpretiert erachtet, bedenke, auf welche Weise Marcel mit sich buchstäblich um eine Silbe in verzweifelter Erinnerung an einen Vers Racines ringt:⁵³⁹ „Ich fand meinen Platz, während ich in meinem Bewußtsein nach einem Vers der ‚Phädra‘ suchte, an den ich mich nicht genau erinnerte. So wie ich ihn mir vorsprach, hatte er nicht die richtige Zahl an Versfüßen; da ich diese aber nicht zu zählen versuchte, kam es mir vor, als ob zwischen seiner Unförmigkeit und einem klassischen Alexandriner überhaupt nichts Gemeinsames sei. Ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn man aus diesem Monstrum von einem Vers mehr als sechs Silben hätte herausnehmen müssen, um einen echten zwölffüßigen daraus herzustellen. Auf einmal aber fiel mir der richtige ein, die unverrückbaren Kanten eines menschlichen Kosmos sanken wie durch Zauberschlag dahin, und die Silben des Verses füllten gerade die Maße eines Alexandriners aus; was zuviel war, löste sich leicht und geschmeidig wie eine Seifenblase ab und schien auf der Oberfläche eines Wasserspiegels zu platzen. Tatsächlich war das enorme Hindernis, mit dem ich gerungen hatte, eine einzige Silbe“ (III 45/46).⁵⁴⁰
Siehe dazu etwa Antoine Compagnon, Proust sur Racine, Revue des sciences humaines 196 (1984), 39; Richard E. Goodkin, T(r)yptext: Proust, Mallarmé, Racine, Yale French Studies 76 (1989), 284 (= Around Proust, 1991, S. 38); Achim Peters/Andreas Günther, Beziehungsmuster bei Proust, Racine und Goethe, PROUSTIANA XXVI (2010), 75; Patricia Oster, Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären, 2002, S. 316 f. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Joseph Vianey, Quomodo dici possit Tacitum fuisse summum pingendi artificem, 1896, weist in seiner Pariser Thèse darauf hin, dass Tacitus für Jean Racine der bedeutendste ‚Maler‘ unter den Alten war. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 2, zufolge hat Racine „aus verwandter geistiger Haltung den klaren Blick für die künstlerische Eigenart des Tacitus besessen.“ – Racines Wertschätzung für die taciteische Kunst könnte für Proust, der die Geistesverwandtschaft beider intuitiv erfasst haben dürfte, durchaus mitbestimmend gewesen sein. Ronald Mellor, Tacitus, 1993, S. 240, ergänzt die Verbindungslinie von Tacitus zu Racine durch den Blick auf den Tacitismus und präzisiert den oben genannten Hinweis: “In the field of drama Burke (…) singles out Ben Johnson’s Sejanus and Racine’s Britannicus as striking examples of Tacitism. In both plays the subject matter alone would have made the influence of Tacitus clear. But that influence is explicitly recognised in both cases, (…) in Racine’s case by the second preface, prefixed to the 1676 edition of Britannicus. There Racine declares: ʻI have copied my characters from the greatest painter of antiquity (le plus grand peintre de l’antiquité), I mean from Tacitus.ʼ” Hervorhebung auch dort. – Angesichts seiner profunden Kenntnis der französischen Klassik darf man wohl getrost davon ausgehen, dass Proust die hervorgehobenen Worte Racines bekannt gewesen sind.
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– « Je gagnais ma place, tout en cherchant à retrouver un vers de Phèdre dont je ne me souvenais pas exactement. Tel que je me le récitais, il n’avait pas le nombre de pieds voulu, mais comme je n’essayai pas de les compter, entre son déséquilibre et un vers classique il me semblait qu’il n’existait aucune commune mesure. Je n’aurais pas été étonné qu’il eût fallu ôter plus de six syllabes à cette phrase monstrueuse pour en faire un vers de douze pieds. Mais tout à coup je me le rappelai, les irréductibles aspérités d’un monde inhumain s’anéantirent magiquement; les syllabes du vers remplirent aussitôt la mesure d’un alexandrin, ce qu’il avait de trop se dégagea avec autant d’aisance et de souplesse qu’une bulle d’air qui vient crever à la surface de l’eau. Et en effet cette énormité avec laquelle j’avais lutté n’était qu’un seul pied » (G I 47/48). Ein Autor, der eine einzige Zeile, ein einziges Wort, ja nur eine einzige Silbe derart skupulös und gewissenhaft in seinem Gedächtnisschatz wägend vergleicht und erst dann mit sich im Reinen ist, wenn sich alles den metrischen Regeln fügt und in klassischem Ebenmaß vor seinem inneren Ohr erklingt,⁵⁴¹ obwohl es gar nicht darauf anzukommen scheint, weil kein äußerlicher Anlass, sondern nur ein inneres Harmoniebedürfnis ihn dazu drängt, wird schwerlich allein deswegen die Anordnung eines majestätisch klingenden Klassiker-Wortes willkürlich ändern, weil er das Halbwissen eines Nebendarstellers karikieren möchte, wenn damit nicht etwas Tieferdringendes verbunden wäre, das in die Mitte des Werkes führt.⁵⁴²
Patricia Oster, Prousts Roman À la recherche du temps perdu und die abgewandte Seite der französischen Klassik, in: Marcel Proust – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patrizia Oster/Karlheinz Stierle), 2007, S. 106, 123, die auf den – auch für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsamen – Umstand hinweist, dass Phädra „als Inbegriff der französischen Klassik gilt“. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 135 ff., macht unabhängig von dieser Stelle oder dem in der Wortstellung unrichtigen Agricola-Zitat – dessen Fehler er im Übrigen als erster bemerkt hat (ebenda, S. 134) – hellsichtig auf prinzipielle stilistische Unterschiede zwischen Proust und Tacitus, nichtsdestoweniger aber auch auf eine beiden Schriftstellern gemeinsame virtuose Handhabung des Stils aufmerksam: «D’abord, le style. Le contraste est frappant. L’un est rapide, alerte, âpre et concentré. L’autre, l’inverse. Je m’abstiens d’une analyse, pour de bonnes raisons (ce serait superflu, et la tâche me dépasse). Mais, phénomène à signaler, ils ont quandmême quelque chose en commun. Ils optent, tous les deux, pour une manière nettement noncontemporaine. Tacite se reporte à Salluste et à Tite-Live comme modèles. Dans les Histoires de Tacite, telles que nous les possédons, l’influence de Tite-Live se laisse déceler, mais elle cède par la suite. (…) Dans la courbe de l’évolution qui le conduit des Histoires aux Annales, Tacite devient plus dru et plus dense. Proust, par contre, plus diffus, plus prolixe. L’œuvre elle-même s’élargit et s’alourdit. L’auteur se prélasse et divague, il déverse le trop-plein des ses opinions personnelles. (…) Or, Proust, à la recherche d’un style nouveau et individuel, se reporte à l’époque classique, au XVIIème siècle (le XVIIIème ne lui dit rien). Avant tout, à Saint-Simon. Le style l’attire – et la matière est appropriée. Évidemment, il y a bien d’autres éléments dans son style – et c’est un
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Beiläufig findet sich eine gewisse Reminiszenz dieser Stelle, um nicht zu sagen das symmetrische Gegenstück – ‚le morceau symétrique‘⁵⁴³ – zu ihr, in der ‚Entflohenen‘: „Das erinnerte mich an die beiden verschiedenen Weisen, wie ich ‚Phädra‘ gesehen, und auf eine dritte Art dachte ich jetzt an die Szene der Liebeserklärung zurück. Es schien, als sei das, was ich mir selbst so oft vorgesprochen und was ich auf der Bühne gehört hatte, die Kundgabe von Gesetzen, die ich im Leben an mir selbst hatte erfahren sollen“ (VI 61).⁵⁴⁴ – « Alors je me souvins des deux façons différentes dont j’avais écouté Phèdre, et ce fut maintenant d’une troisième que je pensai à la scène de la déclaration. Il me semblait que ce que je m’étais si souvent récité à moi-même, et que j’avais écouté au théâtre, c’était l’énoncé des lois que je devais expérimenter dans ma vie » (AD 61). Auch an dieser Stelle veranschaulicht Proust die Verbindlichkeit des im Theater Erfahrenen mit einer eigentümlichen Rechtsmetapher, welche die Deklamation auf den Brettern, die die Welt bedeuten, zu einem Verlautbarungsakt lebenslänglich gültiger Lehren erhebt.⁵⁴⁵ Von hier aus ist es im Übrigen nicht weit zur Bindung an ein selbstauferlegtes poetisches Gesetz, wie es Marcel vor Augen steht, als er Françoise ironisch mit Tacitus vergleicht, zumal da an dieser Stelle auch die Bindung an die prosodischen Regeln eine besondere Rolle spielen (G II 244). Doch soll nicht vorgegriffen werden, weil diese äußerst komplexe und voraussetzungsreiche Stelle im nächsten Kapitel behandelt wird. Einstweilen hat sich lediglich ergeben, dass die in den Œuvres complètes noch fehlerhaft wiedergegebene Wortfolge des TacitusWortes durchaus ihre Bewandtnis hatte, weil sie durch die veränderte Akzentsetzung eindringlicher zum Tod Swanns überleitete, als die spätere Streichung erkennen lässt. Damit wird klar, was Marcel an dieser scheinbar unverfänglichen und beiläufigen Bemerkung Brichots elektrisiert, um es bewusst in Anlehnung an Prousts weiter oben verwendete Metapher aus der ‚Entflohenen‘ zu formulieren (AD 166): Es ist das plötzliche Innewerden von Tod und Sterblichkeit. So ist die
virtuose (comme Tacite). Il sait manier le discours, dans toutes les variations». – Gerade Prousts Hinwendung zur klassischen Literatur des 17. Jahrhunderts, die Syme betont, kann man am Beispiel dieser Stelle bewundern. Siehe dazu auch Sylvaine Landes-Ferrali, Proust et le Grand Siècle. Formes et significations de la reference, 2004. Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 89. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zum Zusammenhang zwischen Metapher und Erinnerung Gérard Genette, Metonymie chez Proust, in: Figures III (Hg. Ders.), 1972, S. 41 ff.; dazu Patricia Oster, Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären, 2002, S. 307 Fußnote 54; siehe auch Karl-Heinz Ladeur, Metonymie, in: Von ‚Allusion‘ bis ‚Metonymie‘. Interdisziplinäre Perspektiven auf die Wirkmacht rhetorischer Tropen und Figuren (Hg. Melanie Möller), 2019, S. 209.
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nachfolgende Reflexion über Swanns Tod ein Nachhall, ein – auch in der räumlichen Konzeption des Romans nicht von allzu weit herkommendes – Echo auf den verhältnismäßig kurz zuvor berichteten Tod Bergottes: „Ich hörte an jenem Tag von einem Todesfall, der mir großen Kummer bereitete, es war der Tod Bergottes“ (V 240).⁵⁴⁶ – « J’appris que ce jour-là avait eu lieu une mort qui me fait beaucoup de peine, celle de Bergotte » (P I 240). Auch davon wird noch am Ende der vorliegenden Abhandlung ausführlich die Rede sein. Doch deutet sich bereits an dieser Stelle ein innerer Kausal- und Verweisungszusammenhang an, der nicht von ungefähr durch den Tod bestimmt wird, der ja innerhalb des Werkes zum Hauptmotiv der Zeit in einem ebenso engen Zusammenhang steht. Es bleibt die Frage, warum Proust in den Œuvres complètes Brichot das Tacitus-Wort an dieser – wie sich soeben zeigte: durchaus zentralen – Stelle aussprechen ließ, und warum er hier die Wortstellung änderte. Wir haben gesehen, dass Marcel nach dem für ihn sowohl in künstlerischer als auch seine eigene Entwicklung betreffender Hinsicht bedeutsamen Todes Bergottes ein zeitlich viel weiter zurückliegender Todesfall aufwühlt, nämlich derjenige Swanns. Schon deswegen, also zur Vergegenwärtigung des Todes selbst, vor allem aber des großen Zeitraums – ‚grande spatium‘ – ist das Tacitus-Wort wohl gerade an dieser Stelle ursprünglich eingewoben. Es erweist sich als Initialzündung für die zweite größere Todesreflexion auf verhältnismäßig engem Raum. Doch an die Stelle des taciteischen Hyperbatons tritt die Proustsche Akzentverschiebung. Es ist der Tod – la mort –, der im ‚mortalis‘ steckt. Da es indes kein unmittelbar miterlebter Tod ist, sondern ein Todesfall ist, von dem Marcel erfahren hat – « J’appris que ce jour-là avait eu lieu une mort » –, bedarf er der Verstärkung, also eines erinnerungsauslösenden Moments, wie man es in Anlehnung an die berühmte Madeleine feststellen kann, wo übrigens ebenso wie nach Bergottes Tod (P I 247) kurz zuvor die Frage « Mort à jamais? » gestellt und dort mit einem « C’était possible » (S I 66) beantwortet wird (I 62), während sie nach Bergottes Tod mit einem « qui peut le dire » nochmals hinterfragt wird (P I 247). Dieses weiträumig auseinanderliegende « Mort à jamais » ist ein Anwendungsfall jener weiter unten noch am Beispiel des Tacitus-Zitats darzustellenden Kompositionstechnik Prousts.⁵⁴⁷ Die weiträumige Anordnung des Stoffes ist also ein gemeinsames Merkmal des Proustschen wie des taciteischen Stils. Dramaturgisch kunstreich, wie es Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Wie er in seinem Essay Über den »Stil« Flauberts, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 57, 75 f. (Übersetzung Helmut Scheffel), bekennt, wonach er „den Zirkel weit öffnet“ und „das symmetrische Gegenstück zu einer früheren Passage“ schafft, „weil Ursache und Wirkung sich in einem großen Abstand voneinander befinden“.
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Tacitus vermochte, wenn er eine gewisse gravitas und Altehrwürdigkeit durch sallustianisch gefärbte Sprache ausdrückte,⁵⁴⁸ verfährt Proust ebenso, indem er den größten römischen Historiker mit einem zwar abgeklärt wirkenden, aber aus persönlich leidvoller Erfahrung geschöpften Wort zitiert, das die allgegenwärtige Todeserfahrung und universelle Todverfallenheit diskret aufleuchten lässt:⁵⁴⁹ ,grande mortalis aevi spatiumʻ (Agr. 3.2). Diese Kunstfertigkeit setzt sich in der Form fort.⁵⁵⁰ Offenbar soll nämlich nach Prousts Komposition dasjenige, was die Erinnerung auslöst, auch in formaler Hinsicht gleich stark sein wie die jäh einsetzende Erinnerung selbst: „So würde nach Einäscherung aller Bibliotheken des Erdballs und dem Aufkommen einer vollkommen unwisssenden Rasse ein alter Latinist im Leben wieder Fuß und Vertrauen fassen, wenn er jemanden in seiner Gegenwart einen Vers von Horaz zitieren hörte“ (IV 662).⁵⁵¹ – « Tel, après l’incendie de toutes les bibliothèques du globe et l’ascension d’une race entièrement ignorante, un vieux latiniste reprendrait pied et confiance dans la vie en entendant quelqu’un lui citer un vers d’Horace » (SG II 299). Wenn es also Brichot hätte dabei bewenden lassen, lediglich ‚jusqu’à la mort de Swann‘ zu sagen, dann wäre ein derart kanzleimäßiger Stil aus Prousts ursprünglicher Sicht wohl nicht nachhaltig genug gewesen, um eine so ausführliche Reflexion wie die folgende freizusetzen. Die einmalige Nennung hätte wohl noch den ersten nachfolgenden Satz getragen: « La mort de Swann m’avait à l’époque boulversé » (P I 263). Aber schon die Vergegenwärtigung des zeitgebundenen ‚à l’époque‘ wäre allein damit kaum zureichend erklärt. Eine solche Vergegenwärtigung durch ein eingeschobenes Innehalten aber hat Tacitus selbst im Agricola durch das ‚grande mortalis aevi spatium‘ erreicht. Indem Proust dies nun hinsichtlich der Wortstellung variiert und zugleich das Todesverkündigungsmotiv (wie man vielleicht angesichts der vielen Wagner-Anspielungen bei Proust sagen
Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. I, S. 299 Fußnote 1: “The Sallustian language carries emphasis and solemnity”. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 123, bringt die Interdependenz prägnant zum Ausdruck: „Die Zeitlichkeit, der Horizont des Todes, ist die Bedingung des Werks, das sich der Zeitlichkeit entgegensetzt.“ Siehe auch Michael F. Zimmermann, Proust zwischen Futurismus und Passatismus, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 112, 143: „Proust ist es gelungen, den Tod im Werk aufzuheben, beständiges Vergehen zum beständigen Werden umzumünzen“. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 370, beobachtet ein Darstellungsprinzip, das man wohl auch im folgenden Gedanken ansatzweise ausmachen kann: „Proust gibt gleichzeitig den chaotischen Zufall der Erde und die ordnende Sicht auf sie von einem Höhenstandpunkt aus. Eine ungeheure Ruhe und Überweltlichkeit spricht aus dieser bei allen willentlich eingeschalteten Spannungen doch gelassenen Satzbauweise“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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darf) akzentuiert, wiederholt sich nicht nur die entscheidende erste Silbe. Vielmehr stellt Proust durch die doppelte Nennung des mort bzw. mortalis eine gewisse Symmetrie her. Denn man darf nicht vergessen, dass dem soeben zitierten ersten Satz der Reflexion über Swanns Tod ein wiederholender Ausruf folgt: « La mort de Swann! » (P I 263). So erhielte diese Reflexion ein kaum zu erklärendes Übergewicht, wenn nicht zuvor durch das ‚mortalis‘ betonende Tacitus-Wort ein gewisser Gleichlauf hergestellt worden wäre.⁵⁵² Diesen Gleichlauf kann man fast bis in die Interpunktion hinein nachverfolgen, weil dem Ausrufezeichen hinter ‚la mort de Swann‘ cum grano salis das ‚à bon droit‘ („mit Recht“) Brichots entspricht: « Il y a pourtant de cela jusqu’à la mort de Swann ce que le poète appelle à bon droit grande spatium mortalis aevi » (P I 263). Diese auf den ersten Blick floskelhaftnichtssagende (und auch in dieser Hinsicht, zumal da es ja zumindest objektiv in falscher Wortstellung, also gerade nicht ‚à bon droit‘ zitiert ist, Brichot zugleich ironisch charakterisierende) Wendung hat etwas Affirmatives, das dem Ausruf zumindest nahesteht und damit, gleichsam auf niedrigster Schwelle, das Symmetrieargument abrundet. Damit ist der Weg frei für die Ausdeutung der Reflexion über Swanns Tod vor dem Hintergrund des Tacitus-Wortes. Denn der zuletzt bedachten Affirmation folgt eine unerhört grammatikalisch gefärbte Explikation: „Swann spielt in diesem Satz nicht die Rolle eines einfachen Genitivs. Ich meine damit den ganz besonderen Tod, den Tod, der vom Schicksal für Swanns persönlichen Bedarf entsandt worden war“ (V 263). – « Swann ne joue pas dans cette phrase le rôle d’un simple génitif. J’entends par là la mort particulière, la mort envoyée par le destin au service de Swann » (P I 263). Auch dieser höchst eigenartige, vom allgemeinen auf den besonderen Tod schließende Gedanke hat eine gewisse Parallele in dem uns bereits bekannten einleitenden Satz über Bergottes Tod, womit sich der Symmetriegedanke auf eine andere Ebene verlagert: „Ich hörte an jenem Tag von einem Todesfall, der mir großen Kummer bereitete, es war der Tod Bergottes“ (V 240).⁵⁵³ – « J’appris que ce jour-là avait eu lieu une mort qui me fait beaucoup de peine, celle de Bergotte » (P I 240). Es ist zunächst ein scheinbar beiläufig und indifferent geschilderter Todesfall (une mort), der sich sodann entscheidend konkretisiert
Hier zeigt sich, warum in der so beeindruckenden Übersetzung von Eva Rechel-Mertens die Übertragung des jusqu’a la mort de Swann fehlt, jedenfalls aber durch das ‚seither‘ (V 262) nicht ausgeglichen werden kann. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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(celle de Bergotte). Eigenartig ist schließlich die einleitende grammatikalische Präzisierung des Todes Swanns, der nicht die Rolle eines Genitivs spiele.⁵⁵⁴ Das klingt ähnlich rätselhaft wie Tacitus’ enigmatisches Wort über das Motiv der frühen Christen mit ihrem vorgeblichen Hass auf das Menschengeschlecht – ‚odio humanae generis‘ (ann. 15.44.4) –, bei dem die beiden letzten Worte ebenfalls einen genitivus obiectivus und keinen genitivus subiectivus bilden.⁵⁵⁵ In einem ähnlichen semantischen Akt muss Marcel bei Swanns Tod zunächst die Bedeutung entschlüsseln, indem er die hinter den Worten stehende grammatikalische Struktur in ihrer Doppeldeutigkeit auffächert. Prousts ebenso kühne wie tiefsinnige Spekulation, die ohne jede religiöse Rückbindung auskommt, beginnt mit ihrer Rückführung auf den möglichen Wortsinn beinahe in den Bahnen der analytischen Philosophie, um dann unser begrenztes Wahrnehmungsvermögen mit dichterischer Phantasie bildhaft zu verdeutlichen:⁵⁵⁶ „Denn wir sprechen von
Luzius Keller (Hg.), Marcel Proust Enzyklopädie – Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung, 2009, Eintrag: Tod, S. 861: „Diese linguistische Bedingtheit eines so tragischen, beängstigenden und endgültigen Ereignisses, wie es der Tod ist, läßt nicht nur Marcel erschauern“. Wilhelm Nestle, „Odium humani generis“ (Zu Tac. Ann. XV 44), Klio 21 (1927), 91 f.; wichtig auch Mischa Meier, Odium humani generis. Tacitus, Nero und die Christen (zu Tac. ann. XV 44,4), Mediterraneo antico 15 (2012), 425. Eine ähnliche Verbindungslinie zwischen analytischer und klassischer Philosophie in Gestalt Blaise Pascals veranschaulicht eine Stelle, die beiläufig Françoise in ihrer bäuerlichen Bodenständigkeit charakterisiert: „Auf alle Fälle ist das denen ihre Verwandtschaft. Das ist eine große Familie, diese Guermantes! Setzte sie respektvoll hinzu, indem sie die ‚Größe‘ des Hauses Guermantes gleichzeitig auf die Zahl seiner Glieder und den Glanz seines Ruhmes gründete wie Pascal die Wahrheit der Religion zugleich auf die Vernunft und die Autorität der Heiligen Schrift. Denn da ihr nur das eine Wort ‚groß‘ für die beiden Dinge zur Verfügung stand, schienen sie ihr ein und dasselbe zu besagen; wie gewisse Steine wies ihr Vokabular hier und da eine Trübung auf, die dann auch verdunkelnd auf ihr Denken wirkte“ (III 25). – « En tout cas c’est de la même ‚parenthèse‘. ‚C’est une grande famille que les Guermantes !‘ ajoutait-elle avec respect, fondant la grandeur de cette famille à la fois sur nombre et l’éclat de son illustration, comme Pascal la vérité de la Religion sur la Raison et l’autorité des Écritures. Car n’ayant que ce seul mot ‚grand‘ pour les deux choses, il lui semblait qu’elles n’en formaient qu’une seule, son vocabulaire, comme certaines pierres, présentant ainsi par endroit un défaut et qui projetait de l’obscurite jusque dans la pensée de Françoise» (G I 27). – Im französischen Original kommt die Ironie dadurch noch besser zur Geltung, dass ‚la pensée de Françoise‘ wirkungsvoll kontrastiert mit dem nachgelassenen Hauptwerk des genialen Blaise Pascal, den ‚Pensées‘, aus denen der zitierte Gedanke stammt; dazu Jens Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016. Denn zuvor hält Marcel bei allem hohen Respekt vor Françoise fest, dass „von Gedanken bei Françoise nicht wirklich die Rede sein konnte“ (II 295): – « On n’aurait pu parler de pensée à propos de Françoise» (JF II 69). Siehe zur Bedeutung Pascals für die Recherche auch Patricia Oster, Prousts Roman À la recherche du temps perdu und die abgewandte Seite der französischen Klassik, in: Marcel Proust
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‚dem Tod‘, um die Dinge zu vereinfachen, aber es gibt fast ebenso viele von seiner Art, wie es Personen gibt. Wir verfügen über keinen Sinn, der uns zu sehen gestattet, wie in höchster Eile nach allen Richtungen ‚die Tode‘ sich begeben, Tode in Tätigkeit, die vom Schicksal hierhin oder dorthin abgeordnet werden. Oft sind es solche, die ihre Aufgabe erst in zwei oder drei Jahren ganz erfüllt haben werden. Sie eilen und deponieren ein Krebsleiden im Leib zum Beispiel eines Swann, brechen dann zu neuen Verrichtungen auf und kehren erst zurück, wenn ein chirurgischer Eingriff stattgefunden hat und ein weiterer Tumor im Körper untergebracht werden muß“ (V 263).⁵⁵⁷ – « Car nous disons la mort pour simplifier, mais il y en a presque autant que de personnes. Nous ne possédons pas de sens qui nous permette de voir, courant à toute vitesse, dans toutes les directions, les morts, les morts actives dirigées par le destin vers tel ou tel. Souvent ce sont des morts qui ne seront entièrement libérées de leur tâche que deux, trois ans après » (P I 263/264). Was Proust hier sprachgewaltig ausmalt, hätte wohl jeder römische Senator unter der fünzehnjährigen Schreckensherrschaft Domitians – ‚grande mortalis aevi spatium‘ – mit ihren Todeslisten lebhaft nachfühlen können. Das Aussenden der Todesschwadronen unter dem Tyrannen, das gerade den Senatoren galt, dürfte von ihnen ähnlich eindringlich empfunden worden sein. Dass nicht nur jeder Tag der letzte sein konnte, sondern mitunter auch willkürlich angestrengte Prozessanklagen zwei oder drei Jahre wie ein Krebsgeschwür wucherten bis sie zum unvermeidlichen Todesurteil führten, war jedem, der seinerzeit im Senat saß, traurige Gewissheit (Agr. 45.2). Übrigens verwendet Tacitus in unmittelbarem Zusammenhang mit dem zitierten Wort im Agricola-Proömium eine entsprechende Medizin-Metapher, wenn er kurz zuvor mit Blick auf das durch Domitian angerichtete Leid und die nur allmähliche Erholung der Unterdrückten davon spricht, dass angesichts der Natur der menschlichen Schwäche die Heilmittel langsamer wirken als die Übel und unsere Körper langsam wachsen, jedoch schnell ausgelöscht werden: ‚natura tamen infirmitatis humanae, tardiora sunt remedia quam mala‘ (Agr. 3.1).⁵⁵⁸ Noch in anderer Hinsicht ähnelt der Rückblick auf Swanns Tod dem taciteischen Frühwerk, dem das diese Reflexion einleitende Zitat entnommen ist (Agr. 3.2). Annähernd altrömisch ist das Totengedenken, dessen Nachhaltigkeit sich über die Leistungen der Vorfahren definiert: „Unter diesem Gesichtspunkt beschleunigt, wofern man nicht ‚jemand‘ ist, das Fehlen eines bekannten Titels die Zersetzung durch den Tod. Gewiß, man bleibt Herzog von Uzès nur auf – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patricia Oster/Karlheinz Stierle), 2007, S. 106, 108. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, Einleitung, zum Zusammenhang dieser Stelle.
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anonyme und nicht individuell unterschiedliche Weise, aber die Herzogskrone hält doch eine Weile die Elemente zusammen (V 264).⁵⁵⁹ – « À ce point de vue, si l’on n’est pas ‚quelqu’un‘, l’absence de titre connue rend plus rapide encore la décomposition de la mort. Sans doute c’est d’une facon anonyme, sans distinction d’individualité qu’on demeure le duc d’Uzès. Mais la couronne ducale en tient quelque temps ensemble des éléments » (P I 265). Das überindividuelle Moment der großen Dynastien übte auf die ihrerseits nicht dem Adel zugehörigen Individualisten Cornelius Tacitus und Marcel Proust doch stets eine beträchtliche Faszination aus, auch wenn sie selbst miterlebten, wie die einstmals schier unüberbrückbaren Standesunterschiede unaufhaltsam abnahmen. Ebenso genau wie Tacitus zur Kenntnis nimmt, dass reiche Ritter aus der Provinz im Laufe der Zeit mit dem römischen Hochadel in Wettstreit treten und sich dabei allmählich angleichen (ann. 3.55.3),⁵⁶⁰ nimmt Marcel das Vermögen der Aristokratie des Fauborg Saint-Germain wahr, sich durch die Aufnahme von Parvenues gleichsam so nach unten hin anzugleichen, dass der Eindruck der Beständigkeit gewahrt wird, obwohl der Niedergang bereits unwiderruflich eingeläutet ist:⁵⁶¹ „Daraus ergab sich, daß nicht der Rang von Männern der großen Welt diese Gesellschaft so glanzvoll macht, sondern die Fähigkeit dieser Gesellschaft mehr oder weniger vollständig Leute zu assimilieren, die, fünfzig Jahre zuvor ganz belanglose Kreaturen, nunmehr aber Grandseigneurs geworden sind“ (VII 395).⁵⁶² – « Si bien que ce n’était pas la qualité d’hommes du grand monde qui rendait cette société si brillante que le fait d’avoir été assimilés plus au moins complètement par cette société qui faisait, des gens qui cinquante ans plus tard paraissaient tous pareils du gens de grand monde » (TR II 146/147). Dieses überindividuelle Fortleben und Aussterben von Adelsgeschlechtern, überhaupt der Niedergang von Dynastien durch Dekadenz, ist ein genuin taciteisches Thema (ann. 3.24.1):⁵⁶³ ‚dites olim familiae nobilium aut claritudine insignes studio ma-
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 140. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 54, verdeutlicht dies tiefdringend im Hinblick auf das übergeordnete Thema der Zeit, aber auch auf die Amalgamierung der Gesellschaftsschichten: „Indem es Marcel gelingt, Eingang in die Welt der Guermantes und die Welt der Aristokratie des Faubourg Saint-Germain zu finden, öffnet sich ihm die soziale und die geschichtliche Zeit. Die Welt der Aristokratie, die sich im Faubourg Saint-Germain versammelt, trägt alle Zeichen des unaufhaltsamen Niedergangs. Am Ende des Romans werden sich bürgerliche Welt und Welt der Aristokratie durchdrungen haben.“ Hervorhebungen nur hier. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Sallust, 1964 (zitiert nach der von Udo Scholz übersetzten deutschsprachigen Ausgabe 1975), S. 300 f.
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gnificentiae prolabebantur‘ (ann. 3.55.2). Aber mehr noch interessierte ihn, den großen Individualisten, die Tüchtigkeit des Einzelnen, im Frühwerk vor allem seines Schwiegervaters Agricola, dem er ein Denkmal setzen wollte, obwohl er vielleicht keine weltgeschichtliche Bedeutung hatte, was Tacitus freilich bestreiten würde (Agr. 46.4). Ähnlich verhält es sich, als Marcel über Swann fortfährt, dessen herausragende Begabung er ins Künstlerische sublimiert, auch wenn er kein bleibendes Kunstwerk hinterlassen hat, sondern wohl vor allem durch seine Kultiviertheit und Vornehmheit auf andere gewirkt hat: „Swann war im Gegenteil eine hervorragende Persönlichkeit des geistigen und künstlerischen Lebens, und obwohl er selbst nichts ‚produziert‘ hatte, sollte ihm doch das Glück beschieden sein, etwas mehr Dauer zu haben“ (V 264).⁵⁶⁴ – « Swann était, au contraire, une remarquable personalité intellectuelle et artistique; et bienqu’il n’eût rien produit‘, il eût pourtant la chance de durer un peu plus » (P I 265) – Das liest sich wie ein Vorgriff auf jene ewige Dauer, auf die noch zurückzukommen sein wird und von der am Ende der Recherche die Rede ist: « la durée éternelle » (TR II 248). Im Blick behalten sollte man zudem den gleichartigen Subjonctif des Konzessivsatzes (‚bienqu’il n’eût rien produit‘), wenn es im nächsten Kapitel um Françoise gehen wird, von der Marcel sagt, dass sie geschrieben hätte wie Tacitus (« elle eût écrit comme Tacite »).⁵⁶⁵ Der ausgeprägte Individualismus des großen Schriftstellers bildet bei Taci⁵⁶⁶ tus wie bei Proust eine Bedingung dafür, dass die Wahrnehmung ihrer Werke
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 417, hat im Hinblick auf das Französische und das Lateinische etwas herausgearbeitet, das auch für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreich ist: „Der Modus der Abhängigkeit ist, trotz aller Einschränkungen, die das Französische dem Lateinischen gegenüber durchgeführt hat, der Konjunktiv. Es wird uns nicht wundernehmen, daß Proust, der grammatische Abhängigkeit herstellen will, diesen in der Umgangssprache dem Tod geweihten Konjunktiv und den besonders den nur im literarischen Französisch, in dem ‚français langue morte‘ sich weiterfristenden Konjuntiv Imperfekti in einem literarischen Ausmaß verwendet (ebenso wie kondizionales j’eus aimé statt j’aurais aimé). Gewiß passt dieser Zug auch zum wissenschaftlichen Ton der Proustschen Analyse und zum archaischen Charakter der Sprache eines Mannes, der in der Heraufholung der Vergangenheit sein Schaffensziel sieht.“ Hervorhebung auch dort. – Dieser Gesichtspunkt der Hinwendung zu sprachlichen Archaismen kann auch bei Tacitus beobachtet werden (vgl. nur den umfangreichen Appendix bei Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II). Gleiches gilt für die von Spitzer treffend so genannte ‚Heraufholung der Vergangenheit‘, der er als Historiker ja gleichsam von Amts wegen verpflichtet ist. Erich Koestermann, Die Majestätsprozesse unter Tiberius, Historia 4 (1955), 72, 74, spricht betont pleonastisch von Tacitus als einer „eigenwilligen Persönlichkeit stärkster Eigenart.“ Auch für einen weiteren bedeutenden Tacitus-Kenner, Friedrich Klingner, Tacitus und die Geschichts-
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Zeit brauchte, wie dieser wusste: „Der wirkliche Grund dafür, daß eine geniale Schöpfung selten sofort bewundert wird, liegt darin, daß ihr Urheber eine ungewöhnliche Persönlichkeit ist, der wenige Menschen gleichen“ (II 140).⁵⁶⁷ – « Ce qui est cause qu’une œuvre de génie est difficilement admirée tout de suite, c’est que celui qui l’a écrite est extraordinaire, que peu de gens lui ressemblent » (JF I 140). Zugleich zeigt sich daran ein durchaus taciteischer Gedanke, dass nämlich die Geistesaristokraten, die sich der Geschichtsschreibung widmeten – ‚magna illa ingenia‘ (hist. 1.1.1), – kraft ihrer Fähigkeiten und individuellen Lebensart über den ‚gewöhnlichen‘ Adeligen stehen, die nur aufgrund ihrer Abkunft einen Namen haben, der weniger schnell in Vergessenheit gerät. Die Unsterblichkeit jener, die buchstäblich Geschichte schreiben, hat Tacitus, der dabei wohl auch nicht zuletzt an sich selbst dachte, am Beispiel des Cremutius Cordus dargestellt (ann. 4.35.5).⁵⁶⁸ Während dessen große Rede von einer Überzeitlichkeit des Rechts handelt,⁵⁶⁹ geht es Proust um die Überzeitlichkeit der Kunst.⁵⁷⁰ Nach alledem kann es schwerlich ein Zufall sein, dass in den ursprünglichen Œuvres complètes (1927– 1931) von jenem in der Wortfolge leicht entstellten ‚grande spatium mortalis aevi‘ Brichots etwas Erschließendes ausging, das Marcel den Tod Swanns zuinnerst vergegenwärtigt, obwohl seither ein langer Zeitraum im Leben eines Sterblichen verstrichen war. Das Aussprechen des Tacitus-Wortes bedeutet mehr als bloße Bildungsbeflissenheit des Stubengelehrten, der es in höhere Kreise geschafft hat. Allerdings ist dieser Zeitraum nicht so lang, wie Brichot glauben macht, wenn er beim Hinausgehen aus dem Salon der Verdurins zum Erzähler sagt: « Tenez, voyez-vous ce fond de salon, cela du moins peut, à la rigeur, vous donner l’idée de la Rue Montalivet il y a vingt-cinq ans » (P II 109). Wie bereits weiter oben dargestellt, besteht an dieser Stelle offenbar eine markante Divergenz zwischen der hier zitierten Erstausgabe der Œuvres complètes und der Pléiade-Ausgabe, die sich auf die Streichung des Zitats von Prousts Hand an der ersten Stelle und die Hinzufügung im Anschluss an die soeben zitierte zweite berufen kann.⁵⁷¹ schreiber des ersten Jahrhunderts nach Christus, in: Römische Geisteswelt, 5. Auflage 1979, S. 483, 503, ist er „der große Einzelne“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, History in Ovid, 1978, S. 229; dazu noch am Ende der Abhandlung. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 543 f. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 133; ebenso Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im Suhrkamp-Verlag (stw 587), S. 280, wonach „die Kunst (…) allein das Zeitliche in ein Überzeitliches zu erhöhen und seiner schwankenden Erscheinung im Bilde Dauer zu verleihen vermag“. Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703, 1742.
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Durch diese Streichung kommt freilich in der Pleiade- und der davon ausgehenden Frankfurter Ausgabe die Reflexion über Swanns Tod ganz unvermittelt.⁵⁷² Denn im Unterschied zur Orginialausgabe mit ihrem ‚jusqu’à la mort de Swann‘ sieht in der Pleiade- bzw. Frankfurter Ausgabe der nur durch einen Absatz getrennte Übergang folgendermaßen aus: „Ich antwortete ihm, ich sei recht neugierig, den Salon zu sehen, in dem Swann früher allabendlich Odette getroffen hatte. ‚Wie? Sie kennen diese alten Geschichten?‘ sagte er zu mir. (sc. Absatz) Swanns Tod hat mich zu seiner Zeit erschüttert. Swanns Tod!“⁵⁷³ Die Wucht dieses Ausrufs erschließt sich aus dem Vorigen nicht ohne weiteres. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Proust den Teil über Swanns Tod nachträglich geschrieben und in das Typoskript der ‚Prisonnière‘ hat einfügen lassen.⁵⁷⁴ In den Œuvres Complètes mit ihrem vermittelnden Satz und dem wortverkehrten TacitusZitat greift das Ganze organisch ineinander, während die Teile in der Pleiade/ Frankfurter-Ausgabe eher monolithisch nebeneinanderstehen. So oder so ent-
Im Kleinen stellt sich hier wohl ein „methodologisches Problem, das den Status der Varianten und der Esquisses grundsätzlich betrifft“, und das Karlheinz Stierle, Marcel und die ArenaKapelle, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 179, 187, herausgearbeitet hat, indem er eine Reihe bohrender Fragen stellt: „Sollen sie als autonome Möglichkeiten, Perspektiven, Realisierungen gewertet werden, als Indiz dafür, daß das Werk schließlich zerfällt in die Vielfalt seiner Varianten, die nur deshalb nicht noch zahlreicher sind, weil Krankheit und Tod ein Ende gesetzt haben? Oder sind es verworfene Möglichkeiten oder Sackgassen, ungangbare, abgebrochene Wege, die zwar ein Licht werfen auf Prousts unerschöpfliche Imaginationskraft, aber die hermeneutische Differenz zwischen dem Werk und dem, was nicht Werk werden konnte, aufrechterhalten? Sind die Skizzen Indiz einer dekonstruktiven Schreibbewegung, die die Einheit des Werks sprengt, oder gerade der Beweis dafür, daß mit zunehmender Konsequenz sich dem Gedanken des Werks verpflichtet?“ – Die vorliegende Arbeit ist – schon in Ermangelung der Kompetenz ihres Autors – von einer Stellungnahme entbunden, weil Proust selbst hier durch die Streichung eine Entscheidung getroffen hat. Doch da man es auch bei dem vorliegenden Detailproblem des Tacitus-Zitats mit ‚Möglichkeiten‘ und ‚Perspektiven‘ im oben von Stierle weitsichtig so Genannten handelt, erscheint es ebenso reizvoll wie weiterführend, beide Möglichkeiten zum Verständnis der Einordnung des Tacitus-Worts vergleichend zu erwägen, weil man auf diese Weise womöglich anhand einer scheinbar geringfügigen Einzelheit zu einem Nachdenken über Prousts Architektonik der Recherche im Ganzen gelangen kann. Es ist zugegebenermaßen mikrologisch gedacht – verglichen mit der Makrologie der von Stierle ausgeworfenen Fragen. Doch vielleicht lässt sich hier und da zumindest ansatzweise a minore ad maius schließen. Marcel Proust, Werke. Frankfurter Ausgabe II 5, S. 279 (Übersetzung Eva Rechel-Mertens; überarbeitet von Luzius Keller). Luzius Keller, Marcel Proust – Werke. Frankfurter Ausgabe II 5, S. 638 Anmerkung 2, erklärt aufschlussreich: „Wie der Tod Bergottes fehlt der Tod Swanns im Manuskript. Proust hat die Passage 1921 im Cahier 59 entworfen und später in das Typoskript der Gefangenen übernommen“.
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faltet sich entsprechend der Weiträumigkeit der Proustschen Erzählweise der Inhalt bzw. der Nachhall jenes Tacitus-Wortes über den großen Zeitraum. Diese Weiträumigkeit hat Proust selbst in seinem Flaubert-Essay herausgestellt. Darin spricht er von „der strengen, wenn auch verschleierten Komposition (die vielleicht schwieriger erkennbar war, weil ihr eine weite Öffnung des Zirkels eigen ist und das symmetrische Gegenstück zu einer früheren Passage, weil Ursache und Wirkung sich in einem großen Abstand voneinander befinden)“.⁵⁷⁵ – « la composition rigoureuse bien que voilée, (et peut-être plus difficilement discernable parce qu’elle était à large ouverture de compas et que le morceau symétrique d’un premier morceau, la cause et l’effet, se trouvaient à un grand intervalle l’un de l’autre) ».⁵⁷⁶ Das gilt auch für die vorliegende Stelle, darüber hinaus im Übrigen für die Ähnlichkeiten mit dem taciteischen Stil.⁵⁷⁷ Sprechen mithin gute Gründe für die ursprüngliche Anordnung des hinsichtlich der Wortfolge verkehrten Tacitus-Zitats in den Œuvres complètes, weil es Marcel unwillkürlich die Erinnerung an Swanns Tod vergegenwärtigt und damit einen geschmeidigen Übergang zu einer zentralen Stelle der Recherche schafft, so fragt sich nun, was Proust bewogen haben könnte, das ihm offenbar wichtige Wort des römischen Historikers schließlich weiter unten anzuordnen.⁵⁷⁸ Denn aus dem über hundert Seiten zuvor zunächst zufälligen Zusammentreffen mit dem anfangs etwas geringschätzig dargestellten Brichot wird beim Verlassen der Soirée der Verdurins am Ende eine wahrhaft mitfühlende Wahrnehmung Marcels, der nach diesem weiten Spannungsbogen Brichot mit ungekannter Sympathie betrachtet, weil dieser ein unerwartet ähnlich nostalgisches Verhältnis zu den Gegenständen hat, die in seiner Erinnerung wiedererstanden sind. Dabei ist freilich bereits im Ausgangspunkt zu berücksichtigen, dass Erinnerungen naturgemäß nur die je eigenen sind, sich also „nicht teilen lassen“ (VII 244):⁵⁷⁹ « Les souvenirs ne peuvent se diviser » (TR I 221).
Marcel Proust, Über den »Stil« Flauberts, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 57, 75 f. (Übersetzung Helmut Scheffel). Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 84. Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 946, hat dessen Eigenheiten – freilich im Anschluss an Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II S. 725 – am prägnantesten herausgearbeitet. „So hat man von der ‚tödlichen‘ Wirkung der Wiederholungen des Tacitus gesprochen. Der Trennung von Zusammengehörigem entspricht als Korrelat das Zusammenspannen von ursprünglich Beziehungslosem.“ – Auch diese werkimmanente Zusammenschau vor dem Hintergrund des Flaubert-Essays spricht für die Richtigkeit der eingehend behandelten brieflichen Beobachtung von Francis Jammes’ ‚phrase à la Tacite‘. Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703, 1742. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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In der endgültigen Anordnung des Tacitus-Wortes ruft die Angabe des seither verstrichenen Zeitraums eines Vierteljahrhunderts Marcel eindringlich ins Bewusstsein, auf welche Weise ein Zeitraum – ‚spatium‘ (Agr. 3.2) – eben auch im Wortsinne einen spezifischen Zusammenhang zwischen Zeit und Raum herstellt, in dem die Gegenstände ihren Platz haben.⁵⁸⁰ Man kann dies nur ermessen, wenn man sich vergegenwärtigt, was jener auf Tacitus anspielenden Stelle vorangeht und ihr folgt, zumal darin erstmals eine verständnisvolle Gleichgestimmtheit, ja sogar eine Sympathie Marcels gegenüber jenem Sorbonne-Professor zum Ausdruck kommt, den er zunächst wie ein fremdartiges Insekt beschrieben hatte: „Nun aber, als ich den als Theatersaal bezeichneten Salon verließ, mit Brichot und Monsieur de Charlus die übrigen Gemächer durchschritt und dabei unter anderen versteckt gewisse Möbel wiederfand, die ich schon in La Raspelière gesehen hatte, ohne ihnen große Aufmerksamkeit zu schenken, erfaßte ich eine zwischen der Einrichtung dieses Hauses und derjenigen des Schlosses bestehende gewisse Familienähnlichkeit, eine unwandelbare Identität und verstand Brichot ganz gut, als er mir lächelnd sagte: ,Sehen Sie, dort, der Hintergrund dieses Salons kann Ihnen zur Not eine Vorstellung davon geben, wie die Rue Montalivet vor fünfundzwanzig Jahren, ‚grande mortalis aevi spatium‘, ausgesehen hat.‘⁵⁸¹ An dem Lächeln, das er jenem vergangenen Salon spendete, den er noch einmal wieder vor Augen sah, erkannte ich, daß Brichot, vielleicht ohne sich darüber klar zu sein, in dem alten Salon, mehr noch als den großen Fenstern und mehr als der heiteren Jugend der Gastgeber und ihrer Getreuen, jenem unwirklichen Teil nachtrauerte (den ich selbst aus gewissen Ähnlichkeiten zwischen La Raspelière und dem Quai Conti zu begreifen imstande war), von dem in einem Salon wie bei allen anderen Dingen der äußere, gegenwärtige, für jeden Betrachter kontrollierbare Aspekt nur eine Art Ausstrahlung ist: ich meine jenen Teil nämlich, der sich von der äußeren Welt gelöst hat, um eine Zuflucht in unserer Seele zu finden, die durch ihn einen Wertzuwachs erhält, wenn er sich mit ihrer sonstigen Substanz vermischt und sich – in Gestalt von nicht mehr bestehenden Häusern,
Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 34, hat auf einen Umstand aufmerksam gemacht, der hier in Erinnerung gerufen zu werden verdient, weil im Begriff des Zeitraums Zeit und Raum gleichsam verschmelzen und unter dem Gesichtspunkt dieser Verbindung auch ein Freiheitsgewinn denkbar ist: „Wir können sozusagen Zeit und Raum ineinander umschalten und so den Bereich unserer Freiheit erweitern.“ – Von dieser Erweiterung der Freiheit machen Brichot und sein Gesprächspartner in ihrer durch das Tacitus-Wort unwillkürlich ausgelösten Erinnerung Gebrauch. Dieser für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsame Satz entspricht bis auf das ‚dort‘ auch hinsichtlich der (richtigen) Wortstellung der Frankfurter Ausgabe, II 5, S. 405 (Übersetzung Eva Rechel-Mertens; überarbeitet von Luzius Keller).
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Menschen von ehedem, Fruchtschalen bei späten Nachtmählern, derer wir noch gedenken – in jenen durchscheinenden Alabaster unserer Erinnerungen verwandelt, dessen Farbton wir nicht vermitteln können, da nur wir ihn sehen; das aber erlaubt uns vollkommen wahrheitsgemäß den anderen mit Bezug auf diese vergangenen Dinge zu sagen, sie könnten sich keine Vorstellung davon machen, denn das alles sei keiner Sache gleich, die sie jemals erblickt hätten; wir selbst aber vermögen diese Dinge in uns nicht ohne eine gewisse Ergriffenheit zu betrachten, wenn wir daran denken, daß ganz und gar von der Existenz unseres Bewußtseins das Weiterleben – noch für eine gewisse Zeit – des Widerscheins längst erloschener Lampen und des Duftes von Weißbuchenhecken abhängig ist, die nie mehr blühen werden. Zweifellos stellt daraufhin der Salon der Rue Montalivet für Brichot das gegenwärtige Heim der Verdurins in den Schatten. Andererseits setzte er diesem in den Augen des Professors eine Schönheit hinzu, die er für einen Spätergekommenen aus sich selbst nicht zu entfalten vermochte“ (V 380/381).⁵⁸² Es ist jene Stelle, an der die Œeuvres complètes (1931) das Tacitus-Zitat nicht noch einmal aufführen, während die Pléiade-Ausgabe, in der das ursprüngliche Zitat mit seiner Einleitung (‚ce que le poète…ʻ) der Streichung zum Opfer gefallen ist, im Anschluss an den Zeitraum der ‚vingt cinq ans‘ in richtiger Wortstellung das ‚grande mortalis aevi spatiumʻ folgen lässt: « Or, comme je sortais du salon appelé salle de théâtre, et traversais, avec Brichot et M. de Charlus, les autres salons, en retrouvant, transposés au milieu d’autres, certains meubles vus à la Raspelière et auxquels je n’avais prêté aucune attention, je saisis, entre l’arrangement de l’hôtel et celui du château, un certain air de famille, une identité permanente, et je compris Brichot quand il me dit en souriant: ,Tenez, voyez-vous ce fond de salon, cela du moins peut, à la rigeur, vous donner l’idée de la Rue Montalivet il y a vingtcinq ansʻ. ⁵⁸³ A son sourire, dédié au salon défunt qu’il revoyait, je compris que ce que
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Hier folgt in der Bibliothèque de la Pleiade-Ausgabe das Tacitus-Zitat, das im Appendix (S. 1757 Anm. a zu page 788) folgendermaßen kommentiert wird, weil die Typoskripistin (Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 268, zufolge war es ihre Nichte Yvonne) nach dem – ihr aus dem Französischen wahrscheinlich noch vertrauten – Wort ‚grande‘ eine Lücke ließ: « La dactylographe n’a pas su lire mortalis aevi spatium et a laissé dans dactyl. 3 un espace blanc.» Das korrekte Zitat an der im Text bezeichneten Stelle kommentiert die Bibliothèque de la PléiadeAusgabe (ihr folgend die Frankfurter Ausgabe S. 654) so: « Citation tirée de la Vie d’Agricola de Tacite, chap. III ‚une grande partie de la vie d’un homme‘, c’est-à-dire 15 ans chez Tacite, et non 25, come ici». – Damit begnügt sich diese unter der Direktion des großen Proust-Biographen JeanYves Tadié edierte Ausgabe merkwürdigerweise, ohne der drängenden Frage nachzugehen, wie Proust bei der für sein Werk so eminent bedeutsamen Frage nach der Länge des Zeitraums einen um ein Jahrzehnt längeren zugrundelegen konnte. Nach der hier vertretenen, weiter unten noch
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Brichot, peut-être sans s’en rendre compte, préférait dans l’ancien salon, plus que les grandes fenêtres, plus que la gaie jeunesse des patrons et des leurs fidèles, c’était cette partie irréelle (que je degagais moi-même de quelques similitudes entre La Raspelière et le quai Conti) de laquelle, dans un salon comme en toutes choses, la partie exterieure, actuelle, contrôlable pour tout le monde, n’est que le prolongement, c’était cette partie devenue purement morale, d’une couleur qui n’existait plus que pour mon vieil interlocuteur, qu’il ne pouvait pas me faire voir, cette partie qui s’est détachée du monde extérieur pour se réfugier dans notre âme, à qui elle donne une plus-value, ou elle s’est assimilée à sa substance habituelle, s’y muant – maisons détruites, gens d’autrefois, compotiers de fruits des souper que nous nous rappelons – en cet albâtre translucide de nos souvenirs, duquel nous sommes incapables de montrer la couleur qu’il n’y a que nous qui voyons, ce qui nous permet de dire véridiquement aux autres, au sujet de ces choses passées, qu’ils n’en peuvent avoir une idée, que cela ne ressemble pas à ce qu’ils ont vu, et que nous ne pouvons considérer en nous-mêmes sans une certaine émotion, en songeant que c’est de l’existence de notre pensée que depend pour quelque temps encore leur survie, le reflet des lampes qui se sonst éteintes et l’odeur des charmilles qui ne fleurirons plus. Et sans doute par là le salon de la rue Montalivet faisait, pour Brichot, tort à la demeure actuelle des Verdurins. Mais, d’autre part, il ajoutait à celle-ci, pour les yeux du professeur, une beauté qu’elle ne pouvait avoir pour un nouveau venu » (P II 109/110). Dass diese ungemein komplexe und selbst für die Maßstäbe der Recherche überaus anspruchsvolle Stelle so ausführlich wörtlich wiedergegeben wird, liegt nicht nur daran, dass das Umfeld erkundet werden muss, in dem die PléiadeAusgabe das Tacitus-Zitat aufführt und die ursprüngliche deutschsprachige Übersetzung das ‚grande mortalis aevi spatium‘ erneut (und diesmal in der taciteischen Wortstellung) zitiert, während die hier zugrunde gelegten Œuvres complètes darauf verzichten. Vielmehr folgt die Länge des Zitats einer Eigentümlichkeit, welche die nachfolgende Reflexion von anderen dadurch unterscheidet, dass Marcel nämlich nicht mehr nur eigene Erinnerungen reflektiert, sondern ein eigentümliches Einverständnis mit Brichot feststellt, den er eingangs noch wie ein fremdartiges Objekt betrachtet hatte (P I 263). Das scheint bei vordergründiger Betrachtung auf eine Ausnahme von dem oben wiedergegebenen Grundsatz der Unteilbarkeit der Erinnerungen hinauszulaufen (TR I 221).
ausführlich begründeten Auffassung, ist es eine Übernahme aus der Préface der ‚Contemplations‘ von Victor Hugo, Les Contemplations, 1856, in: Œuvres poétiques, Bibliothèque de la Pléiade (Hg. Pierre Albouy), Tome II, 1967: «Vingt-cinq années sont dans ces deux volume: grande mortalis aevi spatium». Das erklärt auch, warum Proust das Zitat an dieser Stelle richtig wiedergibt.
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Bei näherer Betrachtung ergibt sich freilich, dass Marcel auch an dieser Stelle nur der eigenen Erinnerung nachsinnt und lediglich in einer Art zeitweiser Überschneidung die Gegenstände gleichsam mit den Augen Brichots sieht, deren physiologische Schwäche und Krankheit er auf dem Hinweg noch diagnostiziert hatte und aufgrund derer er ihn sogar führen musste. Damit richtet sich aber buchstäblich das Augenmerk Marcels darauf, dass nicht (nur) die physische, also äußere Welt maßgeblich ist, sondern die Erinnerung ein darüber hinaus gehendes Sehvermögen schafft, das zu einem inneren Mehrwert führt, der anderen deswegen nicht mitteilbar ist, weil die Innensicht zwangsläufig mit vorhandenen Erinnerungen verschmilzt. Diese Transformation der Erinnerungen ist aber entsprechend dem zuletzt aus der ,wiedergefundenen Zeit‘ Zitierten wiederum nur eine je eigene, die niemandem sonst zugänglich ist. Umso erstaunlicher ist daher, dass Marcel diesen Gedanken in einem Einverständnis mit jemandem erfährt, der ihm bis dahin nicht unbedingt sympathisch war. Aber vielleicht ist gerade diese vordergründige Fremdartigkeit der Schlüssel zu diesem vorübergehenden Einverständnis. Denn Marcel erkennt, dass ihm als Jüngerem und daher später Hinzugekommenem seinerzeitige Erinnerungen fehlen, die bei aller nur denkbaren Sympathie eine unüberbrückbare Differenz schaffen, so dass er, wie das einleitende ‚à la rigeur‘ (‚zur Not‘) sowie der Klammerzusatz verdeutlicht, immer nur einen ungefähren Eindruck von der Vorstellungswelt des Anderen erhält. Auch dafür findet sich in der ‚wiedergefundenen Zeit‘ ein Hinweis: „Auf einem beschränkteren, nur das rein Gesellschaftliche umfassenden Gebiet wurde mir – an Hand eines verhältnismäßig einfachen Problems, wie es als Einführung in komplexere, aber doch gleichgelagerte Schwierigkeiten dient – durch die Verständigung, die sich im Gespräch mit der jungen Frau aus der Tatsache ergab, daß wir in einer bestimmten Gesellschaft mit einem Abstand von fünfundzwanzig Jahren gelebt hatten, ein wirklicher Eindruck des Historischen zuteil, ja es hätte dadurch der Sinn für Geschichte in mir gefestigt werden können“ (VII 390). – « Dans un champ plus restreint et de mondanité pure, comme dans un problème plus simple qui initie à des difficultés plus complexes mais de même ordre l’inintelligibilité qui résultait, dans notre conversation avec la jeune femme, du fait que nous avions vécu dans un certain monde à vingt-cinq ans de distance, me donnait l’impression et aurait pu fortifier chez moi le sens de l’histoire » (TR II 142). Nicht von ungefähr geht es auch an der im Ausgangspunkt betrachteten Stelle (P II 109) nicht nur um den ‚Eindruck des Historischen‘, mehr noch den ‚Sinn für Geschichte‘, sondern auch um den Abstand eines Vierteljahrhunderts, also jenen Zeitraum über den Proust entgegen der historischen Vorlage aus noch zu klärenden Gründen Brichot das
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Wort des römischen Historikers ausprechen lässt: ‚grande mortalis aevi spatium‘.⁵⁸⁴ Kehren wir vor diesem Hintergrund des Historischen nochmals zurück zu jener Reflexion, die durch den Ausspruch des Tacitus-Zitats die Vergangenheit gleichsam wiedererstehen lässt, so ist bemerkenswert, dass in dieser versunkenen Vorstellungswelt Personen und Gegenstände unter Aufhebung der Subjekt-Objekt-Beziehung gleichgültig aneinandergereiht werden, so dass ‚Menschen von ehedem‘ zwischen ‚Häusern‘ und ‚Fruchtschalen‘ erscheinen (V 380/381). Es erinnert an den Schluss des ‚Swann‘: „Die Stätten, die wir gekannt haben, sind nicht nur der Welt des Raums zugehörig, in der wir sie uns denken, weil es bequemer für uns ist. Sie waren nur wie ein schmaler Streif in die Eindrücke eingewoben, aus deren ununterbrochener Folge unser Leben von damals bestand; die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist wehmutsvolles Gedenken an einen bestimmten Augenblick; und Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! Wie die Jahre“ (I 564). – « Les lieus que nous avons connus n’appartiennent pas qu’au monde de l’espace où nous les situons pour plus de facilité. Il n’étaient qu’une mince tranche au milieu d’impressions contiguës qui formaient notre vie d’alors; le souvenir d’une certaine image n’est que le regret d’un certain instant; et les maison, les routes, les avenues, sont fugitives, hélas ! comme les années » (S II 286). An das Tacitus-Wort von dem großen Zeitraum im Leben eines Sterblichen schließt sich nach alledem mit Bedacht eine tiefdringende Reflexion an, die sich buchstäblich den letzten Dingen zuwendet, nämlich der erinnernden Vergegenwärtigung der Gegenstände im Raum, die ohne das erinnernde Bewusstsein in dieser Gestalt nicht mehr existieren.⁵⁸⁵ Diese Abhängigkeit der Dinge von einem
Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703, 1742. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 78 hat allgemeingültig herausgearbeitet, was für die nachfolgend zitierte Passage in besonderer Weise gelten dürfte: „Der geistige Prozeß, aus dem Prousts Kunst erwächst, ist ein besonders geartetes Sehen, eine intensive Tiefenschau, eine im Blick auf die äußeren Dinge erfolgende Bewußtseinskonzentration.“ Hervorhebung nur hier. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 242 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), gegenüber erklärte Proust freimütig: „Aber Céleste, das ist keine Begabung. Zuerst ist es eine Denkweise, die man ausbilden kann und die mit der Zeit eine Gewohnheit wird. Da mir sehr viele Betätigungen verboten waren, blieb ich im Leben häufiger untätig als andere, und wenn es vielleicht auch nur geschah, um mich zu zerstreuen, so habe ich sie bei ihrem Tun und Treiben beobachtet, oft mit Neid, was zur Folge hatte, daß ich sie noch genauer beobachtete.“ – Man kann nur darüber spekulieren, ob Tacitus’ kongeniale Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe nicht vielleicht auch darauf zurückzuführen ist, dass er die niederträchtigen und servilen Verhaltensweisen der Senatoren unter der Diktatur in erzwungenem Schweigen während des Domitianerlebnisses, also jenes fünfzehnjährigen ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2) – schon aus Gründen des Selbstschutzes genauestens beobachten musste; möglicherweise sogar aus nächster
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sie erinnernden Bewusstsein trägt aber letztlich den Gedanken der Vergänglichkeit und des Todes in sich. Insofern führt vielleicht auch diese Reflexion über die Gegenstände in der Rue Montalivet zur Überwindung jener Todesfurcht kraft Zeitenthobenheit, die in der ‚wiedergefundenen Zeit‘ am Beispiel der in Tee getauchten Madeleine Prousts Kunsttheorie veranschaulicht (VII 266).⁵⁸⁶ Denn auch in der Erinnerung an die Gegenstände in der Rue Montalivet erweist sich das unscheinbare Tacitus-Wort als erinnerungsauslösendes Moment, so dass Proust es, wenn und weil es ihm letztlich um dieselbe Wirkung ging, in der Fassung letzter Hand an der erstgenannten Stelle ohne substantiellen Verlust und mit größerer Einfachheit durch Verringerung des Aufwandes getrost streichen konnte.⁵⁸⁷ Der naheliegende Einwand, dass auch damit Brichots Aussprechen des ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2) – hier konnte es ohne weiteres in der von Tacitus angeordneten Wortfolge geschehen – interpretatorisch überhöht werde, weil es doch vergleichsweise geringwertig und belanglos im Vergleich zur gesamten Kunsttheorie der Recherche sei, kann man eine Einsicht entgegenhalten, die innerhalb der ‚wiedergefundenen Zeit‘ just im Umfeld der Entwicklung dieser
Nähe in der kaiserlichen Umgebung, wenn eine plausibel begründete Hypothese zutrifft (Geza Alföldy, Bricht der Schweigsame sein Schweigen? Eine Grabinschrift aus Rom, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts – Römische Abteilung 102, 1995, 251). Dies könnte zumindest ansatzweise erklären, warum ingeniöse Beobachtungen wie das von Proust in einem Schulaufsatz (Marcel Proust, Devoir de français, in: Essais et articles, Présentation de Thierry Laget, 1994, S. 11) zitierte ‚proprium humani ingenii est, odisse quem laeseris‘ (Agr. 42.3) bereits in seinem unmittelbar nach dem Domitianerlebnis (aber wegen des genannten Zeitraums erst mit etwa über vierzig Jahren) verfassten Frühwerk zu finden sind. Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 24 f., bringt das Bezwingende an Prousts Theorie der Kunst mit einem sentenziösen Schluss eindrucksvoll zur Geltung: „Die Frage, die sich angesichts dieser mit ungeheurer Folgerichtigkeit ins Werk gesetzten, immer neu instrumentierten Korrelation von Kunstwerk und Erinnerung stellt, muß sein, was sie letztlich begründet. Im letzten Teil seines Werks (…) spricht Proust vom Glück der Zeitenthobenheit, die beide, Kunst und Erinnerung, gewähren. Im Augenblick der Madeleine empfindet Marcel das Glück, ein ‚être extratemporel‘ zu sein, frei von der unerbittlichen Ordnung der Zeit, die der beweglichen Zeit der Erinnerung nichts anhaben kann. Solche ‚fragments d’existence soustrait au temps‘ (IV, 454) sind den Fragmenten der Zeitenthobenheit zutiefst verwandt, die wir Kunstwerk nennen. Dem erinnernden Bewußtsein ist die Kunst wahrer als die Wirklichkeit, weil sie ihm affiner ist“. Luzius Keller, Ästhetische Erfahrung und Textedition am Beispiel Marcel Prousts, in: Ästhetische Erfahrung und Edition (Hg. Rainer Falk/Gert Mattenklott), 2007, S. 97, 102, zeigt allerdings am Beispiel des bis 1987 der Öffentlichkeit unzugänglichen Typoskripts von ‚Albertine disparue‘ bzw. ‚La fugitive‘, wie problematisch die Wendung ‚letzter Hand‘ ist.
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Kunsttheorie und der als ‚morceau symétrique‘⁵⁸⁸ begriffenen Reflexion der Madeleine-Episode steht, ja diese gleichsam einleitet: „Höchstens nahm ich beiläufig Kenntnis davon, daß die Verschiedenheit, die zwischen den einzelnen wirklichen Eindrücken – die Art von Verschiedenheit, aus der sich erklärt, weshalb eine unmittelbar nachahmende Abschilderung des Lebens dennoch unähnlich sein kann – wahrscheinlich darauf beruhte, daß das geringste Wort, welches wir in irgendeiner Epoche unseres Lebens gesprochen haben, die unbedeutendste Gebärde, welche wir gemacht haben, von Dingen umgeben waren, und den Widerschein dieser Dinge auf sich trugen, was beides logisch gesehen, nichts mit ihnen zu tun hatte und durch unseren Verstand davon getrennt worden ist, da dieser für sein Bedürfnis der Beweisführung nichts damit anzufangen wußte“ (VII 261).⁵⁸⁹ – « Tout au plus notais-je accessoriement que la différance qu’il y a entre chacune des impressions réelles – différences qui expliquent qu’une peinture uniforme de la vie ne puisse être ressemblante – tenait problablement à cette cause: que la moindre parole que nous avons dite à une époque de notre vie, le geste le plus insignifiant que nous avons fait était entouré , portait sur lui le reflet des choses qui logiquement ne tenaient pas à lui, en ont été séparées par l’intelligence, qui n’avait rien à faire d’elles pour les besoins du raisonnement » (TR II 12). Selbst wenn man also annähme, dass das ‚grande mortalis aevi spatium‘ hier lediglich ‚das geringste Wort‘ – ‚la moindre parole‘ – wäre, dann wäre es dabei in der Erinnerung an die Gegenstände in der Rue Montalivet doch gerade ‚von Dingen umgeben‘ und trüge ‚den Widerschein dieser Dinge auf sich‘ – « était entouré, portait sur lui le reflet des choses ». Denn genau darum geht es an jener Stelle, als Brichot das Wort beim Verlassen der Gesellschaft in der Erinnerung an die Gegenstände in der Rue Montalivet ausspricht. Wie sehr dieses Ende der Soirée und vor allem das gemeinsame Verlassen Marcels mit Brichot aus der ‚Prisonnière‘ nachwirkt, erweist sich an einer erinnerungsbeladenen Stelle nach Albertines Tod, der natürlich die Erinnerung vorrangig gilt: „Mit wieviel größerer Stärke drängte sich mir der Eindruck, den ich gehabt hatte, als ich zum ersten Mal nach La Raspelière zum Abendessen ging, nämlich daß der Tod nicht alle Wesen im gleichen Alter trifft, jetzt auf, da Albertine so jung gestorben war, während Brichot auch weiterhin die Diners von Madame Verdurin besuchte, die noch immer empfing und ihre Empfänge auch viele Jahre noch weiter veranstalten würde! Sofort rief mir der Name Brichot das Ende jener gleichen Soirée ins Gedächtnis zurück, nach der er mich nach Hause
Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 89. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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begleitet und wie ich dann von unten her das Licht der Lampe Albertines gesehen hatte“ (VI 110).⁵⁹⁰ – « Combien l’impression que j’avais eue, en allant dîner pour la première fois à la Raspelière, que la mort ne frappe pas tous les être au même âge s’imposait à moi avec plus de force maintenant qu’Albertine était morte, si jeune, et que Brichot continuait à dîner chez Mme Verdurin qui recevait toujours et recevrait peut-être pendant beaucoup d’années encore. Aussitôt ce nom de Brichot me rappela la fin de cette même soirée où il m’avait reconduit, où j’avais vu d’en bas la lumière de la lampe d’Albertine » (AD 108/109). Dieser weiträumige Verweis belegt freilich weniger die Bedeutung jener Reflexion, die mit dem Tacitus-Wort eingeleitet wird, als vielmehr die elektrisierende Wirkung, die ein einzelnes Wort, ja eine einzelne Silbe entfalten kann (VI 170), und sei es auch – wie hier – nur in Gestalt der assoziativen Erinnerung an einen bestimmten Namen, hier denjenigen Brichots. Daraus lässt sich ersehen, dass das gemeinsame Verlassen der Soirée mit Brichot und die unerwartete Übereinstimmung mit ihm für das Gefüge der Recherche von beträchtlicher Bedeutung ist.⁵⁹¹ Die Besonderheit dieses Einvernehmens zwischen ihm und Marcel besteht freilich in dem Altersunterschied, der bewirkt, dass Brichots Erinnerungen naturgemäß weiter hinabreichen; die Erinnerungen beider sind also ungeachtet dieser sich in dem Tacitus-Wort unerwartet materialisierenden Sympathie der beiden nicht kongruent, sondern streifen gleichsam einander. Aber auch dieses Phänomen, dessen Erkenntnis Marcel veranlasst, die ‚Vergangenheit bei sich festzuhalten‘, indem er sie in seinem Werk materialisiert, lässt sich werkimmanent erklären, nämlich mit Blick auf das Ende der Recherche, an dem Marcel bei der Matinée der Guermantes den dreiundachtzigjährigen Herzog altersbedingt unsicher, wie auf Stelzen gefahrvoll durch den Raum schreiten sieht und mit einem Mal gewahr wird, dass er selbst – obgleich im Hinblick auf die Gesamtheit der Erinnerungen ‚Spätergekommener‘ wie im Verhältnis zu Brichot – schon so alt geworden ist, dass die Vollendung seines schriftstellerischen Werkes unsicher geworden ist: „Ich erschrak, weil die meinen (sc. Stelzen) bereits so lang waren unter meinen Schritten; es kam mir nicht so vor, als werde ich stark genug
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), Vorbemerkung, Fußnote der S. 7, spricht treffend von der „Analyse der Zeitstrukturen“ und der „Interpretation der verborgenen Architektonik eines Werks wie der Recherche.“ – Bei der im Text behandelten Problematik geht es um das Eine wie das Andere, vor allem die genannte ‚verborgene Architektonik‘ der Recherche, die sich in dieser durchaus speziellen Frage spiegelt. Darauf wird am Ende der vorliegenden Abhandlung nochmals zurückzukommen sein.
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sein, noch lange die Vergangenheit bei mir festzuhalten, die nun schon unter mir so weit hinunterreichte.Wenigstens würde ich, wenn mir noch Kraft genug bliebe, um mein Werk zu vollenden, in ihm die Menschen (und wenn sie daraufhin auch wahren Monstern glichen) als Wesen beschreiben, die neben dem so beschränkten Anteil an Raum, der für sie ausgespart ist, einen im Gegensatz dazu unermeßlich ausgedehnten Platz – da sie ja gleichzeitig wie Riesen, die, in die Tiefe der Jahre getaucht, ganz weitauseinanderliegende Epochen streifen, zwischen die unendlich viele Tage geschoben sind – einnehmen in der ZEIT“ (VII 507).⁵⁹² – « Je m’effrayais que les miennes fussent déjà si hautes sous mes pas, il ne me semblait pas que j’aurais encore la force de maintenir longtemps attaché à moi ce passé qui descendait déjà si loin, et que je portais si doloureusement en moi! Si du moins il m’était laissé assez de temps pour accomplir mon œuvre, je ne manquerais pas de la marquer au sceau de ce Temps dont l’idée s’imposait à moi avec tant de force aujourd’hui, et j’y décrirais les hommes, cela dût-il les faire ressembler à des monstrueux, comme occupant dans le Temps une place autrement considérable que celle si restreinte qui leur est reservée dans l’espace, une place, au contraire, prolongée sans mesure, puisqu’ils touchent simultanément, comme des géants, plongés dans les années, à des époques vécues par eux, si distantes, – entre lesquelles tant de jours sont venue se placer – dans le Temps » (TR II 254). Ohne die frühere Erfahrung mit Brichot beim Verlassen der Gesellschaft der Verdurins und die weiter oben zitierte Stelle aus der ‚Entflohenen‘ (AD 108/109) würde sich das Ende der Recherche vielleicht gar nicht vollends erschließen, weil der Altersabstand ein wesentliches Element nicht nur der Erinnerung, sondern auch des noch verbleibenden Zeitraums zur Vollendung des Werkes ist, der unversehens kleiner sein könnte als jenes ‚grande mortalis aevi spatium‘.⁵⁹³ Vor dem Hintergrund dieser unausgesprochenen Bezugnahme auf das Ende der Recherche lässt sich womöglich über das bereits Bedachte hinausgehend erklären, warum Proust letztlich davon abgesehen hat, das Tacitus-Wort vor der Reflexion über den Tod Swanns anzuordnen – so gut sie gerade im Hinblick auf
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Dazu tiefdringend Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 26: „In der großen syntaktischen Struktur dieses Satzes wird der Duc de Guermantes, auf der schwindelnden Höhe seiner Jahre, aber auch der Jahre und Jahrhunderte seiner bis in die Frühzeit des nachantiken Europas führenden Familiengeschichte, zum Emblem der Zeit selbst, zu ihrer letzten Gestalt“. Luzius Keller, Literaturtheorie und immanente Ästhetik im Werke Marcel Prousts, in: Marcel Proust. Lesen und Schreiben, 1983, S. 153, 167, macht mit Recht darauf aufmerksam, dass „Prousts Roman nicht die Realisierung von Marcels Romanprojekt ist“.
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den souvenir involontaire hierhin gepasst zu haben schiene.⁵⁹⁴ Denn auch dort, wo das Wort schließlich seinen Platz gefunden hat, entfaltet es seine erschließende Wirkung, erweist sich ebenso als ein erinnerungsauslösendes ‚Sesam-öffne-Dich‘, wie wir es weiter oben ausgemacht haben und wie an anderer Stelle noch deutlich wird, selbst wenn es sich dort natürlich auf etwas Anderes bezieht, aber mutatis mutandis ebenfalls auf die vorliegende Frage angewendet werden kann: „Diese Worte nun, die mir niemals wieder in den Sinn gekommen waren, ließen wie ein ‚Sesam-öffne-dich‘ die Türen des Verlieses sich in ihren Angeln bewegen“ (VI 314).⁵⁹⁵ – « Ces mots, qui ne m’étaient jamais revenus à l’esprit firent jouer comme un Sésame les gonds du cachot » (AD 302). Vor allem aber wird Marcel am Beispiel des mitunter so unscheinbar im Raum stehenden Brichot deutlich, wieviel tiefer die Erinnerungen dieses um eine Generation älteren Mannes in die vergangene Zeit hineinragen, wie dessen und seine eigenen Erinnerungen im Hinblick auf dieselbe Zeit aus dem Leben Swanns ‚ganz weitauseinanderliegende Epochen streifen‘ (VII 507). Unter dem Gesichtspunkt dieser Vorwegnahme des Schlusses der Recherche versteht sich, warum Proust schließlich dieses erhabene Wort – und so gesehen eben nicht nur das Wort eines für seinen majestätischen Stil berühmten Historikers, sondern selbst ein Dichterwort, auch wenn er das ‚ce que le poète‘ nachträglich gestrichen hat – über den langen Zeitraum im Leben eines Sterblichen schließlich doch dort verortete, wo Marcel sinnfällig vor Augen geführt wird, wie unterschiedlich weit die Erinnerungen in der Zeit zurückreichen (TR II 254). Gerade wegen dieses unerwarteten Einverständnisses Marcels mit Brichot könnte es Proust wichtig gewesen sein, dies nicht mit einem bildungsbeflissenen, aber eben auch distanzierenden « ce que le poète appelle » einzuleiten (P 263), sondern es im Sinne seines FlaubertEssays bewusst auszulassen,⁵⁹⁶ weil es das unversehens zwischen Marcel und Brichot hergestellte Einvernehmen stören würde, da dieser sich das Wort gleichsam generationsübergreifend zu eigen gemacht hat: grande mortalis aevi spatium. Man mag sich zwar darüber wundern, dass Proust später das ihm offenbar für sein Werk wichtige Tacitus-Wort mit buchstäblich einem Federstrich an der einen Stelle tilgte und stattdessen an eine spätere versetzte, wo es eine andere Erinne-
Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 160, präzisiert den ‚souvenir involontaire‘ treffend und auch für den vorliegenden Zusammenhang weiterführend: „in welchem sich für den Erzähler die ganze Evocation einer wiedergefundenen Zeit perspektivisch zusammenschließt“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 84.
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rung auslöst.⁵⁹⁷ Aber auch dafür lässt sich eine werkimmanente Begründung finden, die letztlich in der conditio humana des sich Erinnernden wurzelt und die Bedeutung des Lebensalters für die Flut der Erinnerungen in Rechnung stellt, indem sie einer gewissen Kontingenz Raum gibt, ohne freilich die durch äußere Umstände ausgelösten Erinnerungen selbst dem Gesetz des Zufalls zu unterstellen:⁵⁹⁸ „Von einem gewissen Alter an sind unsere Erinnerungen derart durcheinandergewirrt, daß die Sache, die man im Sinn hat, oder das Buch, das man liest, ganz dahinter verschwindet. Überallhin hat man etwas von sich ausgestreut, alles ist ergiebig, alles birgt Gefahren in sich, und ebenso kostbare Entdeckungen wie in Pascals ‚Pensées‘ kann man in einer Seifenreklame machen“ (VI 177).⁵⁹⁹ – « À partir d’un certain âge nos souvenirs sont tellement entre-croisés les uns avec les autres que la chose à laquelle on pense, le livre qu’on lit n’a presque plus d’importance. On a mit de soi-même partout, tout est fécond, tout est dangereux, et on peut faire d’aussi précieuses découvertes que dans les Pensées de Pascal dans une réclame pour un savon » (AD 173).⁶⁰⁰ Die Dignität des Tacitus-Zitats freilich bewegt sich ersichtlich auf einer Höhe der Pensées Pascals, der übrigens seinerseits an einer zentralen Stelle seiner Gedanken Tacitus zitierte.⁶⁰¹ Damit bleibt zu klären, wie Proust scheinbar der Fehler unterlaufen konnte, ausgerechnet den bei Tacitus genannten Zeitraum von fünfzehn Jahren um zehn
‚Biffé‘ – also ‚gestrichen‘ – heißt es, zur Erinnerung, in der Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703, 1742, Anmerkung a: «Le paragraphe précédent s’achève ainsi, demeurant inachevé: me dit-il. (Il y a pourtant de cela ce que le poète appelle à bon droit: grande spatium mortalis aevi. biffé)» . Karlheinz Stierle, Land und Meer in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patricia Oster/Karlheinz Stierle), 2007, S. 25, 38 f., erklärt mit dem folgenden Zitat besonders anschaulich einen Erschließungszusammenhang, der im bisherigen Verlauf der Untersuchung bereits verschiedentlich begegnete: „Schließlich ist nichts mehr ohne die Kraft der Verweisung, das Alltäglichste kann zum Sesamöffne-Dich verschütteter, abgesunkener Erinnerungen werden, in denen das Glück ebenso wie die Gefährdung liegen kann“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zu dieser Stelle Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 79: „Alles steht mit allem in verborgenen Verbindungen, die Erinnerungen stehen in unvorgreiflichen verborgenen Zusammenhängen“. Samuel Beckett, Proust, 1931 (S. 29 der von Marlis und Paul Pörtner übersetzten und durch Katharina Raabe und Werner Morlang überarbeiteten Ausgabe von 1989), hat offenbar diesen letztgenannten Satz im Blick, wenn er meint: „Dieser vollkommene Demokrat macht keinen Unterschied zwischen Pascals Pensées und einer Seifenreklame“. Blaise Pascal, Pensées, 1669 posthume (Hg. Léon Brunschvicg, 1897), Fragment 294. Allerdings zitiert dort Pascal offenbar ungenau aus dem Gedächtnis; dazu Jens Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016, S. 15.
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Jahre zu verlängern. Zumindest Brichot, möglicherweise aber Proust selbst, legt also einen Zeitraum von 25 Jahren zugrunde, während Tacitus von lediglich 15 Jahren spricht: ‚quid, si per quindecim annos, grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2).⁶⁰² Demgegenüber verlängert Brichot diesen Zeitraum, sei es eigenmächtig, sei es durch schiere Unkenntnis, um ein ganzes Jahrzehnt. Damit stellt sich die Frage nach dem tieferliegenden Grund. Dieser Fehler ist besonders erklärungsbedürftig, weil er die tatsächliche oder gefühlte Länge eines Zeitraums betrifft, mithin ein Zentralproblem der Recherche. Dabei muss – was im bisherigen Schrifttum so weit ersichtlich noch nicht unternommen worden ist – eine mögliche Quelle dieses inhaltlichen Fehlers in Betracht gezogen werden, nämlich das Vorwort der ‚Contemplations‘ von Victor Hugo aus dem Jahre 1856, dessen Anfangssätze lauten: « Vingt-cinq années sont dans ces deux volumes. Grande mortalis aevi spatium. »⁶⁰³ Hierin könnte der Grund für die Divergenz des im taciteischen Agricola mit dem innerhalb der Recherche Gesagten liegen. Proust könnte sich möglicherweise nur daran erinnert haben, das Zitat auch bei Victor Hugo gelesen zu haben – er spricht in der Recherche immerhin an einer Stelle von „einer Geistigkeit von der Art Victor Hugos“ (III 137)⁶⁰⁴ – « d’un être de génie du genre (…) de Victor Hugo » (G I 140) – und daher dort nachschlug, weil er die ‚Contemplations‘ gewiss zur Hand hatte, den ,Agricola‘ selbst aber womöglich nicht im Original. Auch wenn Proust das Tacitus-Wort im Rahmen der Schullektüre erstmals wahrgenommen haben sollte und es ihn vielleicht schon damals wegen seiner erhabenen Darstellung eines langen Zeitraums angesprochen haben könnte, dann darf wohl als
Herbert Nesselhauf, Tacitus und Domitian, Hermes 80 (1952), 222, 223, fasst ebenso bündig wie zielführend zusammen: „Das Erlebnis dieser 15 Jahre oder kürzer und im Sinn des Tacitus gesagt das Domitianerlebnis bestimmte ihn dazu, als Historiker und Politiker – das eine läßt sich vom anderen nicht trennen – Zeugnis und Rechenschaft abzulegen von seiner Zeit. Den unmittelbaren Anstoß, sein Schweigen, das er sich bis dahin auferlegt hatte, zu brechen, gab ihm der Wechsel der Regierung, der für einen Mann von seiner Gesinnung überhaupt erst die Voraussetzung dafür schuf, als Schriftsteller an die Öffentlichkeit zu treten.“ Zusammenfassend, ebenfalls unter Bezugnahme auf die quindecim annos, ebenda, S. 235: „Er mußte anderthalb Jahrzehnte schweigend mitansehen und mitanhören, wie in einer ungeheuerlichen, zugleich aber konsequenten Geschichtsfälschung die Wirklichkeit in ihr Gegenteil verkehrt wurde.“ – Es ist wohl auch im Hinblick auf die vorliegende Gegenüberstellung nicht unwesentlich, diesen inneren Beweggrund des taciteischen Agricola, aus dem Proust zitiert, herauszustellen. Victor Hugo, Les Contemplations, 1856, Préface, in: Œuvres poétiques, Bibliothèque de la Pléiade (Hg. Pierre Albouy), Tome II, 1967. Siehe dazu Thomas Hilberer, Victor Hugo: Les Contemplations. Struktur und Sinn, 1987, S. 84. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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wahrscheinlich gelten, dass es sich ihm spätestens eingeprägt hat, als er am ‚Jean Santeuil‘ arbeitete. Denn dass Proust Victor Hugos ‚Contemplations‘ nur zu gut bekannt waren, lässt sich bereits aus dem ‚Jean Santeuil‘ ersehen, von dem im Zusammenhang mit Tacitus und den ‚Contemplations‘ Hugos ja bereits die Rede war (JS 481): „Es war nach einem Vormittag, an dem er, begierig über die ‚Contemplations‘ gebeugt, aus der Dichtung etwas über das Geheimnis des Lebens, des Todes und seiner Seele zu erfahren versucht hatte. Monsieur Rustinlos kam ihn abholen, um mit ihm einen Rundgang zu machen, und sagte zu ihm: ‚Was lesen Sie da, Santeuil?‘ – ‚Die ‚Contemplations‘.‘ – ‚Das ist schlechter Victor Hugo, meinte kopfschüttelnd Monsieur Rustinlor. Es ist weit unter dem Niveau seiner rein formkünstlerischen, artistischen Gedichte‘“ (JS I 116).⁶⁰⁵ – « C’était après une matinée où avidement penché sur Les Contemplations il avait demandé à la poésie le secret de la vie, de la mort et de son âme. M. Rustinlor vint le chercher pour faire un tour et lui dit: ‚Qu’estce que vous lisiez là, Santeuil? – Les Contemplations, monsieur. – C’est du mauvais Hugo, dit en hochant la tête M. Rustinlor. C’est bien au-dessous de ses vers plastiques et purement exterieurs‘ » (JS 238/239). Und in seinem Aufsatz über Baudelaire bekennt Proust, dass er bestimmte Verse der ‚Contemplations‘ bevorzugt: « je préfère les vers d’Hugo ».⁶⁰⁶ Interessanterweise hält Proust in seiner mit Sur la lecture überschriebenen Vorrede seiner Übersetzung eines Werks von John Ruskin⁶⁰⁷ ausdrücklich fest,⁶⁰⁸ dass Victor Hugo Tacitus gründlich gelesen, ja angeblich auswendig gekannt habe:⁶⁰⁹ „Daher gefällt es den großen Schriftstellern in Stunden, in denen sie nicht in direkter Abhängigkeit mit dem Denken stehen, in der Gesellschaft der Bücher. Und sind sie denn nicht auch für sie geschrieben worden? Enthüllen sie ihnen nicht tausend Schönheiten, die dem Gewöhnlichen verborgenbleiben? Im
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Marcel Proust, À propos de Baudelaire, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 324, bezogen auf ,Les Contemplationsʻ I 21. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 84, macht interessanterweise auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Hinblick auf den ‚Sinn für Geschichte‘ aufmerksam, den Proust namentlich Ruskin verdanke. Dazu Jürgen Ritte,Vom Nachteil und Nutzen des Lesens für das Leben. Marcel Prousts „Sur la lecture“, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 38. Luzius Keller (Hg.), Marcel Proust Enzyklopädie – Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung, 2009, Eintrag: Tacitus, S. 843. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 151 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet in aufschlussreicher Weise, wie sich Proust selbst bestimmter Zitate vergewisserte: „Er blätterte die Seiten bis zum Schluß durch und schaute nur das an, was er im Kopf hatte“.
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Grunde beweist die Tatsache, daß überlegene Geister das sind, was man als ‚buchgelehrsam‘ bezeichnen könnte, keineswegs, daß es nicht ein Fehler sei, es zu sein. Aus dem Umstand, daß mittelmäßige Menschen oft arbeitsam sind und die intelligenten oft faul, kann man nicht schließen, daß Arbeit für den Geist nicht eine bessere Disziplin sei als Faulheit. Trotzdem macht uns der Umstand, bei einem großen Mann auf einen unserer Fehler zu treffen, immer geneigt, uns zu fragen, ob das nicht im Grunde eine verkannte gute Eigenschaft sei, und wir erfahren nicht ohne Freude, daß Hugo Quintus Curtius, Tacitus und Justinus auswendig kannte und daß er, wenn man in seiner Gegenwart die Richtigkeit eines Ausdrucks anzweifelte, in der Lage war, dessen Herkunft bis zu den Ursprüngen durch Zitate zu belegen, die von einer wahren Gelehrsamkeit zeugten.“⁶¹⁰ – « Aussi, les plus grands écrivains, dans les heures où ils ne sont pas en communication directe avec la pensée, se plaisent dans la société des livres. N’est-ce pas surtout pour eux, du reste, qu’ils ont été écrits? Ne leur dévoilent-ils pas milles béautes qui restent cachées aux vulgaire? A vrai dire, le fait que des esprits supérieurs soient ce que l’on appelle livresques ne prouve nullement que cela ne soit pas un défaut de l’être. Malgré cela, rencontrer chez un grand homme un de nos défauts nous incline toujours à nous demander si ce n’était pas au fond une qualité méconnue, et nous n’apprenons passans plaisir qu’Hugo savait Quinte-Curce, Tacite et Justin par cœur, qu’il était en mesure, si on contestait devant lui la légitimité d’un terme, d’en établir la filiation, jusqu’à l’origine, par des citations qui prouvaient une véritable érudition. » (Pastiches et Mélanges,⁶¹¹ Journées de Lecture 259/260).⁶¹² Dieser Gedanke wurde nicht nur deswegen so ausführlich wiedergegeben, weil er in seiner ernsthaften Heiterkeit, seinen tiefsinnigen Paradoxa – mit einem Wort: in seiner phrase à la Tacite – an Argumentationen erinnert, mit denen Maternus im taciteischen Dialogus de oratoribus seine befreundeten Mitstreiter
Marcel Proust, Tage des Lesens, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 7, 41 f. (Übersetzung Helmut Scheffel). Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 10 Fußnote 1, betont mit Recht, „daß der Band Pastiches et mélanges (1919), eine Sammlung von Essays und Parodien, (…) zum Verständnis Prousts unentbehrlich ist.“ Dem entspricht wohl auch die Beobachtung von Karlheinz Stierle, Proust und Sainte-Beuve, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 58, 66, wonach „Prousts Pastiches keine Parodien sind, die eine stilistische Eigenart zum Zielpunkt des versöhnlichen oder unversöhnlichen Spotts machen, sondern Etüden, Fingerübungen, um sich einen Stil anzueignen und in der freien Variation gleichsam rein darzustellen.“ – Dazu passt wohl auch, dass er einer bereits weiter oben zitierten biographischen Beobachtung zufolge eine Zeitlang mit einem Freund im Stile Pascals korrespondiert hat. Marcel Proust, Sur la lecture. Préface à la traduction par Proust du livre de John Ruskin: Sésame et les lys, troisième édition, Société du Mercure, 1906 (hier zitiert nach der Bibliothèque électronique de Québec, Collection À tous les vents Volume 401, S. 55 f.).
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auf mitunter spielerische Weise von der bedingungslosen Ernsthaftigkeit der Kunst zu überzeugen sucht: ‚haec eloquentiae primordia, haec penetralia; hoc primum habitu cultuque commoda mortalibus in illa casta et nullis contacta vitiis pectora influxit: sic oracula loquebantur‘ (dial. 12.2). Was jedoch den engeren Zusammenhang mit dem zuvor Bedachten betrifft, so legt dieser Referenzerweis gegenüber Victor Hugo, der Tacitus angeblich auswendig gekannt habe, die Annahme nahe, dass Proust das Agricola-Zitat vielleicht nicht einmal eigens nachgeschlagen hat, sondern aus zweiter Hand wiedergab, wenngleich von Hand eines ebenfalls Unsterblichen.⁶¹³ Aber auch ein solcher Opportunitätsgesichtspunkt wird Proust wohl kaum gerecht. Denn kurz nach dem zuvor Zitierten findet sich ein vorderhand unscheinbarer Klammerzusatz, der indes wieder einmal eine entscheidende Einsicht in einer ingeniösen Metapher versinnbildlicht. Ausgehend von Victor Hugos umfassender Bildung, die es ihm gestattet habe, insbesondere Tacitus auswendig zu zitieren, habe er an anderer Stelle ausführlich gezeigt,⁶¹⁴ „wie diese Gelehrsamkeit bei ihm das Genie nährte und nicht erstickte, gleich einem Reisigbündel, das zwar ein kleines Feuer auslöscht, ein großes aber auflodern lässt.“⁶¹⁵ – « J’ai montré ailleurs comment cette érudition chez lui avait nourri le génie au lieu de l’étouffer, comme un paquet de fagots qui éteint un petit feu et en accroît un grand » (Pastiches et Mélanges, Journées de Lecture 259/260). Das darf man wohl zugleich als Selbstverpflichtung verstehen.
Übrigens auch im Sinne der im Volksmund so genannten Immortels, also der Mitglieder der Académie française, in die Hugo 1841 gewählt wurde, während dies Marcel Proust – entgegen den Vorhersagen seines Vaters, auf die Marcel in der Recherche einmal anspielt (II 38) – versagt geblieben ist und ausgerechnet der in jeder Hinsicht minder bedeutende, aber wegen der Namensähnlichkeit zu peinlichen Verwechslungen einladende Marcel Prévost aufgenommen wurde, was zu einem denkwürdigen Vorfall führte, von dem Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 326 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet: „Er war auf einer Soiree bei der Gräfin de Mun, wo er sich mit zwei Worten Marcel Prévost vom Halse schaffte, wie ich schon berichtet habe (sc. S. 302), und sich darüber mokierte, daß er der Französischen Akademie angehöre.“ – So viel verletzte Eitelkeit bei dieser von Proust mit kaustischer Schärfe erwiderten Begebenheit mitgewirkt haben mochte, und dem Umstand zum Trotz, dass er, der damals – in seinem Sterbejahr 1922 – längst Berühmtere und jedenfalls Bedeutendere, übergangen worden war, so wenig darf man vergessen, dass Proust damals längst eine andere Art von Unsterblichkeit vor Augen stand, von der am Ende der Abhandlung noch näher die Rede sein soll. Marcel Proust, Sur la lecture. Préface à la traduction par Proust du livre de John Ruskin: Sésame et les lys, troisième édition, Société du Mercure, 1906 (hier zitiert nach der Bibliothèque électronique de Québec, Collection À tous les vents Volume 401, S. 55 f.). Marcel Proust, Tage des Lesens, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 7, 42 (Übersetzung Helmut Scheffel).
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Wendet man somit Prousts Metapher auf die konkrete Verwendung des Tacitus-Wortes an, dann kann man an jeweils beiden Standorten, die er dafür vorgesehen hat, feststellen, dass das grande mortalis aevi spatium – sei es in Gestalt der ursprünglichen Einleitung der Reflexion über Swanns Tod (P I 263), oder wahlweise in der endgültigen Fassung der Erinnerung an längst nicht mehr vorhandene Personen und Gegenstände in der Rue Montalivet⁶¹⁶ – jenes ‚große Feuer‘ verstärkt und damit ungeachtet des prosaischen Zusammenhangs innerhalb des Agricola hinsichtlich seiner poetischen Kraft – nicht anders als in Victor Hugos ‚Contemplations‘ – im Dienste überzeitlicher und unvergänglicher Kunst steht. Auch diese Metapher hat im Sinne seines Flaubert-Essays nicht nur einen Ewigkeitswert, sondern bringt ebenfalls dasjenige zur Geltung, was Hugos Tacitus-Zitat im Vorwort seiner ‚Contemplations‘ ausmacht, darüber hinaus aber in einer unausgesprochenen Selbstbespiegelung Prousts eigene Anlehnung daran innerhalb der Recherche. Denn der Zusammenhang, in dem er Brichot das bereits bei Hugo begegnende Tacitus-Wort aussprechen lässt, ist, wie bereits oben gesehen, über alle kleinliche Stubengelehrsamkeit erhaben, so dass Proust hier nicht nur Tacitus, sondern auch Hugo zitiert, der gleichsam einen Maßstab setzt, an dem Proust selbst gemessen werden will. Sprechen somit angesichts der bei Hugo ebenso wie bei Proust genannten 25 Jahre gute Gründe dafür, dass das Vorwort der ‚Contemplations‘ die Quelle des zeitlichen Auseinanderfallens darstellt, dann fragt sich weiter, was daraus für das Verständnis von Brichots Zitat folgt. Zunächst könnte man die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass Brichot sich unausgesprochen auf Hugo bezieht. Dafür spricht zwar, dass er das Wort zumindest in den Œuvres complètes ‚dem Dichter‘ zuordnet – « ce que le poète appelle à bon droit grande spatium mortalis aevi » (P I 263). Das scheint auf Hugo sogar noch eher zuzutreffen als auf Tacitus, zumal da die ‚Contemplations‘ ja gerade keine klassischen Memoiren darstellen, sondern aus Gedichten in Versform zusammengesetzt sind. Aber eine solche Deutung ist fernliegend, weil ja, ‚poète‘, wie wir gesehen haben, auch auf die besondere dramaturgische Kraft zutreffen kann, mit der unter den Historikern gerade Tacitus schrieb.⁶¹⁷ Zudem bezieht sich der Altphilologe Brichot, wenn er denn ein Wort im Original zitiert, ersichtlich auf einen lateinischen Klassiker. Und ebenso wie Hugo, der es nur im Brief, nicht aber im poeti-
Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 6, erkennt den damit gelegentlich einhergehenden Verlust an historischer Wahrheit, indem er feststellt, dass „insonderheit des Tacitus großartige Bilder oft subjektiver Trug und damit von fragwürdigem historischem Wert sind“.
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schen Werk selbst für nötig erachtet, ein ‚comme dit Tacite‘ hinzuzufügen,⁶¹⁸ wäre ein solcher Zusatz gleichsam unter der Würde Brichots, der die Kenntnis der Herkunft beim Erzähler stillschweigend voraussetzt. Die andere Folgerung aus der Vorrede der ‚Contemplations‘ als möglicher Quelle ist aber sehr viel weitergehend. Sie besteht paradoxerweise im Richtigkeitsgehalt dessen, was Proust bei Hugo nachgelesen hat, nämlich der korrekten Wortstellung: grande mortalis aevi spatium, wie Hugo ebenso zutreffend in seinem Brief wiederholt, und eben nicht ‚grande spatium mortalis aevi‘, wie es in den Œuvres completès heißt: « Il y a pourtant de cela jusqu’à la mort de Swann ce que le poète appelle à bon droit grande spatium mortalis aevi » (P I 263). Wenn aber Proust dieses Wort nicht im taciteischen Original nachgelesen hat, was wir in Anbetracht des nicht erklärlichen Zeitraums von 25 Jahren nach dem Bedachten annehmen dürfen, sondern vielmehr in den ‚Contemplations‘ Hugos, der Tacitus angeblich auswendig konnte, dann erscheint es geradezu abwegig anzunehmen, Proust wäre bei der Übernahme des Wortes aus den ‚Contemplations‘ der Flüchtigkeitsfehler unterlaufen, dass er die lateinische Wortstellung gleichsam beim Abschreiben durcheinander gebracht habe. Könnte man dies vielleicht gerade noch erwägen, wenn es die Brücke der ‚Contemplations‘ nicht gegeben hätte und er aus dem Agricola gleichsam nach dem inneren Gehör zitierte, falls er ihn nicht zur Hand hatte – was jedoch schon für sich betrachtet angesichts der überaus genauen Arbeitsweise mit der Proust gerade im Detail vorging, noch dazu, wenn es sich um ein Klassiker-Zitat handelt, eher fernliegend ist –, so scheidet diese Möglichkeit nunmehr aus, nachdem wir die ‚Contemplations‘ Hugos als naheliegende Quelle ausfindig gemacht haben. Da er die ‚Contemplations‘ aber in Anbetracht ihrer Bedeutung für sein Werk mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit jederzeit verfügbar, wenngleich nicht gerade in Griffweite hatte,⁶¹⁹ wäre die Annahme eines gedankenlosen Fehlzitats geradezu eine Beleidigung seiner Arbeitsweise, mochte sie auch der äußeren Form nach mit ihren vielen nachträglichen Einfügungen, den unübersichtlichen Cahiers, dem Typoskript und schließlich den von nachträglichen Umschreibungen entstellten Druckfahnen, die er allerdings ausgerechnet im Falle
Arthur Franz, Die Geschichte der Titel in V. Hugos Contemplations, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 57 (1933), 453, 476, macht allerdings, wie weiter unten noch vertieft wird, darauf aufmerksam, dass Hugo ursprünglich ein ‚dirait Tacite‘ in das Vorwort der ‚Contemplations‘ einfügen wollte. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 264 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), präzisiert: „Er schlug bei der Arbeit sehr wenig in Büchern nach – es lagen nie welche in Reichweite neben seinem Bett. (…) Dennoch war sein Zimmer, zweifellos aus Vorsicht, voller Bücher, die er nie anrührte“.
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der hier entscheidenden ‚Prisonnière‘ nicht mehr korrigieren konnte, einige künstlerische Freiheit in Anspruch nehmen.⁶²⁰ Doch im Entscheidenden, zu dem diese Stelle mit Gewissheit gehört, arbeitete Proust überaus genau.⁶²¹ Das legt die Annahme nahe, dass Proust die Wortstellung des Tacitus-Zitat zwar ursprünglich mit Absicht genau so anordnete, wie sie in den Œuvres complètes erhalten ist, jedoch nachträglich mit Bedacht gestrichen hat.⁶²² Dann aber fragt sich schließlich, warum er die zunächst sorgsam erwogenen Worte nachträglich getilgt hat, die da lauteten: « Il y a pourtant de cela ce que le poète appelle à bon droit: grande spatium mortalis aevi » (P I 263). Er hätte sie ja, wie es die deutsche Übersetzung von 1983 unternommen hat, beim Betreten der Gesellschaft der Verdurin stehen lassen und zusätzlich beim Verlassen bei der gemeinsamen Betrachtung der Möbel aus La Raspelière durch Marcel und Brichot erneut zur Geltung bringen können. So wäre es gleichsam zum ‚morceau symétrique‘ im Sinne seines Flaubert-Essays geworden. Dass er dies durch die Streichung der erstgenannten Stelle unterließ, könnte an einer ihm womöglich noch wichtigeren Besonderheit gelegen haben, die er an Flaubert bewunderte. Proust bringt nämlich an einer anderen Stelle seines Essays über den Stil Flauberts seine besondere Wertschätzung für etwas denkbar Unscheinbares zum Ausdruck: „Nach meinem Eindruck ist das Schönste an der ‚Éducation sentimentale‘ nicht ein Satz, sondern eine Auslassung“.⁶²³ – « À mon avis la chose la plus belle de l’Éducation Sentimentale, ce n’est pas une phrase, mais un blanc. »⁶²⁴ Es stellt ein wirkungsvolles Stilmittel dieses Satzes dar, dass ausgerechnet eine Ellipse den Superlativ rechtfertigt,⁶²⁵ der bei Proust ebenso selten begegnet wie Dazu Luzius Keller, Ästhetische Erfahrung und Textedition am Beispiel Marcel Prousts, in: Ästhetische Erfahrung und Edition (Hg. Rainer Falk/Gert Mattenklott), 2007, S. 97, 102; dort auch zum 1987 wieder aufgefundenen Typoskript von ‚Albertine disparue‘, dem Robert Proust nur den Titel entlieh, das er aber im Übrigen zurückhielt, woraus die Streitfrage entstand, ob die Recherche vollendet wurde oder ein Torso blieb. Siehe auch Jean Milly, Albertine disparue: Neue textgenetische und literarische Probleme infolge des wiederaufgefundenen Typoskripts, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 45. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 298 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), wonach Proust „nichts schrieb, ohne es verifiziert zu haben“. Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703 mit der wichtigen Erklärung auf S. 1742, Anmerkung a: « Le paragraphe précédent s’achève ainsi, demeurant inachevé: me dit-il. (Il y a pourtant de cela ce que le poète appelle à bon droit: grande spatium mortalis aevi. biffé)». Marcel Proust, Über den »Stil« Flauberts, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 57, 70 (Übersetzung Helmut Scheffel). Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 84. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 166, nennt es treffend den „unerwartbare(n) Sprung in der dargestellten Zeit“.
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bei Tacitus, für den Sallust, und zwar nicht zuletzt seiner vielsagenden Auslassungen wegen,⁶²⁶ der rerum Romanarum florentissimus auctor war (ann. 3.30.2).⁶²⁷ Bezieht man die Wertschätzung Prousts für Flaubert auf die wenige Seiten später stehende Darstellung seiner eigenen Kompositionstechnik, von der weiter oben die Rede war, dann könnte man zu folgender Annahme gelangen: Das Bemerkenswerte an Prousts Tacitus-Zitat ist womöglich gerade dessen nachträgliche Umstellung und Streichung dort, wo es ursprünglich in den Œuvres complètes angeordnet war, um zum Tod Swanns überzuleiten. So sehr sich die wiederholte Nennung des Tacitus-Zitats in den werkimmanenten Zusammenhang eingefügt hätte,⁶²⁸ zumal da sie das « boulversé » (P I 263) Marcels durch den Tod Swanns mit dem späteren « boulversement des toute ma personne » (SG I 213) sinnfällig gemacht hätte, und so geschmeidig sich darüber hinaus die gedankliche Überleitung vom mortalis zum ‚mort des Swann‘ dargestellt hätte, so übertrieben affirmativ hätte die Verdoppelung wirken können, wie letztlich auch die Lösung des Problems in der ursprünglichen deutschen Übersetzung zeigt (V 262/380). Dasjenige Stilmittel, welches Proust an Flaubert am meisten bewunderte, hätte er dann selbst an einer heiklen Stelle seines Werkes angewendet. Denn gerade durch diese Auslassung – ohnehin wohl das bezeichnendste Stilmittel der taciteischen brevitas⁶²⁹ – würde die Verknüpfung des Tacitus-Wortes mit der Erinnerung an vergangene Zeiten und verblichene Gegenstände, die nur noch im Gedächtnis der Zeitgenossen existieren, ungeachtet des aus dem Vorwort der ‚Contemplations‘ Victor Hugos übernommenen Bestimmung dieses Zeitraums im unmittelbaren wie im übertragenen Sinne zu einer phrase à la Tacite. Man mag die bisherigen Überlegungen über das Tacitus-Zitat für übertrieben spekulativ halten und wird sich vielleicht fragen, ob die veränderte Wortstellung in der früheren Fassung wirklich eine so weitreichende Bedeutung haben kann,
Ronald Syme, Sallust, 1964 (zitiert nach der von Udo Scholz übersetzten deutschsprachigen Ausgabe 1975), S. 253: „Obwohl Sallust die Leistung eines Thukydides nicht erreicht, sind die Stilmittel, die er anwendet, doch sehr ähnlich, besonders (…) das ungeduldige Auslassen von Wörtern und Gedanken“. Ronald Syme, The Political Opinions of Tacitus, in: Ten Studies in Tacitus, 1970, S. 119, 131, kommentiert: “one of his rare superlatives”. Das muss zugunsten der Lösung in der Suhrkamp-Ausgabe von 1983 gesagt werden. Ekkehard Stärk, Kleine Schriften zur römischen Literatur, 2005, S. 187, analysiert beispielhaft „die taciteischen Kürzen bzw. Auslassungen.“ Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 15, formuliert eine auch im Vergleich mit Prousts Kunst interessante Hypothese: „Dieses Bildnerische bei Tacitus, dem Haltung und Geste seiner Gestalten viel wichtiger sein muß als ihre Rede, darf vielleicht als Schlüssel zu seiner brevitas aufgefaßt werden, die dann nur als Ausfluß jenes Grundtriebs seiner Kunst erscheinen möchte“.
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wie hier für möglich gehalten. Kenner der Entstehungsgeschichte werden zu bedenken geben, dass das schließlich an den Verlag Gallimard gegangene Typoskript angesichts der immensen Menge an handschriftlichen Korrekturen in Prousts Druckfahnen ohnehin eher vorläufigen Charakter haben mochten, weil er womöglich auch die Tacitus betreffenden Passagen noch geändert und insbesondere den Einschub über Swanns Tod organisch in das Ganze gefügt hätte. Aber angesichts der – jedenfalls für Proust – erkennbar gestundeten Lebenszeit wären eher dies haltlose Spekulationen. Denn dass auch die vermeintlich unbeachtliche Anordnung des Tacitus-Zitats entsprechend der Proustschen Kunsttheorie von entscheidender Bedeutung ist, leuchtet ohne weiteres ein, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Bedeutung für ihn die berühmte kleine gelbe Mauerecke in Vermeers Ansicht von Delft hatte (V 247).⁶³⁰ Es ist unerheblich, ob es sie auf dem Bild wirklich gibt; entscheidend ist vielmehr, dass Vermeer einen künstlerischen Sorgfaltsmaßstab gesetzt hat, dem auch Proust gerecht zu werden hoffte.⁶³¹ Nicht zuletzt an der Hingabe des Künstlers an die unscheinbarsten Details zeigt sich für ihn die Größe der Kunst.⁶³² Dass diese Mühewaltung aufs engste mit der Vorstellung der Unsterblichkeit des Kunstwerks zusammenhängt und daher des Schweißes der Edlen wert ist,⁶³³ wird im letzten Abschnitt näher erläutert, wo die « durée éternelle » (TR II 248) im Sinne Prousts einem anderen taciteischen Wort gegenübergestellt wird, nach dem sich die Mühe angestrengten Nachdenkens für das Fortleben des Autors in der Nachwelt auszahlt:⁶³⁴ ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61). Im Übrigen scheint es, als passe das Weglassen des Tacitus-Wortes auf dem Weg zur Soirée der Verdurins und seine Hinzufügung Zur fraglichen Stelle Rainer Zaiser, Vermeers Farben. Proust und das Geheimnis der Ansicht von Delft, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 63. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 264 f. (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), erinnert sich: „Was mich in bezug auf sein Werk und seine Arbeitsweise am meisten verblüffte, ist ein Satz, den er eines Tages zwischen vielen anderen aussprach, als er mir von der Delfter Landschaft erzählte, von Vermeer und der berühmten kleinen gelben Mauerecke – und Gott weiß, wie oft er darauf zurückkam. Es war gegen Ende, nachdem er diese Bild auf einer Ausstellung im Museum Jeu de Paume wiedergesehen hatte. Als er nach Hause kam, war er erschöpft. Nachts hat er zu mir gesagt – und sein Blick war so verzückt, daß man hätte glauben können, er habe das Bild von Vermeer noch vor Augen: ‚Ach, Céleste, diese Sorgfalt im Detail, diese Subtilität! Das kleinste Sandkörnchen! Wie das ausgefeilt werden mußte! Ich sollte noch korrigieren und korrigieren und Sandkörner hinzufügen…‘“. Siehe auch Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8. Friedrich Gottlieb Klopstock, Oden, Band 1, 1798, S. 84, Der Zürchersee: „Reizvoll klinget des Ruhms lockender Silberton / In das schlagende Herz, / und die Unsterblichkeit / ist ein großer Gedanke, / Ist des Schweißes der Edlen wert!“. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143, hat dies als Erster gesehen.
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beim Verlassen der Gesellschaft noch in einem wortwörtlichen Sinne zu Prousts Bewunderung für Flaubert. Dafür muss man sich vergegenwärtigen, dass sich die Beschreibung der Gesellschaft bei den Verdurins über rund einhundert Seiten hinzieht,⁶³⁵ die zwischen der letztlich gestrichenen Erwähnung des Tacitus-Wortes in den Œuvres complètes beim Betreten und seinem späteren Standort in der Pléiade-Ausgabe beim Verlassen des Hauses liegen. Der detaillierten Schilderung des zwischenzeitlichen Geschehens, währenddessen viertelstündige Gespräche über viele Seiten minutiös dargestellt werden, scheint die gedankliche Überbrückung des Zeitraums eines Vierteljahrhunderts durch das Tacitus-Zitat zu folgen. Man vergleiche dies mutatis mutandis mit jener Stelle seines Flaubert-Essays, an der Proust die genannte Auslassung seines stilistischen Vorbildes bewundert und begründet: „Hierauf folgt eine Auslassung, eine riesige Auslassung, und ohne die Spur eines Übergangs werden nun statt der Viertelstunden Jahre, Jahrzehnte zum Zeitmaß.“⁶³⁶ – « Ici un ‚blanc‘, un énorme ‚blanc‘ et, sans l’ombre d’une transition, soudain la mesure du temps devenant au lieu de quarts d’heure, des années, des décades. »⁶³⁷ Brichots Erwähnung des ‚grande mortalis aevi spatium‘ gegenüber Marcel macht durch diese Erinnerung ebenfalls Jahrzehnte zur ‚mesure du temps‘. Und doch erweist sich diese Deutung aus dem Flaubert-Essays letztlich als unbefriedigend und gekünstelt. Denn es geht weniger um eine Auslassung als vielmehr um eine schlichte Streichung bzw. unterschiedliche Anordnung. Zudem wird jedenfalls im strengen Sinne kein Zeitraum erzählerisch durch eine Weglassung überbrückt, sondern eher ein erinnerter durch das Zitat kommentiert. Daher muss man schließlich noch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Proust das Tacitus-Zitat zwar, wie weiter oben dargelegt, aus dem Vorwort der ‚Contemplations‘ übernommen hat, und zwar auf die Gefahr eines unrichtigen Zeitraums hin, weil auch Victor Hugo es bewusst abgewandelt haben könnte. Für die letztgenannte Hypothese spricht nämlich, dass Hugo an dieser Stelle – nicht anders als Proust am ersten Satz seiner Recherche – lange gefeilt hat und im Manuskript ursprünglich im conditionnel présent hinzufügen wollte: « dirait
Siehe dazu auch Almuth Grésillon, Prousts vagabundierendes Schreiben. Zur Genese der „Matinée“ in La Prisonnière, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende. Prousts ‚Recherche‘ im Spiegel ihrer textkritischen Aufarbeitung in München 1992 (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 66; Laurence Teyssandier, Sur quelques aspects de la genèse de la soirée Verdurin, Bulletin d’informations proustiennes 40 (2010), 45. Marcel Proust, Über den »Stil« Flauberts, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 57, 70 (Übersetzung Helmut Scheffel). Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 84.
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Tacite », dies aber schließlich gestrichen hat.⁶³⁸ Bei Hugo lässt sich somit gleichfalls der Prozess des jahrelangen Feilens, Verbesserns und Streichens beobachten. Aus dem bereits weiter oben zitierten Brief Victor Hugos an Jules Janin, in dem er den autobiographischen Charakter der ‚Contemplations‘ betont – insoweit vergleichbar übrigens der Recherche als autobiographischem Roman⁶³⁹ – geht allerdings hervor, dass Hugo das behandelte Vierteljahrhundert mit der von Tacitus gemeinten Zeitspanne gleichsetzt.⁶⁴⁰ Dieses Bekenntnis ist nicht zuletzt deswegen für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsam, weil es unausgesprochen eine aufschlussreiche Rechtfertigung für das Tacitus-Zitat gibt, die beweist, dass es sich nicht um wohlfeilen Bildungsschmuck handelt, sondern vielmehr nahelegt, dass der Inhalt der ‚Contemplations‘ jenen Grad an Intimität und jene Art der Realitätsnähe aufweist, der dem Tacitus-Wort innewohnt, das existentielle Erfahrungen in Erinnerung ruft und zur begrenzten Lebenszeit ins Verhältnis setzt.⁶⁴¹ Das gilt nicht zuletzt für den maßgeblichen Beweggrund der ‚Contemplations‘, nämlich Hugos Verarbeitung des erschütternden Todes seiner Tochter
Arthur Franz, Die Geschichte der Titel in V. Hugos Contemplations, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 57 (1933), 453, 476, zeichnet den Entstehungsprozess akribisch nach: „Zunächst weitet sich der zeitliche Rahmen. Die Jahreszahlen verschwinden aus den Bandtiteln. Aus 21 Jahren, 10 Jahre vor und 10 Jahre nach dem Unglück, wird ein rundes Viertel-Jahrhundert: 12 Jahre vor und 12 Jahre nach dem Jahr von Villequier. Aber diese Begrenzung hat nur noch dekorativen Wert, in Wirklichkeit soll der Rahmen weiter gespannt sein, wie es in der Vorrede formuliert ist: C’est l’existence humaine sortant de l’énigme du berceau et aboutissant à l’énigme du cercueil. Der rein ästhetische Charakter dieser Begrenzung auf 25 Jahre läßt sich an zwei Beobachtungen zeigen. Erstens die Stelle der Préface, wo Hugo von den 25 Jahren spricht. Sie lautet: ‚Vingtcinq années sont dans ces deux volumes. Grande mortalis aevi spatium.‘ Im Manuskript folgte der Zusatz: dirait Tacite. Aber der Zusatz ist wieder gestrichen, denn es ist ein stark verändertes Tacitus-Zitat, das in einer Art verwendet ist, die V. Hugos Zitierweise charakteristisch beleuchtet“. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 18, bringt es mit einem stilistisch glänzenden Chiasmus zum Ausdruck: „Marcel Prousts Geschichte seines Doppelgängers Marcel steht der Autobiographie zu nahe, um Roman, und dem Roman zu nahe, um Autobiographie zu sein“. Die Bibliothèque de la Pléiade-Ausgabe der Œuvres poétiques (Hg. Pierre Albouy), Tome II, 1967, S. 1371, Anmerkung 1, bemerkt zur Préface Hugos richtig: «Tacite applique cette formule à une durée de quinze ans. Le 2 septembre 1855, Hugo écrivait à Jules Janin». Jean-Marc Hovasse, Victor Hugo, Tome II Pendant l’exil, 1851– 1864, 2008, S. 346, gibt noch die diese Sichtweise bestätigenden, überaus eindrucksvollen Zeilen des Briefs wieder, die den oben zitierten folgen: «Cela commence bleu et finit noir; mais, comme je viens de vous le dire, c’est un noir où je tâche qu’il y ait des rayons d’astre; c’est surtout dans la nuit qu’on voit les soleis; c’est surtout dans l’exil qu’on voit la patrie; c’est surtout dans la tombe qu’on voit Dieu».
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Léopoldine und ihres Ehemanns bei einem Bootsunglück auf der Seine.⁶⁴² Dieses Unglück erklärt in einer für den vorliegenden Zusammenhang nicht unbedeutenden Weise die lateinische Überschrift des vierten Buchs der ‚Contemplations‘, die da lautet: ‚Pauca meae‘.⁶⁴³ Denn diese hinsichtlich des genus mit Rücksicht auf die verstorbene Tochter veränderte Formulierung spielt an auf das ‚Pauca meo‘ der zehnten Ekloge der Bucolica Vergils.⁶⁴⁴ Vor allem die ersten beiden Anrufungen sind besonders anrührend, weil die Verstorbene darin als Verkörperung der reinen Unschuld und heiligen Tugend erscheint: ‚Pure Innocence! Vertu sainte!ʻ.⁶⁴⁵ In Hugos ‚Contemplations‘ erschließt also ebenfalls ein vorangestelltes Zitat eines lateinischen Klassikers die Erinnerung an unabänderlich und unwiderbringlich Vergangenes, selbst wenn es bei ihm im Unterschied zum Tacitus-Wort in der Recherche von einer existentiellen Erschütterung kündet. Auch bei Victor Hugo stand das Tacitus-Zitat nicht von vornherein im Vorwort, sondern an einem vergleichsweise peripheren Ort.⁶⁴⁶ Erst durch eine nachträgliche Verschiebung gelangte es an seine prominente Stelle. Ebenso könnte Proust vorgegangen sein, indem er das Tacitus-Zitat bei erneuter Durchsicht als nicht passend für die ursprünglich in den Blick genommene Stelle erachtet haben mag, weil die veränderte Wortstellung bei erneuter Betrachtung vielleicht nicht jenen Grad an Signifikanz aufwies, der die nachfolgende Reflexion über den Tod Swanns als zwingend erscheinen ließ. Auch könnte ihm die bereits mehrfach behandelte
Näher Suzanne Nash, Les contemplations of Victor Hugo. An Allegorie of the Creative Process, 1977, S. 52 ff. Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, 1985, S. 37, sieht darin den Unterschied zu Baudelaire: „Verse wie etwa diejenigen Victor Hugos auf den Tod eines Kindes hätte er nie geschrieben“. In der Bibliothèque de la Pléiade-Ausgabe der Œuvres poétiques (Hg. Pierre Albouy), Tome II, 1967, S. 1536, Anmerkung 1, sinngemäß übersetzt mit: « Quelques vers pour ma fille». Vergil, Bucolica, 10, 2– 3: ‚Pauca meo Gallo, sed, quae legat ipsa Lycoris, / Carmina sunt dicenda‘. Dazu Otto Zwierlein, Antike Revisionen des Vergil und des Ovid, 2000, S. 29. Arthur Franz, Aus Victor Hugos Werkstatt. Auswertungen der Manuskripte der Sammlung ‚Les Contemplations‘. I. Teil Die Methode der Auswertung, 1929, S. 75, vermittelt einen idealtypisch formulierten Leseeindruck, der mutatis mutandis bei allen fundamentalen Unterschieden die Annahme einer gewissen Nähe zu Proust nahelegt: „Jeder Leser des Abschnitts II fühlt, wenn er das Buch IV (Pauca Meae) kennt, daß dieser Abschnitt voll ist von Anklängen an Gefühlsschilderungen über das Glück des Vaters aus älterer Zeit. Ein Hauptreiz dieses Stückes beruht gerade in dem Mitschwingen von Gedanken, die man an anderer Stelle in ihrer ursprünglichen Form genossen hat.“ Hervorhebung nur hier. Vgl. auch Victor Brombert, Victor Hugo and the Visionary Novel, 1984, S. 85: “The poem ʻPontoʼ in Les Contemplations, written with the chronicles of Tacitus, Froissart, and Montluc in Mind, is a chronological list of horrors – ʻcrimes de la gloireʼ as well as crimes committed in the name of religion – that makes up history from Alexander to modern times”.
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Wendung seltsam gewunden und affirmativ (‚à bon droit‘) vorgekommen sein, die da lautet: « Il y a pourtant de cela ce que le poète appelle à bon droit: grande spatium mortalis aevi » (P I 263). Es ist angesichts Prousts stupender Kenntnis der französischen Literatur im Allgemeinen und Hugos ‚Contemplations‘ im Besonderen keineswegs ausgeschlossen, dass er dessen skrupulöse Umstellungen im Zuge des abschließenden Feilens an seinem Werk gekannt hat. Dann wäre ihm gewiss aufgefallen, dass Hugos ‚dirait Tacite‘ ungleich schlanker und eleganter anmutet als seine ursprünglich favorisierte, eher umständliche Kennzeichnung. Sie würde wohl auch zu Brichot passen. Doch musste Proust noch die Länge des Zeitraums beziffern. Dass er dabei jedoch selbst bei angenommener Kenntnis der Divergenz in Hugos Préface der Contemplations ebenso verfuhr, könnte letztlich denselben Grund gehabt haben. Proust dürfte zu dem Schluss gekommen sein, dass er wenigstens auf lange Sicht damit rechnen konnte, dass die Anspielung auf das Vorwort der ‚Contemplations‘ nicht unbemerkt bleiben würde. Indem nämlich nur das bei Tacitus durch Kommata abgetrennte und damit vom dort zuvor genannten fünfzehnjährigen Zeitraum – eben die ‚quindecim annos‘ (Agr. 3.2) – separierte ‚grande mortalis aevi spatium‘ genannt wurde, bezieht es sich nicht notwendigerweise zeitlich genau darauf, sondern gewinnt bei Hugo wie bei Proust eine eigenständige und eigentümliche Bedeutung.⁶⁴⁷ Auf diese Weise wird das grande mortalis aevi spatium bei Proust nicht nur zu einem Referenzerweis gegenüber Tacitus, sondern unausgesprochen auch gegenüber Victor Hugo, und zwar gerade dort, wo dieser sich die dichterische Freiheit einer eigenmächtigen Verlängerung des Zeitraums herausnahm, um die eigentliche Aussage durch den Nachhall dieses würdigen Wortes wirkungsvoller zum Ausdruck zu bringen. Das Tacitus-Wort ist in seiner konkreten Gestalt, die es bei Proust gefunden hat, zugleich ein unausgesprochenes Hugo-Zitat. Auch für die Recherche gilt bis auf die numerische Klarstellung (« deux ») der Satz, den Hugo dem Tacitus-Zitat voranstellt: « vingt-cinq années sont dans ces (…) volu-
Arthur Franz, Die Geschichte der Titel in V. Hugos Contemplations, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 57 (1933), 453, 476, erklärt Hugos Gedankengang, ohne freilich Proust zu berücksichtigen, schlüssig und in einer Weise, die sich mutatis mutandis auch auf Proust anwenden lässt: „Es heißt eigentlich: Quindecim annos grande mortalis aevi spatium. Es bezog sich also auf den Zeitraum von 15 Jahren, war aber, ohne Anfang, wirkungsvoll für eine längere Zeit zu verwenden. Es war schon früher einmal an einer Stelle verwendet worden, wo es auf eine lange Zeit, aber durchaus nicht auf 15 Jahre ankam, nämlich als Motto von V. XVI: Lueur au couchant. Dort wurde es gestrichen, mit der üblichen Sparsamkeit aufbewahrt und in der Préface wieder verwendet, wo die Zahl der Jahre erst recht nicht paßte.“ Dieser letzte Satz, mit dem Hugos Arbeitsweise dargestellt wird, könnte auch auf Proust zutreffen.
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mes ». Beide stimmen den Leser durch den feierlichen Duktus des ‚grande mortalis aevi spatium‘ auf das Nachfolgende ein. So lässt das Wort innerhalb der Recherche gleichsam die seit einem Vierteljahrhundert versunkene Welt wiedererstehen, die wie ein Paradies nur noch in der Erinnerung besteht: „Denn die wahren Paradiese sind Paradiese, die man verloren hat“ (VII 262). – « Car les vrais paradis sont les paradis qu’on a perdus » (TR II 13).⁶⁴⁸
Samuel Beckett, Proust, 1931 (S. 22 der von Marlis und Paul Pörtner übersetzten und durch Katharina Raabe und Werner Morlang überarbeiteten Ausgabe von 1989), dürfte auf diese Stelle anspielen, wenn er sie um den Gedanken von Tod und Unsterblichkeit bereichert, der einerseits auf das zurückgreift, was wir im Zusammenhang mit Swanns Tod berücksichtigt haben, andererseits auf das vorausweist, was im letzten Teil der Untersuchung im Vordergrund stehen wird. Ausgangspunkt ist die Proustsche Einsicht, „daß das einzig wahre Paradies das Paradies ist, was man verloren hat, und daß der Tod viele von dem Verlangen nach Unsterblichkeit heilen wird.“ Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 448 Fußnote 1: „Etwas über das erzählende Ich erfährt man ja aus dem Titel ‚À la recherche du temps perdu‘ – das Ich sucht das Verlorene, das Paradise lost wieder“.
V. « Elle eût écrit comme Tacite » Wenn einer geglückten Metapher für Proust ein Ewigkeitswert zukommt, dann dürfte dies wohl in besonderer Weise für jene Stelle gelten, an der er Françoise mit Tiresias und Tacitus vergleicht, die in ihrer mythologischen und literarischen Größe gleichsam für die Ewigkeit stehen. Es ist gleichwohl eine Ausprägung besonders feiner Ironie, dass der durchaus dynastisch denkende Proust ausgerechnet (aber wohl nicht zuletzt deswegen) die in der Recherche allgegenwärtige Dienerin Françoise mit dem höchsten Kreisen zugehörigen senatorischen Geschichtsschreiber Cornelius Tacitus vergleicht⁶⁴⁹ – eine Ironie freilich, zu der auch Tacitus durchaus imstande gewesen wäre, um es bewusst in Anlehnung an die Diktion zu sagen, in der Proust Françoise zu Tacitus in ein hypothetisches Verhältnis gesetzt hat.⁶⁵⁰ Nur dieses eine Mal und damit in scheinbar größter Beiläufigkeit nennt Proust in der gesamten Recherche Tacitus beim Namen.⁶⁵¹ Aber wenn man das Satz- und Gedankengefüge, in das die Nennung des Tacitus eingebettet ist, näher betrachtet, dann erkennt man sofort, dass es ein ungemein komplexer Gedanke und eine zentrale Stelle der Recherche ist, wie bereits der Anfang mitteilt:⁶⁵² „Vor allem aber drückte sich, wie oft die Schriftsteller, wenn sie durch die Tyrannei eines Monarchen oder einer Poetik, durch die Strenge der prosodischen Regeln oder die einer Staatsreligion geknebelt sind,⁶⁵³ zu einer Macht der Konzentration gelangen, die sie unter der Herrschaft einer
Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 454, bemerkt unabhängig von der vorliegenden Stelle ein allgemeines Stilmittel Prousts, das er wohl auch hier wählt: „die ironische Entlarvung durch Übertreibung“. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 41, spricht ohne Bezugnahme auf diese Stelle, von einer „innere[n] Lebensverbindung mit dem humanistischen Erbe.“ – Diese zeigt sich hier besonders deutlich. Ronald Syme, History or Biography. The Case of Tiberius Caesar, Historia 23 (1974), 481, 496, hat auch dies innerhalb des Fachschrifttums erstmals gebührend herausgestellt: “Stendhal on the court of Parma could help the understanding, or even Proust, though he cites Tacitus only once, when adducing him for parallel to the cryptic language of Françoise”. Vgl. auch Astrid Winter, Die Figur der Françoise in Marcel Prousts „À la Recherche du Temps Perdu“, 2003, S. 86. Zu diesem Werk Gregor Schuhen, Françoise und ihre Schwestern – Astrid Winter betreibt literarische Ahnenforschung, PROUSTIANA XXIII (2005), 217. Ferner Astrid Winter, Auf der Suche nach Françoise im Haushalt von Marcel Proust – oder ein neuer Blick auf die Schlüssel-Frage, PROUSTIANA XXII (2003), 139. An dieser Stelle zeigt sich etwas, das Karlheinz Stierle, Marcel und die Arena-Kapelle, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 179, 196, herausgearbeitet hat: „Prousts obstinat wiederkehrende religiöse Sprache bedeutet nicht nur ästhetische Metaphorik, sondern Sprache als eine Erfahrung jenseits der Profanität, die selbst noch sprachlos ist“. https://doi.org/10.1515/9783110647440-006
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freiheitlichen politischen Richtung oder literarischen Anarchie gar nicht nötig gehabt hätten, Françoise wie Tiresias aus, und sicher hätte sie geschrieben wie Tacitus. Sie verstand, alles, was sie nicht unmittelbar sagen konnte, in einen Satz hineinzubringen, den wir nicht als Vergehen anprangern konnten, ohne uns selbst zu bezichtigen, in weniger als einen Satz, ein Schweigen, eine bestimmte Art, einen Gegenstand hineinzulegen“ (III 476).⁶⁵⁴ – « Mais surtout, comme les écrivains arrivent souvent à une puissance de concentration dont les eût dispensés le régime de la liberté politique ou de l’anarchie littéraire, quand ils sont ligotés par la tyrannie d’un monarque ou d’une poétique, par les sévérités des règles prosodiques ou d’une religion d’État, ainsi Françoise, ne pouvant nous repondre d’une façon explicite, parlait comme Tirésias et eût écrit comme Tacite. Elle savait faire tenir tout ce qu’elle ne pouvait exprimer directement, dans une phrase que nous ne pouvions incriminer sans nous accuser, dans moins qu’une phrase même, dans un silence, dans la manière dont elle plaçait un objet » (G II 244).⁶⁵⁵ Allein dieser letzte Satz ist ein stilistisches Meisterwerk, das überdies mit der wiederholten Nennung der ‚phrase‘ die Erinnerung an jene Briefstelle Prousts wachruft, in der er sich darüber freut, dass ihm Francis Jammes ‚une phrase à la Tacite‘ bescheinigte,⁶⁵⁶ zumal da das ‚moins qu’une phrase même‘ etwas durchaus Taciteisches zum Ausdruck bringt, nämlich die für seinen Stil bezeichnende Art, in weniger als einem Satz durch mehrfache Weglassungen, ein moralisches Urteil zu fällen: ‚magis alii homines quam alii mores‘ (hist. 2.95.3).⁶⁵⁷ Interessanterweise bekennt Proust in seinem Essay über den Stil Flauberts, dass für ihn innerhalb der ‚Éducation sentimentale‘ kein Satz, sondern eine bestimmte Auslassung das Bemerkenswerteste überhaupt darstellt.⁶⁵⁸ Überhaupt hat Tacitus wie
Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 70, bemerkt allgemein, was auch hier, insbesondere für die genannte ‚Konzentrationsfähigkeit‘ gilt: „Es gibt nur eine Form der Energie, die bei Proust heroisiert wird: die des geistigen Schaffens. (…) Prousts Werk ist die Frucht einer EnergieEntfaltung, die nur mit den höchsten Maßstäben zu fassen ist. (…) Das Leben Marcel Prousts repräsentiert den seltenen Fall einer restlosen Übertragung von der Praxis in die Poiesis. Alles Streben nach Gütern und Lebenswerten, alles äußere Wollen scheint bei ihm ausgeschaltet zugunsten dieser Konzentration auf ein Schaffen, das ein Nachschaffen ist: Nachbildung des ihm geschenkten geistigen Universums, Nachbildung der ‚verlorenen Heimat‘, und der ‚verlorenen Zeit‘“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XIII (1914), Nr. 5, S. 33. Jakub Pigoń, Helvidius Priscus, Eprius Marcellus, and Iudicium Senatus: Observations on Tacitus Histories 4.7– 8, The Classical Quarterly 42 (1992), 235, 246, zu diesem Wort. Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 84.
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nur wenige innerhalb der Weltliteratur,⁶⁵⁹ zu denen allerdings Proust zählt, die dramatische Kraft des Schweigens erkannt: ‚neque populi aut plebis ulla vox, sed attoniti vultus et controversae ad omnia aures. Non tumultus, non quies, quale magni metus et magnae irae silentium est‘ (hist. 1.40).⁶⁶⁰ All dies ist jedoch auch typisch für Prousts Françoise. Das vierfache ‚dans‘ bildet bereits für sich betrachtet eine eindrucksvolle Anapher (G II 244).⁶⁶¹ Zudem hinaus stellt es eine wirkungsvolle Antiklimax dar, die zunächst von einem Satz, dann weniger als einem Satz, schließlich vom Schweigen handelt. Wenngleich keine Antiklimax im strengen Sinne,⁶⁶² so doch eine vergleichbare Verkettung, die bis zum ersterbenden Schweigen führt, findet sich bei Tacitus innerhalb des Agricola-Proömiums just in demselben Absatz, in dem das grande mortalis aevi spatium steht. Dort ist die Rede davon, dass in diesen fünfzehn Jahren unter Domitian, Jünglinge durch das Schweigen zum Greisenalter kamen, Greise selbst beinahe zu den Grenzen eines vollendeten Lebensalters gekommen sind: ‚quibus iuvenes ad senectutem, senes prope ad ipsos exactae aetatis terminos per silentium venimus‘ (Agr. 3.2). Insofern kann man wohl mit Fug annehmen, dass derjenige Satz, der sich unmittelbar an das Proustsche ‚Tacite‘ anschließt, seinerseits nichts anderes ist als ‚une phrase à la Tacite‘. Ihrer äußeren sozialen Stellung nach ist Françoise eine Bedienstete, als die sie sich, zumindest zu Anfang, mit Stolz und uneingeschränkter Ehrerbietung der Herrschaft gegenüber sieht und familiär zugehörig weiß:⁶⁶³ „Zu dem Privileg, einen Teil der Familie zu bilden (vor den unsichtbaren Banden, die zwischen den Gliedern einer Familie durch den Strom des gleichen Blutes geschaffen werden, hatte
Etwa Cicero, Cat. 1.21: ‚Cum tacent, clamant‘. Dazu Markus Schauer, „Cum tacent, clamant“: ‚Beredtes Schweigen‘ als Instrument rhetorischer Strategien bei Cicero, Rheinisches Museum für Philologie 154 (2011), 300. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 14, paraphrasiert stilistisch wirkungsvoll: „Die Wiedergabe solcher Situationen hat Tacitus mit besonderer und spürbarer Hingabe gebildet, etwa Hist. I 40, wo er das ‚unruhige Schweigen‘ des Volkes angesichts der letzten Bedrängnis Galbas schildert“. Jean Milly, La phrase de Proust. Des phrases de Bergotte aux phrases de Vinteuil, 1975, S. 173, zur Anapher als Stilmittel der Steigerung der Dynamik. Allan A. Lund, Zur Beschreibung der Fennen in der ‚Germania‘ des Tacitus, Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 110 (1981), 241, zeigt allerdings am Beispiel der Germania (6, 45 f.), dass dieses Stilmittel auch Tacitus geläufig ist. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 92, charakterisiert sie treffend: „Dem französischen Bauerntum ist Françoise entsprossen, die unermüdliche, aufopfernd-treue Magd, die nichts Höheres auf Erden als ihre Herrschaft kennt und die nur dann störrisch wird, wenn sie einen der geheiligten Gebräuche angetastet sieht, die von Urväterzeit her übernommen sind“.
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sie die gleiche fromme Furcht wie die griechischen Tragiker),⁶⁶⁴ kam bei uns der Reiz, daß wir nicht ihre gewöhnliche Herrschaft waren“ (I 75). – « Au prestige de faire partie de la famille (elle avait pour les liens invisibles que noue entre les membres d’une famille la circulation d’un même sang autant de respect qu’un tragique grec) le charme de n’être pas ses maîtres habituels » (S I 80). Für Marcel und seine Familie ist Françoise gleichwohl trotz ihrer Schlichtheit eine Instanz. Sie richtet auch durch Schweigen – nicht anders als Tacitus. Aber gerade schweigend bildet sie durch ihre schiere Präsenz das personifizierte schlechte Gewissen ihrer Herrschaft ab, die sie durch die stillschweigend provozierten Selbstanklagen auf ihre Art beherrscht. Dabei hat es etwas im Sinne der ausdrücklichen Erwähnung durchaus Taciteisches (G II 244), dass Marcel Françoise schildert als eine „jeder Unterwürfigkeit abholde Person“ (II 294): « sans bassesse » (JF II 69). Dergleichen ist auch Tacitus, wie erinnerlich, einer lobenden Erwähnung wert (ann. 6.10.3). Françoises paradoxerweise gleichwohl ausgeübte Herrschaft beruht auf einem – sei es aus Lebenserfahrung oder aus einer ihrer Herkunft geschuldeten, misstrauischen Skepsis gewonnenen (III 476) – Wissensvorsprung, den zu offenbaren sie sich nicht verstattet, obwohl er dem ihr anvertrauten Marcel Misserfolge und Enttäuschungen ersparen könnte, womit sie ihn im Vorhinein durch ihr Schweigen richtet und zum Scheitern verurteilt: „Aber um auf Françoise zurückzukommen: ich habe niemals in meinem Leben eine Niederlage erlebt, ohne im voraus auf den Zügen von Françoise bereits dem Ausdruck des Beileids begegnet zu sein; und wenn ich meinem Verdruß darüber, von ihr bedauert zu werden, zu behaupten versuchte, ich sei erfolgreich gewesen, so zerschellten meine Lügen nutzlos an ihrem wenn auch respektvoll zur Schau getragenen Zweifel und ihrem Bewußtsein eigener Unfehlbarkeit; aber sie schwieg und machte nur mit den Lippen eine Bewegung, als verschlucke sie etwas, und zwar einen saftigen Brocken. Sie schwieg, wenigstens habe ich das lange Zeit geglaubt, denn damals stellte ich mir noch vor, daß man die Wahrheit an andere durch Worte weitergibt“ (III 82).⁶⁶⁵ – « Pour revenir à Françoise, je n’ai jamais dans ma vie éprouvé une humilitation sans avoir trouvé d’avance sur le visage de Françoise des condoléances toutes prêtes; et si, lorsque dans ma colère d’être plaint par elle, je tentais de prétendre avoir au contraire remporté un succès, mes mensonges venaient inutilement se brisera son incredulité respectueuse mais visible et à la conscience qu’elle avait de son infallibilité. Car elle savait la vérité; elle la taisait et Auch der Vergleich der Bediensteten mit den griechischen Tragikern ist wohl ein Beispiel für die nicht verletzende, aber wirkungsvoll zuspitzende Ironie durch Übertreibung, die vor allem Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 392, 458, herausgearbeitet hat. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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faisait seulement un petit mouvement des lèvres comme si elle avait encore la bouche pleine et finissait un bon morceau. Elle la taisait, du moins je l’ai cru longtemps car à cette époque-là je me figurais encore que c’était au moyen de paroles qu’on apprend aux autres la vérité » (G I 83/84).⁶⁶⁶ Nicht zuletzt durch diese pointierte Paradoxie wird deutlich, dass die Schweigemetapher bei Proust einen besonderen Bedeutungsgehalt aufweist. Davon zeugt im Übrigen der für seinen Stil bezeichnende Nachsatz mit seiner kontraintuitiven Pointe, die ihrerseits wiederum der Art nach auch dem taciteischen Stil nicht fremd ist, wie wir verschiedentlich gesehen haben.⁶⁶⁷ Dabei wandelt er das taciteische Motiv des angstvollen Schweigens vor der willkürlich ausgeübten Macht des Herrschers auf den scheinbar herrschaftsfreien zwischenmenschlichen Umgang aus: „Man legt Schweigen gern als Stärke aus, in einem ganz anderen Sinne stellt es sogar eine furchtbare Macht in den Händen derjenigen, die geliebt werden, dar. Es steigert die Angst des Wartenden. Nichts lädt so sehr dazu ein, sich einem Wesen zu nähern, als gerade das, was einen von ihm trennt, und welche unüberschreitbarere Barriere gibt es als das Schweigen? Man hat auch gesagt, daß Schweigen eine Qual bedeute und imstande sei, den-
Siehe auch Annette Popel-Pozzo, Proust und die Lüge. Einige Reflexionen zu À la recherche du temps perdu, PROUSTIANA XIV/XV (1994), 11. Auch für das in diesem Satz enthaltene ‚longtemps‘ dürfte wohl gelten, was am deutlichsten herausgestellt wurde von Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 124, wonach das „beschwörende Zeitadverb ‚longtemps‘ (…) vom Anfang des Werkes bis zu seinem Ende, dem Moment vor Beginn der Arbeit am Werk, den Grundton angibt.“ Er verdeutlicht dies noch an anderer Stelle (in: Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste, Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser, 2004, S. 8, 25): „Die Zeit der Gewohnheit ist die Zeit der Ereignislosigkeit. Ihr Tempus ist das Imparfait, das der Recherche den Grundton gibt. ‚Longtemps‘ ist das obstinat wiederkehrende Kennwort für die Zeit der habitude. Mit ihm beginnt der Roman: « Longtemps, je me suis couché de bonne heure».“ Hervorhebung nur hier. – Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 7 f., macht interessanterweise darauf aufmerksam, dass „der Tempusgebrauch des Tacitus ganz deutlich im Dienst seiner aus dem Anschauen geborenen bildhaften Schilderungskunst steht. Das von ihm auffallend bevorzugte Imperfekt gibt dem Bilde Dauer und Einprägsamkeit, ganz anders als es das flüchtige, nur einen Punkt heraushebende und rasch zu neuer Feststellung fortschreitende historische Perfekt vermöchte. (…) Selbst ein an sich erzählendes Tempus das historische Präsens, hat doch gegenüber dem Perfekt den Vorzug, daß es ‚vergegenwärtigt‘, vor Augen stellt, der bildmäßigen Verlebendigung entgegenkommt.“ – Die Parallelen zu Proust sind – mutatis mutandis – offensichtlich. Erneut auszugsweise zitiert sei zur Veranschaulichung die punktgenau treffende Beobachtung von Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 945: „Bei der Gewichtsverlagerung vom eigentlichen Satz auf den Nachtrag (…) herrscht eine ähnliche Tendenz wie bei der Veränderung der Wortstellung: In den Nachträgen steht oft das Wichtigste (…) und zwar oft im Widerspruch zu der zuvor aufgebauten Erwartung des Lesers“.
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jenigen, der im Gefängnis dazu verurteilt ist, um den Verstand zu bringen“ (III 157).⁶⁶⁸ – « On a dit que le silence était une force; dans un tout autre sens il en est une terrible à la disposition à ceux qui sont aimés. Elle accroît l’anxiété de qui attend. Rien n’invite tant à s’approcher un être qui se qui en sépare, et quelle plus infranchissable barrière que le silence? On a dit aussi que le silence était un supplice, et capable de rendre fou celui qui y était astreint dans les prisons » (G I 159). Die Schweigemetapher begegnet auch bei Tacitus.⁶⁶⁹ Dort findet sich zudem ein gewisser Anklang an den zuletzt bezeichneten Gedankens Prousts, dass erzwungenes Schweigen in den Wahnsinn führen kann: ‚memoriam quoque ipsam cum voce perdidissemus, si tam in nostra potestate esset oblivisci quam tacere‘ (Agr. 2.3). Gerade Tacitus richtet nicht selten durch sein Schweigen in Gestalt kunstvoller inhaltlicher Weglassungen, denen auf stilistischer Ebene die Ellipsen entsprechen. Er lässt den Leser nur das für die Entschlüsselung der taciteischen Dramaturgie Nötige wissen, unterschlägt zwar nichts direkt, berichtet aber das ihr Widerstrebende mit so mokantem Unterton, dass es vom Leser als unwahrscheinlich zurückgewiesen wird. Ebenfalls bezeichnend ist für Tacitus, dass er das Mienenspiel des Schweigenden schildert. In der freimütigen Rede des Historikers Cremutius Cordus vor seinem Freitod, mit der er der sicheren Veruteilung zum Tode zuvorkam, ist der allmächtige Tiberius für die Dauer der Rede selbst zum Schweigen verurteilt, weil er ungeachtet des im vorhinein feststehenden Urteils zumindest den Schein rechtlichen Gehörs wahren musste. Doch Tiberius’ finstere Miene, mit der er die Verteidigungsrede aufnahm, sprach Bände: ‚Caesar truci vultu defensionem accipiens‘ (ann. 4.34.1). Umgekehrt bewahrte er nicht nur Worte, sondern auch Gesichtsausdrücke seiner Gegner innerhalb der Senatsaristokratie im Gedächtnis, die er ihnen bei Bedarf als Verbrechen auslegte, wie Tacitus mit bedrohlichem Unterton zu Beginn der Annalen in einer Art Innenschau der verborgenen Wünsche der Aristokraten – ‚ad introspiciendas etiam procerum voluntates‘ (ann. 1.7.7) – wissen lässt, die auch schon von diesem Gegenstand der Beobachtung her, wenngleich in weniger feindlicher Willensrichtung, Prousts Schilderungen über die Angehörigen des Faubourg Saint-Germain ähnelt und wiederum an seinen Baron de Charlus erinnert:⁶⁷⁰ ‚nam verba vultus in crimen detoquens recondebat‘ (ann. 1.7.7).⁶⁷¹
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Werner Suerbaum, Der Historiker und die Freiheit des Wortes. Die Rede des Cremutius Cordus bei Tacitus, Ann. 4, 34/35, in: Politik und literarische Kunst im Werk des Tacitus (Hg. Gerhard Radke), 1971, S. 61, 97. Ronald Syme, History or Biography. The Case of Tiberius Caesar, Historia 23 (1974), 481, 496, wenn auch nicht zu dieser Stelle.
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Was die weiter oben behandelte Herrschaft der scheinbar Untergeordneten betrifft, so verstärkt sich dies mit der Intensität der Gefühle für eine bestimmte Person. Das veranschaulicht die bereits eingangs der Untersuchung erwähnte Stelle aus der ‚Prisonnière‘, wonach die Lasten und Pflichten ebenso wie die Rechte die Herrschaft bestimmen. Die Herrschaft der Untergebenen lässt sich im Übrigen auch am Beispiel Françoises belegen.⁶⁷² Im Hinblick auf Albertine fügt Marcel ein pointierendes Paradoxon hinzu:⁶⁷³ „Die Rechte, die sie mir zuerkannte, gaben erst meinen Lasten ihren wahren Charakter. (…) Ich war noch in weit größerem Maße der Herr, als ich je geglaubt hätte: Herr, das heißt Sklave“ (V 206).⁶⁷⁴ – « Et ces droits qu’elle me reconnaissait donnaient précisement à mes charges leur véritable charactère. (…) J’étais plus maître que je n’avais cru. Plus maître, c’est-à-dire plus esclave » (P I 207). Gewiss verhält es sich im Verhältnis zu Françoise in Ermangelung einer emotionalen Abhängigkeit nicht so drastisch wie im Hinblick auf Albertine. Aber selbst wenn Marcel scheinbar erfolgreich konkrete Verhaltenserwartungen zum Ausdruck bringt, ändert sich die Richtung nicht, wie sich daran zeigt, dass Albertine letztlich selbst dort, wo sie sich seinen ästhetischen Wünschen fügt, die Oberhand gewinnt:⁶⁷⁵ „Kummer bereitete mir nur, daß
Jean Cousin, Rhétorique et psychologie chez Tacite, Revue des Études Latines 29 (1951), 228; deutsche Übersetzung von Wynfrid Stiefel: Rhetorik und Psychologie bei Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, 104, 113, zur Zielrichtung dieser Stelle: „um in die innersten Gedanken und Absichten der Großen einzudringen“. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 466, veranschaulicht dies seinerseits stilsicher anhand einer vergleichsweise frühen Stelle, als Françoise noch bei der Tante Eulalie arbeitete und noch nicht von der Familie Marcels übernommen wurde: „Man spürt durch den Satzrhythmus nachgeahmt das Sich-in-HeimlichkeitenHüllen der Dienerin, die erst am Schluß ihrer Maskierung hervortaucht, zugleich hört man die forschende Frage der Herrin, der Tante, mitklingen: ‚Que peut bien faire ou chercher à me cacher, Françoise?‘. Die Dienerin Françoise ist das unheimliche Ziel der Gedanken der Herrin; sie erscheint als eine ‚Macht‘, eine Naturkraft.“ – Auch Tacitus bediente sich einer solchen Wortstellung, um eine bestimmte Person – etwa den Kaiser – so in den Mittelpunkt zu stellen, dass die Anordnung des Wortes im Satz die Herrschaftsverhältnisse verdeutlicht: ‚nam cuncta legum et magistratuum munia in se trahens princeps materiam praedandi patefecerat‘ (ann. 11.5.1). Erich Koestermann, Cornelius Tacitus. Annalen, Band III, 1967, S. 35, analysiert das Satzgefüge treffend: „Das Subjekt princeps steht als beherrschender Mittelpunkt im Satz, der durch cuncta und patefecerat effektvoll eingerahmt wird“. Siehe zu ihr auch Luzius Keller, Annäherungen an Albertine, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 27. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Patricia Oster, Prousts Roman À la recherche du temps perdu und die abgewandte Seite der französischen Klassik, in: Marcel Proust – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patricia Oster/Karlheinz Stierle), 2007, S. 106, 124, macht allerdings zutreffend geltend, dass
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die Frisur, die ich Albertine zu tragen gebeten hatte, ihr wie eine weitere Freiheitsbeeinträchtigung erschien. Doch zeigte sich hier wieder das neue hausväterliche Gefühl, das mich auch, wenn Albertine fern von mir, wie eine Fessel an sie heftete“ (V 255).⁶⁷⁶ – « Je souffrais seulement que la coiffure que je lui avait demander d’adopter pût paraître à Albertine une claustration de plus. Et ce fut encore ce sentiment domestique nouveau qui ne cessa, même loin d’Albertine, de m’attacher à elle comme un lien » (P I 256). Mit diesem negativen Vorzeichen könnte der Band ebenso gut ‚der Gefangene‘ heißen: Le prisonnier.⁶⁷⁷ Die Ohnmacht des scheinbar Mächtigen ist übrigens auch ein taciteisches Motiv (ann. 15.55.2). Bereits im Dialogus de oratoribus lässt er den in jener Hinsicht souveränen Maternus, der erfolgreicher Advokat war und sich zunehmend der Dichtkunst verschrieben hat, durch eine Reihe rhetorischer Fragen nachweisen, dass die behauptete Machtfülle eines bestimmten Menschen in sich zusammenschrumpft, wenn man sie nach der inneren Freiheit des Betreffenden bemisst, wonach sie nicht über das Maß eines Freigelassenen hinausreicht: ‚tantum posse liberti solent‘ (dial. 13.4).⁶⁷⁸ Tacitus hat dieses Grundmotiv an vielen Stellen zur Geltung gebracht. Es zeigt sich zudem an seiner Darstellung der letzten Zeit des Kaisers Claudius, in der er immer wieder verängstigt fragt, ob er selbst überhaupt der Herrschaft noch mächtig ist oder ein Nachfolger schon bereitsteht: ‚an ipse imperii potens‘ (ann. 11.31.1). Der nominell Allmächtige war längst machtlos. Eine ironisch gefärbte Parallelstelle, in der ein gewisses Aufbegehren der Dienerschaft gegenüber der Herrschaft – übrigens durchaus mit juristischer Konnotation, wie dies eingangs im Zusammenhang mit Justizmetaphern gesehen wurde – zur Geltung kommt, findet sich in der ‚wiedergefundenen Zeit‘, als die inzwischen stark gealterte Françoise mehr und mehr unter dem Einfluss des ersten Dieners steht. Es sind zunächst fast humoristische Szenen – Humor ist
sich Albertine „als Gefangene Marcels mit der Racineschen Heldung identifiziert und Marcel in die Rolle des Despoten zwingt“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Marcel und die Arena-Kapelle, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 179, 189, hat es bereits auf den Punkt gebracht: „Die prisonnière macht Marcel selbst zum prisonnier.“ An anderer Stelle (ders., Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 210) spricht er in diesem Sinne von „Freiheitsverlust (…) als den er die immer engere Beziehung zu Albertine erfährt.“ Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 123, hat wohl ebenfalls recht, wenn er verallgemeinert: „Der Proustsche Mensch ist der Gefangene seiner Individualität“. Clarence W. Mendell, Tacitus. The Man and his Work, 1957, S. 24 f., zu dieser Stelle.
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Proust entgegen landläufigen Vorurteilen ebenso wenig fremd wie Tacitus⁶⁷⁹ –, in denen das falsche Französisch der Diener liebevoll aufs Korn genommen wird.⁶⁸⁰ Eine typisch Proustsche Periode von beträchtlicher Länge und innerer Dynamik verdeutlicht in formaler Hinsicht die untergründigen Auflehnungen der Untergeordneten, die allerdings in einer eher komödiantischen Weise zur Geltung kommen, wie die groteske Berufung auf höchste Rechte in einer denkbar banalen Angelegenheit zeigt: „Als ich mich dagegen weniger im Namen des Mitleids für Françoise oder der gesunden strategischen Vernunft als aus lexikalischen Gründen aufgelehnt und erklärt hatte, das Wort heiße ‚Verve‘, erreichte ich damit nichts weiter, als Françoise zu veranlassen, den abscheulichen Satz jeweils zu wiederholen, wenn ich in die Küche trat, denn fast ebenso glücklich wie darüber, seine Kollegin erschrecken zu können, war unser erster Diener, wenn er seinem Herrn zeigen konnte, daß er, wiewohl ein ehemaliger Gärtner aus Combray⁶⁸¹ und jetzt einfacher Hausangestellter, zudem ein guter Franzose nach den Regeln von Saint-André-des-Champs, aus der Erklärung der Menschenrechte die Befugnis ableitete, in voller Unabhängigkeit von ‚Werbe‘ – statt ‚Verve‘ – zu reden und sich in seiner Sache keine Befehle erteilen zu lassen, die seinen Dienst nicht betraf, und in deren Bereich infolgedessen seit der Revolution ihm niemand etwas zu sagen hatte, da er in seiner Herrschaft ja rechtsgleich war“ (VII 222/223).⁶⁸² – « M’étant insurgé, sinon au nom de la pitié pour Françoise et du bon sens stratégique, au moins de la grammaire, et ayant déclarer qu’il fallait prononcer ‚envergure‘, je n’y gagnais qu’à faire redire à Françoise la terrible phrase chaque fois que j’entrais à la cuisine, car le maître d’hôtel presque autant que d’effrayer sa camarade était heureux de montrer à son maître que, bien qu’ancien gardier de Combray et simple maître d’hôtel, tout de même bon Français selon la règle de SaintAndré-des-Champs, il tenait de la déclaration des droits de l’homme le droit de prononcer ‚enverjure‘ en toute indépendance, et de ne pas se laisser commander sur un point qui ne faisait pas partie de son service et où, par conséquent, depuis la Révolution, personne a n’avait rien à lui dire puisqu’il était mon égal » (TR I 199).
Ronald Syme, Who was Tacitus?, Harvard Library Bulletin XI (1957), 185, 188, der an anderer Stelle (ders., The Political Opinions of Tacitus, in: Ten Studies in Tacitus, 1970, S. 119, 137) selbst aphoristisch bemerkt hat, dass Claudius seinen, also Tacitus’ Sinn für Humor geschärft hat, schränkt jedoch ein: “The humour of Tacitus is often cruel”. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 63, bemerkt ganz allgemein und ohne Bezug auf diese Stelle: „Proust kommt so zu einem Humor des Trivialen“. Siehe auch Angelika Corbineau-Hoffmann, Der Charme des Anfangs. Combray und seine Spuren in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu. Sur la lecture XII, 2017. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Dieses pittoreske Porträt bildet einen liebenswürdig-ironischen Kontrapunkt zu der im Ausgangspunkt zitierten Stelle. Zugleich enthält die zuletzt genannte Episode ein juristisch konnotiertes Leitmotiv, das die auch für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsamen Herrschaftsverhältnisse in ironischer Form mit den seit der Französischen Revolution verbrieften Rechten kontrastiert, etwa wenn Marcel über Françoise in der ‚Entflohenen‘ sagt:⁶⁸³ „Sie nahm nur eines der Bürgerrechte für sich in Anspruch, nämlich das, die Wörter nicht so auszusprechen wie wir, sondern vielmehr darauf zu bestehen, daß ‚hôtel‘, ‚été‘ und ‚air‘ feminini generis seien“ (VI 220).⁶⁸⁴ – « Des principes égalitaires de 1789 elle ne réclamait qu’un droit du citoyen, celui de ne pas prononcer comme nous et de maintenir qu’hôtel, été et air étaient du genre feminin » (AD 215). Dadurch ergeben sich die bereits genannten komischen Wirkungen, weil die Berufung auf höchste Rechte zur Rechtfertigung von Bagatellen, die noch dazu auf objektiv falsche Ausdrucksweisen hinauslaufen, nur um so grotesker gerät und die durch die Revolution vorgeblich geschaffene Gleichheit immer wieder an unsichtbare Schranken der Klassenunterschiede stößt, die sich eben nicht zuletzt im richtigen Gebrauch der Sprache manifestieren.⁶⁸⁵ So setzen sich die im vornehmen Salon der Guermantes geführten Kontroversen über die Dreyfus-Affäre auf der gesellschaftlich niederrangigen Ebene der Bediensteten fort bzw. werden parallel auch dort geführt: „Kaum nach Hause zurückgekehrt, fand ich dort ein Pendant zu der Unterhaltung vor, die eben zwischen Bloch und Monsieur de Norpois stattgefunden hatte, aber in abgekürzter, pervertierter und grausam gewordener Form, nämlich in Gestalt eines Streites zwischen unserem Butler, der für und dem der Guermantes, der gegen Dreyfus war. Die Wahrheiten und Gegenwahrheiten, die oben bei den Intellektuellen der ‚Ligue de la Patrie française‘ und der Liga für Menschenrechte aufeinanderprallten, waren tatsächlich bis in die Tiefen des Volkes hinabgedrungen“ (III 392).⁶⁸⁶ – « Pour ma part, à peine rentré à la maison, j’y retrouvai le pendant de la conversation qu’avaient échangée un peu auparavavant Bloch et M. de Norpois, mais sous une forme brève, invertie et cruelle: c’était une dispute entre notre maître
Auch hier zeigt sich das grotesk-ironisierende Auseinanderfallen trivialer Verhaltensweisen und der vorgeblichen Innehabung höchster Rechte, das Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 392, 458, in allgemeinerer Form beobachtet hat. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Human Rights and Social Status at Rome, The Classical Outlook 64 (1986/7), 37, 40 (= Roman Papers,Vol.VII, Hg. Antony R. Birley, 1991, S. 182, 189), veranschaulicht die römische Perspektive: “Roman society, however changing, continued to be based on clear distinctions of class and status: slave and free, citizen and foreigner, the upper order and the rest”. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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d’hôtel, qui était dreyfusard, et celui des Guermantes, qui était antidreyfusard. Les vérités et contre-vérités qui s’opposaient en haut chez les intellectuels de la Ligue de la Patrie française et celle des Droits de l’homme se propagaient en effet jusque dans les profondeurs du peuple » (G II 157/158). Auch hier verdeutlicht die bereits sprachlich zum Ausdruck kommende Deszendenzbewegung der letzten Worte, dass Proust – nicht anders als Tacitus⁶⁸⁷ – einem strengen Rangdenken verpflichtet ist und die drängenden gesellschaftlichen Fragen gleichsam von oben her betrachtet. Besonders deutlich wird dies im Theater, wo Marcel genauestens registriert, in welchem Bezirk einerseits die Herzoginnen und Herzöge sitzen bzw. Hof halten und wo andererseits, durch mehr oder minder sichtbare Schranken davon hermetisch abgesondert, das einfache Volk Platz zu nehmen hat, das sich nicht zu benehmen weiß, wie Marcel missbilligend protokolliert, der sehr zu seinem Verdruss in der Nähe Platz zu nehmen hat: „Neben mir saßen ziemlich vulgäre Leute, die zwar die Abonnenten nicht kannten, aber zeigen wollten, daß sie recht wohl imstande seien, sie dennoch herauszuerkennen, und laut und ungeniert ihre Namen nannten“ (III 46).⁶⁸⁸ – « A côté de moi étaient des gens vulgaires qui, ne conaissant pas les abonnés, voulaient montrer qu’ils étaient capables de les reconnaître et les nommaient tout haut » (G I 48). Mit durchaus ähnlicher Zielrichtung berichtet Tacitus über die lex Roscia, nach der die Sitzplätze bei den öffentlichen Spielen streng nach dem jeweiligen Rang – also nach Senatoren auf den besten Plätzen, ihnen zunächst dann den Rittern und schließlich der Plebs auf den billigen (Steh‐) Plätzen – getrennt waren (ann. 15.32).⁶⁸⁹ Noch deutlicher verhielt es sich beim Hochadel (ann. 3.23.1). Das dahinterstehende Selbstverständnis der obersten Schicht, welcher der Gedanke an Ranggleichheit nicht einmal im Traum in den Sinn gekommen wäre, findet sich nahezu deckungsgleich bei Proust: „Die Fürsten wissen, daß sie Fürsten sind, sie sind keine Snobs und halten sich außerdem für derart hoch über alles erhaben, was nicht von Geblüt ist, daß große Herren und Bürgerliche, da beide so viel tiefer stehen, ihnen fast rangleich erscheinen“ (II 126). – « Les princes se savant princes,
Erich Koestermann, Das Charakterbild Galbas bei Tacitus, Festschrift für Felix Jacoby, 1956, S. 191 (= in: Tacitus, Hg. Viktor Pöschl, 1969, S. 413, 427), gibt Tacitus’ Standpunkt sprachlich distanzierend wieder: „Daß die Hefe des Volkes sich nach den Verhältnissen unter Nero zurücksehnt, wird erhärtet durch die Analyse der Stimmung der Plebs.“ Hervorhebung nur hier. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zu diesem Gesetz Christian Meier, Res publica amissa. Eine Studie zu Verfassung und Geschichte der späten römischen Republik, 2. Auflage 1988, S. 73, 87; Elke Hartmann, Ordnung in Unordnung. Kommunikation, Konsum und Konkurrenz in der stadtrömischen Gesellschaft der frühen Kaiserzeit, 2016, S. 43 ff.
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ne sont pas snobs et se croient d’ailleurs tellement, au-dessus de ce qui n’est pas de leur sang que grands seigneurs et bourgeois leur apparaissent, au-dessous d’eux, presque au même niveau » (JF I 126). Dementsprechend wohlgefällig vermerkt Marcel, dass ein begabter Student, der für die Sache lebt, einen guten Platz erwirbt und sich von seinesgleichen möglichst distanziert (III 46). Selbst die scheinbaren Ausnahmen von diesem Dünkel reichen bis in die Details: Barbaren sollen sich selbst nach Tacitus’ strengem Rangdenken zur Not ebenso zu den Senatoren setzen dürfen, sofern sie Fürsten ihres jeweiligen Stammes sind und in Rom geschäftlich zu tun haben (ann. 13.54).⁶⁹⁰ Die Szene entbehrt nicht einer gewissen Komik, weil es zwei friesische Fürsten in ihren für die Römer ungewöhnlichen Gewandungen sind, die zunächst woanders saßen und sich erst umsetzten, nachdem sie gehört hatten, dass die Senatoren entsprechend ihrem Rang weiter vorne sitzen dürfen, da sie ja ebenso wie jene in ihrem Stamm die Ersten seien. Aber es wird eher der Kuriosität halber wohlwollend geduldet, als wirklich goutiert. Denn als sie sich in den politischen Verhandlungen nicht bedingungslos unterwarfen, wurde kurzer Prozess mit ihrem Volk gemacht. Hier urteilt zwar der verständnisvolle Ethnograph der Sitten und Gebräuche der Germanen,⁶⁹¹ aber nichtsdestoweniger der selbst in der Sitzordnung bevorrechtigte Senator vom Standpunkt römischer Vorherrschaft aus.⁶⁹² Eine ähnlich folkloristische Begebenheit findet sich bei Proust anlässlich einer Einladung der Guermantes, als sich ein urwüchsiger Musiker aus Bayern mit ungebändigter Haartracht der ihm bekannten Herzogin von Guermantes mit der Bitte nähert, ihrem Ehemann vorgestellt zu werden, der sich daraufhin „mit fragender und furchterregender Miene seiner Gattin zuwendet, als ob er sagen wolle: ‚Was ist denn das für ein Ur-Germane?‘ (…) Dann, als würde er einzig von einem Bewegungsimpuls bestimmt, dennoch die verlangte Höflichkeit zu erweisen, und nachdem er durch seine ablehnende Haltung gleichsam die ganze Versammlung zum Zeugen genommen hatte, daß er den bayerischen Musiker nicht kenne, kreuzte er hinter sich auf dem Rücken seine beiden weißbehandschuhten Hände, warf den Oberkörper nach vorn und versetzte dem Musiker einen so tiefen, von so viel Befremden und Wut bestimmten, so jähen und so heftigen Gruß, daß der Künstler zitternd zurückwich und sich dabei vornüberbeugte, um nicht einen
Näher zur zitierten Episode Ronald Syme, Tacitus, 1958,Vol. II, S. 531; Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 249 ff. Anders im Exkurs über die Juden; Tacitus, hist. 5.5.1; dazu differenziert und weiterführend Stephen Greenblatt, Die Erfindung der Intoleranz. Wie die Christen von Verfolgten zu Verfolgern wurden, 2019, S. 55 – 58. Pointiert Erich Koestermann, Cornelius Tacitus. Annalen, Band III, 1967, S. 341, 342: „Vorher sprach der Mensch Tacitus, jetzt der Imperialist“.
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furchtbaren Stoß mit dem Kopf in den Magen zu erleiden“ (IV 119/120).⁶⁹³ – « se retourna vers sa femme d’un air interrogateur et terrible, comme s’il disait: ‚Qu’estce que c’est que cet ostro-goth-là?‘ (…) Puis, comme dans l’emportement d’une impulsion qui seul lui permettait d’accomplir la politesse qui lui était demandée, et après avoir semblé par son attitude de défi attester toute l’assistance qu’il ne connaissait pas le musicien bavarois, croisant derrière le dos ses deux mains gantées de blanc, il se renversa en avant et asséna au musicien un salut si profond, empreint de tant de stupéfaction et de rage, si brusque, si violent, que l’artiste tremblant recula tout en s’inclinant pour ne pas recevoir un formidable coup de tête dans le ventre » (SG I 117). Proust schildert mit betont juristischer Färbung nicht nur die Zeugenschaft der standeswürdigen Öffentlichkeit und das Recht der Herzogin – « son droit » (SG I 117) –, den unliebsamen Petenten, ihrem Gemahl vorzustellen, um die auf die Vollstreckung dieses Rechts folgende Sanktion nur umso schlagkräftiger erscheinen zu lassen. Die Übertretung ungeschriebener Gesetze der Aristokratie – Proust spricht sinngemäß vom ‚Buchstaben des Protokolls‘:⁶⁹⁴ « la lettre même du protocole » (SG I 116) – durch den der Fallstricke des diplomatischen Parketts unkundigen, leutseligen Fremden wird mit der standrechtlichen Exekution durch den hochmütigen Herzog geahndet. Das Mitleid Marcels, der zuvor akribisch die Alarmsignale und Rücktrittsmöglichkeiten des Opfers von seinem allzu kühnen Ansinnen protokolliert hat, hält sich in Grenzen; der gedemütigte bayerische Musiker namens von Herweck hat seine Schuldigkeit getan. Immerhin nimmt Proust die Stimme des Volkes wahr, aber eben eher als lästige Nebengeräusche, die Wahres mit Falschem in misstrauischer und doch leichtgläubiger Voreingenommenheit sowie der skeptischen Suche nach dem eigenen Vorteil vermischt, wie er am Beispiel Françoises verdeutlicht, just bevor er sie dann allerdings mit Tacitus vergleicht (III 476): „Zweifellos übersah Françoise nichts, was ihrem Zweck dienlich sein konnte, keine Einzelheit des Ausdrucks oder der Haltung. Da sie (während sie niemals glaubte, was wir sagten und sie glauben machen wollten) nicht den Schatten eines Zweifels allem gegenüber aufkommen ließ, was irgendeine Person ihres eigenen Standes ihr noch so Absurdes erzählte und was gleichzeitig unseren Ideen vollständig zuwiderlief, bezeigte einerseits die Haltung, mit der sie unsere Versicherungen zur Kenntnis nahm, ihre Ungläubigkeit, andererseits bewies der Ton, in dem sie (denn die indirekte Art der Darstellung gestattete ihr, uns ungestraft die schlimmsten Beleidigungen ins Gesicht zu sagen) die Erzählung einer Köchin wiedergab, die ihr
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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berichtet hatte, sie habe ihre Herrschaft bedroht und von ihr, indem sie sie ‚wie Dreck‘ behandelte, zahllose Vergünstigungen erlangt, daß das alles für sie ein Evangelium war“ (III 475/476).⁶⁹⁵ – « Sans doute Françoise ne négligeait aucun adjuvant, celui de la distinction et de l’attitude par exemple. Comme (si elle ne croyait jamais ce que nous lui disions et que nous souhaitions qu’elle crût) elle admettait sans l’ombre d’un doute ce que toute personne de sa condition lui racontait de plus absurde et qui pouvait en même temps choquer nos idées, autant sa manière d’écouter nos assertations temoignait de son incredulité, autant l’accent avec lequel elle rapportait (car le discours indirect lui permettait de nous adresser les pires injures avec impunité) le récit d’une cuisiniere qui lui avait raconté qu’elle avait menacé ses maîtres et en avoir obtenu, en les traitant devant tout le monde de ‚fumier‘, mille faveurs, montrait que c’était pour elle parole d’évangile » (G II 243). Auch diese Perspektive findet eine deutliche Entsprechung bei Tacitus, der den beinahe ausnahmslos geringschätzig genannten ‚vulgus‘ bzw. ‚volgus‘ um seiner leichten Verführbarkeit und politischen Einfalt willen verachtet (hist. 2.72.2),⁶⁹⁶ den Nero nachtrauernden Pöbel im Proömium der Historien sogar als schmutzig schmäht: ‚plebs sordida‘ (hist. 1.4.3).⁶⁹⁷ Es ist wichtig zu sehen, dass die im bisherigen Verlauf der Untersuchung im Mittelpunkt stehenden Stellen, an denen Proust sich auf Tacitus mittelbar bzw. unmittelbar bezieht, auf exakt diejenige Art und Weise miteinander verschränkt sind, in der Proust den Vergleich Françoises mit Tacitus einbettet. Denn das ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2) markiert ja gerade die zeitliche Strecke des Domitianerlebnisses,⁶⁹⁸ also der ‚Tyrannei eines Monarchen‘, die den Schriftsteller Tacitus gleichsam gefesselt, das heißt an der Entfaltung seiner literarischen Fähigkeiten gehindert hat.⁶⁹⁹ Während dieser Zeit war die Meinungsfreiheit er-
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karl Christ, Tacitus und der Principat, Historia 27 (1978), 449, 485, verdeutlicht den taciteischen Standpunkt und seine tendenzielle Geringschätzung der (vom ehrwürdigen populus Romanus abzugrenzenden) ‚Masse‘: „Für die Masse sind Unzuverlässigkeit, Falschheit, Treulosigkeit, Mangel an Urteilskraft und das dumpfe In-den-Tag-hinein-Leben bezeichnend“. Golo Mann,Versuch über Tacitus, Neue Rundschau 87 (1976), 249, 259, der ja, wie erinnerlich, Ronald Symes Interesse an Tacitus und Proust detailreich geschildert hat, bringt es auf den Punkt: „Das niedere Volk von Rom, plebs sordida – Tacitus spricht von ihm meist mit Verachtung, aber braucht es als Hintergrund.“ Friedrich Klingner, Die Geschichte Kaiser Othos bei Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 388, 396, erklärt die im Text zitierte Stelle so: „Die ehemaligen Neronianer sind es, die auf Otho blicken, weil er wie Nero ist“. Herbert Nesselhauf, Tacitus und Domitian, Hermes 80 (1952), 222, 223. Eduard Fraenkel, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 16, 19: „Wie ein Ankläger tritt er auf, der den Unterdrücker noch nachträglich zur Rechenschaft zieht wegen des Raubes an
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stickt und das Schweigen, von dem Proust nicht von ungefähr im Zusammenhang mit Françoises Zurückhaltung gegenüber der Herrschaft spricht, erzwungen, wenn man das Reden nicht mit dem Tod bezahlen wollte. In dem Satz, der auf das von Brichot bemühte Tacitus-Zitat im Agricola folgt, haben wir bereits eine Metapher der verlorenen Lebenszeit von fünfzehn Jahren erkannt: ‚exemptis e media vita tot annis‘ (Agr. 3.2). Aber es findet sich dort gleich im Anschluss noch ein deutlicher Hinweis auf die vorzeitig vergreisende Wirkung dieses erzwungenen Schweigens, von dem bereits weiter oben die Rede war: ‚quibus iuvenes ad senectutem, senes prope ad ipsos exactae aetatis terminos per silentium venimus‘ (Agr. 3.2).⁷⁰⁰ Die Schweigemetapher der letzten drei Worte erklärt ein sich anschließendes bekannteres Wort, wonach erst allmählich, in freierer Zeit unter einem neuen Princeps das freie Sprechen möglich wird, wenngleich mit rauher und noch ungeübter Stimme: ‚incondita ac rudi voce‘ (Agr. 3.3).⁷⁰¹ Hätte Proust dies im ‚Agricola‘ von Tacitus bei der Arbeit an der Recherche nochmals nachgelesen – also nicht nur in der Préface der ‚Contemplations‘ Victor Hugos – und das Umfeld der Stelle studiert, dann wäre ihm wohl ein leicht vorgelagerter Gedanke aufgefallen, in dem Tacitus bereits die Schweigemetapher und den Stimmverlust unter der Diktatur nennt; ja sie dürfte ihn in ihren Bann gezogen haben, weil Tacitus die Zeit des erzwungenen Schweigens dort in einen Zusammenhang mit der Erinnerung und dem Gedächtnis stellt, das wir auch verloren haben würden, wenn es in unserer Macht wäre zu vergessen wie zu schweigen: ‚memoriam quoque ipsam cum voce perdidissemus, si tam in nostra potestate esset
seinen besten Mannesjahren, der Knebelung dieses sprachgewaltigen Mundes: ‚fünfzehn Jahre hindurch – ein großer Raum menschlicher Lebenszeit‘ (…)“. Émile Janssens, Stendhal et Tacite, Latomus 5 (1946), 311, 319, zitiert diese Stelle in ausführlicher Form interessanterweise am Ende seines Aufsatzes und bezieht sie auf Stendhal. Ebenda, S. 314, bezieht er sich auf Stendhals Agricola-Lektüre und ein dieses Werk bewunderndes Zitat. Angesichts seiner eminenten Belesenheit kann man getrost davon ausgehen, dass dies Proust nicht entgangen ist, so dass auch von daher ein zumindest dadurch vermittelter Zugang zum Frühwerk des Tacitus’ hergestellt worden sein könnte. Zum Einfluss Stendhals auf Proust, wenn auch unter stärkerer Berücksichtigung des Jean Santeuil Pascal A. Ifri, Une reconsidération de l’influence de Stendhal sur Proust, Neuphilologische Mitteilungen 86 (1985), 579. Werner Suerbaum, Der Historiker und die Freiheit des Wortes. Die Rede des Cremutius Cordus bei Tacitus, Ann. 4, 34/35, in: Politik und literarische Kunst im Werk des Tacitus (Hg. Gerhard Radke), 1971, S. 61, 97, hat am Beispiel des Agricola-Proömiums die Schweigemetapher herausgearbeitet. Weitere Beispiele aus dem Werk des Tacitus sind etwa das ‚vocem precesque adhibere non ausi‘ (hist. 4.72.3), aber auch ästhetische Aspekte: ‚sic contra mutum et elinguem videri deforme habebatur‘ (dial. 36.8). Auch die ‚dissonae voces‘ (ann. 14.45.1) sind neben dem ,ne vocem consociaretʻ (ann. 13.23.2) zu nennen. Umso wirkungsvoller kontrastiert Tacitus am Ende des 14. Buches selbst durch das ,neque tamen silebimusʻ (ann. 14.64.3).
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oblivisci quam tacere‘ (Agr. 2.3).⁷⁰² Denn der Zusammenhang zwischen Zeit und Erinnerung ist Prousts ureigenes Thema,⁷⁰³ zumal da man bedenken muss, dass die von Tacitus offenbar für unmöglich gehaltene Fähigkeit willentlich gesteuerten Vergessens ihrerseits in einem Kausal- und Verweisungszusammenhang mit der Erinnerung steht, wie Walter Benjamin gezeigt hat.⁷⁰⁴ Man beachte den grammatikalisch anspruchsvollen Konjunktiv im Plusquamperfekt des ‚perdidissemus‘, der dem subjonctif plusque parfait des « elle eût écrit » (G II 244), der heute kaum mehr gebräuchlich ist, schon sehr nahekommt. Beide Stellen gehören dem höchsten Sprachniveau an, das sich von gesprochener Sprache ihrer jeweiligen Zeitgenossen durchaus unterschieden haben dürfte.⁷⁰⁵ Auch für den taciteischen Moralismus bestehen Entsprechungen bei Françoise, die wie er geschrieben hätte und einen ungeschriebenen Moralkodex in sich trug (II 350): „die ungeschriebenen Gesetze ihres uralten Kodex und ihre
Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 26, meint wohl diese Stelle, wenn er vor dem Hintergrund der Diktaturerfahrung und des Domitianerlebnisses Überlegungen anschließt, die von ihrer Innensicht her stärker an Proust als an Tacitus denken lassen und damit unausgesprochen den möglichen Zusammenhang aufzuzeigen geeignet sind, zumal da er stilistisch die Auslassung heranzieht, die an Prousts Flaubert-Essay erinnert: „Interpretieren wir diese Stelle genau, so meinen wir von moderner Denk- und Sehweise aus betrachtet auf eine logische Ellipse zu stoßen. Denn uns sind wohl Reden und Hören unmittelbare physiologische Funktionen, memoria aber bereits die Auswertung einer solchen; was man behalten oder gar überliefern will, muß man vorher aufgenommen haben, ebenso was man wieder vergißt. Wir vermissen also die Erwähnung des Organs, das die memoria vermittelt, dürfen aber vermuten, daß näher als die Annahme einer Ellipse die Auffassung liegt, daß Tacitus der memoria selber die Rolle eines Sinnesorgans in kühner Metapher zuweisen und dabei auf unmittelbares Verständnis seiner Leser zählen kann.“ Hervorhebung nur hier. Vgl. nur Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im Suhrkamp-Verlag (stw 587). Walter Benjamin, Zum Bilde Prousts, in: Gesammelte Schriften (Hg. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser), Band II/1, 1977, S. 310, 311, der ‚Marcel‘ den ‚erinnernden Autor‘ nennt und vom ‚Weben der Erinnerung‘ spricht, um sogleich weiterführend zu fragen: „Oder sollte man nicht besser von einem Penelopewerk des Vergessens reden? Steht nicht das ungewollte Eingedenken, Prousts mémoire involontaire dem Vergessen viel näher als dem, was meist Erinnerung genannt wird?“ Zu dieser Stelle auch Patricia Oster, Der Schleier im Text. Funktionsgeschichte eines Bildes für die neuzeitliche Erfahrung des Imaginären, 2002, S. 315 mit Fußnote 84. Eduard Norden, Die Antike Kunstprosa, Band I, 1915, S. 334, bringt es im Hinblick auf Tacitus auf den Punkt „Es gibt keinen lateinischen Schriftsteller (…), der in diesem Maße weniger gelesen als gedacht sein will. (…) Er kann (…) auch für römische Leser nicht leicht gewesen sein (…).“ Hervorhebung nur hier. Die erste Aussage passt mutatis mutandis zu Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 66: „Es ist eine intellektuelle Eroberung, und es ist ein intellektueller Stil – trotz seinem Reichtum an Metaphern“.
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Tradition einer mittelalterlichen Bäuerin“ (VI 91)⁷⁰⁶ – « les lois non écrites de son antique code et sa tradition de paysanne médiéval » (AD 90).⁷⁰⁷ Während Tacitus seine Moralvorstellungen an altrömische Tugenden ausrichtete, sind es bei Françoise die von Generation zu Generation überlieferten bäuerlichen Anschauungen des alten Frankreichs, die ihren Sittenkodex prägen: „Françoise bereitete es für mich, und sie hatte nicht gern, wenn ich auf mich warten ließ; ohnehin fand sie es nach irgend einem Artikel ihres Kodex sicher ungehörig, daß Albertine mir in Abwesenheit meiner Eltern einen so ausgedehnten Besuch machte, durch den ich mich vielleicht sogar verspätete“ (III 474).⁷⁰⁸ – « C’était Françoise qui le préparait, elle n’aimait pas qu’il attendît et devait déjà trouvé contraire à un des articles de son code qu’Albertine, en l’absence de mes parents, m’eût fait une visite aussi prolongée et qui allait tout mettre en retard » (G II 241). Dies steht nicht von ungefähr in engem räumlichen Zusammenhang zu jener, an welcher Marcel meint, dass Françoise geschrieben haben würde wie Tacitus (G II 244). Dass übrigens der dortige Vergleich der Dienerin mit Tiresias und Tacitus gerade wegen seiner im Wortsinne maßlosen Übertreibung etwas durchaus Wohlwollendes, jedenfalls aber Hintergründiges hat, zeigt sich an einer komplementär wirkenden Stelle, die allzumenschliche Verzerrungen im Rahmen von Überlieferungen bei autoritätsgläubigem Vorverständnis mit vergleichbar feinsinniger Ironie so zum Ausdruck bringt, dass diesmal die größten Autoritäten als Opfer menschlicher Schwächen erscheinen, die sich im Kern nicht von jenen der einfachen Bediensteten unterscheiden:⁷⁰⁹ „Françoise überbrachte uns dann die Worte der Marquise, (…) wobei sie (…) deren Rede genau wiederzugeben glaubte
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Patricia Oster, Prousts Roman À la recherche du temps perdu und die abgewandte Seite der französischen Klassik, in: Marcel Proust – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patricia Oster/Karlheinz Stierle), 2007, S. 106, 107, macht mit Recht darauf aufmerksam, dass „der Verhaltenskodex des Dienstmädchens Françoise einer jahrhundertealten Tradition gehorcht und ihr Sprachgebrauch nicht weniger auf das 17. Jahrhundert verweist als der Oriane de Guermantes“. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 92, beschreibt, aus welchem Geist und historischen Hintergrund Françoises Sittenkodex stammt: „Sie bringt in das Paris des fin-de-siècle ein Stück vom Frankreich Ludwig des Heiligen, vom Frankreich der romanischen Dorfkirchen, von jahrtausendealten Sprachformen und Hausweisheiten“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 392, beobachtet am Beispiel einer anderen Stelle die mitwirkende Ironie, die sich wohl auch hier in der Umkehrung der Herrschaftsverhältnisse manifestiert: „Die Heranziehung der obersten Kaste eines urtümlichen und imaginären Reiches gelegentlich eines Artikels des ungeschriebenen Sittenkodex eines Dienstmädchens – das ist höchste Ironie eines sich geheimnisvoll im Hintergrund regenden Beurteilers“.
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und wahrscheinlich nicht mehr entstellte als Plato die Ausführungen des Sokrates und der hl. Johannes den Wortlaut der Reden Jesu“ (II 356).⁷¹⁰ – « Et Françoise, nous transmettant les commissons de la marquise (…) de laquelle elle croyait citer textuellement les paroles, tout en ne les déformant pas moins que Platon celles de Socrate ou saint Jean celles de Jésus » (JF II 134). In beide Richtungen – und das gilt denn auch für Françoise und Tacitus – vermittelt Prousts entlarvende Ironie ein Körnchen Wahrheit, weil vom einfachen Dienstmädchen über den altrömischen Senator bis zum größten Philosophen und heiligen Evangelisten die Befangenheit in der condition humaine nie außer Acht gelassen wird. Françoises Moralkodex und das daraus hervorgehende Normengefüge stammt aus Combray (VI 92). Nicht von ungefähr spricht Marcel von „der Soziologie von Combray“ (II 411) – « la sociologie de Combray » (JF II 188). Das wiederum bestätigt sich eindrucksvoll mit Blick auf den Anfang der Recherche. Dort zieht Marcel mit feiner Ironie juristische Vergleiche zur alttestamentarischen Gesetzgebung und einem unvordenklichen Gastrecht, die in einem imaginären Gesetzbuch genauestens aufgezeichnet standen, wie Marcel zu erkennen gibt, indem er die Nebensächlichkeit seiner eigenen Person, die für seine Mutter die Hauptsache sein sollte, beiläufig einfließen lässt, weil sie in Françoises altertümlicher Ethik des Dienens und Herrschens nun einmal keinen Platz hat: „Sie verfügte in bezug auf Dinge, die man tun konnte oder nicht tun konnte, über einen gebieterischen, umfassenden, sehr differenzierten und in puncto kaum greifbarer oder ganz müßiger Unterscheidungen völlig unbestechlichen Kodex (er glich hierin jener alttestamentarischen Gesetzgebung, die neben geradezu barbarischen Vorschriften – wie zum Beispiel, daß man die Kinder an der Mutterbrust umbringen solle – mit übertriebenem Zartgefühl verbietet, das Zicklein in der Milch seiner Mutter zu kochen oder von einem Tier die Schenkelsehne zu essen). Nach der unvermuteten Hartnäckigkeit zu urteilen, mit der sie gewisse Aufträge, die wir ihr gaben, einfach nicht ausführen wollte, setzte dieser Kodex offenbar ein komplexes gesellschaftliches Gefüge und verfeinerte mondäne Beziehungen voraus, als Françoise sie auf Grund ihres dörflichen Dienerinnendaseins kennen konnte. (…) In diesem besonderen Fall stützte sich der Artikel ihres Gesetzbuches, auf Grund dessen es wenig wahrscheinlich war, daß Françoise außer etwa im Falle einer Feuersbrunst meine Mutter in Anwesenheit von Monsieur Swann wegen so einer unbedeutenden Persönlichkeit, wie ich es war, stören würde, einfach auf die Hochachtung, die sie nicht nur den Eltern – wie auch den Toten,
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den Geistlichen und den Königen – zollte, sondern auch noch dem Fremden, der das Gastrecht genießt (…).“ (I 42/43).⁷¹¹ – « Elle possédait à l’égard des choses qui peuvent ou ne peuvent passe faire un code impérieux, abondant, subtil et intransigeant sur des distinctions insaisissables ou oieuses (ce qui lui donnait l’apparence de ces lois antiques qui,⁷¹² à côté de presciptions féroces comme de massacrer les enfants à la mamelle, défendent avec une délicatesse exagérée de faire bouillir le chevreau dans le lait de sa mère, ou de manger dans un animal le nerf de la cuisse). Ce code, si l’onen jugeait par l’entêtement soudain qu’elle mettait à ne pas vouloir faire certaines commissions que nous lui donnions, semblait avoir prévu des complexités sociales et des raffinements mondains tels que rien dans l’entourage de Françoise et dans sa vie de domestique de village n’avait pu les lui suggérer. (…). Dans le cas particulier, l’article du code à cause duquel il était peu probable que sauf le cas d’incendie Françoise allât déranger Maman en présence de M. Swann pour un aussi petit personnage que moi, exprimait simplement le respect qu’elle professait non seulement pour les parents, – comme pour les morts, les prêtres et les rois, – mais encore pour l’étranger à qui on donne l’hospitalité (…). » (S I 45/46). Ebenso verfügt übrigens umgekehrt die Aristokratie nach Marcels Beobachtungen über einen klandestinen Kodex mit ungeschriebenen gesellschaftlichen Gesetzen, die nur für ihresgleichen gelten: „ein Geheimartikel in dem Kodex, nach dem die Aristokratie sich richtet“ (II 400).⁷¹³ – « un article secret des lois qui gouvernent l’aristocratie » (JF II 178). Gewiss darf man Françoises engen Moralismus nicht mit demjenigen Prousts gleichsetzen, zumal da Marcel ihn unverkennbar ironisiert, wie eben auch ihre hypothetische Gleichsetzung mit Tacitus von höchster Ironie geprägt ist. Und doch gibt es gewisse Parallelen im Hinblick auf bestimmte moralische Anschauungen. Obwohl beide der jeweiligen Oberschicht entstammten und keine wirtschaftlichen Nöte kannten, ist zumindest der Umgang der von ihnen behandelten bzw. geschaffenen Protagonisten mit moraltheoretischen Herausforderungen ein bedeutsames Merkmal der Charakterzeichnung. So geißelt Tacitus mit
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 458, bemerkt zu dieser Stelle treffend: „Der ungeschriebene Sittenkodex der Françoise wandelt sich kleidoskopartig in die alttestamentarischen Gesetze. Proust zeigt eine seelische Kontinuität zwischen disparat scheinenden Ereignissen auf, dabei seine seelische Geschichte mit der Geschichte, der Weltgeschichte verknüpfend. Er zeigt das Spiel des Schicksals, den Humor der Geschichte auf.“ Hervorhebungen auch dort. – Von dieser geistreichen Beobachtung ist es nicht mehr weit bis zu den nach Tacitus’ Eindruck in der Geschichte waltenden ‚ludibria rerum mortalium cunctis in negotiis‘ (ann. 3.18.4). Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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dem Ethos altrömischer Sparsamkeit den unvorstellbaren Luxus der Reichen und Neureichen, dessen Ausmaß derartige Formen annahm, dass von seiten der reichen Aristokraten gesetzliche Beschränkungen befürchtet wurden, denen Tiberius mit guten Gründen eine Absage erteilte (ann. 3.54/55). Auch für Tacitus stand außer Frage, dass nur ein moralischer Bewusstseinswandel ohne gesetzlichen Zwang das Problem des grassierenden Luxus ansatzweise würde lösen können. Das scheint trotz seines Hangs zur Verschwendung im persönlichen Lebensstil auch der Standpunkt Prousts zu sein, wenn er Marcel ironisch schildern lässt, wie die neureiche Madame Verdurin aus dem aufstrebenden Bürgertum die kriegsbedingten Versorgungsengpässe überwindet und durch eine ebenfalls tief blicken lassende, amtsmissbräuchliche Verschreibung des weithin berühmten Arztes Cottard die gesetzlichen Einschränkungen umgeht (wie es auch nach der taciteischen Schilderung des Tafelluxus gang und gäbe war), um ihre unverzichtbaren Frühstückshörnchen zu beschaffen:⁷¹⁴ „Da Madame Verdurin an Migräne litt, weil sie morgens keine Hörnchen mehr in ihren Milchkaffee tauchen konnte, hatte sie schließlich von Cottard ein Attest erlangt, das es ihr gestattete, aus einem bestimmten Restaurant, von dem wir gesprochen haben, solche kommen zu lassen. Es war fast ebenso schwer, dies von den zuständigen Stellen zu erreichen, wie jemandes Beförderung zum General. Ihr erstes Hörnchen nahm sie an dem Morgen wieder zu sich, an dem die Zeitungen über den Untergang der ‚Lusitania‘ berichteten.Während sie nun das Hörnchen in den Milchkaffee tauchte und ihrer Zeitung kleine Stupse gab, damit sie sie aufgeschlagen halten konnte, ohne zum Umblättern die mit dem Eintauchen beschäftigte Hand zu benutzen, sagte sie: ‚Wie grauenhaft! Das ist ja fürchterlicher als die entsetzlichsten Tragödien‘. Aber der Tod aller dieser Ertrunkenen mußte ihr wohl doch auf ein Milliardstel seiner Größe reduziert erscheinen, denn während sie mit vollem Mund diese trostlosen Überlegungen anstellte, war der Ausdruck, der auf ihrem Gesicht lag und wahrscheinlich durch den Wohlgeschmack des Gebäcks darauf hervorgerufen wurde, das ihr so unschätzbare Dienste bei ihrer Migräne leistete, eher der sanften Behagens.“ (VII 123).⁷¹⁵ – « Mme Verdurin, souffrant pour ses migraines de ne plus avoir de croissants à tremper dans son café au lait avait obtenu de Cottard une ordonance qui lui permettait de s’en faire dans certain restaurant dont nous avons parlé. Cela avait été presque aussi difficile à obtenir des pouvoirs publics que la nomination d’un Pointiert Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 69: „vulgäre Streber wie die Verdurins“. Zum zeitgeschichtlichen Umfeld Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler), 2016, S. 13. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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général. Elle reprit son premier croissant le matin ou les journeaux narraient le naufrage du Lusitana. Tout en tempant le croissant dans le café au lait et donnant des pichenettes à son journal pour qu’il pût se tenir grand ouvert sans quelle eût besoin de détourner son autre main des tempettes, elle disait: ‚Quelle horreur! Cela dépasse en horreur les plus affreuses tragédies‘. Mais la mort de tous ces noyés ne devait lui apparaître que réduite au milliardième, car tout en faisant, la bouche pleine, ces réflexions désolées, l’air qui surnageait sur sa figure, amené problablement là par la saveur du croissant, si précieux contre la migraine, était plutôt celui d’une douce satisfaction » (TR I 107/108). Sieht man einmal von einer selbstironisch anmutenden, aber in bizarrer Verzerrung entstellten Anspielung auf die in Lindenblütentee getauchten Madeleine ab (S I 66/67), durch welche die blasierte Banalität und die Trivialität der dadurch bei Madame Verdurin ausgelösten Assoziation besonders deutlich wird,⁷¹⁶ so erinnert die Szene noch in anderer Hinsicht an taciteische Schilderungen – insbesondere aus den Claudius-Büchern der Annalen –, weil die groteske Lächerlichkeit vor tragischem und traurigem Hintergrund durch feine Ironie und bitteren Sarkasmus hervorgehoben werden, die beide auch zu den bevorzugten Darstellungsmitteln des Tacitus gehören (ann. 11.3.1).⁷¹⁷ Hinzukommt die für alle Zeiten geltende Grundannahme der Lasterhaftigkeit der Menschen: ‚vitia erunt, donec homines‘ (hist. 4.74.2). Ihr entspricht speziell für das Laster des Geizes die an die französischen Moralisten erinnernde Feststellung, dass „der Geiz tatsächlich dem Prestige nicht abträglich ist, da er ein Laster und dementsprechend in allen Gesellschaftsklassen zu Hause ist“ (II 312):⁷¹⁸ « Elle (sc. l’avarice) ne saurait en effet rien ôter au prestige, puisqu’elle est un vice et peut par conséquent se rencontrer dans toutes les situations sociales » (JF II 87). Proust hat erkannt, dass bestimmte menschliche Schwächen gleichermaßen ubiquitär wie herkunftsneutral sind und daher auch das Ansehen nicht beeinträchtigen, weil sie sich klassenübergreifend auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen, der auf die conditio humana zurückgeht.
Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler), 2016, S. 13, 15, verdeutlicht das auf die rücksichtslose Gegenwärtigkeit bezogene Darstellungsprinzip: „Vor allem im Freundeskreis der Verdurin erfährt Marcel eine ganze Symptomatologie des diktatorischen Jetzt“. Ronald Syme, The Political Opinions of Tacitus, in: Ten Studies in Tacitus, 1970, S. 119, 139: “The irony is typical of Cornelius Tacitus.” Siehe auch Paul Oskar Kegler, Ironie und Sarkasmus bei Tacitus, 1913; Ellen O’Gorman, Irony and Misreading in the Annals of Tacitus, 2000. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Eine der innerhalb der soeben genannten Claudius-Bücher der Annalen schillerndsten Gestalten ist dessen dritte Gattin Messalina,⁷¹⁹ die auch für Proust Inbegriff der Lastigkeit ist, wie er durch ironische Überzeichnung geltend macht, um eine allgemeine anthropologische Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, welche die moralische Einschätzung zwischen Schein und Sein erschwert: „Es gibt Zynismen und Grausamkeiten, die einer Nachprüfung ihrer Authentizität ebensowenig standhalten wie gewisse Arten der Güte und Großherzigkeit. Ebenso wie man oft einen eiteln Geizhals hinter einem wegen seiner Wohltätigkeit bekannten Mann erkennen muß, läßt das Prahlen mit dem Laster eine Messalina hinter einem rechtschaffenen Mädchen voll bürgerlicher Vorurteile vermuten“ (II 678).⁷²⁰ – « Il y a des cynismes, des cruautés qui ne resistent pas plus a l’épreuve que certaines bontés, certaines génerosités. De même qu’on decouvre souvent un avare vaniteux dans un homme connu pour ses charités, sa forfanterie de vice nous fait supposer une Messaline dans honnête fille pleine de préjugés » (JF III 235/236).⁷²¹ Auch wenn nur ein vergleichsweise geringer Teil des taciteischen Werkes, das von Messalina handelte, auf uns gekommen sein dürfte, genügen die wenigen Episoden, die Proust wegen ihrer dramaturgischen Gestaltung und selbst für Tacitus’ Verhältnisse besonders pointierten Darstellung gekannt haben dürfte, Messalina als intrigant, vergnügungssüchtig, verschlagen, habgierig, tyrannisch und in nahezu jeder anderen Hinsicht moralisch verkommen erscheinen zu lassen (ann. 11.2.2).⁷²²
Zu ihr und den im Folgenden dargestellten Episoden auch Klaus Philipp Seif, Die ClaudiusBücher in den Annalen des Tacitus, 1973, S. 19; Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 353 ff. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 124 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), äußert sich mit einer Menschenkenntnis, die sie bei Proust erlernt haben dürfte: „Manche Leute behaupten, seine Ansichten über andere seien boshaft gewesen. Ich glaube, daß er in erster Linie und insbesondere ein Moralist war. Wonach er bei allem – sei es Tugend oder Laster oder Dünkel – suchte, war die Anständigkeit der Auffassung. (…) Die Ironie oder der Spott, die er in seinen Kommentaren zum Ausdruck bringen konnte, bezogen sich bei ihm immer nur auf die Persönlichkeit: auf den Menschen selbst, auf das, was er zu sein vorgab, ohne es tatsächlich zu sein.“ – Wüßte man es nicht besser, so könnte man meinen, dass diese klarsichtige Einschätzung dem Verfasser der Annalen gegolten hätte. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. I, S. 414, 415 Fußnote 1, fasst die besonders abstoßende Szene zusammen: “When Valerius Asiaticus stood on trial before Claudius Cesar in the palace, his eloquent defence moved Messalina to pity: leaving the chamber to wipe away her tears, the Empress adjured the faithful Vitellius not to let this victim escape. And Vitellius, in tears himself, spoke of old friendship and the virtues of Asiaticus, with other reasons for lenience and mercy – and ended with the plea that Asiaticus be permitted to choose freely the manner of his own death.” Zu ihrer Habgier ebenda, Vol. I, S. 348: “Messalina is openmouthed with greed for the gardens once owned by Lucullus”. Nicht günstiger äußert sich Elizabeth Keitel, The Structure of
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Ein weiterer Anhaltspunkt für den Moralismus bei Proust findet sich, wenn er etwa in der ‚wiedergefundenen Zeit‘ einen Konzessivsatz darauf verwendet, das Françoise „sonst eine so moralische und von Vorurteilen beherrschte Person“ sei (VII 22):⁷²³ « elle personne si morale et si pleine de préjugée » (TR I 12). Das klingt nach einer gedanklichen Enge und spießigen Beschränktheit, muss aber nicht unbedingt so gemeint sein, obwohl der nachfolgende Gedanke von einer bedenklichen Doppelmoral der Dienerin zeugt, weil hochgestellten Persönlichkeiten ihre eklatanten moralischen Verfehlungen gegenüber Minderjährigen von Françoise großzügig nachgesehen werden, wie Marcel tadelnd vermerkt, der auf diese Weise selbst eher taciteisch urteilt, wenn er mit knappen Gegenüberstellungen bilanziert und dabei die Besonderheiten ihrer Herkunft einbezieht:⁷²⁴ „Françoise war in gewissem Sinne weniger eine Bedienstete als die übrigen. In ihrer Art zu fühlen, gut und mitleidvoll, hart und hochmütig, schlau oder beschränkt zu sein, eine weiße Haut und rote Hände zu haben, war und blieb sie immer eine Bauerntochter vom Lande, deren Eltern von Haus aus wohlhabende Leute waren, dann aber, ins Unglück geraten, sie ‚in Stellung‘ geben müssen“ (III 80).⁷²⁵ – « Françoise en un sens était moins domestique que les autres. Dans sa manière de sentir, d’être bonne et pitoyable, d’être dure et hautaine, d’être fine et bornée, d’avoir la peau blanche et les mains rouges, elle était la demoiselle de village dont les parents‚ étaient bien de chez eux‘ mais, ruinés, avaient été obligés de la mettre en condition » (G I 80). Diese Form der dynastischen Deszendenz, infolge derer hochmögend Geborene in Schulden und Abhängigkeit geraten konnten, ist ebenfalls ein taciteisches Motiv, das sich etwa bei der bereits oben behandelten, betont schnöden und
Tacitus, Annals 11 and 12, 1977, S. 27: “It should be noted, however, that Messalina’s action is ascribed to greed and sexual jealousy, and not to political rivalry”. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 427, hat den Zusammenhang zwischen Prousts Stil und Moralismus am deutlichsten herausgearbeitet: „Die banalste Wendung wird so zum Gralshüter der Tiefengeheimnisse der Seele. Proust treibt Graphologie oder Physiognomie der Individualsprache, er geht auf die ‚recherche‘ des Seelischen, das in der Alltagssprache verstreut, verkrümmelt, ‚perdu‘ ist. Wie die moderne Gefühlspsychologie sich Apparate zur Feststellung der Lüge konstruiert, so vergleicht Proust Ton und Rede und hört Dementi des ersteren unter dem ‚mensonge‘ der letzteren heraus. Manchmal wagt die innere Lüge einen Einbruch in das direkt Sprachliche – Proust legt als Moralist und als Grammatiker den Finger darauf.“ Ebenso verfährt Tacitus, wenn er die in verlogener Verdeckungsabsicht begangene willkürliche Abänderung von Eidesformeln als sprachlichen Ausdruck niederträchtiger moralischer Gesinnung geißelt: trepidis et verba iuris iurandi per varias artis mutantibus, quis flagitii conscientia inerat (hist. 4.41.1). Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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herablassenden Hartherzigkeit des Tiberius anschaulicht zeigt, der den verarmten Abkömmlingen des einstmals reichen und berühmten Hortensius keinerlei Hilfe gewährt und sie vor dem Senat abkanzelt (ann. 2.37.2). Es sind dies nicht bestandene Bewährungsproben im Hinblick auf den taciteischen Zentralbegriff der virtus.⁷²⁶ Auch dafür findet sich eine auf die Pflichtenlehre bezogene Auffälligkeit bei Proust, die mit eminentem psychologischen Scharfblick ähnliche Wertungen aufscheinen lässt und in nachgerade taciteischer Manier anthropologisch verallgemeinert:⁷²⁷ „Aber der tiefere Grund, der sich übrigens auf die Menschheit im allgemeinen anwenden läßt, war der, daß unsere Tugenden in sich selbst nichts frei Verfügbares sind, mit dem wir nach Belieben schalten und walten können; sie gehen in unserem Geist schließlich eine so enge Verbindung mit den Handlungen ein, bei denen wir uns ihre Ausübung erstmals zur Pflicht gemacht haben, daß eine plötzlich von uns verlangte Betätigung ganz anderer Art uns unvorbereitet trifft und gar nicht auf den Gedanken kommen läßt, hier könne ihre Anwendung ebenfalls angezeigt sein“ (II 10).⁷²⁸ – « Mais la principale raison, et celle-la applicable à l’humanité en général, était que nos vertus elles-mêmes ne sont pas quelque chose de libre, de flottant, de quoi nous gardions la disponsabilité permanente; elles finissent par s’associer si étroitement dans notre esprit avec les actions à l’occasion desquelles nous nous sommes fait un devoir de les exercer, que si surgit pour nous une activité d’un autre ordre, elle nous prend au dépourvu et sans que nous ayons seulement l’idée qu’elle pourrait comporter la mise en œuvre de ces mêmes vertus » (JF I 9). Die unvermittelte Durchbrechung der Gewohnheit, deren durchdringende emotionale Gewalt in der Madeleine-Episode mit ihrem ‚contre mon habitude‘ (S I 66) zum alles durchstrahlenden Glücksgefühl – « un plaisir délicieux » (S I 67) – werden konnte, kann andererseits den Blick für das moralisch Richtige trüben, wo es den Handelnden jäh und unvorbereitet trifft.⁷²⁹
Friedrich Klingner, Tacitus, in: Römische Geisteswelt, 5. Auflage 1979, S. 504, 526, hat dies am deutlichsten herausgearbeitet: „Die Gedanken des Tacitus bewegen sich letztlich immer um eine Stelle wie um ihren Pol, um die virtus, den Inbegriff allen Wertes, der der mit Schmerz und Stolz geliebten römischen Welt innewohnt“. Golo Mann,Versuch über Tacitus, Neue Rundschau 87 (1976), 249, spricht treffend von dessen „aus der Wirklichkeit abgezogenen Beobachtungen.“ Zur Bedeutung der seelischen Beweggründe bei Tacitus Jean Cousin, Rhétorique et psychologie chez Tacite, Revue des Études Latines 29 (1951), 228; deutsche Übersetzung von Wynfrid Stiefel: Rhetorik und Psychologie bei Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 104. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 23 f., beobachtet bezüglich der nächtlichen Unruhe Marcels, was wohl auch für den vorliegenden Zusammenhang gilt und die aufwühlende Wirkung der Durchbrechung der Gewohnheit erklärt: „Gegen den Schock des leeren Augenblicks und seines Weltverlusts errichtet
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Ähnlich seziert Tacitus die Seelenlage und Machtkalküle der Handelnden nach dem Tode der Witwe des Augustus, der gegenüber ihr Sohn Tiberius bis dahin in einem durch alte Gewohnheit geprägten Gehorsam verpflichtet war: ‚quia Tiberio inveteratum erga matrem obsequium‘ (ann. 5.3.1). Das mit diesem Wegfall entstehende Machtvakuum machten sich aus Tacitus’ pessimistischer Sicht unverzüglich Einzelne zum eigenen Vorteil und Nachteil für den Staat zunutze. Überhaupt richtet Tacitus sein Augenmerk innerhalb des Verhaltens der Senatsaristokratie auf den Augenblick der moralischen Bewährung. Daher betrachtet er mit Vorliebe solche Situationen, in denen sich moralisch fragwürdige Personen zur Rettung der eigenen Haut oder schlicht um ihres Geltungsbedürfnisses willen in den Verhandlungen des Senats so zu Wort melden, dass andere durch einen schrecklichen Antrag des betreffenden Wortführers lebensgefährlich bloßgestellt wurden: ‚promptissimo Cotta Messalino cum atroci sententia‘ (ann. 3.5.3). Stellen wie diesen lässt sich die taciteische Wertung entnehmen, dass man sogar unter der drückenden Diktatur anständig bleiben kann, indem man wenigstens niemanden denunziert. Dass Marcel selbst einen allzu engen Moralismus überwindet und bei aller aus Menschenkenntnis gewonnen pessimistischen Skepsis auch den Blick für das ungetrübt Gute in verkommener Umgebung sieht, zeigt die Einsicht innerhalb der ‚wiedergefundenen Zeit‘:⁷³⁰ „So hatte ich doch das Irrige meiner Vermutung einsehen müssen, wie es ja oft vorkommt, daß man in einem Milieu, das man zu Unrecht für höchst verworfen gehalten hat, einer jungen Person begegnet, die durchaus anständig und in fast völliger Verkennung der Realitäten der Liebe lebt“ (VII 32).⁷³¹ – « Je m’était rendu compte de mes fausses suppositions, comme il arrive si souvent quand on trouve une honnête fille et presque ignorante des réalités de l’amour dans le milieu qu’on avait cru à tort le plus dépravé » (TR I 20). Noch
Marcel die Gehäuse der Gewohnheit, der habitude, die immer wieder einem Kataklysmus der Zeit zum Opfer fallen. Wohnen und Gewohnheit, habiter und habitude, liegen nah beieinander: Die Gewohnheit macht die Welt bewohnbar, als wäre sie eine Extension des vertrauten Zimmers. (…) Am tiefsten prägt die Zeit der Gewohnheit sich dem Körpergedächtnis ein, das sich seine Welt in der Vertrautheit des eigenen Zimmers, der chambre, errichtet. Gegen den Schrecken des Jetzt und die Diskontinuität bietet Marcel die Gewohnheit auf, gegen den Schrecken des Jetzt wird er auch die Erinnerung aufbieten, deren verborgenstes Gesetz sich ihm erst nach langen Lehrjahren des Erinnerns in einer plötzlichen Illumination offenbaren wird“. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 162 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet einen Ausspruch Prousts, der in diese Richtung weist: „Es gibt sehr fromme und bigotte Menschen, die Dinge tun, die Sie nicht tun würden, dessen bin ich sicher. Was zählt ist Seelengröße, Gewissenhaftigkeit, Anständigkeit; und die schönste aller Tugenden ist Nächstenliebe“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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deutlicher wird dies anhand einer Episode, die das unerwartet Gute im Menschen hervorhebt, die Marcel am Beispiel zweier ganz und gar selbstloser Verwandter Françoises schildert, die ihre Freiheit, obschon sehr reich, in uneigennütziger Hingabe für andere aufgaben. Marcel – und hier ist es ausnahmsweise womöglich Proust selbst, der beiläufig und zur Vermeidung unliebsamer Prozesse zu erkennen geben möchte, dass nicht alle Charaktere konkrete Vorbilder haben – berichtet dies mit noblem Pathos, das an vergleichbaren Stellen auch bei Tacitus zu finden ist. Proust nennt diese Verwandten sogar beim Namen, um ihr selbstloses Verhalten für die Ewigkeit festzuhalten: „In diesem Buche, in dem keine einzige Tatsache berichtet wird, die nicht erfunden ist, in dem es keine einzige Gestalt gibt, hinter der sich eine wirkliche Person verbirgt, in dem alles und jedes je nach Maßgabe dessen, was ich demonstrieren will, von mir erdacht worden ist, muß ich zum Preise meines Landes sagen, daß die Millionärsverwandten unserer Françoise, die ihre Zurückgezogenheit aufgegeben hatten, um ihrer schutzlosen Nichte zu helfen, die einzigen Personen sind, die tatsächlich existieren. Überzeugt davon, daß sie in ihrer Bescheidenheit nicht daran Anstoß nehmen werden, und zwar aus dem Grunde, weil sie dieses Buch niemals lesen werden, zeichne ich hier mit einem kindlichen Vergnügen und von tiefer Rührung bewegt, da ich ja nicht die Namen der vielen anderen zitieren kann, die ebenso gehandelt haben und dank denen Frankreich weiterexistiert, ihren wirklichen Namen auf, den übrigens echt französischen Namen Larivière“ (VII 227/228).⁷³² – « Dans ce livre, où il n’y a pas un seul fait qui ne soit fictif, oùl il n’y a pas un seul personnage ‚a clefs‘, où tout a été inventé par moi selon les besoins de ma démonstration, je dois dire, à la louange de mon pays, que seul les parents millionaires de Françoise ayant quitté leur retraite pour aider leur nièce sans appui, que seuls ceux-là sont des gens réel, qui existent. Et persuadé que leur modestie ne s’en offensera pas, pour la raison qu’ils ne liront jamais ce livre, cet avec un enfantin plaisir et une profonde émotion que, ne pouvant citer les noms de tant d’autres qui durent agir de même et par qui la France a surveçu, je trascris ici leur nom véritable: ils s’appellent, d’un nom si français, d’ailleurs, Larivière » (TR I 204).⁷³³
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 98 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), bestätigt dies, weil es sich um eine Verwandte ihres Mannes handelt: „Seine verheiratete Schwester, die sehr energisch und autoritär war, hatte an ihren Brüdern Mutterstelle vertreten (…). Sie hieß Adele und war Madame Larivière geworden – Monsieur Proust hat sie, glaube ich, in seinem Buch ‚Die wiedergefundene Zeit‘ erwähnt.“ – Allerdings ist die Ausschließlichkeit insofern erklärungsbedüftig, als, wie weiter unten noch beiläufig festzustellen sein
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Auch in den Annalen bezeugt Tacitus die Authentizität einer unerhörten Begebenheit, um ihren Wahrheitsgehalt zu bekräftigen, rhetorisch wirkungsvoll mit der für den Verfasser vergleichsweise seltenen Verwendung der ersten Person Singular: ‚Sed nihil compositum miraculi causa, verum audita scriptaque senioribus trado‘ (ann. 11.27).⁷³⁴ Vor allem aber der bei Proust zutage tretende Grundgedanke einzelner Gutgesinnter und Gerechter in einer sonst weitgehend moralisch verkommenen Umgebung, denen darum ein bleibendes Andenken geschaffen werden soll, ist ganz und gar bezeichnend für Tacitus.⁷³⁵ Eine beinahe passgenaue Entsprechung findet sich bei Tacitus am Ende des zutiefst ungerechten Prozesses gegen Thrasea Paetus, der die von Grund auf verdorbene Verkommenheit des Gemeinwesens unter Nero in schwärzesten Farben malt.⁷³⁶ Dort erwähnt Tacitus einen einsamen Gerechten, der selbstlos alles aufs Spiel setzt, um dem zu Unrecht verurteilten Angeklagten zu helfen – und alles verliert, weil er um dessentwillen ins Exil muss, wie Tacitus illusionslos, aber respektvoll vermerkt, indem er gleichwohl den Wohltäter beim Namen nennt und ihn so auf den letzten Seiten des auf uns gekommenen Textes seiner Annalen verewigt: ‚Idem tamen dies et honestum exemplum tulit Cassii Asclepiodoti, qui magnitudine opum praecipuus
wird, auch seine Haushälterin Céleste Albaret selbst an einer Stelle mit ihrem wahren Namen genannt wird (SG II 354). Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 5 mit Fußnote 17, zu dieser Darstellungstechnik. Lionel Trilling, Tacitus Now, in: Tacitus (Hg. Rihannon Ash), 2012, 435, 436 f., der, wie an anderer Stelle berichtet, soweit ersichtlich, außer Ronald Syme (Tacite et Proust, Histos 7, 2013, 131) einer der ganz Wenigen ist, der, wenn auch nur in einer kursorischen Bemerkung, im Zusammenhang mit Tacitus Proust erwähnt, berichtet ebenfalls von dieser taciteischen Besonderheit, die er jedoch interessanterweise nicht auf Proust bezieht, obwohl er ihn kurz zuvor genannt hat: “Yet, as he says, half his historical interest is in the discovery of good deeds, and perhaps nothing in literature has a greater impact of astonishment, a more sudden sense of illumination, than the occurence of a good deed in the pages of his histories. He represents the fabric of society as so loosened that we scarcely credit the account of any simple human relationship, let alone a noble action – a soldier weeps at having killed his father in the civil war (H. 3.25), the aristocrats open their houses to the injured thousands when great amphitheatre falls down (A. 4.63.2); and the noble actions take place – the freed-woman Epicharis, when Piso’s enormous conspiracy against Nero was discovered, endured the torture and died, implicating no one, alienos ac prope ignotos protegendo, ʻdefending others whom she scarcely knewʼ (A. 15.57.2). But the human relationship and the noble deed exists in the midst of depravity and disloyality so great that we are always surprised by the goodness before we are relieved by it; what makes the fortitude of Epicharis so remarkable and so puzzling is that the former slave screened strangers and those whom she hardly knew”. In Anlehnung an die Abhandlung von Edmond Courbaud, Les Procédées d’Art de Tacite dans les Histoires, 1918, passt hier vielleicht die sprachliche Anlehnung an die von ihm festgestellte Maltechnik des Tacitus.
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inter Bithynos, quo obsequio florentem Soranum celebraverat, labantem non deseruit, exutusque omnibus fortunis et in exilium actus, aequitate deum erga bona malaque documenta‘ (ann. 16.33.1).⁷³⁷ Es ist ersichtlich derselbe Gedanke, wie er bei Proust in der soeben zitierten Stelle aus der ‚wiedergefundenen Zeit‘ zum Ausdruck kommt. Doch bereits an früherer Stelle findet sich eine illusionslose Darstellung beispielhafter, gutwilliger Handlungen, unter denen auch die Abschaffung als zu hart empfundener Gesetze eine Rolle spielt, die sich aber leicht in ihr Gegenteil und gegen ihre Urheber wenden können: „Die Diskussion bleibt offen zwischen den Menschen, dieser Art und jenen anderen, die einer höheren Forderung ihres Innern folgend solche Vorteile opfern, um nur ihr Ideal zu verwirklichen, gleich Malern oder Schriftstellern, die auf ihre Virtuosität verzichten, oder Kriegsvölkern, die die Initiative zu einer allgemeinen Abrüstung ergreifen, absoluten Regierungen, die demokratisch werden und harte Gesetze abschaffen, sehr häufig, ohne für ihr edles Bemühen einen Lohn zu erhalten; denn die einen büßen ihr Talent, die anderen ihre jahrhundertealte Vorherrschaft ein; der Pazifismus führt zuweilen zu neuen Kriegen und Nachsicht zu erhöhter Kriminalität“ (II 436).⁷³⁸ – « Le débat reste ouvert entre les hommes de cette sorte et ceux qui obéissent à l’idéal intérieur qui les pousse à se défaire de ces avantages pour chercher uniquement à le realiser, semblables en cela aux peintres, aux écrivains qui renoncent à leur virtuosité, aux peoples artistes qui se modernisent, aux peoples guerriers pregnant l’initiative du désarmement universel, aux gouvernements absolus qui se font démocratiques et abrogent de dures lois, bien souvent sans que la réalité récompense leur noble effort; car les uns perdent leur talent, les autres leur prédominance séculaire; le pacifisme multiline quelquefois les guerres et l’indulgence la criminalité » (JF II 213). Nüchterne Realpolitiker, zu denen der Senator Cornelius Tacitus gehört haben dürfte, würden dieser eher pessimistischen Sicht wohl einiges abgewinnen.⁷³⁹ Im Übrigen ist diese Periode ähnlich kunstvoll und symmetrisch aufgebaut wie jene, nach der Françoise geschrieben haben würde wie Tacitus, und ähnelt ihr inhaltlich mit der Zusammenführung absoluter Herrschaften einerseits und der inneren Gesetze, denen der wahre Künstler seiner Bestimmung entsprechend Folge zu leisten hat (G II 244). Denn hier wie dort leuchtet der Gedanke wahrer und bleibender Kunst auf, die der Künstler nicht vorschnell opfern darf, wenn er nicht sein Talent um leichtfertig verfasster Produkte willen vergeuden will. Proust wie Näher Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 546. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Joseph Vogt, Tacitus als Politiker, 1924, S. 4: „Er wußte um die Gedanken der einsamen Großen, verstand das Intrigenspiel der Männer hinter den Kulissen und kannte bis ins einzelne die Regungen der Massen, wiewohl er nichts mit ihnen gemeinsam hatte“.
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auch Tacitus waren sich, wie im letzten Kapitel noch näher darzustellen sein wird, der bleibenden Wirkung ihrer Hauptwerke bewusst (ann. 4.61).⁷⁴⁰ Daher werden sie in Rechnung gestellt haben, dass sie jeweils vordem Unbekannte mit in die Unsterblichkeit nehmen (ann. 16.33.1; SG II 354). Konservativ, wie er in seinen Anschauungen war, gestand Tacitus nur ausnahmsweise zu, dass früher nicht alles besser war: ‚nec omnia apud priores meliora, sed nostra quoque aetas multa laudis et artium imitanda posteris tulit‘ (ann. 3.55.5). Sein bedeutendster Interpret deutet den Gedanken mit guten Gründen dahingehend, dass Tacitus seinen Zeitgenossen, nicht zuletzt sich selbst als nachahmungswürdiges Vorbild präsentieren wollte.⁷⁴¹ Ein ähnlicher Anflug von Selbstgerechtigkeit ist auch bei Françoise zu beobachten, die „eine Tendenz hatte, Gütebeweise zu verkleinern oder zu übertreiben, je nachdem ob sie ihr selbst oder anderen zuteil geworden waren“ (IV 47).⁷⁴² – « qui avait une tendance à diminuer ou à exagérer les bontés selon qu’on les avait pour elle ou pour les autres » (SG I 46). An dieser Stelle zeigt sich allerdings zugleich, dass der Vergleich der alten Dienerin mit dem großen Historiker allein dadurch zustande kommen kann, dass es letztlich Marcel ist, dessen Würdigung ihres Verhaltens dem Einblick in die klandestinen und widersinnig erscheinenden Seelenregungen etwas Taciteisches verleiht – und sei es auch dadurch, dass er sie durchschaut:⁷⁴³ „Die ‚Untergebenen‘, die uns lieben, wie Françoise mich liebte, finden nun einmal Vergnügen daran, uns in unserer Eigenliebe zu kränken“ (V 254).⁷⁴⁴ – « Mais les ‚inférieus‘ qui nous aiment comme Françoise m’aimait ont du plaisir à nous froisser dans notre amour-propre » (P I 254). Das ist – nicht anders, als es mitunter bei Tacitus begegnet – die sententiöse Zusammenfassung eines Gedankens, der an anderer Stelle unter Berücksichtigung aller mildernden Umstände beispielhaft ausgeführt und facettenreich aufgefächert wird. Dort werden auch die kleinen Auslegungsspielräume aufs Korn genommen, die sich die Betreffenden zu ihren Gunsten ausdehnend sorgsam erhalten.
Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II, S. 624 (“personal claim”). Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 55: „Proust vermag alle sinnlichen Tatbestände des Erlebens in die Terminologie des Seelischen zu übertragen und sie dadurch mit einem Bedeutungsgehalt zu beschenken, der sich nun ihrem Wesen einverleibt. Durch Prousts Anschauung hindurchgegangen, bleiben sie imprägniert mit einer seelischen Legende. Und die Meisterschaft seines Stils erweist sich darin, daß wir jene Sinngebung, nachdem sie einmal verlautbart ist, von den Dingen nicht mehr trennen können“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Das erinnert im Übrigen daran, was Tacitus gleich zu Beginn seines Dialogs über die Redner bezüglich der Unterscheidung der großen Redner von den kleinen Prozessanwälten, die sich in eigennützigen Haarspaltereien ergehen, für bezeichnend hält: ‚Neque enim ita appellamus nisi antiquos, horum autem temporum diserti causidici et advocati et patroni et quidvis potius quam oratores vocantur‘ (dial. 1.1).⁷⁴⁵ Denn die genannten ‚causidici‘ sind klassische Winkeladvokaten. Ebenso verhält es sich bei Prousts Bediensteten, die gleichsam ihre eigenen Fürsprecher sind: „Trotz alledem aber hatte sie, seitdem sie in unsere Dienste getreten war – und jede andere hätte es erst recht getan – die Ideen und Winkelzüge der Auslegung angenommen, wie die Hausbedienten der anderen Stockwerke sie an sich hatten, wobei sie sich für den Respekt, den sie uns fortwährend bezeigen mußte, dadurch schadlos hielt, daß sie uns die Grobheiten wiederholte, die die Köchin im vierten Stock ihrer Herrin gegenüber geäußert hatte, und zwar mit einer solchen dienstbotenhaften Genugtuung, daß wir zum ersten Mal in unserem Leben etwas wie Solidarität mit der unsympathischen Dame aus dem vierten Stock verspürten und uns sagten, daß wir vielleicht eben doch auch so etwas wie ‚Herrschaften‘ seien.“ (III 80/81).⁷⁴⁶ – « Mais malgré tout cela, dès qu’elle était entrée à Paris à notre service, elle avait partagée – et á la plus forte raison toute autre l’eût fait à sa place – les idées, les jurisprudences d’interpretation des domestiques des autres étages, se rattrapant du respect qu’elle était obligée de nous temoigner, en nous répétant ce que la cuisinière du quatrième disait de grossier à sa maîtresse, et avec une telle satisfaction de domestique, que, pour la première fois de notre vie, nous sentant une sorte de solidarité avec la détestable locataire du quatrième, nous nous disons que peut-être, en effet, nous étions des maîtres. » (G I 82). Das Motiv des unterschwelligen Aufbegehrens der Bediensteten, einschließlich der allen Beteiligten ‚unsympathischen Dame im vierten Stock‘, die durch Françoises ihre Herrschaft unterschwellig anklagenden, subversiven und mokanten Bemerkungen in eine Art mitschuldnerischer Komplizenschaft zur Familie Marcels rückt, begegnet noch weiter unten, übrigens just vor jener Stelle, an der Marcel zusammenfasst, dass Françoise wie Tacitus geschrieben haben würde (G II 244):⁷⁴⁷ „Françoise setzte sogar hinzu: ‚Wenn ich die Herrschaft gewesen
Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. I, S. 104, grenzt ebenfalls scharf ab: “It was not the time for great orators any more, only for barristers, advocates, and the like”. Hervorhebung nur hier. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 446: „Das gute alte Französisch wird von manchen der Aristokraten, aber auch – o wunderbare Überbrückung sozialer Gegensätze – von Dienstboten wie Françoise geschrieben.“ Unter Verweis auf Léon Pierre-Quint, Marcel Proust, sa vie, son œuvre, 1925, S. 204: «l’influence de sa fille
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wäre, mir hätte das etwas ausgemacht.‘ Wenn wir auch ungeachtet unserer anfänglich nur geringen Sympathie für die ‚Dame vom vierten Stock‘ wie beim Anhören einer unwahrscheinlichen Lügengeschichte über die Wiedergabe eines so schlechten Beispiels die Achseln zuckten, so verstand die Erzählerin dennoch bei ihrem Bericht den definitiven, keinen Widerspruch zulassenden Ton einer über jeden Zweifel erhabenen dreisten Behauptung anzuschlagen“ (III 476).⁷⁴⁸ – « Françoise ajoutait même: ‚Moi, si javais été patronne je me serais trouvée vexée‘. Nous avions beau, malgré notre peu de sympathie originelle pour la dame du quatrième, hausser les épaules, comme à une fable invraisemblable, à ce récit d’un si mauvais exemple, en le faisant, la narratrice savait prendre le cassant, le tranchant de la plus indiscutable et plus exaspérante affirmation » (G II 243/244). Passagen, in denen Gütebeweise sich je nach dem Verhältnis der Beteiligten zueinander ganz unterschiedlich auswirken und von der Erfüllung einer schlichten moralischen Verbindlichkeit bis hin zur paradoxen Begründung unauslöschlichen Hasses reichen, begegnen auch bei Tacitus wiederholt (hist. 4.3.2): ‚nam beneficia eo usque laeta sunt, dum videntur exsolvi posse: ubi multum antevenere, pro gratia odium redditurʻ (ann. 4.18.3).⁷⁴⁹ Diese Stelle wird von Pascal⁷⁵⁰ und La Rochefoucauld zitiert.⁷⁵¹ Das überrascht nicht, weil wir die verklammernde Wirkung des französischen Moralismus bereits verschiedentlich beobachtet haben, der auf diese Weise als eine Art Bindeglied zwischen Tacitus und Proust erscheint. Beide haben jeder auf seine Weise erkannt, aber auffallend übereinstimmend zugrunde gelegt, dass moralische Verpflichtungen und Dankesschulden nichts objektiv Bezifferbares oder auch nur Quantifizierbares sind, sondern sich allein aus dem jeweiligen Verhältnis des Gläubigers und vermeintlichen Schuldners ergeben, mithin aus dem Inbegriff aller feinen Abschattierungen, Zurücksetzungen und Störungen, die gerade diese Personenbeziehung seit ihrer Begründung geprägt und erfahren hat. Gleiches gilt für die vor allem am
commençait à alterer un peu le vocabulaire de Françoise. Ainsi perdent leur pureté toutes les langues par l’adjonction de termes nouveaux». Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Dazu ebenso prägnant Ronald Syme, Tacitus, 1958,Vol. I, S. 417: “an aphorism, acrid, intense, and unanswerable”. Blaise Pascal, Pensées, 1669 posthume (Hg. Léon Brunschvicg, 1897), Fragment 72. Dazu Jens Petersen, Pascals Gedanken über Gerechtigkeit und Ordnung, 2016. Jürgen von Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich, 1960, S. 211, weist allerdings darauf hin, dass die Einfügung in die Memoiren La Rochefoucauld nicht von seiner Hand stammt. Er spricht dann auch von „der Legende von der engen Beziehungen zwischen La Rochefoucauld und Tacitus“ (ebenda, S. 210). Zu den Maximen und Reflexionen La Rochefoucaulds auch Jens Petersen, Nietzsches Genialität der Gerechtigkeit, 3. Auflage 2020, S. 18 f., 34 f., 66, und öfter.
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Beispiel des Tiberius, später noch Neros, wieder und wieder verdeutlichte Einsicht des Tacitus, dass unumschränkte Macht auf den Charakter des Mächtigen negativ zurückwirkt und ihn unweigerlich verdirbt (ann. 6.51).⁷⁵² Eine ähnliche Entwicklung beobachtet auch Marcel in der Recherche bei seiner Dienerin und verbindet sie mit einer Reflexion über die Widernatürlichkeit der Herrschaftsverhätnisse, obwohl er selbst sich daran nur zu gerne gewöhnt hat: „Diese Veränderung im Charakter von Françoise war am Ende unvermeidlich. Gewisse Formen der Existenz sind so wenig normal, daß sie notwendigerweise gewisse Verbildungen hervorbringen müssen, beispielsweise die Existenz, die der König in Versailles unter seinen Höflingen führte, seltsam wie die eines Pharao oder eines Dogen, und weit mehr noch als die des Königs und die der Höflinge. Die Existenz der Dienstboten aber ist vielleicht von einer noch monströseren Seltsamkeit, die nur die Gewöhnung uns verbirgt. Doch bis in die kleinsten Kleinigkeiten hinein wäre ich, selbst wenn ich Françoise fortgeschickt hätte, verurteilt gewesen, das gleiche Genre von dienenden Geistern auch weiterhin um mich zu haben“ (III 80).⁷⁵³ – « Cette altération du caractère de Françoise était peut-être inévitable. Certaines existences sont si anormales qu’elles doivent engendrer fatalement certaines tares, telle celle que le Roi menait à Versailles entre ses courtisans, aussi étrange que celle d’un pharaon ou d’un doge, et, bien plus que celle du roi, la vie des courtisans. Celle des domestiques est sans doute d’une étrangeté plus monstrueuse encore et que seule l’habitude nous voile. Mais c’est jusque dans des détails encore plus particuliers que jaurais été condamné, même si j’avais renvoyé Françoise, à garder le même domestique » (G I 82/83). Man könnte dies nur zu leicht als larmoyante Einlassungen eines verzogenen Jünglings sehen, der keine anderen, vor allem keine wirtschaftlichen, Sorgen kennt.⁷⁵⁴ Doch begegnet hier wieder das Proustsche Paradoxon der zwar nur
Richard Reitzenstein, Aufsätze zu Tacitus, 1967, S. 87, hat besonders eindringlich herausgearbeitet, dass „jeder Herrscher die verhängnisvolle Rückwirkung seiner Stellung auf die eigene Seele erfahren hat.“ Ebenso die dortige Fußnote 1: „Der leitende Gedanke, daß die Seele dessen, der nichts über sich, nichts neben sich hat, notwendig zerrüttet wird“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 21, beleuchtet eine andere Facette mit einer Anlehnung an ein für die Recherche zentrales Kunstwerk: „Wenn aber Françoise und die vielen anderen namenlosen Dienstmädchen die Gestalt der Giottoschen Charité annehmen, so gewinnt diese unmerklich die zwischen vice und vertu oszillierende Gestalt der Françoise wie die der ihr untergeordneten namenlosen Kreaturen“. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 84, vermerkt lapidar, was wohl mutatis mutandis auch für Tacitus gilt: „Prousts Romane sind das Werk eines Reichen und sind nur als solches möglich“.
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emotionalen, dafür aber umso stärkeren Abhängigkeit der scheinbar Herrschenden von den Beherrschten. Dadurch kehren sich die Herrschaftsverhältnisse zumindest in der Innenwelt Marcels um, weil mit der äußeren Herrschaft unweigerlich ein mindestens ebenso großer Verlust an innerer Freiheit einhergeht.⁷⁵⁵ Das wiederum ist zugleich ein Grundthema des Tacitus, der die Abhängigkeit der militärischen Befehlshaber von ihren Soldaten beobachtet (ann. 3.20.3). Auch bei ihm kann man an versteckter Stelle der Germania die Einsicht finden, dass ein bestimmter bitterarmer, aber bedürfnisloser Germanenstamm (Germania 46.3), das besitzt, was gerade den reichsten Römern unter willkürlichen und habgierigen Kaisern fehlt, nämlich äußere und innere Freiheit.⁷⁵⁶ Proust hat ebenso wie Tacitus einen untrüglichen Blick für die zynischen Agenten der Macht, die mit kaltem ökonomischen Nutzenkalkül ihre Kontakte gewinnbringend einsetzen und Beziehungen in zweierlei Richtungen zu ihrem eigenen Vorteil einsetzen, weil sie ohne jedes persönliche Risiko ihrer gewinnbringenden Vermittlertätigkeit stets sicher sein können (ann. 13.23): „Madame de Souvré besaß die Kunst, wenn es sich darum handelte, eine Bewerbung bei einem Mächtigen zu unterstützen, es so einzurichten, daß sie in den Augen des Bittstellers diesen zu empfehlen schien, zugleich aber in den Augen der hochgestellten Persönlichkeit dem gleichen Bittsteller offenbar keinerlei Unterstützung gewährte, so daß diese nach zwei Richtungen wirkende Geste ihr einen Kredit der Dankbarkeit bei dem Petenten eröffnete, ohne daß der andere ihren Schritt irgendwo auf ihre Debetseite schrieb“ (IV 75). – « Madame de Souvré avait l’art, s’il s’agissait d’appuyer une sollicitation auprès de quelqu’un de puissant, de paraître à la fois aux yeux du solliciteur le recommander, et aux yeux du haut personnage ne pas recommender ce solliciteur, de manière que ce geste à double sens lui ouvrait un credit de reconnaissance envers ce dernier sans lui créer aucun débit vis-vis de lautre » (SG I 72/73). Der unnachahmliche Nachsatz verdeutlicht, was auch in der taciteischen Darstellung des nachtragenden Tiberius immer wieder begegnet, dass nämlich auch persönliche Beziehungen jenseits aller Gefühle kaum anders als Handelsbilanzen nach Soll und Haben geführt werden und jede Seite peinlich darauf Acht geben muss, nicht in die Verlustzone zu geraten, weil sie bestenfalls mit ihrem
Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 267 f. (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), kann man wohl entnehmen, dass Proust selbst es in den letzten Jahren seiner Abgeschiedenheit ebenfalls empfunden hat: „Damals erkannte ich nicht, in welchem Maße ich für ihn unentbehrlich geworden war“. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 566. Zur zuvor genannten Stelle der vorgeblichen Feigheit (ann. 3.20.3), die für die Soldaten das an Brutalität schwerlich zu übertreffende Nachspiel der gefürchteten Militärstrafe der Dezimierung nach sich zog (ann. 3.21.1), ebenda, S. 513 f.
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personalen und gesellschaftlichen Achtungsanspruch, schlimmstenfalls mit dem Leben dafür einsteht (ann 4.18.3).⁷⁵⁷ Ebenso wenig ist es gestattet, die Gegenseite durch Großzügigkeit zu beschämen, weil daraus verhängnisvolle Abneigung hervorgeht (hist. 4.3.2). Auch die Kunst der Verstellung, die Tacitus ebenso wie Proust verlässlich durchschaute (ann. 4.71.3), findet sich als Vermögen und Vorliebe bei Françoise, mit der sie ihre Obrigkeit entlarvte: „unsere Verstellung wurde freilich von vornherein von der scharfsinnigen und beleidigend offenen Françoise durchschaut“ (III 425). – « De qui le mensonge était d’avance percé à jour par Françoise, perspicace et offensante » (G II 191). Sie verfügt eben, wie es in der ‚Prisonnière‘ an einer Stelle respektvoll heißt, über „telepatische Fähigkeiten“ (V 128): « ses radiotélépathies » (P I 128).⁷⁵⁸ Besonders deutlich wird das im Zusammenhang mit jener Stelle, an der es heißt, dass Françoise geschrieben hätte wie Tacitus. Dort überrascht Françoise Marcel allein mit Albertine. Doch ist sie selbst am wenigsten erstaunt über das, was sie sieht, weil sie es kraft ihrer mit einem gesunden Misstrauen durchmischten seherischen Gabe, um deretwillen Marcel sie an derselben Stelle mit Tiresias vergleicht, vor aller sinnlichen Wahrnehmung bereits zu wissen scheint:⁷⁵⁹ „Vielleicht hatte Françoise diesen Augenblick gewählt, um uns in Verlegenheit zu bringen, nachdem sie vorher an der Tür gehorcht oder sogar durch das Schlüsselloch geschaut hatte. Aber es bedurfte eigentlich einer solchen Vermutung nicht, sie mochte sehr wohl verschmäht haben, sich durch Augenschein durch etwas zu überzeugen, was ihr Instinkt schon genügend gewittert hatte, denn dadurch daß sie mit mir und meinen Eltern lebte, hatten uns gegenüber schließlich Furcht, Vorsicht, Aufmerksamkeit und List ihr jene Art von geradezu ahnungsvoller Einsicht in alle Dinge gegeben, wie sie der Seemann für das Meer, der Jäger für das Wild, und der Krankheit gegenüber, wenn auch nicht der Arzt, so jedenfalls der Kranke besitzt. Alles, was sie schließlich doch von uns wußte, hätte mit ebenso gutem Grund verblüffen können, wie der bereits hohe
Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 302 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet von einem in diesem Zusammenhang aufschlussreichen Charakterzug Prousts: „Wenn ihn jemand verletzte, dann zog er sich voll Verachtung zurück, das war alles. Aber er vergaß nicht; er hatte ein Gedächtnis, in dem alles nach Soll und Haben eingetragen war, nur daß er (…) die anderen nicht für ihre Kleinlichkeiten büßen ließ. Er begnügte sich damit, sie zu beurteilen. Ich würde sogar sagen, dass er seine Befriedigung darin fand, diese Leute zu analysieren, und meistens sah er in der Art ihrer Motive eine Entschuldigung für sie“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 135, bemerkt mit dem passenden TacitusZitat aus ann. 13.3.4: «Tirésias et Tacite, voilà une belle juxtaposition. Car cet historien est en même temps ambigu et concentré: comme il dit lui-même, parlant de l’éloquence de Tibère, validus sensibus aut consulto ambiguus ».
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Stand gewisser Kenntnisse bei den Alten, gemessen an den geradezu nichtigen Informationsmöglichkeiten, die sie besaßen (die von Françoise waren nicht vielseitiger: sie bestanden in ein paar Gesprächsfetzen, die etwa den zwanzigsten Teil unserer Tischunterhaltung ausmachten und die der Diener aufgegriffen und in der Office ungenau wiedergegeben hatte). Noch dazu gingen ihre Irrtümer in der gleichen Weise wie die der Alten, zum Beispiel der Fabeln, an die Platon glaubte,⁷⁶⁰ mehr auf ein falsches Weltbild und irrige Voreingenommenheit als auf die Unzulänglichkeit der unmittelbaren Quellen zurück (III 474/475).⁷⁶¹ – « Peut-être Françoise avait-elle choisi cet instant pour nous confondre, étant à écouter à la porte ou même à regarder par le trou de la serrure. Mais je n’avais pas besoin de faire une telle supposition, elle avait pu dédaigner de s’assurer par les yeux de ce que son instinct avait dû suffisamment flairer, car à force de vivre avec moi et mes parents, la crainte, la prudence, l’attention et la ruse avaient fini par lui donner de nous cette sorte de connaissance instinctive et presque divinatoire qu’a de la mer matelot, du chasseur le gibier, et de la maladie, sinon le médecin, du moins souvent le malade. Tout ce qu’elle arrivait à savoir aurait pu stupéfier à aussi bon droit que l’état avancé de certaines connaissances chez les anciens, vu les moyens presque nuls d’information qu’ils possédaient (les siens n’étaient pas plus nombreux: c’était quelques propos, formant à peine le vingtième de notre conversation à dîner, recueillis à la volée par le maître d’hôtel et inexactement transmis à l’office). Encore ses erreurs tenaient-elles plutôt, comme les leurs, comme les fables auxquelles Platon croyait, à une fausse conception du monde et à des idées préconçues qu’a l’insuffisance des ressources matérielles » (G II 242/243). Sieht man von der pointiert aufleuchtenden Spitze gegen das Unwissen der Ärzte ab,⁷⁶² das in seiner
Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 79, geht der Problematik des Platonismus im werkimmanenten Zusammenhang umsichtig nach. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Der Seitenhieb gegen die Ärzte, deren Kunst aus Prousts Sicht womöglich ebenso unverlässlich wie die der Juristen ist (IV 502), ähnelt in seiner die Symmetrie der Periode unvorhergesehen aufbrechenden stilistischen Meisterschaft einer versteckten Bosheit Dantes gegen seine Heimatstadt Florenz gegen Ende des Paradiso (XXXI 39); dazu Jens Petersen, Dante Alighieris Gerechtigkeitssinn, 2. Auflage 2016, S. 131. – Solche Seitenhiebe begegnen übrigens auch bei Tacitus auf Schritt und Tritt; besonders häufig in seiner Germania zur Kontrastierung mit römischer Dekadenz. Wolf Steidle, Tacitusprobleme, Museum Helveticum 22 (1965), 81, 88 mit Fußnote 41, spricht beispielsweise im Zusammenhang mit dem proximis temporibus triumphati magis quam victi sunt (Germania 37.5) in ähnlichem Sinne von einem „Seitenhieb“. Vgl. aus den übrigen Werken Agr. 30.4; ann. 3.66.1; hist. 3.37.2; dial. 41.4. Siehe auch Anna Magdalena Elsner, À la recherche du medecin-philosophe: Der Proust’sche Arzt zwischen Beruf und Berufung, in: Marcel
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den Lesefluss durchbrechenden inhaltlichen Inkonzinnität etwas durchaus Taciteisches hat,⁷⁶³ dann zeigt sich in der Zusammenschau, dass Proust durch die Darstellung der an Tiresias gemahnenden seherischen Fähigkeit nur scheinbar eine irrationale Komponente zugrundelegt. Gleiches gilt für ein anderes schönes Wort Marcels über Françoises „sibyllinischen Reden“ (V 127) – « les paroles sibyllines de Françoise » (P I 128).⁷⁶⁴ In Wahrheit nämlich ist es, wie das Seemanns- und Jäger-Beispiel zeigen, das eminente Erfahrungswissen der Beteiligten, das solche Vorahnungen ermöglicht. Marcel betont daher den dem Leser ohnehin bekannten Umstand des Zusammenlebens der Dienerin mit der Familie, vermöge dessen sie ihre Herrschaft so genau kennt, dass sie sie notfalls nach Belieben durchschauen und domestizieren kann. Marcel geht aber noch weiter, nämlich zurück zu ‚den Alten‘, also bis in die Antike, und bezieht damit den Erfahrungsraum der Geschichte ein. Damit spannt er beiläufig und ohne Nennung seines Namens den Bogen bis zu dem Historiker, von dem hier die Rede ist.⁷⁶⁵ Wenn Marcel seine Anschauung, in dem Klammerzusatz gleichsam subsumierend, auf Françoise anwendet, so ist es im Wesentlichen der mit Tatsachenspuren versetzte Dienstbotenklatsch, der Françoise in ihrer Gerüchteküche das nötige Wissen eingibt. Auch in dieser Hinsicht kann man an Tacitus denken, zu dessen beliebtesten Stilmitteln die tendenziöse und
Proust und die Medizin (Hg. Mark Föcking), 2014, S. 110; Thomas Thiel, Proust und die Medizin – Sein Leiden führte ihm die Feder, PROUSTIANA XXVII/XXVIII (2013), 240. Aufschlussreich ist auch insofern der bereits zitierte zweite Brief Prousts an Ernst Robert Curtius (Correspondance, Hg. Philip Kolb, Tome XXI, 1922, S. 479): «Je ne veux pas parler sans respect des médecins (…) » mit eingehendem Lob seines Vaters und Bruders. Zum Vergleich zwischen dem dekorierten Vater und seinem später weltberühmten Sohn aufschlussreich Friedrich Kittler, Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft, 2. Auflage 2011, S. 176. Eduard Norden, Die Antike Kunstprosa, Band I, 1915, S. 333, zur Inkonzinnität als prägendem Stilmittel des Tacitus. Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 946, analysiert den taciteischen Stil dergestalt, dass das Gesagte unwillkürlich auf manche Perioden Prousts zuzutreffen scheint: „Eine Grundaussage wird antithetisch gespalten und deren zweites Glied wieder polar zerlegt, diese Struktur wird durch leichte Inkonzinnität verhüllt.“ – Man vergleiche dies mit der profunden Stilanalyse von Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 54, zur berühmten Flieder-Studie: „Le temps des lilas approchait de sa fin – hiermit wird das Grundthema in ruhiger, gleichmäßiger Linienführung angegeben, in einen schlichten zweitaktigen Satz. Dann beginnt eine doppelte Bewegung. Das approchait de sa fin wird gleichsam in zwei Glieder zerlegt: (…). Aber dieses zweite Glied ist nochmals in sich zerteilt nach dem gleichen Gesetz“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Bernhard Zimmermann, Präsenz der Antike in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patricia Oster/ Karlheinz Stierle), 2007, S. 46, berücksichtigt vor allem Ovid und Homer, nicht aber Tacitus.
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insinuierende Wiedergabe von Gerüchten gehört, in denen sich auf geringwertiger Tatsachengrundlage eine diffuse öffentliche Meinung materialisiert, die darum nicht notwendigerweise irrt:⁷⁶⁶ ‚haud semper errat fama‘ (Agr. 9.5). Die politische Kraft der öffentlichen Meinung hat übrigens auch Proust erkannt: „Ich stellte fest, daß in der Politik das Wiederholen dessen, was alle Menschen denken, offenbar kein Zeichen von Mittelmäßigkeit, sondern von Überlegenheit ist“ (II 45).⁷⁶⁷ – « Je démêlai seulement que répéter ce que tout le monde pensait n’était pas en politique une marque d’infériorité mais de supérieurité » (JF I 44). Proust geht es jedoch um mehr als nur die humoristische Darlegung von Tatsachenurteilen auf der Basis gerüchteschwerer Unsicherheiten, sondern um die Unschärfen selbst. Diese sind dort am größten, wo wir uns unserer Sache am ehesten gewiss sind, weil bei aller vermeintlichen Rationalität selbst bei einem Platon unbemerkt irrationale Determinanten mitwirken,⁷⁶⁸ die das menschliche Urteil trüben.⁷⁶⁹ Zu ihnen gehört auch die gesamte Weltanschauung der urteilenden Person. Darin manifestiert sich übrigens eine unausgesprochene Nähe Prousts zu Schopenhauer,⁷⁷⁰ der mit seiner vergeblich auf der kantischen Transzendentalphilosophie gründenden, dann aber mehr und mehr irrationalistischen Metaphysik ohnehin zu den Proust prägenden Autoren gehört.⁷⁷¹ Daher liegt bei aller ironischen Färbung mehr als ein Körnchen Wahrheit darin, dass Marcel im Zusammenhang mit den Eigenarten Françoises geistesgeschichtlich auf Platon und Tacitus zurückgreift.⁷⁷² Denn dass es ihm auch an dieser Stelle um den Wahrheitsanspruch in der Geschichtsschreibung geht, zeigt sich daran, dass für Marcel Ian S. Ryberg, Tacitus’ Art of Innuendo, Transactions and Proceedings of the American Philological Association 73 (1942), 383. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 130 f., hat schon früh den nicht immer messbaren, aber untergründig die gesamte Recherche durchwirkenden Platonismus Prousts herausgearbeitet. Zur Mitwirkung irrationaler Determinanten Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 3. Auflage 2020, S. 39. Allgemein dazu Bruno Negroni, Schopenhauer und Proust, Schopenhauer-Jahrbuch 70 (1980), 104. Jens Petersen, Schopenhauers Gerechtigkeitsvorstellung, 2017, S. 3 ff. Insoweit gilt hierfür allerdings auch, was Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 133, 143, dem überhaupt das Verdienst gebührt, die Ironie als ein durchgängiges Motiv der taciteischen Geschichtsschreibung ausgemacht zu haben, mahnend hervorhebt: «Ironie et pessimisme à part, il y a quand même quelque chose de très sérieux dans la vie. C’est le travail intellectuel et artistique. Voilà le chemin du salut. Ici, les deux écrivains se rejoignent. Il faut que l’on trouve sa vocation avant qu’il ne soit trop tard.» Zur ,vocationʻ Prousts weiterführend Karlheinz Stierle, Proust und Sainte-Beuve, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 58, 65.
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Irrtümer eher auf individuelle Fehlvorstellungen und Befangenheiten zurückzuführen sind als auf unrichtige Quellen. Das gilt nicht zuletzt für Tacitus, der zwar vorgab, ‚sine ira et studio‘ (ann. 1.1.3) bzw. ‚sine odio‘ (hist. 1.1.3) zu urteilen,⁷⁷³ aber bei näherem alles andere als unbefangen und unvoreingenommen, ja nicht einmal frei von Hass gegen die Kaiser war.⁷⁷⁴ Eine wohlwollend ironische Färbung enthält trotz der geradezu grotesken Übertreibung auch die Schilderung, auf welche Weise Françoise ihre Kochzutaten so sorgsam auswählt wie weiland Michelangelo seinen Marmor und sie noch an späterer Stelle als ‚Küchen-Michelangelo‘ (II 44) – « Michel Ange de notre cuisine » (JF I 43) – bezeichnet: „Da sie auf eine durch und durch einwandfreie Beschaffenheit der Grundstoffe, die bei der Herstellung ihrer Meisterwerke eine Rolle spielten, bedacht war, ging sie – so wie Michelangelo acht Monate in den Bergen von Carrara verbrachte, um die vollkommensten Marmorblöcke für das Grabmal Julius’ des Zweiten auszuwählen – selbst in die Hallen, um das saftigste Stück Rindsfilet, die vortrefflichsten Waadschinken und die besten Kalbsfüße zu beschaffen“ (II 27).⁷⁷⁵ – « Comme elle attachait une importance extrême à la qualité intrinséque des matériaux qui devaient entrer dans la fabrication de son œuvre, elle allait elle-même aux Halles se faire donner les plus beaux carrés de romsteck, de jarret de bœuf, de pied de veau, comme Michel Ange passant huit mois dans les montagnes de Carrare à choisir les blocs de marbre les plus parfaits pour le monument de Jules II. » (JF I 26).⁷⁷⁶ Auch Françoise wird ohne wohlfeilen Sarkasmus und mit behutsamer ironischer Färbung auf ihre Weise mit höchstem Anspruch auf dem Gebiet ihrer Kunst dargestellt.⁷⁷⁷ Joseph Vogt, Tacitus und die Unparteilichkeit des Historikers, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 39, 45: „die knappste Formulierung eines von vielen ausgesprochenen Gedankens“. Ferner Carl Weyman, Sine ira et studio, Archiv für lateinische Lexikographie und Grammatik 15 (1908), 278; Berthold L. Ullmann, Sine Ira et Studio, The Classical Journal 38 (1943), 420; Hans W. L. Freudenthal, Sine Ira et Studio, The Classical Journal 39 (1944), 297; Albrecht Dihle, Sine ira et studio, Rheinisches Museum 114 (1971), 27. Friedrich Klingner, Tacitus, in: Römische Geisteswelt, 5. Auflage 1979, S. 504, 517: „fast gehässig sind die Menschen, vor allem die Kaiser dargestellt.“ Ebenso Richard Reitzenstein, Aufsätze zu Tacitus, 1967, S. 138, wonach Tacitus Tiberius „auch zu der Zeit, als seine Herrschaft noch gut war, gehässig geschildert hat“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Siehe auch Dirk Kock, Die Bildhauerei als Metapher in der Recherche. Zur Parallelisierung von Kreationsprozessen der Kunst und des Lebens bei Marcel Proust, in: Marcel Proust. Lesen und Schreiben (Hg. Edgar Mass/Volker Roloff), 1983, S. 170. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 458 f., erachtet diese Stelle als paradigmatisch und entscheidet vorzugswürdig: „Wenn z. B. in À l’ombre des jeunes filles en fleurs das Auswählen von Fleischstücken durch Françoise in den Halles mit Michel Angelos achtmonatigem Aufenthalt in Carrara, um für Julius II. den vollkom-
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Als Françoise bereits sehr alt und geistig nicht mehr ganz auf der Höhe ihrer früheren Fähigkeiten ist, versucht ihr Marcel in der ‚wiedergefundenen Zeit‘ bei allem Bedauern über ihren zunehmend eindimensionalen Wortschatz gleichwohl Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er ihr eines der höchsten Komplimente macht: „Von ihren Lippen, auf denen ich einst das reinste Französisch hatte erblühen sehen, kam es nun mehrmals am Tage: ‚Er hat Fisimatenten gemacht‘. Es ist im Übrigen merkwürdig, wie wenig nicht nur die Ausdrücke, sondern auch die Gedanken bei einer und derselben Person sich zu wandeln vermögen“ (VII 90).⁷⁷⁸ – « Et sur ses lévres où j’avais vu fleurir jadis le français le plus pur, j’entendis plusieurs fois par jour: ‚Et patati patali et patata patala.‘ Il est du reste curieux combien non seulement les expressions mais les pensées varient peu chez une même personne » (TR I 74). Ebenso überraschend wie bemerkenswert ist zunächst der – wie stets bei Proust deutlich ironisch gefärbte – Superlativ, wonach ausgerechnet eine Bedienstete ‚das reinste Französisch‘ gesprochen habe, auch wenn sie den Genitivus partitivus nicht beherrscht, weil sie „d’argent“ sagt, wie Marcel an anderer Stelle mokant bemerkt (III 23). Diese grundsätzliche Wertschätzung wiegt umso schwerer, wenn man bedenkt, dass Marcel mit Geistesgrößen wie Bergotte, abgefeimten Diplomaten wie Norpois und den höchsten aristokratischen Kreisen Umgang hatte. Aber damit ist das Besondere dieses Kompliments noch nicht hinlänglich erfasst, wenn man bedenkt, dass die Wertschätzung gerade der Beherrschung der französischen Sprache gilt.⁷⁷⁹ Von dem positiven Gehalt dieser Stelle führt daher ein unmittelbarer Weg zurück zu der Annahme, dass Françoise wie Tacitus geschrieben haben würde. Denn so werden nicht zuletzt Sprache und Stil erfasst, die Françoise auf durchaus eigentümliche, mitunter durch ihre bäuerliche Herkunft geprägte Weise beherrschte, auch wenn ihr die literarischen Vorbilder gewiss nicht geläufig ge-
mensten Marmor auszuwählen, verglichen wird, möchte ich darin nicht mit Crémieux (S. 69) ein Anatol France-haftes Spotten mit seiner (Prousts) Bildung, also Selbstpersiflage sehen; nein, Proust erkennt die Einheit der Koch-„kunst“ und der Bildhauerkunst – der gütige Humor dieser Stelle entsteht eben aus der Erwägung, wie die niedrigsten Stufen der Hierarchie des Geistes mit den höchsten durch die Gleichheit des seelischen Antriebs, die Sorgfalt bei der Auswahl verbunden sind. (…) Die Exzesse der Vergleiche sind also in Wirklichkeit Wiederherstellungen ursprünglicher Hierarchien, die durch die Künstlichkeit unserer Weltordnung zerstört sind“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Proust und Sainte-Beuve, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 58, 69, hebt im Vergleich mit dem Baron de Charlus hervor, dass Françoise „zur Sprache ein nicht minder differenziertes komplexes Verhältnis hat wie der Sproß aus dem hocharistokratischen Haus der Guermantes.“ – Interessanterweise betont Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 944, bezogen auf Tacitus, was wohl ebenso für Proust gilt: „Der Wortschatz ist erlesen“.
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wesen sein dürften, wie Marcel mit wohlwollender Ironie vermerkt, indem er die Ausdrucksweise der Köchin zu den Größen französischer Sprachkunst ins Verhältnis setzt:⁷⁸⁰ „Françoise folgte in dieser Schilderung dem Sprachgebrauch La Bruyères in der Verwendung des Ausdrucks ‚ne pas plaindre‘, wenn sie von ‚Leidsein‘ sprach“ (III 29).⁷⁸¹ – « Françoise employait le verbe plaindre dans le même sens que fait La Bruyère » (G I 29).⁷⁸² In ähnlichem Zusammenhang vergleicht Marcel ihre Ausdrucksweise zuvor mit Corneille und Madame de Sévigné (III 21/26).⁷⁸³ Aber auch ohne ironischen Unterton findet sich folgendes Kompliment zu den Valeurs ihrer Sprache: „,Ich weiß auch nicht, warum es wird‘, antwortete Françoise, (die dieses Wort im absoluten, prägnanten Sinne verwendete)“ (II 79).⁷⁸⁴ – « ,Je ne sais pas d’où ce que ça devient‘ répondit Françoise (qui n’établissait pas une démarcation bien nette entre le verbe venir, au moins pris dans certaines acceptions, et le verbe devenir) » (JF I 78). Superlative dieser Art des vorgeblich ‚reinsten Französisch‘ sind auch bei Tacitus außerordentlich selten. Der vielleicht berühmteste gilt, wie bereits weiter oben aufgeführt, seinem Vorbild als Geschichtsschreiber und Stilist, nämlich Sallust. Er ist für ihn, wie erinnerlich, der ‚rerum Romanarum florentissimus auctor‘ (ann. 3.30.2).⁷⁸⁵ Es ist das höchste Lob, das Tacitus einem anderen Schriftsteller gezollt hat.⁷⁸⁶ Das passt mutatis mutandis zum ‚reinsten Französisch‘, wenngleich man landläufig eher in Cicero
Siehe zu La Bruyère etwa Roger Francillon, Proust und La Bruyère, in: Marcel Proust. Bezüge und Strukturen. Studien zu ‚Les plaisirs et les jours‘ (Hg. Luzius Keller), 1987, S. 52. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 101, hat dies bereits früh erkannt, spricht er doch „von den volkstümlichen Archaismen der Françoise, deren Bauerngerede Gebräuche festhält, die der Schriftsprache seit La Bruyère verlorengegangen sind“. Léon Pierre-Quint, Marcel Proust, sa vie, son œuvre, 1925, S. 76, hat diese Bezugnahmen der Sprache Françoises auf La Bruyère und Madame de Sévigné wohl als erster umfassend gewürdigt und diagnostiziert eine auf den ersten Blick überraschende, aber wegen der Verwurzlung beider Charaktere im alten Frankreich nachvollziebare Gemeinsamkeit zwischen der Dienerin Françoise und der ältestem Adel entstammenden Herzogin von Guermantes. Siehe auch Roderich Billermann, Sprache, Selbst, Geschichte. Madame de Sévigné und der Duc de Saint-Simon in À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patricia Oster/Karlheinz Stierle), 2007, S. 136. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 136: «Tacite, comme nous venons de le voir, remonte à l’historien Salluste, qu’il adore, qu’il salue comme rerum Romanarum florentissimus auctor ». Zuvor bemerkt er im Hinblick auf Cat. 4.1: «C’est Salluste qui en fait l’aveu ». Ronald Syme, Sallust, 1964 (zitiert nach der von Udo Scholz übersetzten deutschsprachigen Ausgabe 1975), S. 294; ders., The Political Opinions of Tacitus, in: Ten Studies in Tacitus, 1970, S. 119, 131: “one of his rare superlatives”.
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eine Entsprechung suchen würde, dessen Stil jedoch Tacitus ausweislich des Dialogs ebenfalls beherrscht.⁷⁸⁷ Überhaupt ist die Beherrschung unterschiedlicher literaturgeschichtlicher Stile etwas, das nicht nur Proust,⁷⁸⁸ sondern auch Tacitus auszeichnet.⁷⁸⁹ Prousts Freude darüber, dass Ernst Robert Curtius ihn als Klassiker bezeichnete, verwundert nicht.⁷⁹⁰ Die gesamte Recherche ist von dem erkennbaren Bestreben getragen, sich an den großen französischen Klassikern zu messen.⁷⁹¹ Wenn der taciteische Stil mitunter treffend als majestätisch bezeichnet wird, so entspricht dem im Hinblick auf Proust womöglich am ehesten, was Curtius „altmeisterliche Tonigkeit“ nannte.⁷⁹² Proust wie Tacitus schrieben wohl insgeheim und jeder auf
Eduard Norden, Die Antike Kunstprosa, Band I, 1915, S. 330 f., hat dem taciteischen Stil eine Seite abgewonnen, die einen für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreichen Aspekt berücksichtigt, der über das üblichlicherweise zugebilligte Attribut größtmöglicher Prägnanz entschieden hinausgeht: „Es giebt in der gesamten antiken Litteratur, die doch bis in die Zeit ihres Verfalls den Stempel einer aristokratischen Exclusivität trägt, keinen Schriftsteller (höchstens Thukydides ausgenommen) der so durchaus vornehm geschrieben hat wie Tacitus“. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 100 f.: „Proust verwertet diese Möglichkeiten (sc. der französischen Sprache), wie es niemand vor ihm versucht hat. Sein Werk ist ein Museum französischer Sprachgeschichte“. Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 7: „Vielmehr hat Tacitus in den drei Schriften (sc. Agricola, Germania, Dialogus) von den drei Stilarten, die für die literarische Kunst der Epoche maßgebend sind, Proben gegeben, die seine literarische Befähigung in ihrem Glanze dartun sollten. Es ist der archaisierende, der ciceronische und der eigentlich aus dem Geist des Jahrhunderts entwickelte Stil. Um es kurz zu sagen: der ‚Agricola‘ ist im Stile Sallusts, die ‚Germania‘ im Stile Senecas, der ‚Dialog‘ im Stile Ciceros geschrieben, alle drei im Stoff, in der Komposition, in der Schreibart auf diese Muster hinweisend“. Tendenziell ähnlich Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 138: « Uniforme et unique à première vue, l’idiome de l’historien comporte bien des divergences, selon les cas». Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 301 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux): „Als der große deutsche Kritiker ihm geschrieben hatte, in seinen Augen sei er der größte klassische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, da hat er mir den Brief gezeigt; ich höre ihn noch: ‚Ich bin sehr stolz; ‚klassisch‘, das ist großartig! Vor allem, wenn es ein Mann mit dem Können und der hohen Bildung von Curtius gesagt hat“. Karlheinz Stierle, Marcel und die Arena-Kapelle, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 179, 190, zitiert Proust mit den Worten: «Je crois que tout art véritable est classique, mais les lois de l’esprit permettent rarement qu’il soit, à son apparition, reconnu pour tel ». Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 38: „In den Farben, mit denen er das Neue, das Gegenwärtige schildert, fließt so eine altmeisterliche Tonigkeit ein, ein Extrakt reifer Kulturen, ohne doch irgendwie die Fähigkeit des Künstlers zur unmittelbaren und ursprünglichen Erfassung der Wirklichkeit zu beeinträchtigen. Was andere Geister lähmt, belastet, gefährdet und an eigener Ausprägung hindert, das scheint im Gegenteil bei Proust der schöpferischen Ausdruckskraft erst ihre weiteste Freiheit zu geben, weil seine biegsame Geistigkeit den überlieferten Bildungsstoff beseelt“.
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seine Art in dem Bewusstsein, dass sie die letzten Vertreter einer stilistischen und literarischen Tradition waren, die kaum weniger als zwei Jahrhunderte zurückreichte und nach ihnen schwerlich auf dieser Höhe fortgesetzt werden würde.⁷⁹³ Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, dasjenige Verhalten der gealterten Françoise im Hinblick auf Tacitus zu betrachten, was Marcel zunehmend irritiert: „Trotz aller meiner Kritik behielt sie auch ihre hinterhältige Art bei, in indirekter Form Fragen zu stellen, wobei sie sich seit einiger Zeit eines gewissen ‚weil doch sicherlich‘ bediente“ (VII 89).⁷⁹⁴ – « Elle gardait malgré toutes mes critiques sa manière insidieuse de poser des questions d’une façon indirecte pour laquelle elle avait utilisé depuis quelque temps un certain‚ ‚parce que sans doute‘ » (TR I 73). Tacitus verfährt rhetorisch weniger durchsichtig, indem er mitunter leutselig eine diskreditierende Handlungsalternative in den Raum stellt, die beim Leser den Keim des Zweifels sät, sich festsetzt und ihn eher früh als später in der Überzeugung zurücklässt, die dem Herrscher ungünstigere Verhaltensweise komme letztlich vordringlich in Betracht. Es handelt sich dabei allerdings um eine stilistische Besonderheit, die man bei Tacitus ebenso findet wie bei Proust. Jener eröffnet dem Leser nämlich mit Vorliebe zwei Möglichkeiten durch eine ‚sive…sive‘ zur Wahl, mit denen ein bestimmtes Ereignis oder öfter noch Verhalten erklärt werden kann und mit denen er den Leser lenkt,⁷⁹⁵ das Schlechtere anzunehmen:⁷⁹⁶ ‚sive offensus non petitum, sive ex conscientia, ne quod vetuerat videretur emisse‘ (Agr. 42.2).⁷⁹⁷ Das sprachliche Pendant findet sich bei Proust, der das « soit que…soit que » ebenfalls bevor-
Vittorio Hösle, Moral und Politik. Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, 1997, S. 681, stellt eine für unseren Ausgangspunkt wichtige und hellsichtige Beobachtung im Hinblick auf den taciteischen Stil an, indem er ihn in Bezug zu einem Zeitgenossen Prousts gesetzt hat: „In der Kunst, Religion und Politik gibt es Epochen, die unmittelbar als Spätzeiten erkennbar sind – einem Stil wie demjenigen des Tacitus oder Thomas Mann sieht man sofort an, daß er eine Jahrhunderte währende Stilentwicklung abschließt.“ Was Hösle in Bezug auf Tacitus und Thomas Mann feststellt, trifft wohl auf Marcel Proust mindestens ebenso zu. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Michael Hausmann, Die Leserlenkung in den Tiberius-Büchern und Claudius-Büchern in den Annalen des Tacitus, 2009, zu diesem allgemeinen Stilmittel. Eduard Fraenkel, Tacitus, in: Tacitus (Hg.Viktor Pöschl), 1969, S. 16, 28: „Wie in den Annalen (wo die Wendung in ihrer häufigen Wiederkehr geradezu ermüdet) stellt er auch hier (sc. im Agricola) mehrfach mit sive…sive zwei Deutungen der von ihm erzählten Vorgänge scheinbar zur Wahl; in Wahrheit soll stets die für den Gehaßten ungünstigere Motivierung als die einzig wahrscheinliche wirken“. Donald Sullivan, Innuendo and the “Weighted Alternative” in Tacitus, The Classical Journal 71 (1975), 312; David Whitehead, Tacitus and the loaded Alternative, Latomus 38 (1979), 474.
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zugt,⁷⁹⁸ und zwar aus Gründen, die man ebensogut auf Tacitus anwenden kann.⁷⁹⁹ Für die Ähnlichkeit zwischen Tacitus und der Charakterzeichnung Prousts spricht auch, dass Françoise „einen gewissen Hang hatte, immer das Schlimmste vorauszusehen“ (III 423).⁸⁰⁰ – « mais elle avait un certain penchant à envisager toujours le pire » (G II 190). Die Bereitwilligkeit, stets das Schlechtere anzunehmen, hält Tacitus zwar für eine typische Eigenart der von ihm geringschätzig betrachteten Masse des Volkes: ‚ut es vulgus, ad deteriora promptum‘ (ann. 15.6.2). Sie ist aber ebensogut ein Wesensmerkmal seines eigenen tiefeingewurzelten Pessimismus’, der ihn freilich ebenfalls mit Prousts Françoise verbindet, deren Skepsis bezüglich der Überlebenschancen seiner Großmutter Marcel nicht verborgen bleibt:⁸⁰¹ „in ihrem klarblickenden Pessimismus aber gab sie sie bereits auf“ (III 437).⁸⁰² – « avec sa clairvoyance et son pessimisme elle l’a jugeait perdue » (G II 204). Scheinbar neutral und mit größter historischer Gewissenhaftigkeit geht Tacitus der indirekten Frage nach, ob sein Schwiegervater Agricola eines natürli-
Joseph Lucas, Les obsessiones de Tacite, 1974, S. 103 Fußnote 2, stellt in anderem Zusammenhang ganz allgemein fest: «Il est apparement facile de faire ici une objection massive en citant l’œuvre de Proust, dans laquelle pullulent les explications doubles, tripples ou quadruples de type SOIT QUE…SOIS QUE. Mais quand Proust s’adonne à ce genre d’investigation, il suspend son récit, il cesse de raconter pour analyser. D’autre part, une étude systematique de la tournure soit que…soit que chez Proust, à notre connaissance négligée jusqu’à ce jour, offrirait probablement, pour la compréhension de cet écrivain prestigieux, un intérét particulier, qui ne cederait en rieu à l’étude du même genre que nous entreprenons ici sur Tacite. » – Hervorhebungen auch dort. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, 365, 397, hat dies in so allgemeingültiger Weise auf den Punkt gebracht, dass es mutatis mutandis aus denselben Gründen auf Tacitus zutreffen würde „ou – ou und noch mehr soit – soit enthalten ja in sich den Gedanken der x-Beliebigkeit der ausgewählten Beispiele. Man spürt neben den zwei erwähnten Fällen eine Fülle nicht ausgesprochener. Oft sind die repräsentativen Fälle selbst ein Labyrinth von dunklen Ränken und Machenschaften, in die man blitzhaft Einblick erhält und sie vorbeihuschen wie Filmstreifen“. Ähnlich Walter Benjamin, Zum Bilde Prousts, in: Gesammelte Schriften (Hg. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser), Band II/1, 1977, S. 310, 322: „Genug an die unabsehbare Kette der ‚soit que‘ zu denken, die eine Handlung auf erschöpfende, deprimierende Art im Lichte der unzähligen Motive zeigen, die ihr zugrunde gelegen haben können. Und doch in dieser parataktischen Abflucht kommt zum Vorschein, wo Schwäche und Genie bei Proust nur noch eins sind: die intellektuelle Entsagung, die erprobte Skepsis, die er den Dingen entgegenbrachte“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 120, bezieht es auf die Liebe: „Was man den Pessimismus Prousts nennen kann, ergibt sich aus der immer erneuten, immer hoffnungsloseren Feststellung dieser Unzulänglichkeit.“ – Doch kann man es wohl auch auf die gesamte Befangenheit in der conditio humana verallgemeinern. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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chen Todes gestorben oder ob er nicht doch von Domitians Schergen vergiftet worden sei; letzteres zu behaupten, wolle er nicht wagen: ‚nobis nihil comperti adfirmare ausim‘ (Agr. 43.2). Tacitus kleidet dies nicht von ungefähr in den archaischen Optativ (‚ausim‘). Diese Form hält alles in der Schwebe, formuliert bewusst indirekt und enthält doch in dem vorgeblichen Bemühen um äußerste Neutralität eine unterschwellige Wertung. Es kann demnach schwerlich verwundern, dass der archaische Optativ auch zu den typischen Stilmitteln des Botschafters Norpois gehört: „Jedoch auch ein nicht im gewöhnlichen Sinne, sondern in dem eines alten Optativ verwendeter Indikativ Präsentis war Monsieur de Norpois keineswegs weniger teuer“ (VI 311).⁸⁰³ – « Mais le présent de l’indicatif pris non pas dans son sens habituel mais dans celui de l’ancien optatif n’était pas moins cher à M. de Norpois » (AD 299/300).⁸⁰⁴ Das nachgestellte ‚non ausim‘ dürfte zudem von der sprachlichen Höhe, Seltenheit und mitschwingenden Mehrdeutigkeit vom mutmaßlichen Verständnishorizont seiner Zeitgenossen her betrachtet ähnlich elaboriert geklungen haben wie Prousts: « elle eût écrit comme Tacite » (G II 244).⁸⁰⁵ In diesem Zusammenhang hätte wohl Françoise in der Tat geschrieben wie Tacitus, also zwar mit allem Wissen um die ihr gegenüber der Herrschaft gezogenen Grenzen, doch umso deutlicher in der scheinbar zurückgenommenen, in Wahrheit aber hinlänglich deutlich zur Schau getragenen und überlegenen Kenntnis, die sie als souveräne Beherrscherin in der Kunst des Manipulierens erweist, wie der Erzähler unmittelbar im Anschluss an jene Stelle des Vergleichs mit Tacitus wissen lässt: „Sie war Meisterin in einer Regie, die dem Zuschauer auch in ihrer Abwesenheit jeden Zweifel benahm, daß sie alles wüßte, so daß er diese Gewißheit schon besaß, wenn sie gleich darauf das Zimmer betrat“
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Eduard Fraenkel, Tacitus, in: Tacitus (Hg.Viktor Pöschl), 1969, S. 16, 27 f., fasst den Eindruck, der sich beim Leser einstellt, besonders eindrücklich zusammen: „Tacitus hat sein späteres Lieblingswerkzeug verleumderischer Insinuation schon hier zu vollendeter Eleganz ausgebildet. (…) In unangreifbarer Form wahrt er also den Schein streng unparteiischer Berichterstattung, dann aber bearbeitet er den Leser mit allen Mitteln seiner Kunst derart, daß schließlich niemand mehr an dem Giftmord zweifeln wird“. – ‚Verleumderische Insinuation‘ kommt Françoises beargwöhnter ‚Hinterhältigkeit‘ schon recht nahe (VII 89). Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 420, beobachtet bei Proust „eine ganz lateinische Wortstellung, wie denn überhaupt die lateinischen Infinitivkonstruktionen (und auch Acc. C. inf.) nachgebildet scheinen – es könnte sein, daß Proust den Archaismus und so auch den auf lateinische Sprachgewohnheiten zurückgreifenden sprachlichen Klassizismus‘ bevorzugt, entsprechend seiner sonstigen ästhetisch-klassizistischen Haltung (…). Es könnte also im vorliegenden Fall die latinisierende Konstruktion, weil sie eine latinisierende Konstruktion ist, bei ihm Anklang gefunden haben“. Hervorhebung auch dort.
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(III 477).⁸⁰⁶ – « Elle excellait à régler ces mises en scène destinées à instruire si bien le spectateur, Françoise absente, qu’il savait déjà qu’elle savait tout quand ensuite elle faisait son entrée » (G II 244). Besonders deutlich wird dies am Beispiel eines geradezu komischen Rituals, das im Übrigen Prousts Humor besonders deutlich aufscheinen lässt, nämlich der hartleibigen Ausübung eines vermeintlich angestammten Rechts der Dienstboten, die Marcel ironisch mit einer sakralrechtlichen Färbung beschreibt: „Dieses Ereignis fand meist kurz nach Beendigung jener feierlichen Speisezeremonie statt, die unsere Dienstboten zelebrierten und bei der niemand sie unterbrechen durfte, nämlich ihres Mittagessens; während dieser heiligen Handlung waren sie derart ‚tabu‘ daß sogar mein Vater sich nicht erlaubt haben würde zu schellen, zumal er wußte, daß auch beim fünften Mal ebensowenig wie beim ersten sich irgend etwas rühren würde, so daß er diese Ungehörigkeit noch dazu ganz vergeblich begangen hätte, nicht jedoch ohne Nachteil für sich selbst. Denn Françoise (die, seitdem sie eine alte Frau geworden war, zu allem und jedem ‚ein Gesicht zog‘) hätte nicht verfehlt, ihm den ganzen Tag ein Antlitz zu zeigen, auf dem mit kleinen roten Malen wie in Keilschrift, zwar äußerlich sichtbar, aber doch auf eine schwer zu entziffernde Art, die lange Geschichte ihrer Leiden und die tiefen Gründe ihrer Unzufriedenheit aufgezeichnet standen. (III 17).⁸⁰⁷ – « C’était habituellement peu de temps après que nos domestiques avaient fini de célébrer cette sorte de pâque solenelle que nul ne doit interrompre, appelée leur déjeuner, et pendant laquelle ils étaient tellement ‚tabous‘ que mon père lui-même ne se fût pas plus dérangé au cinquième coup qu’au premier, et qu’il eût ainsi commis cette inconvenance en pure perte, mais non pas sans dommage pour lui. Car Françoise (qui, depuis quelle était une vieille femme, se faisait à tout propos ce qu’on appelle une tête de circonstance) n’eût pas manqué de lui présenter toute la journée une figure couverte de petites marques cunéiformes et rouges qui deployaient au dehors, mais d’une façon peu déchiffrable, le long mémoire de ses doléances et les raisons profondes de son mécontentement » (G I 19/20). Diese humoristische Szene, die weiter unten noch eine nicht minder komische Fortsetzung erfährt (III 31), ist ersichtlich abgestimmt auf jene spätere, wonach Françoise geschrieben haben würde wie Tacitus, ja sie stimmt den Leser bereits darauf ein, indem sie das beredte, vorwurfsvolle Schweigen veranschaulicht, mit dem Françoise Verstöße gegen ihre eingebildeten oder verbrieften Rechte wirkungsvoll sanktioniert, ohne formal ihre Befugnisse gegenüber der Herrschaft zu übertreten. Überhaupt schließt Françoise zu ihren Gunsten, wie es
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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mitunter auch Juristen trotz aller Bedenken gegen die damit einhergehende Erweiterung ihres Rechtskreises machen, mit Vorliebe von der Aufgabe auf die Befugnis: „Denn sie war der Meinung, ihr Aufgabenbereich schließe das Vorrecht ein, zu jeder Zeit in mein Zimmer einzudringen und darin zu bleiben, solange es ihr gefiel. (…)“ (VI 210/211).⁸⁰⁸ – « Car Françoise considérait que sa charge comportait le privilège de pénétrer à toute heure dans ma chambre et d’y rester s’il lui plaisait » (AD 205/206). Die weiter oben genannte Keilschrift-Metapher ist im Übrigen nicht zuletzt deswegen aufschlussreich, weil sie in einem gewissen Kontrast zur HieroglyphenMetapher steht. Sie begegnet an einer zentralen Stelle der ‚wiedergefundenen Zeit‘, an welcher Marcel die bedeutsamsten seiner unwillkürlichen Erinnerungen reflektiert,⁸⁰⁹ wie etwa jene an die berühmte Madeleine (S I 67),⁸¹⁰ und die entscheidenden Zeichen in der Außenwelt zu deuten sucht: „ein Gedanke, den sie nach Art jener Hieroglyphen übersetzten, die zunächst materielle Dinge vorzustellen scheinen. Zweifellos war diese Entzifferung schwierig, aber sie allein gab eine Wahrheit zu lesen“ (VII 273).⁸¹¹ – « une pensée qu’ils traduisaient à la façon de ces caractères hiéroglyphes qu’on croir représenter seulementait des objets materiels. Sans doute, ce déchiffrage était difficile, mais seul il donnait quelque vérité à lire » (TR II 23).⁸¹² Die Hieroglyphen-Metapher kommt bereits in einer weit ausgreifenden Periode des Jean Santeuil vor,⁸¹³ die hier nur auszugsweise wiedergegeben sei, weil sie im Schrifttum als Beispiel für eine vertiefte Beschäftigung Prousts mit Tacitus
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Die Fabel der Welt und das System der schönen Künste. Ovid, Dante, Proust, in: Das lebendige Wort. Begegnungen mit der Antike, 2020, S. 243, 266, mahnt freilich mit Recht, dass „es die elementare Struktur dieser Erinnerung ist, die ein wenig zu schnell unwillkürliche Erinnerung genannt wird, weil sie nur gleichzeitig durch eine spontane Erfahrung und eine Willensanstrengung hervorgebracht wird“. Luzius Keller, Proust lesen, 1991, S. 166, macht bezüglich der kompositorischen Gestaltung und Anordnung innerhalb der Recherche mit Recht geltend: „So steht in der Madeleine-Episode der Sinneseindruck, der die Erinnerung aufbrechen läßt, nicht am Ende, sondern am Anfang der erzählten Handlung, und die Beantwortung der Frage, weshalb unwillkürliche Erinnerung uns Schönheit erfahren läßt, wird von der Erzählung der Erinnerung und Glücksmomente abgetrennt und für den Schluß des Romans aufgespart“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Vermutlich denkt Proust an die Entzifferung der Hieroglyphen durch Champollion, der als erster die zündende Idee hatte, dass sie sich eben nicht aus einer schrittweise Aufeinanderfolge der Bilder, die sie darstellen, erschließen. Näher C. W. Ceram, Götter, Gräber und Gelehrte, 1949, II 11. Marcel Proust, Jean Santeuil précédé de Les Plaisir et les jours, 1896, Bibliothèque de la Pléiade (Hg. Pierre Clarac/Yves Sandre), 1971, S. 23 f.
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begriffen wird:⁸¹⁴ „eine etwas stärker betonte Windung nicht nur mehr weitere hieroglyphische Zeichen sind, sondern Chiffern, die sprechen und die anmutigste Wahrheit von sich geben“ (JS 23).⁸¹⁵ – « une courbe qui s’accentue ne sont plus alors des hiéroglyphes de plus, mais des caractères parlants, exprimant la vérité la plus plaisante » (JS 23/24). Dafür spricht stilistisch in der Tat einiges, wenn man im Sinne des eingangs näher Dargestellten den Satzrhythmus betrachtet, den Luzius Keller am gründlichsten analysiert hat, auch wenn er dort Tacitus nicht ausdrücklich nennt, wohl aber bestimmte Stilmittel oder markante Auffälligkeiten.⁸¹⁶ Diese rücken gerade diesen Satz in eine Nähe zum frühen Stil des Tacitus, wie er
Luzius Keller (Hg.), Marcel Proust Enzyklopädie – Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung, 2009, Eintrag: Tacitus, S. 843: „dass er es tatsächlich auch getan hat (sc. sich vertieft mit Tacitus zu beschäftigen), ersieht man aus gewissen Sätzen Prousts, zum Beispiel dem von Keller (152– 157) analysierten Satz aus dem Vorwort von Jean Santeuil (25 – 26).“ – Allerdings vermisst man eine Begründung für diese Evidenzbehauptung, die sich jedenfalls aus dem Satz selbst nicht unmittelbar erschließt, zumal da die Stelle weit entfernt von jener angeordnet ist, an der Tacitus innerhalb des ‚Jean Santeuil‘ ausdrücklich genannt wird. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Luzius Keller, Proust lesen, 1991, S. 153 f., hebt im Ausgangspunkt insbesondere unter Rekurs auf die Erkenntnisse von Ernst Robert Curtius, Marcel Proust, 1925, die – ja auch für taciteische Perioden geltenden – Herausforderungen an den Leser hervor: „Wir fragen zuerst, weshalb dieser Satz so schwer zu verstehen ist, weshalb man auch bei konzentriertem oder wiederholtem Lesen Mühe hat, bei der Sache zu bleiben und durchzuhalten. Anders als bei den von Curtius und von Spitzer analysierten Sätzen aus der Recherche, die den Leser nur dazu in die Irre führen, um ihn am Ende um so sicherer zu treffen, die ins Unbestimmte abgleiten, weil sie etwas Bestimmtes suchen, oder die den Schlußstein erst so spät setzen, weil ein hohes Gewölbe gebaut sein will (…), scheint sich der Satz aus Jean Santeuil im Hervorquellen der Beispiele heranzubilden, scheint immer weiter anzuwachsen, bis er schließlich als überreife Frucht gepflückt werden muß. Die Schwierigkeiten, die einem spontanen Verständnis des Satzes im Wege stehen, (…) liegen nicht etwa in seiner Länge oder seiner Materialfülle, sondern in der nur schwer erkennbaren syntaktischen Gliederung des Ganzen. (…) Auch retardierende Satzkonstruktionen müssen nicht von vornherein verständlich sein. Alles hängt von der Art und Weise ab, wie die Retardierung bewerkstelligt wird, das heißt von den eingeschobenen Elementen. Diese sind es denn auch, die in unserem Beispiel zu schaffen machen: Auf eine Zeitbestimmung folgen fünf mit ‚où‘ angeschlossene Relativsätze von zunehmender Länge, die ihrerseits durch oft ineinandergeschachtelte Relativ-, Partizipial- und Vergleichssätze oder durch anderer Teile erweitert sind. Ist das Ziel einer Bewegung, nämlich das retardierende Element, erst einmal erreicht, setzt sogleich eine neue Bewegung ein.“ Schon Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 395 Fußnote 1, auf den sich Keller ebenfalls ganz allgemein bezieht, hat bemerkenswerterweise die Möglichkeit erwogen, dass „vielleicht auch die gelegentlichen Konstruktionsschwierigkeiten, die der Leser überwinden muß, absichtlich getürmte Hindernisse sind, die die Schwierigkeiten der Durchleuchtung dieser Welt andeuten sollen“.
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beispielsweise im Dialogus de oratoribus begegnet.⁸¹⁷ Übrigens gehört es zu den kuriosen, wenngleich in diesem Punkt gewiss auf den ersten Blick arbiträren Übereinstimmungen, dass es in den Annalen des Tacitus einen Exkurs über die Entstehung des Alphabets gibt, dessen erster Satz von den Hieroglyphen der Ägypter ausgeht:⁸¹⁸ ‚Primi per figuras animalium Aegyptii sensus mentis effingebant – ea antiquissima monimenta memoriae humanae impressa saxis cernuntur –, et litterarum semet inventores perhibebent‘ (ann. 11.14.1). Bedeutsamer als diese zufällige phänotypische Übereinstimmung sind die ersten Worte der Parenthese⁸¹⁹, weil sie einen Anhaltspunkt auf den nach Tacitus offenbar den Menschen eingestifteten Drang dokumentieren, Geschriebenes zu hinterlassen. Insofern ist die Übereinstimmung zwischen Proust und Tacitus wieder weniger kontingent, als es den Anschein hat, weil beide so ausgeprägt historisch, ja geradezu menschheitsgeschichtlich dachten, wie gerade ihre vielen exkursartigen Ausführungen verdeutlichen – ‚vetustissimi mortalium‘ (ann. 3.26.1) –, dass sie sich auch für die allerersten Schriftzeichen menschlichen Angedenkens und die Möglichkeit der Geschichtsschreibung interessierten. Davon wird im nächsten Kapitel noch die Rede sein. Dort werden aus den ‚monimenta memoriae‘ freilich die ‚monimenta ingeni‘ (ann. 4.61). Kehren wir vor dem Hintergrund dieser exkursartigen Ausführungen zurück zu jener Stelle, an der die Keilschrift-Metapher im Hinblick auf Françoises Reaktion zur Beobachtung der Vorliebe Prousts führte, archaische Schriftzeichen zum Stilmittel seiner Darstellung zu erheben (G I 19/20). Denn Françoises subtile Art, der Herrschaft Grenzen zu ziehen und sie ins Leere laufen zu lassen, wird mit dem beinahe taciteischen Nachsatz untermalt, dass der zum Scheitern verurteilte Versuch der Rechtsdurchsetzung eher zu weiteren Nachteilen geführt hätte. Es ist die aus Menschenkenntnis gewonnene resignative Einsicht in die durch Beharrungskräfte geprägten wirklichen Herrschaftsverhältnisse: „Aber wenn sich die Einschränkungen, die sich aus ihrer dienenden Stellung ergaben, sie nicht daran gehindert hatten, eine Methode auszubilden, die für die in Angriff genommene Tacitus, dial. 13.6, mit einer vergleichbaren Reihung rhetorischer Fragen sowie der daran anschließenden alles entlarvenden und pointierten Antwort: ‚nam Crispus iste et Marcellus, ad quorum exempla me vocas, quid habent in hac sua fortuna concupiscendum? Quod timent, an quod timentur? Quod, cum cottidie aliquid rogentur, ii quibus praestant indignantur? Quod adligati omni adulatione nec imperantibus umquam satis servi videntur nec nobis satis liberi? Quae haec summa eorum potentia est? tantum posse liberti solent.ʻ Zu dieser Stelle, deren Schlusssatz ja bereits weiter oben zitiert wurde, Michael Winterbottom, Tacitus, Dialogus 13.4, The Classical Quarterly 49 (1999), 338; Clarence W. Mendell, Tacitus. The Man and his Work, 1957, S. 24 f. Dazu Eleonore Hahn, Die Exkurse in den Annalen des Tacitus, 1933, S. 55 f. Manfred Fuhrmann; Tusculum-Ausgabe der Annalen (Hg. Erich Heller), 3. Auflage 1997, S. 465, übersetzt sie treffend: „diese ältesten Denkmäler menschlichen Überlieferungsstrebens“.
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Kunst ganz unerlässlich war – und die darin bestand, uns durch Mitteilung von Ergebnissen in verlegenes Staunen zu versetzen – so hatte der Zwang noch mehr getan; hier hatte die Hemmung sich nicht damit begnügt, die Entfaltung lahmzulegen, sondern machtvoll an ihr mitgewirkt“ (III 475/476).⁸²⁰ – « Mais si les gênes qui resultaient de sa position de domestique ne l’avaient pas empêchée d’acquerir une science indispensable à l’art qui en était le terme – et qui consistait à nous confondre en nous en communiquant les résultats, – la contrainte avait fait plus; là l’entrave ne s’était pas contentée de ne pas paralyser l’essor, elle y avait puissament aidé » (G II 243). Man erkennt in der Person Françoises jene von Proust wie von Tacitus gleichermaßen bevorzugte Paradoxie, dass die Herrschenden ihrerseits von ihren Geliebten, Dienern oder Ratgebern – sei es auch nur, was die Sache aber nicht besser macht, in ihrer Vorstellung – beherrscht werden und dass sie selbst dann, wenn sie sich ihrer, wie die von Tacitus beschriebenen Tyrannen, gewaltsam entledigen, in ihrer Einsamkeit von ihren Ängsten beherrscht werden. Proust wusste ebenso wie Tacitus, dass der innere Gerichtshof des schlechten Gewissens die unerbittliche letzte Instanz ist.⁸²¹ Der Gedanke, dass die zwangsweise gehemmte Entfaltung der Kräfte – wenn auch natürlich nicht in der soeben gesehenen destruktiven Weise – letztlich der in Angriff genommenen Kunst zur Durchsetzung verhilft, entspricht ganz und gar dem Agricola-Proömium mit seinem einen Nachhall entfaltenden ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2). Zugleich ist es die Initialzündung, um zu den größeren Geschichtswerken bis hin zum größten Kunstwerk des Historikers in Gestalt der Annalen zu gelangen.
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Victor Hugo, Les Châtiments, 1853, in: Œuvres poétiques, Bibliothèque de la Pléiade (Hg. Pierre Albouy), Tome II, 1967, S. 71, 76, mit seinen Nennungen des Tacitus und seines Zeitgenossen Juvenal ist auch in diesem Zusammenhang zu erwähnen, weil er zumindest nach Auffassung von Arlette Michel/Alain Michel, Juvénal dans les ‘Châtiments’, Colloque organisé par la Société des Études Romantiques les 17 et 18 janvier 1976 sur Châtiments de Victor Hugo, Clermont-Ferrand: Société des Études Romantiques, 1977, S. 48, 52, gerade durch die Bezugnahmen auf Juvenal (Pl. S. 170 ff.) und Tacitus (Pl. S. 71, 76) das Gewissen und die Geschichtsschreibung als Instanzen begriffen habe. Siehe dazu auch die Zusammenfassung von Christiane Höhne, Victor Hugo: Ein Feind der offenen Gesellschaft? Eine Interpretation von Napoleon-le-Petit et Les Châtiments auf Basis der Historizismus-Kritik Karl Poppers, 2015, S. 232 f.: „In diesem Kontext erklären sich auch die vielen Verweise auf Juvenal (Satiren) und Tacitus (Annalen). (…) Diese Gewissensphilosophie (sc. Juvenals) verbinde Hugo mit der des Tacitus, der das Gewissen weniger subjektiv ansehe als Juvenal und es quasi mit der Geschichte gleichsetze. Aufgrund der Betonung des Gewissens, verbunden mit der der göttlichen Gerechtigkeit, und der der moralischen Aufgabe der Satire bzw. der Geschichtsschreibung nenne Hugo Juvenal und Tacitus in Châtiments oft als Vorbilder seiner eigenen Lyrik“.
VI. « La loi cruelle de l’art » Bereits am Ende des ersten Kapitels war die Rede von dem taciteischen ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61), wonach die mühevolle Arbeit angestrengten Nachdenkens in die Nachwelt wirkt und dort sogar noch stärker zur Geltung kommt.⁸²² Es ging dabei um den Sorbonne-Professor Brichot, der das Agricola-Wort (Agr. 3.2) ausgesprochen hat (P I 263). Allerdings erschien dieser im Hinblick auf den taciteischen Nachruf, dem das eingangs zitierte Wort entstammt, gerade umgekehrt als diejenige Person in den Annalen, die für Vergänglichkeit steht, weil ihre Beredsamkeit nur für den Augenblick wirkt und schon in dem Moment des physischen Ablebens so endgültig versiegt, dass von ihr über den Tod hinaus nichts übrigbleibt: ‚sic Haterii canorum illud et profluens cum ipso simul exstinctum est‘ (ann. 4.61). Dasselbe ließe sich an Stelle des genannten Haterius über Brichot und seine wohlklingenden Reden im Salon der Verdurins oder seine kurzlebigen Zeitungsartikel sagen. Wie sehr in dieser Hinsicht Tacitus und Proust übereinstimmen, zeigt dessen Begriffsbestimmung der Nachwelt im Hinblick auf das Werk: „Was man die Nachwelt nennt, ist das Fortleben des Werkes. Das Werk muß ganz für sich allein (…) sich selbst seine Nachwelt bereiten“ (II 140).⁸²³ – « Ce qu’on appelle la postérité, c’est la postérité de l’œuvre. Il faut que l’œuvre (…) crée elle-même sa postérité » (JF I 140). Diese Vorstellung des Autors von der Nachwelt, die nicht als unbestimmte Menge von Personen, Generationen und Zeiten definiert wird, sondern allein vom eigenen Werk aus, das sich kraft seiner Dignität Geltung verschafft, läuft auf eine Neubestimmung hinaus, weil sie sogar von der Person des Urhebers absieht und sich das Werk losgelöst vom Verfasser gleichsam verselbständigt.⁸²⁴ Es war wieder einmal Ronald Syme, der dem bis dahin, wenn überhaupt je, selten zitierten Tacitus-Wort die gebührende Achtung erwiesen hat: ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61).⁸²⁵ Syme hat ja, wie erinnerlich, als erster den fragmentarisch erhaltenen Versuch unternommen, Proust und Tacitus zusammenzuführen und in Vorträgen zu diesem Thema zu sprechen. Das zitierte Tacitus-Wort jedoch hat er noch an zwei anderen Stellen seines reichhaltigen Grundlegend Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 132, betrachtet es unter dem Gesichtspunkt der Zeitlichkeit: „Das Werk ist eine Figur jenseits der Zeit, die doch nur in der Zeit und unter dem Druck der Zeit hervorgebracht werden kann“. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II, S. 624 Fußnote 3. https://doi.org/10.1515/9783110647440-007
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Werkes aufgegriffen, die jede für sich für den vorliegenden Zusammenhang von Interesse sind, wenngleich er es dort nicht auf Proust bezieht. Beide Stellen markieren den Endpunkt des jeweiligen Werkes. Das Spätwerk über ‚History in Ovid‘ läuft auf das Tacitus-Wort zu und ist deswegen interessant, weil Syme es dort auf den Ewigkeitsgehalt eines dichterischen Werkes zurichtet.⁸²⁶ Denn um diesen wird es weiter unten noch im Hinblick auf Proust gehen.⁸²⁷ Im Unterschied dazu ist es bei Ovid, den Proust in der Recherche wiederholt erwähnt (IV 618; VII 151), der mit den Mitteln der Dichtkunst ausgetragene Kampf gegen den Kaiser Augustus,⁸²⁸ den er als im Jahre 9 nach Christus lebenslänglich Verbannter und auch unter dessen Nachfolger Tiberius nicht mehr Begnadigter vorderhand verloren hat, obwohl selbst eine Begnadigung Ausdruck von Willkür gewesen wäre.⁸²⁹ Das wusste übrigens auch Marcel aus dem bereits eingangs behandelten ‚Drama des Zu-Bett-gehens‘: „Selbst in Gestalt dieser Gnadenerweisung behielt das Verhalten meines Vaters mir gegenüber etwas Willkürliches und Unverdientes, was sich daraus erklärte, daß es das Resultat mehr einer willkürlichen Anpassung an die Umstände eines vorgefaßten Plans war“ (I 53/ 54).⁸³⁰ – « Même à l’heure où elle se manifestait par cette grâce, la conduite de mon père à mon égard gardait ce quelque chose d’arbitraire et d’immérite qui la caractérisait et qui tenait à ce que généralement elle résultait plutôt de convenance fortuites que d’un plan prémédite » (S I 57). Gleichwohl begreift Syme die Tristien letztlich als einen Sieg Ovids, weil dieser es durch seine Exildichtung in einem Akt der dichterischen Selbstbehauptung verstanden habe,⁸³¹ die künstlerische Freiheit unter widrigsten Bedin-
Ronald Syme, History in Ovid, 1978, S. 229. Karlheinz Stierle, Das große Meer des Sinns. Hermaneutische Erkundungen in Dantes „Commedia“, 2007, S. 428, hat diesen Zusammenhang bereits für Ovid Dante und Proust in bahnbrechender Weise fruchtbar gemacht: „Deshalb finden wir bei Ovid ebenso wie bei Dante und Proust einen Willen zum Werk, der vom Werk das Höchste verlangt.“ – Das gilt wohl gleichfalls für Tacitus. Dass übrigens auch Dante der dauerhafte literarische Nachruhm als Fernziel vor Augen stand, ergibt sich aus einer versteckten Stelle seines Werkes, nämlich dem Beginn der Monarchia: ‚ut palmam tanti bravii primus in meam gloriam adipiscar‘ (I i 5). Wichtig Jürgen Paul Schwindt, Thaumatographia oder Zur Kritik der philologischen Vernunft. Vorspiel: Die Jagd des Aktaion (Ovid, Metamorphosen 3, 131– 259), 2016. Jens Petersen, Recht vor Gnade in Ovids Tristien, Gedächtnisschrift für Hannes Unberath, 2015, S. 351. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ähnlich im Hinblick auf Dante Karlheinz Stierle, Dante Alighieri, Dichter im Exil. Dichter der Welt, 2014; dazu Jens Petersen, ARSP 102 (2016), 306 – 309.
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gungen aufrechtzuerhalten und schon dadurch Unsterblichkeit zu erlangen.⁸³² Syme kommentiert dies in doppeltem Sinne taciteisch, obwohl Tacitus davon in den Annalen, da es keine politisch relevante Begebenheit ist, keinerlei Notiz nimmt:⁸³³ “,Nam contra punitis ingeniis gliscit auctoritas.‘ In short and to conclude, the poet won his war with Caesar. Industry, tenacity, and style prevailed. As the historian proclaims in another context, ‚meditatio et labor in posterum valescit‘.”⁸³⁴ Das erstgenannte Zitat stammt aus der bereits weiter oben behandelten Rede des Cremutius Cordus, in der es ebenfalls um das Überleben vor der Nachwelt geht (ann. 4.35.5).⁸³⁵ Tacitus verspottet dort im Übrigen diejenigen Herrscher, die meinen, dass man durch die Anordnung von Bücherverbrennungen das Ansehen vor der Nachwelt auslöschen könne: ‚quo magis socordiam eorum inridere libet, qui praesenti potentia credunt exstingui posse etiam sequentis aevi memoriam‘ (ann. 4.35.5).⁸³⁶ Dazu passt, dass im Agricola kurz vor dem ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2) von Bücherverbrennungen unter Domitian die Rede ist, durch die das Andenken an die besonders herausragenden Geistesgrößen ausgemerzt werden sollten: ‚monumenta clarissimorum ingeniorum‘ (Agr. 2.1). Kehren wir vor diesem Hintergrund zurück zu Symes Anwendung des ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61) auf Ovid. Auch wenn es sich in beiden Fällen um Weltliteratur handelt, kann man Ovids Spätwerk ungeachtet seiner selbstbiographischen Seite mit Prousts Recherche schwerlich vergleichen, weil jenes unter politischem Druck entstand, dieses in selbstgewählter Einsamkeit und Freiheit. Doch haben wir andererseits in jener erhabenen Periode, in welcher Marcel über Françoise sagt « elle eût écrit comme Tacite » (G II 244), gesehen, dass für ihn das selbstauferlegte künstlerische Gesetz in Gestalt der Diktatur einer Poetik in einem Atemzug genannt werden konnte mit einer despotischen Herrschaft, von der, wie
Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 135, nennt zwar Ovid im Rahmen seiner Gegenüberstellung von Proust und Tacitus an der folgenden Stelle nicht ausdrücklich, meint ihn aber offenbar zumindest ebenfalls: « Et louons Proust d’avoir deviné, d’avoir énoncé, une des grande vérités de l’historiographie, à moins de le réduire à un désespoir total, le despotisme est une bonne école pour l’historien: la contrainte ou l’exil ont enfanté pas mal de chefs-d’œuvre. » – Gerade das letztgenannte Wort ist besonders treffend, weil es Prousts Wortgebrauch und literarischem Anliegen entspricht, wie wir sogleich sehen werden. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, § 1. Ronald Syme, History in Ovid, 1978, S. 229. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 519, 538 f., zu dieser von Ovid erstrebten Möglichkeit. Siehe auch dazu Ronald Syme, History in Ovid, 1978, S. 229: “to punish literature is only to enhance its potency, foreign tyrants and their cruel emulators only bring eternal infamy on themselves, renown to authors”.
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gesehen, auch unter Augustus und seinem Nachfolger Tiberius die Rede sein konnte, die beide Ovid die ersehnte Begnadigung oder zumindest die Verlegung an einen angenehmeren Verbannungsort versagt haben.⁸³⁷ Bei Proust war es allerdings eher die tödliche Krankheit, die ihn zum Gefangenen machte und der er vor allem sein literarisches Werk abringen musste. Am ehesten kann man es daher mit jenem Moment vergleichen, von dem Céleste Albaret berichtet, als sie eines morgens im Frühjahr 1922 überraschend zu ihm gerufen wurde und er ihr eröffnete, er habe in der Nacht das Wort ‚fin‘ geschrieben, so dass er in Ruhe sterben könne.⁸³⁸ Das Bewusstsein der literarischen Vollendung sah er offenbar paradoxerweise gerade in Ansehung des nahenden Todes als künstlerische Überlebensversicherung an, auch wenn sein eigener Rang der Öffentlichkeit trotz der Zuerkennung des renommierten Prix Goncourt noch nicht vollständig offenbar war. Die geistige Unabhängigkeit Prousts von weltlichen Ehren – und schienen sie auch den Rang eines Unsterblichen im übertragenen Sinne zu verheißen wie die Mitgliedschaft in der Akademie Française – sowie sein Wissen um den Rang eigenen Rechts zeigt folgende Stelle: „Er hatte gehört, er besitze Genie, doch er glaubte es nicht, daß er auch weiterhin höfliche Ergebenheit mittelmäßigen Schriftstellern gegenüber zur Schau trug, um demnächst Mitglied der Akademie zu werden, während in Wirklichkeit die Académie Française oder der Faubourg Saint-Germain nicht mehr zu tun haben mit jenem Teil des ewigen Geistes, der der wahre Autor der Bergotteschen Bücher war, als mit dem Kausalitätsprinzip oder dem Gottesgedanken“ (II 174). – « Il avait appris qu’il avait du génie, mais il ne le croyais pas puisqu’il continuait à simuler la déférence envers des écrivains médiocres pour arriver à être prochainement académicien, alors que l’Académie ou le faubourg Saint Germain n’ont pas plus à voir avec la part de l’Esprit éternel laquelle est l’auteur des livres de Bergotte qu’avec le principe de Causalité ou l’idée de Dieu » (JF I 175). Prousts unbestechlicher Kunstsinn war endgültig erhaben über eine Institution, deren Postengeschacher von der wahren Kunst weiter entfernt ist als von den
Jens Petersen, Recht vor Gnade in Ovids Tristien, Gedächtnisschrift für Hannes Unberath, 2015, S. 351. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 322, 325 f. (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux): „,Nun, meine liebe Céleste, ich werde es Ihnen sagen. Es ist eine große Neuigkeit. Heute habe ich das Wort ‚Ende‘ geschrieben.‘ Immer noch lächelnd und mit strahlenden Augen hat er hinzugefügt: ‚Jetzt kann ich sterben. (…) Wichtig ist nur, daß ich von jetzt an nicht mehr besorgt bin. Mein Werk kann erscheinen. Ich werde mein Leben nicht umsonst geopfert haben‘“.
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ewigen Dingen.⁸³⁹ Er hat folgerichtig auch die Aufnahme in das Institut de France wunderbar ironisiert (III 337– 347), indem er einen reichen deutschen Fürsten, der an sich alles im Überfluss hat, sich aber für die Aufnahme als korrespondierendes Mitglied der Académie des sciences morales et politiques verzehrt, bei dem einflussreichen Mitglied Norpois darum buhlen lässt, der gleichsam als Türöffner fungiert und sich seiner Machtposition nur zu bewusst ist, indem er immer wieder neue Hindernisse auftürmt und erst einlenkt, als der Fürst innerlich schon aufgegeben hat:⁸⁴⁰ „Mit einem Gefühl unaussprechlichen Vergnügens konnte der Fürst feststellen, dass das Schloß nunmehr nachgab, der Schlüssel endlich paßte“ (III 346).⁸⁴¹ – « Avec un sentiment de plaisir inexprimable le prince sentit que la serrure ne résistait pas et qu’enfin cette clef-là y entrait » (G II 113).⁸⁴² Die wissenschaftliche Qualifikation spielt an keiner Stelle eine Rolle. Vielmehr entscheiden immer nur die persönlichen Befindlichkeiten und Seilschaften sowie die diplomatischen Winkelzüge und wechselseitigen Abhängigkeiten, so dass für die Aufnahme in das Institut de France keinerlei fachliche Fähigkeiten vonnöten sind. System und Methode beziehen sich demzufolge nicht auf die Sache selbst, sondern ausschließlich auf die prozeduralen Schliche zur Befriedigung der Eitelkeit (III 195): „In einer privaten Angelegenheit nun, wie diese Bewerbung um die Aufnahme in das ‚Institut de France‘ es war, hatte der Fürst die gleiche induktive Methode und das gleiche System des Lesens zwischen den Zeilen angewendet wie in seiner gesamten Laufbahn“ (III 343).⁸⁴³ – « Or, dans une affaire privée comme cette présentation à l’Institut, le prince avait usé du même système d’induction qu’il avait dans sa carrière, de la même méthode de lecture à travers les symboles superposés » – (G II 110). Die hehren Begriffe System und Methode, an sich Ausweis strenger Wissenschaftlichkeit und Wahrheitssuche, werden zum ränkereichen Vorgehen kaltblütiger Machtstrategen im blasierten Eigeninteresse herabgewürdigt und banalisiert; stilistisch vermittelt durch das anaphorische ‚même‘, dessen alliterierende Wirkung mit der ‚méthode‘, die Dinge
Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 300 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), vermutet für den Fall, dass Proust länger gelebt hätte: „Er wäre vermutlich auch in die französische Akademie aufgenommen worden, und ich glaube mich bestimmt nicht zu irren, wenn ich sagen würde, daß er stolz darauf gewesen wäre, weil dann die Voraussage seines Vaters wahr geworden wäre, der überall verkündet hatte: ‚Sie werden sehen, daß Marcel eines Tages in die französische Akademie aufgenommen wird‘“. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 141, notiert mit Recht: « fausseté, partout par exemple, Norpois et les deux candidatures à l’Académie des Sciences morales ». Übersetzung Eva Rechel-Mertens. ‚Plaisir inexprimable‘ ist hier ersichtlich graduell abzugrenzen vom berühmten ‚plaisir délicieux‘ (S I 67) der Madeleine. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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vollends auf den Kopf stellt – zugleich eine Ausprägung Proustscher Ironie. Auf dieselbe Weise ironisiert Tacitus die unter Claudius sinnentleerten Begriffe der Milde und Gerechtigkeit:⁸⁴⁴ ‚clementiam ac iustitiam‘ (ann. 12.11.2).⁸⁴⁵ Dieses – nicht von ungefähr mit dem bereits verschiedentlich beobachteten ‚Sesam‘ verbundene⁸⁴⁶ – Schlüssel-Motiv im Bewusstsein persönlichen Einflusses findet sich später auch bei Charlus: „Das ‚Sesam‘ des Hauses Guermantes und aller derer, bei denen es sich lohnt, daß ihre Tür sich Ihnen öffnet, ist in meiner Hand. Ich möchte die Stunde bestimmen und Herr der Lage sein“ (III 387).⁸⁴⁷ – « Le ‚Sésame‘ de l’hôtel Guermantes est de tous ceux qui valent la peine que la porte s’ouvre grande devant vous, c’est moi qui le détiens. Je serais juge et entends rester maître de l’heure » – (G II 154).⁸⁴⁸ Im französischen Original kommt dies durch das juristisch konnotierte ‚juge‘ besonders deutlich zum Ausdruck. Man begreift aufs neue, warum Ronald Syme den Kaiser Tiberius, der sich mit Vorliebe als Richter sah (ann. 1.75.1),⁸⁴⁹ mit dem Baron de Charlus verglichen hat.⁸⁵⁰ Die Schlüsselgewalt als gesellschaftliches Herrschaftsinstrument ist bei Proust ebenso allgegenwärtig wie bei Tacitus die Angst der Senatoren vor der Verbannung durch den Princeps oder auch nur dem Entzug der amicitia (ann. 3.24.4). Zugleich zeigt die Episode über die Aufnahme in das Institut de France, wie sich Marcel von den Äußerlichkeiten höchster gesellschaftlicher Ehren ironisch umso mehr distanziert, als ihm deren Abstand von der wahren Kunst bewußt wird, die allein bleibenden Nachruhm verspricht, freilich weniger der Person als vielmehr des Werkes selbst. Wie spießig erscheint demgegenüber Brichot, der, obgleich Sorbonne-Professor und Mitglied des Instituts de France, im Salon der Verdurins „den Universitätslehrer abzulegen glaubte, wenn er sich hier Freiheiten gestattete, die ihm im Gegenteil nur als solche erschienen, weil er im Grunde
Zur folgenden Stelle und ihrem Umfeld Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 361. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. I, S. 414, zur clementia bei Claudius: “It is evident that Tacitus will tend either to avoid this governmental term, or to apply it ironically”. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 83 f., betont noch eine andere, ebenfalls erschließende Bedeutung: „Für Proust sind die Bücher nicht mehr ein ‚Sesam‘ für das intelligible Reich des ewig Schönen, sondern vielmehr ein Kalendarium für eine verlorene Zeit“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Das beim Tacitus-Zitat wiederholt erwähnte ‚Sesam-öffne-Dich‘ wird im Schrifttum als erinnerungserschließendes Moment behandelt; siehe vor allem Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 9 f. Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 67 f. Ronald Syme, History or Biography. The Case of Tiberius Caesar, Historia 23 (1974), 481, 496.
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blieb, was er war“ (I 333).⁸⁵¹ – « il croyait dépouiller l’universitaire en prenant avec eux des hardiesses qui, au contraire, ne lui paraissaient telles, que parce qu’il l’était resté » (S II 51/52).⁸⁵² Erst als er ohne streberhaften Bildungsprunk in einem Moment spürbaren Staunens über einen langen Zeitraum unwiderbringlich vergangener Lebenszeit das taciteische ‚grande mortalis aevi spatium‘ ausspricht, gewinnt er über die Sympathie Marcels hinaus geistige Größe. Auch in anderer Hinsicht vergleichbar verhält es sich bei Tacitus, aus dessen frühem Dialog über die Redner noch der unverhohlene Ehrgeiz und Stolz des homo novus bezüglich der Aussicht auf einen Sitz im Senat herauszulesen ist (dial. 7.1), während er in den Annalen vor allem die abgrundtiefe Niedrigkeit serviler Senatoren schildert (ann. 1.7.1; 14.64.3). Als langjährigem Senator waren ihm die liebedienerischen Verfehlungen seines Standes nur zu bewusst, und als Historiker war er nicht geneigt, sie zu verschweigen, damit die Nachwelt von ihnen erfahre: ‚neque tamen silebimus, si quod senatus consultum adulatione novum aut patientia postremum fuit‘ (ann. 14.64.3).⁸⁵³ Der geistige Rang und die innere Freiheit des Einzelnen standen schließlich bei Tacitus wie bei Proust in abgeklärter Einsicht der eigenen Fähigkeiten über der Mitgliedschaft in noch so altehrwürdigen Einrichtungen. Dass Tacitus durch die Aufnahme in ein hohes Priesteramt und mit dem Konsulat zu höchsten Würden gelangte, verblasst hinter seinem Werk, in das es zur beglaubigenden Einschätzung historischer Geschehnisse nur diskret Eingang fand (ann. 11.11.1).⁸⁵⁴ Die ewige Dauer – « la durée éternelle » (TR II 248) –, kann mithin nur erreicht werden durch die Teilhabe am « Esprit éternel » (JF I 175). Sofern dieses Erfordernis der eigentliche Urheber der Bücher Bergottes gewesen sein sollte,⁸⁵⁵ dann setzt
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Michael von Albrecht, Geschichte der römischen Literatur, Band 2, 3. Auflage 2012, S. 945, beobachtet am taciteischen Stil eine Abneigung, die, wenn man sie auf Proust anwendet, beinahe passgenau auf das zutrifft, was Brichots nationalistischem Schwadronieren im Salon der Verdurin während des Krieges entspricht: „Der Historiker verabscheut abgegriffene Schlagwörter des politischen Lebens und geht ihrem Bedeutungsverlust nach: ‚Freiheit‘ ist bald ein Deckwort für ‚Macht‘ (…), ‚Zivilisation‘ für ‚Unterwerfung‘ (Agr. 21)“. Anthony J. Woodman, Tacitus Reviewed, 1998, S. 94; Jens Petersen, Recht bei Tacitus, 2019, S. 549, jeweils zu dieser Stelle. Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 12: „Dem Senator und Consular aber stand die Prosa, zumal die Historie (…) besser zu Gesichte: sie war das eigentliche Gebiet vornehmer Schriftstellerei“. Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 28, präzisiert: „Bergotte schließlich wird Marcel den glänzenden Anschein schriftstellerischer und ästhetischer Vollkommenheit vermitteln, ohne daß diese doch einer inneren Notwendigkeit folgte“.
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dies eine Theorie der Kunst voraus, wie sie Proust in seinem Flaubert-Essay gemeint haben dürfte, die er in der ‚wiedergefundenen Zeit‘ entfaltet hat: « toute ma théorie de l’art ».⁸⁵⁶ Allerdings erfolgt die Entfaltung dieser Kunsttheorie in der Recherche weniger schwerblütig, als man glauben könnte.⁸⁵⁷ Denn „ein Buch, das Theorien enthält, ist wie ein Gegenstand, an dem noch das Preisschild hängt“ (VII 278). – « Une œuvre où il y a des théories est comme un objet sur lequel on laisse la marque du prix » (TR II 29). Marcels Zweifel richteten sich zwischenzeitlich sogar auf die Frage, ob es auch in der Kunst einen verdrängenden Fortschritt nach Art der Wissenschaft gebe oder ob jene dieser – wie interessanterweise nahezu zeitgleich Max Weber annahm⁸⁵⁸ – durch ihren potentiellen Ewigkeitswert überlegen sei, was er zuvor schon einmal in Frage gestellt hatte (II 541):⁸⁵⁹ „Schließlich fragte ich mich sogar, ob die Unterscheidung eigentlich auf Wahrheit beruht, die wir immer zwischen der Kunst, die seit den Zeiten Homers nicht weitergekommen sein soll, und der Wissenschaft mit ihren unaufhörlichen Fortschritten machen. Vielleicht glich vielmehr im Gegenteil die Kunst darin der Wissenschaft; jeder neue und neuartige Schriftsteller schien mir einen Fortschritt über den hinaus zu bedeuten, der ihm vorangegangen war“ (III 434).⁸⁶⁰ – « Et j’arriverai à me demander s’il y avait quelque vérité en cette distinction que nous faisons toujours entre l’art, qui n’est pas plus avancé qu’au temps d’Homère, et la science aux progrès continus. Peut-être l’art ressemblait-il au contraire en celà à la science; chaque nouvel écrivain original me semblait en progrès sur celui qui l’avait précédé » (G II 201).⁸⁶¹
Marcel Proust, À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72, 89. – Dass die zuletzt zitierte Stelle aus der Recherche (JF I 175) zu den zentralen Aussagen des Flaubert-Essay in einem inneren Kausal- und Verweisungszusammenhang stehen, zeigt sich auch daran, dass Proust gleich in dessen erster Fußnote ebenfalls das Prinzip der Kausalität nennt. Siehe auch Luzius Keller, Literaturtheorie und immanente Ästhetik im Werke Marcel Prousts, in: Marcel Proust. Lesen und Schreiben (Hg. Edgar Mass/Volker Roloff), 1983, S. 153. Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 7. Auflage 1988, S. 582, 592; dazu Jens Petersen, Max Webers Rechtssoziologie und die juristische Methodenlehre, 3. Auflage 2020, S. 136. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 126, verdeutlicht am Beispiel des Schlusses der ‚Prisonnière‘ etwas, das wohl darüber hinaus gültig ist und in einem gewissen Tasten nach Wahrheit an der im Text folgenden Stelle zum Ausdruck kommt: „Daß sich in der Kunst das Reich der wahren Wirklichkeit eröffnet – diese Möglichkeit wird zunächst als Hypothese aufgestellt, wird auch dem methodischen Zweifel unterworfen, gewinnt aber schließlich eine Wahrscheinlichkeit, die an Evidenz grenzt“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 208 f., spricht am Beispiel dieser Stelle ebenso treffend wie tiefdringend von der „Zeitverfallenheit der Kunst“. Siehe zu diesem beeindruckenden Werk auch Christine Ott, „Große
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Betrachten wir vor diesem Hintergrund erneut Ronald Symes hellsichtige Erwähnung des Annalen-Wortes, von der wir ausgegangen sind: ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61). Der große Tacitus-Forscher hat dieses Zitat nämlich mit Bedacht nicht nur in sein Ovid-Buch sowie in sein Proust-Fragment eingearbeitet,⁸⁶² sondern vor allem in die letzte Fußnote seines opus summum über Tacitus, und damit seine inzwischen kaum minder berühmt gewordenen Schlussworte belegt: “Men and dynasties pass, but style abides”.⁸⁶³ Das ließe sich nach dem bisher Bedachten wohl ebensogut über Prousts Recherche mit ihrem Niedergang der Dynastie der Guermantes sagen, der in einer stilistischen Meisterschaft ohnegleichen geschildert wird, die ihrem Verfasser bleibenden Nachruhm sichert. Sicherheitshalber versah Syme das Tacitus-Wort mit dem erklärenden Zusatz: “Clearly Tacitus’ testimony to his own quality”.⁸⁶⁴ In der Tat kann man das in die beiden Nachrufe eingewobene Wort kaum anders deuten, als dass Tacitus hier einen Maßstab setzte, dem keiner der beiden Hingeschiedenen genügte und wohl auch kein anderer, selbst wenn er den Satz einleitet mit einem ‚utque aliorum‘ (ann. 4.61). Vielmehr bedeutet das Nachfolgende eine auf ihn selbst gemünzte Verpflichtung, der außer ihm im werkimmanenten Zusammenhang allenfalls Sallust gerecht wurde, der ‚rerum Romanarum florentissimus auctor‘ (ann. 3.30.2).⁸⁶⁵ Denn die Geschichtsschreibung erschien Tacitus, wie Syme nahelegt und selbst wohl ebenfalls im Hinblick auf die eigene Arbeit angenommen haben dürfte, als lohnendster Gegenstand der Betätigung menschlichen Geistes in Richtung unsterblichen Ansehens.⁸⁶⁶ Wenn man die unausgesprochenen Voraussetzungen von Symes Gedanken einmal explizit verdeutlicht und auf Proust bezieht, so sieht man leicht, dass mannigfache Übereinstimmungen bestehen. Das dürfte zunächst für Tacitus
Kunst in neuem Licht“. Karlheinz Stierles Studie zu Proust und Dante, PROUSTIANA XXIX (2015), 200. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Ronald Syme, Tacitus, 1958, Vol. II, S. 624 Fußnote 3. Das gilt wohl auch für ihn selbst. Dazu sein Schüler Fergus Millar, Style Abides, The Journal of Roman Studies 71 (1981), 144. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143, bezieht sich ebenfalls auf dieses Wort zu Sallust, über den er im Übrigen auch ein maßstabsetzendes Werk verfasst hat, das seinerseits auch viele aufschlussreiche Verweise auf Tacitus enthält; vgl. Ronald Syme, Sallust, 1964 (zitiert nach der von Udo Scholz übersetzten deutschsprachigen Ausgabe 1975). Golo Mann, Orden Pour le Mérite, Reden und Gedenkworte Dreiundzwanzigster Band 1990 – 1992, S. 19, 23: „Es mag dem jungen Syme mit Tacitus ungefähr so gegangen sein wie dem jungen Nietzsche mit Sallust (…): ‚Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernste Ambition nach römischem, nach dem Aere perennius im Stil bei mir wieder erkennen‘.“ Hervorhebung auch dort; zu diesem Nietzsche-Wort noch am Schluss.
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selbst gelten, dem die beiden in ann. 4.61 genannten verstorbenen Redner ein gewisses Identifikationspotential boten. Sie waren, jeder für sich, herausragende Männer: ‚insignes viri‘, setzten also schon von daher einen Maßstab, dem auch Tacitus selbst gerecht zu werden hoffen durfte. Die Gattung des Nachrufs – ‚fine anni excessere‘ (ann. 4.61) – verdeutlicht von vornherein, dass hier gleichsam sub specie aeternitatis entschieden wird.⁸⁶⁷ Darin besteht übrigens eine wohl so noch nicht gesehene Gemeinsamkeit mit dem bereits mehrfach – etwa im Vergleich mit Prousts Norpois – betrachteten Großneffen des Sallust, den Tacitus, wie soeben gesehen, besonders hoch schätzte und dessen Nekrolog er mit auffallend gleichen Worten einleitet: ‚Fine anni concessere vita insignes insignes viri‘ (ann. 3.30.1). Insofern stehen die beiden Verstorbenen in typologischer Hinsicht für eine Richtungsentscheidung, die der zwischen 55 und 58 geborene Tacitus kurz vor dem Ende des Jahrhunderts, etwa um das Jahr 98, getroffen haben dürfte. Er war nicht nur als Politiker, sondern auch als gefeierter Redner anerkannt, dem freilich dafür allein die Nachwelt noch keine Kränze geflochten hätte.⁸⁶⁸ Sein Dialogus de oratoribus zeugt davon in literarischer Hinsicht, hätte aber schwerlich unsterblichen Nachruhm verbürgt,⁸⁶⁹ sondern wäre für sich betrachtet eher ein Werk unter mehreren desselben Genres.⁸⁷⁰ Selbst im Verein mit seiner damals wohl bereits verfassten Germania und dem Agricola hätte sich an dieser Betrachtung wenig geändert.⁸⁷¹ Bei aller stilistischen Meisterschaft, die jedes der Frühwerke auf ihre jeweils ganz unterschiedliche Art unter Beweis stellt, wäre ihr Verfasser ohne die großen Geschichtswerke mit drei kleineren Werken über seinen Schwiegervater, die Redner sowie die Sitten eines fremden Volkes schwerlich zum klassischen Schriftsteller mit unsterblichem Nachruhm geworden. Auch für ihn hätte letztlich gegolten, dass er (nur) solange er lebte – quoad vixit– berühmt
Ronald Syme, Obituaries in Tacitus, The American Journal of Philology 79 (1958), 18. Plinius, Epistulae 2.1: ‚laudator eloquentissimus‘. Dazu Ronald Syme, Verginius Rufus, Roman Papers (Hg. Anthony R. Birley), Vol. VII, 1991, S. 512, 518. Eduard Fraenkel, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 16, 21, lässt sich aber entnehmen, dass auch diese Schrift dem Postulat des ‚meditatio et labor‘ (ann. 4.61) entsprechend ausgearbeitet wurde, wenn er es als „Frucht beständigen Beobachtens und Nachdenkens“ bezeichnet. Vgl. nur Quintilian, Institutio oratoria. Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 7, der erst den Verfasser der Annalen als Künstler und Dichter erachtet, urteilt hinsichtlich des Agricola nüchtern und bezogen auf die beiden anderen kleineren Schriften abgewogen: „Als Tacitus seine Schriftstellerei begann, hat er kurz hintereinander (…) drei kleine Schriften verschiedenen Stoffes hinausgehen lassen. Der ‚Agricola‘ ist eine Biographie, nichts anderes; für diese Gattung gab es zwar eine Form, aber keine Kunstform; nach einer solchen strebte Tacitus. (…) Vielmehr hat Tacitus in den drei Schriften (…) Proben gegeben, die seine literarische Befähigung in ihrem Glanze dartun sollten“.
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gewesen wäre, mit seinem Tode aber gleichfalls die Erinnerung an ihn, zumindest langfristig, ausgelöscht wäre: ‚extinctum‘ (ann. 4.61). So erklärt sich wohl, dass Tacitus der Redekunst um das Jahr 100 herum entsagte und sich allein auf die Geschichtsschreibung konzentrierte, die allein in den Augen des gebildeten Römers dauernden Nachruhm versprach.⁸⁷² Überträgt man dies auf Proust, bevor er die Recherche in ihrer konkreten Gestalt anging und in einem Jahrzehnt entsagungsvoller Arbeit angestrengten Nachdenkens ausarbeitete, so ergibt sich ein ähnliches Bild: Weder ‚Les plaisirs et les jours‘ noch die ‚Pastiches et Mélanges‘, geschweige denn die zuletzt veröffentlichten nachgelassenen Novellen,⁸⁷³ und nicht einmal der sperrige, unvollendete ‚Jean Santeuil‘ hätten ihn, den in den mondänen Salons gewandt Redenden, zu einem über den Tod hinaus großen Schriftsteller gemacht.⁸⁷⁴ Er hätte wahrscheinlich das Schicksal von Francis Jammes geteilt, der ihm nach dem ‚Swann‘ une phrase à la Tacite bescheinigte, darüber hinaus aber nur noch Eingeweihten ein Begriff ist. Erst ‚Du côté de chez Swann‘ ist das Werk eines Künstlers, der die Weltliteratur um ein unsterbliches Meisterwerk bereichert hat.⁸⁷⁵ In diesem Zusammenhang ist, gleichsam als Verbindungsglied zwischen Proust und Tacitus, ein Blick auf dessen Freund Plinius den Jüngeren aufschlussreich.⁸⁷⁶ Seltsamerweise wird der junge Proust nämlich in einem Fragebogen mit der Bemerkung zitiert, er wäre gerne Plinius der Jüngere gewesen.⁸⁷⁷ In
Ronald Syme, The Senator as Historian, in: Ten Studies in Tacitus, 1970, S. 1, 7: “Oratory was finished.” Siehe vor allem das Schlusswort auf S. 118: “Tacitus had found the better way. He was writing history”. Marcel Proust, Aux Enfers, in: Le Mystérieux Correspondant et autres nouvelles inédites (Hg. Luc Fraisse), 2019. Karlheinz Stierle, Proust und Sainte-Beuve, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 58, 66, spricht treffend von den „Fragmenten von Jean Santeuil“. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 53, bemerkt am Beispiel der Flieder-Studie: „Die Prosa ordnet sich zu einem künstlerischen Rhythmus in demselben Maße und vermöge derselben Anspannung des Geistes, aus der die erschöpfende und exakte Beschreibung des Gegenstandes gewonnen wird. Der Stil ist nichts äußerlich Hinzugefügtes, sondern das Hörbarwerden einer adäquat erfassten Beziehung.“ Hervorhebungen nur hier. Siehe auch Wolfgang Asholt, Zwischen Straßburg und Bonn: Ernst Robert Curtius und die Entdeckung der (französischen) Gegenwartsliteratur, in: Historische Sprachwissenschaft als philologische Kulturwissenschaft, Festschrift für Franz Lebsanft, 2015, S. 209, 219. Zu ihm Theodor Mommsen, Zur Lebensgeschichte des Jüngeren Plinius, Hermes 3 (1869), 31, 45. Jean-Yves Tadié, Marcel Proust, 1996, S. 68 f., fragt sich mit Recht: «D’autre part on se demandera pourquoi il aurait ‚bien aimé être Pline le Jeune‘: auteur au programme de quatrième (ou
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der Tat muss er ihn im Alter von vierzehn Jahren, also ein Jahr, nachdem er ausgiebig Tacitus gelesen hatte, aufrichtig bewundert haben.⁸⁷⁸ Das ist eigenartig, weil Plinius ungeachtet seiner Freundschaft⁸⁷⁹ mit Tacitus nicht zuletzt um seiner Ruhmredigkeit und seines Mitteilungsbedürfnisses willen als selbstgefällig und vergleichsweise oberflächtlich gilt,⁸⁸⁰ auch wenn man ihn nicht unterschätzen sollte, weil er sich in rechtlichen und finanziellen Angelegenheiten gut ausgekannt haben muss⁸⁸¹ und mit Kaiser Trajan korrespondierte,⁸⁸² dem er eine buchstäblich panegyrische Schrift widmete.⁸⁸³ In der Recherche wird Plinius nur beiläufig und mit ironischem Unterton behandelt, dessen Einschränkung wegen der damit einhergehenden verbindlichen Unverbindlichkeit eher einem taciteischen Verdikt ähnelt: „Das alles war nur noch ein Brief, wie man sie in den Sammlungen berühmter Korrespondenzen findet, doch schuf er zwischen dem Empfänger und der Schreiberin keine größere Intimität, als sei er von Plinius dem Jüngeren oder Madame de Simiane verfaßt“ (III 589/590).⁸⁸⁴ – « tous cela n’était plus qu’une lettre comme on en trouve dans des recueils et dont le caractère intime n’entraînait pourtant pas plus d’intimité entre vous et l’epistolière que si celle avait été Pline le Jeune ou Mme de Simiane » (G III 89). Vielleicht veranschaulicht dieser Vergleich auch die Metamorphose, die zwischen dem mitunter leichtlebigen frühen und dem ganz auf sein Werk konzentrierten späten Proust stattgefunden haben muss. Denn innerhalb der Re-
de seconde)? épistolier infatigable, comme toute la famille Weil-Proust? Culte de l’amitié virile, pour Trajan, Tacite, d’autres, qui éveille sans doute un écho chez l’adolescent polymorphe?». Michel Erman, Marcel Proust. Une biographie, 1994, S. 31: «À quatorze ans, Pline le Jeune, dont les Lettres ont sans doute fait l’objet d’une version scolaire, est son héros. Le goût de la mesure et du bonheur que professe l’épistolier semble un idéal à atteindre ». Zur Ambivalenz dieser Freundschaft Matthias Ludolph, Epistolographie und Selbstdarstellung. Untersuchungen zu den ,Paradebriefenʻ Plinius des Jüngeren, 1997, S. 81. Interessant zum Vergleich die Kapitelüberschrift bei Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 216 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux): „Freunde, keine Freundschaft“. Eduard Norden, Die Antike Kunstprosa, Band I, 1915, S. 321 f. Ronald Syme, The Dating of Pliny’s Latest Letters, The Classical Quarterly 35 (1985), 176: “Pliny was expert in finance and an alert contriver everywhere.” Ähnlich in Hinblick auf das Recht Clarence W. Mendell, Tacitus. The Man and his Work, 1957, S. 12: “one of the best lawyers of the day”. Plinius, Epistulae 10, 3a/b; Otto Cuntz, Zum Briefwechsel des Plinius mit Traian, Hermes 61 (1926), 192. Plinius, Panegyricus. Näher Marcel Durry, Pline le Jeune, Panégyrique de Trajan, 1938; dazu Ronald Syme, The Journal of Roman Studies 28 (1938), 217; im Hinblick auf Tacitus Erich Woytek, Der Panegyricus des Plinius. Sein Verhältnis zum Dialogus und den Historiae des Tacitus und seine absolute Datierung, Wiener Studien 119 (2006), 115. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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cherche wäre es vielleicht am ehesten der Botschafter Norpois, der Plinius ähnelt, weil er ebenso geschmeidig wie dieser agiert. Dass wir Plinius den Jüngeren heute noch kennen, liegt wohl weniger an seinem bleibenden Stil, der mitunter manieriert anmutet, als vielmehr daran, dass seine stilisierten Briefe eine unentbehrliche Informationsquelle darstellen, nicht zuletzt im Hinblick auf den von ihm bewunderten Tacitus, dem er in seinen beiden wohl bekanntesten Briefen über den Ausbruch des Vesuvs und den Tod seines Onkels berichtete.⁸⁸⁵ Allerdings spricht es für sich, dass Tacitus der Bitte des Plinius offenbar nicht zu willfahren bereit war, ihn in seinem Geschichtswerk zu erwähnen, dessen Unsterblichkeit dieser ebenso scharfsichtig erkannte, wie er berechnend um Aufnahme darin ersuchte.⁸⁸⁶ Denn obwohl Tacitus die sinistre Gestalt des Baebius Massa im Agricola nennt (Agr. 45.1),⁸⁸⁷ um deren Bekämpfung sich Plinius unsterblichen Nachruhm verdient zu haben glaubte,⁸⁸⁸ hielt die vermeintliche Bedeutung dieser Invektive vor Tacitus’ unbestechlichem Blick zumindest insoweit nicht stand, als dass er eine namentliche Würdigung seines Freundes in den Historien für gerechtfertigt erachtet hätte, obwohl Baebius Massa dort ebenfalls vorkommt (hist. 4.50.2).⁸⁸⁹ Daran zeigt sich sein künstlerisches Ethos, das er bereits mit den Historien anstrebte und keine freundschaftliche Erwähnung gefälligkeitshalber vertrug.
Plinius, Epistulae 6.16;20. Der erste Brief beginnt mit der für den vorliegenden Zusammenhang aufschlussreichen captatio benevolentiae, wonach Tacitus’ etwaiger Bericht den ohnehin beträchtlichen Nachruhm des Onkels noch mehren würde: ‚quamvis ipse plurima opera et mansura condiderit, multum tamen perpetuitati eius scriptorum tuorum aeternitas addet‘ (ep. 6.16.2). Plinius, Epistulae 7, 33: ‚Auguror, nec me fallit augurium, historias tuas immortales futuras; quo magis illis (ingenue fatebor) inseri cupio‘. Zu dieser Stelle Eckard Lefèvre,Vom Römertum zum Ästhetizismus. Studien zu den Briefen des jüngeren Plinius, 2009, S. 152. Wolfgang Kunkel, Die Funktion des Konsiliums in der magistratischen Strafjustiz und im Kaisergericht, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 85 (1968), 253, 280 Fußnote 63: „Baebius Massa, ein übler Delator, konnte damals noch wegen Repetunden angeklagt und unschädlich gemacht werden (wir kennen seinen Prozeß genau aus den Pliniusbriefen)“. Plinius, Epistulae 7, 33: ‚Dederatme senatus cum Herennio Senecione advocatum provinciae Baeticae contra Baebium Massam damnatoque Massa censuerat, ut bona eius publice custodirentur‘. Adrian Nicolas Sherwin-White, The Letters of Pliny. A Historical and Social Commentary, 1966, S. 75, 763 ff., lässt in seinem Maßstab setzenden Werke vorsichtige Zweifel anklingen, ob Plinius’ beschwichtigende Wendung, er habe während der Domitian-Herrschaft nur ‚ex necessitate et metu temporum‘ (ep. 7, 19, 6) an verhängnisvollen Senatsabstimmungen mitgewirkt, ganz den Tatsachen entspricht; womöglich war Tacitus auch wegen seiner eigenen Vergangenheit zurückhaltend (hist. 1.1.3; Agr. 45.1).
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Auch Proust wusste nur zu gut, dass er Personen, die er in der Recherche ausnahmsweise bei ihrem wirklichen Namen nannte, gleichsam mit in die Unsterblichkeit nahm, namentlich seine Haushälterin Céleste Albaret und deren Schwester (III 339 – 345; kürzer in SG II 354). Aber auch ihre Bedeutung für den Inhalt der Recherche sollte man nicht unterschätzen, wenn man allein bedenkt, dass auf eine Erinnerung eines Worts ihrer Mutter der vom bäuerlichen französischen Brauchtum geprägte Satz Françoises über nichts Geringeres als den aus Sicht des Volkes bemessenen Ursprung und Wert der Zeit zurückgeht:⁸⁹⁰ „Der, der sie gemacht hat, hat sie uns nicht verkauft“ (I 78).⁸⁹¹ – « Celui qui l’a fait ne nous l’a pas vendu » (S I 83). Proust selbst wird nur zu bewusst gewesen sein, dass Céleste Albarets Wirken gerade für die Fertigstellung und das endgültige Erscheinen seines Werks ein Beispiel seiner weiter oben bereits angesprochenen Annahme der Abhängigkeit der Bedienten von den Bediensteten gewesen sein dürfte, die er nicht von ungefähr am Beispiel Françoises verdeutlicht (G I 83).⁸⁹² Man wird Albarets namentlicher Erwähnung innerhalb der Recherche die Andeutung entnehmen können, dass Proust die Unsterblichkeit seines Werks ebenso bewusst war,⁸⁹³ wie beispielsweise Ovid, der in gleichem Bewusstsein seine Freunde innerhalb seiner Briefe aus der Verbannung erwähnt,⁸⁹⁴ um ihre Namen der Nachwelt bekannt zu machen,⁸⁹⁵ und seine Ehefrau in den Tristia wissen ließ, dass zusammen mit seinem auch ihr Ruhm gelesen werde, solange er gelesen werde.⁸⁹⁶
Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 322, 323 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), erinnert sich: „Einmal, als er mir gegenüber wieder von der verlorenen Zeit sprach, habe ich einen Ausspruch meiner Mutter zitiert: ‚Monsieur, meine Mutter sagte in bezug auf die Zeit häufig: ‚Wer sie gemacht hat, hat sie nicht verkauft.‘ Er hat es mich wiederholen lassen. ‚Das ist aber hübsch, Céleste. Das ist schön! Das werde ich in mein Buch aufnehmen.ʻ Und der Satz steht tatsächlich darinnen“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Luzius Keller, Proust lesen, 1991, S. 9, verniedlicht diese Erinnerungen als ‚pittoreske Informationen‘. Doch dürfte dies ihrer Bedeutung schwerlich gerecht werden. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 305 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), bestätigt dies, indem sie berichtet, was Proust ihr prophezeiht habe: „Und wenn ich tot bin, werden Sie sehen, daß das stimmt, was ich Ihnen sage: Ich werde gelesen werden, ja, die ganze Welt wird mich lesen. Sie werden es miterleben, wie mein Werk im Laufe der Zeit vom Publikum erkannt und verstanden wird. Und Sie werden sehen, Céleste, merken Sie es sich gut: wenn, wie es in diesem Artikel heißt, Stendal hundert Jahre gebraucht hat, um anerkannt zu werden, dann wird Marcel Proust kaum fünfzig Jahre brauchen”. Ovid, Epistulae ex Ponto 2.6.33; 3.2.29. Grundlegend Vittorio Hösle, Ovids Enzyklopädie der Liebe, 2020, S. 254 mit Fußnote 467. Ovid, Tristia, 5.14.5: ‚Dumque legar, mecum pariter tua fama legetur‘.
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Dass der taciteische Stil ebenfalls fortlebt, etwas Bleibendes schafft und vor allem auf unsterblichen Ruhm bedacht ist, hat niemand deutlicher gesehen als Friedrich Nietzsche, der ihn nicht von ungefähr mit dem stilistisch verwandten und offenbar vorbildhaften Thukydides auf eine Stufe stellt: „Thukydides sowohl wie Tacitus – beide haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht: dies würde, wenn man es sonst nicht wüßte, schon aus ihrem Stile zu erraten sein“.⁸⁹⁷ Durchaus ähnlich äußert sich Leo Spitzer im Hinblick auf Proust anhand einer Reihe von Stellen aus den ersten beiden Teilen der Recherche:⁸⁹⁸ „Man spürt, mit welch tragischem Unsterblichkeitswillen die Seele Prousts in die Nacht der Leere und des Nichts vorstößt (…) und mit dem stolzen Non omnis moriar des Künstlers dem großen Verneiner Tod Trotz bietet“.⁸⁹⁹ Denn die vollkommene Entsprechung von Form und Inhalt kann man auch bei Proust beobachten, dessen bis ins Letzte ausgefeilte Prosa sichtbarster Ausdruck jener ‚meditatio‘ ist,⁹⁰⁰ von der Tacitus spricht, weil es auf eine Verdichtung hinausläuft,⁹⁰¹ die nicht einfach Präzision und Prägnanz bedeutet, sondern eine im Nachdenken gewonnene neue Einsicht, die sich stilistisch über die ursprüngliche Erfahrung erhebt, von der sie ausgeht. So erst kann man begreifen, warum sich Proust verstanden fühlte von Francis Jammes’ ahnungsvoller – denn er kannte ja erst ‚Du côté de chez Swann‘ – Formulierung der ‚phrase à la Tacite‘.⁹⁰² Aber auch die Stelle, an der Proust über Françoise sagt, « elle eût ecrit comme Tacite » (G II 244), enthält einen aufschlussreichen Bezug zum Vorliegenden. Proust leitet den Satz bedeutungsvoll damit ein, dass es ihm besonders bzw. vor allem (‚surtout‘) darum geht, und er gelangt nicht von ungefähr zu einer ‚Konzentrationsfähigkeit‘, welche die Schriftsteller unter diesen widrigen oder
Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, II, 144. Zum Stil beider auch Ronald Syme, Thucydides. Lecture on a Master Mind, Proceedings of the British Academy 48 (1962), 39, 45. Hermann Blackert, Der Aufbau der Kunstwirklichkeit bei Marcel Proust, 1935, S. 99, kritisiert Spitzer wohl insgesamt zu Unrecht; vgl. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im Suhrkamp-Verlag (stw 587), S. 99, 317 Anmerkung 7. Leo Spitzer, Zum Stil Marcel Proust’s, in: Stilstudien, Band II. Stilsprachen, 1928, S. 365, 445. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 301 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux), berichtet, wie eine Leserin ihr gegenüber gesagt habe, Prousts Buch sei ‚so dicht‘, und zufrieden bemerkt habe: „Dicht… Hat sie wirklich ‚dicht‘ gesagt? Das gefällt mir. Ja, das Wort gefällt mir, Céleste“. Marcel Proust, Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XIII (1914), Nr. 5, S. 33.
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von Zwang geprägten Bedingungen entfalten. Das ist der Sache nach aber nichts Anderes als das taciteische ‚meditatio et labor‘ (ann. 4.61).⁹⁰³ Vergänglichkeit und Ewigkeitswert seines Werkes waren also auch für Proust die bestimmenden Gedanken (II 70),⁹⁰⁴ wie sich auf einer der letzten Seiten der Recherche zeigt: „Zweifellos würden auch meine Bücher wie mein Wesen aus Fleisch und Blut eines Tages vergehen. Aber man muß sich eben abfinden mit dem Tod. Man nimmt die Vorstellung hin, daß in zehn Jahren man selbst nicht mehr ist, und in hundert Jahren die Bücher, die man geschrieben hat, nicht mehr existieren. Ewige Dauer ist den Werken so wenig wie den Menschen verheißen“ (VII 501).⁹⁰⁵ – « Sans doute mes livres, eux aussi, comme mon être de chair, finiraient un jour à mourir. Mais il faut se résigner à mourir. On accepte la pensée que dans dix ans soi-même, dans cent ans ses livres, seront plus. La durée éternelle n’est pas plus promise aux œuvres qu’aux hommes » (TR II 248). Zwar hat sich diese Einschätzung nicht bewahrheitet, wie das vergangene Jahrhundert beweist. Doch war es wohl ohnehin eine Bescheidenheit, an deren Dasein in seiner Brust man nicht glauben muss.⁹⁰⁶ Diese phasenverschobene Gleichsetzung des physischen Todes mit dem Vergessenwerden des Künstlers – im Übrigen das taciteische: ‚sic Haterii canorum illud et profluens cum ipso simul exstinctum est‘ (ann. 4.61) – klingt im französischen Original noch feierlicher, weil sie den Parallelismus sinnfälliger macht: « La
Vgl. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 14, macht auf den wichtigen Gesichtspunkt aufmerksam, dass das taciteische Hauptwerk nur etwa zur Hälfte auf uns gekommen ist, so dass man die künstlerische Disposition sub specie aeternitatis nur ansatzweise ermessen kann: „Die Hälfte von Tacitus’ Werk ist (…) verlorengegangen. (…) Das Schicksal hat dem Werke des Tacitus übel mitgespielt, es hat der Nachwelt die Schätzung seiner größten Eigenschaft erschwert, den vollen Genuß geraubt. Denn er hat als Dichter auf das Ganze hingearbeitet, aber die höchste Steigerung, die Wirkung, auf die alles einzelne zielt, ist hier wie dort verlorengegangen.“ Hervorhebung nur hier, da das dort Gesagte auch auf Proust zutrifft. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 118 „der tiefste, immer wieder durchbrechende Drang von Proust: aus dem Zeitlichen in das Überzeitliche, aus dem Vergänglichen in das Dauernde, aus der Welt des Werdens in die des ruhenden Seins hinüberzutreten.“ – Diese Einsicht ist umso bemerkenswerter, als Curtius die letzten Teile der Recherche seinerzeit noch gar nicht kannte. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Um es mit einem Wort von Heinrich von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (= Sämtliche Werke und Briefe, Hg. Helmut Sembdner, 2. Auflage 1961), S. 319 ff., über Molière zu sagen; dazu Jens Petersen, Die mündliche Prüfung im ersten Juristischen Staatsexamen, 4. Auflage 2020, S. 14.
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durée éternelle n’est pas plus promise aux œuvres qu’aux hommes » (TR II 248).⁹⁰⁷ Doch der Umstand, dass die Werke zuerst genannt werden, gibt wohl die Reihenfolge der Bedeutung für den Autor an und bildet womöglich ein Aufbegehren in Gestalt einer protestatio facto contraria. Immerhin gibt Proust das zeitliche Verhältnis großzügig in einer Zehnerpotenz im Verhältnis von Werk und Leben an. Zudem ist interessant, dass er zur Aufrechterhaltung des Todesvergleichs auch bei den Büchern auf die körperlichen Werkstücke abstellt. Damit ist die Möglichkeit eröffnet, dass der geistige Gehalt fortbesteht, selbst wenn er sich erst nach dem Tode des Verfassers durchsetzt, was die Aussicht auf ewigen Nachruhm unweigerlich trübt, da die zugrundeliegende Einsicht einmal mehr einer Gewohnheit folgt: „Menschen, die glauben, daß ihre Werke die Zeiten überleben werden (…) nehmen die Gewohnheit an, sie in einer Epoche zu sehen, da sie selbst zu Staub zerfallen sind. Indem er sie aber in dieser Weise an das Nichts zu denken zwingt, stimmt der Gedanke an den Ruhm sie traurig, da er von dem an den Tod nicht zu trennen ist“ (II 547).⁹⁰⁸ – « Ceux qui croient leurs œuvres durables (…) prennent l’habitude – de les situer dans une époque où eux-mêmes ne seront plus que poussière. Et ainsi en les forçant à réfléchir au néant, l’idée de la gloire les attriste parce qu’elle est inséparable de l’idée de la mort » (JF III 105). Es ist also ein halbherziges Sicheinfinden in die universelle Todverfallenheit,⁹⁰⁹ auch wenn Marcel, wie wir bereits im Rahmen der Auflösung der Madeleine-Episode gesehen haben,⁹¹⁰ die Sorge um seinen Tod bereits durch die
Magaret Topping, Proust’s Gods. Christian and Mythological Figures of Speech in the Works of Marcel Proust, 2000, S. 104, verweist mit gutem Grund auf die weiter oben bereits behandelte Guermantes-Stelle: « Et peut-être la résurrection de l’âme après la mort est-elle concevable comme un phénomène de mémoire» (G I 114). Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 119, mit aufschlussreichem juristischen Unterton: „Die Szene ist die Vorform vieler späteren, in denen sich immer dasselbe Gesetz bekundet: ein plötzliches Entrücktwerden aus dem wandelbaren, vergänglichen, trümmerbedeckten Leben, aus dem Recht des Gewöhnlichen, Zufälligen, Todverfallenen“. Hervorhebung nur hier. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 269, verdeutlicht den Zusammenhang mit der künstlerischen Berufung in konsequenter Verfolgung seiner Unterscheidung zwischen erinnerndem und erinnertem Ich: „So erhält die Geschichte ‚Marcels‘ ihre Einheit erst a posteriori, im Augenblick als er erkennt, was ihm in der madeleine-Erfahrung noch verborgen blieb: daß sich seine Suche nach der verlorenen Zeit erst in der Kunst erfüllen kann, weil in dieser Erfüllung mit der Distanz zwischen erinnerndem und erinnertem Ich zugleich die Kontingenz seines Weges aufgehoben und bewahrt wird, sofern er nun als Weg zum Kunstwerk seine Rechtfertigung erhält“.
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Wahrnehmung der Außerzeitlichkeit verloren hat:⁹¹¹ „Man kann aber wohl verstehen, daß dieser nun Vertrauen zu seiner Freude faßt, und selbst wenn der einfache Geschmack einer Madeleine nicht logischerweise die Gründe für diese Freude zu enthalten scheint, verstehen auch, daß das Wort Tod keinen Sinn für ihn hat; was könnte er, der Zeit enthoben, für die Zukunft fürchten?“ (VII 265/ 266).⁹¹² – « Et celui-là on comprend qu’il soit confiant dans sa joie, même si le simple goût d’une madeleine ne semble pas contenir logiquement les raisons de cette joie, on comprend que le mot de ‚mort‘ n’ait pas de sens pour lui; situé hors du temps, que pourrait-il craindre de l’avenir? » (TR II 16). Das führt schließlich zu einer der berühmtesten Stellen der Recherche, dem Tod des Schriftstellers Bergotte,⁹¹³ der kurz zuvor noch Vermeers Ansicht von Delft mit der kleinen gelben Mauerecke gesehen hatte.⁹¹⁴ Die anschließende Reflexion Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 112, stellt eine für den vorliegenden Zusammenhang wichtige Verknüpfung zwischen dem dort mit Bedacht nicht so genannten ,souvenir involotaireʻ am Beispiel der unebenen Bodenschwelle im Hof der Guermantes mit der Rückerinnerung an das Baptisterium von San Marco beim gemeinsamen Venedig-Aufenthalt mit seiner Mutter, und letztlich dem Ewigkeitswerk des Kunstwerks her, indem er im Ausgangspunkt die Kontingenz berücksichtigt: „Es ist ein Zufall, der Marcel zum Geheimnis der Erinnerung und damit zugleich an die Schwelle einer Wiedergeburt und seiner Berufung zum Schriftsteller führt.“ Dieser Rekurs auf die Renaissance im Wortsinne führt zu folgender wichtiger Implikation (S. 114): „Wenn aber die tiefste Erfahrung der Erinnerung ihre Außerzeitlichkeit ist, dann zeigt sich die tiefe Verwandschaft der Erinnerung mit dem Kunstwerk, das auch als Zeitkunstwerk durch die Immanenz seiner Verweisungen der Zeit prinzipiell entzogen ist.“ Vor diesem Hintergrund gelangt er zu einer tiefsinnigen Folgerung (S. 115): „Die Flüchtigkeit dieser Ewigkeitserfahrung selbst ist es wiederum, die zu ihrer Aufhebung in der weltimmanenten Ewigkeit des Kunstwerks drängt.“ Die notwendige Brücke aber führt über den Venedig-Aufenthalt mit der Mutter: „Das Venedig, in dessen Mitte, dem Baptisterium von San Marco, Marcel der Mutter einen Erinnerungsort geschaffen hatte, wird zum Tor für die Auferstehung der verlorenen Zeit“ (S. 113). – Es ist wohl kein Zufall, dass bei erfüllten Augenblicken entweder die Mutter, die den Lindenblütentee entgegen seiner Gewohnheit zu trinken vorschlägt, oder die Großmutter – beim expliziten ‚souvenir involontaire‘ (SG I 214) – die entscheidende erinnerungsauslösende Rolle spielen. Jedenfalls erweist sich Stierles am Kathedralenbau ausgerichtete Folgerung als grundlegend, dass „Venedig in sich gleichsam alle Orte Marcels zusammenfaßt und so zum Schlußstein einer ganzen Architektur der Erinnerung wird“ (S. 121; Hervorhebung nur hier). Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Luzius Keller, Marcel Proust – Werke. Frankfurter Ausgabe, II 5, S. 638 Anmerkung 2, macht darauf aufmerksam, dass der Tod Bergottes im Manuskript ursprünglich fehlt. Eric Karpeles, Paintings in Proust. A Visual Companion to In Search of Lost Time, 2008, S. 237, mit Abbildung. Erhellend ist die Feststellung von Karlheinz Stierle, Kunst und Erinnerung in Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust und die Künste (Hg. Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser), 2004, S. 8, 28: „Beim Besuch einer Ausstellung mit Werken von Vermeer van Delft wird dem alten, von Krankheit gezeichneten Bergotte im Anblick eines kleinen insi-
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gilt der Frage nach der Unsterblichkeit des Künstlers und des Kunstwerks:⁹¹⁵ „Er war tot. Tot für immer? Wer kann es sagen? Gewiß erbringen spiritistische Experimente nicht deutlicher als religiöse Dogmen den Beweis für das Fortleben der Seele. Man kann nur sagen, daß alles in unserem Leben sich so vollzieht, als träten wir bereits mit der Last in einem früheren Dasein übernommener Verbindlichkeiten in das derzeitige ein; es gibt keinen Grund in den Bedingungen unseres Erdendaseins selbst, weshalb wir uns verpflichtet glauben sollten, das Gute zu tun, zartfühlend, ja, auch nur höflich zu sein; auch nicht für den kultivierten Künstler, weshalb er sich gehalten glauben soll, zwanzigmal ein Werk von neuem zu beginnen, dessen Bewunderung einem von Würmern zerfressenen Leib wenig ausmachen wird, ebensowenig wie die gelbe Mauerecke, die mit so viel Können und letzter Verfeinerung ein auf alle Zeiten unbekannter und nur notdürftig unter dem Namen Vermeer identifizierter Künstler einmal geschaffen hat. Alle diese Verpflichtungen, die im gegenwärtigen Dasein nicht hinlänglich begründet sind, scheinen einer anderen, auf Güte, auf Gewissenhaftigkeit, auf Opferbereitschaft basierenden Welt anzugehören, einer Welt, die vollkommen anders als unsere hiesige ist, aus der wir aber gekommen sind, um auf dieser Erde geboren zu werden, bevor wir vielleicht in jene zurückzukehren, um wieder unter der Herrschaft jener unbekannten Gesetze weiterzuleben, denen wir gehorchen, weil wir ihr Gebot in uns trugen, ohne zu wissen, wer es dort eingeschrieben hat – Gesetze, denen alle vertiefte Arbeit des Geistes uns näher bringt und in die unsichtbar – vielleicht kaum das! – einzig den Narren bleiben. Der Gedanke, Bergotte sei nicht für alle Zeiten tot, ist demnach nicht völlig von der Hand zu weisen. Er wurde begraben, aber während der ganzen Trauernacht wachten in den beleuchteten Schaufenstern seine jeweils zu dreien angeordneten Bücher wie Engel mit entfalteten Flügeln und schienen ein Symbol der Auferstehung dessen, der er nicht mehr war“ (V 247/248).⁹¹⁶ – « Il était mort. Mort à jamais? Qui peut le dire? Certes les expériences spirites, pas plus les dogmes religieux, n’apportent la preuve que l’âme existe. Ce qu’on peut gnifikanten Details in einem Vermeerschen Bild, des ‚petit pan de mur jaune‘ blitzhaft der unendliche Abstand zwischen künstlerischer Vollkommenheit und dem von ihm Erreichten bewußt. Der geschwächte Körper hält dieser unverstellten, man möchte sagen: heroischen Einsicht nicht mehr stand: Er bricht tot zusammen.“ Hervorhebung nur hier. Für die gesamte vorliegende Abhandlung gilt, wofür schon ein sehr viel Größerer mit einer ingeniösen Begründung um Verständnis gebeten hat, nämlich Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 111 f.: „Der Leser wird mir die langen Zitate verzeihen. Sie sind für die literarische Kritik so unentbehrlich wie Illustrationen oder Lichtbilder für die Erörterung künstlerischer Probleme. Sie geben die Anschauung, ohne die, kantisch gesprochen, die Begriffe ‚leer‘ bleiben“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zu dieser berühmten Stelle etwa Margaret Mein, Proust and Wagner, Journal of European Studies XIX (1989), 205.
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dire, c’est que tout se passe dans notre vie comme si nous y entrions avec le faix d’obligations contractées dans une vie antérieure; il n’y a aucune raison dans nos conditions de vie sur cette terre pour que nous nous croyions obligés à faire le bien, à d’être délicat, même à être polis, ni pour l’artiste cultivé à ce qu’il se croie obligé de recommencer vingt fois un morceau dont l’admiration qu’il exitera importera peu à son corps mangé par les vers, comme le pan de mur jaune que peignit avec tant de science et de raffinement un artiste à jamais inconnu, à peine identifié sous le nom de Ver Meer. Toutes ces obligations qui n’ont pas leur sanction dans la vie présente semblent appartenir à un monde différent, fondé sur la bonté, le scrupule, le sacrifice, un monde entièrement différent de celui-ci, et dont nous sortons pour naître sur cette terre, avant peut-être d’y retourner revivre sous l’empire de ces lois inconnues auxquelles nous avons obéi parce que nous en portions l’enseignement en nous, sans savoir qui les y avait tracées, – des lois dont tout travail profond de l’intelligence nous rapproche et qui sont invisibles seulement – et encore! – pour les sots. De sorte que l’idée que Bergotte n’était pas mort à jamais est sans invraisemblance. On l’enterra, mais toute la nuit funèbre, aux vitrines éclairées, ses livres, disposés trois par trois, veillaient comme des anges aux ailes éployées et semblaient, pour celui qui n’était plus, le symbole de sa résurrection » (P I 247/248).⁹¹⁷ Zunächst ist an dieser eindrucksvollen und unauslotbar tiefen Stelle für den vorliegenden Zusammenhang Folgendes bemerkenswert. Das aus innerem Zwang erwachsene künstlerische Ethos,⁹¹⁸ das Schöpfungen wie die Mauerecke Vermeers hervorgebracht hat und ein zwanzigmaliges Ansetzen erfordert, entspricht letztlich dem, was Tacitus meint mit ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61):⁹¹⁹ jene künstlerische Unerbittlichkeit, das Feilen noch an den vollends
Zur christologischen Konnotation der Auferstehung anhand einer späteren Stelle Karlheinz Stierle, Die Zeitgestalt des Krieges in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Proust und der Krieg (Hg. Uta Felten/Kristin Mlynek-Theil/Kerstin Küchler), 2016, S. 13, 27 f. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 27, folgert zutreffend, indem er die – übrigens auch bei Proust begegnende – Akzentuierung der individualistischen Prägung einbezieht: „Daß Tacitus als Diener an der memoria bildhaft gestaltet hat, konnte also nichts Ungewöhnliches sein; wie er es in immer stärkerer Ausschließlichkeit allen anderen Prinzipien der Historiographie gegenüber getan und diese Kunst aus innerem Zwang zu unerreichter Höhe geführt hat, das bezeichnet seine Eigenart.“ Hervorhebung nur hier. Vgl. dazu Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 128, bringt anhand eines todesnahen Gedankens aus Prousts mehrfach zitiertem Flauberts-Aufsatz in seiner Überleitung zur Passage über Bergottes Tod interessanterweise den Gedanken der Todesüberwindung mit einer Formulierung zur Geltung, deren etymologischer Ursprung die von Tacitus zur Erreichung literarischer Unsterblichkeit geforderte ‚meditatio‘ darstellt: „Man fühlt, wie in dieses Worten etwas vom Ertrag langer Meditationen durchbricht. Was wir von Prousts Werk wissen, führt uns zu dem Gedanken, daß der Tod sich ihm vielleicht nur als die
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nebensächlich erscheinenden Stellen des Werks (wie der kleinen gelben Mauerecke im Bild Vermeers),⁹²⁰ das Ringen um den Gleichklang von Form und Inhalt, Stil und künstlerischer Aussage, das allein ein Fortleben des Schaffenden über den physischen Tod hinaus möglich macht: ‚quoad vixit‘ (ann. 4.61). Das entspricht letztlich Horaz‘ berühmtem ‚exegi monumentum aere perennius‘,⁹²¹ auch wenn Marcel die antiken Werke nicht allein um ihrer selbst willen schätzt, sondern gleichsam zeitübergreifend nach ihrem spezifischen künstlerischen Wert: „so wie die Vorliebe für das Altertum das große Vergnügen erklärt, das ein Kenner bei der Lektüre einer Horazischen Ode verspürt, die vielleicht weniger wertvoll ist als ein Gedicht unserer Tage, das diesen Humanisten am Ende kalt lassen würde“ (II 437).⁹²² – « comme des souvenirs de l’antiquité sont une des raisons du plaisir qu’un lettré trouve à lire une ode d’Horace peut-être inférieure à des poèmes de nos jours qui laisseraient ce même lettré indifférent » (JF II 214). Seinen sichtbarsten Ausdruck findet diese Haltung in der taciteischen Formulierung, mit welcher der auf höchstem Niveau – denn beide waren hervorstechende Männer: insignes viri (ann. 4.61) – vergleichsweise geringer geschätzte der beiden verstorbenen Redner bedacht wird: ‚monimenta ingeni eius haud perinde retinentur‘ (ann. 4.61).⁹²³ In der Tat geht es um Denkmäler des jeweiligen mehr oder minder begabten Geistes: ‚monimenta ingeni‘, ebenso wie die bereits genannten ‚monumenta clarissimorum ingeniorum‘ (Agr. 2.1). Daher kann man wohl auch sagen, dass Tacitus und Proust gleichermaßen bestrebt waren, etwas über die übliche Absicht der ‚Verewigung‘ ihres literarischen Werks Hinausgehendes zu schaffen. Das wird im Übrigen durch den vorderhand rätselhaften Schluss der Engel-Metapher mit dem Auferstehungs-Symbol noch deutlicher. Dieser gewagte Gedanke weist bereits
bedeutungsvollste jener Bewußtseinsverschiebungen darstellt, die er in seinem Roman analysiert hat.“ Hervorhebung nur hier. Zu ihr aus dem schier unüberschaubaren Schrifttum etwa Hans Belting, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, 1998, S. 264 ff. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 11. Auflage 2016, S. 469, zum literarischen ‚Verewigungstopos‘ mit der beispielhalften Verdeutlichung anhand von Horaz, Carmina 3.30.1: ‚Exegi monumentum aere perennius.‘ – Das ist in der Tat expliziter als das vergleichsweise diskrete Tacitus-Wort und nimmt mit dem bald folgenden ‚fuga temporum / non omnis moriar multaque pars mei vitabit‘ (3.30.5 – 7) sogar ein Thema Prousts vorweg. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013) 131, 143, geht noch einen Schritt weiter und deutet das Wort in diesem Zusammenhang etwas anders, nämlich gleichsam anachron, also von Proust her, so dass Tacitus’ Annalen gleichsam seine Suche nach der verlorenen Zeit seien (ebenda S. 144): «La soixantaine approche: que fait-il? Une nouvelle œuvre le séduit, les Annales. Il s’y consacre, allegrèment. Son génie triomphera, et aussi le travail acharné, et l’effort du style. Comme il dit lui même, meditatio et labor in posteros (sic) valescit».
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sprachlich eine eschatologische Dimension auf.⁹²⁴ Die ins Auge springende Nähe zum Auferstehungsgeschehen im Neuen Testament mit dem Begräbnis, dem im Original noch deutlicheren Trinitäts-Motiv der engelsgleich angeordneten drei Bücher (‚trois par trois‘) und der symbolhaften Auferstehung in Gestalt der Bücher, die wie eine Transsubstantiation erscheint,⁹²⁵ ist nicht christologisch oder religiös gemeint,⁹²⁶ wie man wohl auch an einer anderen Stelle sehen kann, an der er die Auferstehung mit seinem Grundmotiv des Verhältnisses von Gedächtnis und Erinnerung in einer nicht minder kühnen Hypothese zueinander führt:⁹²⁷ „Und viel-
Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 196 f., deutet diese Stelle im Anschluss an Bergottes Tod nach dem Innewerden der vollendeten Kunst Vermeers in Gestalt der kleinen gelben Mauerecke und seine eigene darüber empfundene Unzulänglichkeit ebenso tiefsinnig wie gedankenreich: „Im Anblick der ästhetischen Vollkommenheit und der bitteren Einsicht seines Scheiterns bricht er zusammen und stirbt. Eine Stimme – die Marcels? – fragt, ob ihm ein Leben nach dem Tod gewährt sein könnte, und schließt wie mit der Verheißung einer Auferstehung. (…) Man könnte diese Geschichte einer Begegnung mit dem absoluten Kunstwerk eine Künstlerlegende nennen. Sie ist als diese ganz geschlossen und fällt so aus dem Kontinuum von Marcels Werk der Erinnerung wie die Intervention einer fremden Stimme heraus“. Karlheinz Stierle, Die Fabel der Welt und das System der schönen Künste. Ovid, Dante, Proust, in: Das lebendige Wort. Begegnungen mit der Antike, 2020, S. 243, 248, erkennt bei Proust „eine Transsubstantiation der Zeit in Ewigkeit, aber eine subjektive Ewigkeit des Ich, das die Erfahrung der verlorenen und durch die Erinnerung wiedergewonnenen Zeit macht. (…) Die Erinnerung, Ort der verlorenen und auferstandenen Zeit (die religiöse Komponente scheint hier ihre ganze Kraft zu bewahren), wird zum Raum einer unendlichen Welt des Bewusstseins.“ Wichtig ist auch seine am Beispiel einer anderen Stelle herausgearbeitete Folgerung, wonach „die Ewigkeit, von der hier die Rede ist, nicht mehr die der christlichen Religion ist, es ist eine Dimension der Zeitlichkeit selbst, für die die christliche Religion nur eine vorläufige Metapher sein kann“ (S. 249). – Das ist deswegen bemerkenswert, weil auch und gerade dieser Metapher ‚Ewigkeitswert‘ im Sinne seines Flaubert-Essays zukommt. Dazu grundlegend Joseph Ratzinger, Eschatologie – Tod und ewiges Leben, 1977. Karlheinz Stierle, Marcel und die Arena-Kapelle, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 179, 196, macht in anderem Zusammenhang auf ein lohnendes Forschungsvorhaben aufmerksam, zu dem die weiter oben erwogenen religiösen Konnotationen der Reflexion im Anschluss an den Tod Bergottes möglicherweise in einem Komplementatitätsverhältnis stehen könnten: „Es verlohnte sich, in diesem Zusammenhang einmal die Initiationserfahrung des beim Essen der Madeleine geweckten souvenir involontaire mit der erinnernden und verwandelnden Kraft des christlichen Abendmahls zu konfrontieren“. Siehe dazu später Gerhard Neumann, Liebes- und Gedächtnismahl. Zum Zusammenhang von Ursprung und Eucharistie in Prousts Recherche, in: Ein unerhörtes Glücksgefühl (Hg. Kirsten von Hagen/Claudia Hoffmann/ Volker Roloff), PROUSTIANA XXIV (2006), 176, 188, wonach „die Illumination des Textes der ‚Madeleine-Episode‘ durch den religiösen Code offensichtlich ist. Gebäck und Tee evozieren Hostie und Wein (…). – ganz offensichtlich suggestive Aufrufungen des Transsubstantiationsgeschehens.“ Allerdings mit der auch für den vorliegenden Zusammenhang bedeutsamen Ein-
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leicht ist auch die Auferstehung der Seele nach dem Tode mehr oder weniger ein Gedächtnisphänomen“ (III 112).⁹²⁸ – « Et peut-être la résurrection de l’âme après la mort est-elle concevable comme un phénomène de mémoire » (G I 114).⁹²⁹ Prousts Religion ist vielmehr auch hier die Kunst um ihrer selbst willen, wie sich an der nicht von ungefähr religiös konnotierten Stelle von der Kunst als wahrem Jüngsten Gericht zeigt:⁹³⁰ « ce qui fait que l’art est ce qu’il y a de plus réel, la plus austère école de la vie, et le vrai Jugement dernier » (TR II 25).⁹³¹ Er hat übrigens in einem Aufsatz aus seiner Schulzeit über einen sterbenden Gladiator – ‚Le gladiateur mourant‘ – einen vergleichsweise konventionellen, von der – für einen antiken Stoff freilich nicht selbstverständlichen – christlichen Heilslehre geprägten Blick auf die Vorstellung eines Jüngsten Gerichts – « l’idée d’un jugement rendu après la mort » – geworfen, indem er die Gewissensnot des Sterschränkung, dass „damit nicht gesagt werden soll, daß Prousts Roman auf eine Reproduktion der christlichen Eucharistie hinausläuft – vielmehr bedient er sich des religiösen Codes, der das Transsubstantiationsmuster in unserer Kultur ja am reinsten verkörpert, um die Verwandlung von Materialität der Welt in die Spiritualität der Kunst zu erzielen, ohne dabei – ganz im Geiste des christlichen Verständnisses der Realpräsenz – diese substanzielle Materialität preiszugeben“ (S. 190). Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Rainer Warning, Marcel Proust, 2016, S. 12, macht ohne ausdrücklichen Verweis auf diesen Gedanken einen rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhang sichtbar, der jedoch zum besseren Verständnis auch der zitierten Stelle unverzichtbar sein dürfte: „Aber wenn Proust die der ‚mémoire involontaireʻ verdankten Rückgewinnungen von Vergangenem gewiss nicht ohne Bezugnahme auf die christliche Besetzung des Begriffs als ,résurrectionsʻ, also auf veritable ,Auferstehungenʻ, oder, eher idealistisch, wesenhaft als ,essences des chosesʻ, bezeichnet, so tut sich schon hier ein ganzer Hof von Konnotationen auf, den eine traditionsgläubige Deutungsgeschichte nicht als das Problem erkennen wollte, das sich damit verbindet: die Annahme einer werkhaften, romantisch-idealistischen Einheit mit Anfang, Mitte und Ende, also die einer durchgängig syntagmatisch sich stabilisierenden Teleologie“. Karlheinz Stierle, Proust und Sainte-Beuve, in: Marcel Proust und die Kritik (Hg. Dieter Ingenschay/Helmut Pfeiffer), 2000, S. 58, 63 f., vergleicht es nicht von ungefähr mit „einem christlichen Erweckungserlebnis (sc. dessen er) innewird: Die Illumination im Hof des Palais der Guermantes läßt Marcel entdecken, was ihm bislang verborgen geblieben war: daß es möglich ist, im Medium der Erinnerung der Kontingenz der Zeit, dem Gesetz ihrer irrevozierbaren Linearität zu entrinnen, das Erinnerte in eine Sphäre der idealen Kopräsenz zu retten, die ihre Dauer im literarischen Werk gewinnen kann“. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 252, erläutert: „Prousts Art Poétique wird erst vollständig, wenn man berücksichtigt, daß die existentielle Erfahrung des Temps Retrouvé nicht für sich allein die Konzeption des Kunstwerks bedingt, in welchem ‚Marcel‘ während der Wartezeit in der Bibliothek der Guermantes endlich die Rechtfertigung seiner Existenz (…) gefunden zu haben glaubt.“ Hervorhebungen auch dort.
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benden mit einem schon damals bemerkenswerten psychologischen Feingefühl zum Ausdruck bringt: « Mais à mesure qu’il s’approche de l’heure suprême, ses sentiments s’épurent et s’élèvent. Il sent qu’il a besoin qu’on lui pardonne, qu’il est aussi coupable que tous ces hommes. L’idée d’un jugement rendu après la mort se présente de plus en plus nette à son esprit. Comment le juge suprême pourra-t-il être indulgent pour lui, qui est si dur envers les autres… La mort a gagné tous ces membres, la mort va l’avoir glacé complètement, il est au seuil de l’éternité. »⁹³². Dieser heilsgeschichtlichen Erwartung des Gymnasiasten lässt sich immerhin im Umkehrschluss entnehmen, was der späte Proust mit dem ‚vrai‘ meinte – und was nicht: Die Bücher überleben den Autor, wenn und weil sie einen Ewigkeitswert haben. Nicht zuletzt durch diesen in buchstäblich jedem Wort erhobenen Unbedingtheitsanspruch entgeht dieser gewagte Schlussabsatz der Gefahr ins Pseudo-religiöse oder provokant Häretische abzugleiten, weil er ungeachtet aller fundamentaltheologischen Anspielungen allein im Bezirk der Kunst angesiedelt ist. Darüber hinaus und wohl auch letztlich damit zusammenhängend ist die Auferstehung für Proust von entscheidender, alles bezwingender Bedeutung als Wiederauferstehung der Vergangenheit, die – wie im Falle der berühmten Madeleine (S I 67)⁹³³ – in einem Augenblick blitzartig alle sinnliche Wahrnehmung und alles andere unwiderstehlich Ausblendenden die Betrachtung ausschließlich auf den in Erinnerung gerufenen Moment lenkt: „denn solche Wiederauferstehungen der Vergangenheit sind in der Sekunde, die sie dauern, so allumfassend, daß sie nicht nur unsere Augen zwingen, das Zimmer zu ignorieren, das unmittelbar vor ihnen liegt, und statt dessen den mit Bäumen bestandenen Weg oder die steigende Flut zu betrachten (VII 268).⁹³⁴ – « car ces résurrections du passé, dans la seconde qu’elles durent, sont si totales qu’elles n’obligent pas seulement nos yeux à cesser de voir la chambre qui est près d’eux pour regarder la voie bordée d’arbres ou la marée montante » (TR II 19). Die Auferstehung der Vergangenheit und ihre Verewigung in der Kunst, nämlich jener der Geschichtsschreibung, war auch die selbstauferlegte Bestimmung des Tacitus,⁹³⁵ nachdem er der Redekunst endgültig entraten hatte.⁹³⁶ Er hat
Marcel Proust, Essais et articles (Présentation de von Thierry Laget, 1994, S. 17); übrigens erst in einer für Proust nicht untypischen überarbeiteten Fassung; vgl. ebenda, S. 382 Anmerkung 1. Karlheinz Stierle, Marcel und die Arena-Kapelle, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 179, 196. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143 f., umreißt in einer unausgesprochenen Anlehnung an Marcel innerhalb der ,wiedergefundenen Zeit‘ unter der vielsagenden Überschrift ‚la vocation litéraire‘ die Aufgabe, vor welche sich seines Erachtens der rund sechzigjährige Tacitus gestellt sah, als er sich anschickte, die ‚Annalen‘ zu verfassen: « La soixantaine approche:
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übrigens der ‚Auferstehung‘ von Büchern zunächst das akkurate Gegenteil, nämlich die physische Vernichtung durch Verbrennung der Bücher zur – freilich nur vermeintlich, wie das zuletzt zitierte Wort bedeutungsvoll zu verstehen gibt – vollständigen damnatio memoriae entgegengesetzt: ‚scilicet illo igne vocem populi Romani et libertatem senatus et conscientiam generis humani aboleri arbitrabantur‘ (Agr. 2.2). Neben der markanten Alliteration ist die Stimme des römischen Volkes als Gegenbegriff zur Schweigemetapher bedeutsam. Diese Stelle findet sich innerhalb des Proömium des Agricola im Umfeld des von Proust zitierten ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2). Dort geißelt er die willkürlichen Aburteilungen und die Ermordung derjenigen Autoren, die es gewagt hatten aufzubegehren oder auch nur Biographien von Dissidenten zu verfassen, die Domitian verbrennen ließ: ‚Legimus, cum Aruleno Rustico Paetus Thrasea, Herennio Senecioni Priscus Helvidius laudati essent, capitale fuisse, neque in ipsos modo auctores, sed in libros quoque eorum saevitum, delegato triumviris ministerio ut monumenta clarissimorum ingeniorum in comitio ac foro urerentur‘ (Agr. 2.1).⁹³⁷ Bei Tacitus wie bei Proust geht es also um das Fortleben der Bücher nach dem Tode des Autors. Das sich Fügen in das unerbittliche Gesetz des Todes ist mit einem unverkennbaren Hoffnungsschimmer im Hinblick auf die am Ende der Recherche vorausgesetzte ‚durée éternelle‘ versetzt (TR II 248). Und auch Tacitus beginnt den Satz nicht von ungefähr mit dem ‚Wir lesen‘ (legimus), das voraussetzt, dass die damnatio memoriae des Despoten misslungen ist und die Bücher bzw. ihr Andenken an die großen Männer und Schriftsteller letztlich doch überlebten. Der Nachwelt erzählt und überliefert, wird es von bleibender Dauer sein: ‚posteritati narratus et traditus superstes erit‘ (Agr. 46,4).⁹³⁸ Besonders deutlich
que fait-il? Une nouvelle œuvre le séduit, les Annales. Il s’y consacre, allègrement. Son génie triomphera, et aussi le travail acharné, et l’effort du style. Comme il dit lui-même, meditatio et labor ad posteros (sic) valescit. Il se propose d’écrire l’histoire de Rome, de l’avènement de Tibère à la chute de Néron, en dix-huit livres. Quatre règnes, et l’espace de cinquantequatre ans (14– 68) c’est à dire la vie d’un homme, ou, mieux, la période qu’un vieillard pourrait embrasser en guise de souvenirs personnels. Tacite y entre par l’imagination. Il trouve ce qu’il connaissait déjà: l’empereur, la cour, le sénat, l’ambition et l’hypocrisie, les paradoxes et les vicissitudes de la vie, le jeu du hasard et de la Fortuna. La distance donne la clarté et l’acuité—et dans cette époque antérieure, tout était agrandi, rehaussé. Tacite fait revivre cette époque ensevelie. Les Annales, c’est une ‘recherche du temps perdu’ ». Hervorhebung auch dort. Ronald Syme, The Senator as Historian, in: Ten Studies in Tacitus, 1970, S. 1, 7: “Oratory was finished”. Plinius, Epistulae 3.11, berichtet von diesem, wohl auch seinem eigenen, erweiterten Freundeskreis. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 21 f., hat den Sinngehalt dieses Satzes am deutlichsten herausgearbeitet – und zwar unwillkürlich in einer Weise, die auch im
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zeigt sich das am Ende der weiter oben behandelten Rede des Cremutius Cordus. Dort schildert Tacitus auch eine Art Auferstehung der nach dem Senatsbeschluss zu verbrennenden Bücher. Sie wurden schlicht versteckt und später wieder veröffentlicht: ‚libros per aediles cremandos censuere patres; et mansuerunt, occultati et editi‘ (ann. 4.35.4). Hier stehen sich zwei Alliterationen gegenüber, deren zweite die Langlebigkeit der Bücher effektvoll betont, deren Verbrennung letztlich erfolglos angeordnet worden war. Darüber hinaus hat Tacitus in einem dem soeben zitierten Proustschen Bild der Auferstehung der Bücher Bergottes vergleichbaren Gedanken in profanerer Manier, aber ebenfalls am Beispiel der Bücher eines Autors, einen sarkastisch gefärbten Schlusspunkt gesetzt. Die Bücher dieses Autors durften wegen ihres regimekritischen Inhalts zu seinen Lebzeiten nicht gelesen werden, wodurch sie erst recht interessant wurden. Allerdings erschöpfte sich ihr Interesse offenbar darin, so dass man sie, als man sie lesen durfte, nicht mehr lesen wollte. Es war nur der Reiz des Risikos, den ihr Besitz mit sich brachte, also die Neugier nach dem Verbotenen, nicht nach dem – entsprechend der taciteischen Insinuation: langweiligen – Inhalt. Damit fielen sie der Vergessenheit anheim, sobald man sie nach dem Tod des Autors gefahrlos haben durfte: ‚conquisitos lectitatosque, donec cum periculo parabantur: mox licentia habendi oblivionem attulit‘ (ann. 14.50.2). Das ist von einer Ironie, wie sie auch bei Proust verschiedentlich zu finden ist, weil die Berufung auf höchste Werte und Rechte lächerlich wirkt, wenn sie nur zur Durchsetzung eines schlicht langweiligen Inhalts zu dienen bestimmt ist. Darüber hinaus klingt es wie ein entferntes Echo, eine humorvolle Anspielung auf jenen Haterius von dem bereits weiter oben die Rede war; als eines Autors nämlich, dessen Rede nur zu seinen Lebzeiten eindrucksvoll hervorsprudelt, mit seinem Tod aber schlagartig versiegt, wie das Interesse an ihm und seinem ebenso
Hinblick auf Proust weiterführend sein kann, wenn man das altrömische Virtus-Denken herausrechnet: „Aber schon hier drängt sich ein Anderes, fast möchte man sagen, Fremdes mit elementarer Gewalt davor: die contemplatio und admiratio virtutum, die immortales laudes, also die anschauende, ins Bild des Vergangenen sich ‚kontemplativ‘ versenkende Haltung und seine preisende Verherrlichung in unsterblicher memoria. (…) Damit sind wiederum dem Sichversenken in das Bild der Erinnerung, das freilich Voraussetzung des Nacheiferns ist, mehr und eindringlichere Worte gewidmet als der daraus gezogenen moralischen Forderung. Der Schußsatz des Ganzen faßt dann – in der gleichen Reihenfolge – beide Elemente zusammen: Agricola posteritati narratus et traditus superstes erit, wenn wir – was das Vorangehende doch nahelegt – unter dem narrare die Darstellung des Erinnerungsbildes, unter dem tradere das verpflichtende Überliefern an die Nachwelt zur Bewährung gleicher Tugend verstehen dürfen.“ Hervorhebungen nur hier.
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kurzlebigen Werk:⁹³⁹ ‚sic Haterii canorum illud et profluens cum ipso simul exstinctum est‘ (ann. 4.61). Ein warnendes Beispiel dieser Art nennt auch Marcel anhand eines erfolgreichen Pariser Rechtsanwalts – den Rednern der römischen Antike auch insoweit ähnlich⁹⁴⁰ –, dessen eitle Saturiertheit im Selbstbewusstsein seiner Kunstfertigkeit gerade den Unterschied zur wirklichen Kunst bedeutet: „Der sie begleitende Herr war ein berühmter Pariser Rechtsanwalt aus geadelter Familie (…). Er war einer von den Männern, die auf Grund ihrer vollendeten Berufserfahrung ihren Beruf selbst verachteten und zum Beispiel sagen: ‚Ich weiß, daß ich gut plädiere, aber es macht mir keinen Spaß mehr, vor Gericht zu sprechen‘ (…). Gescheit und Künstler in ihrem Fach, sehen sie sogar die fachliche Reife, zu der sie gereift sind und die sich durch Erfolg gut rentiert, von dem Glorienschein des Könner- und Künstlertums umgeben, den ihre Fachgenossen ihnen zuerkennen und der ihnen eine Andeutung von Geschmack und Unterscheidungsvermögen verleiht. Sie fassen eine Leidenschaft für die Gemälde nicht eines großen, aber eines doch sehr distinguierten Künstlers und verwenden auf den Ankauf von dessen Bildern die bedeutenden Einkünfte, die sie ihrer Karriere verdanken. (…) Er sprach gut von Büchern, aber nicht denen der wahren Meister, das heißt jener, die sich selbst gemeistert haben“ (IV 285).⁹⁴¹ – « Le Monsieur était un célèbre avocat de Paris, de famille nobilitaire (…). C’était un de ces hommes à qui leur expérience professionelle consommée fait un peut mépriser leur profession et qui disent par exemple: ‚Je sais que je plaide bien, aussi cela ne m’amuse plus de plaider‘ (…). Intelligents, artistes, ils voient autour de leur maturité, fortement rentée par le succès, briller cette ‚intelligence‘, cette nature d’‘artiste‘ que leurs confrères leur reconnaissent et qui leur confère un à-peu-près de goût et de discernement. Ils se prennent de passion pour la peinture non d’un grand artiste, mais d’un artiste cependant très distingué, et à l’achat des œuvres duquel ils emploient les gros revenus que leur procure leur carrière. (…) Il parlait bien des livres, mais non de ceux des vrais maîtres, de ceux qui se sont maîtrisés » (SG I 279). Nicht von ungefähr ist es ein Jurist, mit dem Proust so hart ins Gericht geht. Die nur scheinbar meisterhaften Bilder und Bücher, auf die der preziös-geschmäcklerische Rechtsanwalt setzt, bilden eine Metapher seiner eigenen Kunstfertigkeit im Unterschied zur unvergänglichen Kunst, die er nicht zu würdigen weiß, weil er
Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 63, beobachtet scharfsinnig an einem anderen Beispiel, was hier wohl auch für Tacitus gilt: „Proust kommt so zu einem Humor des Trivialen“. Clarence W. Mendell, Tacitus. The Man and his Work, 1957, S. v, notiert ohne Umschweife: “Tacitus was also a lawyer, which meant at Rome that he was presumably engaged, to some extent at least, in politics”. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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sie selbst nicht beherrscht, während er das geringschätzt, was er vermag – eine tragische Verfehlung seiner Berufung. Derartige Geister begräbt, weil sie selbst nichts wirklich Bleibendes erschaffen, die Vergessenheit, wie Tacitus am Ende des ‚Agricola‘ in unnachahmlicher Kürze durch eine den untrennbaren Zusammenhang verdeutlichende Alliteration verfügt: ‚oblivio obruit‘ (Agr. 46.4).⁹⁴² Diese kontrastierende Entgegensetzung der dem Vergessen Anheimgefallenen mit seinem Schwiegervater Agricola prägt auch das eingangs genannte Annalen-Wort. Die Pointe besteht hier wie dort in dem unscheinbar vorangestellten, in Wahrheit alles Entscheidenden: ‚utque aliorum meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61).⁹⁴³ Den vergessenen Redner leitet er sodann mit einem ‚sic‘ ein, das den vergänglichen Ruhm des Redners ebenso besiegelt wie den der vergessenen Alten im Agricola: ‚multos veterum velut ingloriosos et ignobilis‘ (Agr. 46.4). Übrigens ist neben dem bevorzugten ‚quasi‘ auch ‚velut‘ ein häufig wiederkehrendes Wort des Tacitus – ‚velut capta urbe‘ (hist. 1.82) –, das jene gleichnishafte Wirkung zu erzielen hilft, der auch Prousts Metaphern dienen.⁹⁴⁴ Dass Proust in denselben Dimensionen dachte, zeigt der Schluss seines Essays über Baudelaire. Dort stellt er fest, dass die Nachwelt nach der Qualität der Werke urteilt, nicht nach der Quantität: « La posterité se soucie de la qualité des œuvres, elle ne juge pas sur la quantité. »⁹⁴⁵ Innerhalb der Recherche verdeutlicht dies noch eine beiläufige Gegenüberstellung: „Jedenfalls konnte ich hier nicht die Enttäuschung erleben, die Ewigkeit eines Meisterwerks auf die Länge der Bühnenrampe und die Dauer einer Vorstellung beschränkt zu sehen, die ihm ebensoviel oder wenig gerecht wurde wie einem Werk, dem nur ein Tageserfolg beschieden war“ (III 62).⁹⁴⁶ – « Mais je n’avais pas comme pour une pièce classique cette déception de voir l’éternité d’un chef-d’œuvre ne tenir que la largeur de la rampe et la durée d’une représentation qui l’accomplissait aussi bien qu’une pièce de circonstance » (G I 64).
Das erinnert an die treffende Formulierung von Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 120, wonach dessen Perioden „schließlich wie mit einem Hammerschlag, einem Beilhieb treffenden Satzrhythmus, den wir für Proust charakteristisch fanden“, endeten. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Hildebrecht Hommel, Die Bildkunst des Tacitus, 1936, S. 8, nennt es treffend „ein die Situation verdeutlichendes Gleichnis, wie sie im Dienste bildhafter Vergegenwärtigung Tacitus auch sonst liebt“. Marcel Proust, À propos de Baudelaire, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 335. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Marcel macht freilich auch kontingente Faktoren aus, die zuweilen dazu führen, dass sich ein Werk durchsetzt, und führt als Grund dafür unter anderem ein diffuses ‚Gerechtigkeitsbedürfnis‘ an, das dem Ganzen vor dem Hintergrund seines überaus skeptischen Verständnisses von der Gerechtigkeit etwas Arbiträres verleiht: „So hatte der Geist, seinem gewohnten Lauf folgend, welcher sich mit allerlei Abschweifungen und unter Wellenbewegungen nach der einen oder anderen Seite vollzieht, das Licht von oben einer gewissen Zahl von Werken zuteil werden lassen, in welche der Gerechtigkeitssinn, oder ein Bedürfnis nach Erneuerung, oder der Geschmack Debussys, oder seine Laune, oder irgendein Ausspruch, den er vielleicht gar nicht getan, auch die Werke Chopins einbezogen hatte“ (IV 299).⁹⁴⁷ – « C’est ainsi que l’esprit, suivant son cours habituel qui s’avance par digression, en obliquant une fois dans un sens, la foi suivante dans le sens contraire, avait ramené la lumière d’en haut sur un certain nombre d’œuvres auxquelles le besoin de justice, ou de renouvellement, ou le goût de Debussy, ou son caprice, ou quelques propos qu’il n’avait peut-être pas tenu, avaient ajouté celles de Chopin » (SG I 292/293). Dem großen Meisterwerk jedoch haftet die « durée éternelle » an (TR II 248), zumal da es sich dem Betrachter erst mit der Zeit erschließt: „Doch sind die großen Meisterwerke wiederum weniger enttäuschend als unser Dasein, weil sie uns nicht am Anfang das Beste geben, was sie zu bieten haben“ (II 139).⁹⁴⁸ – « Mais, moins décevants que la vie, ces grands chefs-d’œuvre ne commencent pas pour nous donner ce qu’ils ont de meilleur » (JF 139/140). Es kommt aber noch etwas Entscheidendes hinzu, dass beiläufig auch für das Verhältnis von Recht und Literatur bei Proust bedeutsam ist. Die Reflexion über Bergottes Tod dürfte nämlich in einem so wohl noch nicht gesehenen inneren Kausal- und Verweisungszusammenhang zu jener Stelle stehen, an der Marcel über Françoise sagt, dass sie geschrieben haben würde wie Tacitus, die daher noch einmal in Erinnerung gerufen sei, weil es auf den Wortlaut ankommt:⁹⁴⁹ „Vor allem aber drückte sich, wie oft die Schriftsteller, wenn sie durch die Tyrannei eines Monarchen oder einer Poetik, durch die Strenge der prosodischen Regeln Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 70, bemerkt allgemein, was auch hier, insbesondere für die genannte ‚Konzentrationsfähigkeit‘ gilt: „Es gibt nur eine Form der Energie, die bei Proust heroisiert wird: die des geistigen Schaffens. (…) Prousts Werk ist die Frucht einer EnergieEntfaltung, die nur mit den höchsten Maßstäben zu fassen ist. (…) Das Leben Marcel Prousts repräsentiert den seltenen Fall einer restlosen Übertragung der Energie von der Praxis in die Poiesis. Alles Streben nach Gütern und Lebenswerten, alles äußere Wollen scheint bei ihm ausgeschaltet zugunsten dieser Konzentration auf ein Schaffen, das ein Nachschaffen ist: Nachbildung des ihm geschenkten geistigen Universums, Nachbildung der ‚verlorenen Heimat‘, und der ‚verlorenen Zeit‘“.
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oder die einer Staatsreligion geknebelt sind, zu einer Macht der Konzentration gelangen, die sie unter der Herrschaft einer freiheitlichen politischen Richtung oder literarischen Anarchie gar nicht nötig gehabt hätten, erspart hätte, Françoise wie Tiresias aus, und sicher hätte sie geschrieben wie Tacitus.“ (III 476).⁹⁵⁰ – « Mais surtout, comme les écrivains arrivent souvent à une puissance de concentration dont les eût dispensés le régime de la liberté politique ou de l’anarchie littéraire, quand ils sont ligotés par la tyrannie d’un monarque ou d’une poétique, par les sévérités des règles prosodiques ou d’une religion d’État, ainsi Françoise, ne pouvant nous répondere d’une façon explicite, parlait comme Tirésias et eût écrit comme Tacite » (G II 244).⁹⁵¹ Betrachtet man diesen Satz erneut vor dem Hintergrund der sich an Bergottes Tod anschließenden Reflexion, dann wird eine Ähnlichkeit sichtbar: der Vergleich mit dem Schriftsteller – wie Bergotte einer war – und zwar in der Alternative ‚wenn sie durch die Tyrannei (…) einer Poetik (…) geknebelt sind.‘ Dieses auf den ersten Blick enigmatisch anmutende Wort wird im Hinblick auf Bergotte erklärlich. Denn es bedeutet nichts anderes als die im Nachruf auf Bergotte genannte ‚Herrschaft jener unbekannten Gesetze, denen wir gehorchen, weil wir ihr Gebot in uns trugen, ohne zu wissen, wer es dort eingeschrieben hat – Gesetze, denen alle vertiefte Arbeit des Geistes uns näher bringt‘ (V 248).⁹⁵² Das aber ist genau die ‚Tyrannei einer Poetik‘, durch die der Künstler ‚geknebelt‘ ist, mithin nicht anders kann, als seinem Perfektionsdrang nachzugeben, der ihm durch jenes Gesetz aus unvordenklicher Zeit zwingend aufgegeben ist: „wie die Tyrannei des Reimes gute Dichter zwingt, ihre größten Schönheiten zu finden“ (I 36).⁹⁵³ – « Comme les bon poètes que la tyrannie de la rime force à trouver leurs plus grandes beautés » (S I 39). Daher verwundert es auch nicht, dass sich gerade im Hinblick auf den Stil und die Prosa Bergottes zur Erläuterung der Formenstrenge das Adjektiv ‚prosodisch‘ findet – « par les sévérités des règles prosodiques » (G II 244). Denn dieses erscheint bezogen auf die Regeln nicht von ungefähr in jenem soeben genannten Satz der Recherche, in dem Tacitus ausdrücklich genannt ist, weil die prosodi-
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Zur Strenge der prosodischen Regeln bedeutsam Vittorio Hösle, Wie kann Sprache malen? Formen der Sprachmalerei in der Dichtung, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 50 (2020), 673, 677, 685. Astrid Winter, Die Figur der Françoise in Marcel Prousts „À la Recherche du Temps Perdu“, 2003, S. 86 Fußnote 155, kommentiert: „Françoises spezielle Weise des Zuhörens gibt von ihrer Ungläubigkeit Zeugnis. Der hinzukommende und von ihr verwendete Akzent bestätigt das vom Erzähler festgestellte Factum.“ Margaret Topping, Proust’s Gods, Christian and Mythological Figures of Speech in the Works of Marcel Proust, 2000, S. 79, deutet die Stelle zu einseitig. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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schen Regeln den Schriftsteller ungeachtet aller scheinbaren dichterischen Freiheit stärker binden als ein äußeres Gesetz (III 476): „Unter einem beiläufigeren Gesichtspunkt entsprach die besondere, etwas zu genaue und prägnante Art, in der er manche Worte aussprach, bestimmte Adjektive zum Beispiel, die oft in seiner Unterhaltung wiederkehrten und die er nicht ohne eine gewisse Emphase gebrauchte, indem er die Silben hervorhob und die letzte geradezu sang (…), an genau der bevorzugten Stelle, an der er in seiner Prosa diese besonders geliebten Wörter in den Vordergrund rückte, wobei ihnen dann eine Art Pause voranging und sie, prosodisch betrachtet, in einer Stellung erschienen, daß man, wollte man nicht einen metrischen Fehler begehen, ihre volle Quantität in Betracht ziehen mußte“ (II 168).⁹⁵⁴ – « A un point de vue plus accessoire, la façon spéciale, un peu trop minutieuse et intense, qu’il avait de prononcer certains mots, certains adjectifs qui revenaient souvent dans sa conversation et qu’il ne disait pas sans une certaine emphase, faisant ressortir leurs syllabes et chanter la dernière (…) correspondait exactement à la belle place où dans sa prose il mettait ces mots aimés en lumière, précédés d’une sorte de marge et composés de telle façon, dans le nombre totale de la phrase, qu’on était obligé, sous peine de faire une faute de mesure, d’y faire compter toute leur ‚quantité‘ » (JF I 169).⁹⁵⁵ An anderer Stelle heißt es in vergleichbarem Sinn „wie ein Künstler, der ein Meisterwerk in sich trägt und der fühlt, daß es seine Pflicht wäre zu leben, um zu arbeiten“ (III 523)⁹⁵⁶ – « de même qu’un artiste portant en lui un chef-d’œuvre et qui sent que son devoir serait de vivre pour travailler » (G III 23). Das gilt für Vermeer ebenso wie für Tacitus, über den man nur wenig mehr Verbindliches weiß,⁹⁵⁷ als Proust über Vermeer sagte, was freilich letztlich einerlei ist, weil ihr überliefertes Werk unsterblich ist und mehr über ihre jeweilige Art des Denkens und Urteilens zum Ausdruck bringt, als es eine noch so detaillierte Biographie vermöchte.⁹⁵⁸ Daher behält die Nachwelt einen winzig kleinen und gött-
Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 127, erkennt die Bestandteile dieses Bestrebens, behält aber dabei zugleich immer den Endpunkt im Blick: „Alle transzendenten Motive des ewigen Platonismus erscheinen so, zunächst vereinzelt, dann immer dichter verwoben in Prousts Welt. Sie verschmelzen zuletzt in der Frage nach Tod und Unsterblichkeit“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Ronald Syme, Who was Tacitus?, Harvard Library Bulletin XI (1957), 185; Geza Alföldy, Bricht der Schweigsame sein Schweigen? Eine Grabinschrift aus Rom, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts – Römische Abteilung 102 (1995), 251. Clarence W. Mendell, Tacitus. The Man and his Work, 1957, hat daher einen treffenden Titel für sein großes Werk gefunden, das bis heute im Schatten des ein Jahr später erschienenen, letztlich gewiss auch bedeutenderen von Ronald Syme, Tacitus, 1958, steht.
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lichen Vermeer, wie Proust am Schluss des Baudelaire-Essays festhält, dauerhaft im Gedächtnis: « La posterité (…) retient un minuscule et divin Ver Meer ».⁹⁵⁹ Wenn die vorstehende Deutung zutrifft, so wird damit wahrscheinlicher, dass die Stelle, an der Tacitus in der Recherche ausdrücklich und mit Bedacht genannt ist (G II 244), keine beiläufige, sondern eine schlechthin zentrale darstellt, wie auch ihre Einleitung nahelegt (« surtout »). Denn dann wäre sie zuinnerst verwoben mit der Schilderung des Todes Bergottes’ (P I 247), also einem Herzstück der Recherche, dem sie als sich selbst bestätigender Ausweis akribischer Arbeit passgenau entspricht, und zwar bis hin zur Metapher der Tyrannei bzw. der Herrschaft der Gesetze, ‚denen alle vertiefte Arbeit des Geistes uns näher bringt‘, weil sie bei vollendeter Erfüllung schließlich doch jene « durée éternelle » (TR II 248) verheißen kann, an welcher Marcel am Ende der Recherche noch einmal beklommen zu zweifeln vorgibt, auf die aber schon Tacitus, der die fünfzehnjährige – ‚grande mortalis aevi spatium‘ (Agr. 3.2) – Tyrannei eines Monarchen erlebt hatte, selbstgewiss vertraute: ‚meditatio et labor in posterum valescit‘ (ann. 4.61).⁹⁶⁰ Im Bewusstsein einer überschaubaren verbleibenden Lebensspanne, die umso weniger Zeit für das Hauptwerk lässt, richten Tacitus und Proust gleichermaßen zuversichtlich ihren Blick auf den Lohn aufwendiger Erinnerungsarbeit in Gestalt unsterblichen literarischen Nachruhms. Zumindest Proust war sich freilich einer letzten Grenze dieses Nachruhms bewusst:⁹⁶¹ „als Künstler an den künftigen Ruhm, den sie noch nachgenießen möchten“ (II 75).⁹⁶² – « à la gloire future de laquelle ils pourront jouir » (JF I 74). Ein Rest Wehmut bezüglich der Vergänglichkeit alles Irdischen scheint ungeachtet aller besseren Einsicht zu bleiben: „Wenn wir auch zehnmal wissen, daß die Jahre vergehen, daß die Jugend dem Alter weichen muß, daß die solidesten Vermögen und Throne stürzen können, daß der Ruhm vergänglich ist, läßt ihn doch unsere Art, von diesem so beweglichen und vom Strom der Zeit dahingetragenen Kosmos
Marcel Proust, À propos de Baudelaire, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 335. Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143; zu seiner – leicht divergierenden – Deutung dieses von ihm in diesem Zusammenhang erstmals zur Diskussion gestellten Wortes weiter oben. Ernst Robert Curtius, Proust (1925), 1952, S. 133, beschließt seinen epochalen Proust-Essay nicht von ungefähr mit einer eschatologischen Synthese der Gedanken von Altmeisterlichkeit, Geistigkeit, Wahrheit, Universalität und Überzeitlichkeit der Kunst, die mit ihrer wirkungsvollen Anapher anschließt an die großen Klassiker: „Ja, es gibt noch, es gibt wieder eine Kunst, die klar und reich ist, geformt von meisterlicher Hand, gefüllt mit Seele, beherrscht vom Geist; eine Kunst, wahr bis ins Letzte, die das Ganze der menschlichen Natur umfaß und vor Leben und Tod besteht. Eine solche Kunst ist große Kunst“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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Kenntnis und gleichsam einen Negativabdruck zu nehmen, gerade als etwas Unbewegliches erscheinen“ (VII 390). – « Nous avons beau savoir que les années passent, que la jeunesse fait place à la vieillesse, que les fortunes et les trônes les plus solides s’écroulent, que la célébrité est passagère, notre manière de prendre connaissance et, pour ainsi dire, de prendre le cliché de cet universe mouvant entraîné par le Temps, l’immobilise au contraire » (TR II 142). Die Großschreibung des Wortes ,Tempsʻ bildet eine Binnenverweisung auf den Schluss der Recherche (TR II 254). Auch der Blick auf den Ruhm erweist sich somit immer nur als eine Momentaufnahme. Gemeint ist also letztlich wieder der Gedanke der eingeschränkten « durée éternelle » (TR II 248), bezüglich derer Proust sich zu seinem Vorteil haben geirrt dürfte, wie zumindest das vergangene Jahrhundert seit seinem Tod erwiesen hat, selbst wenn seine Zeitgenossen ihn noch nicht vollends zu würdigen wussten.⁹⁶³ Umso mehr gilt dies für Tacitus, wenngleich die Nachwelt ihn zunächst schnöde behandelte,⁹⁶⁴ das Mittelalter nichts von ihm wissen wollte und erst die Renaissance ihn wiederentdeckte.⁹⁶⁵ Proust selbst hätte diese Verzögerung der Rezeption schwerlich erstaunt:⁹⁶⁶ „Diese Zeit übrigens, die das Individuum nötig hat (…) um in ein tief angelegtes Werk einzudringen, ist gleichsam nur die Abkürzung und das Symbol der Jahre, der Jahrhunderte zuweilen sogar, die vergehen, bis das Publikum ein neues Werk zu lieben versteht“ (II 140).⁹⁶⁷ – « Ce temps du reste qu’il faut à un individu (…) pour pénétrer une œuvre un peu profonde n’est que le raccourci et comme le symbol des
Ernst Robert Curtius, Marcel Proust, Der Neue Merkur, Februar 1922, 745 – 761, auf dessen französische Teilübersetzung in der Nouvelle Revue Française vom 1.7.1922 Proust ungeduldig wartete, bildet vielleicht die bedeutendste Ausnahme. Ronald Syme, Sallust, 1964 (zitiert nach der von Udo Scholz übersetzten deutschsprachigen Ausgabe 1975), S. 292: „Tacitus wurde übergangen und verachtet. (…) Tacitus hatte über verfallende Dynastien, über bewaffnete Proklamationen und über Bürgerkrieg und immer wieder über die Tyrannei geschrieben. Sein Hauptthema war das Leben von Senatoren unter despotischer Herrschaft. Das war verwirrend und schädlich, man wollte es lieber vergessen. Man wünschte zu glauben, daß die schlimme Vergangenheit nie mehr zurückkehren würde“. Niccolò Machiavelli, Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio, 1531, III 19. Siehe auch Stephen Greenblatt, The Swerfe. How the World Became Modern, 2011; Jens Petersen, Machiavellis Gesetzgebungslehre, 2020. Karlheinz Stierle, Marcel und die Arena-Kapelle, in: Marcel Proust. Schreiben ohne Ende (Hg. Rainer Warning), 1994, S. 179, 195, stellt epochenübergreifend fest, dass „in Prousts Roman einer Erinnerung eine historische Tiefendimension enthalten ist, die mittelalterliche Welt, Welt der Renaissance und der Moderne und schließlich eine Welt jenseits der Moderne miteinander konfrontiert“. Übersetzung Eva Rechel-Mertens.
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années, des siècles parfois, qui s’écoulent avant que le public puisse aimer un chefd’œuvre vraiment nouveau » (JF I 140).⁹⁶⁸ Was Proust betrifft, so findet sich an versteckter Stelle der Recherche in einer Art voraussschauendem Vorgriff auf den Tod Bergottes ein wenig beachtetes Wort, mit dem der Autor sich in souveräner Abgeklärtheit von seinem eigenen Nachruhm sub specie aeternitatis und nicht ohne eine gewisse Selbstironie so souverän distanziert, wie es Tacitus, dessen mutmaßliche Grabplatte noch heute Rätsel aufgibt,⁹⁶⁹ in seiner letzten Endes altrömischen Befangenheit des Strebens nach unbedingt überdauerndem Ruhm wohl schwerlich möglich gewesen wäre, auch wenn er es seinem Schwiegervater noch so sehr wünscht (Agr. 46.1):⁹⁷⁰ „Ein verstorbener Autor kann wenigstens ohne Ermüdung berühmt sein. Der strahlende Glanz seines Namens macht an dem Grabstein halt. In der Dumpfheit ewigen Schlafes belästigt der Ruhm ihn nicht“ (III 432).⁹⁷¹ – « Un auteur mort est du moins illustre sans fatigue. Le rayonnement de son nom s’arrête à la pierre de sa tombe. Dans la surdité du sommeil éternel, il n’est pas importuné par la Gloire » (G II 198/ 199). Das erste Wort dieses unprätentiösen Nachsatzes mit seiner Zielrichtung auf den ‚ewigen‘ Schlaf, der unendlich länger währt als das zeitlich begrenzte ‚longtemps‘ (S I 11), und die bewusste Großschreibung des letzten Wortes nehmen in gewissem, nämlich auf die Ewigkeit bezogenen Sinne die drei letzten Worte der Recherche vorweg: « dans le Temps » (TR II 254).⁹⁷² Auch für die auf dauerhaften Nachruhm sinnende taciteische Kunst der Geschichtsschreibung, die in den Annalen als Ergebnis angestrengten Nachdenkens, jener ‚meditatio‘,⁹⁷³ ihre sorgfältigste Ausprägung der vollkommenen Entsprechung von Inhalt und Stil erfahren hat⁹⁷⁴ – ‚cura vigebat‘ (ann. 4.61) –, gilt mutatis mutandis Prousts Wort,
Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 130: „Es ist vor allem das ‚chef-d’œuvre vraiment nouveau‘ (…), für das Beethovens Quartette ein großes Beispiel sind, das sich der unmittelbaren Aufnahme versagt“. Geza Alföldy, Bricht der Schweigsame sein Schweigen? Eine Grabinschrift aus Rom, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts – Römische Abteilung 102 (1995), 251. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Was ich den Alten verdanke, 1: bezeichnet es ausgehend von Tacitus’ Vorbild Sallust als „eine sehr ernste Ambition nach römischem, nach dem ‚aere perennius‘ im Stil.“ Hervorhebungen auch dort. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Karlheinz Stierle, Zeit und Werk. Prousts À la Recherche du Temps perdu und Dantes Commedia, 2008, S. 127, wonach das mit der Masjuskel bezeichnete „‚Le Temps‘ die erfahrene, in der Erinnerung und mehr noch im Werk aufgehobene Zeit, (…) nicht meßbar, sondern einzig einer Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins zugänglich ist“. Zu ihr Ronald Syme, Tacite et Proust, Histos 7 (2013), 131, 143. Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 14 f., betont das Künstlertum in einer Weise, die, wenn man das zeitbedingt vornehme Pathos herausrechnet, auch für Proust
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dass die Kunst das wahre Jüngste Gericht ist:⁹⁷⁵ « le vrai Jugement dernier » (TR II 25).⁹⁷⁶ Am Ende der Recherche lebt beim Erzähler noch einmal die durch die Madeleine-Erfahrung überwunden geglaubte Furcht vor dem Tode auf, jedoch weniger um seiner selbst willen denn aus Sorge, sein Werk unvollendet zu hinterlassen:⁹⁷⁷ „Nun aber begann ich gerade jetzt, da er mir seit kurzem gleichgültig
gegolten haben könnte: „Der Rhetor verfällt der Schablone, der Dichter kann seine Persönlichkeit nicht verbergen. Tacitus übergießt sein Kunstwerk mit dem Schimmer seines Wesens: tiefer Ernst der Seele und Reife der Gedanken, der Gegenwart nicht fremd, doch zurückgeneigt in eine größere Zeit. Er ist isoliert unter den Seinen, ein einsames Nachdenken hat seinen Sinn gebleicht; über ihm liegt etwas von dem tragischen Bewußtsein, daß er als der letzte einer vergehenden Welt an der Grenze zweier Zeitalter steht“. Eduard Fraenkel, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 16, 36 f., wagt unter Berücksichtigung des Stils der Annalen einen gewaltigen Vergleich, der bei allen Unterschieden die Nähe zu Proust verdeutlichen kann, der, wie erinnerlich allerdings ironisch, Françoise mit Michelangelo verglichen hat (JF I 26/43): „Tacitus legt die seelische Muskulatur seiner Figuren bloß wie eine Zeichnung des Michelangelo die leibliche. Und wie in Michelangelos Jüngstem Gericht erblicken wir in dem Geschichtswerk, gleichsam als Ausdruck einer ins Ungeheure gesteigerten Kinetik, über dem Acheron immer neue Gruppen geknäuelter Menschen in jähem Stürzen oder Steigen; mit äußerster Anspannung erfüllen sie alles, dulden keinen leeren Raum zwischen sich und ganz und gar keine Ruhe eines bloßen Daseins. Der geheimnisvolle Mittler aller dieser Wirkungen, der Sprachstil der Annalen, entzieht sich jeder Festlegung auf eines der Schlagworte der Literaturgeschichte“. Richard Reitzenstein, Tacitus und sein Werk, Neue Wege zur Antike IV (1926), 3, 16 (=Aufsätze zu Tacitus, 1967, S. 121, 134), bringt sein Künstlertum und den daraus hervorgehenden Anspruch am deutlichsten zum Ausdruck: „Weniger auf die Sache als auf die Form kam es ihm an; ein Kunstwerk wollte er schaffen. Er ist nicht eigentlich Historiker, sondern Dichter, allerdings der größte Dichter der späteren Zeit.“ Hervorhebung nur hier. In diese Richtung bereits Johann Wilhelm Süvern, Über den Kunstcharakter des Tacitus, Abhandlungen der Berliner Akademie, Historisch-philosophische Klasse 1822– 23, S. 73. Hans Robert Jauß, Zeit und Erinnerung in Marcels Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans, 1955; hier zitiert nach der ersten Auflage 1986 im SuhrkampVerlag (stw 587), S. 276 f., meint wohl nicht zuletzt die folgenden Gedanken, wenn er die von dort ausgehende Bedrohung ausmalt: „gewaltiger als alle Gefahren, die Körper und Geist, Schaffenskraft und Gedächtnis anfallen können, bedroht ‚LA MORT‘ das Werk ‚Marcels‘, das niemand anderes als er selbst vollbringen kann. Der Tod, den er zu fürchten aufgehört hatte, (…), nistet sich nun (…) endgültig bei ihm ein und wird ihm in seiner neuen Realität zum letzten großen Spiegel der Welt. (…) die wiedergefundene Zeit muß durch die Pforte des Todes in das Werk eingehen, um dort vor seiner Macht – dem Oubli (…) – bewahrt zu bleiben.“ Hervorhebungen auch dort. Gleichwohl gilt auch hier, was Karlheinz Stierle, Die Fabel der Welt und das System der schönen Künste. Ovid, Dante, Proust, in: Das lebendige Wort. Begegnungen mit der Antike, 2020, S. 243, 259, am Beispiel einer verwandten Stelle folgert: „Aber ist es noch Zeit, diese Welt, die Fabel dieser Welt ins Werk zu setzen? Die faktische Unvollendetheit kann die Vollendung nicht in Frage stellen, auch wenn sie fragmentarisch bleibt.“ – Insofern wird man auch über die Recherche
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geworden war, ihn von neuem zu fürchten, freilich in einem anderen Sinne, nicht mehr für mich, sondern für mein Werk, zu dessen Entstehen – mindestens für eine gewisse Zeitlang – das von vielen Gefahren bedrohte Leben unerläßlich notwendig war. Victor Hugo sagt: ‚Das Gras muß sprießen und die Kinder müssen sterben.‘ Ich aber behaupte, das grausame Gesetz der Kunst besteht darin, daß die Wesen sterben und dabei alle Leiden bis auf den Grund ausschöpfen, damit das Gras nicht des Vergessens, sondern des ewigen Lebens sprießt,⁹⁷⁸ der derbe harte Rasen fruchtbarer Werke, auf dem künftige Generationen heiter, ohne Sorge um die die darunter schlafen, ihr ‚Frühstück im Freien‘ abhalten werden“ (VII 493/ 494).⁹⁷⁹ – « Or c’était maintenant qu’elle m’était devenue depuis indifférente que je recommençais de nouveau à la craindre, sous une autre forme il est vrai, non pas pour moi, mais pour mon livre, à l’éclosion duquel était, au moins pendant quelque temps, indispensable cette vie que tant de dangers menaçaient. Victor Hugo dit : ‘Il faut que l’herbe pousse et que les enfants meurent.’ Moi je dis que la loi cruelle de l’art est que les êtres meurent et que nous-mêmes mourions en épuisant toutes les souffrances pour que pousse l’herbe non de l’oubli mais de la vie éternelle, l’herbe drue des œuvres fécondes, sur laquelle les générations viendront faire gaiement, sans souci de ceux qui dorment en-dessous, leur ,déjeuner sur l’herbeʻ » (TR II 241).⁹⁸⁰ Sieht man einmal von der Anspielung auf das Manet-Bild ‚Le Déjeuner sur l’herbe‘ ab,⁹⁸¹ so ist vor allem das Zitat Victor Hugos für den vorliegenden Zu-
ungeachtet aller nachgelassenen Esquisses bzw. Particelle mutatis mutandis Entsprechendes sagen können, wie über Schuberts ‚Unvollendete‘ oder Bruckners IX. Symphonie, nämlich dass sie trotz des abschließenden ‚fin‘ vielleicht in gewisser Hinsicht unbeendet erscheinen mag (ohne freilich deswegen einen Torso darzustellen), aber als Kunstwerk sub specie aeternitatis nichtsdestoweniger vollendet ist. Hier mag Schopenhauers Philosophie, vielleicht sogar seine Lehre von der ewigen Gerechtigkeit Pate gestanden haben; zu ihr Jens Petersen, Schopenhauers Gerechtigkeitsvorstellung, 2017, S. 3, 94 ff. Übersetzung Eva Rechel-Mertens. Gerhard Neumann, Liebes- und Gedächtnismahl. Zum Zusammenhang von Ursprung und Eucharistie in Prousts Recherche, in: Ein unerhörtes Glücksgefühl (Hg. Kirsten von Hagen/ Claudia Hoffmann/Volker Roloff), PROUSTIANA XXIV (2006), 176, 193, deutet dieses Wort im Anschluss an eine briefliche Äußerung gegenüber dem Verleger Gallimard noch radikaler, indem er Prousts physische Aufopferung für sein Werk in den Vordergrund stellt: „Der Körper des Autors, der sich langsam aufzehrt, dient nur noch als Kraftquelle, aus der die Realität und Wirkkraft der Schrift gespeist wird. In der Wiedergefundenen Zeit nennt Proust dieses Szenario ‚das grausame Gesetz der Kunst‘“. Meindert Evers, Proust und die ästhetische Perspektive. Eine Studie über ,A la Recherche du Temps Perduʻ, 2004, S. 192; Eric Karpeles, Paintings in Proust. A Visual Companion to In Search of Lost Time, 2008, S. 326 f.
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sammenhang aufschlussreich, auch wenn es auf eine kontrastierende Entgegensetzung hinausläuft.⁹⁸² Es ist nämlich nicht nur das letzte von unzähligen Zitaten innerhalb der Recherche, sondern stammt zudem aus den ‚Contemplations‘, die für Proust seit jeher eine besondere Bedeutung hatten (JS 238/239). Ihr trauriger Anlass, der tragische Tod von Hugos Tochter Leopoldine,⁹⁸³ spiegelt sich ersichtlich in den Worten ‚les enfants meurent‘.⁹⁸⁴ Die Zeile stammt aus dem mit dem Todesort ‚Villequier‘ überschriebenen XV. Gedicht des vierten Buchs, von dem wir bereits gesehen haben, dass Hugo es nicht von ungefähr mit dem abgewandelten Vergil-Zitat ‚Pauca meae‘ überschrieben hat. Es geht also jeweils um eine – wenn auch unterschiedlich ausgeprägte – Verlusterfahrung. Vor diesem Hintergrund kann man noch einmal zu Brichots Tacitus-Zitat zurückkehren: « Tenez, voyez-vous ce fond de salon, cela du moins peut, à la rigueur, vous donner l’idée de la Rue Montalivet il y a vingt-cinq ans, grande mortalis aevi spatium ».⁹⁸⁵ Proust veranschlagt den Zeitraum, wie verschiedentlich gesehen, mit einem Vierteljahrhundert, also zehn Jahre länger als Tacitus: ‚quindecim annos‘ (Agr. 3.2). Obwohl Proust den Agricola von früh auf kannte, wie ein Zitat eines seiner Schulaufsätze belegt (Agr. 42.3),⁹⁸⁶ dessen erhabenes ‚grande mortalis aevi spatium‘ aber seinem Hauptwerk vorbehielt, hat er es ausweislich des anders bemessenen Zeitraums wahrscheinlich gar nicht unmittelbar dem Agricola entnommen, sondern vermittelt über das Vorwort der ‚Contemplations‘ Victor Hugos: « Vingt-cinq années sont dans ces deux volumes. Grande mortalis aevi spatium ».⁹⁸⁷ Proust vertraute zwar darauf, dass Hugo Tacitus auswendig kannte: « et nous n’apprenons pas sans plaisir qu’Hugo savait (…) Tacite (…) par cœur ».⁹⁸⁸ Aber er setzte wohl voraus, dass nicht nur sein Tacitus-Zitat, sondern auch die
Karlheinz Stierle, Land und Meer in Prousts À la recherche du temps perdu, in: Marcel Proust – Die Legende der Zeiten im Kunstwerk der Erinnerung (Hg. Patricia Oster/Karlheinz Stierle), 2007, S. 25, 40 Anmerkung 1, betont neben den ‚Contemplations‘ die Bedeutung von Victor Hugo, La Légende des siècles, 1859 – 1883, in: Bibliothèque de la Pléiade (Hg. Jacques Truchet), 1950. Bibliothèque de la Pléiade-Ausgabe der Œuvres poétiques (Hg. Pierre Albouy), Tome II, 1967, S. 1551. Victor Hugo, Les Contemplations, 1856, in: Œuvres poétiques, Bibliothèque de la Pléiade (Hg. Pierre Albouy), Tome II, 1967, Livre Quatrieme, XV ‘À Villequier’. Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703. Marcel Proust, Devoir de français, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 11. Insoweit unrichtig die Frankfurter Ausgabe I 3, S. 536 Anm. 4: „Zitat nach Tacitus, Dialogus de oratoribus (…), Kap. XLII“. Victor Hugo, Les Contemplations, 1856, in: Œuvres poétiques, Bibliothèque de la Pléiade (Hg. Pierre Albouy), Tome II, 1967, S. 481. Marcel Proust, Journées de Lecture, 1919, in: Pastiches et Mélanges Œuvres complètes, Tome VIII, 1933, S. 227, 259 f.
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Anspielung auf Hugos ,Contemplationsʻ zumindest langfristig nicht unbemerkt bleiben würde.⁹⁸⁹ In Anbetracht seiner außerordentlichen Belesenheit könnte Proust sogar ein aufschlussreiches Wort Victor Hugos aus einem Brief an Jules Janin vom 2. September 1855 gekannt haben,⁹⁹⁰ in dem er das Tacitus-Zitat erläutert und bekennt, die ‚Contemplations‘ hätten – auch aus Proust Sicht gewiss nicht uninteressant – ebensogut ‚Erinnerungen‘ betitelt sein können, weil sie sein ganzes Leben enthielten: « Les contemplations, comme je le dis dans la préface, pourraient être intitulées Memoires. C’est toute ma vie, vingt-cinq ans, grande mortalis aevi spatium, comme dit Tacite, racontés et exprimés par le côte intime et avec l’espèce de realité qu’admet le vers ».⁹⁹¹ Hier nennt Victor Hugo Tacitus ausdrücklich, dessen Urheberschaft er im Werk selbst als bekannt voraussetzen darf. Ebenso wie Victor Hugo, der das Tacitus-Zitat zunächst an anderer Stelle seiner ,Contemplations‘ vorgesehen hatte, bevor er es an einem so prominenten Ort ansiedelte,⁹⁹² war sich auch Proust ausweislich der Œuvres complètes offenbar zeitweise unschlüssig, ob er es nicht der Erschütterung Marcels über Swanns Tod in umgekehrter Reihenfolge als Dichter-Wort voranstellen solle:⁹⁹³ « ce que le poète appelle à bon droit: grande spatium mortalis aevi » (P I 263). Dass Proust sich letztlich gegen diese Anordnung und in Anlehnung an Victor Hugos ,Contemplationsʻ für die ungenaue Bezifferung des Zeitraums entschieden hat,⁹⁹⁴ geschah nicht aus Nachlässigkeit, sondern um der inneren Architektonik des Werkes
Eduard Fraenkel, Tacitus, in: Tacitus (Hg.Viktor Pöschl), 1969, S. 16, 30 f, hat Entsprechendes bei den taciteischen Anspielungen auf Sallust herausgearbeitet: „Es ist ganz sicher (so befremdlich uns das auch anmuten mag), daß Tacitus bei seiner sehr eingehenden Sallust-Lektüre besonders wirkungsvolle Passagen namentlich in den Charakteristiken der Personen (…) aufgehoben und sie dann, sobald er in seinem Werk an einigermaßen gleichartige Situationen kam, dort eingesetzt hat. Das ergab nicht nur eine Steigerung der künstlerischen Mittel und für den gebildeten Leser, auf den gerechnet wird, den Reiz der variierenden Reminiszenz, sondern führte auch zu außerordentlichen Möglichkeiten indirekter Charakteristik.“ Hervorhebung nur hier. Céleste Albaret, Monsieur Proust, 1974, S. 264 (aufgezeichnet von Georges Belmont, übersetzt von Margret Carroux): „Von Zeit zu Zeit bat er mich, ihm ein Werk zu reichen; er überflog es, schlug es wieder zu und gab es mir zurück: ‚Danke, Céleste, stellen Sie es weg; ich habe gesehen, was ich wollte.‘ Ich sagte zu ihm: ‚Immerhin Monsieur, Sie sind sehr komisch; Sie verlangen dieses Buch; kaum haben Sie es angesehen, da muß ich es schon wieder wegräumen.‘ Lächelnd antwortete er: ‚Wissen Sie, Céleste, ich habe sehr viel gelesen. Ich kenne fast den ganzen Inhalt‘“. Zitiert nach der Bibliothèque de la Pléiade-Ausgabe der Œuvres poétique II, 1967, S. 1371. Arthur Franz, Die Geschichte der Titel in V. Hugos Contemplations, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 57 (1933), 453, 476. Friedrich Leo, Tacitus, in: Tacitus (Hg. Viktor Pöschl), 1969, S. 1, 11, bringt „das Ewige und Unvergängliche im Wesen dieses Mannes“ auf die Bestimmung: „Tacitus war ein Dichter“. Bibliothèque de la Pléiade, Tome III, 1988, S. 703.
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willen. Für Proust besitzt allein die Kunst gesetzgebende Gewalt. Doch selbst das grausame Gesetz der Kunst gestattet künstlerische Freiheit.
Literaturverzeichnis I. Werke von Marcel Proust À la Recherche du Temps Perdu, zitiert nach Œuvres complètes de Marcel Proust (Gallimard), Tome I (1929): Du côté de chez Swann (S) Tome II (1929): À l’ombre des jeunes filles en fleurs (JF) Tome III (1930): Le Côté de Guermantes (G) Tome IV (1931): Sodome et Gomorrhe (SG) Tome V (1931): La Prisonnière (P) Tome VI (1932): Albertine disparue (AD) Tome VII (1932): Le Temps retrouvé (TR) sowie vergleichweise Bibliothèque de la Pléiade (Gallimard), Tome I-IV (1987 – 1989) Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (aus dem Französischen übersetzt von Eva RechelMertens), in der deutschen Ausgabe Erster Teil: In Swanns Welt, 1. Auflage 1981 Zweiter Teil: Im Schatten junger Mädchenblüte, 1. Auflage 1981 Dritter Teil: Die Welt der Guermantes, 1. Auflage 1982 Vierter Teil: Sodom und Gomorra, 1. Auflage 1982 Fünfter Teil: Die Gefangene, 1. Auflage 1983 Sechster Teil: Die Entflohene, 1. Auflage 1983 Siebter Teil: Die wiedergefundene Zeit, 1. Auflage 1984; nur vergleichsweise zitiert wird die Frankfurter Ausgabe, 1994 – 2002, revidiert von Luzius Keller) Correspondance (Hg. Philip Kolb), Tome XI (1912), Tome XII (1913), Tome XIII (1914), Tome XVIII (1919), Tome XXI (1922) Écrits de Jeunesse 1887 – 1895 (Textes rassemblés, établis, présentés et annotés par Anne Borel) Sur la lecture. Préface à la traduction par Proust du livre de John Ruskin: Sésame et les lys, troisième édition, Société du Mercure, 1906 (hier zitiert nach der Bibliothèque électronique de Québec, Collection À tous les vents Volume 401, S. 55 f.) Journées de Lecture, 1919, in: Pastiches et Mélanges, Œuvres complètes, Tome VIII, 1933, S. 227 – 273 Tage des Lesens, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 7 (Übersetzung von Helmut Scheffel) À propos du style de Flaubert, La Nouvelle Revue Française XIV (1920), 72 Über den »Stil« Flauberts, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 57 (Übersetzung Helmut Scheffel) À propos de Baudelaire, in: Essais et articles (Présentation de Thierry Laget), 1994, S. 324 Über Baudelaire, in: Tage des Lesens. Drei Essays, 2. Auflage 2016, S. 78 (Übersetzung von Helmut Scheffel) Jean Santeuil. Précédé de Les Plaisir et les Jours, 1896, in: Bibliothèque de la Pléiade (Hg. Pierre Clarac/Yves Sandre), 1971 (Übersetzung Eva Rechel-Mertens, 1. Auflage 1984) Tage und Freuden (Les plaisirs et les jours; Übersetzung Ernst Weiß, 1. Auflage 1965) Les intermittences du cœur, La Nouvelle Revue Française XVII (1921), 385
https://doi.org/10.1515/9783110647440-008
II. Sekundärliteratur
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Personenverzeichnis Die kursiv gedruckten Zahlen verweisen auf den Text, die normal gedruckten auf Fußnoten.
Abbado, Claudio 52 Agrippina 30 f. Albaret, Céleste 2, 14, 23, 34, 47 f., 50, 53, 58, 61, 81, 84, 89, 104 f., 108, 111, 154, 157, 165, 167, 169 f., 172, 199, 202 ff., 210 f., 218, 230, 231, 238, 240, 241, 264 Albouy, Pierre 155, 164, 174 f., 226, 263 Albrecht, Michael von 4, 53, 58, 63, 65, 68, 152, 182, 213, 216, 233 Alföldy, Geza 72, 158, 257, 260 Ammann, Paul 91 Andresen, Georg 12 Apollonius von Tyrana 119 Armbrüster, Christian 4 Ash, Rhihannon 41, 67, 95, 131, 204 Asholt, Wolfgang 237 Astruc, Gabriel 114 Auerbach, Erich 18, 55 Augustinus 106 Augustus 40, 54, 72, 81, 122, Badian, Ernst 21 Balzac, Honoré de 44, 46, 49, 63, 84 ff., 101, 115 Barnes, Anni 111 Barthes, Roland 6 Baudelaire, Charles 62, 112 f., 165, 175, 254, 258 Bayard, Pierre 94 Beard, Mary 67 Beckett, Samuel 1, 3, 91, 98, 123, 127, 163, 177 Behrens, Rudolf 82 Belmont, Georges 2, 14, 23, 34, 47 f., 50, 53, 58, 61, 81, 84, 89, 104, 108, 111, 157, 165, 167, 169, 170, 172, 199, 202 f., 210 f., 218, 230, 238, 240 f., 264 Belting, Hans 247 Benario, Herbert. W. 45 Benhaim, André 1 Benjamin, Walter 193, 220 https://doi.org/10.1515/9783110647440-009
Bezemek, Christoph 128 Billermann, Roderich 58, 217 Birley, Anthony. R. 76, 95, 108, 187, 236 Blackert, Hermann 241 Bohrer, Karl Heinz 121 Bossuet, Jacques Bénigne 62 Bourdieu, Pierre 13 Brée, Germaine 63 Brockmeier, Peter 105 Brod, Max 128 Brombert, Victor 175 Bruckner, Anton 262 Brunschvicg, Léon 111, 163, 208 Bruun, Niels. W. 19 Bryce, John C. 26 Burnouf, Jean-Louis 29 f. Byrne, Shannon 114 Calabresi, Guido 4 Canaris, Claus-Wilhelm 6 Carriedo, Lourdes 109 Carter, William C. 31, 114 Ceram, C. W. 223 Cervantes, Miguel de 49, 63 Chantal, René de 57 Chihaia, Matei 82, 134, 138 Chopin, Frédéric 53, 255 Christ, Karl 40, 122, 191 Cicero 4, 68, 107, 180, 218 Clarac, Pierre 62, 223 Clarke, Katherine 93 Claudius 76, 94, 185, 186, 199, 232 Clausewitz, Carl von 119 Compagnon, Antoine 1, 8, 14 ff., 26 f., 89, 99, 128, 140 Corbineau-Hoffmann, Angelika 9, 96, 186 Cordus, Cremutius 150, 183, 229, 252 Corneille, Pierre 79, 83, 108, 217 Courbaud, Edmond 101, 204 Cousin, Jean 81, 91 f., 95, 184, 201 Crook, John Anthony 93
Personenverzeichnis
Cuntz, Otto 238 Curtius, Ernst Robert 1, 5, 24, 36, 44 f., 52 f., 54 f., 57, 64, 66, 68, 72, 77, 83, 95, 103, 110, 117, 119, 120, 122, 124, 130, 135, 150, 153, 157, 166, 178 ff., 185 f., 193 f., 197, 206, 209, 213 f., 217, 218, 220, 224, 234, 237, 242 f., 245 f., 253 ff., 257 ff. Czajkowski, Kimberley VII, 4 Daudet, Alphonse 30, 111 Debussy, Claude 5, 255 Descartes, René 62 Diderot, Denis 62, 111, 121 Dihle, Albrecht 215 Doering, Pia Claudia 138 Domitian 27, 28, 71 f., 76, 80, 106, 138, 147, 180, 221, 229, 239, 251 Doubrowsky, Serge 124 Dreyfus, Alfred 27, 84 f., 86 ff., 94, 96 ff., 187 f. Dürrschmidt, Klaus 124 Durry, Marcel 238 Edmond, Martin 42, 101, 204 Elsner, Anna Magdalena 212 Emerson, Ralph Waldo 62 Engisch, Karl 6 Erman, Michel 30, 47, 50, 62, 113, 238 Evers, Meindert 262 Faerber, Johann 63 Falk, Rainer 158, 170 Felten, Uta 6, 25, 33, 88, 94, 111, 121, 132, 197 f., 246 Feuillerat, Albert 45, 116, 120 Flaubert, Gustave VII, 26, 57 f., 62, 110, 115, 124, 136, 152, 162, 168, 170 f., 173, 179, 193, 234, 246, 248 Föcking, Mark 213 Fraenkel, Eduard 57 f., 131, 191, 219, 221, 236, 261, 264 Francillon, Roger 63, 217 Franz, Arthur 169, 174 ff., 264 Freudenthal, Hans W. L. 215 Friedrich, Hugo 66, 86, 175 Fuhrmann, Manfred 29, 74, 81, 225
281
Gamble, Cynthia J. 107 Garcia Jurado, Francisco 109 Gelzer, Matthias 76 Genette, Gérard 133, 142 Ghéon, Henri 47, 49 Gier, Albert 9 Goethe, Johann Wolfgang von 62 Goodkin, Richard E. 140 Goodyear, Frank. R. D. 73 Greenblatt, Stephen 63, 86, 189, 259 Grésillon, Almuth 173 Griffin, Miriam 41 Grimm, Dieter 4 Guerreoro, Luisa 109 Günther, Andreas 140 Hagen, Kirsten von 8, 129, 248, 262 Hahn, Eleonore 94, 225 Hahn, Reynaldo 111, 114 Halévy, Daniel 62, 63 Hammond, Mason 67 Hartmann, Elke 12, 188 Hausmann, Michael 219 Hayman, Ronald 51 f., 110 f. Heidegger, Martin 83 Heinser, Bernhard 105 Heller, Erich 29, 59, 74, 81, 225 Henry, Anne 57 Hilberer, Thomas 164 Hindus, Milton 84 Hoffmann, Claudia 8, 129, 248, 262 Hofmann, Werner 3, 10, 15, 18, 25, 27, 36, 65, 97 Höhne, Christiane 226 Hölter, Achim 61 Homer 62, 121, 213, 234 Hommel, Hildebrecht 24, 43, 58, 85, 92, 101, 140, 168, 171, 180, 182, 193, 204, 246, 251, 254 Horaz 82, 107, 111, 114, 137, 144, 247 Hösle, Vittorio 81, 83, 112, 120, 219, 240, 256 Hovasse, Jean-Marc 174 Hugo, Victor VIII, 30, 83 ff., 111, 155, 164 ff., 171, 173 ff., 192, 226, 262 ff. Hyde, Lewis 7, 126
282
Personenverzeichnis
Ifri, Pascal A. 192 Ingenschay, Dieter 9, 33, 57, 79, 123, 126, 165 f., 214, 216, 237, 249 Jaeger, Werner 43 Jammes, Francis 47 ff., 51, 52 ff., 60 ff., 70, 78, 82, 113, 132, 152, 179, 237, 241, Janssens, Émile 44, 60, 192 Jauß, Hans Robert 1, 7, 11, 66, 79, 87 f., 99, 102, 127, 150, 160, 162, 165, 170, 193, 212, 232, 241, 243, 249, 261 Jens, Walter 106 Jomini, Antoine-Henri 119 Jurt, Joseph 88 Kafka, Franz 128 f. Kalka, Joachim 88 Karpeles, Eric 8, 244, 262 Kegler, Paul Oskar 198 Keitel, Elizabeth 200 Keller, Luzius 1, 20, 61, 63, 107 f., 125, 146, 151, 153, 158, 161, 165, 170, 184, 217, 223, 224, 234, 240, 244 Kirchner, Roderich 71 Kittler, Friedrich 213 Kleist, Heinrich von 242 Klingner, Friedrich 56, 68 f., 91, 149, 191, 201, 215 Klopstock, Friedrich Gottlieb 172 Knips, Ignaz 1 Kock, Dirk 215 Kocq, Paul de 49 f. Koestermann, Erich 16, 122, 132, 138, 149, 184, 188, 189 Kolb, Philip 47, 48 ff., 52 f., 62, 64, 66, 110, 114, 120, 134, 179, 213, 242 König, Christoph 4 Küchler, Kerstin 6, 25, 33, 88, 94, 111, 121, 132, 197 f., 246 Kunkel, Wolfgang 16, 239 La Bruyère, Jean de 49, 62 f., 217 La Fontaine, Jean de 62, 81 f. La Rochefoucauld, François de 9, 65, 79, 81, 208 Ladeur, Karl-Heinz 142
Laget, Thierry 31, 32, 79 f., 113, 158, 165, 250, 254, 258, 263 Landes-Ferrali, Sylvaine 142 Landfester, Rüdiger 105 Leber, Manfred 121 Lefèvre, Eckard 239 Leo, Friedrich 14, 20, 34, 58, 94, 112, 122, 131 f., 218, 233, 236, 242, 260, 264 Leppin, Hartmut 114 Lichtenberg, Georg Christian 132 Link-Heer, Ursula 11, 111 Löfstedt, Einar 113 Lucas, Frank Laurence 35 Lucas, Joseph 220 Luce, James 13 Luckhurst, Nicola 50 Lukrez 62 Ludolph, Matthias 238 Lund, Allan A. 180 Machiavelli, Niccolò 259 Manet, Édouard 262 Mann, Golo 21, 41 f., 72, 101, 191, 201, 235 Manuwald, Bernd 122 Maréchal, Robert 51 Marty, Eric 6 Mass, Edgar 88, 138, 215, 234 Mattenklott, Gert 158, 170 Maurus, Terentianus 119 Meier, Christian 188 Meier, Mischa 12, 122, 146 Mein, Margaret 245 Mellor, Ronald 68, 140 Mendell, Clarence W. 45, 56, 63, 87, 185, 225, 238, 253, 257 Michel, Alain 226 Michel, Arlette 226 Michelangelo 215, 261 Millar, Fergus 235 Milly, Jean 51, 55, 170, 180 Mitsis, Phillip 131 Mlynek-Theil, Kristin 6, 25, 33, 88, 94, 111, 121, 132, 197 f., 246 Molière 49, 63, 242 Möller, Melanie 83, 142 Mommsen, Theodor 73, 237 Monet, Claude 5
Personenverzeichnis
Montaigne, Michel de 37, 38, 39, 97, 111 Montesquieu, Charles de 62 Moog-Grünewald, Maria 82 Moorjani, Angela 134 Moritz, Rainer 52 Morlang, Werner 1, 91, 98, 123, 127, 163, 177 Mouton, Jean 51, 116 Münchberg, Katharina 82, 134, 138 Münkel, Gabriele 39 Murakami, Yuji 43 Nash, Suzanne 175 Negroni, Bruno 214 Nesselhauf, Herbert 164, 191 Nestle, Wilhelm 146 Neumann, Gerhard 8, 57, 129, 248, 262 Newman, John Henry 117 Nickbakht, Mehran A. 32 Nies, Fritz 117 Nietzsche, Friedrich 79, 235, 241, 260 Nipperdey, Karl 12 Nitsch, Wolfram 2, 6 f., 23, 43, 66, 69, 91, 121, 135, 139, 144, 158, 172, 182, 209, 232 f., 244 Norden, Eduard 56, 93, 118, 193, 213, 218, 238 Nörr, Dieter 56 Oakley, Stephen P. 67 O’Brian, Justin 11 O’Gorman, Ellen 198 Oster-Stierle, Patricia 9 f., 52, 82, 121, 127, 140 ff., 146 f., 163, 184, 193 f., 213, 217, 263 Ott, Christine 234 Ovid 82, 83, 111, 114, 119, 213, 228 ff., 235, 240 Pagán, Victoria E. 45 Pascal, Blaise 97, 110 f., 146, 163, 166, 208 Peters, Achim 140 Pfeiffer, Helmut 9, 33, 57, 79, 123, 126, 165 f., 214, 216, 237, 249 Pierre-Quint, Léon 207, 217 Pigoń, Jakub 41, 179 Plato 62, 195, 212, 214
283
Plinius 93, 236, 237 ff., 240, 251 Pöhlmann, Robert von 89 Popel-Pozzo, Annette 182 Pöschl, Viktor 14, 20 f., 32, 34, 56 ff., 81, 86, 91 f., 95, 112 f., 122, 131 f., 184, 188, 191, 201, 215, 218 f., 221, 233, 236, 242, 260, 264 Posner, Richard A. 3, 118 Poulet, George 133 Prud’hon, Pierre Paul 8 Quintilian 236 Quintus Curtius 166 Quintus Haterius 123 Raabe, Katharina 91, 98, 123, 127, 163, 177 Racine, Jean 62, 79, 140 Radke, Gerhard 183, 192 Raff, Joachim 50 Raffael 121 Ratzinger, Joseph 248 Reitzenstein, Richard 12, 19, 35, 132, 209, 215, 261 Renan, Ernest 62 Rhenanus, Beatus 92 Riess, Curt 101 Ring, Max 97 Ritte, Jürgen 43, 52, 121, 165 Roloff, Volker 8, 11, 88, 111, 129, 138, 215, 234, 248, 262 Rößner, Christian 134 Rother, Michael 105 Rousseau, Jean-Jacques 62 Ryberg, Ian. S. 214 Rychner, Max 132 Sainte-Beuve, Charles-Augustin 29, 62, 79, 126 Sallust 20, 21, 53, 56, 57, 72, 118, 138, 171, 217, 235, 260, 264 Sandre, Yves 62, 223 Santangelo, Federico 41, 46, 95 Schäfer, Gerd 30 Schauer, Markus 180 Scherer, Martin 117 Schlink, Bernhard 4 Schmidt, Thomas E. 25
284
Personenverzeichnis
Schneider, Michel 2, 47, 62 Schonberg, Harold C. 50 Schopenhauer, Arthur 123, 214, 262 Schubert, Franz 262 Schuhen, Gregor 178 Schweppenhäuser, Hermann 193, 220 Schwindt, Jürgen Paul 4, 83, 114, 228 Seibt, Gustav 55 Seif, Klaus Philipp 199 Sembdner, Helmut 242 Seneca 81, 106 Shakespeare, William 49, 62 f., 84 ff., 101 Shatzman, Israel 90 Shelley, Percy 62 Sherwin-White, Adrian Nicolas 239 Shotter, David C. A. 122 Singh, Sikander 121 Smith, Adam 26, 27 Souday, Paul 114 Speck, Reiner 52, 66 Spillner, Bernd 68, 138 Spitzer, Leo 4, 43, 52, 54 f., 57, 64, 68, 71, 75, 86, 115, 118, 129, 137, 138, 144, 149, 177 f., 181, 184, 187, 194, 196, 200, 207, 215, 220, 221, 224, 241 Sprenger, Ulrike 10 Stackelberg, Jürgen von 9, 65, 208 Stärk, Ekkehard 171 Steidle, Wolf 212 Sterzenbach, Georg 128 Stierle, Karlheinz 1, 5 ff., 9 ff., 18, 20, 23, 25, 29, 33, 42, 44, 47, 52, 54 f., 60, 63, 66 f., 69, 79, 82 f., 88, 91, 94 f., 106, 111, 121, 123 f., 126 f., 132 ff., 139, 141, 144, 147 f., 151, 158, 161, 163, 166, 172, 174, 178, 182, 184 f., 194, 197 f., 201, 209, 213 f., 216 ff., 223, 227 f., 232 f., 237, 244, 246, 248 ff., 259 ff., 263 Stolleis, Michael 136 Strunk, Thomas E. 67 Suerbaum, Werner 183, 192 Sullivan, Donald 219 Süvern, Johann Wilhelm 261 Syme, Ronald 3, 12, 14, 20, 22, 24 f., 29, 32, 35, 37 f., 40, 41 ff., 44, 46, 53, 56, 60 f., 64, 68, 71, 72, 76 ff., 80, 85 ff., 89 f., 93 ff., 99, 103, 105 ff., 110, 112, 113,
119, 123, 124, 131, 132, 138 f., 141 f., 144, 148 ff., 152, 171 f., 178, 183, 186 f., 189, 198 f., 204, 206 ff., 211, 214, 217 f., 227 ff., 231, 232, 235, 236 ff., 241 f., 246, 250, 254, 257 ff. Tadié, Jean-Yves 1, 24 f., 29, 62, 70, 100, 108, 112, 154, 237 Tarnow, Ulrike 9 Teyssandier, Laurence 173 Thiel, Thomas 213 Tiberius 8, 11, 16, 21, 24 f., 29 ff., 39 ff., 54, 56, 59 f., 69, 81, 95, 100, 183, 197, 201 f., 209 f., 215, 228, 230, 232 Tiedemann, Rolf 193, 220 Timpe, Dieter 67, 80, 122 Titus 71 Tomlin, Roger S. O. 41 Topping, Margaret 243, 256 Trilling, Lionel 41, 95, 204 Truchet, Jacques 263 Tschaikowsky, Peter 50 Ullmann, Berthold Louis
215
Vergil 62, 175, 263 Vespasian 71 Vianey, Joseph 140 Vogt, Joseph 21, 32, 35, 86, 205, 215 Wagner, Richard 34, 144 Walter, Uwe 41, 122 Warning, Rainer 9, 10 f., 34, 57, 65, 134, 151, 170, 173, 178, 184 f., 248 ff., 259 Watteau, Antoine 121 Weber, Max 234 Westerwelle, Karin 62 Wetzel, Hermann H. 102 Wex, Friedrich Carl 28 Weyman, Carl 215 Whitehead, David 219 Williamson, Edwin 217 Winter, Astrid 44, 178, 256 Winterbottom, Michael 225 Woodman, Anthony. J. 13, 67, 233, Wossen-Asserate, Asfa 117 Woytek, Erich 238
Personenverzeichnis
Zaiser, Rainer 2, 6 f., 23, 66, 69, 91, 135, 139, 144, 158, 172, 182, 209, 232 f., 244 Zaremby, Justin 131 Zimmermann, Bernhard 213
Zimmermann, Michael F. Ziogas, Ioannis 131 Zola, Émile 85, 89, 121 Zwierlein, Otto 175
144
285